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Interkulturelle Theologie ist aus der Pluri disziplin Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft hervorgegangen. Sie erkundet die interkonfessionellen, interkultu rellen und interreligiösen Dimensionen des christlichen Glaubens. Volker Küster erläutert Begriffe und Methoden, mit denen die verän derten Rahmenbedingungen der Theologie im Zeitalter von Globalisierung und kulturellreligiösem Pluralismus beschrieben werden können. Im Gespräch mit Theologen und Theo loginnen aus der Dritten Welt entfaltet er eine kleine interkulturelle Glaubenslehre. Jenseits der allgegenwärtigen interkulturell-religiösen Konflikte wird dadurch ein weiter Raum für Dialog, Respekt und Nachbarschaftlichkeit eröffnet.
www.utb.de
ISBN 978-3-8252-3465-2
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3465 Küster Einführung in die Interkulturelle Theologie
Theologie · Religion
Volker Küster
Einführung in die Interkulturelle Theologie
Vandenhoeck & Ruprecht
UTB 3465
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Volker Küster
Einführung in die Interkulturelle Theologie
Vandenhoeck & Ruprecht
Volker Küster (*1962) studierte Theologie in Heidelberg und Seoul / Südkorea. Nach Dozentur, Promotion und Habilitation in Heidelberg lehrt und forscht er seit 1999 in den Niederlanden. 2002 wurde er auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Crosskulturelle Theologie an der Protestantischen Theologischen Universität Kampen berufen. Veröffentlichungen: Theologie im Kontext (1995); Jesus und das Volk im Markusevangelium (1996); Die vielen Gesichter Jesu Christi (1999); Gott / Terror (2009); A Protestant Theology of Passion (2010).
Mit zehn Abbildungen und dreizehn Übersichten Umschlagabbildung: Hendarto, Taufe Jesu, 2005
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de ISBN 978-3-8385-3465-7 (utb-e-book) Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Ruhrstadt Medien, Castrop-Rauxel Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-8252-3465-2 (UTB-Bestellnummer)
Inhalt
Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Pluralitätsbewältigung / Kultur und Kulturen / Kultur und Religion / Religion und Religionen / Kulturellreligiöser Pluralismus / Theologische Dilemmas / Erkundungen Interkultureller Theologie
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Teil I: Begriffe und Methoden: Missionstheologie – Kontextuelle Theologie – Interkulturelle Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 1 Mission revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die biblischen und historischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . 2. Missionstheologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ökumeniker und Evangelikale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Theologie der Weltmissionskonferenzen . . . . . . . . . . . . . . 5. Kirchliche Verlautbarungen zur Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 30 35 40 42 49
§ 2 Theorie kontextueller Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der epistemologische Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hermeneutik des Verdachts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kontextuelle Theologie im Rahmen hermeneutischer Theoriebildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dritte-Welt-Theologie in sich verändernden Kontexten . . . . . 5. Von der Kontextualisierung zur Glokalisierung . . . . . . . . . . . .
53 55 63
§ 3 Theologie interkulturell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Genese Interkultureller Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionen Interkultureller Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Perspektiven Interkultureller Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Begegnung mit dem Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 110 115 116 118
75 85 92
6
Inhalt
Teil II: Dimensionen: interreligiös, interkulturell und interkonfessionell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 4 Wer, mit wem, über was? – Suchbewegungen im interreligiösen Dialog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Feld abstecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erkundungen im „Zwischen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einen „dritten Raum“ eröffnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mission und Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 133 137 149 152
§ 5 Aufbruch der Dritten Welt – Der Weg der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen (EATWOT) . . . . . . 1. Eine Ökumenische Vereinigung von Dritte-WeltTheologInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von Daressalam nach Genf (1976–1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von Oaxtepec nach Nairobi (1986–1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Von Nairobi nach Johannesburg (1992–2006) . . . . . . . . . . . . . 5. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Mission und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 154 159 172 177 181 183
§ 6 Einheit in versöhnter Verschiedenheit – Intra-christlicher Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was heißt hier Ökumene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Multilaterale und bilaterale Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mission und Einheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 187 194 206
Teil III: Generative Themen: Eine kleine interkulturelle Glaubenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 7 Die vielen Gesichter Jesu Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Jesus einen neuen Hoheitstitel verleihen – Inkulturationschristologien in Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versuche, die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus neu zu denken – Dialogchristologien in Asien . . . . . . . . . . . . . 3. Das Kreuz der Befreiung – Befreiungschristologien in Afrika und Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Christologie in messianischen Dimensionen. . . . . . . . . . . . . . .
210 210 212 217 219
Inhalt
5. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Gott, der immer schon mit uns war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gott der Befreier – Reden von Gott im Kontext von Armut und Unterdrückung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gottes Gegenwart in der Kultur – Reden von Gott im Kontext afrikanischer Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gottesvorstellungen im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
222 224 225 226 230 237
§ 9 Gegenwärtig im Geist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Komm Heiliger Geist – Erneuere die ganze Schöpfung“ (Chung Hyun-Kyung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu anderen Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 10 Kirche mit anderen sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die befreiende Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die inkulturierte Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die dialogische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neue Kennzeichen der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 250 257 260 261
§ 11 Der neue Mensch in Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die gottgegebene Würde des Menschen – Christliches Menschenbild im Kontext von Armut und Unterdrückung. . . 2. Der zur Freiheit geschaffene Mensch – christliches Menschenbild im Kontext der Kulturen und Religionen . . . . .
262 263
§ 12 „Schon jetzt“ und „noch nicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die zeitliche Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die räumliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kosmische Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Den interkulturell geteilten Glauben kontextuell bekennen . .
275 276 277 279 282
240 246
272
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Projekt Weltethos – Die transkulturell-religiöse Option (Hans Küng) / Pluralistische Theologie der Religionen – Die multikulturell-religiöse Option (John Hick / Paul Knitter) / Komparative Theologie – Die crosskulturellreligiöse Option (Francis X. Clooney) / Die Modelle im Vergleich
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Inhalt
Hilfsmittel zum Studium der Interkulturellen Theologie. . . . . . . . .
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Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Orientierungen
Die gesellschaftlichen Umbrüche – nicht nur in Deutschland – die im Rückblick mit der 68er Generation in Verbindung gebracht werden, haben ihre Spuren auch in Kirche und Theologie hinterlassen: Kirchenreformbewegung, Theologie nach Auschwitz, Theologie der Hoffnung, neue politische Theologie und politisches Nachtgebet sowie die sozialgeschichtliche Schule in der Exegese, um nur einige Stichworte zu nennen.1 Vieles davon kenne ich selbst nur aus den Erzählungen meiner Lehrer und der Lektüre der literarischen Zeugnisse dieser Jahre. Der deutsche Herbst, Nato-Nachrüstung, Friedensbewegung und Solidarität mit der Dritten Welt, das sind die Eckdaten meiner eigenen Sozialisation als christlich-gesellschaftlich engagierter Abiturient und Theologiestudent in den frühen 80ern des 20. Jh. Es gab längst keine Studentenbewegung mehr, aber wir ließen uns dennoch bewegen von den gesellschaftlichen und theologischen Entwicklungen. Lehrveranstaltungen zu den theologischen Neuaufbrüchen in der Dritten Welt waren gut besucht. Verortet waren diese Themen in der Pluridisziplin Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft, die auch damals von einer gewissen Exotik umwittert war. Ich selbst ging 1987/88 für ein Jahr nach Südkorea, um vor Ort die Minjung-Theologie, von koreanischen Christen im Widerstand gegen die damalige Entwicklungsdiktatur formuliert, zu studieren. Viele der Theologen und Theologinnen, deren Denkanstößen sich dieses Buch verdankt, habe ich schon als Student und junger Dozent in Heidelberg persönlich kennengelernt. Später konnte ich einige von ihnen selbst zu Seminaren und Konferenzen in die Niederlande einladen oder habe sie während ausgedehnter Vortrags- und Studienreisen in Asien und Afrika aufgesucht. Hinzu kamen zunächst Mitstudierende und später Studierende, Doktorandinnen und Doktoranden aus Afrika, Asien und gelegentlich La1
Die Arbeiten von Ernst Lange, Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle sowie der Exegeten Gerd Theißen, Wolfgang und Ekkehard Stegemann, Luise und Willy Schottroff, Frank Crüsemann und Elisabeth Schüssler-Fiorenza haben meinen theologischen Denkweg von Anfang an begleitet.
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Orientierungen
teinamerika, von denen ich viel gelernt habe. In einem solchen internationalen Netzwerk Theologie treiben zu dürfen ist ein Privileg, das nur wenigen vergönnt ist. Es eröffnet einen kosmopolitischen Blick, der das Lokale ins Verhältnis zum Globalen zu setzen lehrt.2 Dieses Buch erscheint in ökumenisch dürftiger Zeit. Entgegen einem gesamtgesellschaftlichen Trend, der viel beschworenen Globalisierung, werden traditionelle westliche Kirchen und Theologie – selbst einst Vorreiter einer globalen Bewegung, der weltweiten Ausbreitung des Christentums und der „großen Tradition“ europäischer Theologie – stets provinzieller. Das spiegelt sich auch an den theologischen Fakultäten, wo der Eurozentrismus neue Urstände feiert. Innerhalb der Pluridisziplin Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft geht der Trend zu Letzterer. Die Ökumenik ist in der Dogmatik aufgegangen und Derivate der Missionswissenschaft wie (Re)Evangelisierung und Gemeindeaufbau sind in die Praktische Theologie ausgewandert. Themen wie kontextuelle Theologien oder die Entwicklungen in der Weltchristenheit sind nahezu aus den Curricula verschwunden. Entgegen dem neo-konservativen Mythos, dass die Zeit der Befreiungstheologie und damit zugleich der kontextuellen Theologien insgesamt vorbei sei, gehe ich davon aus, dass Theologie sich in transformierenden Kontexten immer wieder neu erfinden muss. Die aus der Missionswissenschaft und ihren Schwesterdisziplinen hervorgegangene Interkulturelle Theologie begleitet diese Prozesse wissenschaftlich und vermittelt zwischen den verschiedenen Kontexten weltweit. Meine Heidelberger Lehrer haben 1986 aus dem Bekenntnis zum Ziel der Einheit in der Weite der Weltchristenheit heraus und unter Anspielung auf die von Karl Barth im Angesicht der Götterdämmerung des Dritten Reiches 1933 aus der Taufe gehobene Schriftenreihe Theologische Existenz heute noch die Ökumenische Existenz heute begründet. Heute im Kontext des kulturell-religiösen Pluralismus werden wir mit unserer interkulturellen Existenz konfrontiert.3 In den Niederlanden sind die Lehrstühle für Missionswissenschaft beinahe flächendeckend in solche für Interkulturelle Theologie umgewandelt worden. Dafür scheint die Zeit in Deutschland noch nicht reif, auch wenn es zaghafte
2
3
Vgl. Ulrich Beck, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt/M. 2004; Kwame Anthony Appiah, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, London etc. 2006. Vgl. Wolfgang Huber / Dietrich Ritschl / Theo Sundermeier (Hg.), Ökumenische Existenz heute, 10 Bde, München 1986–1992; Volker Küster (Hg.), ContactZone. Explorations in Intercultural Theology, bisher 10 Bde, Münster (seit) 2007.
Orientierungen
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Versuche in diese Richtung gibt.4 In den USA zeichnet sich ein Trend zur Einrichtung von Lehrstühlen für World Christianity ab, die die Folgen der Schwerpunktverlagerung der Christenheit in die südliche Hemisphäre und die dadurch entstandenen neuen Formen von „Kirche sein“ erforschen sollen.5 Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen, theoretisch und theologisch hier gegenüber empirisch und historisch dort, gibt es offensichtliche Überschneidungen zwischen diesen beiden Schulen, die es weiter auszuloten gilt. Die „neue Christenheit“, ob als charismatische Erneuerung innerhalb der Großkirchen (mainline churches), weltweite Pfingstbewegung oder Migrantenkirchen, scheint kulturelle Grenzen zu transzendieren.6 Sie ist institutionell noch schwer fassbar und produziert keine wissenschaftlich-theologischen Bibliotheken. Vielen gilt sie als jenseits des westlichen Aufklärungsparadigmas angesiedelt, im Positiven wie im Negativen. Mit den kontextuellen Theologien teilen Pfingstbewegung und Migrantenkirchen den starken Dritte-Welt-Bezug. Die Migrantenkirchen lassen sich als diasporische Kirchen begreifen, die ihre Identität zwischen den Kulturen aushandeln müssen. Kontexte sind heute deterritorialisiert, hybridisiert und Menschen haben multiple Loyalitäten zu unterschiedlichen Gruppierungen (→§ 2.4). Die Pfingstkirchen betrachten sich demgegenüber als globale Kirchen, die nicht in einem bestimmten Kontext verhaftet sind. Ihr außerordentlicher Erfolg in Afrika und Teilen Asiens lässt allerdings doch die Frage nach kulturellen Affinitäten aufkommen. Die Prediger und Predigerinnen dieser Kirchen suchen in zunehmendem Maße Zugang zu einer formalen theologischen Ausbildung. Da diese die Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion voraussetzt, werden wir hier in den kommenden Jahren auf fruchtbaren Austausch hoffen dürfen, auch hinsichtlich der Kontextualisierungsdebatte. Eine Entwicklung, die im evangelikalen Spektrum schon in vollem Gange ist (→§ 1.5). Gleichzeitig laufen an verschiedenen theo4
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6
Vgl. das gemeinsam von der Fachgruppe Religionswissenschaft und Missionswissenschaft der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh) und dem Verwaltungsrat der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW) erarbeitete Positionspapier Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft (www.dgmw.org). Ich danke Lamin Sanneh und Jon Bonk am Overseas Ministries Study Center in Yale, New Haven, für die Gastfreundschaft und fruchtbaren Gespräche der letzten Jahre im Umfeld der Reihe Oxford Studies in World Christianity. Philip Jenkins, The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford etc. 2002 hat große Publizität mit einer These erlangt, die Walbert Bühlmann, Wo der Glaube lebt. Einblicke in die Lage der Weltkirche, Freiburg etc. 1974, bereits hellsichtig auf den Begriff „Dritte Kirche“ gebracht hatte.
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Orientierungen
logischen Fachbereichen Projekte, die mit einer Vielfalt an Methoden – empirisch, soziologisch, anthropologisch, narrativ, um nur die wichtigsten zu nennen – arbeiten, um diese Phänomene wissenschaftlich zu erforschen. Hier sind Impulse für die Interkulturelle Theologie gerade im Blick auf die Vermittlung zwischen globaler und lokaler Dimension zu erwarten. Mit der Öffnung des Ostens sind gleichzeitig auch die „alten“ orthodoxen Kirchen zu neuem Selbstbewusstsein erwacht. Theologische Büchereien und die Auseinandersetzung mit dem Kontext, wie etwa mit der europäischen Aufklärung und ihren Folgen, sind auch hier bestenfalls sekundär. Die orthodoxen Kirchen sind jedoch durch ihre Mitarbeit im ökumenischen Rat der Kirchen sowohl mit der westlichen theologischen Tradition als auch mit den kontextuellen Fragestellungen der Christenheit in der Dritten Welt in Berührung gekommen. Dies hat zu erheblichen Konflikten geführt. Die im Folgenden entwickelten Theorien zu Kontextualität und Interkulturalität können hoffentlich dazu beitragen, die orthodoxen Kirchen in ihrer nationalen und kulturellen Einbettung verstehen zu lernen und einen Zugang zu ihrem Denken über die Ästhetik der Liturgie und Ikonen zu finden, jenseits text-zentrierter Theologie. Problemstellungen, die ihren Ort traditionell in der Konfessions- bzw. Kirchenkunde haben, die ebenfalls beinahe völlig aus dem theologischen Fächerkanon verschwunden ist, könnten so mittelfristig auch in der Interkulturellen Theologie eine neue Heimat finden. Ein dritter Komplex sind Freikirchen, Sondergemeinschaften und Sekten sowie Synkretismen des christlichen Glaubens in Neureligionen, der Newage-Bewegung oder spätmoderner Patchwork-Religion. Die in den Großkirchen organisierte offizielle Religion hat längst eine Peripherie gelebter Religion und Religiösität, die über die traditionelle Volksreligiösität hinausgeht. Auch hier sind Formen akademischer Selbstreflexion nicht relevant. Umgekehrt bietet Interkulturelle Theologie organisierter christlicher Religion einen Referenzrahmen diesen Derivaten ihrer selbst zu begegnen. Die geschilderten Umbrüche und Transformationsprozesse in der Weltchristenheit sind wichtige Gegenstandsfelder Interkultureller Theologie, die aufgrund der Größe und Diversität des zu bearbeitenden Materials und einer gewissen Widerständigkeit ihrer Repräsentanten gegenüber einer sich wissenschaftlich verstehenden Theologie zunächst einmal allerdings eigener Aufarbeitung bedürfen. Der von mir entwickelte heuristische Rahmen wird sich, so hoffe ich, auch dabei bewähren. Meine theologischen Gesprächspartner kommen überwiegend aus der Dritten Welt, sie haben zwar einen epistemologischen Bruch (→§ 2.1) mit der akademischen Theologie vollzogen, indem sie die Praxis zum ersten Akt der Theologie machten, nehmen aber
Orientierungen
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dennoch selbst eine Vermittlerrolle zwischen der in der Regel im Westen angeeigneten Universitätstheologie und der Christenheit in der Dritten Welt wahr. Dadurch eignen sie sich sowohl als Dialogpartner im Ringen um das Verstehen der geschilderten Transformationsprozesse in der Weltchristenheit als auch bei der theologischen Deutung des kulturell-religiösen Pluralismus im Westen. Das in der Interkulturellen Theologie bewahrte kontextuelle Wissen sowie das auf dieser Grundlage entwickelte theoretische Instrumentarium bieten darüberhinaus auch Anknüpfungspunkte zu fruchtbarem Austausch mit der World-Christianity-Schule. Den seit Mitte der 1990er Jahre im Westen zu verzeichnenden Traditionsabbrüchen im Hinblick auf die Kirchenreform, die neue politische Theologie oder die Sozialgeschichtliche Exegese und den damit einhergehenden Rezeptionsabbrüchen etwa der feministischen Theologie oder der kontextuellen Theologien der Dritten Welt zum Trotz, lege ich eine systematische Einführung in die Theologie vor, die sich als interkulturell versteht. Diese Interkulturelle Theologie leugnet ihre Verortung in der europäischen akademischen Theologie nicht. Im Sinne einer reflexiven Moderne, die sich selbst kritisch hinterfragt und sich der Ambiguität und Fluidität heutigen Theologietreibens bewusst ist, will sie das Aufklärungsparadigma noch stets radikal zu Ende denken.7 In diesem Geist der Freiheit trifft sich das liberale Erbe europäischer Theologie, das ich im Gepäck habe, mit den Emanzipationsbewegungen der Dritten Welt, die theologisch ihren Niederschlag in den kontextuellen Theologien gefunden haben. Formalia und Dank Inklusive Sprache kennt noch kein festgefügtes Regelsystem, ich experimentiere daher mit verschiedenen Möglichkeiten. Auf ein Literaturverzeichnis habe ich bewusst verzichtet. Seitenlange Titelauflistungen sind wenig benutzerfreundlich. Die Fußnoten zur Stelle bieten Belege und wichtige weiterführende Literatur, die sich leicht über den Index erschließen lassen. Eine Liste mit Hilfsmitteln zum Studium der Interkulturellen Theologie rundet 7
Vgl. Die Arbeiten von Ulrich Beck und Zygmunt Bauman sowie Neuansätze in der praktischen Theologie und Ethik, wie sie durch Wilhelm Gräb, Henning Luther, Albrecht Grötzinger oder Friedrich Wilhelm Graf vertreten werden. Werner Ustorf, Sailing on the Next Tide. Missions, Missiology and the Third Reich, Frankfurt/M. 2000, setzt sich mit dem Erbe der Nazidiktatur aus missionswissenschaftlicher Sicht auseinander; Heino Falke, Die unvollendete Befreiung. Die Kirchen, die Umwälzungen in der DDR und die Vereinigung Deutschlands, München 1991, hat eine kontextuelle Theologie aus ostdeutscher Sicht vorgelegt.
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Orientierungen
diesen Serviceteil ab. Vor Drucklegung wurden die besuchten Internet-Adressen alle noch einmal überprüft. Die Übersetzungen von Zitaten aus der englischsprachigen Literatur sind von mir. Einige Passagen sind grundlegende Überarbeitungen früherer Publikationen, den Herausgebern und Verlagen danke ich für die freundliche Genehmigung davon Gebrauch zu machen.8 Wiederholungen habe ich auf ein Minimum beschränkt; manchmal waren sie jedoch unvermeidlich um auch selektives Lesen zu ermöglichen. Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen ohne ein Stipendium der Niederländischen Forschungsgemeinschaft (NWO vervangingssubsidie). Evert Jonker, Leo Koffeman, Ina Kowaltschuk, Rinse Reeling-Brouwer, Karel Steenbrink, Werner Ustorf, Akke van der Kooi und Lieke Werkman sowie meine Lebensgefährtin Dorothea Erbele-Küster und meine Eltern Heide und Karl Küster haben das Manuskript ganz oder in Auszügen gelesen und nicht nur so manchen Fehler korrigiert, sondern auch anregende Fragen gestellt. Jacoline Rotteveel hat den Index erstellt. Verlegerisch betreut wurde ich von Jörg Persch und Ulrike Gießmann-Bindewald. Ihnen allen und den vielen ungenannt gebliebenen Gesprächspartnern, Kolleginnen, Kollegen und Studierende gleichermaßen, in Europa, Asien, Afrika und den USA gilt mein Dank.
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Im Einzelnen handelt es sich um: Art.: Interkulturelle Theologie, in: Handbuch Interreligiöses Lernen, hg. von Peter Schreiner et.al., Gütersloh 2005, 179–191 [Prolog; § 3]; Art.: Mission und biblische Exegese, Missionstheologie, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, 1333f. [§ 1]; Models of Contextual Hermeneutics: Liberation and Feminist Theological Approaches compared, in: Exchange 23, 1994, 149–162 [§ 2]; Text und Kontext. Zur Systematik kontextueller Hermeneutik, in: Der Text im Kontext. Die Bibel mit anderen Augen gelesen, Hamburg 1998, 130–143 [§ 2]; Von der Kontextualisierung zur Glokalisierung, in: Theologische Literaturzeitung 134, 2009, 261–278 [§ 2]; Wer, mit wem, über was? Suchbewegungen in der Landschaft des interreligiösen Dialoges, in: Benjamin Simon / Henning Wrogemann (Hg.), Konviviale Theologie, Festgabe für Theo Sundermeier zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 2005, 72–93 [§ 4]; Aufbruch der Dritten Welt. Der Weg der ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen [EATWOT], in: Verkündigung und Forschung 37, 1992, 45–67 [§ 5]; Von fremden Christologien lernen. Das Antlitz Jesu Christi in Afrika, Asien und Lateinamerika entdecken, in: Glaube und Lernen 19, 2004, 54–69 [§ 7]; Art.: Messias / Messianismus: V.3. Mission, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart4, Bd. 5, 1159–1161 [§ 7]; Chung Hyun-Kyung – „Komm, Heiliger Geist, erneuere die ganze Schöpfung“. Canberra revisited, in: Akke van der Kooi et al. (Hg.), Ontmoetingen. Tijdgenoten en getuigen. Studies aangeboden aan Gerrit Neven, Kampen 2009, 290–300 [§ 9]; Leren van vreemde kerken. Interculturele ecclesiologie, in: Gerrit de Kruijf / Wietske de Jong (Hg.); Een lichte Last. Protestantse Theologen over de Kerk, Zoetermeer 2010, 125–140 [§ 10].
Prolog
Klassische Dogmatiken beginnen mit Prolegomena, dem, was vorab gesagt werden muss. In der gebotenen Kürze widmen sie sich der Grundlegung und Abgrenzung dessen, was folgt. Dem dient dieser Prolog auf seine Weise. Interkulturelle Theologie beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen christlichem Glauben und dem kulturell-religiösen Pluralismus, an dem er selbst auch Teil hat.1 Der universal und ewig gültige Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens wird damit relational interpretiert. Göttliche Wahrheit und menschliche Erfahrung stehen in einer dialektischen Wechselbeziehung.2 Interkulturelle Theologie ist darum hermeneutische Theologie. Sie fragt nach der Auslegung des christlichen Glaubens in seinem jeweiligen Kontext und sucht nach Spuren des Heilshandelns Gottes in der Geschichte. Die eschatologische Wahrheit des christlichen Glaubens ist letztendlich immer nur kontextuell zugänglich. Im Blick auf die christliche Religion heißt das, dass es das Christentum ebensowenig gibt, wie das Judentum oder den Islam. Religionen sind in sich pluralistische Gebilde, die durch Ambiguität und Fluidität gekennzeichnet sind. Am Ende dieses Prologes erläutere ich die Dilemmas, die sich aus dieser Sichtweise des christlichen Glaubens und der Theologie als kritischer Reflexion darauf ergeben, und eröffne einen Ausblick, wie ich der Interkulturellen Theologie im Folgenden Gestalt geben werde. Nachdem ich meinen Theologiebegriff damit vorläufig umrissen habe (→§ 5.2.1), gilt es noch das „Inter-“ und das „kulturelle“ im Namen näher zu bestimmen. In Abgrenzung zu anderen Modellen der Pluralitätsbewälti1
2
Dass ich hier von „christlichem Glauben“ anstatt von „Christentum“ spreche, soll seine individuelle und kontextuelle Verfasstheit zum Ausdruck bringen. Im Englischen klingt bei „Christendom“ immer auch die Idee des „christlichen Abendlandes“ mit. Ich benutze daher gelegentlich auch den Begriff „(Welt-)Christenheit“, nicht zuletzt in Anlehnung an das englische „World Christianity“. Ferner ziehe ich auch die Formulierung „christlicher Glaube und Kultur“ dem verbreiteteren „Evangelium und Kultur“ vor. Letzteres suggeriert häufig, dass es einen Kern des Evangeliums gibt, der beliebig kulturell neu umhüllt werden kann. Vgl. Volker Küster, Theologie im Kontext. Zugleich ein Versuch über die MinjungTheologie, Nettetal 1995, 173–177.
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gung erläutere ich zunächst kurz, warum ich dem „inter-“ den Vorzug gebe. Im Blick auf das „kulturelle“ frage ich sodann nach dem Verhältnis zwischen Kultur und Kulturen, Religion und Kultur sowie Religion und Religionen und erkläre, was ich unter kulturell-religiösem Pluralismus verstehe. Modelle der Pluralitätsbewältigung Wer heute am Diskurs über die Wechselwirkungen zwischen christlichem Glauben und kulturell-religiösem Pluralismus teilnehmen will, sieht sich mit mindestens vier Präfixkonstruktionen konfrontiert: trans-, multi-, cross-, und inter-kulturell[-religiös]. Die Wahl des Präfixes ist zurzeit vielfach noch abhängig von den Präferenzen derjenigen, die es verwenden. Es kommt daher zu Überlappungen und synonymem Gebrauch. Bei genauerem Hinsehen lassen sich die Präfixe jedoch sowohl aufgrund ihrer Etymologie als auch ihrer überwiegenden Verwendung in anderen Wissenschaftszweigen deutlich voneinander abgrenzen. Hinter diesen Präfixkonstruktionen verbergen sich vier distinkte Modelle der Pluralitätsbewältigung. Wie ich am Ende unserer Erkundungen des interkulturellen Modells zeigen werde, haben auch die drei anderen ihren Niederschlag in der Theologie gefunden (→Epilog). • trans-kulturell setzt voraus, dass es trotz aller kulturell-religiösen Differenzen anthropologische Konstanten jenseits derselben gibt. Alle Menschen etwa bestatten ihre Toten, wie das geschieht und gedeutet wird, ist dann wiederum kulturell-religiös äußerst divers. • multi-kulturell beschreibt zunächst einmal den Sachverhalt, dass mehrere Kulturen nebeneinander in einer Gesellschaft existieren. Theorien der multikulturellen Gesellschaft ergründen die Rahmenbedingungen für ein gutes Zusammenleben, das die kulturellen Differenzen ausdrücklich anerkennt und ihnen Raum gibt (→§ 3.4). • cross-kulturell bezeichnet das Überschreiten kultureller Grenzen sowohl um einen Vergleich mehrerer Kulturen anzustellen als auch im Sinne der Vermischung von Kulturen. Im Musik- oder Modediskurs etwa wird mit cross-over bzw. cross-dressing die Kombination verschiedener Stilrichtungen beschrieben. • inter-kulturell schließlich nimmt Bezug auf den Raum zwischen den Kulturen (interstitial space). Der postkoloniale Kritiker Homi Bhabha spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Dritten Raum (Third Space)“,3 in dem sich die Kulturen begegnen. 3
Vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 1994 [dt. 2000].
Prolog
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In der Diskussion wird oft übersehen, dass die Präfixe keine inhaltlichen Aussagen über das „kulturell“ selbst machen, sondern eine Näherbestimmung äußerer Umstände bzw. Relationen sind. Das sich hier abzeichnende Differenzierungspotential sollte zur Beschreibung der komplexen Phänomene des Kulturkontakts genutzt werden. Der Kulturbegriff bedarf einer eigenen Klärung. Kultur und Kulturen Das hohe Maß an Abstraktion, mit dem der Begriff „Kultur“ im Vorangegangenen verwendet wurde, könnte suggerieren, dass Kulturen klar definierbare Entitäten sind. Die Überzeugung, dass das Gegenteil der Fall ist, setzt sich in der Kulturtheorie immer mehr durch.4 Kulturen sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie sind äußerst vielschichtig, vereinigen in sich diverse Subkulturen und sind in einem fortwährenden wechselseitigen Austausch miteinander begriffen. Dennoch lassen sich aus den verschiedenen Mischverhältnissen (Hybridität) kulturell distinkte Identitäten herauskristallisieren. Noch immer gibt es Kulturkreise wie Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Nordamerika und Australien sind durch die Nachkommen der europäischen Migranten geprägt. Nordafrika unterscheidet sich wiederum vom Afrika südlich der Sahara, Ostafrika von West- und Südafrika, Südostasien von Nordostasien, Westeuropa von Süd- und Osteuropa etc. Zugleich gilt, dass viele Völker eine Diaspora in anderen Ländern haben, die sich in regem Austausch mit ihrem jeweiligen Herkunftsland und untereinander befindet. Mehrfachmigration, stets auf der Suche nach besseren Lebensund Aufstiegschancen, wenn nicht in dieser, dann in der nächsten Generation, ist keine Seltenheit mehr. Die Kontinente überspannende soziale Netzwerke helfen dabei. Bestehen keine solchen Gemeinschaftsverbände, in denen das kulturelle Erbe bewahrt und zugleich neue hybride Identitäten geschaffen werden, ist die Chance groß, dass Migranten und vor allem ihre Kinder sich der Kultur ihres Gastlandes assimilieren. Noch Generationen später kann es allerdings zu Versuchen kommen, die verlorene Identität zu rekonstruieren. Der Begriff „Kultur“ ist polysem. Alfred Louis Kroeber (1876–1960) und Clyde Kluckhohn (1905–1960) haben bereits in den 50er Jahren des 20. Jh. über 160 Definitionen von Kultur aufgelistet.5 Größtmögliche Offenheit bietet ein 4 5
Vgl. Wim van Bimsbergen, Culturen bestaan niet, Rotterdam 1999; Ulf Hannerz, Transnational Connections: Culture, People, Places, London 1996. Vgl. Alfred Louis Kroeber / Clyde Kluckhohn, Culture: A critical review of concepts and definitions, Cambridge 1952.
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semiotischer Kulturbegriff. Die Semiotik erforscht, wie Zeichen, die bestimmte Botschaften versinnbildlichen, entlang kultureller Codes kommuniziert werden. Clifford Geertz (1926–2006) erschließt sich Kulturen darum mit Hilfe „dichter Beschreibung“ und hermeneutischer Methoden. Der Kulturbegriff, den ich vertrete [...], ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.6
Kultur und Religion Eine zweite Frage, die in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist die nach der Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion. Wiederum mit Geertz verstehe ich Religion als ein kulturelles System.7 Anders als dieser gehe ich jedoch davon aus, dass sie Ausdruck einer „Resonanzerfahrung“ ist.8 Diese setzt einen transzendenten Bereich voraus, der von den Religionen unterschiedlich gefüllt wird.9 6
7 8 9
Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1991, 9. Mit Ideen, Performanz und Material unterscheidet Jens Loenhof, Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation, Opladen 1992, dabei drei Dimensionen der Kultur, die es jeweils näher zu beschreiben und zu interpretieren gilt. Die oft abstrakten Sinndeutungssysteme finden ihre Konkretion in Ritualen, in denen Menschen partizipieren und ihrer Kultur Ausdruck verleihen können. Materialiter prägt dieses Gedankengut etwa Symbole, Kunst und Architektur. Für den Kulturvergleich stützt Geert Hofstede sich auf fünf kulturelle Tiefendimensionen bzw. Codes: nämlich Machtkonstellationen, den Umgang mit Differenz und Ambivalenz, die Verhältnisse zwischen Individuum und Gemeinschaft und den Geschlechtern, sowie die Ausrichtung im Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vgl. Geert Hofstede / Gert Jan Hofstede, Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, München 2009 [engl. 1991]; Geert Hofstede, Culture’s Consequences. Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations, Second edition, London 2001 [1980]. Vgl. Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung, 44–95. Vgl. Gerd Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?, München 1978. In unterschiedlichen Konstellationen war diese transzendente Dimension menschlicher Existenz in den letzten Jahren Gegenstand kontroverser Diskussionen. Vgl. Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung,
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Kultur und Religion sind wechselseitig aufeinander bezogen und durchdringen einander. In unterschiedlichen Kulturen erhalten Religionen unterschiedliche Ausprägungen. Dabei kann eine Kultur multi-religiös sein, oder eine Religionsgemeinschaft multi-kulturell. Migranten und Migrantinnen nehmen nicht nur ihre Religion, sondern auch einen Teil ihrer Kultur mit und kultivieren sie in ihrer Diasporasituation. Türkischer Islam etwa trifft dann in Europa auf den marokkanischer oder indonesischer Prägung. Die streng zentralistisch organisierte katholische Hierarchie hat ebenso mit diesem kulturellen Pluralismus zu ringen wie die strukturell schwachen konfessionellen Weltbünde der Protestanten. Während im Katholizismus die Migranten jedoch der jeweiligen Ortskirche zugeordnet werden, wodurch die Assimilation gefördert wird, kommt es im Protestantismus viel häufiger zu Kirchengründungen.10 Der Anspruch vieler Pfingstler transkulturell zu sein, wird durch die Beobachtung konterkariert, dass sie oft in den Milieus ihre größten Erfolge haben, wo sich ihnen kulturell-religiöse Anknüpfungspunkte bieten. Strukturparallelen mit dem koreanischen Schamanismus oder der Funktion afrikanischer Heiler sind dafür häufiger genannte Beispiele. Durch den Aufbruch der Theologen und Theologinnen aus der Dritten Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jh. erhielt die Diskussion über das Verhältnis des christlichen Glaubens zu Kulturen und Religionen neue Impulse. Religion und Religionen Lange bevor in der Kulturtheorie das Bewusstsein für die Hybridität der Kulturen reifte, wusste die Religionswissenschaft, dass Religionen, wo sie sich begegnen, miteinander in Wechselwirkung treten. Die daraus resultierenden Vermengungsprozesse wurden als Synkretismus bezeichnet.11 Es kann dabei
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Freiburg 2005; Umberto Eco / Carlo Martini, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Wien 2005. Vgl. Benjamin Simon, Afrikanische Kirchen in Deutschland, Frankfurt/M. 2003; Gerrie ter Haar (Hg.), Religious Communities in the Diaspora, Nairobi 2001 [1998]; dies., African Christians in Europe, Nairobi 2001 [1998]; Roswith I.H. Gerloff, A Plea for British Black Theologies. The Black Church Movement in Britain in its transatlantic cultural and theological interaction, 2 Bde, Frankfurt/M. etc. 1992. Vgl. Hermann P. Siller (Hg.), Suchbewegungen. Synkretismus – Kulturelle Identität und Kirchliches Bekenntnis, Darmstadt 1991; Jerald D. Gort et.al. (Hg.), Dialogue and Syncretism. An Interdisciplinary Approach, Grand Rapids / Amsterdam 1989; Robert J. Schreiter, Abschied vom Gott der Europäer. Zur Entwicklung regionaler Theologien, Salzburg 1992 [engl. 1985], 220–240; ders., Die Neue Katholizität. Globalisierung und die Theologie, Frankfurt/M. 1997 [engl. 1997], 97–126.
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entweder zur Übernahme von Elementen eines religiösen Systems in ein anderes kommen oder aber es entsteht eine neue Religion. Ein bekanntes Beispiel für die erste Variante ist die Übernahme hinduistischer Reinkarnationsvorstellungen ins Christentum. Die melanesischen Cargo-Kulte oder die koreanische Tonghak-Religion sind Beispiele für neue religiöse Bewegungen, die als Reaktion auf den Kolonialismus entstanden sind.12 Sie mischen einheimische Religionen mit Elementen des Christentums. Der ursprünglich neutral verwandte Begriff zur Beschreibung solcher religionswissenschaftlicher Phänomene entpuppte sich schnell als selbstreferentiell. Der Absolutheitsanspruch nicht nur des Christentums führte zu scharfer Abgrenzung gegenüber fremdreligiösen Einflüssen. Synkretismus wurde zum negativen Kampfbegriff vor allem auf dem evangelikalen Flügel der Missionsbewegung. Ähnlich wie gegenüber der eigenen Kultur haben die Missionskirchen diese ablehnende Haltung auch gegenüber den anderen Religionen internalisiert. Erst das Aufkommen der kontextuellen Theologien brachte hierin Veränderung. Einige ihrer Exponenten entwickelten eine positive Sicht des Synkretismus. Der indische Theologe M.M. Thomas sprach noch von einem „christuszentrierten Synkretismus“. Solange sich die anderen Religionen oder Elemente davon auf Christus ausrichten, besteht kein Grund zur Sorge (→§ 7.2). Mercy Amba Oduyoye, die Mutter der afrikanischen Theologie von Frauen, fordert einen „kreativen Synkretismus“. Ihr geht es darum, afrikanische religiöse Vorstellungen und Bräuche, die den christlichen Glauben in Afrika bereichern und verstärken können, zu übernehmen (→§ 5.2.2). In dieser Reihe ist die Forderung von Chung Hyun-Kyung nach einem „überlebens- und befreiungszentrierten Synkretismus“ sicherlich die verwundbarste Position, weil bei ihr nicht mehr Christus, sondern die Lebensförderung das Kriterium ist (→§ 9.1). Alle drei Positionen repräsentieren Spielarten der Inkulturationstheologie (→§ 2.1). Ich selbst würde als Kriterium den Grad der Integration vorschlagen, mit dem Elemente fremder Religionen ins Christentum aufgenommen und verarbeitet werden.13 Gelingt es etwa übernommene Riten und Symbole so zu interpretieren, dass sie sich in das System des christlichen Glaubens einfügen? Es geht dabei gewisser12
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Vgl. Hans Jochen Margull, Aufbruch zur Zukunft. Chiliastisch-messianische Bewegungen in Afrika und Südostasien, Gütersloh 1962; Benjamin B. Weems, Reform, Rebellion and the Heavenly Way, Tucson, Arizona 1964. In eine ähnliche Richtung weist Leonardo Boff, Plädoyer für den Synkretismus: Aufbruch zur Katholizität des Katholizismus, in: ders., Kirche: Charisma und Macht, Düsseldorf 1985, 164–194.
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maßen um ein Equilibrium zwischen Innovation und Integration, vergleichbar der Vermittlung zwischen Relevanz- und Identitätskriterium im hermeneutischen Zirkel (→§ 2.1). Ein weiteres Phänomen, das in diesem Zusammenhang der Erörterung bedarf, ist die doppelte Religionszugehörigkeit. Dabei können zwei Religionen oder Elemente davon parallel praktiziert werden, ohne dass sie sich überschneiden, oder aber Loyalitäten gegenüber zwei Religionen integriert werden. Im ersten Fall praktizieren Christen oft heimlich Elemente ihrer primären Religion weiter, für die sie in ihrer neuen Religion keinen Ersatz finden. Zu denken ist hier etwa an Heilungen oder Ahnenehrung in traditionellen afrikanischen Religionen. Die postmoderne Variante ist, dass Menschen sich bewusst mehreren religiösen Traditionen zugehörig fühlen und diese auch in ihrer religiösen Praxis zu integrieren versuchen. Katsumi Takizawa, Raimon Panikkar oder Chung Hyun-Kyung sind prominente Repräsentanten dieses Trends (→§ 7–9).14 Kulturell-religiöser Pluralismus Die Säkularisierung Europas im Gefolge der Aufklärung schien die Religionen zeitweilig zu Auslaufmodellen werden zu lassen. Dies wird heute durch gegenläufige Trends wie Migration und die damit einhergehende Multikulturalität und -religiosität, Patch-work-Religion und New-age-Spiritualität konterkariert. Auch der sich im einstmals „christlichen Abendland“ ausbreitende kulturell-religiöse Pluralismus hat bisher die christlichen Wurzeln nicht ausrotten können (→§ 3.4).15 Die Inkulturationsprozesse des Christentums unter den Vorfahren der Völker des heutigen Europa, die Begegnung mit hellenistischer Philosophie und römischem Recht ebenso wie mit den Stammesreligionen der Kelten 14
15
Vgl. Catherine Cornille (Hg.), Many Mansions? Multiple Religious Belonging and Christian Identity, Maryknoll, NY 2002; Manuela Kalsky, Religiöse Flexibilität. Eine Antwort auf kulturelle und religiöse Vielfalt, in: Reinhold Bernhardt / Perry Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen, Zürich 2008, 219–242. Vgl. Bert Hoedemaker, Secularization and Mission. A Theological Essay, Harrisburg, Pennsylvania 1998; Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids, Michigan 1999; Peter Berger / Grace Davie / Effie Fokas, Religious America, Secular Europe? A Theme and Variations, Farnham, Surrey 2008; Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, MA / London 2007 [dt. 2010]; Grace Davie, Europe: The Exeptional Case. Parameters of Faith in the Modern World, London 2002; dies., Religion in Modern Europe. A Memory Mutates, Oxford etc. 2000; Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007 [2004].
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und Germanen scheinen in grauer Vorzeit stattgefunden zu haben. In unseren Festkalendern, Kirchengebäuden und Wallfahrtsheiligtümern zeigt sich jedoch die Kontinuität heiliger Zeiten und Orte. Das Weihnachtsfest etwa wurde im Westen auf den 25. Dezember, den Tag der Wintersonnenwende, datiert.16 Damit fanden zugleich Elemente des Mithraskultes und später des nordischen Julfestes Eingang in den christlichen Glauben. Viele Kirchen und Wallfahrtsstätten sind über paganen Heiligtümern erbaut. Dabei wurden lokale Götter, Legenden und Riten christianisiert.17 Die Jahrhunderte der Reconquista Spaniens aus den Händen der Muslime, die 1492 mit der Rückeroberung von Granada endete, und die vielzitierten „Türken vor Wien“ (1529 und 1683), tragen im kollektiven Unterbewusstsein zur aktuellen Islamophobie bei. Als Erfahrungsschatz interreligiöser Begegnung wird die frühe islamische Präsenz in Europa demgegenüber wenig genutzt. Schon das fremdreligiöse Gegenüber der Juden hatte zu ihrer Jahrhunderte währenden Diskriminierung als Andersgläubige und schließlich zu ihrer Beinahe-Ausrottung in der Shoa geführt. Erst das Bestreben, dem Verhältnis der Kirchen zum Judentum nach Auschwitz neue Gestalt zu geben, legte den Grund für die moderne Dialogtheologie im Westen. Mit den massiven Migrationsbewegungen in Richtung Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jh. sickerte auch der Islam wieder ein, ohne dass es gelang, ihn zu integrieren oder gar ihm ein europäisches Gesicht zu geben oder auch nur einen nennenswerten Dialog zu führen. Wie vor ihm das Judentum führt der Islam eine Hinterhofexistenz, in Schach gehalten durch die christliche bzw. inzwischen säkularisierte Mehrheit. Aufgrund dieser Versäumnisse der Vergangenheit werden die vorgeblich offenen multi-kulturellen europäischen Gesellschaften heute von tiefen Krisen erschüttert, die Rechtspopulisten politischen Auftrieb geben. Europäische Theologie weiß zu all dem bisher wenig zu sagen, selbst wenn wir ihren Einzugsbereich nordatlantisch ausweiten. Die Schwerpunktverla16 Dass das seit dem 16. Jh. nachweisbare Brauchtum rund um Tannenbaum und Ostereier Fruchtbarkeitsvorstellungen unserer Urahnen perpetuiert, löst regelmäßig Erstaunen unter Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht aus. Sie sind längst zu christlichen Symbolen geworden. Dabei wird völlig vergessen, dass sie nirgends einen Anhalt in der Bibel haben. In orthodoxprotestantischen Kreisen in den Niederlanden sind diese Symbole deswegen auch als heidnisch verpönt. 17 Vgl. Anton Wessels, Kerstening en Ontkerstening van Europa. Wisselwerking tussen evangelie en cultuur, Baarn 1994 [Engl. 1994]; ferner die Arbeiten von Franz Joseph Dölger (1879–1940) und Hugo Rahner (1900–1968).
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gerung des Christentums in die südliche Hemisphäre wird größtenteils verdrängt. Dabei ließe sich von den Erfahrungen der Christenheit in der Dritten Welt durchaus etwas lernen. Sie leben z.T. schon seit Jahrhunderten in multikulturell-religiösen Kontexten, in denen das Christentum eine Option unter vielen ist. Christen in Asien sind Minderheiten in hinduistisch, buddhistisch oder islamisch geprägten Kulturen. Der srilankesische Jesuit Aloysius Pieris (*1934) hat dazu lakonisch festgestellt: „Asien aber wird, wie die Umstände klar zeigen, immer ein nichtchristlicher Kontinent bleiben.“18 Das Aufkommen fundamentalistischer Tendenzen in Islam und Hinduismus führt zu Verfolgungen teils Jahrhunderte lang integrierter christlicher Gemeinschaften.19 Von außen eindringende aggressive christliche Missionspraktiken heizen diese Konflikte noch an. In Afrika halten sich Christentum, Islam und Stammesreligionen in etwa die Waage. Religionskonflikte und doppelte Zugehörigkeit sind gleichermaßen an der Tagesordnung. Lateinamerika ist demgegenüber beinahe flächendeckend christianisiert. Doch hat der Exodus von katholischen Gläubigen in die Pfingstbewegung einerseits und die charismatische Bewegung innerhalb der katholischen Kirche anderseits die religiösen Landschaften einschneidend verändert. Erst langsam sind auch die Religiosität der Indiobevölkerung und die afro-brasilianischen bzw. -karibischen Religionen der Nachkommen der aus Afrika importierten Sklaven ins Bewusstsein getreten. Die kontextuellen Theologien, die von den intellektuellen Ressourcen der sie umgebenden Kulturen und Religionen regen Gebrauch machen, bieten einen reichen Erfahrungsschatz für die Interpretation der geschilderten Transformationsprozesse sowohl in der Dritten Welt als auch im Westen. Theologische Dilemmas Die unmittelbare Erfahrung des kulturell-religiösen Pluralismus macht uns Dilemmas bewusst, die dem christlichen Glauben inhärent sind. Da ist zunächst einmal das Universalität-Partikularität-Dilemma. Der christliche 18 19
Aloysius Pieris, Theologie der Befreiung in Asien. Christentum im Kontext der Armut und der Religionen, Freiburg 1986, 139. Der Begriff Fundamentalismus wurde ursprünglich für protestantische Christen geprägt, die in Abgrenzung zur Moderne die Unfehlbarkeit der Bibel betonen und an den sogenannten fundamentals des christlichen Glaubens, wie etwa der Jungfrauengeburt, der leiblichen Auferstehung und der Wiederkunft Jesu festhalten wollten. Heute wird er auch auf vergleichbare Tendenzen in anderen Religionen angewandt. Vgl. Martin E. Marty / R. Scott Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project, 5 Bde, Chicago 1991–1995.
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Glaube gründet in einer universalen Heilsverheißung für alle Menschen und den ganzen Kosmos, die ihre Relevanz jedoch im Partikularen unter Beweis stellen muss. Dies führt direkt ins Identität-Relevanz-Dilemma. Die Gefahr, dass der christliche Glaube sich partikularen Bedürfnissen anpasst und dafür wichtige Elemente seiner eigenen Identität aufgibt, macht es erforderlich Kriterien für Kontextualisierung und interkulturell-religiösen Dialog zu benennen. Die Frage, wie wir unseren nicht-christlichen Mitmenschen begegnen, rührt an das Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma. Sind sie in unseren Augen verloren, wenn sie nicht zum christlichen Glauben konvertieren, oder gehen wir davon aus, dass sie immer schon in Gottes Gnade eingeschlossen sind? Lassen sich die Grenzen des eigenen Systems im interreligiösen Dialog überschreiten und ist es möglich, die Differenz der anderen zu respektieren? Aber auch innerhalb der eigenen Religion gibt es ein Einheit-Pluralität-Dilemma. Die unterschiedlichen Traditionen der Konfessionen, Denominationen und Gruppen lassen sich nicht mehr vereinheitlichen. Der interkonfessionelle Dialog hat uns auch die Grenzen wachsender Übereinstimmung erfahren lassen. Manchem mag das Denken in Dilemmas und der damit verbundenen Ambiguität und Fluidität als Signatur unserer spätmodernen Zeiten erscheinen. Sie sind jedoch dem christlichen Glauben immer schon inhärent gewesen, allein der Zeitgeist erlaubt es sie zuzulassen, ja gar als dynamisierend zu erfahren. Erkundungen Interkultureller Theologie Das Gebiet der Interkulturellen Theologie ist in vielem noch eine terra incognita. Sie bedarf darum eines eigenen Instrumentariums von Begriffen und Methoden zu ihrer Erkundung. Diesem Komplex widmet sich der erste Teil dieses Buches. Interkulturelle Theologie hat sich auf dem Terrain der Missionswissenschaft entwickelt und ihre Grenzen verlegt. Es lohnt also, hier unseren Ausgangspunkt zu suchen. Was wird heute akademisch und kirchlich theologisch zu Mission gedacht und gesagt? Welche Überlappungen gibt es mit der Interkulturellen Theologie und wo verlaufen die Grenzlinien? Mit diesen Fragen wird noch vertrautes Terrain karthographiert. Der Pluralismus der in den vormaligen Missionsgebieten entstandenen kontextuellen Theologien fragt ebenso nach einer theoretischen Durchdringung wie nach ihrer interkulturellen Vernetzung. Theologie wird in der Folge interkulturell. Der zweite Teil über die Dimensionen Interkultureller Theologie will die Erfahrungen von Pluralität und Differenz im interreligiösen und interkul-
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turellen Dialog auch für das interkonfessionelle Gespräch fruchtbar machen. In Letztgenanntem ist eine gewisse Konvergenz erreicht, die in Stagnation umgeschlagen ist. Die Anerkennung und Wertschätzung des intra-christlichen Pluralismus kann hier einen Ausweg bieten. Das Gewebe der generativen Themen des christlichen Glaubens, das die globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit (Johann Baptist Metz) miteinander verbindet, ist längst neu gewoben. Diesen theologischen Transformationsprozessen spürt der dritte Teil nach. Der Epilog schließlich bringt die hier skizzierte Interkulturelle Theologie ins Gespräch mit anderen Modellen theologischer Pluralitätsbewältigung, die mit ihr um das Erbe der Missionswissenschaft konkurrieren. Diese Einführung in die Interkulturelle Theologie will zumindest einem doppelten Zweck dienen: als Lehrbuch für Studierende, die dann hoffentlich auch exemplarisch an Originaltexten arbeiten, auf die in den Fußnoten reichlich verwiesen wird, und als Handbuch für Kolleginnen und Kollegen. Dem Lehrbuchcharakter entsprechend praktiziere ich über lange Strecken dichte Beschreibung (Clifford Geertz). Mein Vorgehen ist weniger analytisch als vielmehr kontextuell und hermeneutisch. Möge meine Einführung viele als Atlas bei ihren Erkundungen der Landschaften der Interkulturellen Theologie begleiten.
Teil I: Begriffe und Methoden: Missionstheologie – Kontextuelle Theologie – Interkulturelle Theologie
Theologiegeschichtlich markiert der „Aufbruch der Dritten Welt“ – die Emanzipation der „jungen“ protestantischen Kirchen in den ehemaligen Missionsgebieten im Gefolge des Zweiten Weltkrieges und des damit einsetzenden Dekolonialisierungsschubes sowie die Aufwertung der römisch-katholischen Ortskirchen durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) – eine Epochengrenze. Dadurch waren die Rahmenbedingungen für das Entstehen kontextueller Theologien geschaffen (§ 2). Zugleich ließ die damit einhergehende Betonung des Lokalen nach einer Interkulturellen Theologie fragen, die in der Lage ist, diese Diskurse global zu vernetzen (§ 3). Die sich hier abzeichnenden Umwälzungen konnten nicht ohne Folgen für Mission und Missionswissenschaft bleiben. Der erste Paragraph blickt daher auf die Geschichte der Missionstheologie im 20. Jh. zurück und zeigt Bruchstellen und Übergänge zur Interkulturellen Theologie auf (§ 1). Inzwischen haben sich mit dem Globalisierungsschub zu Beginn der 1990er Jahre die Rahmenbedingungen erneut in einem Maße verändert, dass wir von einer zweiten Epochenwende sprechen können. Diese macht theologisch ein ständiges Verhandeln zwischen dem Lokalen und dem Globalen notwendig, ein Prozess, der durch Ambiguität und Fluidität gekennzeichnet ist. Zugleich lässt sich eine zunehmende Verschmelzung von kontextueller und Interkultureller Theologie konstatieren. Der Schwerpunkt in diesem ersten Teil liegt auf der Entwicklung neuer Begrifflichkeiten und Methoden, um die geschilderten Transformationsprozesse in der Weltchristenheit zu erfassen. Damit wird zugleich ein äußerst flexibler theoretischer Rahmen abgesteckt, der die Grenzen der Pluridisziplin Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft im theologischen Fächerkanon verlegt und einen Neubeginn markiert.
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Teil I: Begriffe und Methoden
§ 1 Mission revisited Während Mission dem Christentum in die Wiege gelegt ist, ist die Missionswissenschaft eine relativ junge Disziplin im theologischen Fächerkanon.1 Dennoch hat sie nach Ansicht vieler ihre beste Zeit schon wieder hinter sich. Über die Praxis der Mission wurde bereits in der paulinischen Korrespondenz und der Apostelgeschichte des Lukas reflektiert. Seine Fortsetzung fand dies etwa in der Missionsinstruktion Papst Gregors des Großen (ca. 540–604) von 601 im Blick auf die Englandmission des Benediktinermönches Augustinus, oder bei Raimundus Lullus (ca. 1232–1316), der Theorien zur Juden- und vor allem Muslimmission entwickelte. Die Missionsinstruktion von 1659 mit Richtlinien für die ersten apostolischen Vikare, Stellvertreter des Papstes in den überseeischen Missionsgebieten, die noch keine eigene Hierarchie hatten, markiert zugleich die Gründung der Propaganda Fide (1622), die 1967 in päpstliche Kongregation für die Evangelisierung der Völker umbenannt wurde. Der Ritenstreit des 17. Jh. um die Missionsmethode des Jesuitenordens, über den angemessenen Umgang mit der chinesischen Ahnenehrung oder mit dem indischen Kastensystem mit seiner Vorrangstellung der Brahmanenkaste, führte letztendlich zu Krise und vorläufigem Abbruch der römisch-katholischen Mission. Der Niederländer Gisbertus Voetius (1589–1676), der theologisch über die Mission unter ‚Juden, Muslimen und Heiden‘ reflektierte, wurde zu einem der Pioniere der protestantischen Missionstheologie. In Deutschland war Georg Calixt (1556–1656) ein früher protestantischer Befürworter der Mission. August Hermann Francke (1663–1727) und Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf (1700–1760) bereiteten durch ihre Bildungsarbeit in den Franckeschen Stiftungen in Halle und Zinzendorfs Brüdergemeine den Nährboden für protestantische Missionsarbeit, wie sie dann vorbildlich von dem Franckeschüler, Indienmissionar und -forscher Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) praktiziert wurde. Als Begründer der Missionswissenschaft als akademischer Disziplin wird protestantischerseits meistens Gustav Warneck (1834–1910) genannt, der selbst keine Missionserfahrung mitbrachte. Auch Missiologen der anderen Konfession konzedieren seinen Einfluss auf Joseph Schmidlin (1876–1944), sein katholisches alter ego. Warneck, der zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Honorarprofessor in Halle schon als Pastor pensioniert war, hat mit seiner mehrbändigen Missionstheologie das erste Standardwerk der jungen 1
Vgl. Olav Guttorm Myklebust, The Study of Missions in Theological Education, 2 Bde, Oslo 1955 und 1957.
§ 1 Mission revisited
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Disziplin zu Begründung, Organen sowie Betrieb (Gebiet, Aufgabe, Mittel und Ziel) der Sendung geschrieben. Er begründete die Mission breit, nicht nur biblisch, dogmatisch – vor allem ekklesiologisch – und ethisch, sondern auch geschichtlich und ethnologisch.2 Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es schon seit Raimundus Lullus immer wieder Initiativen gab, die Missionsarbeit theoretisch zu begleiten, sei es durch die Einrichtung einer formalen Ausbildung oder durch Vorträge und Vorlesungen von Missionspraktikern oder missionsbegeisterten akademischen Theologen vor allem aus den Disziplinen Kirchengeschichte oder Praktische Theologie, seltener der Bibelwissenschaften. Auch aus dem Bereich der klassischen und orientalischen Sprachen kam Unterstützung. Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) verortete die Mission dann in der Praktischen Theologie. Literarisch fand das wachsende akademische Interesse an der Mission seinen Niederschlag zunehmend in Dissertationen, Monographien und Aufsätzen in theologischen Fachzeitschriften. In Princeton hatte Charles Breckenridge von 1836–1839 bereits eine Professur für „Pastoraltheologie und missionarische Unterweisung“ inne. Karl Graul (1814–1864), Missionsdirektor in Leipzig (1844–1859) und Indienreisender, verstarb kurz nach seiner Habilitationsrede, bevor er eine Dozentur für Missionswissenschaft in Erlangen antreten konnte. Für Alexander Duff (1806–1878), der mit Unterbrechungen ca. 35 Jahre in Kalkutta, Indien (1830–1863), vor allem im Erziehungs- und Bildungsbereich gewirkt und dadurch zugleich wesentlichen Einfluss auf die Hindurenaissance hatte, wurde auf sein Betreiben 1867 ein Lehrstuhl für „Evangelistische Theologie“ am New College in Edinburgh eingerichtet. Nach seinem Tod zunächst in einen Lehrauftrag umgewandelt, wurde er 1909 wieder abgeschafft. Im Umfeld der Edinburger Weltmissionskonferenz (1910) wurden dann in den USA und Nordeuropa erste Lehrstühle besetzt. In Deutschland sind die meisten Lehrstühle für Missionswissenschaft in Kombination mit Ökumenik und/oder Religionswissenschaft demgegenüber erst nach 1945 eingerichtet worden, um die veränderte Lage in der Weltchristenheit zu erforschen. Die gelegentlich gehörte Polemik gegen die Missionswissenschaft, dass nach dem Ende der Westmission auch keine Lehrstühle für die Missionarsausbildung mehr gebraucht würden, stößt insofern ins Leere. In diesem Kontext ist auch die Diskussion über ihre Benennung zu sehen. Der Begriff „Mission“ wird häufig als zu belastet 2
Vgl. Gustav Warneck, Evangelische Missionslehre. Ein missionstheoretischer Versuch, 5 Bde, Gotha 1892–1905.
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Teil I: Begriffe und Methoden
durch das koloniale Erbe und westliche Superioritätsansprüche betrachtet. Die Umbenennung in „Interkulturelle Theologie“ droht dabei allerdings oft zum puren Etikettenschwindel zu werden (→§ 3). Die vorliegende Einführung in die Interkulturelle Theologie zeigt, dass sich hier eine eigenständige Disziplin entwickelt, ohne ihre Wurzeln in der Missionswissenschaft leugnen zu wollen. Nach einer Rückversicherung der biblischen und historischen Grundlagen (1.), werden im Folgenden die moderne missionstheologische Diskussion mithilfe von sechs Modellen kartographiert (2.) und die Positionen von Ökumenikern und Evangelikalen miteinander verglichen, deren Auseinandersetzungen den modernen Missionsdiskurs protestantischerseits bestimmen (3.). Daran anschließend erkunde ich in zwei Durchgängen durch die Weltmissionskonferenzen (4.) und zentrale kirchliche Verlautbarungen zum Thema Mission (5.) die theologische Reflexion über die Missionspraxis.
1. Die biblischen und historischen Grundlagen Dass Mission konstitutiv für den christlichen Glauben ist, wird im Allgemeinen biblisch begründet. Doch gibt es auch hier einen „Streit der Interpretationen“ zwischen Ökumenikern und Evangelikalen und die Hermeneutik des Verdachts hat längst den Missbrauch der Bibel etwa im kolonialen Projekt entlarvt. Entsprechend ist auch die „große Erzählung“ von der weltweiten Ausbreitung des Christentums nicht nur immer wieder neu interpretiert, sondern in jüngster Zeit auch hinterfragt worden. Der folgende Abschnitt bietet keine Einzelexegesen oder Ansammlungen historischer Fakten, sondern zeigt hermeneutische Grundlinien in der exegetischen und historischen Diskussion auf.3 Mission in der Bibel In der historisch-kritischen Exegese ist Mission eher ein Randthema geblieben.4 Umgekehrt reicht das Spektrum in der Missionstheologie vom Bibli3
4
Einen eigenen Ansatz vertritt M. Thomas Thangaraj, The Common Task. A Theology of Christian Mission, Nashville, TN 1999, der bei den Erfahrungen der Leute beginnt. Ihre „Mission der Menschheit (missio humanitas)“ wird für Thangaraj durch „Verantwortung, Solidarität und Gegenseitigkeit“ charakterisiert (47–60). Daran anschließend bietet auch er biblische und historische Einsichten. Vgl. L.J. Lietaert Peerbolte, Paul the Missionary, Leuven etc. 2003; Ferdinand Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1963.
§ 1 Mission revisited
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zismus bis zum wissenschaftlichen Umgang mit den biblischen Texten. Die hermeneutische Diskussion in der Missionswissenschaft hat auch das Bewusstsein für die Vielfalt der Zugänge zur Bibel geschärft (→§ 2). Während etwa im Kontext von Armut und Unterdrückung ein hermeneutisches Privileg der Armen postuliert wurde, das ihnen einen unmittelbaren Zugang zur Erfahrungswelt der Bibel erschließe, tritt im Kontext des religiösen Pluralismus nicht nur die Hermeneutik anderer Religionen in den Blick, sondern wird auch der biblische Kanon dekonstruiert. Interdisziplinär angelegte Projekte zum interkulturellen Bibellesen versuchen, diesem Pluralismus Rechnung zu tragen. Hinter diese Diskurse kann eine christliche Missionstheologie bei der Rückversicherung ihrer biblischen Wurzeln nicht zurück. In der Hebräischen Bibel ist Mission kein Thema, obwohl Israel von Anbeginn seiner Geschichte mit Fremdvölkern konfrontiert ist. Eine biblisch begründete Theologie der Mission würde sich jedoch selbst ihre Grundlage entziehen, wollte sie von der alttestamentlichen Überlieferung absehen. Dass der Gott Israels auch der Gott der Völker ist, ist kanonisch gelesen trotz aller partikularistischen Tendenzen in allen drei Zeitmodi der Geschichte Gottes mit den Menschen verankert. Mit der Völkertafel und der babylonischen Sprachverwirrung endet bereits die Schöpfungs- und Urgeschichte (Gen 1–11) im kulturellen Pluralismus. Die Abrahamsverheißung gilt ausdrücklich auch den Völkern (Gen 12,3). Diese universalistische Dimension der göttlichen Heilsverheißungen hat ihren Niederschlag auch in den Psalmen gefunden (Ps 24,1; 67). Der wegen Gottes Erbarmen mit den Bewohnern von Ninive zürnende Jona wird zurechtgewiesen (Jona 4). Gottes Heilshandeln an Israel geschieht den Völkern zum Zeugnis (Jes 42,1). Die zentrale alttestamentliche Metapher für das Heil der Völker aber ist ihre Wallfahrt zum Zion (Jes 2; Mich 4; vgl. Ps 96–99). Im Eschaton werden alle wieder hinzukommen. Ähnlich wird das wohl auch der Rabbi Jesus gesehen haben. Adressaten seiner Mission waren die kleinen Leute des jüdischen Volkes, denen er das nahe herbeigekommene Gottesreich verkündigte (Mk 1).5 Die Speisungsund Heilungswunder sind Zeichen dafür, dass es in seiner Person bereits angebrochen ist. Wer von außen kam und Glauben zeigte, wurde nicht grundsätzlich abgewiesen (Mk 7,24–30; Mt 8,5–13). Proselytismus (Mt 23,10) oder gar organisierte Mission unter den Völkern (Mt 10,5) scheint Jesus aber abgelehnt zu haben. Sie ist deutlich ein nachösterliches Phänomen 5
Vgl. Volker Küster, Jesus und das Volk im Markusevangelium. Ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese, Neukirchen-Vluyn 1996; ders., Die vielen Gesichter Jesu Christi. Christologie interkulturell, Neukirchen-Vluyn 1999, 9–15.
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Teil I: Begriffe und Methoden
und auch dann galt sie zunächst den Juden. Die Interpretation von Kreuz und Auferstehung als Neuschöpfung und universales Heilsgeschehen (Röm 5) konnte jedoch nicht ohne Konsequenzen bleiben. Paulus stellte denn auch den alttestamentlichen Grundsatz auf den Kopf: ‚Mission unter den Völkern jetzt und das zeitweilig verstockte Israel kommt im Eschaton wieder hinzu‘ (Röm 9–11). Er weiß sich vom Auferstandenen selbst zum Völkerapostel berufen (Gal 1; 1 Kor 15). Den Streit auf dem Apostelkonzil, ob die Neubekehrten durch Beschneidung zuerst Juden werden müssten, kann er für sich entscheiden (Gal 2; Apg 15). Abraham ist der Vater des Glaubens, der allein gerecht macht; schon als Unbeschnittener (Gal 3; Röm 4,11). Damit eröffnet Paulus den Weg für eine kulturell pluralistische Christenheit. Auch wenn er die Grenzen seiner jüdischen Religion im Gegensatz zu Jesus überschreitet, die Thora als Richtschnur für ein gottgefälliges Leben will Paulus ebenso wenig abschaffen. Seine Rechtfertigungslehre wendet sich allein gegen deren Heilswirksamkeit. Die Evangelien kennen alle einen Missionsbefehl (Mt 28,18–20; Mk 16,15; Lk 24,47f.; Joh 20,21), der allerdings heute allgemein spät datiert wird. Der Missionstheologie geben sie unterschiedliche Impulse. Das Markusevangelium ist ein Ruf in die Leidensnachfolge, Matthäus hat ein Handbuch für Missionare verfasst. Lukas legt mit seinem Doppelwerk einen groß angelegten heilsgeschichtlichen Entwurf vor. Im Johannesevangelium werden die Jünger durch Christus gesandt, so wie er selbst der Gesandte Gottes ist (17,18; 20,21). Jünger, Jüngerinnen und Glaubende, alle sollen eins sein, wie Jesus Christus und Gott Vater eins sind (Joh 17, 11.21). Die generativen Themen moderner Missionstheologie stehen allesamt in biblischen Begründungszusammenhängen: die von der Befreiungstheologie geforderte vorrangige Option für die Armen im Exodus und dem Leben und öffentlichen Wirken Jesu, die Inkulturationstheologie in der Vielfalt der neutestamentlichen Christologien, der Geistausgießung an Pfingsten (Apg 2) sowie der paulinischen Mission (1. Kor 9) und der Dialog mit anderen Religionen in der Schöpfungstheologie und ebenfalls im Wirken des Heiligen Geistes. Mission heißt dann biblisch gesprochen, bei den Leuten sein, eintreten für die Schwachen, im kulturell-religiösen Pluralismus den Dialog suchen und zugleich Zeugnis ablegen vom Evangelium Jesu Christi in Wort und Tat. Missionsgeschichte Gemäß dem Diktum, dass jede Generation die Geschichte neu schreiben muss, kennt auch die Periodisierung der Missionsgeschichte eine Anzahl divergierender Modelle. Kenneth Scott Latourette (1884–1968), dessen sie-
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benbändige Geschichte der Ausbreitung des Christentums (The Expansion of Christianity, 1937–45) noch dem Projekt der Westmission verpflichtet ist, verdanken wir die Einsicht, dass sich in der Missionsgeschichte Phasen der Expansion mit Phasen der Rezession abwechseln.6 Willem Visser’t Hooft (1900–1985), einer der Gründungsväter des Weltrates der Kirchen, unterscheidet aus der Perspektive der Dekolonialisierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, die er als nach-christliche Ära (Post-Christendom) bezeichnet, eine Anfangszeit vor der Konstantinischen Ära (4.–18. Jh.), die abgelöst wurde von der christlichen Ära (Christendom 1800–1950).7 David Bosch (1929– 1992) orientiert sich an der von Hans Küng für die Theologie fruchtbar gemachten Paradigmentheorie (→Epilog), um im Rückblick die Umbrüche der Nachkriegszeit zu sortieren.8 Mit Küng folgt er de facto jedoch weitgehend der traditionellen Epocheneinteilung: Urchristentum, Alte Kirche, Mittelalter, Reformation, Aufklärung und das ökumenische Zeitalter. Robert Schreiter (*1947) schließlich unterscheidet aus der Sicht der Periode der Globalisierung (seit 1989), dann eine Periode der Ausbreitung (1492–1945) und eine Periode der Solidarität (1945–1989).9 Die westliche Periodisierung der Welt- und Kirchengeschichte scheint bei allen diesen Entwürfen durch. Im Wesentlichen stimme ich mit Schreiters Einteilung der Neuzeit überein. Die Stichworte „Solidarität“ und „Globalisierung“ signalisieren bereits das Bewusstsein für die polyzentrische Verfasstheit der Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit. Ich ziehe es allerdings vor von Kontextualisierung und Glokalisierung zu sprechen (→§ 2). Der notwendige Perspektiven- und Paradigmenwechsel ist in vollem Gange. Die Zusammenfassung der Periode der Ausbreitung zu einem Zeitraum (1492–1945) verrät allerdings Schreiters katholischen Hintergrund. Aus protestantischer Sicht um6
7 8
9
Vgl. Kenneth Scott Latourette, The Expansion of Christianity, 7 Bde, New York / London 1937–1945. Vier der sieben Bände widmet Scott Latourette den letzten 150 Jahren, Bd. 4–6 beleuchten aus unterschiedlichen Regionalperspektiven „das große Jahrhundert (the great century)“ der protestantischen Mission, Bd. 7 reflektiert über die Entwicklungen in den Missionsgebieten z.Zt. der beiden Weltkriege. Vgl. Willem A. Visser’t Hooft, The Significance of the Asian Churches in the Ecumenical Movement, in: Ecumenical Review 11, 1959, 365–376. Vgl. David Bosch, Transforming Mission. Paradigm Shifts in Theology of Mission, Maryknoll, NY 1991, 187f. Kritisch dazu Karl Müller / Werner Ustorf, Einleitung in die Missionsgeschichte. Tradition, Situation und Dynamik des Christentums, Stuttgart etc. 1995, 9. Vgl. Konrad Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung?, München 1989, der die Paradigmentheorie auf die ökumenische Bewegung anwendet. Vgl. Schreiter, Neue Katholizität, 211–218.
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Teil I: Begriffe und Methoden
fasst diese Phase mit Latourette gesprochen zwei Expansionsschübe, einen fast exklusiv römisch-katholischen im Gefolge des Kolonialismus (1500– 1750) und einen zweiten überwiegend protestantischen, der mit dem Imperialismus des 19. Jh. gepaart ist (1815–1914) und auch als das „große Jahrhundert“ bezeichnet wird, sowie eine Rezession (1750–1815) oder in diesem Fall besser „Pause“ oder Phase der Stagnation. Bleibt der Zeitraum zwischen ca. 30–1492, der dann Latourette zufolge ebenfalls mindestens zwei Expansionsschübe umfasst. Der Ausbreitung im Römischen Reich in den ersten fünf Jahrhunderten folgte eine erste Rezession (ca. 500–950) bedingt durch den Niedergang Roms unter dem Ansturm der Völker aus dem Norden und die Ausbreitung des Islams von Süden her. Darauf folgte ein zweiter Ausbreitungsschub (ca. 950–1350), „getragen von Abenteurern, Siedlern, Händlern, Kreuzfahrern und Missionaren von Amerika und Grönland bis nach China“.10 Der Islam spielte auch bei der zweiten Rezession (1350–1500) eine entscheidende Rolle, die durch das Auseinanderbrechen des Mongolenreiches und den Siegeszug der Ottomanen sowie den Verfall der mittelalterlichen Kultur in Europa ausgelöst wurde und zu erheblichen Territorialverlusten führte. Die Feinabstimmung bleibt den Historikern der Zunft überlassen. Unter dem Einfluss der kontextuellen Theologien und später der postkolonialen Kritik entwickelten sich Projekte der Neuschreibung der Missionsgeschichte (rewriting) aus der Perspektive der Dritten Welt bzw. der Missionierten selbst. Dabei kam es zunächst zu der Entdeckung, dass es parallel mit der Westausbreitung des Christentums auch eine Missionsbewegung nach Osten entlang der Seidenstraße nach Indien und China und nach Süden bis nach Äthiopien gegeben hatte. Die Thomaschristen in Indien, die Nestorianer in China und das orthodoxe Christentum in Äthiopien sind Formen christlicher Präsenz in Asien und Afrika lange vor der Westmission. Neben dem Apostel Thomas werden Simon von Kyrene, aber auch der äthiopische Kämmerer als biblische Referenzen herangezogen (→§ 2.5). Gleichzeitig wird auch die Rolle einheimischer Übersetzer oder der Bibelfrauen rekonstruiert (local agency). Unter Berufung auf Johann Baptist Metz und seine Rede von der „kulturell polyzentrischen Weltkirche“11 sprechen Karl Müller (1918–2001) und Werner Ustorf (*1945) im Vorwort ihrer Einleitung in die 10 11
Latourette, Expansion, Bd. 7, 428. Vgl. Johann Baptist Metz, Im Aufbruch zu einer kulturell polyzentrischen Weltkirche, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 70, 1986, 140–153; ders., Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992 [1977].
§ 1 Mission revisited
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Missionsgeschichte von der „Bewegung des Christentums durch die Zeiten und Kulturen“ und der „Dynamik des Christentums in den Kontinenten“. Das Christentum könnte, um es in einem Bild auszudrücken, als die von Jesus Christus ausgelöste Bewegung gesehen werden, die sich an den jeweiligen Kulturen und Kontexten jeweils eigentümlich bricht und zu neuen Gestalten drängt. So geht es eigentlich gar nicht um die Geschichte der Mission, sondern eher um die Geschichte des Christentums selbst.12
Damit hat die Missionsgeschichtsschreibung, die als Teil der Kirchengeschichte begann, dieses Verhältnis zeitweilig programmatisch unter dem Motto „Kirchengeschichte als Missionsgeschichte“ umzukehren versuchte, sich schließlich als Kirchengeschichte von Afrika, Asien und Lateinamerika emanzipiert und dabei die Kirchengeschichte unter der Hand zu einer interkulturellen Christentumsgeschichte transformiert, die sich heute zeitgeschichtlich mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen muss.13
2. Missionstheologische Modelle Theo Sundermeier hat sechs Modelle identifiziert, die noch immer als Landkarte im Dickicht missionstheologischer Reflexion dienen können.14 Sie bauen teilweise aufeinander auf bzw. sind miteinander verwandt, gleichzeitig lassen sie sich zu drei Gegensatzpaaren ordnen. In der Praxis kommt es zu gelegentlichen Überlappungen. Das älteste Gegensatzpaar formen das Konversions- und das Kirchenpflanzungsmodell, die adressatenorientiert sind. Sundermeier leitet sie verwirrenderweise beide aus der katholischen Diskussion ab. Sie können zunächst einmal jedoch auch als idealtypisch für die Missionsstrategien der zwei großen westlichen Konfessionen gelten. 12
13
14
Müller / Ustorf, Einleitung, 9. Vgl. Werner Ustorf, Robinson Crusoe tries again. Missiology and European Constructions of “Self ” and “Other” in a Global World 1789–2010, Göttingen 2010. Vgl. Wilbert R. Schenk (Hg.), Enlarging the Story. Perspectives on World Christian History, Maryknoll, NY 2002; Klaus Koschorke, Einstürzende Mauern. Das Jahr 1989 / 90 als Epochenjahr in der Geschichte des Weltchristentums, Wiesbaden 2009. Vgl. Theo Sundermeier, Theologie der Mission, in: Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, hg. von Karl Müller / Theo Sundermeier, Berlin 1987, 470–495. Alternative, stärker historisch ausgerichtete Modelleinteilungen finden sich bei Stephen B. Bevans / Roger P. Schröder, Constants in Context. A Theology of Mission for Today, Maryknoll, NY 2004; Thangaraj, The Common Task; Bosch, Transforming Mission.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Übersicht 1: Theologische Modelle der Mission (Theo Sundermeier) Konversionsmodell
Kirchenpflanzungsmodell adressatenorientiert
Individuum Evangelikale; Kirchenwachstumsbewegung; J. Schmidlin
Kirche Löwener Schule (P. Charles; J. Masson)
Heilsgeschichtliches Modell
Verheißungsgeschichtliches Modell
begründungsorientiert Heilsgeschichte vs. Weltgeschichte Gott – Kirche – Welt
Heilsgeschichte = Weltgeschichte Gott – Welt – Kirche (ex-zentrisch) für andere
„Missio Dei“ O. Cullmann; B. Sundkler; D. Bosch
J. Hoekendijk; H.J. Margull
Kommunikationsmodell
Hermeneutisches Modell methodenorientiert
H. Kraemer; E. Nida; H. Balz
mit anderen T. Sundermeier
Die römisch-katholische Kirche mit ihrer hierarchischen Ausrichtung auf die Zentralinstanz des Papstes setzte entsprechend auf ihre weltweite institutionelle Ausbreitung. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam dabei die katholische Ortskirche als eigene Größe in den Blick. Die protestantische Missionsbewegung des 19. Jh. ist tief verwurzelt im Pietismus. Seine eschatologisch ausgerichtete Frömmigkeit und die Betonung des Laienelements führten zu einer schwachen Institutionsverbundenheit. Darum stand die Konversion des Individuums im Vordergrund. Das schließt nicht aus, dass sekundär auch Kirchen entstanden, ließ das Reich Gottes inzwischen noch auf sich warten. Umgekehrt mussten die einmal gegründeten katholischen Kirchen auch Menschen bekehren, um ihre Bänke zu füllen. Schmidlin, der von Sundermeier als Begründer des Konversionsmodells angeführte katholische Missionswissenschaftler, setzt denn auch die Ortskirche als Auffangbecken für die Frischbekehrten selbstverständlich voraus. Protes-
§ 1 Mission revisited
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tantischerseits führt die evangelikale Kirchenwachstumsschule (church growth school) von Donald McGavran (1897–1990) die Kirche selbst im Namen. Die Missionen der koreanischen (evangelikal-)protestantischen Kirchen gründen heute in der ganzen Welt Kirchen nach dem Vorbild der koreanischen Mutterkirchen. Die Nachkriegsdiskussion, die unter dem Eindruck der „Krise der Mission“ stand, die durch die inzwischen entstandenen einheimischen kirchlichen Strukturen in den früheren Missionsgebieten ausgelöst wurde, erhielt durch zwei antagonistische Modellpaare neue Impulse. Das bis heute einflussreichste Modell ist das heilsgeschichtliche. Es basiert auf den neutestamentlichen Arbeiten von Oskar Cullmann (1902–1999), der Christus als die Mitte der Zeit bezeichnet.15 Der schwedische Missiologe Bengt Sundkler (1909– 1995) hat dies für die Missionstheologie adaptiert.16 Er sprach von einer „progressiven Reduktion“, die von der Schöpfung über Israel als dem erwählten Volk und den „Rest“ (vgl. Zeph 3,12f.) auf Jesus Christus zuläuft und sich danach in „progressiver Expansion“ über die Apostel und die Kirche auf die Gemeinschaft der Heiligen im Reich Gottes ausbreitet. Heilsgeschichte und Weltgeschichte sind deutlich getrennt. Nur wer sich bekehrt – hier zeigt sich die Nähe zum Bekehrungsmodell – nimmt Teil an der Heilsgeschichte; die anderen sind demnach verloren. Die Kirche ist Heilsmittlerin und Heilsanstalt. Insofern besteht auch eine gewisse Nähe zum Kirchenpflanzungsmodell katholischer Provenienz.
Schöpfung
Volk Israel
„Rest”
Apostel
Kirche
Reich Gottes
Jesus Christus Abb. 1: Das heilsgeschichtliche Modell
Das verheißungsgeschichtliche Modell kehrt die Reihenfolge Gott – Kirche – Welt demgegenüber um in Gott – Welt – Kirche. Es ist Gottes Mission (Missio Dei). Karl Barth (1886–1968) hatte schon 1938 auf einer Missionskonferenz in Brandenburg darauf hingewiesen, dass der Begriff „Mission“ seinen 15
16
Vgl. Oskar Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung, Zürich 1946; ders., Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965. Vgl. Bengt Sundkler, The World of Mission, London 1965, 12f.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Ursprung in der Trinitätslehre hat (missio Dei).17 Der Vater sendet seinen Sohn (missio filii) und die beiden zusammen senden den Geist (missio spiritu). Durch Karl Hartenstein (1894–1952) fand der Begriff Missio Dei weite Verbreitung. In seinem Bericht über die Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 machte er ihn zur Signatur der ganzen Konferenz.18 In den Konferenzakten selbst findet sich nur der englische Begriff mission of God, der von den durch die Social-Gospel-Bewegung beeinflussten amerikanischen Delegierten eingebracht worden war. Gott wirkt in der Geschichte. Die Unterscheidung von Heilsgeschichte und Weltgeschichte wird dadurch aufgehoben. Die Kirche ist „ex-zentrisch“ zur Welt. Diese Formulierung des holländischen Missiologen Johannes Christian Hoekendijk (1912–1975) hat ihm viel Kritik eingetragen. Hoekendijk wollte die Kirche damit aber keinesfalls marginalisieren, wie ihm immer wieder unterstellt wurde, sondern sie radikal auf die Welt als dem Ort der Heilsgegenwart Gottes beziehen (Apostolat).19 Er ist damit zur tragischen Figur der niederländischen Missions- und Ökumenewissenschaft geworden. Mit dem Studienprozess Die missionarische Struktur der Gemeinde fand die Missio Dei weite Verbreitung.20 Seine europäischen Vordenker, Hoekendijk und Hans Jochen Margull, waren noch beeinflusst durch das Konzept der „Kirche für andere“ von Dietrich Bonhoeffer (1906–1945). Der MissioDei-Gedanke wurde jedoch auch schnell von der heilsgeschichtlichen Schule inkorporiert. Schon Hartenstein selbst stand dem heilsgeschichtlichen Modell nahe. De facto war der Begriff Missio Dei vor, während und nach der 17
18
19 20
Vgl. Karl Barth, Die Theologie und die Mission in der Gegenwart. Vortrag gehalten an der Brandenburgischen Missionskonferenz in Berlin am 11. April 1932, in: Zwischen den Zeiten 10, 1932, 189–215 [wiederabgedruckt in: Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge 3, Zollikon-Zürich 1957, 100–126]. Barth hat nicht nur auf die Theologie der Mission, sondern auch im Blick auf die Einschätzung der anderen Religionen (Theologie der Religionen) innerhalb der Missionsbewegung großen Einfluss gehabt (→§ 1.4). Vgl. Karl Hartenstein, Theologische Besinnung, in: Walter Freytag (Hg.), Mission zwischen Gestern und Morgen. Vom Gestaltwandel der Weltmission der Christenheit im Licht der Konferenz des Internationalen Missionsrats in Willingen, Stuttgart 1952, 51–72; Vgl. Hellmut H. Rosin, Missio Dei. An examination of the origin, contents and function of the term in Protestant missiological discussion, IIMO: Leiden 1972. Vgl. Johannes Christiaan Hoekendijk, Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft, Stuttgart / Berlin 1964. Vgl. Hans Jochen Margull (Hg.), Mission als Strukturprinzip. Ein Arbeitsbuch zur Frage missionarischer Gemeinden, Genf 1968.
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Weltmissionskonferenz in Willingen verschieden interpretiert worden. Während es für die Ökumeniker einen radikalen Neuanfang bedeutete – Gott handelt in der Geschichte –, sahen die Evangelikalen weiterhin die Kirche als das ausführende Organ auch der Mission Gottes. Neben den beiden begründungsorientierten Modellen, steht ein methodenorientiertes Gegensatzpaar. Die grundlegende Idee des Kommunikationsmodelles war, dass wir das Evangelium neu zu kommunizieren lernen müssen, um es wieder ins Gespräch zu bringen und die Krise der Mission zu überwinden.21 Das Risiko dieses Modells ist, dass es einseitig zielgerichtet ist. Es geht dem Sender darum die Botschaft möglichst effizient zu übermitteln. Auch in der Kommunikationstheorie hat sich jedoch schnell die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht nur um Kommunikation von, sondern auch Kommunikation mit geht. Dazu bedarf es der Kenntnis über den und der Mitwirkung des Empfängers, Kommunikation beruht auf Wechselwirkung. Dennoch bleibt das Risiko eines gewissen Gefälles bestehen. Botschaft Sender
Empfänger
Abb. 2: Das Kommunikationsmodell
Im Hinblick auf sein eigenes Missionsverständnis spricht Sundermeier vom „abrahamitischen Modell“. Abraham fällt die Eiche More nicht (Gen 12,6) sondern baut Gott daneben einen Altar. Er empfängt den Segen des PriesterKönigs Melchisedek (Gen 14,18f.). Durch seine Präsenz in Kanaan repräsentiert Abraham Gott.22 Da der Bezug auf Abraham zu Verwirrungen mit dem Konzept der abrahamitischen Religionen führen kann (→§ 4.2.2), ziehe ich die Bezeichnung Hermeneutikmodell vor, hat sich Sundermeier anfangs doch 21
22
Vgl. Hendrik Kraemer, Die Kommunikation des christlichen Glaubens, Zürich 1958; Eugene A. Nida, Message and Mission. The Communication of the Christian Faith, New York 1960. Sundermeier, Theologie der Mission, 480f.; ders., Mission nach der Weise Abrahams. Eine Predigt über Gen 12,1–9, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, FS Rolf Rendtorff, hg. von Erhard Blum et.al., Neukirchen-Vluyn 1990, 575–579.
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Teil I: Begriffe und Methoden
auch methodisch scharf vom Kommunikationsmodell abgegrenzt. Im Gegenüber zum Konversionsmodell ließe sich auch vom Präsenzmodell sprechen. Damit sind die beiden Extrempositionen in unserer Übersicht über die akademische missionstheologische Diskussion benannt. Konversion und Heilsvermittlung stehen zentral im Konversions-, heilsgeschichtlichen und Kommunikationsmodell. Das Hermeneutikmodell baut auf das verheißungsgeschichtliche auf und ist komplementär mit dem Kommunikationsmodell, da es nicht vom Sender, sondern vom Empfänger her denkt. Alle Modelle messen der Kirche heute eine zentrale Rolle bei. Auch sind sie historisch gewachsen, sind die Modelle doch noch alle aktuell. Sie lassen sich auch in der Diskussion unter den Missionspraktikern finden, die im Folgenden in zwei Durchgängen anhand der Theologie der Weltmissionskonferenzen und zentraler kirchlicher Dokumente zum Thema nachgezeichnet wird. Zunächst wende ich mich aber mit Ökumenikern und Evangelikalen den beiden Gruppen zu, die den protestantischen Missionsdiskurs wesentlich bestimmt haben.
3. Ökumeniker und Evangelikale23 Die Evangelikalen haben ein vertikales Verständnis der religiösen Beziehung Gott – Mensch. Sie werfen den Ökumenikern vor, horizontal zu denken und ausschließlich an der sozialen Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft interessiert zu sein. Die Ökumeniker formulieren ihre Theologie jedoch im hermeneutischen Zirkel zwischen Text und Kontext. Sie integrieren dabei die sozio-ökonomische und politische sowie die kulturell-religiöse Dimension (→§ 2.1). Dem dualistischen Weltbild der Evangelikalen, die Heilsgeschichte und Weltgeschichte trennen, setzen sie ein schöpfungstheologisch-inkarnatorisches Verständnis entgegen, das Gott in der Geschichte gegenwärtig weiß. Heilsgeschichte und Weltgeschichte sind für sie eins, was ihnen den Vorwurf des Monismus eingetragen hat. Das Missionsverständnis der Evangelikalen ist soteriologisch, oft eschatologisch-apokalyptisch zugespitzt. Da, wo die Ökumeniker sich sozial en23
Die hier etwas schematisch einander gegenübergestellten Positionen kenne ich aus meiner Mitarbeit in ökumenischen Gremien und dem täglichen Umgang mit evangelikalen Studierenden sowie meinen regelmäßigen Aufenthalten in der Dritten Welt. In Deutschland habe ich mich intensiv mit der Position von Peter Beyerhaus, einem der Vordenker der evangelikalen Bewegung, auseinandergesetzt (→§ 5.6; vgl. Küster, Theologie im Kontext, 53–67).
§ 1 Mission revisited
41
gagieren, stehen sie unter Marxismusverdacht, wo sie sich mit dem kulturellreligiösen Kontext auseinandersetzen, werden sie des Synkretismus verdächtigt (→§ 5.6). Sie selbst sehen sich in der Nachfolge Jesu Christi, die Solidarität mit den kleinen Leuten, den Armen und Unterdrückten verlangt, die Kultur transformiert und im Dialog Zeugnis vom eigenen Glauben ablegt. Die Ökumeniker ihrerseits kritisieren die Erfolgs- und Jenseitsorientierung der Evangelikalen, die sie oft Quantität über Qualität stellen und die ethische Dimension vernachlässigen lasse. Übersicht 2: Ökumeniker und Evangelikale Evangelikale
ökum. Kritik
evangelikale Kritik Ökumeniker
Missions-
soteriologisch
erfolgsorientiert
sozial-ethisch
christologisch
verständnis
(eschatologisch-
(prosperity
sozio-ökon. &
Solidarität &
apokalyptisch)
gospel) oder
pol. Typus:
Nachfolge
jenseitsorientiert
marxistisch kulturell-religiöser Typus:
Dialog & Zeugnis
synkretistisch kontextuell
Theologie-
vertikal:
Vernachlässigung
horizontal:
verständnis
religiöse
der ethischen
soziale Beziehung hermeneutischer
Beziehung
Dimension
Mensch –
Zirkel:
Gesellschaft
Text und Kontext
Gott – Mensch Weltver-
dualistisch
monistisch
inkarnatorisch
ständnis
Heilsgeschichte
exklusivistisch
Heilsgeschichte
Geschichte
vs. Weltge-
= Weltgeschichte
Gottes mit der
schichte
Schöpfung
Kirche
Gott (missio Dei)
Subjekte der
„unerreichte
Option für die
Mission
Menschen“
Armen
Ziel der
Evangelisierung
Träger der Mission
Mission
nicht Qualität,
Humanisierung
Befreiung,
sondern
Inkulturation und
Quantität
Dialog
42
Teil I: Begriffe und Methoden
Die „unerreichten Menschen“ sind für viele Evangelikale noch stets die „Objekte“, im besten Fall „Subjekte“ der Mission. Die Ökumeniker sprechen von der „vorrangigen Option für die Armen“ und ihrem „evangelisatorischen Potential“. Dass Heil auch in den anderen Religionen zu finden ist, wird von den Evangelikalen strikt abgelehnt. Ihre Anhängerinnen und Anhänger müssen bekehrt werden, sonst fallen sie der Verdammnis anheim. Wo sie überhaupt von Dialog sprechen, hat er die Bekehrung der anderen zum Ziel. Dieser strikte Exklusivismus ist den Ökumenikern ein Stein des Anstoßes. Trotz dieses Nachdrucks auf der Bekehrung und der Betonung des Laienelements in der Missionsbewegung ist auch für die Evangelikalen heute die Kirche Trägerin der Mission. Die von den Ökumenikern favorisierte Missio Dei, im Sinne des Geschichtshandeln Gottes, wird von den Evangelikalen ekklesiologisch vereinnahmt. Ihr erklärtes Ziel ist die Evangelisierung, während sie den Ökumenikern vorwerfen, sich mit der „Humanisierung“ zufriedenzugeben. Die Ökumeniker selbst sehen Befreiung, Inkulturation und Dialog als Zielvorgaben an.24 Damit sind zugleich die generativen Themen genannt, die in den in § 2 zu behandelnden kontextuellen Theologien zentral stehen.
4. Die Theologie der Weltmissionskonferenzen Ein Rückblick im Lichte des 100-jährigen Jubiläums der Weltmissionskonferenz von Edinburgh (1910–2010) lässt zwei Komplexe generativer Themen organisatorischer und strategischer Art erkennen, die den Missionsdiskurs der letzten hundert Jahre bestimmt haben. Einerseits waren das nach innen gerichtet institutionelle Fragen im Hinblick auf das Verhältnis von Mission und Kirche im Allgemeinen sowie Missionskirchen und „jungen Kirchen“ im Besonderen, andererseits nach außen gerichtet strategische Fragen im Umgang mit den lokalen Kulturen und den anderen Religionen in den Missionsgebieten sowie der Säkularisierung im Westen.25 Früh kam 24
In den missiologischen Lehrbüchern wird gelegentlich aus westlicher Perspektive statt von „Befreiung“ noch von „Entwicklung“ gesprochen, ansonsten besteht über diese drei generativen Themen weitgehend Konsens. Vgl. Bosch, Transforming Mission; Schreiter, Neue Katholizität; Sundermeier, Theologie der Mission; Hoedemaker, Oecumene als leerproces. 25 Vgl. Wolfgang Günther, Von Edinburgh nach Mexico City. Die ekklesiologischen Bemühungen der Weltmissionskonferenzen (1910–1963), Stuttgart 1970; T.V.
§ 1 Mission revisited
43
es dabei zur oben geschilderten Parteibildung von Ökumenikern und Evangelikalen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der Repräsentation auf den Konferenzen. Wie ist jeweils das prozentuale Verhältnis von Vertretern der Missionsgesellschaften, sendenden Kirchen und westlichen Missionaren gegenüber Abgesandten der „einheimischen“ bzw. „jungen Kirchen“ gewesen? Was lässt sich über die Teilnahme von Frauen sagen? Die erste Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 war getragen von einem großen Optimismus.26 Die „Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ (John Mott) erschien möglich. Die anderen Religionen wurden totgesagt. Sie sollten dem Ansturm der Modernisierung nicht standhalten, während das Christentum als moderne Religion seine Zukunft noch vor sich hatte. Unter den ca. 1200 Teilnehmern waren nur knapp 20 aus den „jungen Kirchen“. Ihr moderates Votum für mehr Eigenständigkeit – vorgetragen in abendlichen Grußadressen – wurde schon als Provokation empfunden. Demgegenüber waren die Frauen mit einem Anteil von 17% repräsentiert. 1921 wurde in Lake Mohonk / USA der internationale Missionsrat (IMR) gegründet, der für die Arbeit zwischen den zukünftig zu organisierenden Großkonferenzen zuständig sein sollte. Es dauerte letztendlich jedoch 18 Jahre, bis zur zweiten Weltmissionskonferenz nach Jerusalem eingeladen werden konnte (1928). Die Welt war seit Edinburgh durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges gegangen. Der Niedergang der anderen Religionen hatte sich längst als Wunschdenken entpuppt. Hinduismus und Buddhismus hatten im Gegenteil in Auseinandersetzung mit Christentum und Moderne Renaissancen erlebt. Angesichts der das westliche Christentum bedrängenden Säkularisierung wurden die anderen Religionen von manchen Delegierten als natürliche Verbündete entdeckt. Unter den 211 Teilnehmern waren jetzt bereits 45 Vertreter der einheimischen Kirchen, überwiegend aus Asien. Im Rahmen einer kirchenzentrierten Missionsstrategie wurde den jungen Kirchen eine eigene Rolle in der Mission beigemessen.
26
Philip, Edinburgh to Salvador. Twentieth Century Ecumenical Missiology. A Historical Study of the Ecumenical Discussions on Mission, Delhi 1999; Dietrich Werner, Mission für das Leben – Mission im Kontext. Ökumenische Perspektiven missionarischer Präsenz in der Diskussion des ÖRK 1961–1991, Rothenburg 1993. Vorläuferkonferenzen hatten in Berlin (1878 und 1888) sowie New York (1900) stattgefunden.
44
Teil I: Begriffe und Methoden
Das von Hendrik Kraemer (1888–1965) in Vorbereitung der Weltmissionskonferenz in Tambaram 1938 geschriebene Buch Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt erteilt einer Zusammenarbeit mit den anderen Religionen dann allerdings eine deutliche Absage.27 Erneut machte sich hier der Einfluss von Karl Barth auf die internationale Missionsbewegung bemerkbar (→§ 1.2). In einem Sondervotum betonten die deutschen Delegierten, die das Dritte Reich hatte ausreisen lassen, einen eschatologischen Kirchenbegriff. „Wer Kirche sagt, sagt Mission, wer Mission sagt, sagt Kirche.“ Von den 409 Teilnehmern kamen nun bereits 36,4% aus den einheimischen Kirchen. Die Teilnehmerzahl aus den Missionsgebieten sollte sich mit einem Einbruch in Willingen (23,9%) und einem Spitzenwert von 53,5% in Melbourne auf im Schnitt ein gutes Drittel (ca. 38%) einpendeln. Asien ist durchweg am besten repräsentiert, auch wenn der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung statistisch viel geringer ist (AS; im Schnitt ca. 1–3%) als in Afrika (AF; ca. 33%). Lateinamerika war lange Zeit katholisch dominiert und die neuen pfingstlerischen Gruppen sind oft wenig an der Ökumenischen Bewegung interressiert, dennoch ist über die Jahre eine Zunahme lateinamerikanischer Teilnehmer (LA) zu verzeichnen. Der Pazifik (P) und der Mittlere Osten (M) sind relativ kontinuierlich jedenfalls präsent. Seit San Antonio (1989) sind die Orthodoxen mit einer nennenswerten Gruppe vertreten, in Athen kamen in größerer Anzahl die Pfingstler hinzu.28 Mit der Konferenz in Whitby brachen die für die Zeit verhältnismäßig guten Teilnehmerinnenzahlen der frühen Konferenzen (ca. 15%) ein. Dies mag seine Ursache darin haben, dass die Konferenzen eine Zeitlang zu einer Plattform für Missionsfunktionäre wurden. Erst mit der Einführung moder27 28
Vgl. Hendrik Kraemer, Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt, Zollikon-Zürich 1940. Beim Auszählen der in den Konferenzakten veröffentlichten offiziellen Teilnahmelisten ergeben sich gewisse Unschärfen. In Einzelfällen ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, ob ein asiatischer Name männlich oder weiblich ist. Bei Delegierten aus Afrika ist aufgrund der angelsächsischen oder frankophonen Namen manchmal nicht deutlich, ob es sich um einen Missionar oder doch um einen einheimischen Christen handelt. Missionare vor Ort oder weiße Südafrikaner zu Zeiten der Apartheid habe ich nicht als Delegierte der Dritten Welt gezählt. Ferner habe ich mich rein auf das Zählen der Mitglieder bzw. Delegierten beschränkt. Auch dabei gibt es gewisse Grauzonen, die in der Literatur zu unterschiedlichen Zahlen führen können. Hier ist weitere Detailarbeit unter Einbeziehung der Archive notwendig. Für eine erste Übersicht sind diese Ungenauigkeiten aber so gering, dass sie vernachlässigbar sind.
§ 1 Mission revisited
45
ner Quotenregelungen in den 1970er Jahren geht die Anzahl weiblicher Delegierter langsam wieder in die Höhe. Seit San Antonio hat sich auch der Frauenanteil auf ein gutes Drittel eingependelt (ca. 38%). Während anfangs unter den Abgesandten aus den jungen Kirchen nur wenige Frauen waren, verändert sich dieses Bild heute. Die ökumenischen Gremien und die einschlägige Forschung haben bisher wenig Interesse an diesen statistischen Fragen gezeigt. Die nur 78 Delegierten der Weltmissionskonferenz in Whitby / Kanada 1947 blickten mit Schrecken zurück auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Thema war das christliche Zeugnis in einer sich wandelnden Welt (expectant evangelism). Das erstarkende Selbstbewusstsein der jungen KirÜbersicht 3: Repräsentationsstatistik der Weltmissionskonferenzen 乆
Teiln. Edinburgh 1910 Jerusalem 1928 Tambaram 1938 Whitby 1947 Willingen 1952 Ghana 1957 / 58 Mexico City 1963 Bangkok 1973 Melbourne 1980 San Antonio 1989 Sao Paulo 1996 Athen 2005
%
Dritte Welt LA P 0 0
M 1
Total % 16 1,3
0
3
45
21,3
10
2
5
149
36,4
2
8
1
1
29
37,2
16
2
6
0
2
26
23,9
4,4
15
2
2
0
1
20
29,4
6
6,1
15
4
9
1
3
32
32,6
110
16
14,5 24
13
8
2
3
50
45,5
230
48
20,9 38
33
31
14
7
123
53,5
272
106
39
36
37
36
8
5
122
44,8
246
99
40,2 33
25
24
7
9
98
39,8
302
110
36,4 40
27
28
8
5
108
35,8
1216 211
AS 17,4 15
AF 0
211
32
15,2 37
3
2
409
62
15,2 119
13
78
7
9
17
109
11
10
68
3
98
46
Teil I: Begriffe und Methoden
chen, die durch die Unterbrechung der Westmission infolge der beiden Weltkriege eigene Strukturen aufgebaut hatten, führte zu der Formel „Partnerschaft in Gehorsam“. Die gleichberechtigte Partnerschaft der Kirchen steht unter dem Gehorsam gegenüber dem Evangelium als Korrektiv menschlicher Initiative. Obwohl die Missionsbewegung einer der Quellströme der ökumenischen Bewegung ist, beschloss der IMR dem 1948 in Amsterdam gegründeten Weltrat der Kirchen (ÖRK) nicht beizutreten. Der evangelikale Flügel fürchtete, dadurch die Ausrichtung auf das primäre Ziel der Mission aus den Augen zu verlieren. Die Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 war die erste ökumenische Großkonferenz auf deutschem Boden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Schließung Chinas für die Mission nach dem Sieg der Kommunisten (1949) gab der in Missionskreisen vorherrschenden Krisenstimmung weiteren Auftrieb. Zugleich setzte sich die neue theologische Grundlegung in der „Mission Gottes (Missio Dei)“ durch. Die vom Social Gospel beeinflussten amerikanischen Delegierten nahmen bereits Themen der Befreiungstheologie vorweg. In Achimota / Ghana (1957/58) brachte der deutsche Missionswissenschaftler Walter Freytag das allgemeine Krisengefühl auf die griffige Formel: ‚Früher hatte die Mission ein Problem, heute ist die Mission selbst ein Problem.‘ Die seit den Anfängen schwelenden Strukturfragen dominierten die Konferenz. Die jungen Kirchen prangerten die Verquickung von Mission und Kolonialismus an. Sie drängten auf eine Integration des IMR in den ÖRK, die auf dessen 3. Vollversammlung in Neu Delhi vollzogen wurde. Diese gab auch die einflussreiche Studie Die missionarische Struktur der Gemeinde in Auftrag, die den Missio-Dei-Gedanken von Willingen in seiner verheißungsgeschichtlichen Variante weiter ausbaute. 1958 wurde mit Hilfe einer Spende von J.D. Rockefeller Jr. der Theologische Ausbildungsfonds (Theological Education Fund – TEF) eingerichtet, der die Qualität der einheimischen Theologischen Seminare durch Fakultäts- und Curriculumentwicklung sowie Aufstockung der Bibliotheksbestände verbessern sollte. Das Motto der Weltmissionskonferenz in Mexico City 1963 „Mission in sechs Kontinenten“ ist ein Nachhall der Diskussion der letzten Decennia, die an die in Whitby gefundene Formel von der „Partnerschaft in Gehorsam“ anknüpfen konnte. Mit der Konferenz in Bangkok 1973 begann eine neue Phase. Das Aufkommen der kontextuellen Theologien sollte nun für gut 30 Jahre die Agenda bestimmen. Unter veränderten Vorzeichen wurde dabei auch die alte Frage nach dem Verhältnis zu den anderen Religionen wieder aufgenommen.
§ 1 Mission revisited
47
Gleichzeitig brach das gelöst geglaubte Strukturproblem durch den Auszug der Evangelikalen in die Lausanner Bewegung wieder auf (1974). Das generative Thema „Heil“ wurde von den Ökumenikern als Frage nach dem Heil in den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und den anderen Religionen aufgefasst. Forderungen nach einem Moratorium der Westmission wurden laut, vor allem aus Afrika. Die schlimmsten Befürchtungen der Evangelikalen waren wahr geworden: Der ÖRK hatte sich mit der Konferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 und seiner vierten Vollversammlung in Uppsala 1968 den dringenden sozio-ökonomischen und politischen Fragen der Zeit zugewandt. Nach einem Vorlauf war 1971 auch das Dialogprogramm mit Hans Jochen Margull als Vorsitzendem und Stanley Samartha als Direktor eingerichtet worden.29 Katholischerseits zeigen sich parallele Entwicklungen mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das die sozio-ökonomische und politische und die kulturellreligiöse Dimension gleichermaßen ernst nimmt, sowie seiner Umsetzung in Lateinamerika auf der Zweiten Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin (1968), die der Befreiungstheologie den Weg bahnte. In Melbourne 1980 trat das Dialogthema zeitweilig in den Hintergrund, der ganze Nachdruck lag nun auf der guten Nachricht für die Armen. 1989 in San Antonio bestimmten dann erneut beide Themen die Agenda. Mit dem Auftritt der jungen koreanischen Theologin Chung Hyun-Kyung auf der 7. Vollversammlung des ÖRK in Canberra brach die Debatte um Evangelium und Kultur unerwartet heftig auf (→§ 9.1). Evangelikale und orthodoxe Teilnehmer fühlten sich gleichermaßen provoziert. Es folgte ein Studienprozess, der seinen Abschluss in der Weltmissionskonferenz in Sao Paulo 1996 fand. Die dabei gewonnen Einsichten drohen längst schon wieder dem ökumenischen Kurzzeitgedächtnis anheimzufallen. Die bisher letzte Weltmissionskonferenz in Athen 2005 versuchte Brücken zwischen den zerstrittenen Gruppen zu bauen und zugleich auch die Pfingstler ins ökumenische Boot zu holen. Inhaltlich war sie ein „Markt der Möglichkeiten“, der theologisch wenig Neues beizutragen hatte. Die Lausanner Bewegung hat seit 1974 regelmäßig im Umfeld der Weltmissionskonferenzen ein eigenes Kontrastprogramm organisiert. 1980 in Pattaya, 1989 in Manila (Lausanne II) und 2004 wiederum in Pattaya fanden große Kongresse statt. Lediglich Sao Paulo 1996 wurde nur mit 29
Nach der Integration des IMR in Neu Delhi 1961 standen Mission und Dialog auch regelmäßig auf der Tagesordnung der ÖRK-Vollversammlungen. Vgl. Werner, Mission für das Leben.
48
Teil I: Begriffe und Methoden
einer kleinen Konferenz in Haslev, Dänemark, zum Thema „Kontextualisierung revisited“ beantwortet. Daneben fanden eine Vielzahl regionaler auch thematischer Konferenzen statt.30 Dass die Ökumeniker zu Zaungästen des Edinburgh-Jubiläums gemacht wurden, lässt die Weisheit von Brückenbauern wie Leslie Newbegin (1909–1998) oder David Bosch (1929–1992) vermissen, die zu Zeiten der großen Parallelkonferenzen zwischen den Lagern pendelten. Übersicht 4: Die Weltmissionskonferenzen 1910
Edinburgh / GB: „Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ (J. Mott) 1921 Gründung des IMR in Lake Mohonk / USA 1928 Jerusalem: Religionen gemeinsam vs. Säkularisierung 1938 Tambaram / Indien: vs. andere Religionen (H. Kraemer) 1947 Whitby / Kanada: „Partnerschaft in Gehorsam“ 1948 Erste Volksversammlung des ÖRK in Amsterdam / NL 1952 Willingen / Deutschland: Missio Dei 1957 / 58 Achimota / Ghana Strukturfragen: Kirche – Mission 1961 Neu Delhi: Integration ÖRK und IMR 1963 Mexico City / Mexiko: „Mission in sechs Kontinenten“ 1973 Bangkok / Thailand: Armut; Heil in anderen Religionen 1974 Lausanner Bewegung 1980 Melbourne / Australien: „Gute Nachricht für die Armen“ (Befreiung) 1989 San Antonio / USA: Befreiung und Dialog 1991 Canberra (Chung Hyun-Kyung) 1996 Sao Paulo / Brasilien: Evangelium und Kultur 2005 Athen / Griechenland: Heil und Heilung (Pfingstler)
30
Vgl. www.lausannerbewegung.de und www.lausanne.org.
§ 1 Mission revisited
49
5. Kirchliche Verlautbarungen zur Mission Die Kirchen haben sich auf den unterschiedlichsten Ebenen immer wieder zum Thema Mission geäußert.31 Ich konzentriere mich hier aufgrund ihrer Verbindlichkeit und Wirkungsgeschichte auf eine kleine Auswahl von Dokumenten katholischer und protestantischer Provenienz.32 Das älteste Dokument, das ich heranziehe, ist das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad Gentes (AG, 1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das jüngste Dokument ist ebenfalls katholischen Ursprungs, die Enzyklika Redemptoris Missio (RM, 1990).33 Zeitlich dazwischen liegen die Lausanner Verpflichtung (LE) des 31
32
33
Vgl. Joachim Wietzke (Hg.), Mission erklärt. Ökumenische Dokumente von 1972 bis 1992, Leipzig 1993; New Directions in Mission and Evangelization 1. Basic Statements 1974–1991, hg. von James A. Scherer / Stephen B. Bevans, Maryknoll, NY 1992. Von orthodoxer Seite steht dem nichts Vergleichbares gegenüber. Der Beitritt orthodoxer Kirchen zum ÖRK auf seiner dritten Vollversammlung in Neu Delhi 1961 führte allerdings auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema Mission innerhalb der Orthodoxie. Die Orthodoxen betonen dabei stark die Neubekehrung von Nichtchristen und wenden sich gegen jegliche Form von Prosyletismus. Dahinter verbirgt sich der Wunsch nach einer Abgrenzung der Einflusssphären. Aufgrund ihrer Mitgliedschaft im ÖRK verantworten die Orthodoxen die ökumenische Erklärung Mission und Evangelisation mit. Vgl. Your Will be Done. Orthodoxy in Mission, hg. von George Lemopoulos, Genf 1989 (in Vorbereitung der Weltmissionskonferenz in San Antonio 1989); Go Forth in Peace, Orthodox Perspectives on Mission, hg. von Ion Bria, Genf 1986; James J. Stamoolis, Eastern Orthodox Mission Theology Today, Maryknoll, NY 1986; Wietzke, Mission erklärt, 99–114. Die Ostkirchen sind auch in der Mission eigene Wege gegangen. Nach der frühen Ostausbreitung der Nestorianer (China etc.) und der syrisch-orthodoxen Kirche nach Indien sowie der Südausbreitung der Monophysiten (Ägypten und Äthiopien) verlagerten sich die Missionsaktivitäten der Ostkirchen, bedingt durch das Vordringen des Islam von Osten und die Territorialansprüche der Westkirche auf dem Balkan in den Osten des byzantinischen Reiches. Die Mission der russischorthodoxen Staatskirche in Sibirien war eng verknüpft mit staatlichem Expansionismus. Versuche, auch außerhalb der Reichsgrenzen in Alaska, China, Japan und Korea zu operieren, scheiterten nicht zuletzt an nationalistischen Obertönen und der Betonung der Liturgie. Einzig die orthodoxen Kirchen in Indien und Äthiopien konnten sich von alters her halten; in geringerem Maße gilt das auch für die später hinzugekommene Kirche in Japan. Vgl. Gerhard Rosenkranz, Die christliche Mission. Geschichte und Theologie, München 1977. Vgl. das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hg.) Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister, Freiburg 23 1991, 599–653; Enzyklika Redemptoris Missio seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul des II über die fortdauernde Gültigkeit des Missionarischen Auftrags,
50
Teil I: Begriffe und Methoden
Weltkongresses für Evangelisation von 1974 als Standortbestimmung der Evangelikalen und die ökumenische Erklärung Mission und Evangelisation (ME) des Weltrates der Kirchen aus dem Jahre 1982.34 Diese beiden Erklärungen markieren noch immer die offiziellen Positionen der beiden großen Strömungen innerhalb des Protestantismus. Schon ein erster Vergleich der Dokumente zeigt, dass sie die generativen Themen Heil, Bekehrung und die Rolle der Kirchen darin miteinander teilen. Auch wenn nicht explizit von Missio Dei gesprochen wird, hat die trinitarische Neubegründung der Mission sich doch in allen drei Strömungen durchgesetzt (AG 2; RM 1; LE 1; ME 1–3); in den römisch-katholischen und evangelikalen Dokumenten in Gestalt des heilsgeschichtlichen Modells (AG 9; LE 14f.) und in dem ökumenischen auch in seiner verheißungsgeschichtlichen Variante (ME 34f. und 43). Das Heil wird dabei allgemein christozentrisch gedacht (AG 7; RM 5; LE 3; ME 1 und 10), gelegentlich trinitarisch rückgebunden (RM 1.9.12; ME 1). Katholiken und Evangelikale nehmen Elemente vom Konversions- (AG 13; LE 4 und 9 vgl. ME 10) und vom Kirchenpflanzungsmodell auf (AG 6 und 15; LE 11 vgl. ME 25f.), die Ökumeniker halten sich an den Präsenzgedanken des Hermeneutikmodells (ME 45). Bekehrung geschieht entsprechend personal (LE 4 und 9 vgl. ME 10) oder im Rahmen der Kirchenpflanzung (AG 1–9; RM 33). Wie Gott in der Welt bzw. Geschichte am Werk ist, wird dabei durchaus kontrovers diskutiert. Evangelikale und Katholiken sehen sich gleichermaßen in einem Kampf gegen das Böse (AG 3; LE 12), der Leidensbereitschaft bis hin zum Martyrium voraussetzt (AG 24 vgl. ME 30). Für alle drei Strömungen steht heute die zentrale Rolle der Kirche als Trägerin der Mission außer Frage (AG 1; RM 1; LE 6; ME 3 und 6). Die „Partnerschaft in Gehorsam“ zwischen sendenden Kirchen und jungen Kirchen, denen nun selbst eine Rolle in der Mission zukommt (AG 20; LE 8)
34
7. Dezember 1990, hg. von Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz, Bonn 1990. Zwischen diesen beiden Dokumenten liegt das apostolische Rundschreiben Evangelii Nuntiandi, das die Weltverantwortung in Gestalt von Entwicklung und Befreiung als Themen einer christozentrischen Missionstheologie hervorhob. Alle Dokumente auch auf www.vatican.com. Die Siglen im Text beziehen sich auf die entsprechenden Abschnittnummerierungen der Dokumente. Vgl. Lausanner Verpflichtung, in: Wietzke, Mission erklärt, 1–11 (zur Fortschreibung in den Dokumenten der Folgekonferenzen www.Lausanne.org); Mission und Evangelisation. Eine ökumenische Erklärung. Verabschiedet vom Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen auf seiner Sitzung im Juli 1982, hg. von Evangelisches Missionswerk, Hamburg 61987 [= Wietzke, Mission erklärt, 74–98]. Die Siglen im Text beziehen sich auf die entsprechenden Abschnittnummerierungen der Dokumente.
§ 1 Mission revisited
51
und die „Mission in sechs Kontinenten“ (RM 32f.; LE 9; ME 37) sind ebenso Allgemeingut wie die Anerkennung der Rolle der Laien in der Mission (AG 21 und 41).35 Es ist ferner Konsens, dass die Einheit der Kirchen wichtig ist für ihre missionarische Ausstrahlung (AG 6; RM 50; LE 7; ME 1). Während die Kirche für Katholiken und Evangelikale gleichermaßen Heilsmittlerin und Heilsanstalt ist (AG 6; LE 9), sind die Ökumeniker zurückhaltender, die Kirche dient Jesus Christus in der Leidensnachfolge (ME 30). Insgesamt fällt die Nähe zwischen den Positionen der Evangelikalen und der Katholiken auf. Im Hinblick auf die generativen Themen des Kontextes Armut, Kultur und Religionen herrscht die größte Übereinstimmung im Blick auf die soziale Verantwortung von Kirche und Mission. Armut und Unterdrückung werden allgemein als Unrecht angeprangert, Gott steht auf der Seite der Armen (AG 5; RM 60; LE 5; ME 31–36).36 Die gottgegebene Menschenwürde ist unantastbar (RM 37; LE 5). Zugleich wird die Religionsfreiheit eingeklagt (RM 39; LE 13; ME 44). Die Evangelikalen zeigen sich früher genderbewusster (LE 5) als die Ökumeniker, von den Katholiken ganz zu schweigen. Wenn es um Kultur geht, vertreten Evangelikale und Katholiken das Akkommodations- bzw. Übersetzungsmodell (AG 22; LE 10 [→§ 2.1]).37 Selbst wo in Redemptoris Missio ausdrücklich von Inkulturation die Rede ist, ist Akkommodation gemeint (RM 29 und 53). Beide Strömungen wollen den Prozess der Übersetzung kontrollieren und eine Vermischung von Form und Inhalt vermeiden (AG 21f.; RE 29 und 52–54; LE 10). Die Kultur soll der Mission dienen. Diesem statischen Verständnis stellen die Ökumeniker mit dem Kontextualisierungskonzept ein dynamisches Modell gegenüber, das von einer Wechselwirkung zwischen Evangelium und Kultur bzw. Text und Kontext ausgeht (ME 26 und 43). Die größte Diskrepanz herrscht in der Einschätzung der anderen Religionen (→§ 4). Alle drei sind sich noch einig, dass es so etwas wie eine natürliche Theologie bzw. Offenbarung gibt (AG 7; LE 3; ME 43). Aber Heilswege sind es für Evangelikale und auch Katholiken nicht; wer die Botschaft hört und sich nicht bekehrt, fällt der Verdammnis anheim (Ag 7; LE 3). Während Ad Gentes ebenso wie die evangelikalen Dokumente diesen Exklusivismus vertreten, scheint die Erklärung des Konzils über die anderen Religionen Nostra aetate (1965) und später Redemptoris Missio (1990; 55) hier mehr 35 36 37
Die protestantische Missionsbewegung ist eine Laienbewegung. Ohne Ross und Reiter zu nennen wendet sich RM 17 allerdings gleichzeitig gegen die kontextuellen Theologien. Vgl. Der Willowbank Report, in: Lausanne geht weiter, Neuhausen 1980; Haslev 1997 Consultation Statement, auf: www.lausanne.org.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Raum zu geben. Dialog mag unvermeidlich sein (AG 34 und 41), allein sein Ziel ist umstritten. Für Katholiken und Evangelikale jedenfalls dient er, wenn überhaupt, der Mission (RM 55).38 Am weitesten wagen sich die Ökumeniker vor, die auch hier von einer gewissen Wechselwirkung ausgehen (ME 43). Übersicht 5: Theologie kirchlicher Verlautbarungen zur Mission Vatikan
Theologie der Mission
Lausanner Bewegung Heilsgeschichte
Träger der Mission
WCC
Verheißungsgeschichte Kirche
Subjekte der Mission
Unerreichte & Reevangelisierung
Unerreichte
Welt
Ziel der Mission
Kirchenpflanzung
Bekehrung
Bekehrung & Kirchenpflanzung (Befreiung, Inkulturation & Dialog)
Option für die Armen
Armut & Unterdrückung Kultur
Akkommodation Übersetzung (= Inkulturation)
Kontextualisierung
Religionen
Exklusivismus
Inklusivismus
Exklusivismus
Inklusivismus
Dialog & Mission
D|M
D=M
D M (D = M)
D|M
38
Während die Lausanner Verpflichtung den Dialog verwirft (LE 3), nimmt das Manila-Manifest von 1989 eine moderatere Haltung ein: „in allen Aspekten unserer evangelischen Arbeit, einschließlich dem interreligiösen Dialog“ (Abs. 3).
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
53
Die evangelikale Ermahnung, der ÖRK möge sein Missionsdenken auf eine biblische Grundlage stellen,39 erscheint angesichts der biblisch-theologischen Einleitung und Argumentationsweise von Mission und Evangelisation gegenstandslos. Letztendlich sind die Übereinstimmungen nicht nur zwischen Evangelikalen und Katholiken größer als die Unterschiede, aller Polemik zum Trotz. Dies ist sicher nicht zuletzt dem Einfluss der Evangelikalen und Katholiken aus der Dritten Welt zu danken, die sich aufgrund ihrer Kontexte nicht erlauben können Armut, Unterdrückung und kulturell-religiösen Pluralismus einfach zu negieren. Die im folgenden Paragraphen entwickelte Theorie kontextueller Theologie kann insofern auf breite ökumenische Resonanz rechnen.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie Die erste für die Entwicklung der kontextuellen Theologien und ihres interkulturellen Interpretationsrahmens relevante Epochengrenze – die Neuordnung der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges40 – fand ihren Niederschlag bald im Koordinatensystem zweier eng miteinander verflochtener Konflikte zwischen kommunistischem Osten und kapitalistischem Westen sowie reichem Norden und armem Süden. In Afrika und Asien ging dies einher mit einem Dekolonialisierungsschub.41 Im Kielwas39 40
41
Vgl. Manila Manifest, Abs. 9. Für Kenneth Scott Latourette, Expansion of Christianity, der den siebten und letzten Band seines opus magnum über die Ausbreitungsgeschichte des Christentums unter dem Titel Advance through Storm 1944 / 45 abgeschlossen hat, ist die „Periode, die 1914 begonnen zu sein scheint“ (1) noch nicht zu Ende. Er beschreibt diese drei Jahrzehnte, die im Westen geprägt sind von den Verwerfungen zweier Weltkriege, bereits hellsichtig als eine Phase der Konsolidierung und des Übergangs für die Christenheit in der Dritten Welt (409–415). Gelegentlich wird das 20.Jh. im Rückblick als „kurzes Jahrhundert (short century)“ bezeichnet. Für den Westen wird dann an die Periode zwischen dem Anfang des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks gedacht (1914–1989); für Afrika an den Beginn der Dekolonialisierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die mit dem friedlichen Sieg über die Apartheit in Südafrika und der Wahl Nelson Mandelas zum Staatspräsidenten abgeschlossen wurde (1945–1994). Vielen erschien auch der 11. September 2001 als Epochengrenze. Mit gewissen Übergangsphasen und ungleichzeitigen Entwicklungen ist zu rechnen. Die meisten Länder Lateinamerikas hatten schon im 19. Jh. ihre Unabhängigkeit erlangt.
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Teil I: Begriffe und Methoden
ser säkularer Emanzipations- und Demokratisierungsbewegungen lösen sich auch die christlichen Kirchen in der Dritten Welt von westlicher Vormundschaft. Protestantischerseits wird in diesem Zusammenhang von „jungen Kirchen“ gesprochen, im Katholizismus gewinnen die Ortskirchen mehr Eigenständigkeit, eine Entwicklung, die durch das Zweite Vatikanische Konzil gefördert wird.42 Die christlichen Intellektuellen in der Dritten Welt wollen ihren Beitrag zu den nun einsetzenden Prozessen der Nationwerdung (nation building) leisten. Als Anhänger der Religion der ehemaligen Kolonialherren sehen sie sich dabei vor die Aufgabe gestellt im Kontext kultureller Renaissancen43 eine glaubwürdige christlich-kontextuelle Identität herauszubilden. Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den Ländern Afrikas und Asiens, die gerade ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, etablierten sich in den 1960er Jahren totalitäre Regime, oft in Form von Machtergreifungen durch das Militär. Die sprichwörtlichen „Bananenrepubliken“ im lateinamerikanischen Hinterhof der USA wurden durch massive Einflussnahme der CIA unter dem Deckmantel etwa der United Fruit Company ferngesteuert. Die kommunistischen Steinzeitregime in Nordkorea, Vietnam oder Kambodscha gaben Anlass zu „Stellvertreterkriegen“ zwischen den beiden großen ideologischen Machtblöcken, auf dem Terrain der Dritten Welt. Der Korea- (1950– 1953) und der Vietnamkrieg (1968–1975) etwa waren traumatische Erfahrungen für die einheimischen Bevölkerungen und provozierten massive Proteste einer außerparlamentarischen Opposition im Westen. Die Hoffnung der internationalen Solidarität ruhte derweil auf dem kommunistischen Regime in Kuba und der Revolution in Nicaragua. In Afrika hielten sich nicht nur die Apartheitsgesellschaften im Süden als Formen einheimischen Kolonialismus, zugleich beuteten in vielen Ländern des Subkontinents korrupte Regime ihre eigenen Bevölkerungen aus, gleichermaßen hofiert von Rohstoff- und Waffenhändlern der beiden konkurrierenden Supermächte. Die lateinamerikanische Dependenztheorie entlarvt die neokolonialen Ausbeutungsstrukturen, die die Peripherie in neue Abhängigkeiten von den Zentren in West und Ost stürzt. Die Eliten der Subzentren in der Dritten Welt kooperieren dabei gegen 42 43
Auch im katholischen Bereich findet sich hin und wieder die Bezeichnung „junge Kirchen“ für die Ortskirchen in der Dritten Welt. Dabei handelt es sich um eine Wiederbelebung der durch den Kolonialismus unterdrückten Kulturen und Religionen in Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne und dem Christentum. Prominente Beispiele sind die indische Hindurenaissance oder die afrikanische Negritude.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
55
die Interessen der eigenen Bevölkerung mit den Emissären der Supermächte. In der Folge vollzogen Theologen, in der zweiten Generation auch Theologinnen der Dritten Welt einen epistemologischen Bruch mit der westlichen akademischen Theologie (1.) und machten die Praxis zum ersten Akt einer sich kontextuell verstehenden Theologie. Sie entwickelten eine Hermeneutik des Verdachts, sowohl gegenüber dem Text und seinen Interpretationen als auch gegenüber dem Kontext (2.). Ich ordne diese kontextuelle Hermeneutik in den hermeneutischen Diskurs ein und ziehe ein erstes Resümee (3.). Die zweite Epochengrenze des 20. Jahrhunderts, der Zusammenbruch des kommunistischen Ostens, der „zweiten Welt“, und die dadurch ausgelöste Globalisierung, hat auch die kontextuellen Theologien der Dritten Welt nicht unberührt gelassen (4.). Es zeichnet sich eine Verschiebung von der Kontextualisierung zur Glokalisierung ab, die in einem zweiten Resümee näher charakterisiert wird (5.). Die Abschnitte 1–3 erarbeiten eine theoretische Grundlegung kontextueller Theologie, überwiegend aufgrund von Material aus der ersten Epoche, das an anderer Stelle in einem diskursiven Längsschnitt (→§ 5) am Beispiel des Weges der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen (Ecumenical Association of Third World Theologians – EATWOT) sowie thematischer Querschnitte in Form einer kleinen interkulturellen Glaubenslehre (→§ 7–12) breit dokumentiert und analysiert wird. Die Abschnitte 4 und 5 greifen in aktuelle Diskurse ein und sind stärker zukunftsgerichtet. In Anbetracht der hier sichtbar werdenden Ambiguität und Fluidität modifiziere ich meine Theorie im Verlauf des Paragraphen entsprechend und positioniere mich in Abgrenzung und Übereinstimmung mit den von mir vorgestellten Beiträgen aus der zweiten Epoche.
1. Der epistemologische Bruch Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des 20. Jh. keimen überall in den Ländern der Dritten Welt kontextuelle Theologien auf, die einen epistemologischen Bruch mit der akademischen Theologie des Westens proklamieren: Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation Gedanken machen und das Wort Gottes
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Teil I: Begriffe und Methoden
im Verhältnis zu diesen Wirklichkeiten interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einlässt.44
Eine solche Theologie, die sich „als verstandesmäßiges Durchdringen des Glaubens“45 im jeweiligen Kontext versteht, kennt keinen Anspruch auf universale Gültigkeit und Dauerhaftigkeit. Kontextuelle Theologien unterscheiden sich aufgrund der generativen Themen, durch die sie jeweils bestimmt werden. Anhand dieser äußeren Unterschiede erstelle ich eine Typologie kontextueller Theologie. Ihr gemeinsamer Nenner ist die ihnen inhärente methodologische Grundstruktur, die sich als hermeneutischer Zirkel beschreiben lässt. Typologie kontextueller Theologie Von Anbeginn der Entwicklung kontextueller Theologien in der Dritten Welt lassen sich zwei große „Schulen“ unterscheiden. Die Befreiungstheologien setzen sich mit der sozio-ökonomischen und politischen Dimension ihres jeweiligen Kontextes auseinander. Am bekanntesten ist wohl noch immer die lateinamerikanische Variante mit ihrem Leitgedanken der „vorrangigen Option für die Armen“, die sich gegen die damals allgegenwärtigen Militärdiktaturen richtete. Erstmals formuliert im Vorfeld der zweiten lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellin 1968 versteht sie sich nicht zuletzt als konkrete Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils in Lateinamerika. Sie ist also überwiegend ein katholisches Projekt, auch wenn sich einige protestantische Stimmen (José Míguez Bonino, Ruben Alves u.a.) in den Chor mischen. Befreiungstheologien entstanden fast zeitgleich aber auch in Afrika und Asien. Die südafrikanische Schwarze Theologie, die den Rassismus des Apartheidsregimes anprangerte und die südkoreanische Minjung-Theologie, im Widerstand gegen die damalige Militärdiktatur formuliert, sind frühe Beispiele. Die indische Dalit-Theologie, die den Protest der Kastenlosen gegen das hinduistische Gesellschaftssystem artikuliert oder die japanische 44
45
Schlusserklärung der Gründungsversammlung der EATWOT in Daressalam / Tansania 1976, zitiert nach: Herausgefordert durch die Armen. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen 1976–1986, Freiburg etc. 1990, 43f. Gustavo Guttiérrez, Theologie der Befreiung, München / Mainz 1973, 6.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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Burakumin-Theologie, die sich gegen die Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen aufgrund Jahrhunderte lang perpetuierter, mythologisch aufgeladener Konstrukte von „rein“ und „unrein“ auflehnt, sind ihre Erben, setzen aber jeweils eigene kontextuelle Akzente.46 In allen genannten Fällen liegt die Federführung bei protestantischen Theologen. Viel verbreiteter sind in Afrika und Asien allerdings die Inkulturationsund Dialogtheologien. Sie richten sich auf die kulturell-religiöse Dimension des Kontextes. Während die Inkulturationstheologien dem christlichen Glauben im Gefolge der kulturellen Renaissancen eine einheimische Gestalt geben und dabei teilweise auch Elemente der anderen Religionen integrieren, suchen die Dialogtheologien das interreligiöse Gespräch. Zumindest indirekt leisten sie damit aber auch einen Beitrag zur Inkulturation der christlichen Gemeinschaft in den jeweiligen Kontext. Während die Befreiungstheologien den Charakter theologischer Bewegungen haben, sind die Inkulturationsund Dialogtheologien Gedankengebäude Einzelner. Beide Schulen haben ihre Vorgeschichte. Gustavo Gutiérrez und José Míguez Bonino grenzen sich von der Entwicklungtheologie und der neuen politischen Theologie westlicher Provenienz ab, die sie als liberal bzw. evolutionistisch kennzeichnen.47 Sie vertreten demgegenüber einen revolutionären Ansatz. Im Blick auf die Anpassung des christlichen Glaubens an die lokale Kultur wurde vor allem in katholischen Kreisen früh von Akkommodation gesprochen. Der entsprechende protestantische Begriff war Indigenisierung, ein Konzept, das heute in den Übersetzungsmodellen auf dem evangelikalen Flügel der Missionsbewegung weiterlebt. Der erste Direktor des dem Weltrat der Kirchen verbundenen Theologischen Ausbildungsfonds (TEF), Shoki Coe (1914–1988), empfand diesen Begriff als zu statisch und wollte ihn durch das Konzept der Kontextualisierung ablösen.48 Parallel wur46
47
48
Die südafrikanische Variante der Schwarzen Theologie wurde anfangs häufig als Ableger der Schwarzen Theologie der afrikanischen Diaspora in den USA betrachtet. Der sino-koreanische Begriff Minjung ist aus den Silben Min- (Volk) und -jung (Masse) zusammengesetzt (→§ 9.1). Dalit, „die Gebrochenen“, ist die Selbstbezeichnung der indischen Kastenlosen, Buraku bedeutet soviel wie „außerhalb des Dorfes“. Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 149–192. Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 22–42 und 207–215; José Míguez Bonino, Theologie im Kontext der Befreiung, Göttingen 1977, 34f., 74–78 und 126–131; ähnlich Pieris, Theologie der Befreiung in Asien, 6. Vgl. Shoki Coe, Contextualizing Theology, in: Gerald H. Anderson / Thomas F. Stransky (Hg.), Mission Trends 3: Third World Theologies, New York etc. 1976, 19–24.
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Teil I: Begriffe und Methoden
de im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils katholischerseits der Begriff der Inkulturation geprägt. Heute hat sich Kontextuelle Theologie als Sammelbegriff durchgesetzt. Übersicht 6: Akkommodation und Inkulturation Akkommodation
Inkulturation
Form und Inhalt lassen sich scheiden
Form und Inhalt lassen sich nicht scheiden
statisch
dynamisch
In EATWOT kamen die beiden „Schulen“ bzw. Typen kontextueller Theologie früh miteinander ins Gespräch (→§ 5). Der durch die Leitfrage der Zweiten Vollversammlung in Oaxtepec / Mexiko (1986) nach „Gemeinsamkeiten, Unterschieden und wechselseitiger Befruchtung“ angestoßene Prozess wurde zur Erfolgsgeschichte eines interkulturellen Diskurses. Die Lateinamerikaner entdeckten in der Folge die kulturell-religiöse Dimension ihres Kontextes in der Gestalt der einheimischen Völker und der afro-lateinamerikanischen Minderheiten. Die Vertreter der afrikanischen und asiatischen Inkulturations- und Dialog-Theologien sahen sich mit den sozio-ökonomischen und politischen Realitäten ihrer Kontexte konfrontiert. Bereits auf der ersten Vollversammlung der EATWOT in Neu Delhi / Indien (1981) hatte die afrikanische Theologin Mercy Amba Oduyoye den „Aufbruch im Aufbruch“ proklamiert und damit die erste Generation fast ausschließlich männlicher Theologen vor die Geschlechterfrage gestellt (→§ 2.2). Die Geschlechterdifferenz und die Ökologie kamen als neue generative Themen hinzu. Die ökologische Krise beförderte die Restitution der Dignität der primären Religionen mit ihrem ganzheitlichen Zugang zur Natur, was nicht ohne Einfluss auf die christliche Schöpfungstheologie blieb. Als neuester Trend zeichnet sich ein weltweites Aufkeimen von Theologien einheimischer Völker (indigenous oder tribal theologies) ab, die der Frage ethnischer Identität neues Gewicht geben ohne in eine Ethnizität verfallen zu wollen. Die Dritte-Welt-Theologinnen und -Theologen haben gelernt, dieser Mehrdimensionalität ihrer Kontexte Rechnung zu tragen, und die Einseitigkeiten der frühen Jahre korrigiert. Dennoch bleiben die beiden großen Schulen weiterhin erkennbar.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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Übersicht 7: Typologie kontextueller Theologie sozio-ökonomischer und politischer Typ
kulturell-religiöser Typ
Entwicklungstheologie; neue politische Theologie (Evolution; Reform)
Akkommodation, Indigenisierung, Übersetzungsmodelle (Kern-Schale-Modell)
Befreiungstheologien (Revolution)
Inkulturations- und Dialogtheologien (Zwiebel-Modell)
Kontextuelle Theologien sozio-ökonomische und politische, kulturell-religiöse, ökologische, ethnische und Gender-Dimension
Der hermeneutische Zirkel Grundstruktur der kontextuellen Theologien ist der hermeneutische Zirkel zwischen Text und Kontext, der angesichts des Identität-Relevanz-Dilemmas immer wieder abgeschritten werden muss.49 Der Text umfasst dabei nicht nur den Kanon der biblischen Schriften, sondern auch die christliche Tradition, die sich als Sinnzuwachs des Textes begreifen lässt. Autor bzw. Leserin werden in ihrem jeweiligen Kontext verortet. Dadurch ergibt sich zumindest eine zweifache Frage nach dem Kontext, nämlich desjenigen des Autors bzw. Textes selbst und desjenigen der jeweiligen Leserinnen und Leser. Anders als Wolfgang Iser, der in seinem Modell des „impliziten Lesers“ letztlich noch stark von Autor/Autorin bzw. vom Text her denkt,50 vertrete ich die These, dass die empirischen Leserinnen und Leser durch ihren Kontext repräsentiert werden und vice versa. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Autor und seinem Kontext. Damit will ich nicht in Abre49 Der auf Wechselwirkung orientierte hermeneutische Zirkel erscheint gegenüber dem in diesem Zusammenhang viel zitierten Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln, der eine dreifache sozio-analytische, hermeneutische und praktische Vermittlung zwischen Glauben und Welt zum Ziel hat, als viel dynamischer. Vgl. Leonardo und Clodovis Boff, Wie treibt man Theologie der Befreiung?, Düsseldorf 1986, 34–55. 50 Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 5 1994; Dorothea Erbele-Küster, Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2001.
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Teil I: Begriffe und Methoden
de stellen, dass er seine Spuren im Text hinterlassen hat und der Text auf seine Leserinnen und Leser hin angelegt ist. Aber die Funktion der Kontexte scheint mir bisher in eklatanter Weise vernachlässigt worden zu sein. Bei den neutestamentlichen Schriften etwa, über deren Autoren, vom Großteil der Paulusbriefe einmal abgesehen, wir wenig wissen, lässt sich doch ein Milieu beschreiben, in dem sie entstanden sind.51 Der Kontext des Autors bleibt erkennbar und lässt oft Rückschlüsse auf seine Person zu, ohne dass er noch individuell identifizierbar wäre. Es sind die kontextbezogenen Aussagen eines Textes, in denen wir seinen Autor aufsuchen können. Im hermeneutischen Zirkel vollzieht sich fortwährend Sinnproduktion, in unserem Fall wird Theologie formuliert. Wo wir in den Zirkel einsteigen, ob über den Text oder den Kontext, ist aufgrund der fortschreitenden Bewegung letztendlich nicht entscheidend. Aus der Kontext-Perspektive stellt sich die Relevanzfrage an die dabei getroffenen theologischen Aussagen. Inwiefern lassen sie das Evangelium in dem betreffenden Kontext relevant werden. Aus der Text-Perspektive ist die Identitätsfrage zu stellen. Bleibt die produzierte Theologie evangeliumsgemäß? Ist der Kontext das Relevanzkriterium, dann ist der Text das Identitätskriterium jeder kontextuellen Theologie. Die Kriterien für die kontextuelle Theologie werden also gewissermaßen im hermeneutischen Prozess selbst generiert. Aus dem Bereich der kontextuellen Theologien der Dritten Welt lassen sich heute mindestens vier Relevanzkriterien benennen: Das sozialethische Kriterium der Option für die Armen, wie es von den an der sozio-ökonomischen und politischen Dimension ihres Kontextes orientierten Befreiungstheologien Lateinamerikas formuliert wurde, und die von den afro-asiatischen Inkulturationstheologien zum Kriterium erhobene Forderung nach der Respektierung kulturell-religiöser (und ethnischer) Identitäten; hinzugekommen sind ökologische Nachhaltigkeit sowie Gender-Gerechtigkeit. In anderen Kontexten sind je eigene Relevanzkriterien zu formulieren. Die Antwort darauf muss der fortwährenden Überprüfung am Text standhalten (Identitätskriterium).
51
Vgl. exemplarisch Gerd Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1989. Die altestamentliche Wissenschaft stößt hier früher an ihre Grenzen. Der Autor und sein Kontext sind völlig verschmolzen, häufig lassen sich nur noch Mutmaßungen über die historische Verortbarkeit der Texte anstellen.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
61
In diesem Prozess werden die generativen Themen des Kontextes wie etwa Befreiung oder kulturelle Identität mit den ihnen korrespondierenden generativen Themen des Textes, Gerechtigkeit Gottes und Rechtfertigung versprochen.52 Das Konzept der generativen Wörter bzw. Themen verdanke ich Paulo Freire (*1921), der es während seiner Alphabetisierungskampagnen in Brasilien entwickelt hat.53 Es ging ihm darum, diejenigen Wörter und Themen zu identifizieren, die im Kontext der jeweiligen Gemeinschaft, die es zu alphabetisieren gilt, Lebensdeutung generieren. In einer der agrarischen Gemeinschaften Lateinamerikas sind das etwa generative Wörter wie Wasser, Regen oder Brunnen. Werden die armen Bauern durch eine Militärdiktatur unterdrückt, werden Freiheit und Befreiung zu generativen Themen. Diese Wörter und Themen bilden den Anknüpfungspunkt für die Alphabetisierung. Solche generativen Themen lassen sich auch im Text identifizieren. Die biblischen Geschichten haben Themen, die sie einst generiert haben. Gegenüber dem traditionellen Begriff „Dogma“ ist das Konzept der generativen Themen fluid und dynamisch. Anstatt einen „Kanon im Kanon“ zu suchen, ein Prinzip, auf dem die ganze Lehre basiert, wie etwa „Rechtfertigung“ in vielen protestantischen Dogmatiken, gehe ich von einem losen Gewebe generativer Themen aus, das den Text der christlichen Tradition strukturiert und zusammenhält. Die generativen Themen des jeweiligen Kontextes beeinflussen dabei, an welche generativen Themen des Textes wir anknüpfen, und vice versa. Der Einwand, dass es hierbei leicht zu einem Zirkelschluss kommen kann, lässt sich durch die Entgegnung zerstreuen, dass der Kontext einem ständigen Wandel unterworfen ist (Variable). Gleichzeitig eröffnet dieser immer wieder neue Perspektiven auf den Text (relationale Konstante), der dadurch andere generative Themen evoziert. Der Bibel kommt eine dreifache Funktion im hermeneutischen Prozess zu: • Die Bibel selbst ist das hermeneutische Modell. Die biblischen Geschichten sind Ausdruck der Erfahrungen von Menschen mit Gott und ihrer Ge52
53
Ich übernehme diesen Begriff aus der Predigtlehre Ernst Langes. Vgl. ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, München 1982. Für Lange ist dies „miteinander versprechen“ von „Verheißung und Wirklichkeit“ (27) die Kurzformel für den Prozess der im „hermeneutische[n] Zirkel zwischen Text und Situation“ (34) abläuft. Vgl. Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1990 [1970]. In Freires Konzept kommt dem Dialog eine zentrale Bedeutung zu (71–104).
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Teil I: Begriffe und Methoden
meinschaft. Sie sind darin der Urtyp aller erfahrungsbezogenen Theologie. Schon im Alten Testament wird der Exodus in neuen Situationen einer relecture unterzogen, im Neuen Testament gilt Ähnliches für das Kreuzesgeschehen. • Die Bibel ist der hermeneutische Schlüssel der Erfahrungswirklichkeit. Im hermeneutischen Prozess werden die biblischen Geschichten und die Erfahrungen der Menschen heute miteinander versprochen und ineinander wiedererkennbar. Die Geschichte wird dann transparent für Gottes befreiendes Geschichtshandeln, wie es sich im Exodus- und Jesusereignis vorbildhaft vollzogen hat. • Die Bibel ist das Identitätskriterium im hermeneutischen Prozess. In der ständigen Überprüfung am Text muss sich die Evangeliumsgemäßheit der theologischen Aussagen verifizieren lassen. Damit kommt ihr zugleich eine kulturkritische Funktion zu. Zu den genannten materialen Kriterien Identität und Relevanz tritt mit dem Dialogkriterium ein drittes formaler Art hinzu. Die Christenheit ist heute eine weltweite Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft. Jede Interpretation und damit auch jede kontextuelle Theologie muss sich dem „Streit der Interpretationen“ auf dem ökumenischen Forum stellen. Dieses Dialogkriterium setzt die Entwicklung einer Interkulturellen Theologie notwendig voraus.
Relationale Konstante Einstiegspunkt Text Kontext (Autor/in) Identitätskriterium
Kontextuelle Theologie
Einstiegspunkt
Kontext (Leser/in) Dialogkriterium
Abb. 3: Der hermeneutische Zirkel
Relevanzkriterium Variable
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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Während die Typologie kontextueller Theologie erlaubt, die verschiedenen Entwürfe thematisch zu ordnen, liegt mit dem hermeneutischen Zirkel gewissermaßen der allen gemeinsame Bauplan auf dem Tisch, ohne dass notwendigerwiese diese methodische Grundstruktur im Einzelfall jedesmal explizit gemacht würde.54
2. Hermeneutik des Verdachts Die hermeneutische Reflexion unter den Theologinnen und Theologen der Dritten Welt hat ihre Wurzeln in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Bereits 1974 hatte sich der Jesuit Juan Luis Segundo (1925–1996), mit Gustavo Gutiérrez (*1928) einer der Gründungsväter der Theologie der Befreiung, in seinen Harvard-Vorlesungen als einer der Ersten dieser Frage angenommen.55 In Anspielung auf Rudolf Bultmann (1884–1976) beschreibt er das methodische Vorgehen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie im Sinne des oben eingeführten „hermeneutischen Zirkels“ zwischen Vergangenheit (Text) und Gegenwart (Kontext). Er skizziert eine Hermeneutik des Verdachts im Umgang mit der Erfahrungswirklichkeit und der christlichen Tradition, ohne diese in letzter Konsequenz schon auf die biblischen Texte selbst auszudehnen, wie das unter Berufung auf ihn später Elisabeth Schüssler Fiorenza fordern sollte. Die Ambiguität und Fluidität Interkultureller Theologie zeigt sich auch in der Ausdifferenzierung der Hermeneutik des Verdachts, die sich bisher in drei Stufen über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren vollzog: Die Befreiungstheologie der 70er und frühen 80er, die in den 80ern einsetzende feministische Diskussion, die in einen Dialog zwischen westlichen und Dritte-Welt-Theologinnen mündete und schließlich der Neuaufbruch postkolonialer Theologie und Hermeneutik Ende der 90er Jahre des 20 Jh. Feministische Kritik entlarvte den Kanon als Produkt patriarchaler Konstruktion. Postkoloniale Kritik zeigt auf, dass die Bibel der Verknüpfung von Mission und Kolonialismus diente und selbst nicht frei von imperialistischer Ideologie ist. Als hermeneutische Theologie können die kontextuellen Theologien methodisch an einen westlichen Diskurs anknüpfen,56 schreiben diesen je54 55 56
Eine solche Schematisierung birgt zugleich die Gefahr in sich, dass kontextuelle Theologien nach dem Baukastenprinzip konstruiert werden. Vgl. Juan Luis Segundo, The Liberation of Theology, Maryknoll, NY 1976, 9. Vgl. Werner Jeanrond, Theological Hemeneutics. Development and Significance, London 1994; David Jaspers, A Short Introduction to Hermeneutics, Louisville, Kentucky 2004.
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Teil I: Begriffe und Methoden
doch fort und liefern einen eigenständigen Beitrag, den ich im Folgenden in zwei Resümees zusammenfassen werde. Befreiungstheologische Hermeneutik Den überzeugendsten Entwurf einer befreiungstheologischen Hermeneutik hat wohl der argentinische Alttestamentler J. Severino Croatto (1930–2004) vorgelegt.57 Er unterscheidet vier bzw. fünf Arten der Annäherung an den biblischen Text. Die beiden Extrempositionen sind dabei einerseits die Geringachtung der „Bibel als unzeitgemäßer Text“ (20) gegenüber der Wirklichkeit als Ort des Wirkens Gottes (1.), andererseits die Suche nach direkten Entsprechungen zwischen Bibel und Wirklichkeit (2.). Die letztgenannte „konkordistische Methode“ (19) reduziert die biblischen Geschichten auf die darin geschilderten äußeren Ereignisse und entleert sie dadurch ihres kerygmatischen Gehalts. Die historisch-kritische Methode (3.) ermöglicht „eine bessere Kontextualisierung des ursprünglichen Sinnes eines jeden Abschnittes“ (21), steht aber in der Gefahr, „eher zu einer Geschichte des Textes als zur Ausdeutung seines Sinnes“ beizutragen.58 Croatto selbst optiert für eine Verschmelzung der traditionell eher diachron orientierten Hermeneutik mit der stärker der Synchronie verhafteten Semiotik (4.), um der befreiungstheologischen Praxis einen theoretischen Überbau zu geben (20). Er konstatiert: Wir erklären lediglich die Möglichkeiten und den Reichtum einer Lektüre, die unter den Unterdrückten heute schon stattfindet – in den christlichen Basisgemeinden z.B. – in kulturellen und religiösen Kontexten, die sich von denen der semitischen oder westlichen Welt unterscheiden.59
Der Ursprung eines Textes ist nach Croatto immer eine Erfahrung bzw. ein Ereignis. Die in einem Text bewahrte Erinnerung dieses Ereignisses ist per 57
58
59
Vgl. J. Severino Croatto, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik, München 1989 (Seitenangaben im Text); ferner ders., Biblical Hermeneutics in the Theologies of Liberation, in: Virginia Fabella / Sergio Torres (Hg.), Irruption of the Third World. Challenge to Theology, Maryknoll, NY 1983, 140–168; ders., Exodus, a Hermeneutics of Freedom, Maryknoll, NY 1981 (→§ 5.5). Für Südafrika vgl. Itumeleng J. Mosala, Biblical Hermeneutics and Black Theology in South Africa, Grand Rapids, Michigan 1989; Gerald West, Biblical Hermeneutics of Liberation. Modes of Reading the Bible in the South African Context, Pietermaritzburg / Maryknoll, NY 21991. Anders als in seinem englischsprachigen EATWOT-Konferenzbeitrag (Croatto, Biblical Hermeneutics) zählt er hier die Sprachwissenschaften als eigenständigen Zugang auf (22), daher die eingangs erwähnte Differenz in der Zählung. Croatto, Biblical Hermeneutics, 160.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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se schon selektiv und interpretativ. „Text“ kann dabei sowohl die mündlich tradierte Erinnerung eines Ereignisses, eventuelle Vorform einer späteren Verschriftlichung, als auch ein schriftlicher Text sein. Das von Croatto entworfene hermeneutische Programm bezieht sich daher auf Texte und Ereignisse gleichermaßen und versteht sich als allgemeingültig. Die Erzählung eines Ereignisses in einem Text ist Produkt einer zweifachen Verfremdung. Das Sprachereignis bzw. die Rede schöpft aus der Polysemie der Sprache und legt einen Sinn fest (1. Verfremdung). Sie verknüpft Worte zu Sätzen und verdichtet diese zu einem Text (2. Verfremdung). Die drei konstitutiven Faktoren des Sprechaktes: Emittent, Empfänger und der beiden gemeinsame Kontext oder Verstehenshorizont sind nur punktuell und treten mit zunehmender Distanz immer weiter in den Hintergrund. Die dadurch entstehende „Autonomie des Textes“ öffnet ihn der Polysemie und bedingt „die hermeneutische Offenheit des Leseaktes“ (30). Jede Lektüre des Textes ist Sinnproduktion. Bleibendes Kriterium ist der Text selbst. ... die Hermeneutik der Texte [ist] von den Texten selbst abhängig ... Tatsächlich markiert der Text die Grenze des Sinnes – soweit sie auch sei. Polysemie des Textes heißt nicht Beliebigkeit. Ein Text sagt, was er zu sagen erlaubt. Seine Polysemie ergibt sich aus seiner vorher erfolgten Formulierung (93).
Doch ist jede Exegese zugleich Eisegese. Biographie und Kontext der Interpretin sind mit sinnkonstitutiv. Jede Lektüre ist gleichzeitig auch eine Sinnfestschreibung mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Dies provoziert den „Streit der Interpretationen“, der in letzter Konsequenz zur Kanonbildung führen kann, in deren Verlauf die unterlegenen Deutungen ausgeschieden werden. Doch auch der Kanon öffnet sich wieder der Polysemie: „Der Kanon ist weder der Beginn noch das Ende der Tradition. Er ist ein Augenblick in einem ununterbrochenen Verlauf“ (60).60 Es entsteht z.B. das Genre des Kommentars. Die in der Tradition bewahrten biblischen Texte sind von der Intertextualität zur Intratextualität übergegangen. „Auf diese Weise ist die Bibel zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Buch geworden, und von der Genesis zur Offenbarung gibt es – trotz seiner mannigfaltigen Variationen und Manifestationen – einen umfassenden kerygmatischen Sinn“ (56). Croatto steht dem canonical approach nahe.61 Er sucht nach den semantischen Achsen, „welche jene Sinn60 61
Ein ähnlich freier Umgang mit dem Kanon zeigt sich bei Kwok Pui-Lan (→§ 2.5). Vgl. Brevard S. Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979.
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erzeugung bestimmen, die unsere Bibellektüre ausmacht“ (70). Die Parteilichkeit Gottes, die Option für die Armen und Gottes Wirken „in den Ereignissen der menschlichen Geschichte“ (85), sind für ihn solche Sinnachsen.62 Die Bibel, die sich zentral im Exodus- und Jesusereignis erschließt, ist der hermeneutische Schlüssel, um das Wirken Gottes in der Geschichte zu entdecken.63 Gleichzeitig ist sie Modell dieses hermeneutischen Prozesses.64 Croatto betont, „Dass der Glaube entscheidend ist, um jene Heilsgegenwart Gottes in den Tatsachen des menschlichen Lebens auszusagen und zu bekennen“ (90). Der von Croatto beschriebene hermeneutische Prozess verläuft scheinbar linear. Auch wenn er den Text deutlich als Kriterium ausweist, ist eine Rückbindung an diesen in Form einer ständigen Überprüfung der Sinnproduktion nicht intendiert. Entsprechend wird auch die historisch-kritische Methode zwar gewürdigt und als notwendig erachtet, letztendlich aber nicht zwingend in das System integriert, und das, obwohl Croatto sie für seine Argumentation instrumentalisiert.65 Die starke Betonung der „Autonomie des Textes“ nimmt letztendlich die Kategorie der Erinnerung nicht ernst.66 Auch der von Croatto zur Bezeichnung des hermeneutischen Prozesses gewählte Begriff „Rekontextualisierung“ (92f.) deutet in diese Richtung, da er die Bedeutung des Entstehungszusammenhanges des Textes für sein Verständnis zu negieren scheint. Für den Brasilianer Clodovis Boff (*1944), Bruder des bekannteren Leonardo, ist der hermeneutische Zirkel zwischen Text und Kontext zur Grund62
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Milton Schwantes, Wege der biblischen Theologie in Lateinamerika, in: Evangelische Theologie 51, 1991, 8–39 unterscheidet drei Phasen in der Entwicklung der neuen Lektüre der Bibel in Lateinamerika. Der Weg führte von einer selektiven Rezeption „bestimmte[r] Texte und Verse“ (12) und einer „Vorliebe für bestimmte Themen“ (ebd.) über die „Interpretation von ganzen biblischen Büchern oder großen zusammenhängenden literarischen Komplexen“ (ebd.) hin zu dem Projekt einer „biblischen Theologie“ (13), das nach den Sinnachsen (16–19) fragt. „Die Bibel selbst führt uns zur Lektüre Gottes in den Ereignissen der Welt, und sie lehrt uns, ihn gerade so zu erkennen, wie er sich jetzt manifestiert, und nicht als Wiederholung von Vergangenem“ (87). „Die Bibel als ,Erzeugnis‘ eines hermeneutischen Prozesses gibt uns einen wichtigen Leseschlüssel an die Hand: Ihr kerygmatischer Sinn erschließt sich erst in der Fortführung desselben hermeneutischen Prozesses (= Ereignis > Wort), der sie ins Leben gerufen hat“ (81). „Deshalb ist es unerläßlich, ihn [den Text] mittels der historisch-kritischen Methode in seinen eigenen Kontext zu versetzen“ (93). Vgl. die Arbeiten von Johann Baptist Metz, der eine anamnetische Theologie entwickelt hat, die die „gefährliche Erinnerung“ an das Jesusereignis zum hermeneutischen Kriterium der Geschichte erhebt.
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struktur seiner theologischen Praxis des Politischen geworden. Diese in einem andauernden dialektischen Prozess zwischen den beiden Spannungspolen Theorie und Praxis des Glaubens kontinuierlich reformulierte Theologie ist Produkt einer zweifachen Vermittlung. Ihr Materialobjekt, das sie theologisch bearbeitet, erwächst ihr aus der sozialanalytischen Vermittlung der Wissenschaften des Sozialen. Das methodische Instrumentarium bzw. ihr Formalobjekt gewinnt sie aus der hermeneutischen Vermittlung der Glaubenswahrheiten, die in der Schrift bewahrt sind. Hermeneutik definiert Boff denn auch autororientiert als die Arbeit, „sich den ursprünglichen Sinn der geschriebenen Botschaft wieder anzueignen“.67 Er nähert sich dann aber doch der Position Croattos an, wenn er davon spricht, dass der Sinn „in dem Raum zwischen den beiden Polen [Text und Kontext]68 der Entschlüsselungsarbeit [entsteht]“ (230). Boff konzediert, „dass der geschriebene Text immer auch für zukünftige Lektüren offen bleibt und dass es eine Illusion ist zu glauben, direkten Zugang zum ursprünglichen Sinn des Textes zu haben“ (232). Während Croatto Wert darauf legt festzustellen, dass es keine spezifisch „biblische Hermeneutik“69 gibt, will Boff dezidiert eine „theologische Hermeneutik“ (221) entwerfen. Croatto vertritt einen erweiterten Textbegriff und erhebt den Anspruch, dass seine Hermeneutik auf Texte und Ereignisse gleichermaßen anwendbar sei, Boff beschränkt sich auf „geschriebene Texte“ (221). Ein weiterer Unterschied zeigt sich im Schriftverständnis. Croatto betont, dass die Bibel als ein Text (Intratextualität) „nicht eine Summierung literarischer Einheiten dar[stellt], sondern deren Zusammenführung zu einem zentralen linguistisch kodierten Kerygma“ (C,70). Boff hingegen spricht von der Bibel als einer „untergliederten Gesamtheit“ (220) und nimmt eine gewisse Hierarchie in der Wertigkeit an: „Das Neue Testament steht über dem Alten Testament, und innerhalb des Neuen Testaments besitzen die Evangelien den Primat vor den übrigen Schriften“ (ebd.). Hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Text und Kontext unterscheidet Boff neben einem insuffizienten Anwendungsmodell, das das Evangelium „als ein[en] Kodex von Vorschriften, die anzuwenden sind“ (236) versteht, 67 68
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Clodovis Boff, Theologie und Praxis. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie der Befreiung, München / Mainz 21984, 221 (Seitenangaben im Text). „So findet sich das Wort Gottes genau genommen nicht in den Buchstaben der Schrift und auch nicht im Geist der Hörer- oder Lesergemeinschaft, es steht vielmehr zwischen den beiden, in ihrer wechselseitigen und dynamischen Beziehung, in dieser Bewegung des Hin und Her, die sich niemals völlig objektivieren läßt“ (226). Croatto, Die Bibel gehört den Armen, 16 (Seitenangaben mit Sigle C im Text).
68
Teil I: Begriffe und Methoden
zwischen einem Modell der „Korrespondenz der Begriffe“ und einem der „Korrespondenz der Relationen“. „Nach dem Modell der Korrespondenz der Begriffe werden die Begriffe, die man benutzt, dadurch miteinander verglichen, dass man sie parallel setzt“ (238). Leben und Wirken Jesu werden dabei unmittelbar auf die heutige Situation bezogen. Croatto spricht in diesem Zusammenhang von „Konkordismus“ (C,19f.). Beide lehnen diese Methode ab. Als Alternativmodell schlägt Boff die „Korrespondenz der Relationen“ vor, „bei diesem Versuch [werden] sowohl die Texte, als auch die Situation, auf die man sie ,anwenden‘ will, in ihrer jeweiligen Autonomie gesehen“ (243). Die Korrespondenz ergibt sich aus der Inbezugsetzung der beiden hermeneutischen Zirkel, nicht aus ihrer unmittelbaren Identifikation. Man muss die Identität des Sinnes also nicht auf der Ebene des Kontextes suchen und folglich auch nicht auf der Ebene der Botschaft als solcher, sondern vielmehr auf der Ebene der Relation zwischen Kontext und Botschaft der jeweiligen Seite (244).
Spricht Boff im Hinblick auf das erste Modell von einer „hermeneutischen Kopie“ (238), so wäre im zweiten Fall wohl der Begriff hermeneutische Analogie angemessen. Carlos Mesters (*1931), ein holländischer Karmeliter-Missionar, der in Brasilien arbeitet, betont den korporativen Charakter der kontextuellen Theologien. Er versteht die Bibel als „kollektives Gedächtnis“,70 das wiederum in Gemeinschaft ausgelegt werden will. Die Bibel und der Glaube der Gemeinschaft sind gleichermaßen die kritischen Instanzen, an denen die so produzierte Theologie gemessen wird. Deutlicher als Croatto und Boff stellt Mesters eine zweifache Frage nach dem Kontext und integriert dadurch die historisch-kritische Exegese schlüssig in sein System. Als gemeinsame Kennzeichen der lateinamerikanischen Bibellektüre nennt er: a) Die Armen nehmen die Probleme ihres Lebens mit in die Bibel hinein; sie lesen die Bibel von ihrer Wirklichkeit und ihrem Lebenskampf aus. b) Die Bibel wird in Gemeinschaft gelesen; dieses Lesen ist vor allem ein Glaubensakt, eine Gebetspraxis, eine gemeinschaftliche Handlung. c) Die Armen setzen ihre Bibellektüre in die Tat um: Sie respektieren den Text, denn sie hören genau hin, was Gott zu sagen hat; dabei sind sie zu Veränderungen bereit, wenn er es verlangt.71 70
71
Carlos Mesters, The Use of the Bible in Christian Communities of the Common People, in: Sergio Torres / John Eagleson (Hg.), The Challenge of Basic Christian Communities, Maryknoll, NY 1981, 197–210, 202. Carlos Mesters, Bibellektüre durch das Volk, in: Evangelische Theologie 51, 1991, 3–7, 7. Vgl. dieses Themenheft „Lateinamerikanische Exegese“ der Zeitschrift Evangelische Theologie 1 / 1991 insgesamt.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
69
Die Entwürfe von Croatto, Boff und Mesters sind aufgrund ihrer relativen Ähnlichkeit kompatibel und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung komplementär. Die Lateinamerikaner rezipieren die europäische Tradition. Boff zitiert Gerhard von Rads Diktum von der Konstitution des Alten Testaments durch „die ständig erneuerte Anwendung alter Traditionen auf neue Situationen“.72 Auch zu Rudolf Bultmanns existentialer Exegese lassen sich Querverbindungen ziehen: „Das Verständnis des Textes ist nie ein definitives, sondern bleibt offen, weil der Sinn der Schrift sich in jeder Zukunft neu erschließt.“73 Von Rad und Bultmann gehen gleichermaßen schon von der grundsätzlichen Offenheit des Textes aus, ohne allerdings die Kontextualität der Auslegung zu reflektieren. Feministische Hermeneutik In der feministischen Theologie, die „in sich pluralistisch“ ist,74 lassen sich grob drei grundsätzliche hermeneutische Positionen im Umgang mit der Bibel unterscheiden: • Die postchristlich-feministische Hermeneutik verwirft die Bibel als Produkt des Patriarchats und lässt das christliche Symbolsystem und das Christentum selbst als patriarchale Religion hinter sich. Die Exkatholikin Mary Daly (1928–2010) hat in ihrer „postchristlich-feministischen Einführung“ (1975) zu ihrem Klassiker The Church and the Second Sex (1968) im Hinblick auf die Interpretation biblischer Texte das Diktum des Medientheoretikers Marshal McLuhan übernommen: „Das Medium ist die Botschaft (The medium is the message)“.75 • Die apologetisch-feministische Hermeneutik versucht demgegenüber zu begründen, wieso die Bibel trotz ihrer offensichtlich patriarchalen Prä72 73 74
75
Boff, Theologie und Praxis, 244. Rudolf Bultmann, Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 31965, 142–150, 149. Marcia Bunge, Modelle feministischer Bibelauslegung, in: Jahrbuch Biblische Theologie 6, 1991, 285–297, 286. Nach ihrer Einschätzung ist das „Neue an der feministischen Hermeneutik [...] nicht die Methode, sondern die Fragestellung“ (287). Mary Daly, The Church and the Second Sex, Neuauflage Boston, Massachusetts 1985, 15–51, 21 [dt. dies., Kirche, Frau und Sexus, Olten etc. 1970]. Daly hat nach ihrer Abkehr vom Christentum mit ihren Publikationen konsequent ihr Projekt vorangetrieben, eine Philosophie bzw. Metaethik des radikalen Feminismus zu entwerfen. Vgl. dies., Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 1980; dies., Gyn / Ökologie. Eine Meta-Ethik des radikalen Feminismus, München 1981; dies., Reine Lust. Elemental-feministische Philosophie, München 1986.
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Teil I: Begriffe und Methoden
gung christlichen Frauen Rückhalt in ihrem Kampf um Gleichberechtigung geben kann. Rosemary Radford Ruether (*1936) votiert für eine Methode der Korrelation, die nach einer Entsprechung für das „kritischfeministische Prinzip“, die Frage nämlich, ob etwas das volle Menschsein der Frauen bejaht oder nicht, in den biblischen Traditionen sucht.76 Sie meint dieses „biblisch-kritische Prinzip“ in der „prophetisch-messianischen Tradition“ gefunden zu haben,77 deren Option für die Armen und Unterdrückten sie auf die „Unterdrückten der Unterdrückten“78 ausweitet. Diese Vorgehensweise erachtet sie als legitim, da die prophetischen Traditionen in ihren jeweiligen Kontexten immer wieder neu interpretiert werden müssen.79 Die apologetisch-feministische Hermeneutik trägt zwar ihre spezifische Fragestellung an die Bibel heran, sieht das Kriterium ihrer Kritik aber schon in den biblischen Texten selbst gegeben. • Dagegen wendet sich die wohl profilierteste Vertreterin einer konstruktivfeministischen Hermeneutik, Elisabeth Schüssler Fiorenza (*1938), die die biblischen Texte in ihrer Gesamtheit einer relecture aus der Perspektive einer Hermeneutik des Verdachts unterziehen will.80 Sie beschränkt sich dabei nicht auf die Texte, die explizit von Frauen handeln, sondern versucht, „die frühchristliche Geschichte als Frauengeschichte zu rekonstru76
77 78 79
80
Rosemary Radford Ruether, Feministische Interpretation: Eine Methode der Korrelation, in: Letty M. Russel (Hg.), Befreien wir das Wort. Feministische Bibelauslegung, München 1989, 131–147, 135f. Radford Ruether, Feministische Interpretation, 138. Rosemary Radford Ruether, Sexismus und die Rede von Gott. Schritte zu einer anderen Theologie, Gütersloh 1985, 51. Vgl. Radford Ruether, Feministische Interpretation, 140 und 138: „Mit dem Begriff prophetisch-messianische Tradition will ich nicht einfach eine besondere Sammlung von Texten bezeichnen, die dann als Kanon innerhalb des Kanons verstanden würde. Unter prophetisch-messianischer Tradition verstehe ich vielmehr eine kritische Perspektive und einen kritischen Prozeß, durch den die Bibel ständig in neuen Zusammenhängen wieder neu bewertet, was wahrhaft das befreiende Wort Gottes ist“. In Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis ... Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München 1988, 42–52 bezeichnet sie die apologetisch-feministische Hermeneutik als „neo-orthodox“. Ein Prädikat, das sie im Übrigen auch der Befreiungstheologie verleiht: „Da die Befreiungstheologie die Bibel parteilich für die Unterdrückten in Anspruch nehmen will, steht sie in Gefahr, zu schnell die Methoden und Interessen des neo-orthodoxen dogmatischen Modells zu übernehmen, und versäumt dadurch, die Funktion der Bibel bei der Unterdrückung der Armen bzw. der Frauen gründlich genug zu erforschen“ (43).
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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ieren, nicht nur um in die frühchristliche Geschichte die Geschichte(n) der Frauen zu integrieren, sondern auch, um diese frühchristliche Geschichte als Geschichte von Frauen und Männern zurückzugewinnen“.81 Mit diesem theologischen Projekt will sie die „gefährliche Erinnerung“ (Johann Baptist Metz) an die Leiden und Hoffnungen dieser Frauen wach halten. Eine feministisch-theologische Interpretation der Bibel, deren Kanon die Befreiung der Frauen von unterdrückerischen sexistischen Strukturen, Institutionen und internalisierten Werten ist, muss daher darauf insistieren, dass nur die nichtsexistischen und nicht-androzentrischen Traditionen der Bibel und die nichtunterdrückerischen Traditionen biblischer Interpretation die theologische Autorität der Offenbarung haben, wenn die Bibel nicht weiterhin ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen bleiben soll. [...] Diese kritische Hermeneutik muss auf alle biblischen Texte und ihre historischen Kontexte angewandt werden. Sie muss gleichermaßen auf die sich daran anschließende Geschichte der Interpretation Anwendung finden, um herauszufinden, in welchem Maße diese Traditionen und Interpretationen zur patriarchalen Unterdrückung der Frauen beigetragen haben.82
Auch Elisabeth Schüssler Fiorenza versteht die Bibel als offenen Text. Sie unterscheidet zwischen einem „archetypischen“ und einem „prototypischen“ Bibelverständnis. Archetyp und Prototyp sind dabei gleichermaßen Bezeichnungen für ein Grundmodell, doch während sich hinter dem erstgenannten Typ eine statische Konzeption verbirgt, ist der zweite Ausdruck eines dynamischen Konzeptes, dass „auf seine eigene Veränderung hin kritisch offen“ ist.83 Ihre in Zu ihrem Gedächtnis formulierte Zielvorgabe, die Entwicklung einer „historisch-biblischen feministischen Hermeneutik“,84 hat Schüssler Fiorenza im Fortgang ihrer Überlegungen offenbar zu einer Abkehr von der nach ihrer Einschätzung konservativ besetzten Hermeneutikdebatte geführt. Hermeneutik scheint für sie identisch zu sein mit einer „Hermeneutik des Einverständnisses“, wie sie in der neueren Diskussion von Peter Stuhlmacher
81 82
83 84
Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, 13. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Toward a Feminist Biblical Hermeneutics: Biblical Interpretation and Liberation Theology, in: The Challenge of Liberation Theology. A First World Response, hg. von Brian Mahan / L. Dale Richesin, Maryknoll, NY 1981, 91–112, 108. Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, 67. Schüssler Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis, 13.
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Teil I: Begriffe und Methoden
(*1932) vertreten wird.85 „Hermeneutische Theorie betont nicht so sehr kritisches Bewusstsein als vielmehr Unterwerfung und Treue zum Text.“86 Der von Schüssler Fiorenza im Gegenzug propagierte „Wechsel von einem hermeneutischen Paradigma zu einem rhetorischen“87 und das von ihr skizzierte „kritisch-feministische Rhetorikmodell“ zeigt jedoch eine große Nähe zu den von mir im ersten Resumee formulierten Spezifika einer kontextuellen Hermeneutik (→§ 2.3). Im Unterschied zum formalistischen oder strukturalistischen literary criticism88 insistiert die kritisch-feministische Rhetorik darauf, dass der Kontext genauso wichtig ist wie der Text. Was wir sehen, ist davon abhängig, wo wir stehen. Der soziale Standort bzw. der rhetorische Kontext, den eine Person einnimmt, ist ausschlaggebend dafür, wie sie die Welt sieht, die Realität konstruiert oder biblische Texte interpretiert. Eine biblische Wissenschaft, die darin fortfährt, sich einer wertneutralen Epistemologie zu verschreiben, verteidigt insgeheim eine apolitische Lektüre kanonischer Texte und übernimmt keine Verantwortung für ihre politischen Voraussetzungen und Interessen.89
Der genuine Beitrag der feministischen Theologie zu einer kontextuellen Hermeneutik ergibt sich in letzter Konsequenz aus ihrer zentralen Fragestellung, wie mit einem patriarchalen Text wie der Bibel umzugehen sei. Hier liegt die innovative Stärke des Ansatzes von Elisabeth Schüssler Fiorenza, die nicht nur die Tradition, sondern auch die biblischen Texte selbst der Patriarchats-90 85 86 87
88
89 90
Vgl. Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, 2., neubearb. und erw. Aufl. Göttingen 1986. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Brot statt Steine. Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel, Freiburg, Schweiz 1988, 193. Elisabeth Schüssler Fiorenza, But She Said. Feminist Practices of Biblical Interpretation, Boston, Massachusetts 1992, 47. Schüssler Fiorenza grenzt sich von der umgangssprachlichen pejorativen Verwendung des Begriffs Rhetorik ab und will ihn im Gegenzug für ihre kritisch-feministische Interpretation der Befreiung wiedergewinnen (vgl. 46). „Während die hermeneutische Theorie die Bedeutung von Texten untersuchen und würdigen will, konzentriert sich die rhetorische Interpretation durch ihre theo-ethische Hinterfragung von Texten und Symbolwelten darauf, welche Auswirkungen biblische Diskurse produzieren und wie sie sie produzieren“ (41). Ich lasse diesen Begriff unübersetzt, weil er eine spezifisch angelsächsische Methode des Umgangs mit Texten beschreibt, die wesentlich komplexer ist als die historisch-kritische Literarkritik. Elisabeth Schüssler Fiorenza, But She Said, 46. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Entscheiden aus freier Wahl: Wir setzen unsere kritische Arbeit fort, in: Befreien wir das Wort, 148–161 versteht Patriarchat als
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
73
bzw. der Ideologiekritik unterzieht.91 Sie geht damit deutlich über die befreiungstheologische Hermeneutik des Verdachts hinaus, die noch vor dem Text halt machte (→§ 2.5). Dadurch erlangt auch die Frage nach den Wahrheitskriterien eine neue Qualität. Kann die Befreiungstheologie mit ihrer monothematischen Interpretation der Bibel als Befreiungsbotschaft noch pauschal den biblischen Text als Identitätskriterium heranziehen, stellt sich aus der Perspektive der feministischen Theologie die Frage nach dem „Kanon im Kanon“ auf überraschende Weise neu. Meint Rosemary Radford Ruether diesen in der prophetisch-messianischen Tradition im Text selber vorgegeben zu haben, ist Elisabeth Schüssler Fiorenza skeptisch gegenüber diesem Text und will die – gewissermaßen dicht dahinter liegende – Frauenerfahrung rekonstruieren und diese gefährliche Erinnerung zum Kriterium erheben. Patriarchalen Texten kann keine Offenbarungsqualität zukommen. Der Aufbruch im Aufbruch – Frauen der Dritten Welt ergreifen das Wort Ein wesentlicher Erneuerungsimpuls nicht nur für die Dritte-Welt-Theologie, sondern auch für die westlich feministische Theologie ging von dem 1981 anlässlich der EATWOT-Vollversammlung in Neu Delhi / Indien von Mercy Amba Oduyoye proklamierten „Aufbruch im Aufbruch“ aus. Sie reklamierte damit einen eigenen Raum für die Theologinnen der Dritten Welt. Oduyoye monierte die Ignoranz mit der selbst die EATWOT-Theologen den Anliegen ihrer weiblichen Mitglieder begegneten: „... ich war schockiert, als mir bewusst wurde, dass einige [der EATWOT-Theologen] den ,Aufbruch‘ der Frauen in die christliche Theologie-Szene und ihren Ruf nach einer Reinigung der theologischen Sprache ..., als einen einzigen großen Witz betrachteten.“92
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92
„ein soziales, ökonomisches und politisches System abgestufter Unterwerfungen und Unterdrückungen“ (150). „Wegen ihrer Anwaltsposition (advocacy stance) für die Unterdrückten müssen feministische Theologinnen darauf insistieren, dass die kritisch-theologische Analyse der christlichen Tradition nicht erst mit der Zeit Konstantins beginnt, sondern sich auch auf die christlichen Gründungsurkunden selbst erstrecken muß“ (Schüssler Fiorenza, A Feminist Biblical Hermeneutics, 106). Mercy Amba Oduyoye, Reflections from a Third World Women’s Perspective: Women’s Experience and Liberation Theologies, in: Irruption of the Third World. Challenge to Theology, hg. von Virginia Fabella / Sergio Torres, Maryknoll, NY 1983, 246–255, 249; vgl. Dorothea Erbele-Küster, Töchter Afrikas, steht auf! Die ghanaische Theologin Mercy Amba Oduyoye, in: Evangelische Kommentare 30, 8/1997, 453f.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Das im Schlussdokument der Delhi-Konferenz festgeschriebene Ziel, „den Kampf der Frauen für Gleichberechtigung in der Theologie und durch die Theologie zu unterstützen“,93 führte zur Einsetzung einer Frauenkommission. Nach dem Modell des vorangegangenen EATWOT-Prozesses förderte sie nationale und kontinentale Treffen im Vorfeld der in Delhi beschlossenen internationalen Frauenkonferenz, die der zweiten EATWOT-Vollversammlung in Oaxtepec / Mexico (1986) voranging. In ihrem auf der lateinamerikanischen Vorbereitungskonferenz (Buenos Aires / Argentinien 1985) gehaltenen Referat über die relecture der Bibel aus der Perspektive der Frauen verortet sich die Mexikanerin Elsa Tamez dezidiert in der Befreiungstheologie.94 Sie moniert aber gleichzeitig die Symbiose des lateinamerikanischen Machismo mit dem biblischen Patriarchalismus, die in einer Verstärkung des Androzentrismus resultiert und gegen die lateinamerikanischen Frauen instrumentalisiert wird; ein Phänomen von dem auch die christlichen Basisbewegungen sich noch nicht befreit haben.95 Während Elsa Tamez oder Ivone Gebara der Befreiungstheologie in Lateinamerika neue Impulse gaben (→§ 11.1), führte der theologische Aufbruch der Frauen in Afrika zu einer kritischen relecture der verbreiteten Inkulturationstheologien. Die Afrikanerinnen, die sich 1989 auf Initiative von Mercy Amba Oduyoye im Circle of Concerned African Women Theologians zusammengeschlossen haben, sind aufgrund reger Konferenz- und Publikationstätigkeit heute über den ganzen Kontinent vernetzt.96 In Asien fand die Theologie von Frauen ein Forum in der Zeitschrift In God’s Image (→§ 5.4). 93 94
95
96
Zitiert nach: Herausgefordert durch die Armen, 135. „Jede befreiende Lektüre aus der Sicht der lateinamerikanischen Frau muß sich in den Rahmen der Lektüre von den Armen her einordnen“ (Elsa Tamez, Frauen lesen die Bibel neu, in: Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern 1992, 260–271, 268f.). „Die Volksbewegung, einschließlich der christlichen Gemeinden, ist von dieser mannzentrierten Ideologie nicht frei, welche tiefe kulturgeschichtliche Wurzeln hat, die kaum mit einem Schlag auszurotten sind. So besteht eine naheliegende Verbindung zwischen zwei Kulturen, die die Frau marginalisierten [...] Im Laufe der Geschichte führte im übrigen dieses Zusammentreffen zweier patriarchaler oder machistischer Kulturen zu einer gegenseitigen Verstärkung“ (Tamez, Frauen lesen die Bibel neu, 263). Vgl. www.thecirclecawt.org; Martha T. Frederiks, Miss Jairus Speaks. Developments in African Feminist Theology, in: Exchange 32, 2003, 66–82; Carrie Pemberton, Circle Thinking. African Women Theologians in Dialogue with the West, Leiden 2003.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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Dritte-Welt-Theologinnen, die sich als bestens vertraut mit der Feminismusdebatte in der westlichen Welt erweisen, legen Wert auf Eigenständigkeit und übernehmen die Selbstbezeichnung „feministische Theologie“, wenn überhaupt, nur zögerlich.97 Sie wollen einen eigenen Interpretationsraum kreieren, der ihren spezifischen Kontexten angemessen ist.98 Zugleich machen sie Gebrauch vom theoretischen Instrumentarium der feministischen Theologie, wo es ihnen für die Analyse ihrer Kultur sinnvoll erscheint. Dabei verwahren sie sich gleichermaßen gegen die Paternalisierung durch ihre männlichen Mitstreiter, wie gegen ein othering durch westliche Feministinnen.99
3. Die kontextuelle Theologie im Rahmen hermeneutischer Theoriebildung Im Folgenden soll der kontextuelle Ansatz im hermeneutischen Diskurs verortet werden. Dabei sind einige prinzipielle Unterscheidungen zu treffen, nicht nur zwischen einer Hermeneutik des Verdachts oder des Einverständnisses, sondern auch zwischen allgemeiner und spezieller sowie aktantenoder sinnorientierter Hermeneutik. In einem ersten Resümee benenne ich sechs Durchbrüche in Anknüpfung und Abgrenzung gegenüber dem westlichen Diskussionsstand.
97 Vgl. die Auseinandersetzung mit Schüssler Fiorenza bei Kwok, Pui-Lan, The Feminist Hermeneutics of Elizabeth Schüssler Fiorenza. An Asian Feminist Response, in: East Asia Journal of Theology 3, 2/1985, 147–153; Musa W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis, Missouri 2000, 26–31. 98 Dieser Freiraum hat etwa ermöglicht, offen über Sexualität zu sprechen (Musimbi R.A. Kanyoro, Introducing Feminist Cultural Hermeneutics. An African Perspective, London 2002, 28), was nicht zuletzt auch zur Auseinandersetzung mit dem Thema AIDS geführt hat. Vgl. die Circle-Publikationen: Isabel Apawo Phiri et.al. (Hg.), African Women, HIV / AIDS and Faith Communities, Pietermaritzburg 2003; Musimbi Kanyoro / Musa W. Dube (Hg.), Grant me Justice!, Pietermaritzburg 2004. 99 Vgl. die Schlusserklärung der EATWOT-Dialogkonferenz in Genf 1983 (Abs. 27), in: Herausgefordert durch die Armen, 154f.: „Weder die Männer der Dritten noch die Frauen der Ersten Welt können darüber bestimmen, was Dritte-Welt-Frauen auf ihre Tagesordnung setzen. Die Dritte-Welt-Frauen sind der Ansicht, dass das Problem Sexismus nicht isoliert angegangen werden sollte, sondern im Kontext des gesamten Kampfes um Befreiung in ihren Ländern.“
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Teil I: Begriffe und Methoden
Die hermeneutische Theorie: allgemeine oder spezielle Hermeneutik Hermeneutik wird hier verstanden als Theorie von Verstehensprozessen, an denen eine klar benennbare Zahl von Aktanten beteiligt ist, die in einem dichten Beziehungsgeflecht miteinander verwoben sind. Biblische Hermeneutik ist dann der Spezialfall der Interpretation biblischer Texte. Ich plädiere dafür, die in diesem Zusammenhang virulente Frage, ob die Bibel als Heilige Schrift einer speziellen Hermeneutik bedarf, umzukehren in die Frage, ob der hermeneutische Akt nicht selbst schon immer die Sinnwelten, die die Texte konstituieren, transzendiert. Wollte Wilhelm Dilthey (1833–1911) Hermeneutik noch beschränken auf das Verstehen „schriftlich fixierter Lebensäußerungen“,100 wird heute oft ein erweiterter Textbegriff zugrunde gelegt, der etwa auch Ereignisse, Erfahrungen101 oder ganze kulturelle Systeme102 als Texte bzw. Textgewebe versteht. Die Grenzen zwischen Text und Kontext werden fließend, der Autor tritt zumeist in den Hintergrund bzw. bleibt anonym und der Leser wird zum Interpreten in einem allgemeineren Sinne. Die hermeneutischen Aktanten: Autor – Leser – Text – Kontext Am hermeneutischen Prozess beteiligt sind vier Aktanten: Autor und Leser, Text und Kontext. Der Kontext impliziert den Raum-Zeit-Faktor. Im klassischen Fall produziert der Autor einen literarischen Text, der von dem jeweiligen Leser rezipiert wird. Teilen die beiden den gleichen Kontext, ist dies ihr Bezugsrahmen, innerhalb dessen sie sich über bzw. durch den Text verständigen. Wird die Raum-Zeit-Konstante durchbrochen, d.h. gehört der Leser einem anderen kulturellen Raum und / oder einer späteren Zeit an als der Autor, stehen mindestens zwei Kontexte, der des Autors und jener des Lesers, nebeneinander. Ich fasse den hermeneutischen Diskurs hier als ein Spiel auf, in dessen Verlauf bereits allen Aktanten einmal die Rolle des Protagonisten zugewiesen worden ist. Aus der jeweils gewählten Perspektive ergeben sich unterschiedliche Aktantenkonstellationen. Die darauf aufbauende Theorie muss den betreffenden Hauptaktanten in Beziehung zu den verbleibenden Mitaktanten setzen. Korrekturbedarf besteht zunächst einmal rein formal immer dann, wenn einer der Aktanten ohne Rollenzuweisung bleibt bzw. ausgeblen100 Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders., Gesammelte Schriften V, Leipzig / Berlin 1924, 317–338, 333. 101 Vgl. Croatto, Die Bibel gehört den Armen, 49–62. 102 Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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det wird. Es ergeben sich vier Modelle, die ich im Folgenden kurz skizziere und denen ich profilierte Vertreter zuordne. • Traditionell an erster Stelle ist hier wohl die autororientierte Hermeneutik zu nennen, die nach der Intention des Autors fragt. Autor und Text rücken dabei eng zusammen, der Weg zurück zum Autor führt nur über den Text. Die Maxime dieses Modells formulierte F.D.E. Schleiermacher (1768– 1834): Der Leser hat danach zu streben, „die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“103 oder anders ausgedrückt, Ziel des hermeneutischen Prozesses ist, „dass wir den Verfasser besser verstehen als er selbst“ (104). Schleiermacher sucht in der „grammatischen Auslegung“ nach den Strukturen und Sinngehalten des Textes, in der „psychologischen Auslegung“ fragt er nach der dahinterstehenden Intention des Autors. Für die letztgenannte unterscheidet er zwei komplementäre Methoden: die „divinatorische“, die sich in den Autor einfühlt, und die „komparative“, die dessen Eigenart aus der Gesamtheit seines Oeuvres, also aus dem Text ableitet. Den Kontext nimmt Schleiermacher durchweg in historischer Perspektive als Entstehungszusammenhang des Textes wahr. „Alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus den dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden“ (101). Grammatische und psychologische Auslegung sind eng miteinander verwoben, „aber in der Theorie müssen wir trennen und von jeder besonders handeln, bei jeder aber danach trachten, es so weit zu bringen, dass uns die andere entbehrlich werde, oder vielmehr, dass ihr Resultat in der ersten mit erscheine“ (98). Schleiermacher bezeichnet die Hermeneutik als „Kunstlehre des Verstehens“, dies impliziert schon einen Hinweis auf die Rolle des Lesers. Er rekonstruiert den Schöpfungsakt der Sinnwelt des Textes durch den Autor. Dilthey, Schleiermachers kongenialer Biograph, spricht entsprechend im Bezug auf den Leser von einer „Methode der schöpferischen Genialität“.104 • Gegenüber dem Schleiermacher-Dilthey’schen Ansatz betont eine textorientierte Hermeneutik, wie sie etwa von J. Severino Croatto (→§ 103 Friedrich D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Frankfurt/M. 51993, 94 (Seitenangaben im Text). Eine Reminiszenz daran findet sich noch im Vorwort zur 2. Aufl. von Karl Barth, Römerbrief, München 1922, XIII, doch will dieser lediglich die Kontextdifferenz überwinden, um dann zu „dem Rätsel der Sache“ selbst vorzustoßen. 104 Dilthey, Entstehung der Hermeneutik, 335f.
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Teil I: Begriffe und Methoden
2.2)105 unter Rekurs auf Paul Ricœur (1913–2005) vertreten wird, die „Autonomie des Textes“. Der Autor „stirbt“ im Schaffensprozess, der Text generiert seine eigene Sinnwelt. Auch der ursprüngliche Leser und der mit dem Autor geteilte Kontext verblassen (28–32). Um für den jeweiligen Leser verständlich zu sein, müssen die Texte „rekontextualisiert“, d.h. in den entsprechenden Kontext übersetzt werden (92f.). Der Text ist ein Reservoir an Sinngehalten, das in der einzelnen Interpretation nicht ausgeschöpft werden kann. Dies meint jedoch nicht Beliebigkeit. „Ein Text sagt, was er zu sagen erlaubt. Seine Polysemie ergibt sich aus seiner vorher erfolgten Formulierung“ (93). Jede Lektüre ist Sinnproduktion, zugleich aber auch Sinnfestlegung. Hier liegt die Verwandtschaft zur leserorientierten Hermeneutik. • Die leserorientierte Hermeneutik räumt dem Leser eine sinnkonstituierende Rolle im hermeneutischen Prozess ein, die im Text bereits angelegt ist. Bei diesem Modell werden Leser und Text eng zusammengerückt. Umberto Eco hat dafür mit seiner „Poetik des offenen Kunstwerks“ eine erste griffige Formulierung geprägt.106 Um die Reziprozität von Text und Leser im Prozess der Sinnproduktion aussagbar zu machen, unterscheidet Wolfgang Iser zwischen „Textstruktur und Aktstruktur“ (63).107 Der Autor hat im Text einen „impliziten Leser“ angelegt und bietet den empirischen Leserinnen und Lesern damit einen Blickpunkt an, der im Akt des Lesens „immer erneut justiert“ (ebd.) werden muss. Auch Iser ist sich der Situationsgebundenheit sprachlicher Äußerungen dabei grundsätzlich bewusst (101–114). • Alle drei bisher skizzierten Modelle nehmen jeweils die Perspektive eines der am hermeneutischen Prozess unmittelbar beteiligten Aktanten ein.108 Der Kontext bzw. die Kontexte sind demgegenüber nur mittelbar über ein Beziehungsgeflecht mit Autor, Text und Leser beteiligt. Die von mir favorisierte Kontext-Perspektive ist daher nur in Relation zu den anderen Aktanten einnehmbar. Wie in einem Prisma109 brechen sich in der kontextorientierten Hermeneutik die zentralen Anliegen der Alternativmodelle und eröffnen eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten durch: 105 106 107 108
Vgl. Croatto, Die Bibel gehört den Armen (Seitenangaben im Text). Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 51990. Iser, Akt des Lesens (Seitenangaben im Text). Eco unterscheidet hier zwischen Interpretation als Suche nach der intentio auctoris, der intentio operis oder der intentio lectoris (ders., Die Grenzen der Interpretation, München 1995, 35). 109 Ähnliche Gedanken verbergen sich hinter der von Musa Dube geprägten Metapher von „Rahabs Leseprisma“ (→§ 2.5).
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
79
– den sinnstiftenden Impuls des Autors, – die „Autonomie des Textes“ und – die sinnkonstituierende Rolle des Lesers. K
K
L A
L T
A
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Abb. 4: Das hermeneutische Prisma
Ohne Autor kein Text, aber der Text gewinnt schon im Schaffensprozess Autonomie. Er entfaltet eine eigene Sinnwelt, die sich der einzelnen Interpretation nie völlig erschließt, auch nicht dem Autor selbst. Dennoch wäre es eine ungemeine Verarmung, wollten wir nicht mehr nach der Person des Autors und dem Entstehungszusammenhang des Textes (Primärkontext) fragen. Die Rekonstruktion des Primärkontextes und die Suche nach dem Autor lädt den Text kontextuell auf und erschließt ansonsten verborgen bleibende Bereiche seiner Sinnwelt.110 Jeder Akt des Lesens ist eine Sinnfestlegung durch einen bestimmten Leser in ihrem spezifischen Interpretationszusammenhang (Interpretationskontext). Anders als Hans Georg Gadamer (1900–2002) rechne ich dabei nicht mit einer „Horizontverschmelzung“. Der Text und sein Primärkontext bleiben immer auch etwas Widerständiges, Fremdes. Es handelt sich bei der Kontextdifferenz zwischen Entstehungs- und Interpretationszusammenhang nicht nur um „vermeintlich für sich seiende [...] Horizonte“.111 Kontexte sind raum-zeitlich plausibel abgrenzbare Welten, die im Rückblick, wie die Sinnwelten der Texte selbst, immer nur aus einer bestimmten Perspektive rekonstruierbar sind und ihren Sinngehalt dem einzelnen Leser nie ganz entbergen. 110 Vgl. in der Literaturwissenschaft den Ansatz des New Historicism, wie er von Stephen Greenblatt et.al. vertreten wird; dazu Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995. 111 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke 1), Tübingen 61990, 311.
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Ähnliches gilt für den Interpretationskontext, der ja auch immer nur aus einer bestimmten Perspektive konstruiert wird. Es stellt sich daher eine zweifache Frage nach dem Kontext, nämlich nach dem Entstehungs- und dem Interpretationszusammenhang des Textes. Der in den einzelnen Lektüren erzielte Sinnzuwachs des Textes wird in der Tradition bewahrt und schwingt bei jeder neuen Interpretation mit.112 Die Tradition wird dabei nicht zum Kriterium der Interpretation, sondern muss sich selbst auch immer wieder im „Streit der Interpretationen“ bewähren. Der Text und sein Entstehungszusammenhang sind die relationalen Konstanten im hermeneutischen Prozess, d.h. jede Interpretation erschließt entsprechend der kontextuellen Perspektive des jeweiligen Lesers immer nur einen Teil seines Sinngehaltes und auch die Rekonstruktion des Primärkontextes unterliegt diesem Blickwinkel. Der jeweilige Leser und sein Interpretationskontext sind die Variablen. Aktanten- versus sinnorientierte Hermeneutik Jenseits aller Aktanten-Orientierung operieren sinnorientierte Hermeneutiken. Sie sind weniger an einer Theorie des Verstehensprozesses als vielmehr an der Operationalisierung des zu Verstehenden selbst interessiert. Beide teilen das Bewusstsein für die Kontextdifferenz zwischen Entstehungs- und Interpretationszusammenhang, das sich bis zu den Anfängen dessen, was heute landläufig als Hermeneutik bezeichnet wird, zurückverfolgen lässt. Doch während es den am Sinn orientierten Hermeneutiken lediglich um die Überwindung dieser Distanz geht, integrieren die aktantenorientierten Modelle sie und machen sie zum eigentlichen Movens des hermeneutischen Prozesses. Nukleus der sinnorientierten Hermeneutik war die Annahme eines zweifachen Schriftsinns, des sensus literalis und des sensus spiritualis, die bis in die Lehre vom vierfachen Schriftsinn (Johannes Cassian) weiter ausdifferenziert wurde. Als hermeneutische Regel kristallisierte sich das „Traditionsprinzip“ heraus (Vinzenz von Lerinum). Die Reformation ließ das Pendel radikal umschlagen von der Auslegung des Sinnes zurück zum Wort Gottes als dem Ursprung allen Sinns. Sola scriptura – das reformatorische Schriftprinzip – impliziert, dass die Schrift sich selbst auslegt. Diese Traditionslinie lässt sich über Karl Barth und Rudolf Bultmann, die neue Hermeneutik von Gerhard Ebeling (1912–2001) und Ernst Fuchs (1903–1983), bis hin zu Peter Stuhlmacher (*1932) und Hans Weder (*1946) verfolgen, bei allen individuellen Differenzen, die diese Theologen unterscheiden. 112 Gadamer, Wahrheit und Methode, 305–312 spricht hier von Wirkungsgeschichte.
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Rudolf Bultmann ist der wohl profilierteste moderne Vertreter sinnorientierter Hermeneutik. Im Vorverständnis des Lesers von der im jeweiligen Text verhandelten Sache sieht er das Konstitutivum für das Gelingen des hermeneutischen Prozesses. „Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis [des Interpreten] zu der Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet.“113 Befreiungstheologen wie Juan Luis Segundo114 und Leonardo Boff haben Bultmanns Terminologie vielfach übernommen und auf ihren theologischen Ansatz übertragen, „Vorverständnis“ wurde dabei zum Synonym für „Kontext“.115 Diese Lesart gibt jedoch Bultmanns Konzeption nicht her. Das Vorverständnis ist für ihn nicht die Lebenssituation des Lesers, sondern sein Lebensverhältnis zu dem durch den Text transportierten Sinn, der Sache, um in Bultmanns Diktion zu bleiben. Dies gilt unabhängig von der bereits erkannten Übereinstimmung im Hinblick auf die Kontextdifferenz. Bultmann reagiert darauf mit seinem Programm der „Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung“.116 Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben (16).
Bultmann will deshalb die Wahrheit des neutestamentlichen Kerygmas durch seine „existentiale Interpretation“ hinter dem von der „jüdischen Apokalyptik und de[m] gnostischen Erlösungsmythos“ (28) geprägten mythischen Weltbild des Neuen Testaments aufdecken. In seiner Überzeugung, dass Exegese wohl vorurteilslos sein müsse, nicht aber voraussetzungslos sein könne, schließt er sich Martin Heideggers Umwertung des hermeneutischen Zirkels an,117 die im Anschluss noch näherhin zu betrachten sein wird. Die Aktanten bleiben bei Bultmann letztendlich jedoch Statisten, zentriert um das Kerygma. 113 Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 61993, 211–235, 227. 114 Vgl. Segundo, Liberation of Theology, 7–9. 115 Vgl. Leonardo Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg etc. 1986, 209: „Wer also einen Gegenstand versteht, nähert sich ihm immer mit einem Vorverständnis, das von seinem Milieu, seiner Erziehung und dem kulturellen Ambiente, das ihn umgibt, abhängt.“ 116 Vgl. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, München 31988 [1941] (Seitenangaben im Text). 117 Vgl. Bultmann, Problem der Hermeneutik, 226f.; ferner ders., Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, in: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 41993, 142–150.
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Der hermeneutische Prozess: circulus vitiosus oder circulus progrediens Der Begriff hermeneutischer Zirkel beschreibt ursprünglich die Beziehung zwischen dem Leser und dem Text. Negativ ausgedrückt, muss es bei ihrer Interaktion zu einem Zirkelschluss kommen, weil die Interpretation immer von der vorgängigen Auffassung des Lesers von der im Text verhandelten Sache bestimmt wird. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einem circulus vitiosus, aus dem die Verfechter einer objektiven Geschichtswissenschaft auszubrechen trachten.118 Demgegenüber wertet er diesen Zirkel durchaus positiv. „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen (153).“ Ich stimme überein mit der Annahme dieser „Vorstruktur“ (ebd.) als Gegebenheit, modifiziere sie aber: – Der Zirkel ist kein einmaliges Geschehen, sondern ein fortwährendes, d.h. er muss immer wieder abgeschritten werden. Der hermeneutische Prozess ist grundsätzlich offen. – Die Größen, zwischen denen der Zirkel verläuft, sind nicht statisch, sondern relationale Konstante und Variable. – Die Interpretation ist innerhalb dieses Zirkels überprüfbar. Es kommt so zu der paradoxen Konstellation, dass der Zirkel ein zwischen relationaler Konstante (Text) und Variable (Kontext) fortschreitender ist, wobei er aufgrund dieser ihm inhärenten Wandelbarkeit immer neue Interpretationen aus sich heraussetzt, die stetig an ihrem Gegenstand überprüft werden müssen. Der hermeneutische Zirkel ist dann kein Zirkelschluss oder circulus vitiosus, sondern ein circulus progrediens. Erstes Resümee: Durchbrüche im hermeneutischen Prozess Die kontextuelle Hermeneutik zeichnet sich gegenüber der westlichen Debatte durch sechs Durchbrüche aus: • Von der Orthodoxie zur Orthopraxie: Die kontextuellen Theologinnen und Theologen postulieren einen epistemologischen Bruch mit der akademischen Theologie. Die theologische Reflexion sucht ihren Anhalt an der Praxis, der Situation vor Ort, der eigenen Erfahrung oder, um in der hier gewählten Terminologie zu bleiben, dem eigenen Kontext. Die Rede von 118 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 152f. (Seitenangaben im Text).
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der „Orthopraxie“ ist ein Wortspiel, das den konstitutiven Zusammenhang von Theorie und Praxis, Glauben und Handeln ins Zentrum rückt. Der Text wird in dem jeweiligen Kontext ausgelegt und fordert zum Handeln auf. Die Applikation ist dem hermeneutischen Prozess inhärent.119 Die biblischen Geschichten sind Hilfe zum Leben.120 • Von der Entdeckung der Bedeutung des geschichtlichen Kontextes („Sitz im Leben“) zur zweifachen Frage nach dem Kontext: Der Alttestamentler Hermann Gunkel (1862–1932), Begründer der formgeschichtlichen Methode, hat bereits Anfang des letzten Jahrhunderts auf die Bedeutung des „Sitzes im Volksleben“ bzw. des „Sitzes im Leben“ für die Entstehung der Gattungen der israelitischen Literatur hingewiesen.121 Wobei hier immer der Ausgang bei der mündlichen Form der Überlieferung gesucht wird. Martin Dibelius (1883–1947) und Rudolf Bultmann haben diesen Ansatz für die neutestamentliche Forschung fruchtbar gemacht. Sie reklamierten für diese Methode einen soziologischen Erkenntniswert,122 ohne ihren Anspruch letztendlich jedoch einlösen zu können. Erst die sozialgeschichtliche Exegese eröffnete in den 1970er Jahren neue Zugänge zum Entstehenszusammenhang bzw. Kontext der neutestamentlichen Texte. „Sie verband eine zur Literatursoziologie entwickelte Formgeschichte mit einer zur Sozialgeschichte tendierenden Zeitgeschichte.“123 Dieser Perspektivenwechsel ist Ergebnis des politischen und geistesgeschichtlichen Umbruchs Ende der sechziger Jahre, der auch die Frage nach der Rolle des Lesers124 und der Relevanz des jeweiligen Textes für seinen Kontext im Interpretationsprozess hat aufkommen lassen. Kontextuelle Hermeneutik stellt daher eine zweifache Frage nach dem Kontext. • Vom Vorverständnis zur partiellen Sinnkonstituierung durch die Leserinnen und Leser: Kontextuelle Hermeneutik geht über die heuristische Kategorie des Vorverständnisses hinaus, wenn sie ganz im Sinne einer 119 120 121 122
Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 312–316. Vgl. Klaus Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988. Vgl. Hermann Gunkel, Die israelitische Literatur, Darmstadt 1963 [1925]. Vgl. Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 51966, 8; Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 91979 [1921], 4f. 123 Gerd Theißen, Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der soziologischen Fragestellung, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 21983, 3–34, 11f. 124 Vgl. Iser, Akt des Lesens, If.
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leserorientierten Hermeneutik den Leserinnen und Lesern eine sinnkonstituierende Funktion im hermeneutischen Prozess zuschreibt. Dabei werden zwei hermeneutische Zirkel miteinander in Beziehung gesetzt. Wieder bezogen auf die biblischen Texte heißt das, die biblischen Geschichten, verstanden als Niederschlag der Erfahrungen von Menschen mit Gott und ihren Mitmenschen, und die Erfahrungen der Menschen heute werden miteinander versprochen (Ernst Lange) und ineinander wieder erkennbar. • Von der existentiellen Begegnung des Individuums mit dem Text zur Interpretationsgemeinschaft: Ist die Bultmann’sche Hermeneutik in der „existentiellen Begegnung mit dem Text“125 ganz auf das Individuum abgestellt, so kommt durch die kontextuellen Theologien der Dritten Welt, insbesondere die Befreiungstheologien, ein kommunalistisches Element zum Tragen. Die Bibel wird in der Gemeinschaft ausgelegt. Theologie vollzieht sich coram deo und coram communione. Die abendländische Orientierung am Individuum, dem Glaubenden vor Gott, weicht einer Bergung des Einzelnen in die Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen. Carlos Mesters sieht den Anhalt für dieses Verständnis schon in der Bibel selbst angelegt, die für ihn ein „kollektives Gedächtnis“126 ist. Die Christenheit ist eine Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft von urchristlicher Zeit an. Christlicher Glaube ist konstitutiv gemeinschaftsbezogen. Hier ist auch der Ort des Dialogkriteriums. • Von einer Hermeneutik des Einverständnisses zu einer Hermeneutik des Verdachts: Eine Hermeneutik des Einverständnisses, wie sie von Peter Stuhlmacher und Hans Weder vertreten wird, versteht die biblischen Texte als Glaubenszeugnisse, die auf Glauben hin wirken. Die historisch-kritische Methode ist an diesem theologischen Anspruch zu messen („Kritik an der Kritik“).127 Zum Kriterium der Hermeneutik wird dann letztlich eine am Text nicht näher qualifizierte Praxis des Glaubens. Demgegenüber stellt die Hermeneutik des Verdachts nicht nur die Interpretation der biblischen Schriften, sondern auch den Text der Bibel selbst unter Ideologieverdacht. • Vom Objektivitätspostulat zu einer reflektierten und theologisch begründeten Kontextualität: Die hier vorgetragene hermeneutische Theorie entlarvt 125 Bultmann, Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, 149. 126 Mesters, The Use of the Bible, 202. 127 Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 30–32. Vgl. Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986; ferner seinen Disput mit Klaus Berger in: Evangelische Theologie 52, 1992, 309–336.
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jedweden unreflektierten Objektivitätsbonus für den wissenschaftlichen Methodenkanon als Scheinpostulat. Wir können keinen Punkt außerhalb des hermeneutischen Zirkels einnehmen. Die Vielzahl der hermeneutischen Modelle ist ein deutlicher Hinweis auf die vielfältigen Verflechtungen der am Interpretationsprozess beteiligten Aktanten. Diese Feststellung suspendiert die Wahrheitsfrage jedoch nicht. In diesem Punkt treffen sich aktantenorientierte Hermeneutiken mit dem zentralen Anliegen sinnorientierter Hermeneutik: – Es gilt die jeweils eingenommene Perspektive offenzulegen, – die Sinnproduktion immer wieder zu überprüfen (Relevanz- und Identitätskriterium) – und sich dem „Streit der Interpretationen“ zu stellen (Dialogkriterium). Wahrheit ist immer nur kontextuell zugänglich. Keine Lektüre erschließt den Sinngehalt des Textes in seiner Fülle. Der hermeneutische Prozess ist darin bereits strukturell offen auf seine Transzendierung hin. Mit dem christlichen Glauben eröffnet sich hier eine eschatologische Wahrheitsperspektive.
4. Dritte-Welt-Theologie in sich verändernden Kontexten Im Rückblick erscheint der Fall der Berliner Mauer 1989 vielen als symbolische Verdichtung einer weiteren Epochengrenze. Politisch markiert er das Ende der bipolaren Weltordnung und des „Kalten Krieges“. Die ökonomischen Folgen dieses weltpolitischen Wandels lassen sich in der zügellosen Ausbreitung des neo-liberalen Konsumkapitalismus weltweit besichtigen. Damit einher geht die gleichzeitige Verdichtung der Welt durch die neuen Kommunikationstechnologien.128 Mit dem nach 1945 entstandenen Koordinatensystem des Ost-West- und Nord-Süd-Konfliktes lassen sich die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung nicht mehr erfassen. Das Genre wird im Folgenden denn auch stärker beschreibend. Es sind Suchbewegungen in aktuellen Entwicklungen sowohl in den verschiedenen Kontexten als auch in den theologischen Reflexionen darüber, die gekennzeichnet sind durch Ambiguität und Fluidität. Dem etwaigen Vorwurf, dass der hier postulierte Epochenwechsel eine eurozentrische Perspektive sei, ist entgegenzuhalten, dass durch die enge 128 Vgl. Schreiter, Die Neue Katholizität, 20–34.
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Verknüpfung zwischen Ost-West- und Nord-Südkonflikt die politischen und ökonomischen Folgen auch im Süden unmittelbar spürbar waren. Die alten Feindbilder greifen nicht mehr, dennoch klafft die Schere zwischen Arm und Reich stets weiter auseinander. Die Länder der Dritten Welt haben als militärisches Aufmarschgebiet für „Stellvertreterkriege“ zwischen den beiden verfeindeten Blöcken ausgedient. Vor allem in der Europäischen Union erfolgte eine Umorientierung nach Osten. Ihre Ost-Erweiterung zerreißt endgültig den „Eisernen Vorhang“ des Kalten Krieges. Während eine Reihe der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und der zerfallenen Sowjetunion Anschluss an die EU gefunden haben, erwacht Russland zu neuer Macht. Das Interesse der USA richtete sich unterdessen mehr auf die Ölreserven im Mittleren Osten. Die Dritte Welt im Zeitalter der Globalisierung Gleichzeitig zeichneten sich auch in der Dritten Welt selbst entscheidende sozio-ökonomische und politische Veränderungen ab. In Lateinamerika sind die Militärdiktaturen längst durch junge Demokratien abgelöst. Einige Länder der Region wie Brasilien können selbst ökonomische Erfolge verbuchen. Trotz aller politischen und kulturell-religiösen Gegensätze findet der größte Boom jedoch in Asien statt. Die Giganten China und Indien folgen Japan und den Tigerstaaten Taiwan, Singapur sowie Südkorea nach. Indonesien, Malaysia, Thailand und die Philippinen setzen als neue Tiger- bzw. Pantherstaaten zum Sprung an. Während Indien nicht nur die älteste Demokratie in Asien ist, sondern auch die bevölkerungsreichste weltweit, kombiniert China kommunistische Planwirtschaft mit neo-liberalem Konsumkapitalismus. Auch die kommunistischen Bruderstaaten Vietnam, Kambodscha und Laos öffnen sich langsam. Allein Nordkorea bleibt trotz einer gewissen Annäherung an den inzwischen demokratisierten Süden vorerst noch isoliert an der Seite Chinas. Singapur und Malaysia setzen für ihre wirtschaftliche Entwicklung auf asiatische Werte. Auch im benachbarten Indonesien, dem größten islamischen Land der Erde, wird die Pancasila-Verfassung129 spätestens seit Suhar129 Die fünf (panca) Prinzipien (sila), ein Neologismus bestehend aus zwei SanskritWörtern, bilden die Verfassungsgrundlage, die den indonesischen Inselstaat in all seiner ethnischen, kulturellen und religiösen Diversität zusammenhalten soll: (1) Glauben an den einen Gott, (2) Menschlichkeit (3) nationale Einheit (4) partizipatorische Demokratie und (5) soziale Gerechtigkeit. Vgl. Dieter Becker, Die Kirchen und der Pancasila-Staat. Indonesische Christen zwischen Konsens und Konflikt, Erlangen 1996, 76–79.
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to im Sinne einheimischer Traditionen interpretiert. Der kulturell-religiöse Faktor sorgt jedoch auch für allerlei Spannungen. Die innere Sicherheit Pakistans ist durch fundamentalistische Muslims bedroht. In Indien gewinnt ein fundamentalistischer Hindu-Nationalismus zunehmend an Einfluss. Zugleich ist die Diskriminierung der Kastenlosen (Dalits) und der Stammesbevölkerung bisher nur auf dem Papier aufgehoben. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Allerlei Interessenkonflikte in unterschiedlichen Konstellationen zwischen Indien, Pakistan und China um die islamisch dominierten Kleinstaaten Kaschmir und Bangladesh sowie das bereits durch China annektierte Tibet und die beiden anderen buddhistischen Himalayastaaten Nepal und Butan destabilisieren die Grenzregion des Subkontinents. In Myanmar kehrte sich die buddhistische Bevölkerungsmehrheit mit den jüngsten blutig niedergeschlagenen Demonstrationen von Mönchen (2007) erstmals gegen die seit Jahrzehnten herrschende, von China gestützte Militärdiktatur. Auch das ebenfalls vom Theravada-Buddhismus geprägte Thailand wurde zwischenzeitlich (2006) von einer Junta kontrolliert. In Sri Lanka tobt ein blutiger ethnisch-religöser Zwist zwischen Buddhisten und Hindus. Die christliche Minderheit wird im hinduistischen Indien und im buddhistischen Myanmar ebenso bedrängt wie im islamischen Pakistan. Die überwiegend katholischen Philippinen schließlich werden aufgrund ihrer Kolonialgeschichte kulturell gelegentlich zu Lateinamerika gerechnet. Nicht nur in Südkorea, sondern auch in Südafrika hat sich ein friedlicher Regimewandel vollzogen (1994). Doch droht Afrika unterhalb der Sahara in den Augen vieler zum vergessenen Kontinent zu werden, der die Globalisierung als Zaungast erlebt. HIV / Aids wütet gerade unter den nicht nur sexuell vitalsten Bevölkerungsgruppen. Blutige Konflikte, oft ethnisch oder religiös verbrämt, verwüsten ganze Länder. Der Ruf nach mehr Demokratie (good governance) scheint zu ersticken. Afrikanische Intellektuelle widersetzen sich jedoch zunehmend dieser einseitigen Einschätzung und reklamieren ihren Platz in den globalen Diskursen. Wenn etwa der tansanische katholische Theologe Laurenti Magesa (*1946) die traditionelle afrikanische Religion als Weltreligion bezeichnet, dann will er damit zum Ausdruck bringen, dass sie mit ihrer Weltsicht und ihren Wertvorstellungen einen genuinen Beitrag zur globalen Wissensökonomie leisten kann.130 Ähnliche Argumen130 Vgl. Laurenti Magesa, Ethik des Lebens. Die afrikanische Kultur der Gemeinschaft, Freiburg etc. 2007 [engl. 1997].
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tationsmuster finden sich auch bei Intellektuellen in Asien und Lateinamerika im Hinblick auf ihr jeweiliges kulturell-religiöses Wissen. Signifikant ist die Ablösung der westlichen Moderne durch plurale Modernen, die sich aus diesem lokalen Wissen speisen. Dies gilt für die Metropolen Asiens und Lateinamerikas ebenso wie für die Megastädte Afrikas. „Globalisierung“ ist zur Chiffre für die derzeitige Weltlage geworden, gelegentlich flankiert durch den Begriff Empire, der auf die Vormachtstellung Amerikas anspielt.131 Auch wenn die Empire-Debatte durchaus hilfreich ist, um gewisse weltpolitische Zusammenhänge zu analysieren, droht sie doch ein monokausales Interpretationsmuster einzuführen, wo Multiperspektivität gefragt ist. Um schlaglichtartig nur drei Phänomene zu benennen: Der Krieg gegen den Terror bindet die amerikanischen Streitkräfte in der arabischen Welt, was zu einem Siegeszug sozialistischer Präsidentschaftskandidaten in Lateinamerika geführt hat, das von den Amerikanern traditionell als ihr Hinterhof betrachtet wird. Der wahabitische Islam baut mit „Petrodollars“ überall auf der Welt Moscheen und Medrassen, um z.T. seit Jahrhunderten integrierte Muslimgemeinschaften zu unterwandern. Chinas wirtschaftliche Macht droht nicht nur seine asiatischen Nachbarn zu erdrücken, sondern hat auch zu seinem massiven finanziellen Engagement in Afrika geführt. Eine Schwäche des Globalisierungsdiskurses ist seine einseitige Ausrichtung auf die sozio-ökonomischen und politischen Faktoren unter Vernachlässigung der kulturell-religiösen Dimension. Roland Robertson (*1938) hat der These von der Ausbreitung der am neo-liberalen Konsumkapitalismus orientierten Hyperkultur, von seinen Zunftkollegen auch als „McDonaldisierung“ oder „CocaColonisierung“ bezeichnet, das Konzept der „Glokalisierung“ entgegengesetzt.132 Die lokalen Kulturen erstarken in hybridisierter Form, dies erfordert für die Kulturanalyse eine komplexe Differenzhermeneutik. Daran mangelt es dem von Samuel Huntington (1927–2008) in Schwarz-Weiß-Kontrasten gezeichnetem Schreckbild vom „Kampf der
131 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt/M. 1997; Michael Hardt / Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M / New York 2003. 132 Roland Robertson, Glocalization: Time – Space and Homogenity – Heterogenity, in: Scott Lash / Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London 1995, 25–44. Vgl. Peter Beyer, Religion and Globalization, London etc. 1994; ders., Religions in Global Society, London / New York 2006; ders. / Lori Beaman (Hg.), Religion, Globalization and Culture, Leiden / Boston 2007.
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Kulturen“.133 Ethnizität und Fundamentalismus oder Rekonstruktionen hybrider Identitäten, Herausbildung lokaler Eliten und neuer Mittelschichten oder weitere Verslumung des urbanen Proletariats, das in den sweat-shops und call-centern der Metropolen der Dritten Welt die globale Ökonomie zum Pulsieren bringt – das sind die neuen Koordinaten der Deutung der Kontexte der Dritten Welt im Zeitalter der Globalisierung. Kontextuelle Theologien im Umbruch Welche Auswirkungen hat dieses Szenario auf die kontextuellen Theologien der Dritten Welt? Von der einst in den Basisgemeinden verwurzelten lateinamerikanischen Befreiungstheologie einmal abgesehen, finden viele kontextuelle Theologien erst langsam Eingang in ihre Kirchen und in die Curricula der theologischen Seminare. Diese sind noch immer geprägt von der evangelikalen Theologie der Missionare des 19. Jahrhunderts. Im Katholizismus haben restaurative Tendenzen den Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils längst zum Erliegen gebracht. Ein Rom treuer Episkopat und eine Reihe von Lehrverurteilungen – etwa der Befreiungstheologen Leonardo Boff (1985) und Jon Sobrino (2006), sowie des Dialogtheologen Tissa Balasuriya (1997) – haben ein Übriges getan, um die „lokalen Theologien“134 zu marginalisieren. Die demographische Schwerpunktverlagerung des Christentums in die Dritte Welt, das charismatische Wachstum der Kirchen in China und Indien sowie die Ausbreitung der Pfingstkirchen sind Prozesse, die sich weitgehend losgekoppelt von akademisch-theologischer Reflexion vollziehen. Die Kirchen werden stets konservativer, weltweit. Dennoch sind die kontextuellen Theologien heute längst zu „globalen theologischen Strömungen“135 wie Befreiungstheologien, feministischen Theologien oder Inkulturations- und Dialogtheologien angewachsen. Gleichzeitig hat der neo-konservative Mythos vom Ende vor allem der Befreiungstheologien – die Inkulturationstheologien wurden offensichtlich als weniger bedrohlich 133 Vgl. Samuel Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München / Wien 1996; Harald Müller, Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington, Frankfurt/M. 1998. 134 In Anlehnung an den Begriff „Ortskirche (local church)“ hat Robert Schreiter den Begriff „lokale Theologie (local theology)“ geprägt. Vgl. ders., Abschied vom Gott der Europäer (besser ersichtlich am Titel der englischen Originalausgabe: ders., Constructing Local Theologies, Maryknoll, NY 1985). 135 Schreiter, Neue Katholizität, 34–36; vgl. Volker Küster, Von der lokalen Theologie zur neuen Katholizität. Robert J. Schreiters Suche nach einer Theologie zwischen dem Lokalen und dem Globalen, in: Evangelische Theologie 63, 2003, 362–374.
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eingeschätzt und als exotische Skurrilitäten abgetan – zu einer Immunisierung der „nordatlantischen“ akademischen Theologie geführt. Der Eurozentrismus feiert neue Urstände. Einzig die Dialogtheologie und die Theologie der Religionen erlebten in den Nachwehen des 11. September einen gewissen Popularitätsschub. Auch sind sie überfordert, wenn ihnen die Lösung oder Prävention interreligiöser Konflikte aufgebürdet wird, halten sie doch die Grenzen zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften offen. Die amerikanische theologische Szene hat sich weitgehend vom „alten“ Europa abgekoppelt. Wer das Programm der alljährlichen Großkonferenzen der American Acadamy of Religion (AAR) bis vor Kurzem in Kooperation mit der Society of Biblical Literature (SBL) als Maßstab nimmt, für den scheint sich, was die kontextuellen Theologien anbelangt, zunächst eine wesentlich differenziertere Diskussionslage abzuzeichnen. Der Blick auf die theologische Fachpresse ist jedoch verräterisch. Nicht nur in Europa wird kaum noch Dritte-Welt Theologie übersetzt, selbst wer auf Englisch schreibt, hat Schwierigkeiten, damit bei den großen amerikanischen Verlagshäusern unterzukommen. Dem steht eine rege Publikationstätigkeit in Zeitschriften und Kleinverlagen in der Dritten Welt gegenüber. Diese Schriften sind allerdings in den einschlägigen Fachbibliotheken im Westen noch stets besser zugänglich als in den Ländern selbst – vom interkulturellen Süd-Süd-Austausch ganz zu schweigen. EATWOT kam in diesem Zusammenhang anfangs eine immense Bedeutung zu (→§ 5). Spätgekommene unter den Befreiungstheologien, wie die indische DalitTheologie, wenden sich gegen bestehende Missstände, im konkreten Fall das indische Kastensystem, und funktionieren daher noch nach den angestammten Mechanismen. Anders die Schwarze Theologie im neuen Südafrika. Ihre Vordenker wie Desmond Tutu (*1931), Allan Boesak (*1938), Russel Botman (*1953) oder Tinyiko Sam Maluleke (*1961) setzen sich heute mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen nach dem Ende der Apartheid auseinander und sprechen von Versöhnung (reconciliation), Wiederaufbau (reconstruction) und Entschädigung (reparation) als den neuen generativen Themen.136 Der Kenianer J.N.K. Mugambi (*1947) weitet dies auf den ganzen Subkontinent aus.137 136 Unterstützt werden sie dabei von weißen Theologen wie John W. de Gruchy oder Charles Villa-Vicencio. 137 J.N.K. Mugambi, From Liberation to Reconstruction. African Christian Theology after the Cold War, Nairobi 1995.
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Vor allem im katholischen Bereich versuchen kontextuelle Theologen erneut, an die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils anzuknüpfen und über das Verständnis der Inkulturation als „pastorale Strategie“138 zwischen Theologie und Kirche zu vermitteln. In Lateinamerika hat Diego Irarrázaval (*1942) die Befreiungstheologie mit der Inkulturationstheologie fusioniert (19; 35).139 Er versteht den Inkulturationsprozess durchaus auch als Kulturkritik, aus den negativen Bereichen der Kultur muss das Evangelium wieder „exkulturiert“ werden (3; 14). Irarrázaval weist auf die Gefahr einer „Hyperinkulturation“ (112) in den neo-liberalen Konsumkapitalismus hin. Gleichzeitig muss die von ihm auch für Lateinamerika konstatierte Multikulturalität zu „Poly-“ bzw. „multipler Inkulturation“ (114) führen. Für Asien propagiert Peter C. Phan (*1946) ebenfalls eine dialogische Grundhaltung, „Evangelium und Kultur fordern einander heraus und werden voneinander bereichert“.140 Die Inkulturationstheologie kann dabei von den Erfahrungen des interreligiösen Dialogs lernen. Der bereits erwähnte Laurenti Magesa spricht in diesem Zusammenhang von einer „religiös-kulturellen Symbiose“ und „gegenseitiger Bereicherung“,141 einer „Fusion von afrikanischen Kulturen mit biblischer Lehre ohne die Grundwerte bzw. -prinzipien einer der beiden zu opfern“ (10). Magesa verschweigt dabei den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach der Rekonstitution einer afrikanischen Identität und die Angst vor dem Rückfall in vormoderne Zustände nicht (13). Allen genannten Theologen ist gemeinsam, dass sie unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung sowohl die lokalen Kulturen als auch die Kirche transformieren wollen. Die klassische Einteilung der kontextuellen Theologien in die beiden großen Schulen der Befreiungs- sowie Inkulturations- und Dialogtheologien greift insofern noch immer (→§ 2.1). Gleichzeitig sind sie nicht nur thematisch, sondern auch strukturell gravierenden Transformationsprozessen ausgesetzt. Die drei wichtigsten Verschiebungen142 seien hier kurz erläutert: 138 Diego Irarrázaval, Inculturation. New Dawn of the Church in Latin America, Maryknoll, NY 2000, 5 (Seitenangaben im Text). 139 Vgl. Paulo Suess, Weltweit artikuliert, kontextuell verwurzelt. Theologie und Kirche Lateinamerikas vor den Herausforderungen des ‚dritten Subjekts‘. Zeugnisse, Analysen, Perspektiven, Frankfurt/M. 2001. 140 Peter C. Phan, Being Religious Interreligiously. Asian Perspectives on Interfaith Dialogue, Maryknoll, NY 2004, 213; vgl. ders., In our own Tongues. Perspectives from Asia on Mission and Inculturation, Maryknoll, NY 2003. 141 Laurenti Magesa, Anatomy of Inculturation. Transforming the Church in Africa, Maryknoll, NY 2004, 3 (Seitenangaben im Text). 142 Vgl. Schreiter, Neue Katholizität, 49f.
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• Von der lokalen Verortung zur Deterritorialisierung: Ging die erste Generation kontextueller Theologen größtenteils noch von der Einheit von Kontext und Territorium aus, ist durch die globalen Migrationsströme das Bewusstsein für die Existenz in der Diaspora neu geschärft. Kontextuelle Theologie muss dann im „Zwischen“ entworfen werden.143 • Von der Mono-Kultur zur Hybridität: Das Pathos der Inkulturationstheologien war die Rekonstruktion der eigenen kulturellen Identität. Heute erfordert jede Inkulturationsbemühung zunächst einmal eine differenzierte Kulturhermeneutik, die komplexe kulturelle Gemengelagen analysiert. Dennoch gibt es noch stets kulturell distinkte Identitäten. • Von der Gemeinschaftszentriertheit zur multiplen Zugehörigkeit: Dass eine kontextuelle Theologie per se bezogen ist auf eine Gemeinschaft, war nicht nur für die Befreiungstheologien, sondern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Kultur auch für die Inkulturationstheologien konstitutiv. Die Hybridität der Kulturen führt heute dazu, dass Menschen sich verschiedenen Gruppierungen zugleich zugehörig fühlen.144
5. Von der Kontextualisierung zur Glokalisierung Im Folgenden zeichne ich anhand der Arbeiten von zwei afrikanischen und einer asiatischen Theologin sowie eines asiatischen Theologen exemplarisch die Transformationsprozesse der kontextuellen Theologien nach. Dabei wird sichtbar werden, wie sich der Akzent langsam von der Kontextualisierung zur Glokalisierung verschiebt. Musimbi Kanyoro – Auf dem Weg zu einer geschlechterbewussten KulturHermeneutik Musimbi Kanyoro (*1953) plädiert für eine kulturelle Hermeneutik, die untersucht, „wie die Kultur zu einer bestimmten Zeit die Realitätswahrnehmung der Menschen an einem Ort bestimmt“.145 Sie geht von der Beobach143 Der US-amerikanische schwarze Theologe James Cone hat das früh erkannt. Bereits auf der Panafrikanischen EATWOT-Konferenz in Accra, Ghana 1977, thematisierte er seine „Doppelidentität“ als Amerikaner und Afrikaner (→§ 5.2). 144 Vgl. Virgil Elizondo, The Future is Mestizo. Life where Cultures Meet, rev. Aufl. Colorado 2000. 145 Kanyoro, Introducing Feminist Cultural Hermeneutics, 9 (Seitenangaben im Text). Kanyoro (19) beruft sich auf Mercy Amba Oduyoye, Daughters of Anowa. African Women and Patriarchy, Maryknoll, NY 1995. Entgegen dem inzwischen üblichen
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tung aus, dass in Afrika beim Lesen der Bibel die Kultur der Leserinnen wichtiger ist als die Kultur und Geschichte des Textes selbst (10;19). Im Anschluss an Oduyoye charakteriert Kanyoro ihre Methodik näherhin als eine „geschlechterbewusste (engendered) kulturelle Hermeneutik“, die sowohl Grundlage für eine Befreiungstheologie afrikanischer Frauen (18) wie für eine biblische Hermeneutik (10;19) ist. Kultur ist für Kanyoro ein zweischneidiges Schwert, sie konstituiert die Identität der Gemeinschaft und grenzt damit gleichzeitig aus (13). Auch werden unter dem Deckmantel der Kultur schädliche Praktiken und Traditionen fortgeführt (15). Kanyoro verschweigt nicht, dass es oft Frauen selbst sind, die diese Praktiken aufrecht erhalten (ebd.). Kulturelle Hermeneutik ist eine Methode, um die brauchbaren Bestandteile aus der Kultur herauszufiltern (66). Jede Kultur muss sich dabei auf ihr befreiendes Potential befragen lassen (10). In diesem Reinigungsprozess gewinnt Kanyoro die zentralen Aspekte afrikanischer Weltanschauung, Gemeinschaftsbezogenheit und Lebenszentriertheit zurück. Kanyoro entwirft die Vision einer in der Gemeinschaft gegründeten Theologie (communal theology), in der die Erfahrungen von Frauen zentral stehen (27). Das Erzählen der eigenen Geschichten in einem Schutzraum gegenseitiger Verwundbarkeit bildet den Rahmen gemeinsamer Bibellektüre (4). „Verwundbarkeit“ sollte dabei nicht als Schwäche missverstanden werden (5), sondern als Habitus, der Raum schafft, um Freude und Leid miteinander zu teilen und aus dem Erzählen der kollektiven Geschichten (corporate stories, 24) sowie der gemeinsamen Bibellektüre Kraft zu schöpfen (empowerment). Die kenianische Theologin misst ihr Idealbild selbst an den Erfahrungen, die sie mit dieser Methode in ihrem Heimatdorf Baware gemacht hat. 1994 anlässlich des Todes ihres Vaters zurückgekehrt, beschließt sie spontan, den Sommer über zu bleiben und mit den Frauen, die ihre Mutter in ihrer Trauer begleiten, gemeinsam die Bibel zu lesen. Das Ergebnis ist ernüchternd: „Die Frauen von Baware waren noch nicht soweit, die Autorität der Bibel in Frage zu stellen, geschweige denn die Autorität der Kultur“ (7). Kanyoro schildert den Fall eines Mädchens, das von ihrem Lehrer geschwängert wurde (5). Sie soll an einen älteren Witwer verheiratet werden, der um ihre Sprachgebrauch spricht Kanyoro häufiger von „afrikanischer Befreiungstheologie“ (26). Ein weiteres Indiz dafür, dass die afrikanischen Frauen die traditionellen Inkulturationstheologien einer feministisch-befreiungstheologischen relecture unterziehen. Vgl. dies., Cultural Hermeneutics: An African Contribution, in: Musa W. Dube (Hg.), Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta / Geneva 2001, 101–113, 111.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Hand angehalten hat. Damit wäre die Schande von der Familie abgewendet und Mebo, so ihr Name, doch noch unter der Haube. Die zaudernde Mutter wird auf Ruths Heirat mit Boas als biblisches Vorbild verwiesen. Zu Kanyoros großer Enttäuschung „bestätigten und rechtfertigten die Frauen [damit] eine Lesart des Buches Ruth, die potentiellen Schaden für Frauen und Mädchen impliziert“ (6), weil sie ihrer afrikanischen Kultur zu entsprechen schien. Für Kanyoro hingegen muss sich die Hermeneutik des Verdachts nicht allein gegen den biblischen Text, sondern gerade auch die Kultur richten (7). Trotz dieses Rückschlags will Kanyoro den armen, lese- und schreibunkundigen Frauen von Baware eine Stimme in der globalen Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit geben. Ihr Heimatbesuch ist schließlich auch nicht ohne Folgen geblieben. Wurde sie 1996 doch eingeladen, um eine Bibelfreizeit zum Buch Ruth zu gestalten. Ihre dichte Beschreibung von diesem „Theater kultureller und biblischer Hermeneutik“ (38) zeichnet ein sehr viel differenzierteres Bild der Bewusstseinslage unter den Frauen. Ihr Einstieg bleibt zwar „konkordistisch“ (→§ 2.2), sie beziehen die Bibel direkt auf ihr Leben und lesen sie durch die kulturelle Brille, aber es zeichnen sich doch Unterschiede zwischen den Generationen ab. Die jungen Frauen rebellieren gegen die älteren, denen die Kultur Macht über sie verleiht (44). Allen Ambivalenzen zum Trotz lautet Kanyoros Fazit: „Sie werden immer wieder zum Schweigen gebracht, aber sie schweigen dennoch nicht“ (88). Theologie und Kirche müssen sich gleichermaßen ihrer Verantwortung (accountability) für die Gleichberechtigung der Frauen in Kirche und Gesellschaft stellen (24). Nur wenn es gelingt, eine in der Gemeinschaft gegründete Theologie zu entwerfen, die die afrikanische Kultur kritisch aufnimmt, hat der christliche Glaube in Afrika eine Zukunft (57). Während Kanyoro noch eine reflexive Spielart der Inkulturationstheologien repräsentiert, bricht mit Musa Dube und der asiatischen Theologin Kwok Pui-Lan die postkoloniale Kritik in den Kontextualisierungsdiskurs ein. Anders als die lateinamerikanischen Befreiungstheologen überschreiten auch die postkolonialen Theologinnen und Theologen im Gefolge der feministischen Theologie in ihrer Hermeneutik des Verdachts die Grenze von der Interpretation zum Text. Die Bibel ist nicht nur für jedwede Form der Unterdrückung missbraucht worden, sondern enthält selbst auch „Texte des Terrors“,146 die sozialer Ungerechtigkeit, dem Patriarchat oder kolonialer Expansion das Wort reden. 146 Vgl. Phylis Trible, Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Narratives, Philadelphia 1984 [dt. 1987]; Dorothea Erbele-Küster, Ungerechte Texte und
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Feministische Hermeneutik Befreiungstheologische Hermeneutik
Text Interpretation
Postkoloniale Hermeneutik
Abb. 5: Hermeneutik des Verdachts
Musa W. Dube – Rahab’s Leseprisma Die ebenfalls dem Oeuvre Oduyoyes verpflichtete Musa W. Dube (*1964) bietet eine Ruth-Interpretation, wie Kanyoro sie sich wahrscheinlich im Idealfall gewünscht hätte.147 Sie nimmt die Vorgehensweise der traditionellen afrikanischen Weissager und Heiler als ihren hermeneutischen Ausgangspunkt. Die Bibel, im konkreten Fall das Buch Ruth, wird als Medium beim Weissagen zu einem „sprechenden Buch“ (181), das hilft die sozialen Beziehungen ihrer Klienten zu analysieren. „Ein Wahrsagemedium zu lesen ist darum eine ethische Kunst, die zur Wissensproduktion beiträgt“ (184). Dube kann sich dabei auf eine in den von Afrikanern und Afrikanerinnen gegründeten Kirchen (African Instituted Churches – AIC →§ 10.2) bereits vertraute Lesepraxis berufen (181). Dadurch wird hinter der Beziehung der beiden Protagonistinnen das asymmetrische Verhältnis ihrer Heimatländer sichtbar, symbolisch verdichtet in dem Kind, das die Moabiterin Ruth Juda – repräsentiert in der Person Naomis – gebiert (193). In anderen Zusammenhängen rezipiert Dube auch das vom Heiligen Geist inspirierte Lesen (semoya reading) in den AICs.148 Bishop Virginia Lucas, Mitbegründerin der Glory Healing Church in Mogodishane, Gabarone, nimmt für sich eine direkte Geistoffenbarung Gottes in Anspruch, der ihr „nie die Bibel geöffnet habe“, sondern sie dazu aufgefordert hat, eine Kirche zu gründen und die Menschen zu heilen (42). Für Dube eröffnet sich dadurch ein genuiner Raum für den Kontakt mit Gott frei von imperialistischer gerechte Sprache. Überlegungen zur Hermeneutik des Bibelübersetzens, in: Die Bibel – übersetzt in gerechter Sprache? Grundlagen einer neuen Übersetzung, Gütersloh 2005, 222–234. 147 Vgl. Musa Dube, Divining Ruth for International Relations, in: dies., Other Ways of Reading, 179–195 (Seitenangaben im Text). 148 Vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (Seitenangaben im Text).
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und patriarchaler Unterdrückung. Dieser semoya-Raum ermöglicht es, Gott neu zu hören und die Bibel neu zu lesen (117). Indem sie die Bibellektüre der AIC-Frauen als Quelle für ihre theologische Reflexion ernst nimmt, misst Dube ähnlich wie Kanyoro der Oralität eine große Bedeutung bei. Die Offenheit dieses Ansatzes macht Dube zugleich angreifbar für Kritik. Über mögliche Kriterien schweigt sie. Die hermeneutischen Suchbewegungen Dubes kulminieren in der Metapher von Rahab’s Leseprisma. „Es ist ein postkoloniales feministisches Auge, das viele Blickwinkel eröffnet um literarische Texte zu sehen, lesen und hören und dabei unterdrückerischen imperialen und patriarchalen Strukturen und Ideologien zu widerstehen“ (123). In den so entstehenden Freiräumen können sich „Lese- bzw. Schreibweisen befreiender Interdependenz entwickeln, die Differenz, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit für verschiedene Kulturen, Religionen, Gender, Klassen, Sexualitäten, Ethnizitäten und Rassen ständig reevaluieren und in der wechselseitigen Verbundenheit unserer Beziehungen feiern“ (ebd.). Dube liest imperialistische und dekolonisierende Texte aus verschiedenen Epochen und Kulturkreisen parallel. „Die postkoloniale Ära impliziert, dass die christliche Bibel nicht mehr länger allein nur mit jüdischen Texten koexistiert – was, wie ich glaube, sowieso selbst in der Antike nicht der Fall war – sondern mit vielen anderen Texten dieser Welt“ (39). Mit der von ihr propagierten Lesestrategie „befreiender Interdependenz“ strebt Dube danach, die „doppelte Kolonisierung“ (113) der Frauen durch imperiale und patriarchale Strukturen zu überwinden. Kwok Pui-Lan – Dialogische Imagination Kwok Pui-Lan (*1952) teilt mit Dube und Kanyoro das Bewusstsein für die theologische Bedeutung der Erfahrung und der eigenen Lebensgeschichten von Frauen.149 Nicht nur in Afrika spielt die Oralität eine entscheidende Rolle bei der Überlieferung und Interpretation religiöser Traditionen. Wie Dube und Kanyoro will auch Kwok der Interpretation der „einfachen Leserinnen und Leser (ordinary readers)“, die als Analphabeten oft auf die mündliche Weitergabe angewiesen sind, den gleichen Status geben wie der akademischen Exegese (96). Zugleich ist Asien aber reich an religiösen Texten, in denen die oft über Jahrhunderte mündlich überlieferte Tradition ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hat (97). Allein der Koran bildet hier eine gewisse Ausnahme, da er unmittelbar schriftlich aufgezeichnet wurde (97f.). 149 Vgl. Kwok Pui-Lan, Interpretation als Dialog. Eine biblische Hermeneutik aus Asien, Luzern 1996, 9 (Seitenangaben im Text).
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Die anderen Religionen haben nicht nur eine Vielfalt heiliger Texte hervorgebracht, sondern auch eigene hermeneutische Methoden entwickelt, um sie zu lesen (22). Wer in dieser nicht-biblischen Welt die Bibel entdecken will, muss sie inter-textuell lesen (127). Ein solches relationales Schriftverständnis will nicht nur die anderen heiligen Texte für das Verständnis der Bibel fruchtbar machen, sondern ist sich auch bewusst, dass die Bibel nicht den Christen allein gehört (60). Allgegenwärtige Absolutheitsansprüche werden durch solch eine multi-religiöse (multi-faith) Hermeneutik relativiert: „Wahrheit lasse sich auch in anderen Kulturen und Religionen finden“ (37). Deswegen muss die biblische Wahrheit immer wieder kontextuell ausgehandelt werden (39). Dialog definiert Kwok dann schlüssig als gemeinsame Suche nach der Wahrheit (41). Das Wahrheitskriterium ist dabei letztendlich ein ethisches, der Text muss sich in seiner Wahrheit für den Kontext bewähren. Die Menschen „können die Bedeutung der biblischen Botschaft nur daran messen, wie sie in der christlichen Gemeinschaft gelebt wird“ (39). Ihren hermeneutischen Ansatz bezeichnet Kwok als „dialogische Imagination“ (26). Die Bibel ist für sie ein „sprechendes Buch“ (talking book, 27). Sie will sie ins Gespräch bringen mit den asiatischen Kulturen und Religionen sowie den Erfahrungen und Geschichten der „kleinen Leute“, der Armen und Unterdrückten. Dafür beruft sie sich durchaus auch auf das Oeuvre der männlichen Theologen der ersten Generation. Die Inkulturationstheologen C.S. Song und Kosuke Koyama mit ihrer Orientierung an Geschichten (stories) werden ebenso herangezogen wie der Befreiungstheologe Kim YongBock mit seinem Konzept der Sozialbiographie (social biography). Auch Dialogtheologen wie Wesley Ariarajah (*1941) und Aloysius Pieris werden rezipiert. Es fällt auf, dass Kwok, die sich ähnlich wie Kanyoro eingangs gleichermaßen gegen westliche Feministinnen und ihre männlichen Kollegen aus Asien abgrenzt, in der Praxis viel freier Gebrauch von diesen Ressourcen macht. Da Kwok die Normativität der Bibel relativiert (51–53), ist bei ihr das Identitätskriterium letztendlich im Dialogkriterium aufgegangen. Dadurch macht sie sich verwundbar für Kritik, die ihr einen Mangel an Kriterien vorwirft. Kwok sucht das Kriterium außerhalb der Schrift in der Gemeinschaft selbst (52). Damit kommt dieser bei Kwok ein ähnlich hoher Stellenwert zu wie bei Kanyoro. Während es Kanyoro um die Destabilisierung der Autorität der Kultur zu tun ist, wollen Kwok und Dube mit Hilfe der anderen Kulturen und Religionen überkommene christliche Absolutheitsansprüche destabilisieren. Auch wenn Kanyoro der Gedanke des Synkretismus nicht fremd ist, steht sie der afrikanischen Kultur und Religion doch wesentlich
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kritischer gegenüber als Dube oder Kwok dem kulturell-religiösen Pluralismus Asiens. Die drei treffen sich dabei in ihrem Bemühen, dem christlichen Glauben eine kontextuelle Gestalt zu geben. Kwok will die Bibel desakralisieren und scheut sich nicht, den Kanon zu dekonstruieren (49f.).150 Anders als einige ihrer Kollegen der ersten Generation plädiert sie dabei nicht etwa dafür, das Alte Testament durch die heiligen Schriften der asiatischen Religionen zu ersetzen. Vielmehr liest sie die Bibel in ihrem multikulturell religiösen Kontext und lernt auch von den hermeneutischen Methoden der anderen. Ein solcher multiperspektivischer und multiaxialer Ansatz, der Rasse, Geschlecht und Klasse ebenso berücksichtigt, wie Kultur und Religion (153f.), lässt nicht nur den Bibeltext als fließend, dynamisch und relational erscheinen (27), sondern auch den asiatischen Kontext als „vielschichtig, fließend und sich wandelnd“ (62). Nicht zuletzt wird dadurch auch die Selbstwahrnehmung der Autorin „vielschichtig, fließend und offen für neue und kontinuierliche Neuinterpretationen, abhängig von sich verändernden Kontexten und historischen Umständen“ (64). Ihren eigenen Denkweg vor Augen unterscheidet Kwok heute drei „einander überlappende Typen postkolonialer Imagination: historisch, dialogisch und diasporisch“.151 In ihrer Doktorarbeit hatte Kwok unter Rückgriff auf Elisabeth Schüssler Fiorenzas konstruktiv-feministische Hermeneutik die Geschichte der chinesischen Bibelfrauen rekonstruiert und damit einen Perspektivenwechsel in der Missionsgeschichtsschreibung vollzogen. Ihre Einführung in die feministischen Theologien Asiens lässt sich als theologiegeschichtlicher Beitrag verstehen.152 Mit Interpretation als Dialog wandte sie sich dann dem multireligiösen Kontext Asiens zu. Ihr bisher letztes Buch Postcolonial Imagination markiert für Kwok selbst den endgültigen Übergang zu einem neuen Selbstverständnis als asiatische Theologin in der Diaspora. Die ‚subtile, nuancierte Differenz im Zwischen oder die Grauzone ‚fruchtbarer Ambiguität‘ erscheint ihr neue Möglichkeiten für kritische Wissenschaft zu eröffnen (25). 150 Vgl. Dorothea Erbele-Küster, Eine interreligiöse Dekonstruktion des biblischen Kanons. Die Theologin Kwok Pui-Lan liest die Bibel im Kontext der Religionen Asiens, in: „Daß Gott eine große Barmherzigkeit habe“. Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glaube und Leben, FS Gunda Schneider-Flume, hg. von Doris Hiller / Christine Kress, Leipzig 2001, 281–288. 151 Kwok Pui-Lan, Postcolonial Imagination and Feminist Theology, Louisville, Kentucky 2005, 22 (Seitenangaben im Text). 152 Vgl. Kwok, Pui-Lan, Chinese Women and Christianity 1860–1927, Atlanta, Georgia 1992; dies., Introducing Asian Feminist Theology, Cleveland, Ohio 2000.
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Mit Edward Said versteht sie sich als ‚Wanderin‘, als Person zwischen verschiedenen Heimatorten (29). Die schon in ihrem Dialogbuch eingeführte postkoloniale Kritik wird gewissermaßen zur Klammer von Kwoks Bemühungen. Postkolonialismus ist eine kritische Grundhaltung und ein loses methodisches Instrumentarium, dass sich aus den Literaturwissenschaften in andere Wissenschaftszweige ausgebreitet hat. Als Vorläufer wird regelmäßig das Dreigestirn Edward Said (1935–2003), Homi Bhabha (*1949) und Gayatri Chakravorty Spivak (*1942) genannt.153 In diese Reihe gehören aber auch der algerische Psychoanalytiker Frantz Fanon (1925–1961) und Schriftsteller wie Chinua Achebe (*1930), Wole Soyinka (*1934) oder V.S. Naipaul (*1932). Manchmal wird zwischen post-kolonial (mit Bindestrich) im Sinne einer historischen Abfolge und postkolonial (zusammengeschrieben) als Bezeichnung einer kritischen Grundhaltung unterschieden, die über die kolonialen Strukturen hinausweist.154 In die Theologie hat der Postkolonialismus bisher vor allem als hermeneutische Perspektive in der Bibelauslegung Eingang gefunden. Neben Kwok Pui-Lan und Musa Dube profiliert vertreten vor allem durch den bis zu seiner Emeritierung in Birmingham, Großbritannien, lehrenden R.S. Sugirtharajah. R.S. Sugirtharajah – Die Bibel in der Dritten Welt Zunächst bekannt geworden als Herausgeber von Anthologien wie der preisgekrönten Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World,155 hat R.S. Sugirtharajah (*1944) seit 1998 in kurzer Folge ein halbes Dutzend Bücher zum Thema postkoloniale Bibellektüre publiziert, von ihm edierte Sammelbände nicht mitgerechnet. Postkolonialismus wird von Sugirtharajah dabei weniger als eine neue Theorie verstanden, sondern vielmehr als „Widerstandsdiskurs, der zurückschreibt und kolo153 Vgl. Robert C. Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford 2001; Arif Dirlik, The Postcolonial Aura. Third World Criticism in the Age of Global Capitalism, Boulder / Oxford 1997. In der Theologie wird ihr Oeuvre sehr selektiv rezipiert. Es geht vor allem um die Übernahme einer Perspektive und einzelner Begrifflichkeiten wie etwa subaltern (Spivak), Dritter Raum (Bhabha) oder kontrapunktisches Lesen (Said), gelegentlich auch das Arbeiten mit postkolonialer Literatur. 154 Letztere Interpretation des „post-“ im Sinne von „jenseits“ (beyond) findet sich auch im Hinblick auf „Postmodernismus“. 155 R.S. Sugirtharajah, Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, London 1991.
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nialen Vorurteilen, Repräsentationen und Ideologien entgegenwirkt“.156 Daher erscheint ihm für diese „Ansammlung von kritischen und konzeptuellen Grundhaltungen“157 auch der Begriff Kritik angemessener. „Postkoloniale Interpretation wird den Mythos objektiver oder neutraler Wahrheit ablehnen und mit einer Wahrnehmung von Wahrheit als kartographiert, konstruiert und ausgehandelt ersetzen.“158 Auch die eigene Identität wird als Ergebnis komplexer „kultureller Unterhandlungen und Wechselwirkungen“ betrachtet. „[D]as Ergebnis ist eine hybridisierte Identität – die Formierung von Bindestrich-, gebrochenen, mannigfaltigen und sich vervielfältigenden Identitäten“.159 Anders als Kwok und Dube, die sich auf die ihnen jeweils am besten vertrauten Kontexte in Asien bzw. Afrika konzentrieren, wählt Sugirtharajah dezidiert einen komparativen, cross-kulturellen Zugang. Die Gender-Perspektive tritt bei ihm in den Hintergrund. Nach einer Art Selbstvergewisserung zum Auftakt mit Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism spannt er in The Bible and the Third World einen weiten Bogen über Asien, Afrika und Lateinamerika. Wie EATWOT hält der Autor dabei dezidiert am Begriff „Dritte Welt“ fest (→§ 5.1). Mit Alfred Sauvy referiert Sugirtharajah auf den „dritten Stand“ in der französischen Revolution und den angestrebten „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Zugleich bringt der Begriff für ihn die ungerechten Machtverhältnisse zum Ausdruck.160 Die von Sugirtharajah eingeführte Periodisierung in „Präkoloniale, koloniale und postkoloniale Begegnungen“, so der Untertitel, lässt schnell deutlich werden, dass die um 1970 herum vielerorts aufsprießenden kontextuellen Theologien eine lange Vorgeschichte haben. Im Folgenden zeichne ich diese anhand der sich z.T. auch überschneidenden Veröffentlichungen Sugirtharajahs nach und setze mich zugleich mit seinen Begrifflichkeiten und seinem methodischen Instrumentarium auseinander. Die eurozentrische Perspektive, die sich auf die Westausbreitung des Christentums fokussierte, hat seine gleichzeitige Ausdehnung nach Osten entlang 156 R.S. Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics and Postcolonialism. Contesting the Interpretations, Maryknoll, NY 1998, x. 157 R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford 2002, 14. 158 Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 18. 159 Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 16. 160 Vgl. R.S. Sugirtharajah, The Bibel and the Third World. Precolonial, Colonial and Postcolonial Encounters, Cambridge 2001, 1 (Seitenangaben im Text); ders., The Bible and Empire. Postcolonial Explorations, Cambridge 2005.
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der Seidenstraße bis nach Indien und China und Süden nach Nordafrika und Äthiopien hinein lange ausgeblendet. Es waren vor allem asiatische und afrikanische Theologen selbst, die ihren historischen Anteil an den Anfängen des christlichen Glaubens reklamierten. Sie berufen sich dafür nicht nur auf biblische Gestalten, „wie die Königin von Saba, den äthiopischen Kämmerer, Ebedmelech, einen anderen Äthiopier [... oder] Simon von Kyrene“, und geographische Referenzen, wie die Erwähnung Indiens im Esterbuch (Est 1,1; 8,9), sondern auch auf materielle Spuren christlicher Präsenz in Asien und Afrika lange vor der Ankunft der westlichen Missionare (13f.).161 Die Vermittlung des christlichen Glaubens verlief dabei größtenteils über mündliche Überlieferung und die Liturgie (21). „Die Bibel war in präkolonialer Zeit [...] nur beschränkt verbreitet und in Gebrauch und erreichte die einfachen Leute kaum“ (46). Das geschriebene Wort hatte noch nicht die zentrale Stellung. Entsprechend wurden wenige Anstrengungen unternommen, die Bibel in die lokalen Sprachen zu übersetzen. In China fungierten die Stele von Sianfu und die Schriften des Nestorianer-Bischofs Alopen als eine Art „Ersatzbibel“ (28). Die Bibel blieb in Asien ein religiöser Text inmitten einer Vielzahl heiliger Schriften. „Mit dieser Idee multipler Texte ging die offensichtliche religiöse Toleranz einher, die kennzeichnend für die Region war“ (39). Afrika kannte keine vergleichbare literarische Tradition und entbehrte selbst der notwendigen Schriften, um seine reichen Traditionen aufzuzeichnen. Umso erstaunlicher ist, dass es durch die Septuaginta (LXX) zur „Wiege der Bibelübersetzung“ wurde (31) und die führenden Köpfe des nordafrikanischen Christentums, Tertullian (ca. 160–220) und Augustinus (354–430), Pioniere der Bibelhermeneutik waren (ebd.). Nichtsdestotrotz blieb „der Gebrauch der Bibel [auch] in Afrika in dieser Phase elitär und beschränkt auf die latinisierten Klassen“ (ebd.). Erst die von Sugirtharajah als „Schriftimperialismus (scriptural imperialism)“ charakterisierten Aktivitäten der protestantischen Bibelgesellschaften im Zeitalter des Kolonialismus veränderte die Situation grundlegend (45). War die katholische Mission aufgrund der traumatischen Erfahrung mit der Schriftorientierung der Reformatoren noch vor einem allzu offenen Umgang mit der Schrift oder gar ihrer Übersetzung zurückgeschreckt, setzen die Protestanten ganz im Geiste des Sola-scriptura-Prinzips auf die massenhafte Verbreitung der Bibel. Mit allen von der katholischen Konkurrenz gefürchteten Folgen: ‚Das Imperium schrieb zurück.‘ Die lokalen Christen „drehten 161 Vgl. John C. England, The Hidden History of Christianity in Asia. The Churches of the East before 1500, Delhi / Hongkong 1996.
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und wendeten die biblischen Texte und eigneten sie sich an, um einen Diskurs des Widerstandes zu kreieren und ihre Identität zu rekonstruieren. Es war [dabei] nie ihre Intention gewesen, die Bibel abzulehnen, es ging ihnen vielmehr darum, sie als einen inklusiveren, zugänglicheren und attraktiveren Text zu rekonstituieren“ (109). „Die Bibel war im kolonialen Kontext eine Waffe, die von beiden Seiten, den Kolonisierten und den Kolonisten, instrumentalisiert wurde, um ihre jeweilige Position auszubauen“ (108). Dabei gab es unter den Missionaren durchaus Dissidenten, die sich auf die Seite der Missionierten schlugen und umgekehrt Missionierte, die es vorzogen, sich zu assimilieren.162 Entsprechend dem Perspektivenwechsel im Hinblick auf die präkoloniale Ausbreitungsgeschichte des Christentums richtet die postkoloniale Kritik in der kolonialen Phase den Blick auf die „lokale Vermittlung (local agency)“ durch Bibelkolporteure und -frauen.163 Das im dritten Teil von The Bible and the Third World über die postkolonialen Begegnungen ausgebreitete Material wird im zwei Jahre später vorgelegten Band Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation weiter aufbereitet. Hatte Sugirtharajah schon in Asian Biblical Hermeneutics eine erste Systematisierung der verschiedenen Lesestrategien vorgenommen, indem er zwischen einer „orientalistischen“, einer „anglizistischen“ und einer „nativistischen“ Perspektive unterschied,164 differenziert er diese nun weiter aus, ohne sich allerdings dezidiert auf seine frühere Einteilung zurückzubesinnen. Als „Orientalismus“ wird die Strategie der Kolonialherren bezeichnet, das Erbe der indischen Hochkultur zu revitalisieren. Aus missionarischer Sicht konnten die indischen Christen an die vedische Tradition anknüpfen und diese überbieten bzw. erfüllen. Gleichzeitig sollten sie dazu befähigt werden, aus ihrer Kenntnis der Klassiker heraus die Hindus kritisieren zu können. Die ideologische Gegenbewegung innerhalb des kolonialen Systems war der „Anglizismus“. „Es war der strategische Versuch, einheimische Texte und Lehre mit westlicher Wissenschaft und westlichen Denkformen zu ersetzen und die Kolonisierten in die Kultur der Kolonisierer zu integrieren.“165 Die „nativistische bzw. lokale (vernacular) Hermeneutik“ wollte gegenüber diesen beiden dominanten Lesestrategien die lokalen „Nicht-Sanskrit“-Traditionen revitalisieren. 162 Damit sind implizit bereits zwei gegenläufige Lesestrategien, eine „abweichende (dissident)“ und eine „assimilierende“, benannt. 163 Vgl. Kwok, Chinese Women. 164 Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 3–14. 165 Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 8.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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In Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation unterscheidet Sugirtharajah nun sechs Lesestrategien (readings), die er als „abweichend (dissident)“, „widerstands-“, „traditions- (heritagist)“, „nationalistisch“, „befreiungs-“ und „minderheiten- (dissentient) orientiert“ klassifiziert. Als Beispiel „abweichender Lesestrategien“ führt er Bartolomé de Las Casas (1474–1566) an, der sich dem kolonialen Landverteilungssytem (encomienda) der Spanier widersetzte. Des Weiteren werden der Südafrikamissionar John Colenso (1814–1883) und James Long (1814–1887), der für die Church Missionary Society (CMS) in Indien arbeitete, genannt. „Obwohl sie der imperialen Politik äußerst kritisch gegenüber standen, waren sie überzeugte Anwälte einer wohlwollenden Kolonialregierung und glaubten an die göttliche Vorherbestimmung der kolonialen Ausbreitung“ (51). Während es sich bei den abweichenden Lesern um Repräsentanten des kolonialen Systems handelte, entwickeln die Kolonisierten selbst „widerstandsorientierte Lesestrategien“. Als Protagonisten dieser Richtung werden der befreite westafrikanische Sklave Olaudal Equiano (1745–1797), der nordamerikanische Indianer William Apess (1798–1839) und der indische Muslimreformer Syed Ahmed Khan (1817–1898) vorgestellt. Unter die „traditionsorientierten Lesestrategien“ scheint Sugirtharajah auch die früher unterschiedene „orientalistische“ und „nativistische Perspektive“ zu subsumieren. „Diese Interpretationsart ist ein Versuch der Kolonisierten, sowohl in ihrer Hochkultur, ihrer schriftlichen Überlieferung und ihrer Philosophie, als auch in ihren mündlichen und visuellen Kunstformen konzeptuelle Analogien [zur biblischen Überlieferung] zu finden“ (55). Mit den herangezogenen Beispielen überschreitet Sugirtharajah die Grenzen zwischen kolonialer und post-kolonialer Bibelauslegung im historischen Sinne. Desmond Tutu / Südafrika (*1931) und Elsa Tamez / Costa Rica (*1950), beide der kontextuellen Theologie verpflichtet, werden den indischen Pionieren K.N. Banerjea (1813–1885) und A.S. Appasamy Pillai (1848–1927) zur Seite gestellt. Zu den Schwächen der Traditionshermeneutik gehört, dass sie dem westlichen Publikum raffiniert verfeinerte Repräsentationen des Exotischen bietet. Des Weiteren kann die Glorifizierung einheimischer Impulse und das sich Verschanzen im Provinziellen zu Engstirnigkeit und Isolierung führen zu einer Zeit, in der es jede Menge cross-over, Austausch und Anleihen gibt (62).
„Während die traditionsorientierte Lesestrategie sich auf den durch den Kolonialismus verursachten kulturellen Vandalismus konzentrierte, wendete die nationalistische Lesestrategie sich dem entstandenen ökonomischen
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Teil I: Begriffe und Methoden
Schaden zu und versuchte, einen kompletten Bruch mit dem kolonialen System zu markieren und den Schaden zu beheben“ (63). In der Konsequenz dieses Ansatzes liegen die „befreiungsorientierten Lesestrategien“, die sich dem Entwicklungsdenken, der westlichen Antwort auf die ökonomische Misere der Dritten Welt, widersetzen. Diese waren laut Sugirtharajah mehr an den Bedürfnissen der nordatlantischen Märkte orientiert denn an lokalen Interessen und führten politisch zu einer Militarisierung der Dritte-WeltGesellschaften und massiven Menschenrechtsverletzungen. Die im Widerstand gegen Militärdiktaturen entstandene lateinamerikanische Befreiungstheologie oder die südkoreanische Minjung-Theologie sind bekannte Beispiele. „Auch wenn ihr Gegenstand regionalspezifisch war, ihr Publikum und ihr diskursiver Stil sind westlich“ (67). Die „minderheitenorientierten Lesestrategien“ schließlich sind kontextuelle Theologien der zweiten Generation, die sich gegen die etablierten kontextuellen Diskurse wenden und deren Defizite kritisieren. Die Theologien von Frauen aus der Dritten Welt, die sich der Fortschreibung des Patriarchats in den Theologien ihrer männlichen Kollegen widersetzen, sind dafür ebenso ein Beispiel wie die indische Dalit-Theologie der Kastenlosen, die die Perpetuierung des Kastensystems durch die oft der Brahmanenkaste angehörenden Dialogtheologen anprangern.166 Sugirtharajah hat das gemeinhin als kontextuelle Theologien bezeichnete Rohmaterial nach eigenen Gesichtspunkten geordnet. Die von der kolonialen Lesart „abweichende“ Lektüre einiger früherer Missionare und der „Widerstandsdiskurs“ unter den Kolonisierten selbst nehmen gewissermaßen schon Elemente der kontextuellen Theologie vorweg. Die „Traditionshermeneutik“ wird je nach Ausführung in der Literatur auch als Akkommodationsoder Inkulturationsmodell bezeichnet. Nationale und befreiende Lesestrategien schließen aneinander an und konstituieren die verschiedenen Befreiungstheologien. Die „Minderheitendiskurse“ sind erste Mischformen zwischen Befreiungs- und Inkulturationstheologien. In der Folge kehrt Sugirtharajah die Hermeneutik des Verdachts gegen die kontextuellen Theologen und Theologinnen selbst. Die Kritik ist nicht neu und bleibt ambivalent: • Die Inkulturationstheologien sind in ihrer Rückwärtsgewandtheit gewissermaßen eine Form der Selbstorientalisierung. Während die östlichen Religionen durch den Kontakt mit der westlichen Kultur eine Renaissance erlebt haben – das Christentum stand dabei oft genug Pate – musste 166 An anderer Stelle im selben Buch (105) spricht Sugirtharajah in diesem Zusammenhang von „identitätsspezifischen Leseweisen (identity-specific readings)“.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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umgekehrt der christliche Glaube, der durch den Kolonialismus zusätzlich unter Verdacht geraten war, erst einmal eine kontextuelle Form annehmen. Dass es dabei manchmal allzu schematisch zugegangen ist, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Nicht umsonst ist gerade die Inkulturationstheologie in einer tiefen Krise. Dennoch war dieser Prozess notwendig, um unter den veränderten Rahmenbedingungen Fuß zufassen. • Die Befreiungstheologien vernachlässigen in ihrer einseitigen Ausrichtung auf wirtschaftliche Probleme die lokalen kulturell-religiösen Besonderheiten.167 Auch die anfängliche Kulturvergessenheit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist unbestritten. Schon Sergio Torres, einer der EATWOT-Initiatoren, hatte konzediert, das Lateinamerika der verwestlichste Kontinent in der Dritten Welt sei.168 Ursache dafür ist der koloniale Genozid an der einheimischen Bevölkerung und die anschließende Katholisierung der Restbevölkerung. Dass die Befreiungstheologen sich der marxistischen Gesellschaftsanalyse bedienten, die auf dem kulturellen Auge blind ist, tat ein Übriges. Doch schon bei der lateinamerikanischen Kontinentalkonferenz von EATWOT 1980 in Sao Paulo gab es Vorkonferenzen der einheimischen Völker und der schwarzen Minderheiten.169 Es ist insofern auch ein veraltetes Bild, das hier von der lateinamerikanischen Theologie gezeichnet wird. Was für die Frühphase der Befreiungstheologie teilweise noch zutreffend sein mag, lässt sich so sicher nicht auf die zur gleichen Zeit entstandenen Befreiungstheologien in Südafrika und Südkorea übertragen. Ihre Protagonisten haben aufgrund des sie umgebenden kulturell-religiösen Pluralismus eine ganz andere Sensibilität für die kulturell-religiöse Dimension ihrer Kontexte mitgebracht. • Beide Schulen reproduzieren im Grunde westliche Denkmuster und Methoden. Der von Sugirtharajah erhobene Reproduktionsverdacht erinnert an ähnliche Vorwürfe westlicher Kritiker (→§ 5.6). Dabei waren sich die kontextuellen Theologen der ersten Generation ihrer ‚Zwischenstellung‘ nur allzu schmerzlich bewusst. Vieles von dem, was sie sich an europäi167 Als weitere Kritikpunkte an der lateinamerikanischen Befreiungstheologie führt Sugirtharajah an, dass sie vor der Kritik am biblischen Text selbst zurückschrecke und christozentrisch sei. Vgl. Sugirtharajah, The Bible and the Third World, 203– 243, bes. 239–243; ders., Postcolonial Criticism, 65–67 und 103–123. 168 Vgl. Sergio Torres, Divergences: A Latin American Perspective, in: K.C. Abraham (Hg.), Third World Theologies. Commonalities and Divergences, Maryknoll, NY 1990, 120–126, 121. 169 Vgl. Sergio Torres / John Eagleson (Hg.), The Challenge of Basic Christian Communities, Maryknoll, NY 1981.
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Teil I: Begriffe und Methoden
schen oder amerikanischen Lehranstalten oft mühselig angeeignet hatten, erwies sich als wenig brauchbar in ihren eigenen Kontexten. Der viel zitierte epistemologische Bruch, der das Handeln zum ersten Akt in der Theologie macht, ist darum vor allem auch ein biographischer. Wenn die Dritte-Welt-Theologinnen und -Theologen sich auch weiterhin westlicher Methoden bedienen, sind diese doch stets an der eigenen kontextuellen Erfahrung gebrochen. Das von Sugirtharajah implizit eingeführte Authentizitätskriterium ist eine Form des von ihm stets angeprangerten otherings unter umgekehrten Vorzeichen. Hier gilt mit der vom Autor selbst zitierten Amy Ling: „Werkzeuge besitzen weder Gedächtnis noch Loyalität, sie sind so effektiv wie die Hände, die sie handhaben.“170 Nachdem Sugirtharajah sich als postkolonialer Theologe in der Diaspora neu erfunden hat, will er von seinen früheren Vermittlungsbemühungen für die Dritte Welt Theologie im Westen nichts mehr wissen.171 Vom Katheder der Universität Birmingham referiert er einen Diskurs von Dritte-Welt-Intellektuellen wie Frantz Fanon (1925–1961) und Edward Said (1935–2003), die allerdings Zeitgenossen der ersten Generation kontextueller Theologen waren und ihre Erfahrung teilten, die eigene Identität in einer post-kolonialen Situation rekonstruieren zu müssen. Christliche Theologen und Theologinnen in Afrika und Asien hatten dabei zudem noch die schwierige Aufgabe, zu erklären, was sie als Anhänger der Religion der früheren Kolonialherren zur Nationwerdung beizutragen haben. Viele ihrer Überlegungen treffen sich mit den Ideen von Fanon und Said und lassen sich als postkoloniale Theologie avant la lettre interpretieren. Als „freiwilliger Exilant“ (108) verortet Sugirtharajah sich selbst bewusst „zwischen (between and betwixt) den Kulturen und Ländern und praktiziert eine prozessuale Hermeneutik“ (109). Dieser „Zwischenraum (interstitial space)“ oder „Dritte Raum (Third space)“172 ermöglicht nicht nur die Vermittlung, sondern auch die Überprüfung der verschiedenen Kulturen und eröffnet „die Freiheit, die verschiedenen Zutaten zu mischen und zu harmonisieren, zu verändern und beizubehalten“.173 „In diesem Zwischenraum verliert jeglicher Anspruch auf kulturelle Reinheit, Stabilität oder Autonomie an Bedeutung gegenüber den hybridisierten Diaspora-Bedingungen, fortwährenden 170 Zitiert nach Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 11. 171 Vgl. die autobiographischen Reflexionen in: R.S. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2003, 172–174 (Seitenangaben im Text). 172 Vgl. Bhabha, The Location of Culture. 173 Sugirtharajah, Asian Biblical Hermeneutics, 109.
§ 2 Theorie kontextueller Theologie
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interkulturellen Austauschs, Vergleichs, Infragestellung und Überschreitung“ (196). Der durch die Zwischenposition in der Diaspora erzeugte neue Typ des „lokalen Kosmopoliten (vernacular cosmopolitan)“ verhandelt zwischen den Kulturen.174 „Beim lokalen Kosmopolitismus (vernacular cosmopolitanism) geht es um die Ambiguität der nomadischen Existenz. Er reflektiert die weltweiten Migrationsbewegungen / ströme“ (ebd.). Die ideale Lesestrategie für den „lokalen Kosmopoliten“ ist das von dem Musikliebhaber Edward Said vorgeschlagene „kontrapunktische Lesen (contrapuntal reading)“175 von Texten aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen. Sugirtharajahs bleibender Verdienst ist es, gezeigt zu haben, dass die kontextuellen Theologien eine lange Vorgeschichte haben. Zur Unterfütterung dieser These hat er eine große Fülle wertvollen Materials zusammengetragen, das notgedrungen stets eklektisch bleibt. In seinem Bestreben, die postkoloniale Kritik als neue theologische Disziplin zu etablieren, schießt er allerdings über sein Ziel hinaus, wenn er die kontextuellen Theologien zu desavouieren versucht. Zweites Resümee: Postkoloniale Kritik und Interkulturelle Theologie Entgegen Sugirtharajahs Pathos der Abgrenzung lege ich den Nachdruck mehr auf die Kontinuität, wie ich sie nicht zuletzt bei Dube und Kwok auch gegeben sehe. Postkoloniale Kritik hat sich demnach in den notwendigen Transformationsprozessen der kontextuellen Theologien bereits als sinnvolles Instrument erwiesen. Zugleich ist sie mit ihrer internationalen bzw. kosmopolitischen Ausrichtung auch dem Methodenspektrum der Interkulturellen Theologie zuzurechnen. Damit ist schon angedeutet, dass kontextuelle und Interkulturelle Theologie stets mehr miteinander verflochten werden. Ich fasse im Folgenden stichpunktartig einige der Innovationsimpulse der postkolonialen Kritik zusammen: 174 Eine Herausforderung, die, wie wir gesehen haben, auch den kontextuellen Theologen der ersten Generation nicht fremd war. 175 Vgl. Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations, 16 und 170. Als Beispiele für den theologischen Bereich nennt Sugirtharajah die Studien zum Römerbrief von Karl Barth, Der Römerbrief, München 1919 [Neubearbeitung 1923] und Elsa Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998; zum Johannesevangelium von Rudof Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 101941 und Aiyadurai Jesudasen Appasamy, Christianity as bhakti marga. A Study in the Mysticism of the Johannine Writings, London 1927 sowie zur Kreuzestheologie von Kazoh Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes, Göttingen 1972 [jap. 1958] und Jürgen Moltmann, Der Gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972.
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Teil I: Begriffe und Methoden
• Hatten schon die westlichen feministischen Theologinnen die Grenze zwischen Interpretation und Kanon überschritten und die Hermeneutik des Verdachts von der Interpretation des Textes auf diesen selbst ausgedehnt, um seine patriarchalen Elemente bloßzulegen, entlarvt die postkoloniale Kritik nun auch seine kolonialistischen und imperialistischen Tendenzen. • Wie schon die kontextuellen Theologinnen der zweiten Generation, die die Blindheit ihrer patriarchal eingestellten Kollegen gegenüber der doppelten und dreifachen Unterdrückung der Frauen in der Dritten Welt anprangerten, oder die Dalit-Theologen, die sich als Kastenlose gegen das Primat der Dialogtheologie mit dem Hinduismus wenden, vor ihnen, kehren die postkolonialen Theologen die Hermeneutik des Verdachts auch gegen die kontextuellen Theologien selbst. Sie entlarven etwa das Exodusereignis als kolonialen Akt. Ganz im Sinne des Dialogkriteriums werden dadurch Schwachpunkte der vorangegangenen kontextuellen Theologien aufgezeigt. • Obwohl etwa Sugirtharajahs Sicht der Befreiungstheologien veraltet bzw. verzerrt ist, weist die postkoloniale Kritik doch zugleich einen Weg zu ihrer notwendigen Erneuerung: Fragen von Gerechtigkeit und Macht müssen im Kontext von Globalisierung und Empire diskutiert werden. • Ähnliches gilt im Hinblick auf die Inkulturationstheologien. Auch hier gibt die postkoloniale Kritik etwa durch die Ausdifferenzierung des Kulturbegriffs wichtige Impulse. • Mit ihrem klaren Votum für Intertextualität im Blick auf die heiligen Texte der anderen, die auch deren hermeneutische Zugänge aufnimmt, leisten die postkolonialen Theologinnen und Theologen schließlich einen eigenständigen Beitrag zur Dialogtheologie. Dem von Sugirtharajah propagierten intrareligösen intertextuellen Experiment des „kontrapunktischen Lesens“ hat Kwok mit ihrer „dialogischen Imagination“ das interreligiöse Pendant zur Seite gestellt, zugleich weitet sie diese ähnlich wie Dube auch auf mündliche Traditionen aus. • Auch die westliche feministische Theologie gerät ins koloniale Zwielicht. Ihre Vertreterinnen waren sich der eigenen Verstrickung in neo-koloniale Strukturen lange nicht bewusst. • Kwok fordert eine „transnationale Herangehensweise, die die Beziehung weiblicher Subjekte in der Globalisierung in den Fordergrund stellt“.176 Dube spricht in diesem Zusammenhang von „internationalen Beziehungen“, Sugirtharajah mehr allgemein vom „lokalen Kosmopoliten“. 176 Kwok, Postcolonial Imagination, 23.
§ 3 Theologie interkulturell
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• Gemeinsam ist ihnen auch der multi-axiale und multi-perspektivische Ansatz, für den Dube die Metapher „Rahab’s Leseprisma“ geprägt hat. Damit kennzeichnet sie die Sicht der Subalternen zugleich als Zentralperspektive. • Sie teilen ferner die Überzeugung, dass eine postkoloniale Theologie Kolonisierte und Kolonisierer sowie ihre Erben gleichermaßen betrifft.177 Dube hat dafür den Begriff „befreiende Interdependenz“ eingeführt. Die postkoloniale Kritik lässt im Rahmen des Universalität-Partikularität-Dilemmas des christlichen Glaubens das Pendel wieder in Richtung seiner universalen Dimension ausschlagen. Universal nun allerdings nicht im Sinne eines neuen umfassenden Systems – was angesichts der Ambiguität und Fluidität der glokalen Kontexte auch kaum mehr möglich erscheint –, sondern in Form von vielfältigen Verknüpfungen, wechselseitigen Abhängigkeiten oder permanentem Austausch. Zugleich ist festzuhalten, dass die universalistischen Kategorien der postkolonialen Kritik, wie Klasse, Rasse oder Gender, schon in den verschiedenen Befreiungs- und feministischen Theologien zentral standen.178 Hat die Interkulturelle Theologie ihren Anfang auch als Vermittlungsinstanz zwischen den verschiedenen kontextuellen Theologien genommen, sind diese inzwischen selbst interkulturell ausgerichtet. Ich verstehe die postkoloniale Kritik darum auch als eine sinnvolle Fortschreibung der kontextuellen Theologien im Zeitalter der Globalisierung. Im Rahmen der im folgenden Paragraphen näher in den Blick zu nehmenden Interkulturellen Theologie weist sie den Weg von der Kontextualisierung zur Glokalisierung.
§ 3 Theologie interkulturell Der theologische Aufbruch der Dritten Welt im letzten Drittel des 20. Jh. hat die bereits seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schwelende Krise der Mission noch verschärft (→§ 1.2). Für viele war schon die Benennung der Lehrstühle für Missionswissenschaft, Ökumenik und/oder Religionswissenschaft, denen nach 1945 die Aufgabe zufiel, die Entwicklungen in der Weltchristenheit zu beobachten, belastet mit dem kolonialen Erbe. Daher gibt es allerlei Versuche, dem Kind einen neuen Namen zu geben, ob es sich im Einzelnen nun um Lehrstühle, ganze Abteilungen, Fachzeitschriften oder 177 Vgl. Sugirtharajah, The Bible and the Third World, 249. 178 Vgl. Tissa Balasuriya, Planetary Theology, London 1984.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Standesorganisationen handelt.179 Allzu oft kam dabei allerdings nicht mehr heraus als Etikettenschwindel. Interkulturelle Theologie ist ursprünglich ein europäisches Projekt.180 Werner Ustorf versteht sie als einen Akt „theologischer Reue des Nordens“.181 Es ging dabei von Anfang an nicht um eine neue Metatheologie, die womöglich noch vom Einheitsgedanken beseelt ist, sondern um das Abstecken eines heuristischen und ethischen Rahmens. Ein offenes System, das Perspektiven entwickelt und Haltungen kreiert, um die Transformationsprozesse der globalen Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit in ihren unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen und darauf adäquat einzuspielen. Ich zeichne zunächst die Genese Interkultureller Theologie nach (1.) und inventarisiere ihre Funktionen (2.) sowie Wahrnehmungsperspektiven (3.). Die Begegnung mit dem Fremden (4.) und der dazu notwendige Habitus stehen in all diesen Überlegungen zentral.
1. Die Genese Interkultureller Theologie Die Einführung des Neologismus Interkulturelle Theologie ist eng verbunden mit den Namen der Gründungsherausgeber der Reihe Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums, Walter Hollenweger, Hans Jochen Margull und Richard Friedli.182 Mit seiner dreibändigen Interkulturellen Theologie hat 179 In den Niederlanden wurde das renommierte Interuniversitäre Institut für Mission und Ökumene (IIMO) nach seiner Integration in die Geisteswissenschaftliche Fakultät der Universität Utrecht in Zentrum für Interkulturelle Theologie, Interreligiösen Dialog, Missionswissenschaft und Ökumene umgetauft. Die Lehrstühle für Missiologie in Kampen, an der Freien Universität Amsterdam und der katholischen Radboud Universität Nijmegen wichen solchen für Interkulturelle bzw. Cross-kulturelle Theologie. Zeitschriften wie Wereld en Zending, Exchange, oder die Zeitschrift für Mission erhielten zunächst die Zufügung Interkulturelle Theologie im Titel und wurden gelegentlich ganz umbenannt. In den USA hat das evangelikale Fuller Seminar die Bezeichnung für seinen Missionsstudiengang in School of Intercultural Studies verändert. 180 Vgl. Walter J. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit. Interkulturelle Theologie, München 1979, 50f. 181 Werner Ustorf, The Cultural Origins of „Intercultural Theology“, in: Mission Studies 25, 2008, 229–251, 229 und 243. 182 Der Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität in Frankfurt/M. hat 1985 den Verein Theologie interkulturell e.V. gegründet, der seitdem mit jährlichen Gastprofessuren und einer Anzahl internationaler Symposien auf sich aufmerksam gemacht hat (vgl. www.thi.uni-frankfurt.de). Das internationale
§ 3 Theologie interkulturell
111
Walter Hollenweger (*1927) ein enormes Reservoir an Fallgeschichten zusammengetragen, ohne allerdings schon einen theoretischen Rahmen zu umreißen.183 Bei genauerer Betrachtung lassen sich die fünf Richtlinien, die er im ersten Band benennt,184 auf zwei reduzieren: (1.) Interkulturelle Theologie operiert im Rahmen einer Kultur, ohne diese zu verabsolutieren; (2.) die gewählten Methoden müssen dem Subjekt der Betrachtung entsprechen. Dies impliziert, dass die im Wesentlichen textgestützte westlich-akademische Theologie ebenfalls kulturgebunden ist. Auch wenn Hollenweger selbst eine narrative Theologie vertritt und mündliche Überlieferungen, Geschichten und Mythen, aber auch Musik und Tanz als alternative Quellen theologischer Reflexion einführt – die westliche akademische Tradition will er nicht aufgeben. Hans Jochen Margull (1925–1982), der sein akademisches Oeuvre noch mit einer Dissertation über die Theologie der missionarischen Verkündigung185 eröffnete und federführend an der ÖRK-Studie Mission als Strukturprinzip186 beteiligt war, hat früh auf die Schwerpunktverlagerung des Christentums in die Dritte Welt hingewiesen. Eine Beobachtung, die er mit seinen katholischen Kollegen Walbert Bühlmann und Johann Baptist Metz teilte, die von einer „Dritten Kirche“ bzw. einer „(sozial und) kulturell polyzentrischen Weltkirche“ sprachen. In einer Reihe von Literaturberichten zur Überseeischen Christenheit lässt Margull diese „Tertiaterranität“ Gestalt annehmen.187 Als erster Vorsitzender der Dialogabteilung des ÖRK wird er zu einem
183
184 185 186 187
Katholische Missionswerk in Deutschland, Missio, mit Sitz in Aachen und München hat mit einer eigenen Buchreihe Theologie der Dritten Welt, dem langjährigen Zeitschriftenservice Theologie im Kontext und anderen Projekten die kontextuellen Theologien im interkulturellen Rahmen gefördert (vgl.www.missio.de). George Newlands, The Transformative Imagination. Rethinking Intercultural Theology, Hampshire / Burlington 2004 ist eher ein Versuch systematische Theologie unter dem Stichwort Interkulturelle Theologie neu zu denken, denn ein Versuch diese selbst zu durchdenken. Newlands scheint die hier verhandelten Diskurse nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Es ergeben sich allerdings gewisse Schnittmengen mit dem liberalen Erbe systematischer Theologie. Vgl. Walter J. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit; ders., Umgang mit Mythen. Interkulturelle Theologie II, München 1982; ders., Geist und Materie. Interkulturelle Theologie III, München 1988. Vgl. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit, 50f. Vgl. Hans Jochen Margull, Theologie der Missionarischen Verkündigung. Evangelisation als ökumenisches Problem, Stuttgart 1959. Vgl. Margull, Mission als Strukturprinzip. Latinismus für „Dritte-Welt-Status“. Vgl. Verkündigung und Forschung 16, 1971, 2–54 und 19, 1974, 410–420.
Inkulturation
•
Kommunikationstheorie und Hermeneutik
• Ambivalenz der Kirchen (vs. Synkretismus) • Konflikt (vs. Fundamentalismus) >11. Sept. 2001
1989 < Ambiguität; Fluidität ++
•
Verlautbarungen Vatikan und ÖRK zu Mission und dem Verhältnis zu anderen Religionen
Schwerpunktverlagerung des Christentums in die Dritte Welt (60/70er Jahre)
•
Kultur
•
Dialog
188 Zentral stehen die generativen Themen Befreiung, Inkulturation und Dialog, die sich in der ersten Phase herauskristallisiert haben, und die Frage ihrer Transformation unter dem Einfluss der Globalisierung. In der linken oberen Spalte wird die Entwicklung in der westlichen akademischen Theologie (→§3.1) derjenigen in Kirchen und Theologien der Dritten Welt in der rechten Spalte gegenübergestellt (→§ 2).
Gerechtigkeit
„befreiende Interdependenz“ (Musa Dube); „multi-axiale und multi-religiöse Hermeneutik“ (Kwok Pui-Lan)
wovon? politische Veränderungen z.B. Lateinamerika; Südkorea; Südafrika • Versöhnung, Wiederaufbau, Entschädigung • aber: Die Schere zwischen Arm und Reich wird noch stets größer
Befreiung
• Perspektivenwechsel • Respekt vor kultureller Differenz
Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft (nach 1945) Entdeckung des Fremden
„Krise der Mission“ / Vaticanum II
++ neue Weltordnung (Dekolonisierung) > 1945 < Bipolarität: Ost-West; Nord-Süd ++
Übersicht 8: Die Genese der Interkulturellen Theologie188
112 Teil I: Begriffe und Methoden
§ 3 Theologie interkulturell
113
der Pioniere der modernen Dialogbewegung: Er verleugnete das Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma des christlichen Glaubens nicht, sondern erklärte es zur Frage des persönlichen Glaubens, die auch Angehörigen anderer Religionen nicht unbekannt ist.18189 Die Erfahrung, Menschen anderen Glaubens zu begegnen, aber auch die Verdächtigungen in der eigenen Glaubensgemeinschaft, die jeder Grenzgänger zwischen den Traditionen erlebt, beschreibt Margull als „Verwundbarkeit“.190 Indem er an die Verwundbarkeit Gottes in Jesus Christus erinnert, gibt Margull dem interreligiösen Dialog ein kreuzestheologisches Fundament. Richard Friedli (*1937) schließlich hat die in diesen Jahren ins Bewusstsein tretenden interkulturellen Kommunikationsprozesse auf den Begriff der „(inter-)kulturellen Zirkulation“ gebracht.191 Die Erfahrung der Fremdheit in der Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen sieht er allerdings in der transkulturell gültigen Fremdheit des Menschen vor Gott aufgehoben.192 In der zweiten Generation der deutschen Nachkriegsmissiologen unternahm Theo Sundermeier (*1935) den groß angelegten Versuch, die Missionswissenschaft in der Hermeneutik neu zu begründen.193 Er grenzte sich dabei scharf gegen die Kommunikationstheoretiker der Zunft ab. Der exemplarisch mit Heinrich Balz (*1938)194 geführte Disput über das von Sundermeier postulierte Primat der Hermeneutik vor der Kommunikation lässt sich im Rückblick in der wechselseitigen Bezogenheit von Hermeneutik und Kommunikation versöhnen. Mit seiner „Hermeneutik des Fremden“ schafft Sundermeier der Alterität Raum. Es gilt die Fremdheit auszuhalten und zu
189 Vgl. Hans Jochen Margull, Der „Absolutheitsanspruch“ des Christentums im Zeitalter des Dialogs. Einsichten in der Dialogerfahrung, in: ders., Zeugnis und Dialog. Ausgewählte Schriften, Ammersbek bei Hamburg 1992, 297–308. 190 Vgl. Hans Jochen Margull, Verwundbarkeit. Bemerkungen zum Dialog, in: ders., Zeugnis und Dialog, 330–342. 191 Vgl. Richard Friedli, Fremdheit als Heimat. Auf der Suche nach einem Kriterium für den Dialog zwischen den Religionen, Zürich 1974. 192 Friedli, Fremdheit als Heimat, 206. 193 Vgl. Theo Sundermeier, Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft, Erlangen 1995; ders., Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996. 194 Vgl. Heinrich Balz, Krise der Kommunikation – Wiederkehr der Hermeneutik?, in: Theo Sundermeier (Hg.), Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik, Gütersloh 1991, 39–65; ders., Theologische Modelle der Kommunikation, Bastian – Kraemer – Nida, Gütersloh 1978 (→§ 1.2).
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Teil I: Begriffe und Methoden
respektieren. Vornehmster Ort der Begegnung ist das Fest. Sundermeier will darin, anders als Werner Simpfendörfer (1927–1997),195 die Differenz nicht aufheben, sondern geradezu feiern. Dieses heortistische196 Element in Sundermeiers Theologie speist sich aus seiner Erfahrung als Missionar im südlichen Afrika. Gemeinschaft und gutes Leben sind die generativen Themen afrikanischer Religion und Weltanschauung.197 Aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie übernimmt Sundermeier den Begriff der „Konvivenz“, die er als „Hilfs-, Lern- und Festgemeinschaft“ definiert.198 Das Universalität-Partikularität-Dilemma des christlichen Glaubens wurde exemplarisch von dem katholischen Missionswissenschaftler Robert J. Schreiter (*1947) in zwei im Abstand von zwölf Jahren erschienenen Büchern bearbeitet.199 1985 konzentrierte er sich noch ganz auf die lokalen bzw. kontextuellen Theologien, die sich gegen die überkommenen Universalitätsansprüche westlicher Theologie vor allem europäischer Provenienz durchzusetzen versuchten. Er analysiert sie mit Hilfe von Kommunikationstheorien und Semiotik. Befreiung, Inkulturation und Dialog werden als generative Themen identifiziert. Die Typologie kontextueller Theologie ist leicht erkennbar. Ein Dezennium später (1997) proklamiert Schreiter eine neue Katholizität und rehabilitiert die universale Dimension in relationalen und dialogischen Begriffen. Unter dem Eindruck der veränderten Rahmenbedingungen im Zeitalter der Globalisierung sucht er nach einer Theologie, die zwischen dem Lokalen und dem Globalen operiert. Sein theoretisches Instrumentarium ist nun erweitert um Globalisierungstheorie und postkoloniale Kritik. Die von ihm in der Folge postulierte „neue Katholizität“ schöpft aus den Erfahrungen der katholischen Weltkirche und sucht die Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ins 21. Jahrhundert zu retten. Im Anschluss an Siegfried Wiedenhöfer (*1941), der Katholizität als „Ganzheit und Fülle durch Austausch und Kommunikation“200 definiert, will Schreiter die christ195 Vgl. Werner Simpfendörfer, Auf der Suche nach einer interkulturellen Theologie. Herausforderungen – Aspekte – Bausteine, in: Junge Kirche 48, 1987, 266–273; ders., Interkulturelle Theologie. Wie kann man Anfang und Ende verknüpfen?, in: Evangelische Kommentare 6, 1989, 37–40. 196 Graezismus abgeleitet von h’eorte (Fest). 197 Vgl. Theo Sundermeier, Nur gemeinsam können wir leben. Das Menschenbild schwarzafrikanischer Religionen, Gütersloh 1988. 198 Vgl. Sundermeier, Konvivenz und Differenz, 43–75. 199 Vgl. Schreiter, Abschied vom Gott der Europäer; ders., Die neue Katholizität; Küster, Von der lokalen Theologie zur neuen Katholizität. 200 Schreiter, Neue Katholizität, 219.
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liche Tradition in den interkulturellen Diskurs einbringen. Protestanten haben der katholischen Weltkirche institutionell nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Andererseits hat gerade der Protestantismus aufgrund seiner inneren Verfasstheit einen genuinen Zugang zum Pluralismus.201 Dies könnte auch das Einheit-Pluralität-Dilemma der traditionellen ökumenischen Bewegung in einem neuen Licht erscheinen lassen. Mein eigener Weg führte mich von der Erforschung einer kontextuellen Theologie, der südkoreanischen Minjung-Theologie vor Ort (1987/88), zu einer vergleichenden Studie kontextueller Christologien (1994–1997). Eine Vorstufe war ein früher Aufsatz über den Weg von EATWOT.202 Als ich mit der Arbeit an meiner Dissertation über die Minjung-Theologie begann, war Schreiters Abschied vom Gott der Europäer eine der wenigen theoretischen Reflexionen. Ich entschloss mich daher, selbst eine Theorie kontextueller Theologie zu entwickeln. Von Beginn an schien mir dabei eine Interkulturelle Theologie als Korrektiv notwendig. Die Auseinandersetzung mit der EATWOT Diskussion lieferte mir dazu einen ersten heuristischen Rahmen.
2. Funktionen Interkultureller Theologie Interkulturelle Theologie erforscht die interkonfessionellen, interkulturellen und interreligiösen Dimensionen des christlichen Glaubens (→§ 4–6). Sie nimmt Fragestellungen auf und führt sie weiter, die an theologischen Fakultäten traditionell in den Disziplinen Missionswissenschaft, Ökumenik und vergleichende Religionswissenschaft verortet sind. Durch ihre Interdisziplinarität und Multimedialität ist Interkulturelle Theologie nicht nur thematisch breit angelegt. Sie hat heute mindestens vier Funktionen: • Heuristische Funktion: Interkulturelle Theologie entwickelt ein methodisches Instrumentarium für interkulturelle Kommunikationsprozesse. Dafür ist zunächst das Einüben in das Verstehen des Fremden notwendig (Hermeneutik). Um das fremde Referenzsystem jedoch erschließen zu können, kommt es zu Übersetzungsversuchen ins eigene System und da201 Vgl. Volker Küster (Hg.), Reshaping Protestantism in a Global Context, Münster 2009. 202 Vgl. Volker Küster, Aufbruch der Dritten Welt. Der Weg der ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen [EATWOT], in: Verkündigung und Forschung 37, 1992, 45–67; ders., Theologie im Kontext; ders., Die vielen Gesichter Jesu Christi.
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Teil I: Begriffe und Methoden
mit zum Vergleich. Im Verlauf dieses Prozesses wird jedoch irgendwann ein Punkt erreicht, an dem das eigene durch das fremde Referenzsystem infrage gestellt wird und vice versa. Dadurch kann es zu Konflikten aber auch zu fruchtbaren Wechselwirkungen kommen (Dialog). • Fundamentaltheologische Funktion: Interkulturelle Theologie reflektiert etwa über die Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur oder eine Theologie der Religionen. Sie klärt Kategorien wie Synkretismus und Fundamentalismus oder Inkulturation und Dialog. Im interkulturellen Diskurs handelt sie Dialogregeln aus. • Anamnetische Funktion: Interkulturelle Theologie sammelt und bewahrt das kontextuelle Wissen (→§ 5; 7–12). Dieses Innovationspotential wird das Gewebe der generativen Themen des christlichen Glaubens verändern und einer interkulturellen Glaubenslehre den Weg ebnen. • Ethische Funktion: Interkulturelle Theologie kultiviert nicht nur einen Habitus des Respekts für die interkulturellen Kommunikationsprozesse, sondern bearbeitet auch interkulturelle Konflikte. Hier eröffnen sich Gesprächsmöglichkeiten mit der Friedens- und Konfliktforschung.
3. Perspektiven Interkultureller Theologie Interkulturelle Theologie betrachtet ihre Sujets aus einer Vielzahl theoretischer bzw. methodologischer Perspektiven. Ohne Anspruch auf Ausschließlichkeit nenne ich sechs solcher Perspektiven, die ich in langjähriger Arbeit selbst erkundet habe. • Bekehrung als interkulturelle Kommunikation: Die Erneuerungsimpulse der Disziplin gingen oft von Menschen mit pietistischem, evangelikalem oder pfingstlerischem Hintergrund aus. In diesen Milieus war als große methodische Neuerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kommunikationstheorie entdeckt worden. Nach eher bescheidenen Anfängen mit der Rezeption traditioneller westlicher Kommunikationsmodelle wurden diese über die Jahre zu einer Theorie interkultureller Kommunikation ausgebaut. • Die hermeneutische Wende: Mit dem Aufkommen der kontextuellen Theologien zeichnete sich eine hermeneutische Wende ab. Es ging nicht mehr so sehr um die Kommunikation des Evangeliums aus der Perspektive des Senders, in unserem Fall der Missionare, sondern um die Interaktion des Evangeliums mit dem Kontext der Empfangenden. Vor diesem Hinter-
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grund hat Theo Sundermeier für einen Neubeginn der Disziplin als hermeneutische Wissenschaft optiert, was ihm sowohl seitens seines Heidelberger Vorgängers Hans-Werner Gensichen (1915–1999) als auch eines seiner ersten Habilitanden Heinrich Balz allerlei Kritik eingetragen hat. Ihnen kam der Aspekt der Kommunikation des Evangeliums zu kurz. Jenseits der notwendigen Abgrenzungen der Anfangsjahre lassen sich ein auf Wechselwirkung ausgelegtes Kommunikationsmodell und eine den gegenseitigen Respekt betonende Differenzhermeneutik durchaus versöhnen. Kommunikationstheorie und Hermeneutik sind komplementäre Theorieansätze Interkultureller Theologie. • Globalisierungstheorie und die Rückkehr des Universalen: Die Wahrnehmung der mit Globalisierung beschriebenen Phänomene – Zusammenbruch des Ostblocks, Ausbreitung des neoliberalen Konsumkapitalismus und neue Kommunikationstheorien – ließ die Frage nach den globalen Strukturen nicht nur der christlichen Religion wieder aufkommen. Auf theologischem Gebiet drohte damit eine Renaissance alter eurozentrischer Universalitäts- und Absolutheitsansprüche, etwa im Sinne einer theologia perenis. Die Antwort ist jedoch in den von Robert Schreiter als „globale theologische Strömungen“ beschriebenen interkulturellen Netzwerkstrukturen zu suchen. EATWOT hat auf diesem Gebiet eine Pionierrolle eingenommen, trotz aller auch damit verbundenen Probleme. • Postkoloniale Kritik: Das Einsickern postkolonialer Kritik aus den Literaturwissenschaften in den Kontextualisierungsdiskurs hat diesem einen notwendigen Erneuerungsimpuls in Zeiten der Globalisierung gegeben. Damit ist schon angezeigt, dass sie sich gut ergänzt mit den im gleichen Zeitraum aufkommenden Globalisierungstheorien. Die postkoloniale Kritik gleicht ein gewisses Theoriedefizit dieser stark auf die sozio-ökonomische und politische Dimension ausgerichteten Ansätze im Blick auf die kulturell-religiösen Faktoren aus. Die anhaltende Krise des Weltrates der Kirchen lässt demgegenüber fragen, ob solche hochgradig institutionalisierten Gremien noch ihren Zweck erfüllen können. Eine Frage übrigens, der sich inzwischen auch EATWOT nicht entziehen kann. M.M. Thomas’ Diktum, der Weltrat der Kirchen habe als ein ‚Zusammenschluss von Freunden begonnen und dann hätten ihn die Kirchen übernommen‘, weist schon auf das hier zugrunde liegende Problem hin. Die Zukunft gehört flexiblen Netzwerkstrukturen, wie sie etwa die neuen thema- bzw. problemorientiert arbeitenden NGOs der Zivilgesellschaft repräsentieren, die eine Zeitlang gut funktionieren, solange sie gebraucht werden, und dann neuen, dynami-
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Teil I: Begriffe und Methoden
scheren Netzwerken weichen. E-Mail, SMS, Facebook, Twitter oder Youtube funktionieren nach anderen Gesetzmäßigkeiten als die Deutsche Post oder das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Wenn das Medium die Botschaft ist, verändern die neuen Kommunikationsformen auch die Kommunizierenden und das Kommunizierte. Interkulturelle Theologie schließt deswegen auch Narrativität und Ästhetik als eigenständige Perspektiven ein. • Narrativität – in Geschichten verstrickt: Schon die kontextuellen Theologen der ersten Generation hatten auf die Tragkraft von Geschichten gesetzt. Auch Walter Hollenwegers dreibändige Interkulturelle Theologie bewahrt einen Schatz solcher Geschichten. Das nie ausgearbeitete Konzept einer narrativen Theologie wollte dem Rechnung tragen (→§ 11.2). • Der andere Blick – ästhetische Annäherungen: Interkulturelle Theologie macht sich frei vom Primat wissenschaftlicher Texte. Literatur, Poetik, Film und andere visuelle Kunstformen werden zu Quellen theologischer Reflexion.203 Essay, Rezension oder Meditation figurieren als neue Schreibformen. Was ich oben über das hermeneutische Prisma gesagt habe (→§ 2.3), gilt mutatis mutandis auch für die hier skizzierten methodischen Perspektiven. Sie betrachten den Gegenstand aus unterschiedlichen Einfallswinkeln und können sich dabei durchaus auch überschneiden.
4. Die Begegnung mit dem Fremden Interkulturelle Theologie erweist sich im theologischen Fächerkanon als die Wissenschaft vom kulturell-religiös Fremden. Nach einer kurzen Begriffsbestimmung skizziere ich Modelle der Wahrnehmung des Fremden und eröffne theologische und ethische Perspektiven im Umgang mit ihnen. Der Fremde und der Andere Oft wird kein Unterschied gemacht zwischen „dem Fremden“ und „dem Anderen“. Hier wird der Fremde verstanden als der kulturell und religiös Andere.204 Früher hatten diese Unterscheidungen auch eine klar abgrenzba203 Vgl. Volker Küster, Gott / Terror. Ein Diptychon, Frankfurt/M. 2009. 204 Gelegentlich wird argumentiert, andere Sprachwelten würden diese Differenzierung nicht erlauben. Im Englischen etwa wird in der Tat zumeist von „the other“
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re räumliche Dimension. Der kulturell-religiös Fremde war der mir ferne Nächste. Heute im Zeitalter der Globalisierung, von Migration und Massentourismus ist dieser Fremde uns nahe gekommen und mühelos erreichbar. Der Andere war demgegenüber ursprünglich mein Nächster, mein direktes Gegenüber, mit dem ich denselben kulturell-religiösen Kontext teilte. Martin Buber hatte beim Abfassen seines Traktates Ich und Du mögliche kulturellreligiöse Unterschiede nicht im Blick.205 Ähnliches gilt noch für Emmanuel Lévinas‘ in diesem Zusammenhang gern zitiertes Hauptwerk Die Spur des Anderen.206 Wenn mir auch der nächste Mensch, ja letztendlich ich mir selbst fremd bleiben kann,207 im Folgenden soll es allein um die Begegnung mit dem mir kulturell-religiös Fremden gehen. Modelle der Wahrnehmung des Fremden In der Diskussion um eine Theologie der Religionen – die Wahrnehmung fremder Religionen aus christlicher Perspektive – hat sich seit den 1980er Jahren die Unterscheidung zwischen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus eingebürgert. Die exklusivistische Position verneint das Existenzrecht der anderen Religionen, die inklusivistische vereinnahmt sie letztendlich. Die Pluralistische Theologie der Religionen will demgegenüber die anderen Religionen in ihr Recht setzen, konstruiert dabei allerdings oft eine Art Meta-Inklusivismus. Während die ersten beiden Positionen ihren Anhalt schon in den biblischen Texten und der Tradition der alten Kirche haben, ist die dritte neueren Datums. Sie atmet den Geist der Postmoderne (→§ 4.1). Mit Similarität, Alterität und Pluralität schlage ich hier ein anderes Dreierschema zur Kategorisierung der bisherigen Modelle zur Wahrnehmung des kulturell-religiös Fremden vor.208 Die Anhänger des Similaritätsmodells negieren den Unterschied letztendlich. Alle Menschen teilen eine allgemeine Menschlichkeit. Selbst wenn es aus europäischer Perspektive Stufen der Entwicklung gibt, Unterschiede können durch Assimilation an die europäische Kultur und das Christentum überwunden werden. Dieser externen Similarität steht eine interne gegenüber, die den Fremden zu einem Instrument der Selbst-
205 206 207 208
gesprochen. Auch hier wäre jedoch eine Differenzierung zwischen „the other“ und „the stranger“ möglich; im Französischen vergleichbar zwischen „l’autre“ und „l’étranger“. Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig 1923. Vgl. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1983. Vgl. Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990. Vgl. Sundermeier, Den Fremden verstehen.
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Teil I: Begriffe und Methoden
erkenntnis degradiert – fremd bin ich mir immer schon selbst. Diese Selbstreferentialität bestimmt paradoxerweise auch das Alteritätsmodell. Der kulturellreligiös Fremde wird entweder als der Unterlegene angesehen, als Barbar, oder als der Überlegene, als „edler Wilder“, der dann allerdings das Idealbild der eigenen Gesellschaft verkörpert.209 Ein Perspektivenwechsel findet erst im Pluralitätsmodell statt, das den kulturell-religiös Fremden entweder als komplementär zur eigenen Position begreift oder der radikalen Diversität huldigt. Wenn sich die These von der Kommensurabilität der Kulturen als wahr erweisen sollte, wäre das Projekt einer Interkulturellen Theologie unnötig. Im Falle ihrer Inkommensurabilität wäre es unmöglich. Der Kulturkontakt lehrt, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. Ran Adhar Mall spricht in diesem Zusammenhang von „Überlappungen“ zwischen den Kulturen und Religionen, die Verstehen und Kommunikation überhaupt erst ermöglichen. Kategorisch stellt er fest: „Alle Behauptungen von absoluter Fremdheit und totaler Identität sind Fiktion.“210 Bernhard Waldenfels nennt dieses Phänomen „Mischung“: „Am Anfang steht nicht nur die Differenz, sondern auch eine Mischung, die jedes familiäre, nationale, rassische oder kulturelle Reinheitsideal als bloßes Phantasma entlarvt.“211 Ich ziehe den Begriff der „Überlappungen“ vor, weil er im Unbestimmten lässt, ob es sich hier um eine Schnittmenge transkultureller Gemeinsamkeiten oder um cross-kulturelle Vermengungen handelt. Theo Sundermeier will die richtigen Einsichten der von ihm identifizierten Begegnungsmodelle – Gleichheits-, Alteritäts- und Komplementaritätsmodell – für sein eigenes homöostatisches Modell fruchtbar machen: „Die Identitäten der sich Begegnenden, ihre unaufkündbare Zusammengehörigkeit und ein Aufeinanderangewiesensein, dass zur Anerkennung führt.“212 Sundermeier greift dazu auf das von Seiichi Yagi eingeführte Modell der Front-Struktur zurück.213 Dessen Kerngedanke beruht auf der buddhistischen Lehre von der wechselseitigen Abhängigkeit (pratityasamutpada). Yagi 209 Vgl. Wilfried Nippel, Griechen, Barbaren und „Wilde“. Alte Geschichte und Sozialanthropologie, Frankfurt/M. 1990; Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt/M. 1986; ders., Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993. 210 Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1996, 38. 211 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006, 118. 212 Sundermeier, Den Fremden verstehen, 132. 213 Vgl. Seiichi Yagi, Die Frontstruktur als Brücke vom buddhistischen zum christlichen Denken, München 1988 (Seitenangaben im Text).
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erläutert sein Modell mithilfe des Bildes von der Wand zwischen zwei Räumen. Diese trennt die Räume A und B voneinander und konstituiert zugleich das jeweilige Raum-Sein durch ihre Flächen a bzw. b (23–28). Das Einzelne wird erst in der Beziehung zum Seienden (44). Dabei kommt es zu Frontgabe und Frontannahme zwischen A und B (27). Yagi unterscheidet drei Typen dieses reziproken Frontwechsels: den substantiellen Typ materiellen Austausches, sowie den Wellen- und den Feldtyp (36; 77–79). Den Wellentyp erklärt Yagi anhand der fortdauernden Wirkung der Worte Jesu durch die Zeiten hin, die er auch als Frontausdehnung bezeichnen kann (30). Den Feldtyp illustriert er damit, dass der Mensch immer schon im Wirkungsfeld Jesu Christi ist (75–79). Die Aneinanderreihung einer Vielzahl von Einzelnen muss letztendlich in einem Kreis bzw. einer Kugel geschlossen werden (44f.). Dieses Idealbild wird durch die in der Realität bestehenden Machtstrukturen konterkariert, die zu einer Schichtung der Einzelnen in einem System von Herrschaft und Ausbeutung führen (55). Der von Yagi gewählte militärische Begriff der Front weist deutlich auf die möglichen Konflikte, während der von Sundermeier bevorzugte Begriff der Homöostasie demgegenüber viel harmonistischer ist. Ich ziehe es vor, in diesem Zusammenhang vom Relationalitätsmodell zu sprechen.214 Wand (W) b
a A
B Das Einzelne
E1
E1
E1
...
E1
→
Das Seiende
E1
E1
E1
...
E1
E+
E1
1
E1
E1
E1
E1
E1 E
1
Herrschaft
E1
E1 E1
E1
E1
Abb. 6: Die Frontstruktur (Seiichi Yagi) 214 Vgl. Waldenfels, Phänomenologie des Fremden, 117.
E1 E1
E1
Ausbeutung
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Teil I: Begriffe und Methoden
In Abwandlung der von Urs Bitterli (*1935) vorgeschlagenen Typologie des Kulturkontaktes „Berührung, Zusammenstoß und Beziehung“ spreche ich im Blick auf den Dialog zwischen Kulturen und Religionen von Übersetzung, Infragestellung (bzw. Konflikt) und Wechselwirkung (bzw. Dialog).215 Am Beginn jeden Kulturkontaktes steht die Übersetzung. Es geht dabei nicht allein um das Erlernen fremder Sprachen und das Suchen nach adäquaten Übersetzungsmöglichkeiten ihrer Wörter, sondern auch um das Verstehen fremder Kulturen, die wiederum eng verwoben sind mit fremden Religionen. Ausgangspunkt ist immer die Suche nach Gemeinsamkeiten. Je tiefer der Übersetzer in die andere Sprachwelt und ihre kulturell-religiösen Konnotationen eindringt, desto deutlicher werden indes auch die Unterschiede hervortreten. Dies ist der Scheideweg, an dem die Infragestellung des anderen zu Wechselwirkung bzw. Dialog oder Konflikt führen kann. Wobei ein offen ausgetragener Konflikt noch stets in einen Dialog ausmünden kann und umgekehrt dieser nicht vor späteren Konflikten schützt. Übersicht 9: Modelle der Wahrnehmung des Fremden Similarität
Alterität
Pluralität
Relationalität
extern: Assimilation
inferior: Barbar
Komplementarität
Konflikt
intern: Selbsterkenntnis
superior: edler Wilder
Diversität
Dialog
Der Fremde und der eigene Glaube – theologische Perspektiven Während die bereits erwähnten exklusivistischen Tendenzen des christlichen Glaubens eine echte Begegnung mit dem religiös Fremden im Sinne von Übersetzung und Wechselwirkung von vornherein ausschließen und auf einen Konflikt hinauslaufen, ermöglicht es der Inklusivismus jedenfalls, das Gespräch zu eröffnen. Vertreter der Pluralistischen Theologie der Religionen haben versucht, dieses inhärente Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma durch die fortschreitende Aufgabe christlicher Glaubenspositionen – vom 215 Vgl. Urs Bitterli, Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1992; Volker Küster, Ein Dialog in Bildern. Reformbuddhismus und Christentum im Werk von H. Uttarananda, in: Dieter Becker (Hg.), Mit dem Fremden leben, Teil 2, Erlangen 2000, 17–32.
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Christozentrismus über den Theozentrismus zu einer Position jenseits von Theismus / Non-Theismus – zu überwinden (→§ 4.1). Hier soll ein anderer Weg beschritten werden. Ich votiere dafür, an die Ränder zu gehen und in der Folge vom Rand her zu denken (→§ 4.3). Die Christologie, ein Stein des Anstoßes für viele Pluralisten, muss dann kenotisch gedacht werden (Phil 2,6–11). In der Menschwerdung hat Gott sich selbst entäußert und erniedrigt. Im Kreuz identifiziert Gott sich mit den Marginalisierten dieser Erde. Jesus ist draußen vor das Tor gegangen (Hebr. 13,11–14).216 Hans Jochen Margull sprach in diesem Zusammenhang von „Verwundbarkeit“. Die Gotteslehre bietet mit der Perichorese – der wechselseitigen Durchdringung und Kommunikation der drei trinitarischen Personen – eine Denkfigur, die den christlichen Glauben relational und pluralismusfähig macht.217 Die Schöpfungstheologie sieht die Welt mit allem, was darinnen ist, als durch Gott geschaffen an, einschließlich der Kulturen und Religionen in all ihrer Vielfalt. Die von der Pneumatologie gelehrte Gegenwart des Geistes in der Welt hinterlässt Spuren des Heils eben auch in den Kulturen und Religionen. Die christliche Anthropologie schließlich sieht den Menschen als ein responsives Wesen, das aus eigener Verantwortung handeln muss, sich zugleich aber in seiner Lebensgeschichte durch Gott gerechtfertigt wissen darf. Das Reich Gottes ist schon in diesem Leben für uns angebrochen (→§ 7–12). Religionen, auch die christliche, sind menschliche Antworten auf solche Resonanzerfahrungen. Von der rechten Haltung gegenüber dem Fremden – ethische Perspektiven Interkulturelle Theologie ist keine neue Metatheorie, habe ich eingangs gesagt. Es geht ihr um einen Perspektivenwechsel, das Knüpfen von fluiden Themengeweben, Offenlegen von Dilemmas und Aufzeigen von Ambiguitäten. Letztendlich geht es um die rechte Haltung,218 Respekt vor dem Fremden und Verantwortung im Umgang mit ihm bzw. ihr sowie Offenheit zum Dialog, der Nachbarschaftlichkeit und Gastfreundschaft ermöglicht. Die Entdeckung des Anderen bzw. Fremden durch die europäischen Kolonialmächte und in ihrem Kielwasser auch durch das europäische Christentum führte zu Genozid und völliger Negation der anderen Kulturen und Religionen. Die Schwert- und Feuertaufe war während der Kolonialisierung 216 Vgl. Ahn, Byung-Mu, Draußen vor dem Tor. Kirche und Minjung in Korea. Theologische Beiträge und Reflexionen, Göttingen 1986, 40–45. 217 Zu Kenosis und Perichorese vgl. Moltmann, Trinität und Reich Gottes. 218 Vgl. Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, 7.
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Teil I: Begriffe und Methoden
Lateinamerikas gängige Praxis. Gleichzeitig gab es von Anbeginn Grenzgänger, die sich für die fremden Kulturen und Religionen interessierten und sie zu verstehen suchten; auch unter den Missionaren. Durch diese Fixierung auf die überseeischen Fremdheitserfahrungen wird oft vergessen, dass auch Europa nie kulturell-religiös homogen war (→Prolog). Das gilt nicht nur für die Zeit seiner eigenen Missionierung. Juden und Muslime, Angehörige der beiden anderen heute gern als abrahamitisch bezeichneten Religionen, waren immer unter uns präsent; ein Zusammenleben, das mehr durch Konflikt, denn durch Dialog gekennzeichnet war. Die Conquista geschah im Licht der Reconquista des mauretanischen Spaniens, inklusive der Vertreibung der dort lebenden Juden. Auch während der Kreuzzüge, die in erster Linie gegen die muslimische Oberherrschaft über Jerusalem gerichtet waren, kam es zu Pogromen unter Juden, die als Mörder des Messias geschmäht wurden. Eingeprägt hat sich das Schreckbild der „Türken vor Wien“ (1529 und 1683), nicht die Vermittlerrolle, die arabische Gelehrte beim Wissenstransfer von der Antike in die europäische Neuzeit gespielt haben. Das gelegentlich noch beschworene „christliche Abendland“ dankt seine Kultur dem Erbe aller drei abrahamitischen Religionen. Die jüdisch-christlichen und muslimischen Wurzeln der europäischen Kultur harren noch ihrer Wiederentdeckung. Jahrhunderte christlicher Antijudaismus haben dem Antisemitismus des Naziregimes und der Vernichtung von 6 Millionen europäischer Juden den Weg bereitet. Erst die Erfahrung des Holocaust bzw. der Shoah hat zu einer Neubesinnung innerhalb des Christentums über sein Verhältnis zur jüdischen Mutterreligion geführt. Der nach 1945 ebenfalls als Zeichen der Reue initiierte jüdisch-christliche Dialog ist der Quellgrund der modernen Dialogbewegung. Seine Ausweitung zum Trialog unter Einschluss des Islams erweist sich in der Praxis als mühsam. Die Begegnung mit dem Islam ist für viele Europäer noch stets die Begegnung mit dem Fremden schlechthin, nicht erst seit dem 11. September 2001. Demographisch steht der Beinahe-Ausrottung der europäischen Juden in der ersten Hälfte des 20 Jh. eine massive muslimische Immigration nach Europa – aus der Türkei, Nordafrika und Teilen Asiens – in seiner zweiten Hälfte gegenüber. Ob als Gastarbeiter mehr oder weniger eingeladen, als Bewohner früherer Kolonialgebiete oder als illegale Einwanderer ins Land gekommen, seit der Mitte des 20 Jh. hat mit diesen Migrationsbewegungen die Transformation Europas in multikulturelle Gesellschaften begonnen. Religiös geht es dabei nach wie vor um die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Die Mission neo-hinduistischer Sekten wie Hare Krishna oder
§ 3 Theologie interkulturell
125
Osho ist demgegenüber nie über die Nische der Jugendkultur hinausgedrungen. Lediglich in Großbritannien gibt es aufgrund der indischen Migranten aus den ehemaligen Kolonialgebieten eine nennenswerte Hindugemeinschaft. Der Hinduismus ist in Form von Yoga und Ayurveda im Westen ansonsten eher ein Wellnessphänomen. Die Reinkarnationsvorstellung wurde in der New-age-Religiösität als „zweite Chance“ gründlich missverstanden. Im Hinduismus und Buddhismus geht es gerade um das Durchbrechen des Kreislaufs der Wiedergeburten, der als Leiden erfahren wird. Auch die Präsenz des Buddhismus beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Anzahl Meditationszentren und Buddhabilder als Wohnaccessoires in allen Formen und Farben. Der Begriff „Gastarbeiter“ signalisiert bereits, dass ursprünglich keine Immigration intendiert war. Hier ist sicherlich auch eine der Ursachen für Versäumnisse in der Integrationspolitik zu suchen. Das Denken der Wohlmeinenden in Kategorien des Gastrechts und der Gastfreundschaft musste denn auch zu kurz greifen. Der Gast, der bleibt, wird zum Nachbarn. Aber der Traum von einer gelingenden multi-kulturellen Gesellschaft, der sich oft im Bild des Nachbarschaftsfestes verdichtet hat, verschließt die Augen vor den Realitäten des Alltags. Das Fest lädt ein zum Kennenlernen der fremden Gerüche, Geschmäcke, Klänge, Farben und Muster, die in der unmittelbaren Nachbarschaft oft gerade als störend empfunden werden. Was im Fest aufregend neu sein mag, regt im Alltag oft nur noch auf. Dann wird der Ruf nach Assimilation laut – wer sich anpasst, fällt nicht auf und stört nicht weiter. Die Alternative ist oft Ghetto-Bildung. Im Türkenviertel sind die uns fremden Klänge und Gerüche allgemein vertraut. Dort sein Gemüse einzukaufen wiederum ist nicht nur gut und billig, sondern stellt zugleich auch einen Ausflug ins Exotische dar. Integration meint demgegenüber etwas anderes. Wer zuzieht, lernt die Sprache, probiert die Sitten und Gebräuche seiner neuen Heimat zu verstehen. Er oder sie mag dafür Anerkennung seiner eigenen kulturell-religiösen Identität erwarten und genießt die Privilegien des demokratischen Rechtswesens. Was gar nicht so schwer klingt, erweist sich im täglichen Leben oft als mühsam und äußerst komplex. Negativbeispiele sind hinlänglich bekannt: das türkische Mädchen, das lieber mit seinem deutschen Freund in die Disco gehen will, als früh den älteren türkischen Mann zu heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hat. Oder der türkische Junge, der die Braut aus Anatolien verschmäht. Die Justiz wird erst aktiv, wenn es zu einem Ehrenmord gekommen ist oder ausnahmsweise bekannt wird, dass eine somalische Familie ihr Töchterchen hat beschneiden lassen. Auf der anderen
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Teil I: Begriffe und Methoden
Seite brennen Asylantenheime und werden Treibjagden auf Ausländer veranstaltet. In der derzeitigen Krise der multikulturellen Gesellschaften stehen jene, die für eine Politik der Integration votieren, die sowohl den herrschenden Werten und Normen als auch der kulturellen Identität der Einwanderer gerecht zu werden versucht, den Verfechtern einer Assimilationspolitik gegenüber, die die völlige Anpassung an die „Leitkultur“ der aufnehmenden Gesellschaft fordern. Was hat die Theorie multikultureller Gesellschaft zu all dem zu sagen? Charles Taylor (*1931) weist auf die Spannung zwischen „universaler Gleichheit“ des Individuums in seiner Würde und der Politik der Anerkennung seiner bzw. ihrer Identität hin, die zugleich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ins Spiel bringt. Während die Politik der Würde auf etwas Universelles zielt, auf etwas, das für alle gleich ist, auf ein identisches Paket von Rechten und Freiheiten, verlangt die Politik der Differenz, die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen, ihre Besonderheit gegenüber allen anderen. [...] Wir können das, was universell vorhanden ist – jeder Mensch hat eine Identität – nur anerkennen, indem wir auch dem, was jedem Einzelnen eigentümlich ist, unsere Anerkennung zuteil werden lassen.219
Gerd Baumann (*1953) spricht in diesem Zusammenhang vom multikulturellen Triangel. Am Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt er auf, wie individuelle Bürgerrechte zunächst in ethnische und dann in religiöse Gemeinschaftsrechte übersetzt werden (2f.).220 Nation, Ethnizität und Religion bilden die Eckpunkte eines spannungsvollen Triangels (51), in dessen Mitte die Kultur als gemeinsame Bezugsgröße steht. Dabei entsteht nicht zuletzt eine Spannung zwischen den individuellen Bürgerrechten des Nationalstaates und ethnischen und religiösen Gemeinschaftsrechten. Baumann durchbricht die Identitätsdiskurse, indem er sich von einem essentia219 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1997, 28f. In der Literatur zur Multikulturalität vertritt Seyla Benhabib, The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Global Era, Princeton 2002, exemplarisch eine universalistische Position, während Bhikhu Parekh, Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and Political Theory, Hampshire 2000, der Differenz zuneigt. Unter den kontextuellen Theologien sind die Befreiungstheologien stärker an universalen Kategorien wie Klasse, Rasse, Geschlecht und Würde orientiert, während die Inkulturations- und Dialogtheologien die kulturell-religiöse Differenz betonen. 220 Gerd Baumann, The Multicultural Riddle. Rethinking National, Ethnic and Religious Identities, New York / London 1999 (Seitenangaben im Text).
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listischen Kulturverständnis verabschiedet und statt von Identität von Identifikation spricht. Alle Identitäten sind Identifikationen in einem bestimmten Kontext und sie sind deshalb situativ und flexibel, imaginativ und innovativ (138) [...], alle Identifikationen sind dialogisch und alle Kämpfe für einen gemeinsamen Traum sind praxisorientiert (140).
Anstelle des essentialistischen votiert Baumann für ein prozessuales oder diskursives Verständnis von Kultur: „Wenn wir bei Kultur an etwas dachten, was wir haben und wovon wir Mitglieder sind, können wir nun bei Kultur an etwas denken, was wir machen und dem wir Form geben (137).“ Eine doppelte diskursive Kompetenz ermöglicht es, zwischen essentialistischen und prozessualen Konzeptionen von Kultur zu verhandeln. Dadurch wird auch das von Taylor skizzierte Dilemma überwunden. Baumanns Ansatz erweist sich als kompatibel mit der Theorie kontextueller Theologie, die sich auf den phänomenologisch-hermeneutischen Kulturbegriff von Geertz beruft. Nation / Staat
Kultur
Ethnizität
Religion
Abb. 7: Der multikulturelle Triangel (Gerd Baumann)
Jung-Young Lee (1935–1996), der als koreanischstämmiger Amerikaner gewissermaßen aus der Perspektive der Betroffenen spricht, weist in eine ähnliche Richtung.221 Er will den als negativ beschriebenen Zustand des „zwi221 Jung-Young Lee, Marginality. The Key to Multicultural Theology, Minneapolis 1995 (Seitenangaben im Text). Vgl. Fumitaka Matsuoka / Eleazar S. Fernandez (Hg.), Realizing the America of our Hearts. Theological Voices of Asian Americans, Danvers, MA 2003; Fumitaka Matsuoka, The Color of Faith. Building Community in a Multiracial Society, Cleveland, Ohio 1998; ders., Out of Silence. Emerging
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Teil I: Begriffe und Methoden
schen“ zwei Kulturen (in-between) umwerten und positiv auffassen als ein „in beiden“ Kulturen zu Hause sein (in-both). Dies läuft für ihn letztendlich auf einen Zustand „innerhalb und zugleich jenseits von beiden“ Kulturen (in-beyond) hinaus. „Die Essenz des „innerhalb und zugleich jenseits von beiden zu sein“ ist kein Nebenprodukt des zwischen oder in beiden zu sein, vielmehr verkörpert es einen Zustand des In-beiden-Seins, ohne sie zu vermischen (62).“ In der Marginalität meint Lee den Schlüssel zu einer multikulturellen Theologie gefunden zu haben. „Marginalität ist dann nicht nur der Kontext, sondern auch Methode und Inhalt der Theologie“ (3). Sie wurzelt in der Marginalität Jesu, mit der sich die Marginalisierten identifizieren können und vice versa (77–99). Nachfolge heißt dann an die Ränder gehen (101– 120), die auch die Kirche aufsuchen muss (121–147). Wenn die Marginalisierten ihren Kontext nicht mehr als negativ erfahren, sondern ihn bejahen, entsteht ein Mosaik der marginalisierten Gruppen als Gegengewicht zum Zentrum (149–170), dessen Schmelztiegelideologie immer nur so viel Farbe zugelassen hat, dass sich nichts Wesentliches am Grundrezept ändert. Lee überwindet mit seiner Umwertung allerdings zunächst einmal nur die von den Marginalisierten internalisierte Perspektive des Zentrums, nicht dessen Sicht der Dinge selbst. Wenn aber immer mehr Menschen so denken, verliert das Zentrum an Gravitationskraft und wird sich mittelfristig ins Mosaik einfügen müssen. An den Rändern, an denen sich die verschiedenen marginalisierten Gruppen treffen, bilden sich kreative Kerne, die ein Gegengewicht zum Zentrum des Zentrums schaffen, ohne je selbst zu einem solchen werden zu können. Im Idealfall ergibt sich so ein Gewebe wechselseitiger Abhängigkeiten: „Marginalität lässt sich am besten als ein Nexus verstehen, indem zwei oder drei Welten miteinander verbunden sind (47).“ An den von Jung-Young Lee beschriebenen Rändern wird die von Seiichi Yagi konstatierte Frontstruktur sichtbar. Hier steht die multikulturelle Gesellschaft auf dem Prüfstand. Nachbarschaftlichkeit bewährt sich eben nicht im Fest, sondern im Alltag. Darum ist es gut, dass es Hecken, Zäune und Türen gibt. Grenzen sind da, um respektiert zu werden, zugleich sind sie aber auch Schwellen, die auf Einladung hin überschritten werden dürfen. Die Respektierung von Grenzen Themes in Asian American Churches, Cleveland, Ohio 1995; Peter C. Phan, Christianity with an Asian Face. Asian American Theology in the Making, Maryknoll, NY 2003; Wonhee Anne Joh, Heart of the Cross. A Postcolonial Christology, Louisville, Kentucky 2006.
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§ 3 Theologie interkulturell
darf sicher nicht die Sicht auf die wechselseitige Abhängigkeit, auf das immer schon Aufeinanderbezogensein, versperren. Erst wer die Differenz erlitten hat, lernt sie auch im Fest zu feiern und ihr Raum zu geben. zwischen beiden (in-between) Asiatische Amerikaner
asiatisch
in beiden (in-both) Asiatische Amerikaner
amerikanisch
asiatisch
amerikanisch
innerhalb und zugleich jenseits von beiden (in-beyond) Asiatische Amerikaner
Zentrum
asiatisch
amerikanisch
kreativer
Zentrum
Kern
Zentrums
des Zentrums
des
Abb. 8: Dimensionen der Marginalität (Jung-Young Lee)222
222 Abbildungen nach Lee, Marginality, 57, 60 und 98.
Teil II: Dimensionen: interreligiös, interkulturell und interkonfessionell
Interkulturelle Theologie hat sich zunächst oft darauf konzentriert, ein Bewusstsein für die Konsequenzen der durch die kontextuellen Theologien ausgelösten Transformationsprozesse innerhalb der christlichen Theologie zu entwickeln. Gelegentlich wurde darum auch der Begriff inter-kontextuell zur Bezeichnung der Kommunikationsprozesse mit und zwischen den verschiedenen kontextuellen Theologien vorgeschlagen.1 Während ich im Blick auf die kontextuellen Theologien selbst bewusst für den Oberbegriff Kontext optiert habe, erscheint mir für die nun zu erkundenden Dimensionen der Interdependenz christlicher Theologie der Begriff interkulturell der angemessenere zu sein. Während die Inkulturationstheologien sich auf kulturelle Phänomene im engeren Sinne beziehen,2 liegt der Interkulturellen Theologie ein viel umfassenderer Kulturbegriff zugrunde. Dies ist im Zusammenhang der kulturellen Wende in den Geisteswissenschaften zu verstehen, die diese pauschal zu Kulturwissenschaften erklärte. Ihren überzeugendsten Ausdruck hat sie im angelsächsischen Raum in den cultural studies gefunden.3 Für die theologische Pluridisziplin Missonswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft bedeutet dies konkret, dass sie sich der Erforschung der kulturellen Faktoren in den Transformations- und Interaktionsprozessen des christlichen Glaubens zuwenden muss. 1
2
3
Vgl. Philip L. Wickeri et.al. (Hg.), Plurality, Power and Mission. Intercontextual Theological Explorations on the Role of Religion in the New Millennium, London: Council for World Mission 2000; Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Eine Anleitung zu ökumenischem Nachdenken über Hermeneutik, Frankfurt/M. 1999, 12. Um die Sprachverwirrung komplett zu machen: Schon in diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen von Interkulturation zu sprechen, um zu verdeutlichen, dass es sich immer schon um den Kontakt zwischen mindestens zwei Kulturen handelt, da das Evangelium nur in kulturell-vermittelter Gestalt zugänglich ist. Vgl. Bosch, Transforming Mission, 456f.; Franz Wijsen, Intercultural Theology and the Mission of the Church, in: Exchange 30, 2001, 218–228, 221, beide unter Rückgriff auf Joseph Blomjous. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006.
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Teil II: Dimensionen
Aufgrund der engen Verknüpfung von Kultur und Religion, auf die bereits im Prolog verwiesen wurde, sind auch die interkonfessionellen und interreligiösen Interaktionsprozesse als interkulturelle Phänomene zu verstehen. Interkulturelle Theologie entfaltet sich dann in drei Dimensionen: interkonfessionell, interkulturell und interreligiös. Ich drehe die Reihenfolge in diesem zweiten Teil um. Dahinter verbirgt sich die These, dass wir von den Differenzerfahrungen im interreligiösen (§ 4) und interkulturellen Dialog (§ 5) auch für das interkonfessionelle Gespräch (§ 6) lernen können, das in seiner bisherigen Form an seine Grenzen zu stoßen scheint. Für alle drei genannten Dimensionen gilt dabei, dass der Idealfall des Dialogs allzu oft vom Ernstfall des Konflikts überschattet wird. Der von Hans Jochen Margull eingeforderte Habitus der Verwundbarkeit kann zu konkreten Verwundungen führen, die Narben hinterlassen. Nachbarschaftlichkeit und Gastfreundschaft haben ihren Preis.
§ 4 Wer, mit wem, über was? – Suchbewegungen im interreligiösen Dialog Nach dem 11. September 2001 war der interreligiöse Dialog in aller Munde. Aber wer führt hier mit wem über was einen Dialog? Abgesehen vielleicht vom Papst in der römisch-katholischen Kirche oder dem Dalai Lama im tibetischen Buddhismus gibt es in den Religionen keine Zentralinstanzen, die verbindlich für eine ganze Religionsgemeinschaft sprechen könnten. Selbst die beiden genannten Autoritäten repräsentieren jedoch nur Teilsysteme der jeweiligen Religion. Religionen sind als in sich pluralistische Gebilde zugleich teilweise miteinander verwandt oder voneinander beeinflusst. Der interreligiöse Dialog findet also genaugenommen nicht zwischen Religionen statt, sondern zwischen Gläubigen, die in verschiedenen Glaubenssystemen beheimatet und ihnen gegenüber loyal sind.4 Sie rekonstruieren ihre religiösen Identitäten immer wieder neu in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihren sich stetig verändernden Kontexten. Weder diese Rekonstruktionen noch die interreligiöse Begegnung vollziehen sich in einem herrschaftsfreien Raum. Die Machtfrage stellt sich entsprechend in mindestens zweifacher Hinsicht: nämlich erstens, welche Strömung innerhalb einer Religionsgemeinschaft die Definitionsmacht darüber hat, was orthodox ist, und zweitens, welche Religionsgemeinschaft in einem bestimmten Kontext in der Übermacht ist. 4
Der englische Begriff inter-faith beschreibt die Verhältnisse daher angemessener.
§ 4 Wer, mit wem, über was?
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Aus christlicher Perspektive wende ich mich zuerst den theologischen Rahmenbedingungen des interreligiösen Dialogs zu. Danach inventarisiere ich Typen, Anlässe und generative Themen. Ich beschränke mich dabei auf die bilateralen Dialoge (→§ 6) zwischen Christen und Vertreterinnen und Vertretern der beiden anderen abrahamitischen Religionen Judentum und Islam, der ebenfalls miteinander verwandten Religionen indischen Ursprungs Hinduismus und Buddhismus sowie der afrikanischen Religion. Nachdem das Feld abgesteckt ist (1.) und das „Zwischen“ erkundet (2.), werfen wir einen Blick in den dritten Raum, der durch den interreligiösen Dialog eröffnet wird (3.). Abschließend frage ich nach dem Verhältnis von Mission und Dialog (4.).
1. Das Feld abstecken Zunächst einmal unterscheide ich grundsätzlich zwischen einer Theologie der Religionen, die innerhalb eines religiösen Denksystems operiert, und einer Theologie des Dialogs, die aus der konkreten Begegnung zwischen Angehörigen von zwei oder mehr unterschiedlichen religiösen Traditionen erwächst. Theologie der Religionen wird dann als genitivus objectivus verstanden und nicht als genitivus subjectivus, im Sinne einer Theologie, die von Vertreterinnen und Vertretern einer Mehrzahl von Religionen formuliert wäre.5 Während eine so verstandene Theologie der Religionen kohärent innerhalb des eigenen Systems argumentieren muss, bezieht eine Theologie des Dialogs die Position des Gegenübers mit ein. Die Theologie der Religionen ist dabei der Ermöglichungsgrund einer Theologie des Dialogs – oder umgekehrt formuliert: Eine Theologie des Dialogs setzt die Theologie der Religionen notwendig voraus.6 Wenn sich für die anderen Religionen kein Platz im eigenen 5
6
Vgl. Reinhard Leuze, Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionsgeschichte, in: Kerygma und Dogma 24, 1978, 230–243. Wilfred Cantwell Smith, Towards a World Theology. Faith and the Comparative History of Religion, London / Basingstoke 1981 und David Krieger, The New Universalism. Foundations for a Global Theology, Maryknoll, NY 1991 votieren für die genitivus subjectivus Option (→§ 6). Vgl. Pius F. Helfenstein, Grundlagen des interreligiösen Dialogs. Theologische Rechtfertigungsversuche in der ökumenischen Bewegung und die Verbindung des trinitarischen Denkens mit dem pluralistischen Ansatz, Frankfurt/M. 1998; Alan Race, Interfaith Encounter. The Twin Tracks of Theology and Dialogue, London 2001.
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Teil II: Dimensionen
Denksystem finden lässt, macht ein Dialog mit ihnen wenig Sinn. Eine Grundregel, die mutatis mutandis auch für die anderen Religionen gilt. Mit dieser Prämisse grenze ich mich gegen die Pluralistische Theologie der Religionen ab, die postuliert, innerhalb des christlichen Denksystems eine logisch kohärente pluralistische Option anbieten zu können. Perry SchmidtLeukel (*1954) vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass mit Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus die drei Grundoptionen gefunden sind, zwischen denen sich jeder entscheiden muss, der am theologischen Diskurs über die Existenz fremder Religionen und den Umgang mit ihnen teilnehmen will.7 • Die Pluralistische Theologie der Religionen ist ein Phänomen der Spätmoderne.8 Sie erhebt den Anspruch, den „Rubikon“ des christlichen Absolutheitsanspruchs sowohl in seiner exklusiven als auch in seiner inklusiven Form zu überschreiten (22). Dazu will sie eine „kopernikanische Wende“ (23) in der christlichen Theologie der Religionen einleiten, durch die an Stelle von Jesus Christus Gott ins Zentrum gerückt wird. Aus Gründen der Kompatibilität mit den asiatischen Religionen, insbesondere dem Buddhismus, aber auch Strömungen innerhalb des Hinduismus, musste diesem Schritt vom Ekklesio- bzw. Christozentrismus zum Theozentrismus darüber hinaus noch ein weiterer zu einer Position jenseits des Theismus / Non-Theismus folgen (30–34). Bei genauerem Hinsehen bleibt allerdings letztendlich auch die sogenannte pluralistische Option in ihrer Bezogenheit auf einen Gott bzw. transzendenten Grund dem inklusiven Denken verhaftet und kreiert dadurch eine Art MetaInklusivismus (→Epilog). • Die exklusive Position lässt sich zurückverfolgen zu Cyprian (ca. 200 / 10–258). Dessen Diktum „extra ecclesiam nulla salus“ ist auch über das Zweite Vatikanische Konzil hinaus eine im Katholizismus nachwirkende 7
8
Dieses Dreier-Schema geht wohl auf John Hick zurück. Verbreitung fand es durch die Arbeiten seiner Schüler Alan Race und Gavin D’Costa. Vgl. John Hick, Problems of Religious Pluralism, London 1985; Alan Race, Christians and Religious Pluralism. Patterns in the Christian Theology of Religions, London 1983; Gavin D’Costa, Theology and Religious Pluralism. The Challenge of other Religions, Oxford / New York 1986. Vgl. Perry Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argumente, Neuried 1997 (→Epilog). Vgl. programmatisch John Hick, The Non-Absoluteness of Christianity, in: ders. / Paul F. Knitter (Hg.), The Myth of Christian Uniqueness. Towards a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll, NY 1987, 16–36 (Seitenangaben im Text).
§ 4 Wer, mit wem, über was?
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Position gegenüber den anderen Religionen geblieben.9 Christologisch gewendet in die Formulierung „Außerhalb Jesu Christi kein Heil“ ist sie in weiten Kreisen des Protestantismus ebenfalls noch virulent. • Auch die inklusive Position hat ihre Wurzeln in der Alten Kirche. Justin († ca. 165) sah in der hellenistischen Philosophie und Literatur den Logos spermatikos, einen Keim der Wahrheit, sprießen.10 Euseb (ca. 260 / 65–338 / 39) vereinnahmte in seinem Doppelwerk Demonstratio Evangelii und Preparatio Evangelii sowohl das Alte Testament als auch die hellenistischen Schriftsteller. Die alttestamentlichen Verheißungen und das hellenistische Geistesleben finden in apologetischer Sicht gleichermaßen ihre Erfüllung im christlichen Glauben. Moderne Varianten dieser Erfüllungstheologie finden sich in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der Annahme von Karl Rahner (1904–1984), dass alle Menschen, die noch keine Chance hatten das Evangelium zu hören, „anonyme Christen“ seien.11 Der soteriozentrische Grundgedanke,12 dass auch in den anderen Religionen Spuren des Heils zu finden sind, wird von der christlichen Theologie in einen christozentrischen und einen theozentrischen Inklusivismus ausdifferenziert. Der christozentrische Inklusivismus geht von der Prämisse aus, dass Christus auch in den anderen Religionen präsent ist bzw. diese auf ihn hin ausgerichtet sind.13 Die theozentrische Position sieht den einen Gott auch 9
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Cyprian, Ep 73,21, in: Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, Vol. III, Pars II, 795: „Salus extra ecclesiam non est“. Vgl. Ad Gentes 7 und Nostrae Aetate 2 sowie die Argumentation in der Erklärung Dominus Jesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche der Kongregation für die Glaubenslehre, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 148, Bonn 2000. Vgl. Justin, Apol. I,44 u.ö.; dazu Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 21990, 100–103. Vgl. Mikka Ruokanen, The Catholique Doctrine of Non-Christian Religions. According to the Second Vatican Council, Leiden etc. 1992; Karl Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders., Schriften zur Theologie V, Einsiedeln etc. 1962, 136–158. Im Kreis der pluralistischen Religionstheologie setzt vor allem Paul Knitter auf die Soteriologie als religionsübergreifendes Element. Vgl. ders., Toward a Liberation Theology of Religions, in: Hick / Knitter, The Myth of Christian Uniqueness, 178–200; Paul Knitter, Horizonte der Befreiung. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Theologie der Religionen, hg. von Bernd Jaspert, Frankfurt/M. 1997, 201–215 (→Epilog). Auch wenn hier prinzipiell zu differenzieren wäre zwischen einem christozentrischen Universalismus, der den Fremden vereinnahmt, und einem solchen, der in Christus selbst auch den Fremden sieht.
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hinter den anderen Religionen am Werk. Die Argumentation reicht dabei von der Schöpfungstheologie bis zur Pneumatologie. Der Inklusivismus hat das Tor zu einem möglichen Dialog der Religionen und damit zu einer Theologie des Dialogs geöffnet, die die Grenzen des eigenen Systems überschreitet. Das ist sein bleibender Verdienst. Er nimmt die anderen Religionen in ihrer Identität jedoch letztendlich nicht ernst, sondern vereinnahmt sie. Die pluralistische Theologie der Religionen ist ebenfalls nicht kompatibel mit den Wahrheits- bzw. Letztgültigkeitsansprüchen der Religionen. Mag der christliche Absolutheitsanspruch auch besonders ausgeprägt sein, fremd ist er den anderen Religionen nicht. Die Stammesreligionen scheinen in ihrem Verhältnis zu anderen Religionen pluralistisch zu denken. Andere Stämme haben andere Götter. Doch sind sie gleichzeitig nach außen wie nach innen streng exklusivistisch. Wer von außen kommt, bleibt ein religiös Fremder, und wer als ihr Angehöriger zu einer anderen Religion konvertiert, verliert dadurch zugleich seine soziale Einbindung in die Gemeinschaft. Im Judentum wird der exklusive Anspruch, das erwählte Volk zu sein (Dtn 7,6–8), durch einen eschatologischen Inklusivismus konterkariert, der die Völker am Ende der Zeiten hinzukommen sieht (Jes 2,2–4). Nach der islamischen Tradition wird jeder Mensch als Muslim geboren, ohne notwendigerweise danach zu leben. Der muslimischen Toleranz gegenüber den anderen Schriftreligionen (Sure 2,105.145; 5,15.19) steht die Absolutsetzung des Islam als der bei Gott einzig wahren Religion gegenüber (Sure 3,19; 48,28). Während im Theravada-Buddhismus letztendlich nur, wer als Mönch lebt die Erleuchtung erlangen kann, ist nach der Lehre des Mahayana-Buddhismus jeder Mensch potentiell ein Buddha. Selbst der von vielen Pluralisten hochgeschätzte Hinduismus denkt inklusiv, nicht pluralistisch. Wie ein Schwamm saugt er die anderen Religionen in sich auf. Obwohl der Inklusivismus geradezu zum Spezifikum des Hinduismus erklärt wurde,14 führen in Indien derzeit hinduistische Superioritätsansprüche zu Ausschreitungen gegen Muslime und Christen. Aus alledem folgt, dass eine Theologie der Religionen, die innerhalb eines religiösen Systems logisch kohärent gedacht wird, immer vor dem Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma steht. Die sich daraus ergebende systemimmanente Ambivalenz der Theologie der Religionen lässt eine Leerstelle (Wolfgang Iser) für eine noch zu formulierende Theologie des Dialogs offen, die der Position des jeweils anderen Raum gibt. Für den Dialog gilt das Doppelgebot: 14
Vgl. Andreas Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube. Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum, Tübingen 1999, 5.
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Erstens, den anderen und seinen Glauben so verstehen zu lernen, dass er sich in unserer Darstellung wiedererkennen kann, und zweitens einander Zeugnis abzulegen vom je eigenen Glauben. Dazu gehört auch, dass nicht das Ideal der eigenen mit der Realität der fremden Religion verglichen wird.
2. Erkundungen im „Zwischen“ Nachdem die theologischen Rahmenbedingungen für den interreligiösen Dialog geklärt sind, wende ich mich der Frage zu, was sich zwischen den daran Beteiligten ereignet. Dabei lassen sich zunächst drei Typen des Dialogs unterscheiden (1.). Jeder Dialog hat einen konkreten Anlass und ein Repertoire an generativen Themen, die ihn bestimmen (2.-4.). Diese Themen können sich aus ihrer Relevanz für den jeweiligen Kontext ergeben oder konstitutiv sein für die Identität der betreffenden Glaubensgemeinschaft. Im Dialogprozess werden sie gelegentlich auch miteinander verknüpft. Für Christen sind die identitätsstiftenden generativen Themen in der Begegnung mit anderen Religionen, dass in Jesus Christus Gott, Mensch und Heil zusammengedacht werden und Gott der Dreieine ist. Hinzu kommen jeweils die für die Identität der anderen Religion generativen Themen. Die Frage der Geschlechterdifferenz wird in einem eigenen Abschnitt verhandelt, da sie an alle Dialoge gleichermaßen herangetragen wird (5.). Abschließend benenne ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich der hier in Augenschein genommenen interreligiösen Dialoge (6.). 1. Typologie des interreligiösen Dialoges Die Typeneinteilung in einen Dialog des Lebens, des Verstandes und des Herzens orientiert sich an Aktanten, Form und Inhalt des jeweiligen Dialoges.15 • Der Dialog des Lebens vollzieht sich im konkreten Zusammenleben der Menschen unterschiedlichen Glaubens. Oft laufen die Grenzen der Religionszugehörigkeit durch traditionelle Großfamilien oder Dorfverbände hin. Die Menschen erleben die Riten und Feste der verschiedenen Religionen bei ihren Familienangehörigen oder Nachbarn mit und partizipieren gelegentlich auch daran. Noch im urbanen Kontext sind solche Erfah15
Vgl. Leonard Swidler, The Dialogue Decalogue: Ground Rules for Interreligious Dialogue, in: Current Dialogue Nr. 5, 1983, 6–9, 9; Diana L. Eck, What do we mean by Dialogue?, in: Current Dialogue Nr. 11, 1986, 5–15.
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rungen möglich. Dieses interreligiöse Miteinander erfordert nicht notwendig detaillierte Kenntnisse der Lehren der jeweils anderen Religionen. Der Dialog des Lebens ist prä-konzeptuell. Er fördert ein gutes (Zusammen-)Leben.16 Diese ethische Grundmotivation gilt für den interreligiösen Dialog überhaupt. Sie ist evident, kann mit einem breiten Konsens unter den Menschen guten Willens in den verschiedenen Religionen rechnen und hat zu einer ganzen Reihe von Dialoginitiativen geführt.17 • Der Dialog des Verstandes wird in bi- oder multilateralen Zusammenkünften von Gelehrten aus verschiedenen Religionsgemeinschaften organisiert. Er ist konzeptuell und dient der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Die Initiative geht zumeist von christlicher Seite aus.18 • Im Dialog des Herzens treffen sich die Mystikerinnen und Mystiker der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Die unterschiedlichen Meditationspraktiken sind zentraler Ort der Begegnung. Der Dialog des Herzens ist post-konzeptuell. Im Zentrum steht die gegenseitige Bereicherung in der spirituellen Erfahrung und die Suche nach ihrem gemeinsamen Grund.19 Christliche Ashrams in Indien und Hindu-Gurus, die Jesus als einen der ihren betrachten, Zen-Meditation unter Anleitung katholischer Mönche in Europa und Amerika und buddhistische Zen-Meister, die Meister Eckhart lesen, oder muslimisch-christlicher Sufi-Tanz sind Beispiele für die spirituelle Variante des Dialogs. Die Frage nach Möglichkeiten des interreligiösen 16
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19
Unter dem Stichwort Konvivenz hat Theo Sundermeier das Zusammenleben zur Grundvoraussetzung von Dialog und Mission erklärt. Vgl. ders., Mission und Dialog in der pluralistischen Gesellschaft, hg. von Ev.-Luth. Landeskirche Hannover, Hannover 1999. Im diesem Geiste wurde bereits 1893 erstmals das Weltparlament der Religionen und 1970 die erste Weltkonferenz der Religionen für den Frieden einberufen. Auch Hans Küng stellt sein Projekt Weltethos unter das Motto „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“. Vgl. Marcus Braybrooke, Pilgrimage of Hope. One Hundred Years of Global Interfaith Dialogue, London 1992; Hans Küng, Projekt Weltethos, München 31996. Diese institutionalisierte Form des Dialogs des Lebens wird gelegentlich als eigener Typ gerechnet. Vgl. Dialog und Verkündigung, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 102, Bonn 1991, 42. Die Dialogabteilung des ÖRK und der Vatikan haben eine ganze Reihe von Dialogkonferenzen organisiert, hinzu kommen eine Vielzahl lokaler Initiativen. Vgl. Andreas Grünschloß, Interreligiöser Dialog in kirchlich-institutionellem Kontext, in: Johannes A. van der Ven / Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Religiöser Pluralismus und interreligiöses Lernen, Kampen / Weinheim 1994, 113–167. Vgl. Josef Sudbrack, Meditative Erfahrung – Quellgrund der Religionen?, Mainz / Stuttgart 1994.
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Gebets und Feierns ist eine rezente Spielart dieses Phänomens.20 Im Folgenden frage ich nach den konkreten Anlässen der Dialoge und wende mich anhand der generativen Themen insbesondere den konzeptuellen Fragen zu. Übersicht 10: Typologie des Interreligiösen Dialogs Typus
Subjekte
Ebene
Ziel
Dialog des Lebens
alle Menschen
präkonzeptuell
ethisch: gutes Zusammenleben
Dialog des Verstandes
Intellektuelle
konzeptuell
intellektuell: gemeinsame Suche nach Wahrheit
Dialog des Herzens
Mystiker
postkonzeptuell
spirituell: Teilen spiritueller Erfahrungen
2. Dialog unter den abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sind miteinander verwandte Religionen.21 Die jeweils jüngere erkennt die älteren als ihre Vorgängerinnen an. Umgekehrt werden die jüngeren von den jeweils älteren als Irrlehren betrachtet. Heute wird allerdings gelegentlich Nachdruck darauf gelegt, dass rabbinisches Judentum und Christentum gemeinsam aus der Religion des alten Israel hervorgegangen sind.22 Mit dem Tenach bzw. dem Alten Testament teilen sie einen Teil ihrer Schriften miteinander. Mohammed verstand sich zunächst als Prophet der Araber (mekkanische Phase). Aufgrund von Streitigkeiten vor allem mit Juden, aber auch mit Christen in Medina grenzte er sich schärfer gegen diese ab (medinische Phase). Im Koran wird er entsprechend als „Siegel der Propheten“ bezeichnet (Sure 33,40). Juden und Christen sind zwar tributpflichtig, genießen als „Leute des Buches“ (Sure 2,105.145; 20
21
22
Vgl. die Themanummer „Interreligious Prayer“ von Pro Dialogo, Bulletin 98, 2 / 1998 (in Kooperation mit Current Dialogue); Gott in vielen Namen feiern. Interreligiöse Schulfeiern mit christlichen und islamischen Schülerinnen und Schülern, Gütersloh 1998. Vgl. Volker Küster, Verwandtschaft verpflichtet. Erwägungen zum Projekt einer „Abrahamitischen Ökumene“, in: Evangelische Theologie 62, 2002, 384–398; Adel Theodor Khoury (Hg.), Lexikon religiöser Grundbegriffe: Judentum, Christentum, Islam, Graz etc. 1987. Vgl. Klaus Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 6, 1991, 215–242.
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Teil II: Dimensionen
5,15.19) aber besonderen Schutz. Der Koran kennt viele biblische Gestalten.23 Alle drei Religionen berufen sich auf Abraham als ihren Stammvater und verbinden ihn mit zentralen Elementen ihres Glaubens. Er erfüllte bereits die Tora,24 ist gerechtfertigt allein aus Glauben (Gal 3; Röm 4) und war der erste Muslim (Sure 3,65–67). Auch wenn Juden, Christen und Muslime gemeinsam unter den Verheißungen an Abraham stehen, trennen die darin begründeten Traditionen doch mehr, als dass sie einen.25 • Jüdisch-christlicher Dialog: Der jüdisch-christliche Dialog steht am Anfang der modernen Dialog-Initiativen überhaupt. Die Schoah hat zu einer gründlichen Neubesinnung im Verhältnis der Kirchen zum Judentum26 geführt. Diesem Zweck sollte ursprünglich auch das Dekret Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils dienen. Politischer Druck aus der arabischen Welt führte zu einer Ausweitung des Themas auf das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen insgesamt.27 Der ÖRK hatte lange vor Einrichtung des Dialogprogramms schon eine Arbeitsgruppe für das Gespräch mit dem Judentum.28 Die Idee, den jüdisch-christlichen Dialog in der Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung zu verorten, schießt allerdings über das Ziel hinaus und nimmt die Identität des Judentums 23
Vgl. Karel Steenbrink, Adam Redivivus. Muslim elaborations of the Adam saga with special reference to the Indonesian literary traditions, Zoetermeer 1998; ders., Jonah: From a Prophetic Mission in Reverse to Inter-Religious Dialogue, in: International Review of Mission, Nr. 360, 2002, 41–51; Martha T. Frederiks (Hg.), Bijbelse figuren in de islamitische traditie, Zoetermeer 2007; dies., Vorstinnen, verleidsters en vriendinnen van God. Islamitische verhalen over vrouwen in Bijbel en Koran, Zoetermeer 2010. 24 Vgl. etwa das Traktat Yoma des Babylonischen Talmud aus der Mitte des 6. Jh., zitiert bei Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994, 85: „Raw sagte: Unser Vater Abraham führte die ganze Tora aus“. 25 Vgl. Kuschel, Streit um Abraham; Berthold Klappert, Abraham eint und unterscheidet. Begründungen und Perspektiven eines nötigen Trialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen, in: Rhein Reden 1 / 1996, Köln 1996, 21–64. 26 Vgl. S. Ph. De Vries, Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 31984; Kurt Schubert, Die Religion des Judentums, Leipzig 1992. 27 Vgl. Joachim Zehner, Der notwendige Dialog. Die Weltreligionen in katholischer und evangelischer Sicht, Gütersloh 1992, 21. 28 Der Internationale Missionsrat hatte bereits während der Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928 eine Arbeitsgruppe für das Gespräch mit dem Judentum eingerichtet. 1961 wurde diese gemeinsam mit dem IMR in den ÖRK integriert.
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als eigenständiger Religion nicht ernst.29 Der jüdisch-christliche Dialog ist eindeutig ethisch und politisch motiviert. Zunehmend als Problem erweist sich heute die Verquickung von Judentum und Staat Israel. Ein positives Verhältnis zum Judentum muss nicht notwendig einhergehen mit dem Einverständnis mit der Politik des Staates Israel. Dass der Tenach der Juden zugleich einen Teil des Kanons der Christen ausmacht, hat im Zuge des jüdisch-christlichen Bewußtseinsbildungsprozesses Anlass zu Diskussionen gegeben. Christliche Exegeten schlugen vor, statt vom „Alten“ besser vom „Ersten Testament“ zu sprechen.30 Auch die Übersetzung und die Aussprache des Gottesnamens werden problematisiert.31 Dass Juden und Christen denselben Gott anbeten, ist dagegen unbestritten. Kontrovers ist die Anrede Jesu als Messias und die Christologie insgesamt. Die jüdische Messiashoffnung ist noch unerfüllt und die Verehrung Jesu als Gottessohn ist für Juden ein Irrglauben. Es gab jedoch von jüdischer Seite durchaus Initiativen, den gebürtigen Juden Jesus heimzuholen. Schalom Ben-Chorin (1913–1999) hat gar eine Trilogie unter dem Titel Die Heimkehr vorgelegt, worin er eine jüdische Sicht auf Jesus, Paulus und Maria entfaltet.32 Der durch christliche Theologie aufgebaute Gegensatz von Evangelium und Gesetz wurde im Zuge des jüdisch-christlichen Dialoges von christlicher Seite dekonstruiert.33 Weder die Heiligkeit noch die Heilsamkeit der Tora für das menschliche Zusammenleben wurden durch Paulus infrage gestellt, wohl aber ihre Heilswirksamkeit. Versuche, den Messiastitel aufzugeben,34 führen demgegenüber zu einem nicht akzeptablen Substanzverlust des christlichen Glaubens. Jürgen Moltmann (*1926) macht in diesem Zusammenhang den escha29 30 31
32
33 34
Vgl. Kuschel, Streit um Abraham, 240: „Denn Judentum, Christentum und Islam bilden nun einmal drei unterschiedliche Religionen“ (→§ 6.1). Vgl. Erich Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 51995. Vgl. Jürgen Ebach, Name ist Schall und Rauch. Beobachtungen und Erwägungen zum Namen Gottes, in: ders. et.al. (Hg.), Gretchenfrage. Von Gott reden – aber wie, Gütersloh 2002, 17–83. Die Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 32007 begegnet diesem Problem durch eine Kopfzeile mit einer Vielzahl möglicher Gottesanreden und einer gewissen Variationsbreite von Übersetzungsmöglichkeiten im Text. Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1977; ders., Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht, München 1980; ders., Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht, München 1982. Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus, München 1987; ders., Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989. Vgl. Leonard Swidler, Der umstrittene Jesus, Gütersloh 1993, 26.
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tologischen Vorbehalt geltend. Wie die Juden warten auch die Christen auf das Kommen des Messias.35 • Christlich-muslimischer Dialog: Während die christliche Seite im Gespräch mit dem Judentum die Gemeinsamkeiten betont, werden im christlichmuslimischen Dialog36 eher die Unterschiede akzentuiert. Die islamische Präsenz im Westen und die Nahostproblematik haben Forderungen nach einem Trialog laut werden lassen, der bisher allerdings auf kleine Zirkel beschränkt geblieben ist. Die Ereignisse des 11. September 2001 und seiner Folgen überschatten die christlich-muslimischen Beziehungen noch stets. Neben den aktuellen politischen Konflikten ist die generelle Frage des Verhältnisses von Staat und Religion, insbesondere die Bedeutung der Sharia, des islamischen Gesetzes, und die Anerkennung der universalen Gültigkeit der Menschenrechte Thema des christlich-muslimischen Dialoges. Im Hinblick auf die Gottesfrage gehen die islamische Lehre (Sure 5,44–48; 42,15; 2,139; 29,46) und offizielle kirchliche Erklärungen37 davon aus, dass Juden, Christen und Muslime denselben Gott anbeten. Beim Kirchenvolk und bei konservativen Theologen ist dies, was den Islam38 betrifft, weit davon entfernt, akzeptiert zu sein. Von islamischer Seite wird die Trinitätslehre als Tritheismus betrachtet. Als dritte Person der Trinität wird dabei gelegentlich fälschlicherweise Maria gezählt. Jesus wird im Koran als einer der Propheten bezeichnet. Seine Verehrung als Gottessohn ist in islamischer Sicht demgegenüber eine Beigesellung (shirk) zu Gott, für den strengen Monotheismus des Islam die denkbar größte religiöse Verfehlung (Sure 4,48.116; 31,13). Christlicherseits wird weder Mohammed als Prophet noch der Koran als Offenbarungsquelle anerkannt. Im Dialog wird allerdings versucht, eine Analogie zwischen der christlichen Bezeichnung Jesu Christi als Wort Gottes und der Bedeutung des Koran für die Muslime aufzuzeigen. 35 36
37 38
Vgl. Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 45–55. Vgl. Jutta Sperber, Christians and Muslims. The Dialogue Activities of the World Council of Churches and their Theological Foundation, Berlin / New York 2000; Nicolas J. Woly, Meeting at the Precincts of Faith. A Study on Twentieth Century Christian and Muslim Views on Interreligious Relationships and its Impact on Missiology, Kampen 1998. Vgl. etwa Lumen Gentium 16 und Nostra Aetate 3 und 4, in: Karl Rahner / Heribert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg etc. 231991. Vgl. Hermann Stieglecker, Die Glaubenslehren des Islam, München / Wien 1962; Islam Lexikon. Geschichte, Ideen, Gestalten, 3 Bde, hg. von Adel Theodor Khoury et.al., Freiburg etc. 1991.
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3. Dialog mit den Religionen indischen Ursprungs: Hinduismus und Buddhismus Die von dem sri-lankesischen Dialogtheologen Aloysius Pieris wiederholt betonte Minoritätensituation hat dazu geführt, dass Missionare und Vertreter der asiatischen Christenheit schon auf der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 das Verhältnis zu den anderen Religionen auf die Tagesordnung gesetzt haben.39 Hinduismus und Buddhismus sind ebenfalls miteinander verwandte Religionen.40 Sie haben ihre gemeinsamen Wurzeln im Brahmanismus. Der Hinduismus ist ein ganzes Konglomerat von Religionen, das erst im 19. Jh. von den englischen Kolonialherren als Religion der Menschen, die im Indusgebiet wohnen und nicht einer identifizierbaren anderen Religion angehören, so bezeichnet wurde.41 Anders als der Buddhismus kennt der Hinduismus keine Stiftergestalt. Der Buddha grenzte sich etwa im Hinblick auf das Kastensystem deutlich vom Brahmanismus ab. Gemeinsam ist beiden Religionen der Glaube an den Tun-Ergehens-Zusammenhang (karma) und den damit eng zusammenhängenden Kreislauf der Wiedergeburten (samsara). Während der Hinduismus jedoch ein Selbst (atman) kennt, das wiedergeboren wird, verneint der Buddha die Existenz eines Selbst (anatman). Die Reinkarnationslehre ist in beiderlei Gestalt nicht kompatibel mit der christlichen Anthropologie, die lehrt, dass die Toten erst am jüngsten Tage auferstehen werden.42 Dies hat zu wechselseitigen Infragestellungen im Dialog geführt. Das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der internationalen Missionsbewegung prophezeite Ende der anderen Religionen ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Hinduismus und Buddhismus sind aus der Begegnung mit westlicher Kultur und christlicher Religion erstarkt hervorgegangen. In Indien etwa kam es zur sogenannten Hindurenaissance. In diesem Kontext formulierten Hindudenker selbst Christologien, ohne deswegen 39 40
41
42
Vgl. Wesley Ariarajah, Hindus and Christians. A Century of Protestant Ecumenical Thought, Grand Rapids / Amsterdam 1991; Helfenstein, Grundlagen, 26–69. Vgl. Klaus Klostermeier, Hinduismus, Köln 1965; Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998; Heinz Bechert / Richard Gombrich (Hg.), Der Buddhismus. Geschichte und Gegenwart, München 2000. Die These, dass das heute allgemein akzeptierte System der Weltreligionen unter dem Einfluss des westlichen Religionsbegriffs konstruiert wurde, nimmt ihren Ausgang denn auch beim Hinduismus. Vgl. Norbert Hintersteiner, Art.: Dialog der Religionen, in: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, hg. von Johann Figl, Innsbruck etc. 2003, 834–852; Wilfred Cantwell Smith, The Meaning and End of Religion, New York 1962. Vgl. Reinhart Hummel, Reinkarnation. Weltbilder des Reinkarnationsglaubens und des Christentums, Mainz / Stuttgart 1988; Rüdiger Sachau, Westliche Reinkarnationsvorstellungen, Gütersloh 1996.
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notwendig zum Christentum zu konvertieren.43 In Japan haben Vertreter des Mahajana-Buddhismus ihre heiligen Schriften mit Hilfe der historischkritischen Methode gelesen, um nach den eigenen Ursprüngen zu forschen.44 In den Theravadaländern Sri Lanka und Thailand inspirierte der interreligiöse Dialog zur Formulierung einer buddhistischen Sozialethik.45 • Christlich-hinduistischer Dialog: Ausgangspunkt für das christlich-hinduistische Gespräch46 ist oft der Heilsweg der liebenden Hinwendung zu einem Gott (bhakti marga). In dem damit verbundenen Glauben daran, dass die ersehnte Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten jederzeit durch die Gnade des verehrten Gottes gewirkt werden kann, wird dann eine Analogie zum christlichen Glauben an die durch Jesus Christus gewirkte Gnade gesehen. Wesentlich komplexer gestaltet sich der Dialog mit jenen, die dem Heilsweg der intellektuellen Erkenntnis (jnana marga) folgen. Die hinduistischen Dialogpartner stehen meistens in der Tradition des vedanta, eines philosophischen Systems, dass die All-Einheit lehrt. Selbst (atman) und Allganzes (brahman) bilden nach dieser Lehre eine Einheit (tat twam asi). Ein Zugang zum Hinduismus, den etwa die Pluralistische Theologie der Religionen gewählt hat. Nicht zuletzt durch diesen Denkansatz sah sie sich genötigt, vom Theozentrismus zu einer Position jenseits des Theismus / Non-Theismus fortzuschreiten. Jesus Christus wird dann entweder unter Betonung seines Gottseins als die Inkarnation eines Gottes (avatara) neben anderen oder aber aus der Perspektive seines Menschseins als Guru gesehen. 43
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46
Vgl. Stanley Samartha, Hindus vor dem universalen Christus. Beiträge zu einer Christologie in Indien, Stuttgart 1970; M.M. Thomas, Christus im neuen Indien. Reformhinduismus und Christentum, Göttingen 1989 [engl. 1969]. Vgl. Michael von Brück / Whalen Lai, Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, München 22000, 159f. Vgl. Wege zu einer gerechten Gesellschaft. Beiträge engagierter Buddhisten zu einer internationalen Debatte, Hamburg 1996; Engaged Buddhist. Buddhist Liberative Movements in Asia, hg. von Christopher S. Queen / Salbe B. King, Albany 1996; Gudrun Löwner, Religion und Entwicklung in Sri Lanka. Die Entwicklungsarbeit der protestantischen Kirchen in Sri Lanka im Vergleich mit der Sarvodaya-Bewegung und dem Aufbruch buddhistischer Mönche in die Entwicklungsarbeit, Erlangen 1999. Vgl. Mariasusai Dhavamony, Hindu-Christian Dialogue. Theological Soundings and Perspectives, Amsterdam / New York 2002; Ariarajah, Hindus and Christians; Hindu-Christian Dialogue. Perspectives and Encounters, hg. von Harold Coward, Maryknoll, NY 1989.
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• Christlich-buddhistischer Dialog: Im Dialog mit dem Buddhismus47 finden sich durchaus vergleichbare Grundmuster. Schon der jesuitische Japanmissionar Franz Xavier (1506–1552) soll in Zeiten der Gegenreformation nach Hause gemeldet haben: ‚Die verfluchte lutherische Sekte ist schon da.‘ Er bezog sich dabei auf den Amida-Buddha, der bei seiner Erleuchtung noch als bodhisattva gelobt hatte, erst dann in das Nirvana eingehen zu wollen, wenn alle Menschen erlöst wären. Dazu müssen sie dreimal die Formel „Ich nehme meine Zuflucht zum Amida-Buddha“ aussprechen. Erlösung ist dann etwas Geschenktes, das ohne eigene Verdienste erlangbar ist. Dieser Gnadengedanke des Amidabuddhismus erinnert an die Rechtfertigung allein aus Glauben, das generative Thema des Protestantismus.48 Im Gespräch mit dem Zenbuddhismus wird demgegenüber nach Analogien zwischen dem absoluten Nichts und dem christlichen Gottesverständnis gesucht.49 Der westlichem Denken paradox anmutende Gedanke, dass dieses buddhistische „Nichts“ nicht „nichts“ im westlichen Sinne ist, wirft die christlichen Gesprächspartner, ähnlich wie die Lehre von der AllEinheit im Dialog mit dem Hinduismus, auf die mystische Dimension des Glaubens zurück. Vielen scheint deshalb auch ein erfahrungsbezogener Zugang im Sinne eines Dialogs der Herzen die angemessenste Kommunikationsform mit Hindus und Buddhisten. 4. Dialog mit der afrikanischen Religion Ein Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der afrikanischen Stammesreligionen ist noch selten geführt worden.50 Im Zentrum standen dann die generativen Themen afrikanischer Religion und Weltanschauung: Lebenszentriertheit und Gemeinschaftsbezug.51 In Zeiten ökologischer Krisen ist dabei der ganzheitliche Umgang mit der Natur von besonderem Interesse für die christ47
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Vgl. von Brück / Lai, Buddhismus und Christentum; Perry Schmidt-Leukel, „Den Löwen brüllen hören“. Zur Hermeneutik eines christlichen Verständnisses der buddhistischen Heilsbotschaft, Paderborn 1992. Vgl. Katsumi Takizawa, „Rechtfertigung“ im Buddhismus und im Christentum, in: ders., Das Heil im Heute. Texte einer japanischen Theologie, hg. von Theo Sundermeier, Göttingen 1987, 181–196. Vgl. Hans Waldenfels, Absolutes Nichts. Zur Grundlegung des Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum, Freiburg etc. 1976. Vgl. Gerard van’t Spijker, Liberating the Church from its Northern Captivity. Dialogue with Traditional Religion in Africa, in: Studies in Interreligious Dialogue 4, 1994, 170–188. Vgl. John S. Mbiti, African religions and philosophy, Oxford etc. 2. durchges. und erw. Auflage 1990 [1969; dt. 1974]; Theo Sundermeier, Nur gemeinsam können
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lichen Dialogpartner. Auf der konzeptuellen Ebene ist der Dialog mit der afrikanischen Religion allerdings bisher eher ein intra-christlicher Dialog zwischen Theologen und Theologinnen über ihr afrikanisches Erbe geblieben. Dialogtheologie ist in Afrika wesentlich Inkulturationstheologie (→§ 7.1 und § 8.2). Kultur und Religion sind in primalen Gesellschaften eng miteinander verknüpft. Die postkoloniale Rekonstruktion einer afrikanischen Identität verlangte daher auch von christlichen Theologen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der traditionalen afrikanischen Religion. Eine viel diskutierte Frage war dabei zunächst, ob aufgrund der Vielzahl der Ethnien mit jeweils eigener Religion von afrikanischen Religionen im Plural gesprochen werden muss oder ob die Gemeinsamkeiten nicht doch überwiegen und die Rede von einer afrikanischen Religion rechtfertigen.52 Inzwischen hat sich die letztgenannte Option durchgesetzt. Afrikanische Theologen suchen nach Anknüpfungspunkten in diesem Erbe, um dem Christentum eine afrikanische Gestalt zu geben. Mercy Amba Oduyoye spricht in diesem Zusammenhang von einem „kreativen Synkretismus“ (→§ 5.2.2). Vor und neben dieser akademischen Inkulturationstheologie hat sich in den Afrikanischen Unabhängigen Kirchen ein inkulturiertes Christentum entwickelt, das großen Zulauf hat (→§ 10.2). Viele Mitglieder der Missionskirchen, denen diese Verbindung von christlichem Glauben und afrikanischer Kultur und Religiosität nicht gelungen ist, praktizieren eine doppelte Religionszugehörigkeit. Im Krankheitsfall etwa konsultieren sie noch immer den traditionellen Heiler. John Mbiti suggeriert in einer frühen Studie53 bereits, was sich dann wie ein roter Faden durch den Diskurs afrikanischer Theologie zieht: Die Afrika-
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wir leben. Das Menschenbild schwarzafrikanischer Religionen, Gütersloh 1988; Laurenti Magesa, Ethik des Lebens. John Mbiti, einer der Pioniere auf diesem Forschungsterrain, versuchte in seinem Klassiker African Religions and Philosophy diesen Konflikt so aufzulösen, dass er hinter den afrikanischen Religionen eine gemeinsame Philosophie annahm. Doch ist die Anwendung des Begriffs „Philosophie“ als westliches Konzept auf den afrikanischen Kontext schon im Falle seines Vorläufers Placide Tempels, Bantu-Philosophie. Ontologie und Ethik, Heidelberg 1956, nicht unwidersprochen geblieben. In der deutschen Übersetzung (Berlin / New York 1974) ist denn auch von „afrikanischer Weltanschauung“ die Rede. Diese Unterscheidung von Religion und Weltanschauung suggeriert zugleich eine gewisse Unterscheidbarkeit von religiösen Praktiken und ethischen Wertvorstellungen. Diese Werte können dann auch im afrikanischen Christentum bewahrt bleiben. Indem Laurenti Magesa die afrikanische Religion programmatisch in den Status einer Weltreligion erhebt, betont er damit auch ihre Einheit (→§ 2.4). Vgl. John Mbiti, Concepts of God in Africa, London 1970.
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ner kannten Gott schon vor der Ankunft der Missionare. Durch das Christentum neu hinzugekommen ist die Vorstellung von der Inkarnation Gottes in der Welt. Wie schon in anderen Dialogen beobachtet, bediente sich die Dialog- bzw. Inkulturationstheologie auch in Afrika des Paradigmas des theozentrischen Inklusivismus. Gott ist für Afrikaner der ferne Gott. Ihre Mittler sind die Ahnen. Vermittelt wird das Leben, das von Gott über die Ahnen in die Gemeinschaft fließt. Es lag denn auch nahe, Jesus Christus im afrikanischen Kontext als Ahnen anzusprechen. Dieser Spielart afrikanischer Christologie bleibt der Leidensgedanke fremd. Es ist eine theologia gloriae, die den Christus victor verherrlicht, der noch am Kreuz der Herr ist (→§ 7.1 und 5). 5. Dialog und Geschlechterfrage Die Geschlechterfrage kam bisher, wenn überhaupt, nur am Rande interreligiöser Dialoge zum Tragen.54 Kontrovers diskutiert werden Themen wie Kopftuchbzw. Verschleierungspflicht im Islam oder die Witwenverbrennung (sati) im Hinduismus, oft angeregt durch die Kritik westlicher Feministinnen.55 Ein durchgängiges Motiv der interreligiösen feministischen Diskurse ist die Rehabilitierung des Religionsstifters gegenüber der patriarchalen Grundhaltung der eigenen Religion. In diesem Zusammenhang kritisierten jüdische Feministinnen ihre christlichen Kolleginnen dafür, dass sie Jesu frauenfreundliche Haltung gegenüber dem patriarchalen rabbinischen Judentum seiner Zeit hervorheben. Muslimische Frauen wehren sich gegen eine Verketzerung des vorgeblich frauenfeindlichen Islam. Im Gegensatz zum jüdisch-christlichen Gottesnamen etwa sei der Name Allah geschlechtsneutral. Den Frauen in Mohammeds Umfeld kommt im Islam eine prominente Rolle zu. Seine erste Frau Khadidja, eine reiche Witwe, ermöglichte ihm den sozialen Aufstieg und finanzielle Unabhängigkeit. Aisha, seine dritte Frau, ist im sunnitischen Islam eine der Hauptautoritäten für die Überlieferung von Prophetentraditionen. Die Schiiten negieren sie allerdings, da sie eine Gegenspielerin von Mohammeds Nachfolger Ali war. Für den schiitischen Islam ist denn auch dessen Frau, Mohammeds Tochter Fatima, zu einer Identifikationsfigur vergleichbar der Maria im Katholizismus geworden. Auch der Buddha, der sich vehement gegen die Einrichtung eines Nonnenordens 54
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Vgl. Maura O´Neill, Women Speaking, Women Listening. Women in Interreligious Dialogue, Maryknoll, NY 1990; Doris Strahm / Manuela Kalsky (Hg.), Damit es anders wird zwischen uns. Interreligiöser Dialog aus der Sicht von Frauen, Ostfildern 2006. Dritte-Welt-Theologinnen haben sich wiederholt gegen ein solches othering gewehrt. Vgl. Kwok Pui-Lan, Unbinding our Feet: Saving Brown Women and Feminist Religious Discourse, in: Laura E. Donaldson / Kwok Pui-Lan (Hg.), Postcolonialism, Feminism and Religious Discourse, New York / London 2002, 62–81.
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sträubte, wird von buddhistischen Nonnen heute rehabilitiert. Buddhas Zurückhaltung habe dem Schutz der schwachen Mönche gegolten.56 6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Strukturell lassen sich in allen Dialogen Phasen der Übersetzung, Infragestellung und Wechselwirkung nachweisen.57 Die Übersetzung steht notwendig am Anfang einer Begegnung. Um mein Gegenüber zu verstehen, muss ich versuchen, sein mir fremdes Glaubenssystem in meinen eigenen Kategorien zu erfassen. Der Suche nach Analogien kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.58 Im weiteren Prozess des Dialogs wird dann das jeweils fremde System infrage gestellt, wo es mit dem eigenen System nicht kompatibel ist. Dies kann im schlechtesten Fall zu Konflikten führen. Gleichzeitig kommt es aber auch zu Wechselwirkungen, wenn etwa eigene Defizite im Lichte der anderen Religion erkannt und bearbeitet oder verschüttete Elemente der eigenen Religion wiederentdeckt werden. Ausgehend von der Prämisse, dass auch in den anderen Religionen Spuren des Heils zu finden sind, geschieht Übersetzung aus christlicher Perspektive im Sinne des theozentrischen oder des christozentrischen Inklusivismus. Von nicht-christlicher Seite wird denn auch gelegentlich beklagt, dass der Dialog in Kategorien des christlichen Glaubens geführt zu werden droht. Unter den abrahamitischen Religionen scheint aufgrund ihres Verwandtschaftsverhältnisses ein gewisser Konsens im Hinblick auf einen wechselseitigen theozentrischen Inklusivismus möglich. Noch indem sie sich gegenseitig der Häresie bezichtigen, gehen sie implizit davon aus, dass die anderen denselben Gott anbeten. Das Ausloten der Analogien in der hinduistischen Bhaktifrömmigkeit mit ihrer liebenden Hinwendung zu einem Gott, dem braman in der vedanta-Philosophie oder dem absoluten Nichts des ZenBuddhismus lässt zumindest eine gewisse Konvergenz im Hinblick auf die Verehrung eines Gottes bzw. die Annahme eines letzten Urgrundes möglich erscheinen. Aus der Perspektive afrikanischer Theologie wurde in den afrikanischen Stammesreligionen Gott schon vor der Ankunft der Missionare verehrt. Die Stammesreligionen selbst denken eher pluralistisch, andere Stämme oder Völker haben andere Götter. 56 57 58
Vgl. André Golob, Buddha und die Frauen. Nonnen und Laienfrauen in den Darstellungen der Pali-Literatur, Altenberge 1998. Vgl. Küster, Ein Dialog in Bildern. In der vergleichenden Theologie wird diese Methode in den Rang einer theologischen Disziplin erhoben. Vgl. Klaus von Stosch, Komparative Theologie – Ein Ausweg aus dem Grunddilemma jeder Theologie der Religionen?, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 124, 2002, 294–311.
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Der christozentrische Inklusivismus wird demgegenüber aus der Perspektive der anderen Religionen infrage gestellt und erweist sich letztendlich als nicht tragfähig. Die afrikanische Ahnenchristologie kommt hier als christliches Projekt nicht in Betracht. Hinduismus und Buddhismus akzeptieren Jesus als avatara bzw. boddhisatva neben anderen. Dem Judentum gilt er als Rabbi, dem Islam als Prophet. In jedem der genannten Fälle klafft eine Lücke zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus. Die Renaissance der meditativen Praxis im westlichen Christentum oder die intellektuelle Durchdringung des Zen im japanischen Mahayana-Buddhismus sowie die Entwicklung einer buddhistischen Sozialethik im Theravada-Buddhismus sind gelungene Beispiele für Wechselwirkungen. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den untersuchten interreligiösen Dialogen korrespondieren mit den eingangs genannten Typen. Der Dialog mit den afrikanischen Stammesreligionen ist nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zuerst und vor allem ein Dialog des Lebens. Lebens- und Gemeinschaftszentriertheit sind die generativen Themen afrikanischer Religiosität. Vom konzeptuell hoch abstrakten Dialogen mit dem Zen-Buddhismus oder dem hinduistischen advaita einmal abgesehen, steht beim christlich-buddhistischen und christlich-hinduistischen Dialog eindeutig die spirituelle Dimension im Zentrum. Die gemeinsame Meditationserfahrung bringt den Dialog der Herzen zum Klingen. Der Dialog unter den abrahamitischen Religionen ist zwar ethisch motiviert, hat aber eine stark konzeptuelle Ausprägung. Entsprechend hat der Dialog des Verstandes hier seinen genuinen Ort. Während es im prä- und post-konzeptionellen Bereich der Dialoge des Lebens und des Herzens zu Annäherungen zwischen Gläubigen verschiedener Religionen kommt, schlägt in konzeptionellen Dialogen letztendlich die Differenz durch. Sie ist in der Loyalität gegenüber den Lehren der jeweiligen Religion begründet.
3. Einen „dritten Raum“ eröffnen Mit meinen Suchbewegungen habe ich die Landschaft des interreligiösen Dialoges vermessen. Anlässe und generative Themen markieren Orte und Grenzlinien, an denen wir Antworten finden können auf die Ausgangsfrage – wer, mit wem, über was? Ob aufgrund aktueller politischer Konflikte, einer multikulturell religiösen Ausgangslage oder der Minderheitensituation eines der Dialogpartner, der Anlass für einen interreligiösen Dialog liegt oft auf sozialethischem Terrain. Es geht dann um Nachbarschaftlichkeit, um ein friedliches Zusammen-
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leben der Religionen, nicht um ihre Einheit. Der Dialog erfordert grundsätzlich einen Habitus der Offenheit und des Respekts für den Anderen. Extremisten aller Lager teilen diesen Habitus nicht. Terroristen wird der Dialog denn auch kaum vom Bombenwerfen abhalten können. Hier sind in erster Instanz die Religionsgemeinschaften selbst in der Verantwortung, um fundamentalistische Tendenzen intrareligiös zu bearbeiten und dadurch das Konfliktpotential zu entschärfen. Dabei könnte den Frauen in ihrem Protest gegen den patriarchalen Missbrauch der jeweiligen Religion und ihrem Rekurs auf die Ursprünge eine tragende Rolle zuwachsen. Da wo die generativen Themen, die die verschiedenen Religionen bestimmen, als Dogmen bzw. Glaubenssätze aufeinander prallen, ist der Dialog schnell zu Ende. Das Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma markiert dann eine Grenze, die unüberwindbar scheint. Nur wenn die generativen Themen eingebettet werden in die Geschichten der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und die Glaubensgeschichten der Dialogteilnehmerinnen und -teilnehmer selbst, wird Verständigung möglich. Wir sind in Geschichten verstrickt. Geschichten drängen über sich hinaus und wollen weitererzählt werden. Sie ziehen die Zuhörer in ihren Bann und laden sie dazu ein, sich mit ihren eigenen Erfahrungen darin zu bergen. Diese narrative Dimension ist für den Dialog des Lebens und des Verstandes gleichermaßen von Bedeutung. Der Dialog der Herzen ist demgegenüber nicht nur postkonzeptionell, sondern oft auch nonverbal. Für alle drei Typen des interreligiösen Dialogs gilt gleichermaßen, dass sie ein kontextuelles Geschehen zwischen Individuen sind. Verändert werden in erster Instanz nicht die Religionen, denen sie sich zugehörig fühlen, sondern diejenigen, die sich in den Dialogen begegnen. Einzelne dieser Grenzgänger haben ihre Reflexionen literarisch aufgearbeitet und damit Bausteine für eine sich bereits fragmentarisch abzeichnende Theologie des Dialogs bereitgestellt, die die Grenzen des eigenen Systems überschreitet. Diesem eingangs konstatierten Desiderat will ich mich nun abschließend zuwenden. Wer sich einem fremden Glauben aussetzt, macht sich verwundbar in einem doppelten Sinne: sowohl gegenüber dem fremden Glauben als auch in seiner eigenen Glaubensgemeinschaft. Die den Weg des Dialogs nicht mitgegangen sind, teilen seine Erfahrungen nicht und sind misstrauisch gegenüber dem Grenzgänger. Die Haltung der Großkirchen gegenüber dem Dialog bleibt denn auch ambivalent.59 Hans Jochen Margull, der erste Direk59
Vgl. Kenneth Cracknell, Ambivalent Theology and Ambivalent Policy. The World Council of Churches and Interfaith Dialogue 1938–1999, in: Studies in Interreligious Dialogue 9, 1999, 87–111.
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tor des Dialogprogramms des ÖRK, hat dem Dialog mit der Metapher der „Verwundbarkeit“ eine kreuzestheologische Fundierung gegeben.60 In eine ähnliche Richtung zielen Versuche, die Kenosis, die Selbstentäußerung Jesu Christi, in seiner Inbeziehungsetzung zur Welt zum theologischen Ausgangspunkt des Dialogprojekts zu machen.61 Hier wird der christozentrische Inklusivismus durchbrochen und die Christologie als möglicher Begründungszusammenhang des interreligiösen Dialoges restituiert. In der Gotteslehre hat das Relationalitätsdenken seinen Ausdruck in der Perichorese gefunden. Dieses innertrinitarische Spiel spiegelt sich im Willen des dreieinigen Gottes, sich zur Schöpfung in Beziehung zu setzen.62 Auch der theozentrische Inklusivismus ist darum relational zu denken. Perichorese, Kenosis und Kreuzestheologie sind zentrale theologische Denkfiguren des christlichen Glaubens, die es ermöglichen, den notwendigen Habitus des Respekts gegenüber dem fremden Glauben meines Gegenübers einzunehmen und Raum für Nachbarschaftlichkeit und Gastfreundschaft zu kreieren (→§ 3.4). Eine Theologie des Dialogs kultiviert denn auch mehr diesen theologischen Habitus als ein theologisches System. Der Dialog hat einen Wert an sich, er muss immer wieder erneut geführt werden, um die Grenzen zwischen den Religionen durchlässig zu halten. Der interreligiöse Dialog schafft einen dritten Raum (Homi Bhabha) im „Zwischen“ den Religionen. Ein Raum im Grenzbereich zwischen den verschiedenen Glaubenssystemen, in den jeder das Beste mitbringt, was seine Religion ihm zu bieten hat, ohne den Rückzugsraum des Heiligen aufzugeben. Doch wer sich einmal auf den Weg gemacht hat, wird verändert zurückkehren und dadurch auch Spuren in seiner eigenen Religionsgemeinschaft hinterlassen. Es ist ein Raum der Begegnung für den Dialog des Lebens, ein Raum der Weisheit für den Dialog des Verstandes und ein Raum der spirituellen Erfahrung für den Dialog des Herzens. Theologisch gesprochen ist dies der Raum der Transzendenz, der für die Religionen auf unterschiedliche Weise gefüllt ist. Der Dialog lehrt, dass die anderen auch nicht hinter ihre Wahrheitsansprüche zurückkönnen, genau 60 61
62
Vgl. Margull, Verwundbarkeit. Vgl. Hans Waldenfels, Das „Kenotische“ als Grundzug wahrer Kommunikation, in: ders., Faszination des Buddhismus. Zum christlich-buddhistischen Dialog, Mainz 1982, 138–151; Theo Sundermeier, Inkulturation und Synkretismus. Probleme einer Verhältnisbestimmung, in: Evangelische Theologie 52, 1992, 192–209, 195f; Martha T. Frederiks, We have toiled all night. Christianity in the Gambia 1456–2000, Zoetermeer 2003, 403–408. Vgl. Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980.
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wie wir.63 Die Unverfügbarkeit des Heiligen ermöglicht jedoch eine relationale Relativierung im Kontext des kulturell-religiösen Pluralismus der Spätmoderne. Ohne die Loyalität gegenüber meiner eigenen Religion anzutasten, kann ich meinem Gegenüber die gleiche Loyalität gegenüber seiner eigenen Religion zugestehen. Dies ist der erste Schritt zur Anerkennung der anderen Religionen in ihrer eigenen Identität.
4. Mission und Dialog Wer im christlichen Kontext von Dialog spricht, muss immer zugleich auch klären, in welchem Verhältnis dieser zur Mission steht.64 Mission ist dabei kein genuin christliches Phänomen. Islam und Buddhismus sind ebenfalls missionarische Religionen. In Judentum und Hinduismus spielt die Mission keine zentrale Rolle, ist aber auch nicht unbekannt. Allein die Stammesreligionen sind nicht missionarisch. Obwohl die Initiative zumeist von christlicher Seite ausgeht, bleibt das Verhältnis der Kirchen zum Dialog ambivalent. Schon ein Studium der einschlägigen kirchlichen Dokumente zum Thema zeigt, dass der Vatikan stärker fundamental-theologisch aus der Perspektive einer Theologie der Religionen argumentiert, während der ÖRK aus der Dialogpraxis schöpft und von einer Theologie des Dialogs her denkt.65 Katholischerseits markiert die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate, 1965) eine Wende.66 Mit der Feststellung: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“, folgt sie der Lehre vom Logos spermatikos. Sie öffnet sich damit einem Inklusivismus, der den Dialog überhaupt erst möglich macht. Ein 25 Jahre später vom Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog67 und der Kongregation für die Evangelisierung der Völker gemeinsam vorgelegtes Dokument verquickt Dialog und Verkündigung
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65 66 67
Vgl. Margull, Der „Absolutheitsanspruch“ des Christentums. Vgl. Volker Küster, Mission and Dialogue, in: Voices from the Third World 25, 2002, 112–119; ders., Art.: Dialog VII: Mission und Dialog, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4, Bd. 2, 821. Die orthodoxen Kirchen verhalten sich auch in dieser Hinsicht eher einsilbig. Vgl. Rahner / Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 349–359. Noch während des Konzils 1964 als Sekretariat für die Nichtchristen eingerichtet, wurde es 1989 umbenannt.
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(1991) eng miteinander im „Heilsdialog“.68 Dialog wird damit der Mission untergeordnet, wenn nicht gar selbst zur Mission. Der ÖRK hat erst 1971 ein Dialogprogramm aufgelegt. Die auf der Grundlage der Erfahrungen einer Anzahl bilateraler und multilateraler Dialogtreffen erarbeiteten Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien wurden 1979 vom Zentralausschuss angenommen. Im Jahr 2003 ergänzt durch Ökumenische Erwägungen zum Dialog zu den Beziehungen mit Menschen anderer Religionen, die allerdings außer einer Rekontextualisierung wenig hinzuzufügen hatten, ist dies noch heute die offizielle Position des ÖRK.69 Die Handreichung betont die Bedeutung der menschlichen Gemeinschaft für den Dialog, begründet ihn theologisch und grenzt sich gegen den oft in diesem Zusammenhang beschworenen Synkretismus ab (→Prolog). Vor allem aber bietet sie einen Katalog praktischer Leitlinien zum Dialog des Lebens. Der institutionellen Trennung von Mission und Dialog auf kirchlicher Ebene (Dialog neben Mission) – der Vatikan unterhält einen Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog und eine Kongregation für die Evangelisierung der Völker, der ÖRK ein Programm für den interreligiösen Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit und eine Kommission für Mission und Evangelisation – stehen drei weitere Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von christlicher Mission und Dialog zur Seite: Die beiden Extrempositionen sind durch das Postulat der Ablösung der Mission durch den Dialog im Umfeld der Pluralistischen Theologie der Religionen (Dialog statt Mission) und die Instrumentalisierung des Dialogs zu Zwecken der Mission in evangelikalen Kreisen (Dialog ist Mission) markiert. Letztendlich kann aber nur einen Dialog führen, wer selbst eine eigene Position zu vertreten hat. Dialog und Mission sind dann notwendig aufeinander bezogen (Dialog und Mission). Sie durchdringen sich wechselseitig. Die christliche Missionstheologie etwa lernt in der Folge, die Perspektiven der anderen zu integrieren. M D M D
M=D M/D
Abb. 9: Mission und Dialog 68 69
Dialog und Verkündigung, 80. Vgl. www.wcc.org.
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§ 5 Aufbruch der Dritten Welt – Der Weg der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen [EATWOT] Nur wenige Jahre nach Erscheinen der ersten bahnbrechenden Texte kontextueller Theologie – exemplarisch sei hier auf Gustavo Gutiérrez, José Miguez Bonino, James Cone, Charles Nyamiti, John Mbiti, M.M. Thomas und C.S. Song verwiesen – versammelten sich 1976 in Daressalam / Tansania 22 Repräsentanten dieser neuen Strömungen zu einem trikontinentalen „Ökumenischen Dialog von Dritte-Welt-Theologen“, der gleichzeitig zur Gründungsversammlung von EATWOT werden sollte.70 Damit war der Grundstein gelegt für einen der erfolgreichsten interkulturellen Dialoge der kommenden Decennia.
1. Eine Ökumenische Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen Am Ende der Daressalam-Tagung beschlossen die Teilnehmer ein auf fünf Jahre projektiertes intensives Konsultationsprogramm. Die in Daressalam geleistete erste Bestandsaufnahme sollte in drei Kontinentalkonferenzen vertieft werden, die in Accra / Ghana (1977), Colombo (Wennappuwa) / Sri Lanka (1979) und in Sao Paulo / Brasilien (1980) stattfanden. Auf der ersten Vollversammlung 1981 in New Delhi wurde mit der Auswertung der vorangegangenen Kontinentalkonferenzen die erste Phase des EATWOT-Prozesses abgeschlossen. 1983 trafen in Genf dann EATWOT-Vertreter zu einer Dialogkonferenz mit westlichen Theologen zusammen. Die zweite Vollversammlung in Oaxtepec / Mexico 1986 fragte im Rahmen der Evaluierung der Arbeit der ersten Dekade nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und befruchtendem Austausch zwischen den Dritte-Welt-Theologien. 70
Die Vorgeschichte von EATWOT ist wiederholt nachgezeichnet worden und soll hier nicht erneut aufgerollt werden. Vgl. Oskar K. Bimwenyi, The Origins of EATWOT, in: Voices from the Third World 4, 2 / 1981, 19–26 (Bimwenyi, einer der Initiatoren des EATWOT-Prozesses, hat anscheinend in seinem weiteren Verlauf keine Rolle mehr gespielt); Sergio Torres, Die Ökumenische Vereinigung von DritteWelt-Theologen, in: Herausgefordert durch die Armen. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen 1976–1986, Freiburg etc. 1990, 9–25, bes. 9–12; Arnulf Camps, Die Ökumenische Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen 1976–1988: ein komplizierter Bruch, in: Theologien der Dritten Welt. EATWOT als Herausforderung westlicher Theologie und Kirche, hg. von Giancarlo Collet, Immensee 1990, 183–200, bes. 183–186. Für die Phase Daressalam – New Dehli vgl. Erhard Kamphausen, Eigenständigkeit und Dialog. Zum Weg kontextueller Befreiungstheologien in Süd und Nord, in: Ökumenische Rundschau 31, 1982, 205–222.
§ 5 Aufbruch der Dritten Welt
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Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, der „Zweiten Welt“, sah sich die dritte Vollversammlung in Nairobi / Kenia 1992 mit einschneidenden kontextuellen Wandlungen konfrontiert. Die daraus resultierende Globalisierung wurde zum beherrschenden Thema der vierten Vollversammlung in Tagatay / Philippinen 1996. Die beiden folgenden Vollversammlungen in Quito / Ecuador 2001 und Johannesburg / Südafrika 2006 lassen als nun beschlussfassende Organe einen deutlichen Wandel in Funktion und Arbeitsweise erkennen. Die Delegierten nehmen Berichte entgegen, debattieren in Foren über die generativen Themen und entwickeln Perspektiven für die Arbeit der jeweils folgenden fünf Jahre. EATWOT begann als ein informeller Zusammenschluss, ihre Gründungsmitglieder waren nicht gewählt, sondern von den Initiatoren zur Mitarbeit eingeladen worden.71 Danach ist diese Organisation schnell zu einem Forum der führenden Dritte-Welt-Theologen geworden. Die Gründer gehörten überwiegend einer Generation an, die geprägt war von den Erfahrungen der Dekolonisierung bzw. der Integration ihrer Länder in die vom Ost-WestKonflikt bestimmte Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Vertreter einer religiösen Bildungselite, die in aller Regel zumindest Teile ihrer Ausbildung in den Zentren der Ersten Welt absolviert haben, sind sie sozial einer meist schmalen Mittelschicht zuzurechnen. Angesichts der Herausforderungen ihrer sich in einem rapiden Umbruch befindlichen Gesellschaften wurde die von ihnen internalisierte traditionelle westliche Theologie von einer Relevanzkrise erschüttert. Deren koloniales Erbe machte sie zudem verdächtig. Biographisch provozierte diese Erfahrung eine Identitätskrise ihrer christlichen Existenz, sie mussten ihren gesellschaftlichen Standort neu legitimieren, gerade auch theologisch. EATWOT kann daher als theologische Emanzipationsbewegung verstanden werden. Die europäischen und nordamerikanischen Theologien dominieren heutzutage in unseren Kirchen und stellen eine Weise kultureller Beherrschung dar. Man muss sie als aus der Situation dieser Länder erwachsen verstehen und kann sie deshalb nicht unkritisch übernehmen, ohne dass wir die Frage ihrer Bedeutung im Kontext unserer Länder stellen.72
Der damit einhergehende epistemologische Bruch führte zum Primat der Praxis (→§ 2.1). EATWOT ist ein aus Dritte-Welt-Initiative erwachsener 71
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Heute wird die Aufnahme neuer Mitglieder durch die Statuten der EATWOTVerfassung geregelt. Es bedarf der Empfehlung zweier EATWOT-Mitglieder. Der regionale Koordinator legt den Vorschlag dann der Exekutive vor. Vgl. Voices 24, 2 / 2001, 123–129. Schlussdokument von Daressalam, in: Herausgefordert durch die Armen, 43.
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Teil II: Dimensionen
Süd-Süd-Dialog. Das Genfer Dialogtreffen ist im Grunde Episode geblieben.73 In finanzieller Hinsicht jedoch bleibt EATWOT auf westliche Unterstützung angewiesen.74 Die Verwendung des Begriffs „Dritte Welt“ in ihrem Namen will EATWOT programmatisch verstanden wissen (→§ 2.5). Die Organisation sieht sich als Sprachrohr der armen und unterdrückten Volksmassen ihrer Länder, die von der „Rückseite der Geschichte“ aufbrechen, um ihre Rolle als „Subjekte der Geschichte“ zu reklamieren. Sergio Torres sprach daher in Bezug auf Daressalam in Anlehnung an Marie-Dominique Chenu (1895–1990) auch vom „Bandung der Theologie“.75 Dies ist ein Indiz für das politische Selbstverständnis eines Großteils der EATWOT-Theologen der ersten Generation, die am nationalen Aufbau mitwirken wollten. Die Begegnung mit säkularen Emanzipationsbewegungen hat sie in ihrem theologischen Paradigmenwechsel beeinflusst. Das Entstehen demokratischer Strukturen, das aufkeimende Nationalbewusstsein und die damit einhergehenden kulturellen Renaissancen bestimmten gleichermaßen die theologische Tagesordnung. Mit ihrem Anspruch auf eine Beteiligung bei der Gestaltung der Zukunft ihrer Länder traten die Theologen und Theologinnen in Konkurrenz zu ebenfalls westlich geschulten „abhängigen“ bürokratischen und militärischen Eliten, die von den Machtzentren kooptiert wurden und an der Ausbeutung ihrer Völker partizipierten. Trotz des Zusammenbruchs der „Zweiten Welt“ hat EATWOT an dem einmal gewählten Namen festgehalten. Bisher wurde in Fünf-Jahres-Zyklen an Programmschwerpunkten gearbeitet. Die Geschäfte werden von einem gewählten Präsidium mit Exekutivsekretär und einer Gruppe regionaler Koordinatoren geführt. Diese Or73
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Die europäische Diskussion im Vorfeld von Genf, aber auch weiterführende Initiativen dokumentiert Georg Evers, Rezeption der EATWOT-Theologie in Europa, in: Herausgefordert durch die Armen, 201–224 [= Theologien der Dritten Welt, 315–333]. Das Geld kommt vor allem aus Europa, das Evangelische Missionswerk in Deutschland (EMW), Missio Aachen und die Missionsorgane der protestantischen Kirchen in den Niederlanden und der Schweiz sind die Hauptsponsoren; daneben sind regelmäßige Kleinspenden der United Church of Canada und von amerikanischen Kirchen zu verzeichnen. Aufgrund der anhaltenden ökonomischen Krise und knapper werdender finanzieller Ressourcen ist die Unterstützung rückläufig. Vgl. Leonardo Boff / Virgil Elizondo (Hg.), Theologies of the Third World. Convergences and Differences (Concilium 199), Edinburgh 1988, 108. Die afro-asiatische Konferenz von Bandung 1955 gilt als Auftakt der Blockfreienbewegung.
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ganisationsstruktur ist auf die konziliare Verfahrensweise abgestimmt, die großen Konferenzen durch nationale und regionale Treffen vorzubereiten, um den EATWOT-Prozess auf einer möglichst breiten Basis anzusiedeln. Regionale Zusammenschlüsse und regionenübergreifend besetzte Kommissionen sollten diese Arbeitsweise befördern (→§ 5.4). Der EATWOT-Prozess war ursprünglich der konsequente Versuch, eine Theologie im Kontext der Dritten Welt zu entwerfen.76 Damit wollten sich die EATWOT-Theologen zunächst einmal gegenüber dem Hegemonialanspruch der westlichen Theologie abgrenzen. Als gemeinsamer Nenner erwies sich dabei die Erfahrung von Armut und Unterdrückung in der Dritten Welt, die in einer dependenztheorethischen Koine beschrieben wurde, die die exogenen Faktoren betont, und die Schlussdokumente in unterschiedlicher Intensität geprägt hat.77 Daressalam bringt das auf die knappe Formel: „Der Hauptgrund für das moderne Phänomen der Unterentwicklung der Völker der Dritten Welt ist die systematische Ausbeutung ihrer Völker und Länder durch die europäischen Völker.“78 Auch wenn mit der aufkommenden Globalisierung die Situation zu unübersichtlich und komplex geworden ist, um sich noch im Koordinatensystem von Nord-Süd- und Ost-WestKonflikt erklären zu lassen, bestehen weiterhin Abhängigkeiten und Machtgefälle, die die Schere zwischen Arm und Reich noch stets größer werden lassen. Der anfangs vor allem von den Lateinamerikanern forcierten sozioökonomischen und politischen „Analyse“ – was ihnen den nachhaltigen Verdacht eintrug, neue Hegemonialansprüche innerhalb der Gruppe der Dritte-Welt-Theologen zu hegen – erwuchs in der Betonung der kulturellreligiösen Dimension des Kontextes seitens der afro-asiatischen Theologen ein Gegengewicht. Der Versuch, diese beiden Aspekte zu integrieren, bietet sich als Strukturprinzip einer Darstellung des EATWOT-Prozesses an (→§ 2.1). Dabei verlaufen die Trennungslinien keineswegs nur inter-, sondern auch intrakontinental, so z.B. zwischen Afrikanischer Theologe und südafrikanischer Schwarzer Theologie oder indischer Dialogtheo76
77
78
Dies rückt den EATWOT-Prozess in die Nähe des interkonfessionellen Dialogs, der vom Gedanken der Einheit der Christenheit beseelt ist, während der interreligiöse Dialog sich per definitionem mit der Diversität der Religionen auseinandersetzen muss. Zur Dependenztheorie vgl. Andreas Boeckh, Abhängigkeit, Unterentwicklung und Entwicklung: Zum Erklärungswert der Dependencia-Ansätze, in: Handbuch der Dritten Welt I, Hamburg 21982, 133–151. Herausgefordert durch die Armen, 34.
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logie und philippinischer Theologie des Kampfes.79 Gegenstand dieses Kapitels sind in erster Linie die großen EATWOT-Konferenzen. Im Rahmen meiner Diskursanalyse werde ich verstärkt einzelne Beiträge heranziehen.80 Übersicht 11: Der EATWOT-Prozess 1976
1981
1986
1992
1996 2001 2006
79 80
Daressalam / Tansania: Gründungsversammlung 1977 Accra / Ghana: Afrikanische Kontinentalkonferenz 1979 Colombo / Sri Lanka: Asiatische Kontinentalkonferenz 1980 Sao Paulo / Brasilien: Lateinamerikanische Kontinentalkonferenz New Delhi / Indien: 1. Vollversammlung 1983 Genf, Schweiz: Dialogkonferenz mit Theologen aus der Ersten Welt Oaxtepec, Mexiko: 2. Vollversammlung
Nairobi, Kenya: 3. Vollversammlung 1994 San José / Costa Rica: Internationale Frauenkonferenz 1994–1996 New York und Seoul / Korea: Interkontinentale Dialoge Tagaytay / Philippinen: 4. Vollversammlung Quito / Equador: 5. Vollversammlung Johannesburg / Südafrika: 6. Vollversammlung
Im Katholizismus werden die Philippinen wegen vergleichbarer kolonialer Erfahrungen gelegentlich zu Lateinamerika gerechnet. Oft wurde zu diesem Zweck vor allem auf die Schlussdokumente zurückgegriffen. Vgl. z.B. die Beiträge von Arnulf Camps, Josef Amstutz und Giancarlo Collet, in: Theologien der Dritten Welt; z.T. anders Wilhelm Wille, Zum Weg der „Vereinigung von Theologen der Dritten Welt“, in: Ökumenische Rundschau 28, 1979, 138–153.
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Bei der Auswahl ging es mir darum, den interkulturellen Dialog in einem Längsschnitt nachvollziehbar zu machen.81 Ich orientiere mich dabei an den generativen Themen, die die Diskussion zum jeweiligen Zeitpunkt zu bestimmen scheinen. Dadurch werden der Fortgang und die Wechselwirkungen in der Entwicklung kontextueller Theologien gut sichtbar, zugleich verschweige ich die Konflikte, Frustrationen und Verwundungen nicht, die es eben auch gegeben hat.
2. Von Daressalam nach Genf (1976–1983) 1. Das akute Evangelium – Gründungsversammlung Daressalam / Tansania 197682 Zielsetzung des „Ökumenischen Dialogs von Dritte-Welt-Theologen“ in Daressalam war es nach den Worten seines Exekutivsekretärs Sergio Torres (Chile, *1929), „systematisch über den Kontext der Theologie in den Ländern der Dritten Welt nachzudenken“ (D 15). Das Schlusskommuniqué der Konferenz benennt drei Arbeitsschritte: – eine sozio-politische und kulturelle Analyse des Hintergrunds jeden Kontinents, – eine Beurteilung der kirchlichen Präsenz auf den drei Kontinenten, – Bemühungen um einen theologischen Ansatz in der Dritten Welt (D 140). Afrika83 Neben der Frage der nationalen und kirchlichen Eigenständigkeit stand vor allem die Standortbestimmung afrikanischer Theologie zur Debatte. Am profiliertesten erscheint sicherlich die von Charles Nyamiti (Tansania, *1931) als „militante Schule“ klassifizierte Schwarze Theologie 81 82
83
Die § 7–12 bieten dann einen thematischen Querschnitt. Sergio Torres / Virginia Fabella (Hg.), The Emergent Gospel. Theology from the Developing World. Papers from the Ecumenical Dialogue of Third World Theologians, Dar es Salaam, August 5–12, 1976, London 1978 (Seitenangaben im Text). Eine Auswahl der Referate und Dokumente von Daressalam und Accra ist unter dem Titel Dem Evangelium auf der Spur. Theologie in der Dritten Welt, hg. von Sergio Torres et.al., Frankfurt/M. 1980, erschienen. Soweit die Texte übersetzt sind, habe ich sie nach dieser Ausgabe zitiert und dies durch die Sigle D vor der Seitenangabe kenntlich gemacht. Wenn in diesem Zusammenhang von Afrika gesprochen wird, ist immer das Afrika südlich der Sahara gemeint.
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als eigene Richtung innerhalb der afrikanischen Theologie. Nyamiti steht dem pastoralen Ansatz dieser Theologen durchaus positiv gegenüber. Diese Bewegung gehört daher in jede afrikanische Theologie und verdient den Respekt, das Interesse und die Unterstützung nicht nur der afrikanischen Theologen, sondern aller, die an Recht und Freiheit des Menschen interessiert sind (D 31).
Er warnt jedoch gleichzeitig vor „unangemessenem Provinzialismus“ (ebd.). Die Südafrikaner dürfen bei allem berechtigten Engagement für politische und soziale Befreiung nicht das Projekt einer Afrikanischen Theologie aus den Augen verlieren, „die [auch] für die anderen Teile unseres Kontinents passt“ (ebd.). Nyamiti plädiert für einen „Dialog zwischen der afrikanischen, symbolischen Mentalität und dem modernen, rationalistischen Denkstil; [denn] eine mythologische Theologie taugt nicht für die afrikanische Elite und kann mit den Problemen des modernen Afrika nicht fertig werden“ (D 24). Allan Boesak84 (Südafrika, *1946) klassifiziert die Schwarze Theologie als eine Befreiungstheologie, für die Befreiung das Evangelium Jesu Christi ist. Schwarze Theologie hat eine lange Tradition. „Schwarze haben das Christentum und die biblische Botschaft immer auf ihre besondere Weise verstanden“ (135). Boesak versteht Schwarze Theologie dezidiert als afrikanische Theologie: „Das Evangelium in Begriffen traditionaler Kultur beziehungsweise innerhalb des Kontextes einer gegebenen Situation auszudrücken, muss sich nicht notwendigerweise widersprechen (148).“ Scharfe Kritik übt Boesak an James H. Cone (USA, *1938), dem er vorwirft, dass er Gott einzig für die schwarze Erfahrung beansprucht (→§ 7.3 und § 10.1): Schwarze Theologie ist Theologie der Befreiung in der Situation des Schwarzseins. Für Schwarze ist sie die einzig legitime Weise Theologie zu treiben, aber nur im Rahmen der Theologie der Befreiung [in ihren unterschiedlichen kontextuellen Ausprägungen] (154).
Der Richtungsstreit zwischen der Schwarzen Theologie und der an der kulturell-religiösen Dimension orientierten Afrikanischen Theologie klingt nur sehr verhalten an, sowohl Nyamiti als auch Boesak betonen die Einheit. 84
Zitiert nach der etwas umfangreicheren deutschen Fassung, in: Theologie im Konfliktfeld Südafrika. Dialog mit Manas Buthelezi, hg. von Ilse Tödt, Stuttgart / München 1976, 133–159 (Seitenangaben im Text).
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Asien Für Carlos H. Abesamis (Philippinen, 1934–2008) bedeutet „Theologie treiben“, über „die gegenwärtige Lebenssituation des Menschen“ im Licht des Glaubens (112) bzw. im „Kontext der Heilsgeschichte“ (123) nachzudenken. Er sieht sich darin in Einklang mit dem ursprünglichen Interesse des Christentums „an Lebenserfahrung und Ereignissen, in denen unsere religiösen Vorfahren Gottes Rettungstaten erkannten“ (112). Im Idealfall kommen die Theologen aus dem Volk selbst. Dem professionell ausgebildeten Theologen käme dann die Rolle des Technikers zu, der bestimmte handwerkliche Fähigkeiten in den Dienst dieser wahren Theologen stellt. Meine aufrichtige Hoffnung ist, dass wir Theologen aus der Mittelklasse in der Dritten Welt die nötige Aufgabe des Übergangs erfüllen und dann den Weg frei machen für die wahren Theologen des Volkes. Uns kommt es zu, uns mehr und mehr zurückzuziehen (116).85
D. S. Amalorpavadass (Indien, 1932–1990) und J. Russel Chandran (Indien, 1918–2000) sehen übereinstimmend in der multireligiösen Präsenz und der desolaten sozialen Lage die zentralen Herausforderungen an eine zukünftige indische Theologie.86 Lateinamerika Gustavo Gutiérrez (Peru, *1928) sieht bei seiner Gegenüberstellung von Befreiungstheologie und progressiver Theologie den entscheidenden Unterschied in ihrem jeweiligen sozialen Standort. Traditionelle wie progressive Theologie bestehen in Lateinamerika als die Theologie der konservativen bzw. liberalen Sektoren der herrschenden Klasse. Der Ort der Befreiungstheologie sind die einfachen Leute, die versuchen ihre eigene Geschichte zu bestimmen und ihre Hoffnungen und ihren Glauben an den armen Christus in ihren Bemühungen um Befreiung auszudrücken (242). 85
86
Vgl. Schreiter, Abschied vom Gott der Europäer, 36–41 der zwischen der Gemeinschaft als Theologen und den professionellen Theologen unterscheidet; Leonardo Boff sieht die Letzteren als die Avantgarde der Bewegung. Ich selbst neige im Anschluss an Antonio Gramsci der Rolle des Theologen als „organischem Intellektuellen“ zu. Vgl. Antonio Gramsci, The Intellectuals, in: ders., Selections from the Prison Notebooks, New York 1971, 3–23. Vgl. die EATWOT-Beiträge von Aloysius Pieris (→§ 5.2.3 und 5.2.5). Das Bekanntwerden der Dalit-Theologie wirft im Nachhinein einen Schatten auf die Dialogtheologie; Franklyn J. Balasundaram beschwert sich in einem Brief vom 7.01.1999 an die Exekutive (Mary John Mananzan) über die Diskriminierung durch seine eigenen Landsleute (im EATWOT-Archiv).
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Lateinamerika bietet im tri-kontinentalen Vergleich sicherlich das Bild größter Geschlossenheit. Die Zusammenarbeit in gesellschaftswissenschaftlich und theologisch orientierten Gremien hat hier eine gemeinsame Geschichte geschaffen, die in Afrika und Asien erst begann. Die EATWOT-Kontinentalkonferenzen sollten hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. 2. Christliches Engagement im heutigen Afrika – Aufgaben einer werdenden afrikanischen Theologie – Panafrikanische Konferenz Accra / Ghana 1977 87 Ngindu Mushete (Zaire, *1937) unterscheidet drei Strömungen, die die Theologie im modernen Afrika bestimmen. Neben der den innerafrikanischen Grundkonflikt widerspiegelnden Unterscheidung in eine an den kulturell-religiösen Fragen orientierte Afrikanische Theologie und die Schwarze Theologie Südafrikas, führt er als weitere nicht zu vernachlässigende Größe die Theologie der Missionare an, die in den jungen Kirchen auch heute noch vorherrscht. Quellen der Theologie Mit den biblischen Grundlagen der afrikanischen Theologie befasst sich John Mbiti (Kenia, *1931). Ungewöhnlich scharf erscheint seine Kritik an der Schwarzen Befreiungstheologie, der er eine solide biblische Argumentation abspricht. Diese Vernachlässigung der biblischen Begründung der Theologie der Befreiung in Afrika ist eine sehr beunruhigende Unterlassung, die dringend wiedergutgemacht werden muss, wenn dieser Zweig der afrikanischen Theologie nicht seine Glaubwürdigkeit verlieren will (D 177f.).
Anders als in Daressalam wurde diesmal die Bedeutung der afrikanischen Kultur und Religionen für die Theologie ausführlich erörtert. Mercy Amba Oduyoye (Ghana, *1934) optiert für einen „kreativen Synkretismus“ (D 202). Ein lebendiger christlicher Glaube ist für sie nur denkbar in Interaktion mit afrikanischer Kultur und Weltanschauung. Aus dem Wort „Synkretismus“ hat man ein Gespenst gemacht, um alle die zu erschrecken, die sich trauen, christliche Theologie im Kontext anderer Weltanschauungen und Religionen zu betreiben (D 208). [Aber christliche] Theologie und Praxis haben 87
Kofi Appiah-Kubi / Sergio Torres (Hg.), African Theology en Route. Papers from the Pan-African Conference of Third World Theologians, December 17–23, 1977, Accra, Ghana, Maryknoll, NY 1979 (Seitenangaben im Text).
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sich immer mit den religiösen und philosophischen Voraussetzungen der jeweiligen Zeit verbunden (ebd.).
Mit der Umwertung des pejorativ besetzten Begriffes Synkretismus hebt Oduyoye den Gegensatz zu Inkulturation auf und macht die beiden Termini gewissermaßen zu Synonymen. Eine Pionierrolle im Prozess der Einheimischwerdung misst Kofi Appiah Kubi (Ghana, 1934–1992) den „Afrikanischen Unabhängigen Kirchen“ bei, für deren Umbenennung in „Afrikanische Einheimische Kirchen“88 er votiert: „Wenn man diese Kirchen ‚unabhängig‘ nennt, klingt das etwas herablassend, so als ob es einen wichtigen Bezugspunkt außerhalb dieser Kirchen gebe (D 211).“ Die einheimischen Kirchen haben den größten Zulauf und „bilden schon eine dritte Kraft neben Protestanten und Katholiken“ (D 214). Gründe für ihre Attraktivität sieht Appiah-Kubi in ihrer Spiritualität und ihren Heilungsaktivitäten. Zulu Sofola (Nigeria, 1935–1995) und Engelbert Mveng (Kamerun, 1930– 1995) widmen sich dem breiten Spektrum afrikanischer Kultur. Sofola will das Theater nutzen, um afrikanischen Christen ihre Kultur wieder nahe zu bringen. Damit will sie einen Beitrag dazu leisten, dass „die kulturelle Renaissance, die ... [auch] die afrikanische Christenheit erfasst hat“ (126), nicht ein groteskes Zerrbild aus europäischen und afrikanischen Elementen ergibt. Für Mveng ist die schwarzafrikanische Kunst eine „kosmische Liturgie und religiöse Sprache“. Sie stellt eine dauerhafte Verbindung zwischen Menschen, Kosmos und Gott her. Darum sind alle Formen traditioneller Kunst komplementär. Es ist der menschliche Körper, der sie in der liturgischen Feier vereinigt, der Gestik, Wort, Tanz, Musik, Kleidung, Ornamentik, Tätowierung, Schminke, Masken, Architektur, Zeit und Raum zusammenbringt. Durch künstlerischen Ausdruck werden menschliche Wesen zur Seele seelenloser Dinge und die Stimme stimmloser Dinge. Sie werden Erde, Luft, Feuer und Wasser. Sie sind zugleich Körper und Seele, ein Mikrokosmos im Herzen des Makrokosmos (141).
Befreiungstrends Unter diesem Stichwort werden das Anliegen der afrikanischen Frauen, das Verhältnis von Kirche und Politik, die Schwarze Theologie in Südafrika sowie eine Bewertung der Afrikanischen Theologie von James H. Cone aus der 88
Ich weiche hier von der deutschen Übersetzung mit „bodenständige christliche Kirchen in Afrika“ (D 211) ab.
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Sicht der schwarzen Minderheit der USA zusammengefasst. Cone schildert auf eindringliche Weise die existentiellen Probleme, die er mit seiner Doppelidentität als Amerikaner und Afrikaner hat, die für ihn symptomatisch ist für das Verhältnis von Schwarzer Theologie in Amerika und Afrikanischer Theologie. Er appelliert an die gemeinsame historische Erfahrung und den gemeinsamen Glauben an Jesus Christus als Fermente für die Einheit zwischen den Theologien der Dritten Welt.89 3. Asiens Kampf um volle Menschlichkeit unterwegs zu einer relevanten Theologie – Asiatische Theologische Konferenz, Colombo (Wennappuwa) / Sri Lanka 1979 90 Ein Novum bei der Konferenz in Sri Lanka war die life-in-Phase. Mit dieser „induktiven Fallstudien-Methode“ (6) sollten die Teilnehmer auf die asiatischen Realitäten eingestimmt werden. In seiner Analyse der sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse in Asien vertritt K. Matthew Kurian (Indien) die These, dass „der Charakter der gegenwärtigen historischen Epoche für Asien, ja für die ganze Welt, ... der Niedergang des Kapitalismus und Imperialismus und der Aufstieg des Sozialismus und sozialistischer sozialer Formierungen [ist]“ (60).91 Aloysius Pieris (Sri Lanka, *1934) bringt das Verhältnis von Dritte-WeltStatus und asiatischer Identität auf die Formel: ... der gemeinsame Nenner Asiens und der übrigen Dritten Welt [besteht] in ihrer überwältigenden Armut; der spezifische Charakter, der Asien unter den anderen Ländern besonders kennzeichnet, ist seine vielgesichtige Religiosität. Dies sind zwei un89
90
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Die EATWOT-Mitgliedschaft der US-Minoritäten war lange Zeit kontrovers. Noch Cones Beitrag für die zweite Vollversammlung in Oaxtepec 1986 ist geprägt von diesem Konflikt (→§ 5.3.1). Cone seinerseits hat sich in seinem theologischen Oeuvre und seinen Beiträgen zum EATWOT-Prozess immer wieder darum bemüht, die Schwarze Theologie mit den Theologien der Dritten Welt ins Gespräch zu bringen. Virginia Fabella (Hg.), Asia’s Struggle for Full Humanity: Towards a Relevant Theology. Papers from the Asian Theological Conference, January 7–20, 1979, Wennappuwa, Sri Lanka, Maryknoll, NY 1980 (Seitenangaben im Text). Kurians Option für eine sozialistische Revolution steht in krassem Gegensatz zu den von Peter K.H. Lee (Hongkong) in Daressalam vorgetragenen Überlegungen. Dessen Votum, dass die asiatischen Nationen „nicht mehr Revolution [brauchen], sondern Aufbau des Volkes“ (D 42), war aus dem Blickwinkel der Kronkolonie Hongkong gesprochen, einer Enklave politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität. Lee ist denn auch in den 1990ern aus EATWOT ausgetreten (Korrespondenz findet sich im EATWOT-Archiv).
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trennbare Realitäten, die in ihrer wechselseitigen Durchdringung das darstellen, was man den asiatischen Kontext nennen könnte, der die Matrix jeder wahrhaft asiatischen Theologie bildet (131).
Carlos H. Abesamis wandelt Pieris Diktum dahingehend ab, dass „der ‚Dritte-Welt-Status‘ das Substantiv ist, während ‚asiatisch‘ das Adjektiv ist“ (134), darin spiegelt sich seine philippinische Situation, in der er sich nicht mit einem Minderheitenstatus in einer multireligiösen Gesellschaft auseinandersetzen muss. In engem Bezug auf den philippinischen Kontext und in Anlehnung an die Vorbereitungstreffen und Diskussion der philippinischen Delegation, skizziert er den methodologischen Rahmen für eine asiatische Theologie folgendermaßen: Theologische Reflexion basiert (1.) auf der gegenwärtigen Lebenssituation und der Geschichte, die (2.) gewissenhaft und wissenschaftlich analysiert und (3.) im Licht des biblisch-geschichtlichen Glaubens betrachtet werden, (3a) unter gleichzeitiger Zuhilfenahme einheimischer Weisheit oder einheimischer Religion. Eine solche theologische Reflexion muss (4.) zu veränderndem Handeln führen. Die Subjekte theologischer Reflexion und die Schöpfer einer authentischen Philippinotheologie sind (5.) die Armen an den Graswurzeln selbst (128).
Henriette Marianne Katoppo (Indonesien, 1943–2007) schildert ihr AndersSein als Frau in der indonesischen Gesellschaft zunächst aus biographischer Perspektive.92 In ihren theologischen Überlegungen arbeitet sie die femininen Elemente des christlichen Gottesbildes heraus. Maria ist für sie „das neue menschliche Wesen (Mann – Frau), empfänglich vor Gott, der ihn / sie ruft imago Dei zu sein: mitfühlend und frei“ (150). Katoppo ist damit eine der ersten Frauen, die sich in EATWOT profiliert zu Wort meldet (→§ 5.2.3). Stellungnahmen Sergio Torres sieht die lateinamerikanische Diskussion vor allem durch die Frage nach der Bedeutung von Kultur und Religiosität bereichert. Für die Theologie der Befreiung waren die lateinamerikanische Kultur und die Volksreligiosität bisher zweitrangig (194). Das Projekt einer Theologie der Dritten Welt schränkt Torres aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen ein: Es scheint, dass obwohl wir einige gemeinsame Elemente einer Theologie in den armen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ feststellen können, wir momentan nicht von 92
Vgl. ausführlicher Marianne Katoppo, mitleiden – mithandeln. Theologie einer asiatischen Frau, Erlangen 1981.
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einer Theologie der Dritten Welt sprechen können. Es wird besser sein von den Theologien der Dritten Welt zu sprechen (195f.).93
Durch die Kontinentalkonferenzen begann EATWOT ihre eigene Pluralität zu entdecken. 4. Ekklesiologie der christlichen Gemeinschaften des Volkes – Lateinamerikanische Kontinentalkonferenz Sao Paulo / Brasilien 1980 94 Die lateinamerikanische Konferenz hatte erstmals einen thematischen Schwerpunkt. Im Zentrum des Interesses der Hauptreferate standen die christlichen Basisgemeinschaften. Ein weiteres Spezifikum dieser Konferenz waren die drei von EATWOT organisierten Vorkonferenzen, die sich mit den Belangen der Frauen und der ethnischen Minderheiten, den einheimischen Völkern und Afro-Lateinamerikanern, befassten. Christliche Präsenz in Situationen der Unterdrückung In den in Auswahl abgedruckten Referaten und Erklärungen der Vorkonferenzen bekam die Befreiungstheologie eine ‚schlechte Presse‘. Die Frauen und die ethnischen Minderheiten forderten Gehör und eine angemessene Würdigung ihrer Belange im Rahmen der Theologie der Befreiung. Ob Miguel Concha (Mexiko) ihrem Anliegen durch die von ihm propagierte Ausweitung des Klassenbegriffes über den rein ökonomischen Bereich hinaus Rechnung trägt, blieb umstritten. Viele der Betroffenen sahen seinen Versuch der Integration der ethnischen Fragen in die „generelle Frage des Klassenkampfes“ als Vereinnahmung. Der Duktus seiner Argumentation liefert diesem Verdacht durchaus Vorschub: „Anstrengungen und Kämpfe eingeborener Gruppen, die von den Kämpfen anderer Arbeiter isoliert sind, sind zum Scheitern verurteilt (61).“ Christliche Basisgemeinden Die Armen, die in die lateinamerikanische Geschichte hereinbrechen und sich als ihre eigentlichen Subjekte bemerkbar machen, sind zugleich gläubige Christen, so Gustavo Gutiérrez. Ihre Basisgemeinden sind zu Zellen der Evangelisierung geworden (→§ 10.1). Die dritte Lateinamerikanische Bi93 94
Vgl. Emergent Gospel, x. Sergio Torres / John Eagleson (Hg.), The Challenge of Basic Christian Communities. Papers from the International Ecumenical Congress of Theology, February 20-March 2, 1980, Sao Paulo, Brazil, Maryknoll, NY 31988 (Seitenangaben im Text).
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schofskonferenz in Puebla (1979) sprach vom „evangelisatorischen Potential der Armen“ (120). „Diese tiefe, gegenseitige Beziehung zwischen Evangelisierung und Befreiung zeigt sich zuerst und vor allem auf der konkreten Ebene im realen Leben der armen, ausgebeuteten Christen (ebd.).“ Ein wichtiges Korrektiv ist in diesem Zusammenhang die These von Leonardo Boff (Brasilien, *1938), dass die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse auch die religiöse Produktion bestimmen, die die Doppelfunktion des christlichen Glaubens in der lateinamerikanischen Wirklichkeit ins Gespräch bringt. In Lateinamerika haben die asymmetrischen Produktionsverhältnisse des Kapitalismus eine Klassengesellschaft entstehen lassen. Diese Klassenstruktur spiegelt sich auch in der Kirche. Je nachdem, mit welcher Klasse die Kirche sich arrangiert, hat sie eine das System stabilisierende oder eine revolutionäre Funktion. Die Offenbarung Jesu Christi „bleibt das immerwährende Kriterium, mit dem wir die Kirche, ihre Praktiken, ihre Diskurse und ihre religiösen Produktionsverhältnisse bewerten“ (130). Anders als Carlos H. Abesamis (→§ 5.2.1) hält Boff die Intellektuellen für die Autoren einer neuen Theologie. Einerseits helfen diese Intellektuellen aufgrund ihrer Verbindungen mit den unterdrückten Klassen diesen, ihre große Sehnsucht nach Befreiung wahrzunehmen, zu systematisieren und ihr Ausdruck zu verleihen. Andererseits nehmen sie diese Hoffnungen innerhalb eines religiösen (theologischen) Projektes auf, indem sie ihre Kohärenz mit den fundamentalen Ideen Jesu und der Apostel aufzeigen. Dank dieses Vorstoßes können sich bedeutende Segmente der institutionalisierten Kirche mit den unterdrückten Klassen verbünden und so das Entstehen einer Kirche des Volkes [...] ermöglichen (133).
Boff nennt fünfzehn Charakteristika einer solchen Kirche, die sich in den unterdrückten Klassen inkarniert hat. Egalitäre Machtverhältnisse gehören ebenso dazu wie das, was man im Protestantismus das „Priestertum aller Gläubigen“ nennen würde. Die Basiskirche steht in der Tradition des Frühen Christentums und ist integraler Bestandteil der Weltkirche. José Míguez Bonino (Argentinien, *1924) relativiert die Bedeutung der Kirche in dem Sinne, dass er sie immer „in Relation zu“ verstanden wissen will. Der Sinn der Kirche liegt nicht in ihr selbst begründet, sie ist ex-zentrisch.95 Sie erfüllt ihre Funktion, wenn sie im Leben des Volkes Gestalt annimmt. Vor diesem Hintergrund betont Jon Sobrino (El Salvador, *1938) in seinen Überlegungen zum kirchlichen Zeugnis in Lateinamerika die Notwendigkeit der Martyriumsbereitschaft. Dabei sind nicht nur diejenigen 95
Vgl. die Ekklesiologie von Johannes Christiaan Hoekendijk (→§ 1.2).
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Christen Märtyrer, die wegen ihres Eintretens für die Armen ihr Leben lassen, sondern auch die oft ungenannten Opfer, die die Unterdrückung im Volk fordert. Sobrino spricht bei Letzteren vom „materiellen“ Martyrium (176). Stellungnahmen Preman Niles (Sri Lanka), María Iglesias, Cornel West, James H. Cone (alle USA), Ruvimbo Tekere (Simbabwe) und Alfred Reis (Südindien) kritisieren einhellig die Vernachlässigung der Belange der ethnischen Minderheiten durch die Befreiungstheologen vorwiegend europäischer Abstammung. Iglesias betont, dass die nordamerikanischen Hispanics Teil der lateinamerikanischen Völkerfamilie sind. Sie fordert ein, dass neben den Stimmen der Eingeborenen und Schwarzen auch ihre eigene Diasporasituation mehr Gehör finden müsse.96 5. Der Aufbruch der Dritten Welt. Eine Herausforderung an die Theologie – 1. Vollversammlung Neu Delhi / Indien 198197 Im EATWOT-Jargon bezeichnet der englische Begriff irruption, den ich im Deutschen in der Regel mit „Aufbruch“ wiedergebe, zugleich den theologischen Neuaufbruch in der Dritten Welt wie auch ihr Eindringen bzw. ihren „Einbruch“ in die angestammte Domäne der akademischen Theologie in der westlichen Welt. Der Schwerpunkt lag in Neu Delhi auf der Erörterung der Gemeinsamkeiten der Dritte-Welt-Theologie. Das Schlussdokument zieht das Fazit: „Wir gelangten zu der Erkenntnis, dass es wohl noch verfrüht wäre, von einer Synthese der vergangenen fünf Jahre zu sprechen oder die DritteWelt-Theologie als ein geschlossenes Ganzes darzustellen.“98 Auf der nächsten Vollversammlung in Oaxtepec / Mexiko 1986 sollte es mit der programmatischen Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Wechselwirkungen zur endgültigen Bejahung eines Pluralismus von Dritte-Welt-Theologien kommen.
96
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Die Afro-Amerikaner, prominent vertreten durch James Cone, waren die erste US-Minorität, die ihre Stimme in EATWOT zu Gehör brachten, gefolgt von den Hispano-Amerikanern und den Indianern (Native Americans), als Letztes kamen die Amerikaner asiatischer Abstammung hinzu. Virginia Fabella / Sergio Torres (Hg.), Irruption of the Third World. Challenge to Theology. Papers from the Fifth International Conference of the Ecumenical Association of Third World Theologians, August 17–29, 1981, New Delhi, India, Maryknoll, NY 1983 (Seitenangaben im Text). Herausgefordert, 115.
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Gemeinsamkeiten der Dritte-Welt-Theologien Die Gemeinsamkeiten liegen neben der allgemein geteilten Erfahrung von Armut und Unterdrückung vor allem auf methodologischem Gebiet. Aloysius Pieris Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei der Feststellung, dass „der Einbruch der Dritten Welt ... zugleich auch der Einbruch [irruption] der nichtchristlichen Welt [ist]“ (161).99 Die große Mehrheit von Gottes Armen erfasst ihr tiefstes Interesse und symbolisiert ihren Kampf um Befreiung nur in der Ausdrucksweise von nichtchristlichen Religionen und Kulturen. Deshalb ist eine Theologie, die nicht zu oder durch dieses nichtchristliche Volkstum (peoplehood) spricht, ein esoterischer Luxus einer christlichen Minderheit. Deshalb brauchen wir eine Theologie der Religionen, die die bestehenden Grenzen der Orthodoxie erweitert, sobald wir in die befreienden Ströme der anderen Religionen und Kulturen einsteigen (161f.).
Pieris will die nichtchristlichen Religionen und Kulturen zur Matrix einer Theologie der Dritten Welt machen. Er versäumt es jedoch nicht, gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass diesen immer ein „Doppelaspekt von Sünde und Gnade“ (163) eigen ist, der sich für ihn exemplarisch in „ihrer Antwort auf das Phänomen der Armut“ (ebd.) zeigt. Wobei auch dieses „in sich selbst wieder ambivalent ist“ (ebd.). Der strukturellen Armut der unterdrückten Massen Asiens, die allzu oft religiös sanktioniert wird, steht eine freiwillige Armut gegenüber, deren Heilswirkung davon abhängt, ob sie „sowohl als persönliche Wahl (die monastische Praxis) als auch als politisches System (die sozialistische Praxis)“ (ebd.) praktiziert wird. In seinen beiden großen EATWOT-Referaten (→§ 5.2.3) nennt Pieris zwar die Relevanzkriterien für eine asiatische Theologie, sagt aber nichts darüber, wie ihre christliche Identität verifizierbar ist. Hier setzt J. Severino Croatto an (→§ 2.2). Mit seinen hermeneutischen Überlegungen will er der befreiungstheologischen Praxis einen theoretischen Überbau geben. Ausgehend von linguistischen und semantischen Theorien vertritt Croatto die These, dass bei der Produktion eines Textes sowohl der ursprüngliche Emittent und der Empfänger als auch der ihnen gemeinsame Verstehenshorizont verlorengehen. Die dadurch entstandene „Autonomie des Textes“ öffnet ihn der Polysemie. Jede Lektüre des Textes wiederum produziert Sinn und legt ihn dadurch fest. „Es ist der Text der ‚spricht‘ – aber sowohl, was er sagt, als auch, worüber er es sagt, ändert sich von Lektüre zu Lektüre“ (146). „Ein Text geht immer von irgendeiner Form der Erfah99
Zitiert nach Pieris, Theologie der Befreiung in Asien, 161–199 (Seitenangaben im Text).
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rung aus“ (150). Croatto spricht hier von Ereignis. Erfahrung / Ereignis und Text sind daher gleichermaßen Gegenstand seiner Hermeneutik. Croattos Diktum, dass „die Hermeneutik der Texte von den Texten selbst bestimmt“ wird (165), gibt Anlass zu der Frage nach einem gültigen Kriterium für den produzierten Sinn. Dies kann nur der Text selbst sein. Der hermeneutische Zirkel muss fortlaufend abgeschritten werden, nicht nur zum Zwecke ständig neuer Sinnproduktion, sondern auch zur ständigen Selbstkontrolle. Stellungnahmen Ungewöhnlich scharf – und bisher so nicht vorgetragen – fällt die Kritik von Engelbert Mveng aus: Unsere Delegation wurde in der Funktion von Zuhörern eingeladen. Es ist offensichtlich, dass Afrika nicht ernst genommen wird. Sogar in der Dritten Welt selbst, in einer Vereinigung von Theologen, bleibt Afrika der ewig marginalisierte – um nicht zu sagen vergessene – Kontinent (218).
Dies obwohl EATWOT ursprünglich aus afrikanischer Perspektive erwachsen ist (217) und zwei der bisherigen EATWOT-Konferenzen in Afrika stattgefunden hatten. Mveng führte hier auch den Begriff der „anthropologischen Armut“ ein (220), mit dem er ähnlich wie Pieris die sozioökonomische und politische und die kulturell-religiöse Dimension zusammenbindet. Es geht darum, dass menschliche Wesen nicht nur dessen beraubt werden, was sie besitzen, sondern all dessen, was ihr Sein und ihre Essenz konstituiert – ihrer Identität, Geschichte, ethnischen Wurzeln, Sprache, Kultur, Glaube, Kreativität, Würde, Stolz, Ambitionen, des Rechts auf Meinungsäußerung (220).
Mercy Amba Oduyoye bewertet die Konferenz aus der Sicht der Frauen. Sie moniert, dass auch in den progressiven Kreisen der Dritte-Welt-Theologen die Gleichberechtigung der Frauen noch immer wenig Fortschritte macht. Die längst überfällige Antwort auf die anhaltende Ignoranz ist der von den Frauen provozierte „Aufbruch im Aufbruch“ (247) – Oduyoye verweist ausdrücklich auf eine erneute Intervention von Marianne Katoppo –, der sich nun langsam auch in der EATWOT-Diskussion abzeichnet (→§ 2.2 und 5.4). Im Nachhinein hat sich diese kurze Stellungnahme von Oduyoye als eine Wasserscheide im interkulturellen Diskurs erwiesen.
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6. Theologische Praxis in einer geteilten Welt – Dialogkonferenz, Genf / Schweiz 1983100 Genf war keine Konferenz der großen Referate. Der Schwerpunkt lag auf der Arbeit in Kleingruppen und Plenarsitzungen. Das Programm sah drei Phasen vor: „Geschichten erzählen (story telling), soziale Analyse und die Reformulierung von Methode und Inhalt der Theologie“ (XIII). Verwirrung seitens der Dritte-Welt-Theologen scheint es wegen der Auswahl der Teilnehmer aus der Ersten Welt gegeben zu haben, die vornehmlich aus kirchlichen Gruppen und Basisbewegungen kamen.101 Die Standortbestimmung europäischer Theologie durch die wenigen angereisten international bekannteren Theologen fügte sich in ihrer Tendenz in den von EATWOT abgesteckten Rahmen, so blieb man in Genf gewissermaßen unter sich. Johann Baptist Metz (Deutschland, *1928) proklamiert das Ende der eurozentrischen Ära des Christentums. „Die katholische Kirche der Gegenwart hat keine Dritte-Welt-Kirche, sie ist eine DritteWelt-Kirche mit europäisch / westlichem Ursprung“ (89). Diese polyzentrische Weltkirche muss zu einer Kultur des Widerstands und der Befreiung finden, nur so kann sie zu einer Kultur des Friedens beitragen. Dorothee Sölle (Deutschland, 1929–2003) konstatiert, dass „Leben in den reichen Ländern der Ersten Welt die Teilnahme an Apartheid durch Lebensstil und Ideologie“ (82) sei. Jim Wallis (USA, *1948) sieht in der Spiritualität der Befreiung ein Moment der Versöhnung jenseits aller Konflikte. Seine Feststellung, „dass [...] im Gottesdienst, mehr als in der Analyse, [...] unsere Gemeinschaft am erkennbarsten und spürbarsten war“ (150), ist eine Einschätzung, die ähnlich auch von Don Prange (USA, *1932) formuliert wurde (157). Diese punktuell heilsame Erfahrung von spiritueller Gemeinschaft darf jedoch nicht über die stets weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich hinwegtäuschen. Die dringend erforderliche „Umkehr“ des reichen Nordens zu den Armen und Unterdrückten der Dritten 100 Virginia Fabella / Sergio Torres (Hg.), Doing Theology in a Divided World. Papers from the Sixth International Conference of the Ecumenical Association of Third World Theologians, January 5–13, 1983, Geneva, Switzerland, Maryknoll, NY 1985 (Seitenangaben im Text). Vgl. Erhard Kamphausen, „Theologische Praxis in einer geteilten Welt“. Beobachtungen und Anmerkungen zu einem Dialog zwischen Theologen der Dritten und Ersten Welt, in: Ökumenische Rundschau 32, 1983, 208–224. 101 Vgl. Brief Elizondo vom 3.08.1982 an Sergio Torres (EATWOT-Archiv box 21 f 2).
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Welt ist bisher ausgeblieben.102 Das Gespräch ist denn auch nie fortgesetzt worden.103
3. Von Oaxtepec nach Nairobi (1986–1992) 1. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und befruchtender Austausch zwischen Dritte-Welt-Theologien – 2. Vollversammlung, Oaxtepec / Mexiko 1986104 Das Schlussdokument resümiert die erneute Bestandsaufnahme von Oaxtepec treffend: Im Gegensatz zu den Jahren 1976–1981, die für die Dritte Welt Jahre des Aufschwungs waren, in denen viele Hoffnungen aufblühten, waren die Jahre von 1981–1986 für die meisten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eher schwierig.105
Die heuristische Vorentscheidung, nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und befruchtendem Austausch zu fragen, hat sich bewährt und mit Sicherheit das Ihre dazu beigetragen, die Positionen zu klären und die Diskussion voranzutreiben.106 Gemeinsamkeiten Mary Rosario-Battung (Philippinen, *1943) nennt sechs Gemeinsamkeiten, die sich allesamt auf den sozio-ökonomischen und politischen Kontext beziehen. Es sind dies die historische Erfahrung von Kolonialismus und mo102 Vgl. dazu exemplarisch das dritte Kairosdokument „Der Weg nach Damaskus. Kairos und Bekehrung“ (EMW-Informationen 84), Hamburg 1989 (→§ 12), dessen ganze Argumentation in einem Ruf zur Umkehr kulminiert (28–30) und das Grundsatzpapier von Brot für die Welt „Den Armen Gerechtigkeit“, Stuttgart 1989, das eine „Diakonie der Versöhnung“ (17) propagiert. 103 Eine Ausnahme bilden die EATWOT-Frauen und ihr Dialog mit westlich-feministischen Theologinnen. 104 K. C. Abraham (Hg.), Third World Theologies. Commonalities and Divergences. Papers and Reflections from the Second General Assembly of the Ecumenical Association of Third World Theologians, December 1986, Oaxtepec, Mexico, Maryknoll, NY 1990 (Seitenangaben im Text). 105 Herausgefordert durch die Armen, 174. 106 Ich ziehe es vor von interkulturellen Lernchancen zu sprechen. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich auch in der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung, die anfangs eine vergleichende Ekklesiologie praktizierte, die nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den verschiedenen Konfessionen, Denominationen und Gruppen fragte.
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dernem Neokolonialismus (2. / 3.), die allgegenwärtige Armut (1.) und politische Unterdrückung (4.), die in Frage gestellt werden durch die sozialistische Option (5.) und die Volksbewegungen (6.). Diesem Konfliktfeld darf sich eine relevante Theologie nicht entziehen. Einen anderen Akzent setzt Mercy Amba Oduyoye, die besonders auf die theologischen Gemeinsamkeiten eingeht. Speziell für Afrika und Asien sieht sie diese in der Herausforderung durch den multireligiösen Kontext, „der nach einer bewussten Berücksichtigung nichtchristlicher Theologien bei der Abfassung theologischer Äußerungen, insbesondere solcher hinsichtlich der Christologie“ (102) verlangt. Biblische Hermeneutik, der Primat der Praxis und die Forderung nach Befreiung sind weitere theologische Gemeinsamkeiten. Neu ist das Bekenntnis zur Kirche, das ein Problem anspricht, das in den offiziellen EATWOT-Veröffentlichungen bisher kaum thematisiert wurde, nämlich die Rolle der EATWOT-Theologie und ihrer Vertreter in ihren Kirchen. Die Jungen Kirchen sind noch immer von der traditionellen, oft pietistischen bzw. evangelikalen Theologie der Missionare geprägt. Die EATWOT-Theologinnen und Theologen sind je nach Blickwinkel eine radikale Minderheit oder eine Avantgarde, die ständig dem Ideologie- bzw. Häresieverdacht ausgesetzt ist. Dennoch betonen sie mit Nachdruck ihre Zugehörigkeit zu diesen Kirchen. José Miguez Bonino sieht die grundlegende Gemeinsamkeit in der DritteWelt-Erfahrung. Während die „Gemeinsamkeit“ der Zugehörigkeit zur Dritten Welt sich besser erklären lässt, wenn wir uns mit den mehr „objektiven“ oder „makrostrukturellen“ Dimensionen (ökonomische Beherrschung, Abhängigkeit, Ausbeutung) befassen, ist die „Vielfalt“ sehr viel stärker in den „subjektiven“ Dimensionen (Kultur, religiöse Erfahrung) sichtbar. Aber die zwei Aspekte lassen sich nicht trennen und jegliche Analyse oder Darstellung der „Dritte-Welt-Erfahrung“ muss danach streben, es als ein Ganzes zu sehen (106f.).
Dabei kommt es zu einer Konfrontation mit der westlichen Moderne: Die westliche Technologie mitsamt der dazugehörigen Fortschrittsideologie drängt in Länder, die im Zuge ihrer Nationwerdung eine kulturelle Renaissance erleben, die eine Suche nach der im Kolonialismus beschädigten eigenen Identität ist (107). Unterschiede Tissa Balasuriya (Sri Lanka, *1924) hält die Unterschiede für kontext-abhängig. In Bezug auf Asien gilt dies vor allem in historischer und sozio-kultureller Hinsicht. Im religiösen Pluralismus Asiens ist die christliche Lehre,
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„dass Gottes Offenbarung auf die Bibel und (im katholischen Bereich) auf die christliche Tradition beschränkt ist“ (114), radikal hinterfragt worden. „Die heiligen Texte anderer Religionen können ebenfalls Quelle der Offenbarung Gottes sein“ (ebd.). Es ist einer der theologischen Ausgangspunkte von EATWOT, dass die Armen Subjekte der Theologie sind. In Asien sind diese aber fast ausschließlich Anhänger nichtchristlicher Religionen und auch „die Hauptträger sozialen Wandels und menschlicher Befreiung in Asien (außerhalb der Philippinen) sind Gruppen, die sich zu Volksbewegungen formiert haben ohne direkten Bezug auf den christlichen Glauben“ (115). In Anlehnung an das christliche lateinamerikanische Vorbild der Basisgemeinden (basic Christian communities) schlägt Balasuriya daher vor, von „menschlichen Basisgemeinschaften (basic human communities)“ zu sprechen, die durch ihre religiöse Pluralität gekennzeichnet sind (→§ 10.3). Diese interreligiöse Existenz und der ständige Dialog sind zu Quellen einer asiatisch christlichen Theologie geworden, die in manchen Bereichen zu einer Dedogmatisierung (117) geführt haben. Auch Sergio Torres sieht die Unterschiede zunächst im religiös-kulturellen Sektor. Er schlägt selbstkritische Töne an, wenn er die Lateinamerikaner als „die am meisten verwestlichten Menschen in der Dritten Welt“ (121) bezeichnet. Erst durch das Gespräch mit den Theologen aus Afrika und Asien haben sie ihre Minderheiten, die einheimischen Völker und Schwarzen, ernst genommen und sich mit der Volksreligiosität auseinandergesetzt. Befruchtender Austausch James H. Cones Beitrag ist mehr ein Pamphlet als eine Erörterung der gegenseitigen Bereicherung. Ähnliches gilt für die feministische Streitschrift von Sun Ai Lee Park (Korea, 1930–1999). Cone zieht Parallelen zwischen der Behandlung der schwarzen Minderheit in den Vereinigten Staaten mit ihrer Behandlung in EATWOT: Ihre doppelte Identität diskriminiere sie in den USA genauso wie unter ihren EATWOT-Kollegen und ihre Belange seien daher „zweitrangig gegenüber den Aktivitäten von EATWOT in Asien, Afrika und Lateinamerika“ (129). Elsa Tamez (Mexiko *1950; lebt und arbeitet in Costa Rica) hat ein feuriges Manifest für die Solidarität innerhalb der Dritten Welt verfasst. Sie wendet sich gegen die noch stets anhaltende massive Kritik an den Lateinamerikanern: „Als eine Vertreterin Lateinamerikas war ich überrascht, die Kritik an lateinamerikanischer Theologie und den lateinamerikanischen Theologen zu hören. Es scheint mir, dass diese Kritik nicht ausreichend in der Realität gründet“ (134).
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Insgesamt erfüllten die Beiträge nur bedingt ihre Funktion. Persönliche Verletzungen und Polemik überdecken das Erreichte. Die Afrikaner, die indischen Dalit-Theologen, aber auch die Frauen fühlten sich aus den unterschiedlichsten Gründen ausgeschlossen. Den Lateinamerikanern wurden immer wieder Hegemonialansprüche unterstellt. Die Stellungnahmen zu den verschiedenen Konferenzen sind eine wahre Fundgrube solcher schwelender Konflikte und Verwundungen. Bei den aktuellen Stellungnahmen zur Oaxtepec-Konferenz verdient das Votum von Frank Chikane (Südafrika, *1951) besondere Aufmerksamkeit. Einerseits stellt er einen gewissen Fortschritt in der Debatte um Gemeinsamkeiten und Differenzen der DritteWelt-Theologien fest, andererseits aber bemerkt Chikane eine schmerzliche Lähmung, die er auf zwei Ursachen zurückführt: eine universalistische und eine exklusivistische Tendenz. Erstens haben alle Dritte-Welt-Kontinente (Afrika, Asien und Lateinamerika) und die Minoritäten in Nordamerika ihre Theologien nahezu unabhängig voneinander entwickelt, alle in dem Glauben, dass ihre die authentische Theologie sei, die allumfassende Theologie ... Das zweite Problem ist, dass die verschiedenen Dritte-Welt-Theologien, geleitet von ihrem speziellen Anliegen, mehr Nachdruck auf eine bestimmte Form der Unterdrückung legen, ja alle übrigen Formen der Unterdrückung sogar ausschließen (150).
So haben die Lateinamerikaner vor allem die sozio-ökonomische und politische, die nordamerikanischen und südafrikanischen Schwarzen Theologen die rassistische Unterdrückung und die afrikanischen und asiatischen Theologen die kulturell-religiösen Faktoren betont, alle aber haben die sexistische Unterdrückung ignoriert. 2. Spiritualität der Dritten Welt. Ein Schrei nach Leben – Dritte Vollversammlung Nairobi, Kenia 1992107 Die erste Vollversammlung nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa, der „Zweiten Welt“, der seine größte Symbol107 K.C. Abraham / Bernadette Mbuy-Beya (Hg.), Spirituality of the Third World. A Cry for Life. Papers and Reflections from the Third General Assembly of the Ecumenical Association of Third World Theologians, January, 1992, Nairobi, Kenya, Maryknoll, NY 1994 (Seitenangaben im Text). Der Band macht eine Reihe der bereits in den von EATWOT herausgegebenen Voices veröffentlichten Vorbereitungstexte (vgl. Voices 14. Jg. Heft 2 / 1991) und Referate (vgl. Voices 15. Jg. Heft 1/1992) der 3. Vollversammlung, hier noch ergänzt durch zwei analytische Beiträge zur Situation der Dritten Welt, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Dies sollte der letzte durch Orbis Books herausgegebenen EATWOT-Konferenzband bleiben.
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kraft im Fall der Berliner Mauer (1989) entfaltete, war vor das Problem des daraus resultierenden Endes auch der „Dritten Welt“ gestellt (vgl. 20).108 Der alte Traum von der einen Welt ist zum Alptraum geworden (ebd.). Die beiden unter der Rubrik „Der sich wandelnde Kontext der Dritten Welt“ in den Konferenzband aufgenommenen Essays (Franz J. Hinkelammert [Deutschland, *1931, lebt und arbeitet in Zentralamerika] und Lawrence Surendra / Indien) entfalten das von Pablo Richard (Chile, *1939; lebt und arbeitet in Costa Rica) in seinem Nairobi-Referat bereits angerissene Krisenszenario. Hinkelammert gelingt es, die Symptome in drei Thesen zu verdichten: • Mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus entfällt die Alternative, die den Kapitalismus gezwungen hatte, sich als „Entwicklungskapitalismus“ (Pablo Richards: development capitalism) ein menschliches Gesicht zu geben. Der Rückfall in einen wilden Kapitalismus (wild / savage capitalism) bedroht das Überleben der Menschheit und das Ökosystem. • Aufgrund der Wandlungen in den Industriegesellschaften sind Produktion und Arbeitsmarkt entkoppelt. Große Teile der Bevölkerung der Dritten Welt fallen aus dem System heraus. Wenigstens noch ausgebeutet zu werden, wird dadurch geradezu zu einem Privileg. • Die Entwicklung der Dritten Welt erscheint unter diesen Vorzeichen aus der Perspektive der Ersten Welt als kontraproduktiv und wird aktiv beeinträchtigt. Surendra spricht in diesem Zusammenhang von der „Bretton Woods Trinität“ (31): Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), die als willkommenes Instrumentarium für die Durchsetzung der Interessen der Ersten Welt eingesetzt werden. Es schien in Nairobi Konsens zu sein, dass neue Alternativen aus der zivilen Gesellschaft (civil society, 98f.), etwa aus den Basisbewegungen, erwachsen müssen. Der spezifisch christliche Beitrag wird dabei im Motivationspotential der Spiritualität verstanden im Sinne der Dialektik von „Kampf und Kontemplation“ gesehen. Frank Chikane sieht die Aufgabe der EATWOT in der Suche nach den Spuren des Geschichtshandeln Gottes. Gott handelt und unsere Aufgabe ist es, uns „bekehren“ und mit hineinnehmen zu lassen in Gottes Mission für die Welt. Wir müssen einfach teilnehmen am sich bereits 108 Vgl. Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt/M. 1992.
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vollziehenden befreienden Handeln Gottes in diesem geschichtlichen Prozess der Rettung (salvation) der Welt (175).
Der indianische Theologe George E. Tinker (USA, *1944) spricht im Hinblick auf die ethnischen Minderheiten (indigenous peoples), denen er innerhalb des EATWOT-Prozesses hier erstmals eine Stimme verleiht, von einer Vierten Welt „der am meisten Unterdrückten“ (119). Er grenzt sich gegenüber der Befreiungstheologie, in konkreter Auseinandersetzung mit Gustavo Gutiérrez, vor allem in zweierlei Hinsicht ab: (1.) Der marxistische Klassenbegriff wird der kulturellen Identität der einheimischen „Völker“ bzw. „Nationen“ nicht gerecht. (2.) Dem geschichtstheologischen Gottesbild setzt Tinker ein schöpfungstheologisches entgegen (→§ 12.2). Die auf der 2. Vollversammlung in Oaxtepec / Mexiko (1986) noch deutlich artikulierten Gegensätze zwischen den verschiedenen kontextuellen Theologien sind in den Nairobi-Dokumenten in den Hintergrund getreten. Der „Schrei nach Leben“ ist die zentrale theologische Metapher der Konferenz. Gott ist in diesem Lebenswillen der Dritten Welt gegenwärtig. In Gottes Schöpfung soll sich das Leben in seiner Fülle entfalten. Wer das Leben bedroht, stellt sich gegen Gott.
4. Von Nairobi nach Johannesburg (1992–2006) In Nairobi wurde James Cone damit beauftragt, drei interkontinentale Dialoge zu organisieren. Dass sollte EATWOT-Mitgliedern die Möglichkeit geben, besser kennenzulernen, was ihre Kollegen und Kolleginnen in den jeweils anderen Regionen beschäftigt.109 Zwei Jahre später (1994) beschloss die Exekutive zudem eine Selbstevaluierung von EATWOT unter Federführung von Julio de Santa Anna.110 Vierte Vollversammlung Tagaytay, Philippinen 1996 Nachdem der Ökonom und Laientheologe Franz Hinkelammert anlässlich der Vollversammlung in Nairobi schon hellsichtig das Szenario der globalisierten Weltordnung skizziert hatte, wurde dies durch EATWOT schnell als Herausforderung begriffen. Die Entscheidung, den Ökonomen und Dritte109 Diese Konferenzen zu den Themen Methodologie, Christologie und Theologie von Frauen fanden in New York (1994 und 1996) sowie in Seoul (1995) statt. Dass hier noch stets beklagt wird, dass sie die westliche Theologie besser kennen als die Theologien ihrer Brüder und Schwestern aus der Dritten Welt, muss diejenigen verwundern, die den bisherigen EATWOT-Diskurs verfolgt haben. 110 Vgl. Julio de Santa Ana, Evaluation of EATWOT, in: Voices 22, 2 / 1999, 189–198.
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Welt-Theoretiker Samir Amin (Ägypten, *1931) mit drei Referaten zur zentralen Figur der vierten Vollversammlung zu machen, schoss allerdings über das Ziel hinaus. Die EATWOT-Theologen und Theologinnen wurden dadurch in die Rolle von Respondierenden gedrängt. Einzig der unveröffentlicht gebliebene Beitrag von Samuel Rayan (Indien, *1920) setzte sich mit dem Thema der Konferenz Die Suche nach einer neuen gerechten Weltordnung. Herausforderungen an die Theologie auseinander. George E. Tinker beschreibt die unterschiedlichen Strategien des weißen Rassismus in den USA, der jeden Menschen, in dessen Adern auch nur Spuren schwarzen Blutes pulsieren, ausgrenzt, während er umgekehrt jeden Indianer möglichst schnell zum Weißen erklären will, um die lästige Frage des Landeigentums ad acta legen zu können (134f.). Am Beispiel der „reziproken Dualität von männlich und weiblich“ in Gott (Wakonda) (131) zeigt er auf, wie die Weißen auch die Sprache der Indianer kolonisiert haben. Durch die Kolonisierung wurde das Gleichgewicht der Geschlechter zerstört, das in der indigenen Gemeinschaft in der Balance war. In Anknüpfung an seinen Nairobi-Vortrag fordert er: „Wir wollen unser Leben zurück, unsere Art zu leben – verwurzelt im Land selbst“ (135). Es gilt, die kulturellen Ressourcen der einheimischen Völker zu rekonstruieren. Mercy Amba Oduyoye spürt dem Einfluss der Theologie von Frauen auf EATWOT seit dem von ihr in Neu Delhi proklamierten „Aufbruch im Aufbruch“ nach (→§ 5.2.5). Sie fragt dabei dezidiert nach einem die „Geschlechtergrenzen überschreitenden Dialog (cross-gender-dialogue)“. Die Frauenkommission scheint ihr demgegenüber ein Refugium gewesen zu sein, in dem die Frauen sich zwar entfalten konnten, ohne aber von den Männern letztendlich rezipiert zu werden (95): „Was die Frauen unternahmen, scheint die EATWOT-Männer nicht berührt zu haben. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob es als integraler Bestandteil der theologischen Bemühungen von EATWOT akzeptiert wird (94).“ In den vier EATWOT-Regionen ist es zu zaghaftem Austausch gekommen. Die Frauen lassen ihre Stimme auch weiterhin in den interkontinentalen Konferenzen hören, aber über erste Zeichen der Hoffnung sind sie noch nicht hinausgekommen. In Tagaytay zeichnete sich bereits die Abkehr von einer von den Beiträgen zentraler Figuren lebenden Konferenzkultur hin zu einem Beschluss fassenden Organ ab, wie es dann in der 2001 in Quito verabschiedeten EATWOT-Verfassung auch festgeschrieben wurde.111 111 Abgedruckt in: Voices 24, 2001, 123–129. Auch im Hinblick auf die Veröffentlichung nimmt Tagaytay eine Zwischenstellung ein. Nachdem der ursprünglich
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Die Vollversammlungen in Quito (2001) und Johannesburg (2006) Die scheidende Präsidentin Mercy Amba Oduyoye hielt das Eröffnungsreferat zum Thema der fünften Vollversammlung in Quito, Ecuador Berichte von der Hoffnung, die in dir ist. Wir weben die Fäden unserer andauernden Kämpfe zu einem Teppich der Hoffnung im 21. Jahrhundert.112 In einer Nebenbemerkung verweist sie auf ein Defizit im Hinblick auf den interreligiösen Dialog, den EATWOT den Asiaten überlassen habe. „Interreligiöser Dialog und eine Theologie der Religionen sind nicht die starke Seite von EATWOT“ (20).113 Eine in Tagaytay geplante Kommission zu diesem Problemkomplex war nicht zustande gekommen. Den Auftakt der sechsten Vollversammlung in Johannesburg, Südafrika: Eine andere Welt ist möglich: Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen114 bildeten die Rechenschaftsberichte der Vorstandsmitglieder, der regionalen Koordinatoren und der beiden einzigen funktionierenden Kommissionen, Frauen und Theologie. Daran schlossen sich Foren zum Thema Frauen, zu den vier Regionen und zu einheimischer Theologie an. Quito und Johannesburg funktionierten als Vollversammlungen, die Berichte entgegennahmen und die weitere thematische Arbeit für die jeweils kommenden fünf Jahre planten. Die theologische Arbeit fand vor allem in Form von Gesprächsforen ihren Raum. Die Mitgliederzahl hat sich über die Jahre mehr als verzehnfacht – mit der Konsequenz, dass die Regionen Delegierte entsenden mussten, verbunden mit den üblichen Querelen über Transparenz und Quotierung. Zusammen mit dem im Laufe der 1990er vollzogenen Generationswechsel und der Fluktuation unter den Vollversammlungsteilnehmern hat das den Traditionsabbruch sicher noch verstärkt. Auch EATWOT leidet inzwischen am „ökumenischen Kurzzeitgedächtnis“. geplante Konferenzband bei Orbis aufgrund langer Verzögerungen nicht mehr zustande kam, wurden die meisten Beiträge schließlich doch noch in der Sondernummer von Voices 22, 2 / 1999 veröffentlicht (Seitenangaben im Text). Das macht sie zwar prinzipiell zugänglich, hat aber nicht mehr die Breitenwirkung eines in einem renommierten amerikanischen Verlag herausgegebenen Sammelbandes. 112 Vgl. 1 Petrus 3,15f. 113 Voices, 26, 2 / 2001, 20. 114 Das Konferenzthema kombiniert das Motto des seit 2001 jährlich als Gegenveranstaltung zum World Economic Forum in Brasilien abgehaltenen World Social Forum „Eine andere Welt ist möglich“ (vgl. www.forumsocialmundial.org) mit einem Bibelzitat aus Jes 65,17. Mit auf Initiative von EATWOT wurde 2003 im Umfeld des WSF ein World Forum on Theology and Liberation gegründet (vgl. www.wftl.org).
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Die Arbeit in den Regionen und Kommissionen Um die kontinuierliche Arbeit an den einmal als generativ erkannten Themen zu gewährleisten, haben sich neben Präsidium und regionalen Koordinatoren im Laufe der Jahre eine Reihe regionaler Zusammenschlüsse115 und überregionaler Kommissionen etabliert. Im Gefolge der Beschlüsse der ersten Vollversammlung 1981 formierte sich die Frauenkommisssion (1983)116 und eine Kirchengeschichtskommission, die allerdings schnell wieder im Sande verlief. Die zweite Vollversammlung 1986 hat eine Theologische Kommission berufen.117 Gelegentlich initiierte weitere Kommissionen konnten nicht Fuß fassen. Dieser Trend zur Diversifizierung macht es für Außenstehende zunehmend schwieriger, den EATWOT-Prozess zu verfolgen.118 Wer sich die Mühe macht, das noch sehr lückenhafte EATWOT-Archiv in der Burke-Bibliothek in New York zu konsultieren, gewinnt jedoch den Eindruck, dass EATWOT auch nach den letzten gut dokumentierten Konferen115 Am aktivsten ist die Ökumenische Förderation der Theologen Asiens (EFTA), die seit der ersten Asiatischen Theologischen Konferenz (ATC) in Colombo 1979 in regelmäßigen Abständen inzwischen sechs Folgekonferenzen in Hongkong (1984), Suanbo / Südkorea (1991), Yogyakarta / Indonesien (1995), Kandy (2000) und Colombo (2000) beide Sri Lanka sowie Manila/Philippinen (2010) abgehalten hat. Aus der Panafrikanischen Konferenz in Accra 1977 ging die Ökumenische Vereinigung Afrikanischer Theologen (EAAT) hervor. Nach langer Pause organisierten sie in schneller Folge drei Konferenzen in Harare (1991), Nairobi (1992) und Johannesburg (1993). Die Lateinamerikaner scheinen nach Sao Paulo 1980 keine weiteren Initiativen entfaltet zu haben. Am besten dokumentiert ist die Arbeit der Regionalgruppe Asien; Lateinamerika ist aufgrund der eigenen Sprachwelten ebenso wie das frankophone Afrika isoliert. 116 Die Frauenkommission folgte dem Muster des vorangegangenen EATWOTProzesses, indem sie in nationalen und regionalen Treffen internationale Konferenzen, zumeist in Verbindung mit den Vollversammlungen, vorbereitet. Nach einem Zwischenspiel mit Arbeit in den Regionen gibt es heute neben den regionalen auch wieder eine internationale Koordinatorin. 117 Diese Kommission bekam durch die Organisation der drei internationalen Dialogkonferenzen unter ihrem Vorsitzenden James Cone neue Impulse. 118 Zudem war die Zeitschrift Voices from the Third World (seit 1978) zeitweilig „fast nur noch ein ‚Reprintservice‘“ (Camps, in: Theologien der Dritten Welt, 190) und fiel als Kommunikationsorgan damit praktisch aus. Diesem wohl auch intern spürbar gewordenen Informationsdefizit suchte Oaxtepec durch die Einführung eines News Bulletin zu begegnen. Inzwischen ist Voices wieder zum beinahe ausschließlichen überregionalen Dokumentationsorgan der EATWOT-Aktivitäten geworden. Doch geschah dies oft nur sehr selektiv und ad hoc. Seit 2007 ist Voices allerdings nicht mehr erschienen.
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zen in Nairobi (und mit den genannten Einschränkungen noch Tagaytay) am Puls der Zeit geblieben ist.119
5. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen Abschließend will ich in einer Thesenreihe anhand des von Oaxtepec vorgegebenen Frageschemas nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und interkulturellen Lernchancen und der Theorie kontextueller Theologie den EATWOT-Prozess und seine Träger charakterisieren. 119 Ich danke der Bibliothekarin Ruth Tomkins-Cameron für das Zugänglichmachen der Archivmaterialien. In der Korrespondenz und den Rechenschaftsberichten selbst wird beklagt, dass es nicht mehr gelingt, Bücher zu publizieren. Dies hat sicherlich mit der Krise des theologischen Büchermarktes allgemein zu tun, es scheint aber auch an Disziplin gefehlt zu haben, Vortragsmanuskripte zur Publikationsreife zu bringen und die Bücher zu edieren. Publizistisch hervorgetreten ist in erster Linie die Frauenkommission. Sie repräsentiert eine eigenständige Theologie von Frauen aus der Dritten Welt, die in den achtziger Jahren Profil gewonnen hat. Vgl. Asian Women Doing Theology. Report from Singapore Conference November 20–29, 1987, Hongkong 1989; Virginia Fabella / Sun Ai Lee Park (Hg.), We Dare to Dream. Doing Theology as Asian Women, Maryknoll, NY 1989; Chung Hyun-Kyung, Schamanin im Bauch, Christin im Kopf. Frauen Asiens im Aufbruch, Stuttgart 1992; Kwok Pui-Lan, Introducing Asian Feminist Theology, Cleveland, Ohio 2000; ein großer Stellenwert kommt dem Materialdienst Asiatischer Frauen für Kultur und Theologie (Asian Women’s Resource Centre for Culture and Theology, seit 1988) und der Zeitschrift In God’s Image (seit 1982) zu (vgl. www.awrc4ct.org). Der von Mercy Amba Oduyoye initierte Circle of Concerned African Women Theologians, der seine Wurzeln in EATWOT hat, setzt diese Arbeit auch publizistisch fort. Vgl. Talitha, qumi! Proceedings of the Convocation of African Women Theologians 1989, Ibadan 1990; Oduyoye, Introducing African Women’s Theology. In Lateinamerika ist die Lage nicht zuletzt aufgrund der Sprachbarrieren undurchsichtiger. Vgl. Elsa Tamez, Through her Eyes. Women’s Theology from Latin America, Maryknoll, NY 1989; Heike Walz, „…nicht mehr männlich und weiblich…“? Ekklesiologie und Geschlecht in ökumenischem Horizont, Frankfurt/M. 2006, 285–315 verweist auf das ökumenische Netzwerk Con-spirando. Zur Arbeit der EATWOT-Frauenkommission allgemein: Virginia Fabella / Mercy Amba Oduyoye (Hg.), With Passion and Compassion. Third World Women Doing Theology. Reflections from the Women’s Commission of the Ecumenical Association of Third World Theologians, Maryknoll, NY 19904 (dt. 1992); Virginia Fabella, Der Weg der Frauen. Theologinnen der Dritten Welt melden sich zu Wort, Freiburg etc. 1996 [engl. 1993]; Women Resisting Violence. Spirituality for life, hg. von Mary John Mananzan et.al., Maryknoll, NY 1996.
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• Gemeinsamkeiten gibt es sowohl im Blick auf den Kontext als auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Text. In der sozio-ökonomischen und politischen Analyse der diversen Kontexte hat sich so etwas wie eine Dritte-Welt-Erfahrung herauskristallisiert, die gekennzeichnet ist durch Armut und Unterdrückung und trotz aller regionalen Eigenheiten einen gemeinsamen Bezugsrahmen bietet. Diese wurde durch das Aufkommen der Globalisierung und ihrer gemeinsam spürbaren Folgen eher verstärkt, auch wenn sie die Analyse unübersichtlicher gemacht hat. Kontextuelle Theologie ist biblische Theologie. Die in der Bibel bewahrten Erfahrungen von Menschen mit Gott und ihren Mitmenschen werden zum hermeneutischen Schlüssel der Dritte-Welt-Erfahrung und vice versa – sie legen sich gegenseitig aus und werden ineinander wieder erkennbar.120 • Unterschiede: Auch wenn die sozio-ökonomischen und politischen und die kulturell-religiösen Aspekte des jeweiligen Kontextes in einem dichten Netz von Interdependenzen verflochten sind und in der Analyse integriert werden müssen, so steht doch eine gewissermaßen ökumenische Erfahrung der Armut und Unterdrückung einem kulturell-religösem Lokalkolorit gegenüber. Während die afrikanischen und asiatischen Theologen mit Ausnahme regionaler Sonderwege (Südafrika, Südkorea, Philippinen) in ihrer Mehrzahl versuchten, die kulturell-religiösen Spezifika ihrer Kontexte als Quellen der Theologie zu erschließen, konzentrierten sich die lateinamerikanischen Befreiungstheologen auf die Analyse ihrer Klassengesellschaft. Die ethnischen Minderheiten der USA, in ihrer Doppelidentität zwischen Dritter und Erster Welt von beiden Seiten diskriminiert, thematisierten vor allem den latenten Rassismus ihrer Gesellschaft. Diese Grundtendenzen bleiben weiterhin erkennbar. • Interkulturelle Lernchancen: Der kognitive Gewinn des bisherigen EATWOT-Prozesses ist epistemologisch-hermeneutischer Natur. Die kritische Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung des jeweils eigenen Kontextes führte dazu, der Multiperspektivität jedes Kontextes gewahr zu werden und die sozio-ökonomischen und politischen sowie die kulturell-religiösen Faktoren in der Analyse zu integrieren. Die lateinamerikanischen Befreiungstheologen haben die Einseitigkeit ihrer Gesellschaftsanalyse erkannt und sich der Frage nach der kulturellen und religiösen Identität der ethnischen Minderheiten und der Volksreligiosität geöffnet. Die Ver120 Neben dieser hermeneutischen Methode ist thematisch die Christologie ein Kontinuum, das verbindet. Vgl. etwa die einschlägigen Konferenzbeiträge und die Themanummern von Voices 8, 1/1985; 11, 2/1988; 18, 2/1995 und 30, 1/2007.
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treter der Afrikanischen Theologie haben sich durch die Auseinandersetzung mit der Schwarzen Theologie Südafrikas und der USA und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie auch den sozio-ökonomischen und politischen Realitäten Afrikas zugewandt. Unter den asiatischen Theologen hat sich die Einsicht in die Doppelfunktion des kulturell-religiösen Sektors als potentiell systemstabilisierend und revolutionär zugleich durchgesetzt. Armut und Unterdrückung ihrer Völker und die multi-kulturell-religiöse Dimension bestimmen heute gleichermaßen die Agenda. Die nordamerikanischen Minderheiten sind miteinander im Gespräch, um sich als gesellschaftliche Kraft in den USA zu formieren, reklamieren gleichzeitig aber auch ihre Stellung als Diaspora ihrer jeweiligen Ursprungsländer. Die über die Jahre aufgekommene Theologie von Frauen, die indische Dalit-Theologie, die palästinensische Befreiungstheologie oder die Theologien einheimischer Völker (tribal theologies) haben die etablierten kontextuellen Theologien z.T. heftig kritisiert und korrigiert. Die ursprüngliche Vision, eine Theologie der Dritten Welt zu formulieren, wurde durch die Entdeckung der Pluralität im Diskurs des ersten Decennium von EATWOT durchkreuzt. Die Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und interkulturellen Lernchancen war eine adäquate Reaktion darauf. Der Druck der Globalisierung hat dann Netzwerkstrukturen geschaffen, die etwa die Befreiungs- und feministischen Theologien zu globalen theologischen Strömungen (Robert Schreiter) anschwellen ließen. In Teil III werde ich diesen Faden wieder aufnehmen, mit der Frage nach den Konsequenzen für das Gewebe der generativen Themen.
6. Mission und Kultur Die in diesem Paragraphen beschriebenen theologischen Diskurse wurden in der Missionswissenschaft oft unter der Rubrik ‚Evangelium bzw. Mission und Kultur‘ verhandelt.121 Das Problem ist so alt wie der christliche Glaube selbst, der seine Identität von Anbeginn zwischen jüdischer Mutter- bzw. Geschwisterreligion und dem kulturell-religiösen Pluralismus der hellenistischen Welt verhandeln musste. Die theoretische Diskussion darüber setzte allerdings erst im ausgehenden 19. Jh. ein. Sie konnte freilich auf einen rei121 Vgl. Hans-Werner Gensichen, Mission und Kultur. Gesammelte Aufsätze, hg. von Theo Sundermeier / Wolfgang Gern, München 1985.
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chen Erfahrungsschatz und praktische Reflexionen zurückgreifen. Die im ersten Teil ausführlich erörterten Begriffe und Methoden haben einen theoretischen Rahmen geschaffen, der selbst ständig mitwächst und sich verändert und eine adäquate Darstellung der Phänomene erlaubt. Dennoch wurde das Gespräch mit der EATWOT-Theologie insgesamt bisher eher am Rande des westlichen Wissenschaftsbetriebes geführt. Dies hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, wer die Definitionsmacht dessen hat, was Theologie letztendlich ist. Diego Irarrázaval stellt dazu in seinem Rechenschaftsbericht vor der Vollversammlung in Johannesburg (2006) lapidar fest: „Wenn wir die theologische nord-atlantische (mainline-)Produktion betrachten, ist unser Beitrag marginal und nur wenig bekannt.“122 Bei der bisherigen Rezeption der EATWOT-Theologie und der kontextuellen Theologie insgesamt lassen sich im Wesentlichen drei Modelle unterscheiden, (1.) die konservativ evangelikale Gegenposition, (2.) die eurozentrisch westliche Position123 und (3.) das Projekt einer Interkulturellen Theologie.124 Konservative Evangelikale wie Peter Beyerhaus (*1929) stellen die Befreiungstheologien pauschal unter Ideologieverdacht und rücken sie in die Nähe des Marxismus. Sie führten zu einer „Humanisierung“ des christlichen Glaubens, bei der die Soteriologie auf der Strecke bleibe. Analog werden die Inkulturations- und Dialogtheologien unter Synkretismusverdacht gestellt.125 Sie verwahrlosten den christlichen Missionsauftrag. Dass dieser doppelte Häresieverdacht nicht das letzte Wort von evangelikaler Seite bleiben muss, zeigt ein Seitenblick auf die Diskussion innerhalb der 1974 als 122 Diego Irarrázaval, in: Voices 29, 2 / 2006, 12. Vgl. G. Evers, in: Theologien der Dritten Welt, 320: „In den zwölf Jahren ihres Bestehens ist es den EATWOTTheologInnen bisher nicht gelungen, sich in dem Themen- und Fächerkanon der Universitätstheologie einen Platz zu erobern.“ 123 Vertreter der orthodoxen Kirchen haben sich für gewöhnlich an diesen Diskussionen nicht beteiligt. Sie haben an der modernen Missionsbewegung nicht teilgenommen. Im ÖRK widersetzen sie sich jedoch in aller Regel kontextuellen Ansätzen. 124 Vgl. ausführlich Küster, Theologie im Kontext, 53–96. 125 Vgl. Peter Beyerhaus, Theologie als Instrument der Befreiung. Die Rolle der neuen ‚Volkstheologien‘ in der ökumenischen Diskussion, Gießen 1986; ders., Bangkok ’73: Anfang oder Ende der Weltmission? Ein gruppendynamisches Experiment, Bad Liebenzell 1973. Die Marxismusrezeption ist vor allem in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ein Thema und beschränkt sich auf die Gesellschaftsanalyse, in der Schwarzen Theologie gibt es einen Disput darüber, während etwa die Minjung-Theologie aufgrund ihrer historischen Erfahrung dezidiert kommunismuskritisch ist.
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evangelikaler Gegenpol zum Genfer Weltrat der Kirchen gegründeten Lausanner Bewegung. Evangelikale aus der Dritten Welt, wie Orlando Costas (1942–1987) oder Rene Padilla (*1932), nehmen angesichts ihrer eigenen kontextuellen Erfahrungen eine wesentlich differenzierte Haltung ein als die nordatlantischen „Scharfmacher“.126 Sie fordern soziales Engagement auch der Evangelikalen und wollen sich mit den Herausforderungen des kulturellreligiösen Pluralismus konstruktiv auseinandersetzen. Hier zeichnet sich ein innerevangelikaler Pluralismus ab (→§ 1.5). In den Kreisen akademischer Theologie wird im Allgemeinen eine eurozentrisch-westliche Position gegenüber den Dritte-Welt-Theologien vertreten.127 Ihre Kritik wird schnell unter Reproduktionsverdacht gestellt, sie wiederhole nur, was die westliche Theologie schon längst an Selbstkritik geleistet habe. Dabei appellieren westliche Theologen zugleich an die DritteWelt-Theologinnen und -Theologen, nicht in einen unseligen Partikularismus zu verfallen und die Botschaft des christlichen Glaubens auf politische Aussagen zu reduzieren. Dieser anti-partikularistische und anti-reduktionistische Appell speist sich aus einem selbstreferentiellen Universalitäts- und Absolutheitsanspruch. Insgesamt ist festzustellen, dass die Publikationen von und zu EATWOT und die Rezeption der kontextuellen Theologien insgesamt seit Mitte der 1990er Jahre beinahe zu versiegen drohen. Im dritten Teil wird gerade auch deswegen der Versuch unternommen, die von den kontextuellen Theologien aufgeworfenen Fragen im glokalen systematisch-theologischen Diskurs wieder zum Klingen zu bringen.128 126 Mit Vinay Samuel / Chris Sugden (Hg.), Der ganze Christus für eine geteilte Welt. Evangelikale Christologie in der Zwei-Drittel-Welt, Erlangen 1987, sind die Beiträge der ersten Konferenz evangelikaler Missionstheologen aus der Dritten Welt (1982) auch auf Deutsch zugänglich. Sie zeigen eine oft erstaunliche Nähe zur EATWOT-Diskussion und revidieren die Gleichung evangelikal = konservativ. 127 Vgl. Trutz Rendtorff, Universalität oder Kontextualität der Theologie – Eine ‚europäische‘ Stellungnahme, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 74, 1977, 238– 254; Europäische Theologie Versuche einer Ortsbestimmung, hg. von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1980. Der Rendtorff-Schüler Friedrich Wilhelm Graf thematisiert die Kontextualität seiner bewusst Europäischen Theologie. Vgl. etwa ders., Die Wiederkehr der Götter. 128 Neben diesem systematisch-theologischen sind grundsätzlich zwei weitere Wege denkbar, sich dem EATWOT-Prozess und den kontextuellen Theologien insgesamt zu nähern: historisch-theologiegeschichtlich oder biographisch-theologisch; beide sind früh vorbildhaft begangen worden. Vgl. Theologien der Dritten Welt; Missio Aachen, einer der Sponsoren der EATWOT-Arbeit, hat in drei immer wieder auf den neuesten Stand gebrachten Auflagen die Schlussdokumente der
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Teil II: Dimensionen
Übersicht 12: Zur Rezeption kontextueller Theologie Konservativ-evangelikale Position
Eurozentrische Position
Häresieverdacht – Ideologieverdacht – Synkretismusverdacht
Selbst-referentiell – anti-reduktionistischer Appell – anti-partikularististischer Appell
Manipulationsverdacht
Reproduktionsverdacht
§ 6 Einheit in versöhnter Verschiedenheit – Intra-christlicher Pluralismus Die moderne ökumenische Bewegung für die Einheit der Kirchen wurzelt in der Missionsbewegung. Die historischen Kirchenspaltungen waren auf dem Missionsfeld nicht zu vermitteln. Ein einheitliches Auftreten, gerade auch im Angesicht der anderen Religionen, wurde zu einer Voraussetzung für den Erfolg der Missionsbemühungen erklärt. Bereits die Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 thematisierte entsprechend die interkonfessionelle und die interreligiöse Dimension gleichermaßen. Sie war allerdings noch ein nordatlantisches Ereignis, das Vertreter der Christenheit aus anderen Kulturen in die Rolle von Zaungästen drängte (→§ 1.4). In ihrer interkulturellen Dimension entdeckte die ökumenische Bewegung sich erst durch den Beitritt des IMR und der orthodoxen Kirchen zum ÖRK auf seiner Dritten Vollversammlung in Neu Delhi 1961, symbolträchtig erstmals in einem Land der Dritten Welt abgehalten. Katholischerseits hatte das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Liturgiereform und der damit einhergehenden Aufwertung der lokalen Kulturen, der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra Aetate) und dem Ökumenismusdekret (Unitatis Redintegratio) eine vergleichbare EATWOT-Konferenzen kommentiert und herausgegeben; ferner die vier Bände der Theologiegeschichte der Dritten Welt, hg. von Theo Sundermeier / Norbert Klaes, München 1991–1993; Hans Waldenfels (Hg.), Theologen der Dritten Welt. Elf biographische Skizzen aus Afrika, Asien und Lateinamerika, München 1982; Deane William Ferm, Profiles in Liberation. 36 Portraits of Third World Theologians, Mystic, CT 1988; Letty M. Russel (Hg.), In den Gärten unserer Mütter. Religiöse Erfahrungen von Frauen heute, Freiburg 1990; Gesichter einer fremden Theologie. Sprechen von Gott jenseits von Europa, hg. von Norbert Kößmeier / Richard Brosse, Freiburg 2006.
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katalytische Wirkung. Seit den 1960er Jahren sind damit alle drei hier behandelten Dimensionen Interkultureller Theologie auch in der ökumenischen Bewegung nachweisbar. In den 1970ern machte sich dann zudem der Einfluss der kontextuellen Theologien auf die ökumenische Diskussion bemerkbar. In seiner Grußadresse an die EATWOT-Dialogkonferenz in Genf 1983 betonte der damalige Generalsekretär Philip Potter (*1921) die Verbundenheit des ÖRK mit dem EATWOT-Prozess: „Mit Sicherheit sind wir im ÖRK in unseren Bemühungen, unser ökumenisches Mandat wahrzunehmen, durch die Arbeit von EATWOT sehr bereichert worden.“129 Nach einer kurzen Skizze der Bedeutung und Geschichte des ökumenischen Gedankens (1.) analysiere ich im Folgenden exemplarisch einige multi- und bi-laterale interkonfessionelle Gesprächsgänge (2.). Den Abschluss dieses Paragraphen bilden einige Überlegungen zu Mission und Einheit (3.).
1. Was heißt hier Ökumene? Selbst bei einem scheinbar eingeführten Begriff wie „Ökumene“ besteht bei näherem Hinsehen Klärungsbedarf mit Blick auf seine Bedeutung und die Kreise, die die dahinterstehenden Gedanken tragen. Der Begriff „Ökumene“ Fragen interkonfessioneller Beziehungen zwischen den verschiedenen intrachristlichen Traditionen bzw. Kirchen werden im theologischen Fächerkanon unter dem Stichwort „Ökumene“ abgehandelt. Der Begriff „Ökumene“ kennt heute drei Bedeutungen, die sich wie konzentrische Kreise zueinander verhalten. Im Zentrum steht die traditionelle interkonfessionelle Ökumene zwischen den drei großen Konfessionen Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus.130 Die Orthodoxie besteht aus unabhängigen Nationalkirchen bzw. Patriarchaten, autokephalen und autonomen Kirchen, die seit 1961 vom ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel regelmäßig zu panorthodoxen Konferenzen eingeladen werden.131 Der Protestantismus ist 129 Philip Potter, in: Fabella / Torres, Doing Theology in a Divided World, 9–19, 9. 130 Die Anglikaner und Altkatholiken, aber auch kleinere Gruppierungen wie die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen fallen durch dieses grobe Raster. Sie neigen im Allgemeinen heute mehr dem protestantischen Block zu. Mit Identität und Geschichte all dieser Kirchen befasst sich traditionell die Konfessionskunde. 131 Diese dienen nicht zuletzt der Vorbereitung eines panorthodoxen Konzils.
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in eine Vielzahl von Denominationen und Sondergruppen aufgesplittert. Einzig die katholische Kirche formt eine relativ monolithische Institution. Der zweite Kreis umfasst die interkulturelle Ökumene, die durch die Ausbreitung des christlichen Glaubens weltweit entstanden ist. Hier brechen soziale und kulturelle Unterschiede zwischen lokalen Kirchen auf, die zur selben Konfession bzw. Denomination gehören. Der Konflikt zwischen reichem Norden und armem Süden spiegelt sich auch in der Kirche. Christen in Asien und Afrika haben zudem lange vor ihren westlichen Glaubensbrüdern und -schwestern in kulturell-religiös pluralen Kontexten gelebt, oft als Minderheiten. Was im vorangegangenen Paragraphen über die interkulturelle Dimension des christlichen Glaubens zur Sprache kam, hat insofern auch seine Konsequenzen für die intra- und interkonfessionellen Dialoge. Die Peripherie schließlich bildet die Beziehung zu den anderen Religionen.132 Vertreter dieser Konzeption von Ökumene berufen sich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs im Altertum, als er den „ganzen bewohnten Erdkreis“ bezeichnete.133 Sie hängen der Idee von der „Einheit der Menschheit“ an – welche die „Einheit der Christenheit“ bzw. der Kirche übersteigt. Diese doppelte Ausweitung des christlichen Ökumenebegriffs auf die ganze Menschheit und die anderen Religionen wird in der ökumenischen Bewegung unter den Stichworten „Säkularökumenismus“ und „religiöser Pluralismus“ kontrovers diskutiert. Ich selbst plädiere dafür, die theologische Rede von der Ökumene aufgrund der heute eindeutig christlichen Prägung des Begriffs auf die ersten beiden Dimensionen zu beschränken. Während bei der interkonfessionellen und interkulturellen Ökumene das Bekenntnis zu Jesus Christus und der Dreieinigkeit Gottes, wie es etwa auch in der Basisformel des Ökumenischen Weltrates der Kirchen (ÖRK) festgeschrieben ist, als Richtschnur dienen kann, zerfließen bei einer Ökumene der Religionen die Grenzen zugunsten des einen und selben Gottes, an den wir vorgeblich alle glauben. Es besteht zudem ein qualitativer Unterschied zwischen der Einheit selbst in aller Verschiedenheit innerhalb der christlichen Religion und ihrer Beziehung zu den anderen Religionen. Das hehre Ziel der sichtbaren Einheit der christlichen Kirche ist nicht auf das interreligiöse Gespräch übertragbar, in 132 Hier wurden ursprünglich oft in einem Atemzug auch die Ideologien genannt, eine Reminiszenz an die christlich-marxistischen Dialoge der 1960er und 70er Jahre. 133 Vgl. Kuschel, Streit um Abraham, 214; gleicher Sprachgebrauch schon bei Küng, Projekt Weltethos; dazu Küster, Verwandtschaft verpflichtet.
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dem es nie um die Schaffung einer Einheitsreligion gehen kann. Umgekehrt ist zu fragen, ob die Schaffung einer „Einheitskirche“ überhaupt wünschenswert wäre. Die Zielvorgabe ist für mich darum eher, dass wir klären, was wir in der globalen Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit gemeinsam über unseren Glauben an Jesus Christus und den dreieinigen Gott aussagen können und wie unsere Verschiedenheit uns dabei bereichern kann. Wie die von der ökumenischen Bewegung angestrebte Einheit der Kirchen letztendlich aussehen soll, ist durchaus umstritten. Es ist aber unabdingbar, dass, wo über Einheit gesprochen wird, auch definiert wird, wie diese Einheit sich gestalten soll. Vertreterinnen und Vertreter anderer Religionen würden sich ohnehin in ihrer Integrität verletzt fühlen, wenn sie für die christliche Ökumene vereinnahmt würden. Dies gilt auch für das Judentum. Das Verhältnis der Kirche zu Israel ist nicht das ökumenische Problem par exellence,134 auch wenn es richtig ist, dass das Verhältnis zum Judentum ein besonderes ist. Jesus war als Sohn einer jüdischen Mutter selbst Jude und die Jesusbewegung begann als innerjüdische Erneuerungsbewegung. Doch haben wir es auch beim Judentum mit einer distinkten Religion zu tun (→§ 4.2.2).
Interkonfessionell Interkulturell Interreligiös Abb. 10: Dimensionen des Ökumenebegriffs
Die drei konzentrischen Kreise erscheinen noch einmal in einem anderen Licht, wenn wir sie aus der Perspektive einer Theologie der Ökumene betrachten. Im Sinne eines genitivus objectivus geht es dann um eine Theologie, die über die interkonfessionellen Beziehungen nachdenkt. Der genitivus subjectivus bezeichnet demgegenüber eine Theologie oder besser einer Vielzahl von Theologien, wie sie heute in der ökumenischen Bewegung formuliert werden, und dazu gehört dann auch die dritte, interreligiöse Dimension. 134 Anders Dietrich Ritschl, Ökumenische Theologie, in: ders. / Werner Ustorf, Ökumenische Theologie – Missionswissenschaft, Stuttgart 1994, 7–97, 12.
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Dies hat nicht zuletzt historische Ursachen in den auseinanderlaufenden Motivationen und Zielen der Quellströme der ökumenischen Bewegung. Theologie der Ökumene ist dann nach innen gerichtet die Suche nach dem Verbindenden in der Vielfalt der christlichen Traditionen und nach außen gerichtet die Reflexion über den Missionsauftrag und die Weltverantwortung der Christenheit sowie über ihre Beziehungen zu den anderen Religionen. Das entspricht den zentrifugalen und zentripedalen Kräften, um im Bild der konzentrischen Kreise zu bleiben. Ich vertrete die These, dass wir die in den interkulturellen und interreligiösen Dialogen gemachten Differenzerfahrungen für eine Transformation der Konvergenz- und Konsensökumene im Sinne eines Strebens nach Einheit in versöhnter Verschiedenheit fruchtbar machen können. Zur Geschichte des ökumenischen Gedankens135 Die drei wichtigsten Quellströme der Ökumenischen Bewegung im 20. Jh., die internationale Missionsbewegung, die Bewegung für Praktisches Christentum und die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung, verfolgten unterschiedliche Ziele und hatten entsprechend divergierende Motivationen für die Einheit der Christenheit einzutreten.136 Die Missionsbewegung erfuhr die konfessionellen und denominationellen Zersplitterungen als nicht vermittelbar in fremden Kontexten und damit als Hindernis für ihr genuines Ziel, die Konversion neuer Gläubiger. Die Bewegung für Praktisches Christentum versprach sich auf ähnliche Weise eine stärkere Durchschlagkraft durch gemeinsames Auftreten der christlichen Kirchen für soziale Ziele. Einzig in der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung deckte sich die Motivation, die Überwindung konfessioneller Spaltungen aufgrund von Schismen, Lehrverurteilungen und divergierenden theologischen Entwicklungen, mit dem Ziel der Einheit der Kirchen. Historisch gesehen machte die Missionsbewegung mit der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 und der Gründung des Internationalen Missionsrates (IMR) in Lake Mohonk 1921 den Anfang (→§ 1.4). Die Bewegung für Praktisches Christentum folgte 1925 mit der ersten Welt(kirchen)konferenz in Stockholm und die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 135 Vgl. Ritschl, Ökumenische Theologie; Bert Hoedemaker / Anton Houtepen / Theo Witvliet, Oecumene als leerproces. Inleiding in de oecumenica, Zoetermeer 3 2005; Leo J. Koffeman, De oecumenische beweging, Kampen 2005. 136 Nebenströme waren etwa die Liturgische Bewegung, der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen, die Christlichen Vereine Junger Männer bzw. Frauen (CVJM, CVJF) oder der Christliche Studentenweltbund.
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1927 mit einer ersten Weltkonferenz in Lausanne. Auf ihrer jeweils zweiten Vollversammlung in Oxford (Praktisches Christentum) und Edinburgh (Glauben und Kirchenverfassung), beide im Jahre 1937 abgehalten, wurde der Grundstein für den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) gelegt. Ein Jahr später wurde er in Utrecht in Form eines vorläufigen Ausschusses aus der Taufe gehoben. Kriegsbedingt konnte der ÖRK offiziell jedoch erst 1948 in Amsterdam installiert werden. Der IMR war in Amsterdam nicht mit dabei. Die Befürchtungen, dass das genuine Ziel der Mission hinter das der Einheit zurückgedrängt werden könnte, waren unter seinen Mitgliedern zu groß. 1961 auf der 3. Vollversammlung in Neu Delhi erfolgte dann aber doch die Integration des IMR in den ÖRK. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der ÖRK nicht das einzige Organ der ökumenischen Bewegung ist. Schon im 19. Jh. waren konfessionelle Weltbünde gegründet worden.137 Nationale und regionale Christenräte folgten.138 In Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde 1960 das Sekretariat für die Einheit der Christen eingerichtet. Später umbenannt in Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen (1988) widmet er sich in zwei Sektionen den bilateralen Kontakten mit den orthodoxen Kirchen des Ostens und den westlichen Konfessionen bzw. protestantischen Denominationen. Eine Vielzahl bilateraler und multilateraler Gespräche finden ohne Genfer Initiative statt, auch wenn die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung seit 1978 regelmäßig ein Forum für bilaterale Gespräche organisiert. Dennoch versinnbildlicht der ÖRK für viele die Höhen und Tiefen der ökumenischen Bewegung. Die unterschiedlichen Motivationen der drei Ursprungsbewegungen haben ihren Widerhall in den Programmeinheiten und Studien des Weltrates. Es gibt auch noch stets eigene Konferenzen zu ihren Themen, wie etwa die Weltmissionskonferenzen oder die Weltkonferenzen von Glauben und Kirchenverfassung, die neben den Vollversammlungen die wichtigsten Gesprächsforen sind. Interessenkonflikte sind damit vorprogrammiert. Die kontextuellen Theologien und damit die Fragen nach Befreiung, kulturellreligiösem Pluralismus und interreligiösem Dialog sind aus der Missionsbewegung hervorgegangen. War die ökumenische Bewegung am Beginn die 137 Lambeth-Konferenz (Anglikaner, 1867); Reformierter Weltbund (1875); Ökumenische Konferenz der Methodisten (1881); Baptistischer Weltbund (1905); Lutherischer Weltbund (1947) etc. 138 Christliche Konferenz Asiens (1959); Gesamtafrikanische Kirchenkonferenz (1963); Konferenz Europäischer Kirchen (1959) etc.
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Kopfgeburt weißer Männer aus der Mittel- und Oberschicht ihrer nordatlantischen Gesellschaften, bahnten sich nun Vertreter der Christenheit aus der Dritten Welt, aber auch die Frauen ihren Weg in die ökumenischen Institutionen. Die Befreiungstheologien fanden auch in den Nachfolgegremien der Bewegung für Praktisches Christentum Resonanz, die eine Art politisches Weltdiakonat propagierten. Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung war bisher das Projekt mit der größten Breitenwirkung dieser Strömung innerhalb der ökumenischen Bewegung. Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung erschien demgegenüber lange als Rückzugsgebiet des weißen Mannes und Hort der abendländischen konfessionellen Traditionen. Diese waren in einer zunehmend pluralistischen Welt und einer Christenheit, deren Schwerpunkt sich gerade in die südliche Hemisphäre verlagerte, stets schwieriger vermittelbar. Die in Europa historisch gewachsenen konfessionellen Unterschiede konnten in Afrika und Asien nicht den Anschein einer gewissen Beliebigkeit vermeiden und sahen angesichts der charismatischen Erneuerung, des Triumphzugs der Pfingstkirchen oder der Afrikanischen Unabhängigen Kirchen nur noch alt aus.139 Aber auch innerhalb der verschiedenen Konfessionen wichen die Einheitsvorstellungen, Motivationen und Ziele voneinander ab. Nach dem Dafürhalten der 1961 dem Weltrat beigetretenen orthodoxen Kirchen soll die Kirche wieder eine werden auf der Grundlage der ersten sieben Konzilien. Für die katholische Kirche war eine Vollmitgliedschaft im ÖRK aufgrund ihres Kirchenverständnisses von vornherein ausgeschlossen. Die angestrebte Einheit konnte nur in der Eingliederung in die bereits bestehende Einheit der römisch-katholischen Kirche unter Leitung des Papstes bestehen. Der Vatikan erwarb lediglich in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung zunächst Beobachterstatus (1965) und dann Vollmitgliedschaft (1968). Daneben verfolgt Rom sein Ziel der (Wieder-)Eingliederung intensiv in den vom päpstlichen Einheitsrat organisierten bilateralen Dialogen. Die protestantische Vision der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, das Sichtbarmachen der Einheit einander gleichgeordneter Kirchen durch den Rückbezug auf Jesus Christus, ist für die beiden anderen großen Konfessionen aufgrund ihrer abweichenden Zielvorstellungen bzw. ihres divergierenden Kirchenverständnisses nicht akzeptabel. Im intra-protestantischen Gespräch zwischen den verschiedenen Denominationen hat sie demgegen139 Vgl. Tinyiko Sam Maluleke, Faces and Phases of Protestantism in African Contexts, in: Küster, Reshaping Protestantism, 49–70.
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über durchaus Erfolg gezeitigt. Hier besteht heute weitgehend Kircheneinheit in versöhnter Verschiedenheit. Doch ist es gut, die Erinnerung daran wach zu halten, dass selbst im Protestantismus vieles, von der Abendmahlsgemeinschaft bis zur Ordination von Frauen, auch erst in der zweiten Hälfte des 20 Jh. in Bewegung kam. Dies schützt vor Hochmut gegenüber den jungen Kirchen in der Dritten Welt, die das konfessionelle und denominationelle Erbe des Westens zu verarbeiten haben, und den beiden anderen großen Konfessionen, die dazu noch überkommene Ansichten verfechten. So ergeben sich z.Zt. zwei große Blöcke in der ökumenischen Bewegung. Die Kirchen der Reformation inklusive einiger vorreformatorischer Kirchen einerseits und die orthodoxe sowie die römisch-katholische Kirche andererseits. Sowohl innerhalb der Kirchen der Orthodoxie als auch zwischen diesen und der römisch-katholischen Kirche ist es ebenfalls zu Annäherungen gekommen, die auf die Anerkennung einer gewissen intra-orthodoxen Vorrangstellung des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Konstantinopel und einer interkonfessionellen Vorrangstellung des Bischofs von Rom hinauszulaufen scheinen. Mehr dürfte auch hier nicht zu erreichen sein. Die Anglikaner neigten aufgrund ihrer hochkirchlichen Tradition zunächst dem römisch-katholisch-(orthodoxen) Block zu. Nach der Einführung der Frauenordination suchen sie aber stärker die Nähe zu den protestantischen Kirchen. Die Ordination von Frauen und stärker noch die liberale Haltung gegenüber Homosexualität hat allerdings in jüngster Zeit inner-anglikanische Streitigkeiten provoziert, die die Konflikte zwischen den beiden großen konfessionellen Blöcken widerspiegeln. Der Katholizismus bietet darum konservativen Anglikanern gern Asyl als Gruppe an, die weiter ihre liturgischen Gebräuche etc. praktizieren darf.140 Die Öffnung des Ostens schließlich hat dazu geführt, dass die orthodoxen Kirchen erstarken und auch im ÖRK Gehör fordern. Zugleich ist der traditionelle Zusammenhang zwischen Orthodoxie und Nation Ursache für die orthodoxe Empörung über evangelikale und pfingstlerische Missionstätigkeit auf ihrem Territorium, ebenso wie über die (Wieder)Eröffnung katholischer Bistümer (→§ 1.5). Nicht nur hinsichtlich ihrer Ziele, sondern auch im Blick auf ihre Träger und Methoden ist die Ökumenische Bewegung unschlüssig.141 Wie beim 140 Vgl. Anglicanorum coetibus. Über die Errichtung von Personalordinariaten für Anglikaner, die in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche eintreten, Apostolische Konstitution, Papst Benedikt XVI vom 4. Nov. 2009. 141 Vgl. Raiser, Ökumene im Übergang, 11–49 (Seitenangaben im Text) unter Berufung auf Ernst Lange, Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische
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interreligiösen Dialog stellt sich auch hier die Frage, wer, mit wem, über was und mit welcher Autorität redet (→§ 4). Einzig im römischen Katholizismus ist die Frage, wer das letzte Wort hat, eindeutig geklärt. Sowohl bei den Protestanten als auch bei den Orthodoxen ist schon die Frage nach verbindlicher Entscheidungsgewalt nicht beantwortbar. Die Orthodoxen kennen zwar den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel als repräsentatives Oberhaupt, das schützt aber nicht vor Meinungsverschiedenheiten zwischen den Patriarchaten, in denen er keinerlei Weisungsbefugnis hat. Im Protestantismus muss letztendlich jede Leitung einer Gliedkirche für sich selbst sprechen. Und selbst dann genießt die einzelne Ortsgemeinde noch ihre eigenen Entscheidungskompetenzen. Machtfragen spielen auch hier eine Rolle, allerdings wesentlich diffuser. Inhaltlich zeichnet sich eine langsame Verschiebung vom Vergleich der verschiedenen Konfessionen im Sinne der Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, über den christozentrischen Universalismus142 hin zu einem mehr an der sozialen Trinitätslehre orientierten „Verständnis der Wirklichkeit Gottes und der Beziehung von Gott, Welt und Menschheit“ (127) ab, die zuläuft auf eine „eucharistische Vision“ (150) der Gemeinschaft der Kirchen als ökumenische Hausgenossenschaft. Ich selbst setze auch hier auf eine kontextuell-hermeneutische Zugangsweise, die zugleich nach interkulturellen Lernchancen fragt und dialogisch angelegt ist. Metaphern wie „Nachbarschaftlichkeit“ und „Gastfreundschaft“ scheint mir dazu besser geeignet als das noch stark vom Einheitsdenken geprägte Bild vom Haushalt. Jesu Rede von den vielen Wohnungen im Hause Gottes (Joh 14,2) könnte hier sprachbildend wirken.
2. Multilaterale und bilaterale Dialoge Was die generativen Themen der interkonfessionellen Dialoge anbetrifft, haben die anglikanischen Kirchen, die sich seit 1867 in den Lambeth-Konferenzen ein Forum geschaffen haben, mit dem sogenannten Lambeth-Quadrilateral von 1888 eine Formel gefunden, die noch stets aktuell ist.143 Zeichen der Einheit der Kirche sind demnach die (wechselseitige) Anerkennung Bewegung? Am Beispiel Löwen 1971: Menscheneinheit – Kircheneinheit, München 1986 [Stuttgart 1971]. 142 Vgl. Raiser, Ökumene im Übergang, 51–86 unter Bezug auf Visser’t Hooft. 143 Daneben hat jede Konfession ihre eigenen spezifischen generativen Themen: die Orthodoxie die Liturgie, die Verbindlichkeit der ersten 7 Konzilien und den
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– der Bibel als Richtschnur, – der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolicum und NicaenoKonstantinopolitanum), – der von Jesus eingesetzten Sakramente Taufe und Abendmahl / Eucharistie – und des (historischen) Bischofsamtes (in apostolischer Sukzession). Neben dem Montreal-Dokument Schrift, Tradition und Traditionen (1963)144 decken zwei große Studienprozesse von Glauben und Kirchenverfassung genau dieses Spektrum ab: die Studie Gemeinsam den einen Glauben bekennen (1990), die sich am Nicaeno-Konstantinopoletanum orientiert, dem einzigen jedenfalls von den drei großen Konfessionen geteilten Glaubensbekenntnis, und die Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt (1982). Als größtes Konfliktpotential hat sich dabei das Amtsverständnis und die damit eng verknüpfte Frage nach dem Abendmahl herauskristallisiert. Im Folgenden werde ich diese beiden multilateral erarbeiteten Studien auf die ihnen zugrunde liegende Methodik befragen. Daneben werden einige für die bilateralen Gespräche zwischen den großen Konfessionen exemplarische Dokumente herangezogen. Schließlich soll die Leuenberger Konkordie als Beispiel eines inner-protestantischen Konsenspapieres betrachtet werden. Dieser Abschnitt läuft auf die Frage nach einer interkonfessionellen Hermeneutik hinaus, die ich unter Hinzuziehung des Hermeneutikpapiers der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen bearbeite. Interkonfessionelle multilaterale Dialoge Die Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt, Ergebnis eines fünfzigjährigen Studienprozesses, der bis zur ersten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne 1927 zurückreicht, markieren das aller Voraussicht nach maximal Mögliche an Übereinstimmung zwischen den drei großen Konfessionen.145 Anfangs euphorisch begrüßt und von den Mitgliedskirchen rege kommentiert,146 scheinen sie inzwischen wie viele andere ökumenische Papiere auf Eis gelegt. Widerstand gegen das filioque, der Katholizismus das Papsttum und die Marienverehrung und der Protestantismus die Rechtfertigung allein aus Glauben. 144 Schrift, Tradition und Traditionen. Bericht der Sektion II, in: Montreal 1963, Genf 1963, 42–53. 145 Vgl. Ritschl, Ökumenische Theologie, 95; Frederike Nüssel / Dorothea Sattler, Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 2008, 73. 146 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen , in: Dokumen-
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Die Kommission hatte sich zum Ziel gesetzt, „die lehrmäßigen Trennungen im Blick auf die drei Themen zu überwinden“ (Vorwort, 4). „Der angenommene Text konzentriert sich absichtlich auf diejenigen Aspekte des Themas, die sich unmittelbar oder mittelbar auf Probleme der gegenseitigen Anerkennung, die zur Einheit führt, beziehen“ (7). Sie will „die Streitigkeiten der Vergangenheit hinter sich lassen“ (6), Konvergenzen aufzeigen und die Einheit sichtbar machen (6f.). Die Texte erklären zunächst einmal, was die Konfessionen schon jetzt gemeinsam sagen können, dabei sind unterschiedliche Sichtweisen, wo möglich, integriert. Kontroverse Punkte werden entweder am Ende eines Paragraphen angesprochen oder in Form eines Kommentars; etwa im Hinblick auf die Frage der Säuglings- oder Erwachsenentaufe (Taufe, Abs. 12) oder auf Fragen der Inkulturation, wie das Taufen auf lokale Namen (Abs. 21), sowie den Gebrauch lokal-spezifischer Nahrungsmittel im Abendmahl (Eucharistie, Absatz 28). Wo bestehende Unterschiede zur Sprache kommen, geschieht dies oft appellativ verbunden mit der Aufforderung, die dahinter stehenden Überzeugungen und Praktiken neu zu überdenken. Ausgangspunkt ist jeweils die Begründung in Jesus Christus und der Schrift. Am besten bezeugt ist die Einsetzung des Abendmahls (Mt 26,20–29 par). Mt 28,16–20 als Taufbefehl wird heute allgemein als später Text angesehen. Aber Jesus hat selbst die Johannestaufe empfangen und die Taufe war früh Gemeindepraxis. Am schwierigsten gestaltet sich die Herleitung des Amtes aus den biblischen Schriften. „Die Kirche sollte es daher vermeiden, ihre spezifischen Formen des ordinierten Amtes direkt auf den Willen und die Einsetzung durch Jesus Christus selbst zurückzuführen“ (Amt, Abs. 11). Auch wenn das Neue Testament keine einheitliche Amtsstruktur als Modell anbietet, wird aufgrund der Praxis in der Alten Kirche eine dreigliedrige Struktur bestehend aus Bischof, Presbyter und Diakon favorisiert (Abs. 19–21) und auf apostolische Sukzession gepocht (Abs. 35–38).147 Den reforte wachsender Übereinstimmung Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, hg. von Harding Meyer et.al., Paderborn / Frankfurt/M. seit 1983, bisher 4 Bde, Bd.1, 545–585 (vgl. www.wcc.org). Die Zählung der Absätze setzt jeweils neu ein für Taufe, Eucharistie und Amt, das Vorwort hat keine Absatznummerierung (Seiten- bzw. Absatzangaben im Text). Vgl. Churches Respond to BEM. Official Responses to the „Baptism, Eucharist and Ministry“ Text, hg. von Max Thurian, Genf 1986–88. 147 Den orthodoxen und katholischen Mitgliedern der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung ist es gelungen, dies auch in der Erklärung über das Amt stark zu machen.
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matorischen Kirchen wird darum von katholischer Seite das Kirchesein rundweg abgesprochen.148 Obwohl wiederholt betont wird, dass Taufe und Abendmahl von Jesus Christus eingesetzt sind, scheint die Taufe letztendlich doch mehr aufgrund ihrer Einmaligkeit und der Angst, andernfalls in die Nähe einer Wiedertäufersekte zu geraten, anerkannt zu werden. Bei der Eucharistie hingegen siegt die starke Bindung an das Amt. So ist letztendlich wenig erreicht. Insofern klingt der Schlusssatz „Die gemeinsame Feier der Eucharistie wäre zweifellos der Ort für einen solchen Akt“ (Abs. 55) – nämlich die gegenseitige Anerkennung der Kirchen und ihrer Ämter – heute wie ein Lippenbekenntnis. Der in unmittelbarem Anschluss an Lima 1982 begonnene Studienprozess Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ausdruck des apostolischen Glaubens heute resultierte in der Publikation eines vorläufigen Studiendokuments Den einen Glauben bekennen.149 Die vielfältigen Reaktionen darauf wurden in der revidierten Fassung von 1990 Gemeinsam den einen Glauben bekennen verarbeitet.150 Von den ursprünglich benannten drei Zielvorgaben allgemeine Anerkennung, Erklärung und Bekenntnis des Apostolischen Glaubens, ließ sich letztendlich nur die Erklärung umsetzen (Einleitung, Abs. 10). Das Dokument folgt im Aufbau den drei Artikeln des Nizänischen Bekenntnisses. Den zu erklärenden Bekenntnisaussagen ist jeweils ein einleitender Abschnitt sowie ein historisch-biblischer und ein aktualisierender Unterabschnitt gewidmet. Kontrovers ist vor allem die Zufügung des filioque im Westen, die wesentlich zur Spaltung zwischen Ost- und Westkirche beigetragen hat.151 Dies wird in der Einleitung zum dritten Artikel klar benannt (Abs. 195). Der biblischhistorische Teil problematisiert den Status des Heiligen Geistes als göttlicher Person (Abs. 199). Die Kommentare in der Aktualisierung äußern sich zurückhaltend über das Wirken des Heiligen Geistes außerhalb der Kirche (Abs. 200) oder der ihm gelegentlich zugeschriebenen Weiblichkeit (Abs. 202). Die 148 Vgl. Dominus Jesus und Kongregation für die Glaubenslehre, Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche, Rom 2007. 149 Den einen Glauben bekennen. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ausdruck des apostolischen Glaubens auf der Grundlage des Glaubensbekenntnisses von NizäaKonstantinopel (381), Faith and Order Paper No. 140, Genf 1988. 150 Gemeinsam den einen Glauben bekennen. Eine ökumenische Auslegung des apostolischen Glaubens, wie er im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381) bekannt wird, Frankfurt/M. / Paderborn 1991 (Absatzangaben im Text). 151 Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Geschichte der Kontroverse um das Filioque und ihrer theologischen Implikationen, in: Geist Gottes – Geist Christi. Ökumenische Überlegungen zur Filioque-Kontroverse, hg. von Lukas Vischer, Frankfurt/M. 1981, 25–42.
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Formulierungen über das Hervorgehen aus dem Vater bzw. das gemeinsame Hervorgehen aus dem Vater und dem Sohn (filioque) sind sehr diplomatisch. Die Christen des Westens und des Ostens stimmen heute darin überein, „dass die enge Beziehung zwischen dem Sohn und dem Geist bekräftigt werden muss, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass der Geist dem Sohn untergeordnet sei. [… D]ies erlaubt einer wachsenden Zahl von westlichen Kirchen, die Verwendung des Credo in seiner ursprünglichen Form zu erwägen (Abs. 210).“ Die verbreitete Praxis, bei gemeinsamen liturgischen Feiern die ursprüngliche Version zu gebrauchen und das nachträglich eingefügte filioque wegzulassen, ist ein Vorbild ökumenischer Epoché. Bilaterale Dialoge Multilaterale Gespräche zwischen verschiedenen Konfessionen haben oft bilateralen den Weg gebahnt. Letztere können größere Verbindlichkeit aufgrund ihres kirchlich-offiziellen Charakters erzeugen. Darum „müssen bilaterale Gespräche so geführt werden, dass sie die umfassendere multilaterale Perspektive und die anderen bilateralen Gespräche im Auge behalten“.152 • orthodox – protestantisch: Der reformierte Weltbund führt seit 1986 regelmäßig bilaterale Gespräche mit der chalkedonensischen Orthodoxie, seit 1992 auch mit den vorchalkedonensischen orthodoxen Kirchen. Nach dem wechselseitigen Vorstellen und Kennenlernen der Traditionen kam es zu ersten gemeinsamen Erklärungen zur Trinitätslehre und zur Christologie. Methodisch haben sich die Dialogpartner auf die Befragung der Schrift und der altkirchlichen Tradition geeinigt, die eine gemeinsame Grundlage bilden, auf die sich schon die Reformatoren des 15. Jh. zurückbesonnen haben. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Nicaenische Glaubensbekenntnis in seiner ursprünglichen Form. Die Reformierten scheinen ohne große Mühe auf das filioque verzichtet zu haben, dass in den orthodox-katholischen Gesprächen ein bleibender Stein des Anstoßes ist. Nach diesen grundsätzlichen dogmatischen Klärungen, die an die trinitarischen und christologischen Lehrentscheidungen der ersten sieben Konzilien anknüpfen, werden heute Fragen der Ekklesiologie und des Amtsverständnisses diskutiert, die der Einheit im Wege stehen.153 152 Zweites Forum für bilaterale Gespräche (1979) zitiert in Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, 16. 153 Vgl. Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 2, 316–330 und Bd. 3, 151– 182. Auch die EKD hat auf nationaler Ebene Gespräche mit den orthodoxen Kirchen geführt (vgl. www.ekd.de).
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In diesem Zusammenhang lohnt ein Seitenblick auf den Abschlussbericht der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK, auch wenn er von ganz anderer Ordnung ist als die übrigen hier besprochenen bilateren Dokumente.154 Aufgrund des eingangs geschilderten Denkens in Blöcken scheint mir seine Behandlung dennoch gerechtfertigt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Öffnung des Ostens erwachten die orthodoxen Kirchen zu neuem Selbstbewusstsein, das sie auch ihren lange schwelenden Unmut über den ÖRK, der nach ihrem Dafürhalten das Ziel der Einheit zu Gunsten sozialer und kontextueller theologischer Fragestellungen vernachlässigt deutlich artikulieren ließ. Das führte 1998 auf der 8. Vollversammlung des Weltrates in Harare zur Einsetzung einer paritätisch besetzten Sonderkommission, die die orthodoxe Mitarbeit im ÖRK untersuchen und „Vorschläge zu den notwendigen Veränderungen in Struktur, Stil und Ethos des Rates ausarbeiten sollte“ (Abs. 5). Gemäß der starken Ausrichtung der orthodoxen Kirchen auf die Liturgie standen dabei Fragen des gemeinsamen Gottesdienstes im Vordergrund. Die Erörterungen laufen auf zwei Empfehlungen hinaus: 1. Es sollte unterschieden werden zwischen einer konfessionellen gemeinsamen Andacht, bei der eine Konfession die anderen zu einer Andacht gemäß ihrer eigenen Praxis einlädt, und einer interkonfessionellen Andacht, die gemeinsam vorbereitet wird und auf Elemente aus unterschiedlichen Konfessionen zurückgreifen kann (Abs. 42). In diesem Zusammenhang sollte nicht von einem „ökumenischen Gottesdienst“ gesprochen werden (Abs. 43). Auf neuralgische Punkte wie die Synkretismusgefahr bei der Inkulturation (Abs. 28) oder die Rolle von Frauen im Gottesdienst (Abs. 30) wird hingewiesen. Hier zeigt sich, dass keinesfalls allein die gemeinsame Eucharistiefeier ein Problem darstellt, sondern schon das gemeinsame Beten, schmerzhaft versinnbildlicht im abgetrennten orthodoxen Altarbereich in der Kapelle des Weltrates in Genf. Die Ekklesiologie wird immer wieder zum Stolperstein der Ökumenischen Gemeinschaft. 2. Die Kommission plädiert für die Einführung eines Konsensverfahrens bei der Entscheidungsfindung (Abs. 46–52). Nicht zuletzt mit dem Argument, dass diese Vorgehensweise manchen Kulturen vertrauter ist als das bisher gehandhabte Abstimmungsmodell westlicher Provenienz (Anhang B, Abs. 2). Durch die Hintertür dringt hier die von den Orthodoxen negierte Kontextfrage herein. 154 Vgl. www.wcc.org.
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• katholisch – orthodox: Das Ravenna-Dokument über Kirchliche Gemeinschaft, Konziliarität und Autorität (2007) ist das bisher letzte in einer Reihe von Dokumenten der gemeinsamen internationalen Kommission für theologischen Dialog zwischen der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche.155 Seit ihrer ersten Vollversammlung auf Rhodos 1980 hat diese Kommission sich über Themen wie das Geheimnis der Trinität, die Eucharistie, den Glauben, die Sakramente oder die apostolische Sukzession verständigt. Die beiden Konfessionen streben volle Kirchengemeinschaft unter Anerkennung der Ämter und Abendmahlsgemeinschaft an.156 Es besteht Einigkeit darüber, dass der Bischof von Rom der Erste (protos) unter den Patriarchen ist. Umstritten sind aber die damit verbundenen Vorrechte (Abs. 41) und die biblisch-theologischen Grundlegungen (Abs. 43). Der Konsultationsprozess wurde inzwischen fortgesetzt mit einer Vollversammlung zur Rolle des Bischofs von Rom im ersten Jahrtausend. Es sollen Tagungen zu seiner Rolle im zweiten Jahrtausend und der Bedeutung der [beiden] Vatikanischen Konzilien folgen.157 • katholisch – lutherisch: Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) zieht Bilanz nach beinahe 30 Jahren internationaler und nationaler katholisch-lutherischer Dialoge über die Rechtfertigungslehre (Abs. 4).158 Sie will damit nicht nur die beiden betroffenen Kirchen informieren, sondern auch Verbindlichkeit herstellen für den erreichten „Konsens in Grundwahrheiten“ (Abs. 5). Damit sollen in erster Linie die Lehrverurteilungen des 16. Jh.,159 die sowohl in den lutherischen Bekenntnisschriften als auch durch das Trienter Konzil festgeschrieben sind (Abs. 1), überwunden werden (Abs. 5). Die GER argumentiert damit, dass den „Kirchen neue Einsichten zuwachsen“, die es erlauben „die trennenden Fragen und Verurteilungen zu überprüfen und in einem neuen Licht zu sehen“, ohne dass die „eigene kirchliche Vergangenheit“ desavouiert wird (Abs. 7). 155 Ecclesiological and Canonical Consequences of the Sacramental Nature of the Church. Ecclesial Communion, Conciliarity and Authority (www.vatican.va). 156 Ähnlich, wie sie die europäischen protestantischen Denominationen mit der Leuenberger Konkordie schon verwirklicht haben. 157 Während die orthodoxen Kirchen die Lehrentscheidungen der ersten sieben ökumenischen Konzilien für ausreichend halten, zählt die römisch-katholische Kirche bis heute 21, einschließlich des Zweiten Vatikanischen Konzils. 158 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3, 419–430 (vgl. www.lutheranworld.org). 159 Vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, hg. von Karl Lehmann / Wolfhart Pannenberg / Theodor Schneider, 4 Bde, Freiburg / Göttingen 1986–1994.
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Die Verfasser gehen dabei so vor, dass sie zunächst jeweils festhalten, was gemeinsam gesagt werden kann, und dann die lutherischen und katholischen Varianten einander gegenüberstellen, immer darauf bedacht, sie zugleich aufeinander zu beziehen. Exemplarisch sei hier auf die Absätze 37–39 verwiesen, in denen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Blick auf die Bedeutung der Werke dargelegt werden. Für Katholiken „tragen die guten Werke [...] zu einem Wachstum der Gnade bei“ (Abs. 38), Lutheraner betonen, „dass die Gerechtigkeit als Annahme durch Gott und als Teilhabe an der Gerechtigkeit Christi immer vollkommen ist“ (Abs. 39). Während Rom das Dokument vor der Unterzeichung durch die Glaubenskongregation hat prüfen lassen und mit der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung (GOF) ergänzt durch einige Erläuterungen (Annex) offiziell ratifizieren konnte, hatte der Lutherische Weltbund kein Mandat seiner Mitgliedskirchen, das etwa auf synodalen Beschlussfassungen basiert wäre. Es ergibt sich also die Frage, mit welcher Verbindlichkeit der damalige Präsident und seine VizepräsidentInnen, sowie der amtierende Generalsekretär Ishmael Noko diese Erklärung unterzeichnen konnten. Praktische Konsequenzen für das ökumenische Miteinander der beiden Kirchen vor Ort zeitigt diese Erklärung nicht. Im Blick auf diese beiden Punkte ist die in einem offenen Brief geäußerte Kritik deutscher protestantischer theologischer Hochschullehrer berechtigt. Schwieriger ist es mit ihrer Kritik an Inhalt und Zielen der Erklärung. Die Kritik bezog sich vor allem auf den in der GER fehlenden Konsens über die Bedeutung von Wort und Glauben für die Rechtfertigung, über die Heilsgewissheit, über das Sündersein des Gerechtfertigten, über die Bedeutung der guten Werke für das Heil sowie über die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre; ferner auf den nur unzureichenden Konsens über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium; schließlich auf die mangelnde Berücksichtigung des Alten Testaments.160
Den Verfassern der GER ging es um ein klar abgegrenztes Problem, die Überwindung der Lehrverurteilungen im Blick auf die Rechtfertigungslehre. Die bleibenden Unterschiede werden benannt, aber als nicht mehr trennend eingestuft. Insofern lässt sich von einem Konsenspapier sprechen. In Anbetracht der bleibenden Unterschiede wäre der Begriff Konvergenz wohl angemessener gewesen. Die Kirchen trennende Fragen von Sakrament und Amt waren überhaupt nicht Gegenstand dieser Dialoge und bleiben weiterhin bestehen. 160 Stellungnahme theologischer Hochschullehrer zur geplanten Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Rechtfertigungslehre (www.w-haerle.de).
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Intra-konfessionelle multilaterale Dialoge Die vielleicht bedeutendste ökumenische Übereinkunft im protestantischen Bereich ist die Leuenberger Konkordie von 1973. Mit ihr haben lutherische, reformierte und unierte Kirchen Europas161 in der Bindung an die sie verpflichtenden Bekenntnisse und unter Berücksichtigung ihrer Traditionen die theologischen Grundlagen ihrer Kirchengemeinschaft dargelegt und einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament gewährt. Dies schließt Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der Ordination ein (Einleitung).
Die Konkordie stellt zunächst das gemeinsame Verständnis des Evangeliums in den beteiligten Kirchen fest. Im Zentrum steht dabei erwartungsgemäß die Rechtfertigungsbotschaft sowie Verkündigung, Taufe und Abendmahl: „Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend (ebd.).“162 In einem folgenden Schritt werden die Lehrverurteilungen der Reformationszeit im Hinblick auf „die Abendmahlslehre, die Christologie und die Lehre von der Prädestination“ als nicht mehr dem Stand der Lehre entsprechend eingestuft (Abs. III.4). Die Konkordie respektiert die distinkten Bekenntnisse und Traditionen der beigetretenen Kirchen, stuft aber die Gemeinsamkeiten im Wesentlichen höher ein als die Unterschiede im Detail (Abs. IV.2.b). Zugleich verpflichten sich die Gliedkirchen „zu kontinuierlichen Lehrgesprächen untereinander“ und eröffnen so interkulturelle Lernchancen (ebd.). Das methodische Vorgehen zeigt deutliche Parallelen zu den orthodoxkatholischen Gesprächen. Diese bi- oder multilateralen Dialoge innerhalb der beiden Blöcke sind auf ihre Modelltauglichkeit für das ökumenische Gespräch insgesamt zu prüfen.163 Auf dem Weg zu einer interkonfessionellen Hermeneutik Mit dem Papier Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen ist das Kontextualisierungskonzept mitsamt der ihm inhärenten Spannung zwischen Kontextualität und Katholizität auch in der Kommission für Glauben und Kirchenver161 Sowie die „ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder”. 162 Vgl. CA VII. 163 Auch die orthodoxen Kirchen suchen den Dialog miteinander. Vgl. Dokumente wachsender Übereinstimmung ab Bd. 2.
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fassung angekommen.164 Da die Verfasser am Ziel der sichtbaren Einheit der Kirche festhalten, wird die Hermeneutik des Verdachts einer Hermeneutik der Kohärenz (Abs. 6) untergeordnet; die sich zudem durch eine Haltung bzw. Hermeneutik des Vertrauens auszeichnen muss (Abs. 8). Eine Hermeneutik für die Einheit sollte zu einer ökumenischen Methode führen, durch die Christen aus verschiedenen Kulturen und Kontexten wie aus verschiedenen Konfessionen lernen, einander mit Respekt zu begegnen und offen zu sein für eine metanoia, die einen wahren „Gesinnungs-“ und Herzenswandel darstellt (Abs. 8).
Die Verfasser knüpfen zunächst an das Montreal-Dokument Schrift, Tradition und Traditionen an, das allerdings die Frage nach einem gemeinsamen Verständnis der einen Tradition noch offen gelassen hatte (Abs. 15–18). Daher besteht die Gefahr, dass die Kirchen die eine TRADITION ausschließlich mit ihrer eigenen Tradition identifizieren. [… Dies ändert] nichts an der Tatsache, dass Montreal eine wertvolle Unterscheidung eingeführt hat zwischen der TRADITION als dem, was Gott im Leben der Kirche weitergegeben haben möchte, der Tradition als dem Prozess, durch den diese Weitergabe stattfindet, und den Traditionen als den spezifischen Ausdrucksformen christlichen Lebens und Denkens (Abs.18).
Die Verfasser bekennen sich zum heutigen Methodenpluralismus in der Schriftauslegung, auch wenn sie zugleich konzedieren müssen, dass manche Mitgliedskirchen etwa die historisch kritische Methode – von den neueren Methoden ganz zu schweigen –, ablehnen (Abs. 21f.). Doch muss die Hermeneutik der Kohärenz dazu führen, dass die verschiedenen Traditionen als komplementär angesehen werden (Abs. 28).165 Mehr noch, als Hermeneutik des Vertrauens muss sie voraussetzen, dass trotz der unterschiedlichen Schriftauslegung alle die „rechte Absicht des Glaubens“ haben (Abs. 30). Auf die Frage der Autorität bzw. Interpretationsmacht wird dabei nur verwiesen (Abs. 31). Dies ist aber gerade einer der neuralgischen Punkte. Montreal mag denn mit seinen Unterscheidungen dazu beigetragen haben, „den alten Gegensatz von ‚sola scriptura‘ gegenüber ‚Schrift und Tradition‘ zu überwinden“ (Abs. 16), die Machtfrage etwa des Lehramtes im römischen Katholizismus blieb davon unberührt. Der Appell an die Kirchen, „von einem 164 Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Eine Anleitung zu ökumenischem Nachdenken über Hermeneutik, Frankfurt/M. 1999 (Absatzangaben im Text); vgl. Interpreting Together. Essays in Hermeneutics, hg. von Peter Bouteneff / Dagmar Heller, Genf 2001. 165 Vgl. Leo J. Koffeman, Protestantism and Roman Catholicism. Two complementary traditions?, in: Passion of Protestants, hg. von Pieter N. Holtrop et.al., Kampen 2004, 51–71.
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gegenseitigen Verstehen zu gegenseitiger Anerkennung überzugehen“ (Abs. 34), nimmt die Anerkennung der Taufe als Ausgangpunkt (Abs. 58) und die gemeinsame Feier des Abendmahls als Zielvorgabe (Abs. 46). Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung hat mit diesem Papier ein Instrument für die interkonfessionelle Hermeneutik bereitgestellt, die anschlussfähig für aktuelle Diskurse ist. Es steht jedoch zu befürchten, dass manche Teilkirchen es ungenutzt links liegen lassen werden. Der akademische Theologe und interkonfessionelle Theoretiker könnte sich nun vielleicht lakonisch zurücklehnen und sagen: ‚In ökumenisch dürftiger Zeit ist dies, was an Konvergenzen und gelegentlichem Konsens erreichbar zu sein scheint.‘ Wer aber die gelebte Religion kennt, weiß, was die fortbestehenden Differenzen für Unheil etwa in Blick auf die Abendmahlsteilnahme von Partnern aus konfessionsverbindenden Ehen bedeuten. Auch bei Taufen wird gelegentlich Druck ausgeübt, dass die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen seien. Oft wird dann die protestantische Option als Weg des geringsten Widerstands gewählt. Im ökumenischen Geiste geschieht dies alles nicht. Ich habe in diesem Paragraphen den Zugang über die Geschichte von Ideen und Bewegungen und ihre zunehmende Institutionalisierung gewählt und ökumenische Dokumente analysiert, denn über diesen Dialog des Verstandes wird Ökumene vor allem wahrgenommen. Eine Alternative wäre der biographisch-theologische Zugriff gewesen, der Porträts der großen Ökumeniker wie John Mott (1865–1955), John Oldham (1874–1969), D.T. Niles (1908–1970) oder Wilhelm A. Visser’t Hooft (1900–1985) und ihrer Visionen zeichnet, an denen es heute mangelt; oder ein praxisorientierter Zugang über die gelebte Ökumene vor Ort. In diesem Dialog des Lebens erscheint plötzlich vieles wieder möglich, was auf dem Papier nicht sein kann. Kardinal Walter Kasper (*1933), der Vorsitzende des Rates für die Einheit der Christen, schließlich spricht von der „geistlichen“ oder „spirituellen Ökumene“, die ihre Mitte im gemeinsamen Gebet für die Einheit findet (vgl. Joh 17,21).166 Auch wenn die beiden letztgenannten Typen des Dialogs mehr Spielraum zu ermöglichen scheinen, alle drei stoßen sie irgendwo an ihre Grenzen, im interkonfessionellen wie im interreligiösen Dialog (→§ 4.2.1). Auf die Schwierigkeiten schon beim gemeinsamen Gebet, des Dialoges der Herzen, habe ich im Zusammenhang der Frage der orthodoxen Mitgliedschaft im ÖRK hingewiesen. Im Dialog des Lebens vor Ort wird zwar oft augenzwin166 Vgl. Walter Kardinal Kasper, Wegweiser Ökumene und Spiritualität, Freiburg etc. 2007.
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kernd die gemeinsame Eucharistie gefeiert, wenn das aber ruchbar wird, haben die katholischen Partner mit Restriktionen zu rechnen. Der Dialog des Verstandes schließlich lässt die Unterschiede im Hinblick auf Amtsverständnis und Ekklesiologie aufeinanderprallen. Die Konsensökumene gegen die heute gerne beschworene Differenzökumene auszuspielen, wäre allerdings ungerecht gegenüber dem trotz alledem schon Erreichten.167 Die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Konfessionen und Denominationen haben sich normalisiert.168 Innerhalb der beiden konfessionellen Blöcke wächst selbst die Kircheneinheit. Es gilt daher die Gemeinsamkeiten zu pflegen und die Unterschiede zu benennen und anzuerkennen. Wolfgang Huber spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ökumene der Profile“, „in welche die Kirchen sowohl ihre Gemeinsamkeiten als auch ihr unterschiedliches Profil einbringen“.169 Ich selbst würde hier aufgrund meiner Lernerfahrungen im interkulturellen und interreligiösen Dialog noch weiter gehen und auf die Chancen wechselseitiger Bereicherung durch die unterschiedlichen Profile verweisen wollen. Die versöhnte Einheit in konfessioneller und denominationeller Verschiedenheit bewahrt den Reichtum der christlichen Traditionen. Die Rede von der „Komplementarität der Traditionen“ weist in die richtige Richtung, auch wenn sie mit orthodoxem und römisch-katholischem ekklesiologischem Selbstverständnis letztendlich nicht zu vereinbaren zu sein scheint. Die Ämterfrage und die unterschiedlichen Ekklesiologien dürfen nicht gegen die Gastfreundschaft im Abendmahl ausgespielt werden. Hier bedarf es einer ökumenischen Epoché. Anerkennung der Taufe und gemeinsame Feier des Abendmahls – den beiden einzigen nach allgemeiner Überzeugung auf Jesus zurückzuführenden Sakramenten – versinnbildlichen dann die Einheit der (unsichtbaren) Kirche, die immer schon von Gott geschenkt ist, bei aller bleibenden Verschiedenheit der sichtbaren Kirchen. 167 „Im Gegenteil scheint es, als würden seit dem 1989 eingetretenen Ende der nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Nachkriegsordnung die zentrifugalen Kräfte zwischen den Kirchen an Stärke gewinnen“ ( Ulrich H.J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005, 13). Vgl. Michael Weinrich, Ökumene am Ende? Plädoyer für einen neuen Realismus, Neukirchen-Vluyn 1995. 168 Vgl. Raiser, Ökumene, 42. 169 Wolfgang Huber, Im Geist der Freiheit – für eine Ökumene der Profile, Freiburg 2007, 137. In eine ähnliche Richtung weist letztendlich auch die realistische Einschätzung der Vollversammlung in Porto Allegre 2006. Vgl. Berufen, die eine Kirche zu sein. Eine Einladung an die Kirchen ihre Verpflichtung zur Suche nach Einheit zu erneuern und ihren Dialog zu vertiefen (www.oikomene.org).
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Für die interkonfessionellen Dialoge gilt ähnlich wie für die interreligiösen, dass der Weg das Ziel ist. Auch wenn die konfessionellen Unterschiede im Blick auf Ekklesiologien und Amtsverständnis sich letztendlich als inkommensurabel erweisen sollten, gilt es doch die Grenzen im Dialog offenzuhalten und Nachbarschaftlichkeit und Gastfreundschaft Raum zu geben. Wer aufhört, an die ökumenische Utopie zu glauben, kann leicht ganz den interkulturell geteilten Glauben verlieren.
3. Mission und Einheit Nicht nur, dass die historisch im Westen verorteten konfessionellen und denominationellen Spaltungen den Menschen in den Missionsgebieten unverständlich blieben, mehr noch waren sie irritiert von dem intra-christlichen Konkurrenzkampf um die Rettung ihrer Seelen. Die fehlende christliche Einheit erwies sich zunehmend als Bekehrungshindernis. Insofern ist die moderne Missionsbewegung nicht nur formal aufgrund ihrer denominationellen Vielfalt, sondern auch inhaltlich in ihrem Bestreben, nach außen mehr Einheit zu demonstrieren, einer der Quellströme der ökumenischen Bewegung. Dass der Internationale Missionsrat dem Weltrat der Kirchen erst nach längerem Zögern auf der Dritten Vollversammlung in Neu Delhi 1961 beitrat, hat seinen Grund in der Priorisierung der Mission. Darin ist auch der spätere Auszug des evangelikalen Flügels in die Lausanner Bewegung begründet (→§1.4). Während die orthodoxen Ostkirchen das Ziel der Einheit durch Säkularökumenismus und Dialog bzw. Synkretismus bedroht sahen, waren dieselben Phänomene für die Evangelikalen Verrat am Ziel der Mission. Unter dem Motto „Mission in Einheit (mission in unity)“ hat nicht nur der Reformierte Weltbund mit einem langjährigen Projekt, sondern auch die Missionsabteilung des ÖRK (Commission for Worldmission and Evangelization – CWME) in Vorbereitung des hundertjährigen Jubiläums der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 umgekehrt versucht, die Einheit der Kirchen gerade durch das gemeinsame Ziel der Mission zu befördern. Die Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung hat im Titel ihrer Ekklesiologiestudie Natur und Mission der Kirche in unmittelbaren Zusammenhang gestellt.170 Die Studie vertritt einen kontextuellen Begriff von Mission (Abs. 170 The Nature and the Mission of the Church, Genf 2005; vgl. Dagmar Heller (Hg.), Das Wesen und die Bestimmung der Kirche. Ein Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Auffassung, Frankfurt/M. 2000.
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4). Die Werte des Reiches Gottes müssen nicht nur im interkulturell-religiösen Gespräch eingebracht werden, sondern auch im Bereich sozio-ökonomischer und politischer Fragestellungen (Abs. 115). Nichtsdestotrotz stehen Mission und Einheit im Alltag der Kirchen bleibend in einem dialektischen Spannungsverhältnis.
Teil III: Generative Themen: Eine kleine interkulturelle Glaubenslehre
In diesem dritten Teil kehre ich noch einmal zu den kontextuellen Theologien zurück und erschließe querschnitthaft anhand einiger generativer Themen ihren Beitrag zum globalen systematisch-theologischen Diskurs (§ 7–12). Wer erwartet Texte zu finden, die sich nach traditionellen systematisch-theologischen Kategorien ordnen lassen, verzeichnet schnell eine Fehlanzeige. Anders verhält es sich allerdings im Falle der Christologie. Diese hat sich als hermeneutischer Schlüssel zu und Vergleichspunkt zwischen den diversen kontextuellen Theologien erwiesen.1 Genaueres Hinsehen und das Bearbeiten des Materials in seiner ganzen Breite ermöglicht es aber doch auch da, wo Monographien oder zumindest Artikel zum Thema gänzlich fehlen, noch aus gelegentlichen Hinweisen und Nebenbemerkungen eine kleine interkulturelle Glaubenslehre zu re/konstruieren, die sich als erstaunlich konsistent erweist. Die Typologie kontextueller Theologie und die heuristische Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und interkulturellen Lernchancen dienen dabei als tragfähige Strukturelemente. Vollständigkeit des zu verarbeitenden Materials ist nicht angestrebt, Repräsentativität schon. Interkulturelle Theologie will die Selbstreferentialität eurozentrisch-westlicher, aber auch konservativ-evangelikaler Theologie mit einem radikalen Perspektivenwechsel durchbrechen (→§ 5.6). Indem sie der Position des Gegenübers Respekt erweist, Differenzen anerkennt und sich selbst verwundbar macht, schafft sie Raum für den Dialog. Diese relationale Herangehensweise ermöglicht die Kontextgebundenheit der jeweils eigenen Position zu erkennen und eröffnet interkulturelle Lernchancen um auch im Westen reflexive Theologien zu formulieren. Die Textur des Gewebes der 1
Vgl. Küster, Die vielen Gesichter; Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika, Luzern 1997; Manuela Kalsky, Christaphanien. Die Re-Vision der Christologie aus der Sicht von Frauen in unterschiedlichen Kulturen, Gütersloh 2000; Martha T. Frederiks / Martien E. Brinkman, Images of Jesus. Contributions of African and Asian Women to the Christological Debate (1982–2007), in: Studies in Interreligious Dialogue 19, 2009, 13–33.
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generativen Themen des christlichen Glaubens ist längst dabei sich glokal zu verändern, wie wir in den nun folgenden Paragraphen sehen werden.
§ 7 Die vielen Gesichter Jesu Christi Jesu Frage an seine Jünger „Wer sagt ihr, dass ich sei?“ (Mk 8,29), stellt sich in den Kontexten der Dritten Welt stets aufs Neue. An ihrer Beantwortung entscheidet sich letztendlich, ob der christliche Glaube in diesen Ländern eine dauerhafte Heimat findet oder nicht. Entsprechend der oben eingeführten Typologie lassen sich drei Spielarten kontextueller Christologien unterscheiden: Inkulturations- (1.) und Dialogchristologien (2.) sowie Befreiungschristologien (3.). Sie werden im Folgenden in ihren Hauptlinien dargestellt. Die Gender-Frage wird dabei immer mitbedacht. Einige Überlegungen zur Christologie in messianischen Dimensionen (4.) und ein abschließender Vergleich der dargestellten Positionen (5.) runden diesen Paragraphen ab.
1. Jesus einen neuen Hoheitstitel verleihen – Inkulturationschristologien in Afrika In Afrika wird Jesus Christus analog den christologischen Hoheitstiteln neutestamentlicher Zeit häufig ein afrikanischer Preisname verliehen. Dadurch soll ein Bezug zum afrikanischen kulturellen Erbe hergestellt werden: „Das Antlitz Christi sehen, sein afrikanisches Antlitz erkennen, dass heißt, einen afrikanischen Namen für ihn zu finden.“2 Vergleichbar dem aus dem Hellenismus übernommenen Herrschertitel kyrios wird Jesus Christus etwa als Häuptling angesprochen. Er ist großmütig und weise. Seine Stärke lässt ihn zum Helden werden. Er steht auf der Grenze, „an einem Schnittpunkt des irdischen und überirdischen, einer Sphäre, die von den Bantu Sphäre der ,Starken‘ (bakolé) genannt wird“.3 Gott selbst ist der Häuptling und als sein Sohn ist Jesus Christus sein Gesandter. Er vermittelt zwischen Gott, der Welt der Ahnen und den Menschen seines Volkes. Über ihn fließt das Leben in die 2
3
Anselme Titianma Sanon, Jesus, Meister der Initiation, in: Der schwarze Christus. Wege afrikanischer Christologie, Freiburg etc. 1989, 87–107, 93. Vgl., Küster, Die vielen Gesichter, 62–84. Francois Kabasélé, Christus als Häuptling, in: Der schwarze Christus, 57–72, 65.
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ihm anvertraute Gemeinschaft. Auch als Initiationsmeister wird Jesus Christus tituliert. Wieder steht der Vermittlungsgedanke zentral. „Die Initiation kommt von den Ahnen.“4 Jesus Christus hat die Initiation nicht nur exemplarisch durchlaufen und leitet uns darin an, sondern hat sie auch stellvertretend für uns vollendet. Häuptling und Initiationsmeister sind Mittler zu den Ahnen, die selbst den jenseitigen Bereich im Diesseits vergegenwärtigen. Die Ahnen sind Quelle des Lebens, das von Gott kommt. Es liegt insofern nahe, Jesus Christus als den Ahn anzusprechen. Er vermittelt das Leben und vergegenwärtigt Gott in der Gemeinschaft. Charles Nyamiti (*1931) beschreibt Jesus Christus in afrikanischer Nomenklatur als den Bruderahn. Ein Bruderahn ist der Verwandte einer Person, mit der er gemeinsame Eltern hat, für die er Vermittler zu Gott und Archetyp des Verhaltens ist und mit der er – Dank seines durch den Tod erlangten übernatürlichen Status – regelmäßig heilige Kommunikation pflegt.5
Um den Abstand zu den afrikanischen Ahnen zu vergrößern, bezeichnet Bénézet Bujo (*1940) Jesus Christus als Proto-Ahn: „Wenn Jesus Christus der Proto-Ahn ist, Quelle des Lebens und des Glücks, so geht es darum, die memoria seiner passio, mors et resurrectio zu aktualisieren, indem man alle Handlungen des Menschen darauf zurückführt.“6 Den latenten Vitalismus des afrikanischen Ahnenglaubens konfrontiert Bujo mit Jesu Gegenwart im Leiden der Armen und Unterdrückten und plädiert für eine Synthese von Afrikanischer und südafrikanischer Schwarzer Theologie. Wie im Falle der neutestamentlichen Hoheitstitel Messias und Kyrios müssen auch die afrikanischen Preisnamen durch das Kreuzesgeschehen radikal umgewertet werden. Macht, Reichtum und Prestige des Häuptlings und die dadurch entstandene Distanz zur Gemeinschaft etwa, aber auch die Selektion der Schwachen durch den Initiationsmeister, sind nicht kompatibel mit der Jesusgeschichte. 4 5 6
Anselme Titianma Sanon, Das Evangelium verwurzeln. Glaubenserschließung im Raum afrikanischer Stammesinitiationen, Freiburg etc. 1985, 125. Charles Nyamiti, Christ as our Ancestor. Christology from an African Perspective, Gweru 1984, 23. Bénézet Bujo, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext, Düsseldorf 1986, 79–98, 93. Vgl. ders., Auf der Suche nach einer afrikanischen Christologie, in: Der andere Christus. Christologie in Zeugnissen aus aller Welt, hg. von Hermann Dembowski / Wolfgang Greive, Erlangen 1991, 87–99; ders., Der afrikanische Ahnenkult und die christliche Verkündigung, in: Zeitschrift für Religions- und Missionswissenschaft 64, 1980, 293–306.
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Hier setzt auch die Kritik afrikanischer Theologinnen an, die in der Übernahme traditioneller Vorstellungen eine Perpetuierung des Patriarchats sehen. Sie nehmen insgesamt eine inkulturationskritische Haltung ein und stehen den Befreiungstheologien nahe. Kriterium für die Rezeption von Elementen der traditionellen afrikanischen Religion ist die Frage, ob sie der Befreiung der Frauen förderlich sind. Ich behaupte, dass jedwedes Element afrikanischer Kultur, das nicht befreiend für Frauen wirkt, nicht die notwendige Energie freisetzt, die für Afrikas Wohlbefinden nötig ist. Was immer als angemessen für Afrika angesehen wird, muss zuerst den Test bestehen, ob es für Afrikas Töchter angemessen ist.7
Innerafrikanische Kritik impliziert auch die Wahl des Titels Heiler. Wer Jesus als den großen Heiler verkünden will, der muss sich intensiv mit den Millionen von Hungernden im Sahel, mit den Opfern von Ungerechtigkeit und Korruption und mit den an einer Vielzahl von parasitären Erkrankungen Leidenden in den Tropenwäldern befassen.8
Hier wird bereits das Identifikationsangebot des leidenden Christus angedeutet, das in den Befreiungstheologien zu voller Entfaltung kommt. Die generativen Themen des afrikanischen Kontextes, Gemeinschaftsbezug und Lebenszentriertheit, werden jedoch auch von den kritischen Stimmen in ihrer Bedeutung anerkannt.
2. Versuche, die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus neu zu denken – Dialogchristologien in Asien In Afrika ist Dialogtheologie zunächst Inkulturationstheologie und umgekehrt. Bedingt nicht zuletzt durch die Frage der Repräsentation – Wer kann für die traditionelle afrikanische Religion sprechen? – handelt es sich, wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, dann gewissermaßen um einen inneren Dialog christlicher Theologen mit ihrem eigenen Erbe (→§ 4.2.4). Anders verhält es sich auch in Afrika mit dem Dialog zwischen Christentum und Islam, ohne dass hier allerdings Fragen einer kontextuellen 7
8
Mercy Amba Oduyoye, Christian Feminism and African Culture: The „Hearth“ of the Matter, in: Marc H. Ellis / Otto Maduro (Hg.), The Future of Liberation Theology. Essays in Honor of Gustavo Guttiérrez, Maryknoll, NY 1989, 441–449, 441. Cécé Kolié, Jesus – Heiler?, in: Der schwarze Christus, 108–137, 128.
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Christologie berührt würden. Demgegenüber sind in Asien vor allem im Dialog mit Hinduismus und Buddhismus Christologien im Grenzbereich zwischen zwei religiösen Denksystemen formuliert worden. Davon bleiben auch die genuinen asiatischen Inkulturationstheologien nicht unberührt.9 Christologie im Kontext des Hinduismus Indien hat eine lange Tradition der christlich-hinduistischen Begegnung. Bereits der Jesuit Roberto de Nobili (1577–1656) hatte versucht, dem christlichen Glauben eine indische Gestalt zu geben, und dabei Elemente des Hinduismus aufgenommen. Er bewegte sich noch in den Grenzen des Akkommodationsmodells. Im 19. Jahrhundert setzten sich dann hinduistische Denker im Rahmen der Hindu-Renaissance, dem in der Begegnung mit der westlichen Kultur neu erwachten Hinduismus, mit der Person Jesu Christi auseinander. Entstanden sind dabei eine ganze Reihe hinduistischer Christologien. Zwei der großen indischen Theologen des 20. Jahrhunderts, M.M. Thomas (1916–1996) und Stanley Samartha (1920–2001), haben sich zu Beginn ihrer Karrieren mit diesen Hindu-Christologien auseinandergesetzt.10 Thomas war ursprünglich stärker an den sozio-ökonomischen und politischen Fragestellungen interessiert. Sein Thema war die Rolle des Christentums im Prozess der Nationwerdung im postkolonialen Indien. Samartha, der Gründungsdirektor des Dialogprogramms des Ökumenischen Rates der Kirchen, war demgegenüber durch und durch Dialogtheologe. M.M. Thomas, der Zeit seines Lebens eine inklusivistische Position vertrat, sprach analog dem von ihm propagierten „christuszentrierten Humanismus“ von einem „christuszentrierten Synkretismus“ (→Prolog). Dabei wollte er den negativ besetzten Begriff Synkretismus religionswissenschaftlich neutral verstehen. Er bezeichnet dann die bei der Begegnung von Reli9 10
Vgl. etwa die Arbeiten von C.S. Song und Kosuke Koyama; Küster, Die vielen Gesichter, 129–147. Vgl. M.M. Thomas, Christus im neuen Indien. Reform-Hinduismus und Christentum, Göttingen 1989 [engl. 1969]; Stanley Samartha, Hindus vor dem universalen Christus, Stuttgart 1970. Mit dem Titel der englischen Originalausgabe The Acknowledged Christ of the Indian Renaissance grenzt Thomas sich ab gegen Raimundo Panikkar, The Unknown Christ of Hinduism. Towards an Ecumenical Christophany, revised and enlarged edition, Maryknoll, NY 1981 [1964], der in Christus einen mystischen Urgrund sieht, der auch im Hinduismus verborgen gegenwärtig ist, unabhängig vom historischen Jesus. Thomas und Samartha wollen demgegenüber die Rezeption der Person Jesu Christi im Reformhinduismus darstellen (→§ 8.3; vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 88f.).
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gionen üblichen Amalgamierungsprozesse. Diese will Thomas nun allerdings christlich steuern. Wir können dann von anderen Realitäten der Welt und des Lebens als real sprechen, weil sie ihr Zentrum in Jesus Christus haben. Selbst den unterschiedlichen Erklärungsmodellen der Welt und des Lebens, also den anderen religiösen und säkularen Glaubensweisen, muss nicht ihr Wert abgesprochen werden. Solange sie im Licht der Zentralität Christi neu definiert oder transformiert werden können.11
Stanley Samartha folgte dem Weg der Pluralistischen Theologie der Religionen vom Christozentrismus über den Theozentrismus zu einer Position jenseits des Theismus / Non-Theismus.12 Dabei driften der historische Jesus und Christus, als der sich inkarnierende Gott, auseinander. Jesus wird zur Inkarnation eines Gottes (avatara) neben anderen.13 Die Theorie mehrerer avataras scheint die theologisch angemessenste in einem pluralistischen Umfeld zu sein. Sie erlaubt, sowohl das Geheimnis Gottes anzuerkennen als auch die Freiheit der Menschen, auf religiöse Initiativen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich zu reagieren.14
Thomas’ Kriterium der Christuszentriertheit kann Samartha damit nicht erfüllen. Die Christologie verliert sich in der vom ihm als Reverenzrahmen favorisierten Hindu-Philosophie der All-Einheit (advaita). Christologie im Kontext des Buddhismus In Japan hat vor allem die buddhistische Kyotoschule das Gespräch mit westlichen Denktraditionen gesucht. Ihr Begründer Kitaro Nishida (1870– 1945) gilt als „,Erzvater‘ der modernen japanischen Philosophie“.15 Er war ein intellektueller Grenzgänger zwischen östlichem und westlichem Denken, der den von ihm selbst praktizierten japanischen Zen-Buddhismus mit den 11
12 13 14 15
M.M. Thomas, The Absoluteness of Jesus Christ and Christ-centered Syncretism, in: Ecumenical Review 37, 1985, 387–397, 387. Eine abweichende deutsche Fassung ist ders., Christusorientierter Synkretismus – Ziel des Dialogs zwischen verschiedenen Religionen, in: Zeitschrift für Mission 7, 1981, 70–80. Vgl. Stanley Samartha, One Christ – Many Religions. Toward a Revised Christology, Maryknoll, NY 1991 (→§ 4.1). Vgl. die Figur des boddhisatva im Dialog mit dem Buddhismus. Samartha, One Christ, 131. Die sogenannte „Kyoto-Schule“, eine informelle Gruppe von Philosophen, die lose mit dem Lehrstuhl für Moderne Philosophie an der Kyoto-Universität verbunden waren, hat sich Nishidas Strategie verschrieben, westliche Philosophie mit östlichem buddhistischem Denken zu kombinieren.
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Kategorien westlicher Philosophie durchdringen wollte. Ein paradox anmutendes Unterfangen, will der Zen-Buddhismus doch gerade die intellektuelle Reflexion und die damit verbundene Subjekt-Objekt-Spaltung überwinden und zur reinen Erfahrung durchbrechen. Katsumi Takizawa (1909–1984) und Seiichi Yagi (*1932) sind im Gefolge der Kyotoschule zu Denkern im Grenzgebiet zwischen Buddhismus und Christentum geworden.16 Während Takizawa einen buddhistischen Hintergrund hat, stammt Yagi aus einem christlichen Elternhaus. Takizawa erhielt von dem von ihm als Lehrer verehrten Nishida den Rat, sein Humboldt-Stipendium dazu zu nutzen, um in Deutschland bei Karl Barth zu hören. Yagi ging nach Deutschland, um bei Ernst Käsemann (1906–1998) Neues Testament zu studieren. Aufgrund der drängenden Fragen seiner Kommilitonen setzte er sich dann aber fern der Heimat auch mit dem Buddhismus auseinander. Beide beschreiben ihre Konversionen im Grenzbereich zwischen Buddhismus und Christentum in der Diktion des zen-buddhistischen Erwachens (Satori). Takizawa hatte sein erstes Erwachen bei der Lektüre der Schriften von Nishida, der ihn wiederum an Barth weiter verwies, in dessen Vorlesung sich diese Erfahrung gewissermaßen unter christlichen Vorzeichen wiederholte. Dieser von ihm erfahrenen Übereinstimmung zwischen Buddhismus und Christentum Ausdruck zu verleihen, wurde zu Takizawas Lebensthema. Yagi erlebte seine persönliche Bekehrung bzw. sein Erwachen zum Christentum bei der Lektüre von Paulus. Während seines Deutschlandaufenthaltes schenkte ihm der Japanmissionar und spätere Japanologe Wilhelm Gundert (1880–1971), ein Freund seines Vaters, einen von ihm übersetzten Zen-Text. Bei der Lektüre dieses Textes hat Yagi sein buddhistisches Satori-Erlebnis. Im Eilzug nach Göttingen las ich den Text. Der Zug war zum Glück leer; ich konnte allein in einer Ecke Platz nehmen und mich ungestört in die Lektüre vertiefen. Ich las mit solchem Eifer und solcher Konzentration, dass ich schließlich müde wurde. Erschöpft und gelassen blickte ich auf die ländliche Szene in der Nähe von Kassel. Der Regen hatte eben aufgehört; die Wolken spalteten sich. Der Riss der Wolken erweiterte sich, so dass der blaue Himmel sichtbar wurde. Da blitzte in mir plötzlich das Wort auf: „Offene Weite – Nichts von Heilig“.17 Ich stand auf und sah mich um. Etwas war an mir geschehen, was ich nicht sofort begreifen konnte. Alle Dinge, die ich sah, sahen 16 17
Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 102–128. Dieser Spruch stammt aus dem Yagi von Gundert geschenkten Buch (Bi-Yän-Lu). Solche Sprüche werden im Zen-Buddhismus Koan genannt. Die Rinzai-Schule hat ein ganzes Koan-System entwickelt. Das „Erwachen“ (Satori) ist jedoch nicht kausal an dieses System gebunden, sondern ist eher eine Unterbrechung, ein plötzliches Aufleuchten der Erkenntnis.
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ganz anders aus als bisher, obgleich sie doch dieselben blieben. Das erste Wort, das ich zu mir sagte war dies: „Ich habe den Baum für den Baum gehalten. Wie falsch war das!“ Was ich für den Baum hielt, war in Wirklichkeit nur der öffentliche Begriff „Baum“. In den „Gegenstand“ legte ich im voraus, ohne dessen bewusst zu sein, den öffentlichen Begriff hinein, und wenn ich ihn sah, legte ich nur aus, was ich vorher hineingelegt hatte, und das nannte ich „einen Gegenstand erkennen“. Ich erkannte also nur wieder, was ich schon lange gewusst hatte. Das war aber kein Sehen, keine Begegnung mit dem Seienden. Jetzt aber sah ich den „Baum“, wie er sich ursprünglich zeigte, vor jeder Begriffsbildung.18
Aus unterschiedlichen Traditionen kommend, haben Takizawa und Yagi sich zur Religion des jeweils anderen bekehrt, ohne jedoch die eigene zu verlassen, und in der Folge eine interreligiöse Christologie formuliert. Während bei Takizawa unter dem Einfluss buddhistischer Anthropologie dabei die Lehre von Jesus Christus in der Gotteslehre aufzugehen droht, rekonstruiert der Neutestamentler Yagi die Christologie mithilfe buddhistischer Ontologie. Takizawa meint, in Nishidas Lehre von der „absolut widersprüchlichen Selbst-Identität“ von Gott und Mensch und in Barths Urfaktum Immanuel („Gott mit uns“) den gemeinsamen Urgrund von Buddhismus und Christentum gefunden zu haben (→§ 8.3). In der Folge spricht er im Hinblick auf die von seinen Lehrern übernommenen Gedanken vom primären Kontakt Gottes mit den Menschen (Immanuel I). Zu diesem Kontakt muss der individuelle Mensch jedoch erst erwachen, wie Takizawa in buddhistischer Terminologie ausführt. In diesem Erwachen vollzieht sich der sekundäre Kontakt Gottes mit den Menschen (Immanuel II). Jesus Christus gilt Takizawa dabei als das Urbild dieses Kontaktes. Doch differenziert er klar zwischen dem historischen Jesus und Christus als der dem Menschen zugekehrten Seite Gottes. „Als Zeichen ist die Gestalt Jesu von der Sache selbst streng zu unterscheiden.“19 Takizawa spricht in diesem Zusammenhang auch von einer reinen The-anthropologie. Gott bildet sich in jedem Menschen immer schon ab. Gott und Mensch bleiben dabei unvermischt und ungetrennt. Dieses Verhältnis ist jedoch, wie Takizawa mit Barth gegen Nishida betont, unumkehrbar. Takizawa wertet die Anthropologie gegenüber der Christologie ungemein auf. Zugleich wird die Soteriologie in die Gotteslehre zurückgenommen. Die Christologie wird zur Jesulogie. 18 19
Yagi zitiert bei Ulrich Luz, Zwischen Christentum und Buddhismus: Seiichi Yagi, Japan, in: Waldenfels, Theologen der Dritten Welt, 161–178, 164. Katsumi Takizawa, Das Grundproblem der Christologie, in: Jahrbuch der Literarischen Fakultät der Kyushu Universität 4 / 1956, 1–51, 29.
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Yagi übernimmt im Laufe der Debatte mit Takizawa dessen Unterscheidung von primärem und sekundärem Kontakt. In seiner eigenen Terminologie nimmt er dafür eine Doppelstruktur des menschlichen Ich an. Das Ego, das unerwachte Ich des Menschen, ist ständig in Gefahr, dem Egoismus zu verfallen. Erst wenn es zum Selbst, Takizawas Immanuel I, erwacht, konstituiert sich im SelbstEgo der Kontakt Gottes mit dem Menschen. Im Unterschied zu Takizawa ist für Yagi dieser Kontakt jedoch nur potentiell gegeben. Er realisiert sich erst im Erwachen: „Soweit das Göttliche sich nicht selbst dem Ego offenbart – d.h. soweit wir uns dessen nicht bewusst sind – ist diese Realität praktisch nicht existent und in diesem Sinne sind wir nicht mit dem Göttlichen vereint.“20 Gleichzeitig führt Yagi – im Gegensatz zu Takizawa – unter Rückgriff auf Paulus Jesus Christus als göttliches Gegenüber wieder ein: „Christus als das Gegenüber, d.h. Christus als Gegenstand des Glaubens und Christus als das letzte Subjekt des Glaubenden sind bei Paulus paradox identisch.“21 Sein ist für Yagi immer In-Beziehung-Sein. Dem Vorwurf Takizawas und seiner Schüler, er würde durch seine Annahme, der primäre Kontakt sei nur potentiell gegeben, die Unumkehrbarkeit der Beziehung Gott – Mensch in Frage stellen, begegnet Yagi mit dem Argument, dass wir immer schon „in Christus“ sind, auch wenn „Christus in uns“ nur potentiell gegeben ist. Er illustriert dies mithilfe des Feldtyps der Frontstruktur, demzufolge wir uns immer schon in der Einflusssphäre Jesu Christi befinden (→§ 3.4).
3. Das Kreuz der Befreiung – Befreiungschristologien in Afrika und Asien Dass Jesus Christus im Leiden der Armen und Unterdrückten gegenwärtig ist, ist der zentrale Gedanke der Befreiungstheologien jeglicher Couleur. In Lateinamerika ging dies einher mit der Aufnahme der marxistischen Gesellschaftsanalyse, ohne dass jedoch der häufig vorgebrachte Ideologieverdacht letztendlich haltbar ist (→§ 5.6). Es handelt sich auch in diesem Fall um eine genuine Kreuzestheologie, die gegen schreiendes Unrecht aufbegehrt. Exponenten der Schwarzen Theologie in den USA (James Cone) und Südafrika (Alan Boesak) verkündigen den schwarzen Messias. 20 21
Seiichi Yagi, I in the Words of Jesus, in: Hick / Knitter, The Myth of Christian Uniqueness, 117–134, 128. Seiichi Yagi, Das Ich bei Jesus, in: Johanan Hesse (Hg.), „Mitten im Leben – vom Tod Umfangen“, Frankfurt/M etc. 1988, 37–48, 37.
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Schwarze Theologie ist eine Theologie der Befreiung. Sie ist der Überzeugung, dass Befreiung nicht nur ein Teil des Evangeliums ist oder mit ihm übereinstimmt, sondern der Inhalt und Rahmen des Evangeliums von Jesus Christus. […] Die Bedeutung der Vorstellung eines Schwarzen Messias liegt darin, dass sie die Konkretheit der fortgesetzten Präsenz Christi heute ausdrückt.22
Dabei stand in Südafrika von Anfang an der Gedanke der Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß unter dem Kreuz Jesu Christi zentral. Die südkoreanischen Minjung-Theologen sind „im leidenden Minjung dem leidenden Christus begegnet“.23 Der Neutestamentler Ahn Byung-Mu sieht in der Volksmenge (ochlos) um Jesus, wie sie das Markusevangelium beschreibt, ein Identifikationsangebot für das leidende koreanische Volk. Die Protagonisten dieser korporativen theologia crucis legen besonderen Wert darauf, dass die koreanische Leidenserfahrung han ebenso wenig übersetzbar sei wie der Begriff minjung. Han ist ein Grundgefühl des koreanischen Volkes. Er ist auf der einen Seite ein Konglomerat von Defätismus, Resignation und Verzweiflung der Schwachen, manchmal sublimiert in großartiger Kunst. Andererseits aber ist er der explosiv wirkende Mut und Lebenswille der Schwachen, der in den Revolten oder Revolutionen des im Han zerrissenen Minjung zum Vorschein kommt.24
In den befreiungtheologischen Neuaufbrüchen Indiens und Japans oder der Theologie von Frauen wird das christologische Grundmotiv entsprechend variiert. Jesus ist ein Dalit und die Burakumin tragen die Dornenkrone Jesu. Anders als der feministisch-theologische Diskurs im Westen, der grundsätzlich in Frage stellte, ob ein männlicher Erlöser Frauen erlösen kann, haben Dritte-Welt-Theologinnen die Identifikationsstrategie ihrer männlichen Kollegen übernommen. Jesus hat sich den Frauen zugewandt und ist in ihren Leiden gegenwärtig. Im Licht Christi nimmt Jesus, wenn er der Gott ist, der sich in einem Kontext wie dem unseren schwach gemacht hat, in seiner Identität als Gott-Mensch die gesellschaftliche
22 23
24
Allan Boesak, Unschuld die schuldig macht, Hamburg 1977, 9 und 49. Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 148–192. Ahn, Byung-Mu, Was ist die Minjungtheologie?, in: Junge Kirche 43, 1982, 290– 296; vgl. Küster, Theologie im Kontext.; ders., Jesus und das Volk; ders., A Protestant Theology of Passion. Korean Minjung Theology Revisited, Leiden 2010. Suh, Nam-Dong, Han: Darstellung und Theologische Reflexionen, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Minjung. Theologie des Volkes Gottes in Südkorea, NeukirchenVluyn 1984, 27–46 und 32f. (→§ 9.1).
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Stellung der afrikanischen Frau an. Die Afrikanerin kann sich sagen: Christus ist betroffen, berührt von der Situation, in der ich lebe.25
Frauen sind dabei die „Unterdrückten der Unterdrückten“, sie werden nicht nur durch die sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse unterdrückt wie ihre männlichen Leidensgenossen, sondern zusätzlich auch durch kulturell-religiöse Faktoren, die das Patriarchat stützen. Sie sind deshalb das „Minjung des Minjung“ oder die „Dalits der Dalits“.
4. Christologie in messianischen Dimensionen26 Die Befreiungstheologien jedweder Couleur aber auch die messianischen Bewegungen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, haben den Messias in den Mittelpunkt gestellt.27 Durch die Leidensgegenwart Jesu Christi wird den Armen und Unterdrückten kontrafaktisch zu ihren Lebensverhältnissen ihre ihnen als Gottes Ebenbilder eigene Würde zurückgegeben. Die Gegenwart wird transparent für das Heilswirken Jesu Christi. Aus dieser Glaubenserfahrung erwächst eine enorme messianische Hoffnung. Analog zum Konzept der „präsentischen Eschatologie“ ließe sich von „präsentischer Soteriologie“ sprechen. Die Armen und Unterdrückten sind dann die neuen Geschöpfe in Jesus Christus (→§ 11). Die messianischen Bewegungen gruppieren sich in der Regel um einen einheimischen Propheten (bzw. eine Prophetin), der bereits Kontakt mit der 25
26
27
Thérèse Souga, Das Christusereignis aus der Sicht afrikanischer Frauen – Eine katholische Perspektive, in: Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern 1992, 51–61, 60. Vgl. Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989. In der traditionellen Theologie der Mission ist dem Messias wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Selbst ihre eschatologische Begründung kommt weitgehend ohne ihn aus. Vgl. Walter Freytag, Mission im Blick aufs Ende, in: ders., Reden und Aufsätze II, München 1961, 186–198. Erste Ansätze zu einer nicht messiasvergessenen, eschatologisch begründeten Theologie der Mission finden sich bei Johannes Christiaan Hoekendijk mit seiner Rede von der „Schalomatisierung“ der Welt. Wie sein Weggefährte Hans Jochen Margull versteht er die Missio Dei als Geschichtshandeln des dreieinigen Gottes. Für beide bleibt die Christologie dabei der Gravitationspunkt. Während für Margull Jesus der Missionar ist, legt Hoekendijk den Akzent auf die befreiende Predigt des kommenden Messias. Sie stehen damit ebenso wie Jürgen Moltmann der Befreiungstheologie nahe. Vgl. Margull, Aufbruch zur Zukunft.; Werner Ustorf, Afrikanische Initiative. Das aktive Leiden des Propheten Simon Kimbangu, Bern / Frankfurt/M. 1975.
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christlichen Mission hatte und nun dem Evangelium eine eigene kontextuelle Gestalt gibt. Seine zumeist aus der Unterschicht stammenden Anhängerinnen und Anhänger erkennen in seiner Biographie oft Züge des Lebens Jesu wieder. In der Konsequenz wird er dann selbst zum Messias stilisiert, der ihnen eine Veränderung ihrer bedrängenden Lebensumstände und eine prosperierende Zukunft verheißt. In der Polemik ihrer Kritiker stehen die messianischen Bewegungen wegen der Aufnahme kulturell-religiöser Elemente unter Synkretismus- und die Befreiungstheologien aufgrund ihrer sozio-ökonomischen und politischen Analyse unter Ideologieverdacht (→§ 5.6). Die vorgebliche bzw. gelegentlich auch tatsächliche Identifikation des Propheten bzw. des leidenden Volkes mit dem Messias scheint dann diesen Häresieverdacht nur zusätzlich zu bestätigen. Die Aufnahme kulturell-religiöser Elemente und der Volksreligion hat etwa die Unabhängigen Kirchen zu den am schnellsten wachsenden Afrikas werden lassen (→§ 10). In den messianischen Bewegungen wurde vielfach schon verwirklicht, was die Inkulturationstheologien fordern. Im Unterschied zu diesen haben sie zugleich die christliche Messianologie kontextualisiert. Manche messianische Bewegung mündet dadurch allerdings auch in einer Neureligion. Andere legen jedoch explizit Wert auf die Anerkennung als christliche Kirche. Die Kimbanguisten etwa sind Mitglied des ÖRK. Bei den messianischen Bewegungen ist zu fragen, ob tatsächlich eine Identifikation des Propheten mit dem Messias vorliegt, er ihn in letzter Konsequenz also verdrängt und an seine Stelle tritt oder ob er stellvertretend das Leiden Christi in seinem Kontext durchlebt, ihn also gewissermaßen in seiner Person symbolisch abbildet und damit identitätsstiftend wirkt. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten: Kriterium des Messianismus ist immer zuerst der Messias selbst. In den Befreiungstheologien hat die Christologie deutlich eine identitätsstiftende Funktion, die in der Lehre vom Christus praesens gründet. Christus ist dann im Leiden des lateinamerikanischen Volkes ebenso gegenwärtig wie im südkoreanischen Minjung, er ist der Schwarze Messias, trägt die Dornenkrone der japanischen Burakumin oder ist ein indischer Dalit. Aufgrund ihrer innerweltlichen Visionen von einem besseren Leben sind die messianischen Bewegungen heute wie zu ihren Anfängen als antikoloniale Emanzipationsbewegungen massiven Repressalien seitens der Obrigkeit ausgesetzt. Die Befreiungstheologen werden diffamiert, inhaftiert, gefoltert und von Todesschwadronen ermordet, weil sie für die befreiende Botschaft des Evangeliums eintreten. Mit ihrer messianischen Politik stehen diese Bewegungen in ihrer Selbsteinschätzung gegen den politischen Messianismus
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unterdrückerischer Regime.28 Der postkoloniale Diskurs hat noch einmal deutlich gemacht, dass auch die Missionsgeschichte nicht frei ist von messianischem Sendungsbewusstsein, das sich etwa in der Verknüpfung von Christentum und westlicher Kultur äußert. Die Missionare haben sich dadurch zu Vollzugsgehilfen des Kolonialismus gemacht. Mit der christlichen Messiashoffnung vereinbar ist dies nicht. Umgekehrt steht die Option für die Armen ebenfalls unter dem eschatologischen Vorbehalt und jede Kulturtheologie bedarf des Messias als kritischer Instanz. Von Belang ist der Messias auch im Hinblick auf die Dialogtheologien. Ein Sonderfall ist dabei das jüdisch-christliche Gespräch. Hier ist für beide Seiten schnell der status confessiones gegeben. Ein Verzicht auf den Messiastitel christlicherseits29 ist dabei ebenso wenig sinnvoll, wie Jesus Christus als „das Ende des Messias“ zu proklamieren.30 Jürgen Moltmann schlägt demgegenüber vor, dass wenn Christen mit den Juden auf die Parusie des Messias warten, Juden umgekehrt die christliche Mission unter den Völkern als Ausbreitung der Messiashoffnung (preparatio messianica) verstehen könnten.31 Organisierte Judenmission ist unter diesen Vorzeichen ein Anachronismus. Messiasgestalten sind aber auch in anderen Religionen nicht unbekannt. Im Islam gibt es den Mahdi, den letzten der schiitischen Imame, im Hinduismus ist es Kalki, die zehnte und letzte Erscheinungsgestalt (avatara) des Gottes Vishnu, und im Buddhismus ist Maitreya der Buddha der Zukunft. Auch die Stammesreligionen kennen messianische Figuren. Eine funktionale Strukturparallele zwischen allen diesen Messianismen besteht in der Hoffnung der kleinen Leute auf konkrete sozio-ökonomische und politische Veränderungen beim Auftreten des Messias. Das Spezifikum der christlichen Messiashoffnung ist dabei die Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“. Eine Trennung zwischen Messianologie und Eschatologie im Sinne einer innerweltlichen Hoffnung ist christlich nicht möglich. In Jesus Christus hat sich zugleich eine Umwertung aller Werte vollzogen. Er hat nicht die im Judentum seiner Zeit umlaufenden Hoffnungen auf einen nationalen Retter erfüllt, sondern ist den Weg ins Leiden gegangen. Kreuz und Auferstehung gehören unauflöslich zusammen. 28
29 30 31
Vgl. Kim, Yong-Bock, Messias und Minjung. Zur Unterscheidung von messianischer Politik und politischem Messianismus, in: Moltmann, Minjung, 1984, 215–229. Vgl. Swidler, Der umstrittene Jesus. Vgl. Paul Althaus, Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh 1957, 309. Vgl. Moltmann, Der Weg Jesu Christi, 11 (→§ 4.2.2).
222
Teil III: Generative Themen
Der Messias ist Movens und Kriterium einer Interkulturellen Theologie, für die die Option für die Armen, die Wahrung kultureller Identitäten und der Dialog mit anderen Religionen zentral stehen. In der Nachfolge Jesu im Modus des „schon jetzt“ steht sie zugleich unter der Hoffnung auf seine Wiederkunft im „noch nicht“.
5. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen In Afrika und Asien zeigt sich eine klare Tendenz zu einer Theologie der Herrlichkeit (theologia gloriae). Die Vorstellung von einem leidenden Gottessohn, der am Kreuz sein Leben für viele gibt, bleibt afrikanischer und asiatischer Religiosität letztendlich fremd. Christus ist auch am Kreuz der Sieger (Christus victor), der den Tod überwindet. Er ist der Mittler vergleichbar den „Lebend-Toten“, wie die Ahnen in Afrika auch charakterisiert werden.32 In Asien scheinen zudem Gottheit und Menschheit in Jesus Christus auseinander zu driften. Dem kosmischen Christus steht dann der Mensch Jesus in seiner Einmaligkeit gegenüber. Die alten Problemstellungen des christologischen Dogmas – Gott und Mensch, Gekreuzigter und Auferstandener – begegnen hier in neuer Gestalt wieder. Erst wo die Theologinnen und Theologen im Leiden des Volkes dem leidenden Christus begegnet sind, wird Kreuzestheologie (theologia crucis) aussagbar. Der leidende Christus (Christus patiens) wird zu einem Identifikationsangebot für die Armen und Unterdrückten. Dadurch entfaltet die Kreuzestheologie ihre politische Sprengkraft. In Lateinamerika, wo der Kolonialismus die einheimischen Kulturen fast völlig ausgerottet hat, dauerte es lange, bis in der Theologie der einheimischen Völker auch der kosmische Christus wiederentdeckt wurde. Die Darstellung uns fremder Christologien sollte nicht als exotischer Bilderbogen missverstanden werden. Es geht vielmehr um das Einüben in interkulturelles Verstehen und Solidarität innerhalb der globalen Erzählund Interpretationsgemeinschaft der Christenheit. Die Pluralität der Christusbilder ist schon in den neutestamentlichen Schriften selbst begründet. Mit den vier Evangelien und der Paulusbriefsammlung liegen hier bereits mindestens fünf distinkte Christologien vor. Die Vorstellung, es könne ein verbindliches Christusbild geben, erweist sich vor diesem Hintergrund als unhaltbar. Diese Einsicht ermutigt zugleich dazu, selbst 32
Vgl. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, 1974, 32.
§ 7 Die vielen Gesichter Jesu Christi
223
eine Antwort auf Jesu Frage „Wer sagt ihr, dass ich sei?“ zu formulieren und sich ein eigenes Bild von Jesus Christus zu machen. Die kontextuellen Christologien eröffnen interkulturelle Lernchancen für unsere eigene christliche Identitätssuche in einer pluralistischen Gesellschaft und tragen zur Dynamisierung der christologischen Lehrbildung bei. Drei Aspekte will ich hervorheben: • Durch die Entdeckung der Gegenwart Jesu Christi in den Armen und Unterdrückten wird erinnert, dass jedem Menschen eine Würde vor Gott und seinen Mitmenschen zukommt, auch kontrafaktisch zu seinen Lebensverhältnissen. Die traditionelle Interpretation des Kreuzestodes Jesu als Opfer bleibt heute vielen Menschen im Westen fremd.33 Die relecture der Befreiungstheologien, die hinter dieser Symbolik ein Identifikationsangebot für Menschen in scheinbar aussichtslosen Lebenssituationen, sei es Armut und Unterdrückung oder Krankheit und Tod, erkennt, kann hier einen neuen Zugang eröffnen. • Jeder Mensch hat das Recht auf seine kulturell-religiöse Identität. Dass Jesus Christus selbst viele Gesichter hat, ermöglicht es, die Differenz im Antlitz des anderen auszuhalten. Dem kolonialen Anspruch eines weißen Christus, der das Ablegen der jeweils eigenen kulturellen Identität zugunsten der westlichen verlangte, haben die postkolonialen kontextuellen Theologien eine Vielzahl von Christusbildern entgegengesetzt. Damit haben die Inkulturations- und Dialogtheologien das Recht auf kulturell-religiöse Differenz christologisch begründet. • Die Christologie, insbesondere das Kreuz, ist eine kritische Instanz. Kontextuelle Theologien reden nicht der Beliebigkeit das Wort. Sie setzen sich durchaus kritisch mit ihrem Kontext auseinander. Die Befreiungstheologien prangern Armut und Unterdrückung, aber auch Rassismus und Sexismus an. Die Leidensgegenwart Jesu Christi entfaltet eine systemverändernde Kraft. Die Inkulturations- und Dialogtheologien unterziehen die jeweilige Kultur einer relecture. Die Begegnung mit anderen Religionen steht im Zeichen von Zeugnis und Dialog. Die Differenz der anderen anzuerkennen, heißt nicht die eigene Identität zu opfern, sondern in einen kritischen Dialog einzutreten.
33
Ganz anders im Kontext primärer Religionen, wo sie eine Anschlussmöglichkeit an traditionelle Opfervorstellungen bietet.
224
Teil III: Generative Themen
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war Während der Eigenname Jesu Christi lediglich phonetisch angepasst werden muss, wird bei der Übersetzung des hebräischen Tetragramms für den Namen Gottes nach Äquivalenten in der jeweiligen Landessprache gesucht.34 Damit ist ein Kontakt zwischen der christlich-jüdischen Gottesvorstellung und den Gottesvorstellungen der fremden Kulturen und Religionen unvermeidlich. Dies gilt für das theos des Neuen Testaments von dem unser Begriff „Theologie“ abgeleitet ist, ebenso wie für die ethymologischen Wurzeln des deutschen Wortes Gott. Die Missionsgeschichte kennt viele solcher Übersetzungsversuche, die teils auf bestehende Namen zurückgreifen, teils Neologismen, z.T. auch unter Rückgriff auf Bestehendes, schufen und die noch einer genaueren Erforschung harren.35 Um einige Beispiele zu nennen: Die arabischen Christen beten zu Allah wie ihre muslimischen Nachbarn. In China wurden in den aufeinanderfolgenden Phasen der Missionierung unterschiedliche Gottesnamen eingeführt. Die Nestorianer gebrauchten „Wahrer Herr (Zhe¯nzhuˇ)“, eine Übersetzungsmöglichkeit, die sie mit den Muslimen teilen. Die Katholiken bevorzugten „Herr des Himmels (Tı¯anzhuˇ)“. Die Protestanten schließlich sprachen von „Gott, dem Allerhöchsten (Shangdi)“. Bei der Missionierung Koreas wurden ebenfalls verschiedene Möglichkeiten der Übersetzung des Gottesnamens durchgespielt. Die Katholiken sprachen vom „Herrn des Himmels (Cheonju)“, die Protestanten von „dem Einen (Hananim)“. Für Afrika hat John Mbiti ein Florilegium an traditionellen Gottesnamen zusammengestellt. Im Folgenden soll es vor allem um die konzeptionelle Durchdringung der Begegnung kulturell-religiös divergierender Gottesvorstellungen in den kontextuellen Theologien gehen. Beim kontextuellen Reden von Gott kommt die Sprache allerdings zunächst schnell auf die von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie propagierte „Option [Gottes] für die Armen“ (1.),36 die 34
35
36
Vgl. Dorothea Erbele-Küster, (Bijbel)Vertaalsters en gastvriendschap. Interculturele Kanttekeningen, in: Freek L. Bakker / Jan Sihar Aritonang (Hg.), On the Edge of Many Worlds, FS Karel Steenbrink, Zoetermeer 2006, 67–70. Lamin Sanneh, Whose Religion is Christianity? The Gospel beyond the West, Grand Rapids, Michigan 2003, 18f., sieht in der Übersetzung des Gottesnamens einen wesentlichen Faktor für die Entstehung einheimischer christlicher Gemeinschaften. Vgl. ders., Translating the Message. The Missionary Impact on Culture, Maryknoll, NY 1989 [revised edition 2009]. Vgl. Silvia Regina de Lima Silva, God, in: Dictionary of Third World Theologies, hg. von Virginia Fabella / R.S. Sugirtharajah, Maryknoll, NY 2000, 94f.
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
225
darum auch hier am Anfang steht. Der Schwerpunkt liegt danach jedoch auf der Gottesrede im Kontext der afrikanischen Stammesreligionen (2.) sowie des Buddhismus und Hinduismus (3.). Ich habe jeweils einen Theologen ausgewählt und dessen Werk im Blick auf das Reden von Gott näher untersucht. Seitenblicke auf das jeweilige Umfeld runden das Bild ab. Abschließend frage ich nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den vorgestellten Entwürfen sowie nach interkulturellen Lernchancen (4.).
1. Gott der Befreier – Reden von Gott im Kontext von Armut und Unterdrückung Die erste Welle der Befreiungstheologie in Lateinamerika zeigte wenig Verständnis für die kulturell-religiöse Dimension des jeweiligen Kontextes. Sie stellte sich den sozio-ökonomischen und politischen Herausforderungen und re/konstruierte das Bild des befreienden Gottes, der sich ohne Vorbedingungen auf die Seite der Armen und Unterdrückten stellt. Die grundlegende Studie dazu hat der BrasilianerLeonardo Boff (*1938) vorgelegt. Er betont den sozialen Charakter der Trinitätslehre gegenüber jedwedem staatlichem oder kirchlichem Totalitarismus, der durch einen strikten Monotheismus befördert wird. „Deshalb steht am Anfang nicht die Einsamkeit des Einen, sondern die Gemeinschaft der drei göttlichen Personen.“37 Die Perichorese wird zum Modell eines Zusammenlebens in Gerechtigkeit, das den ganzen Kosmos umfasst. Immanente und ökonomische Trinität bilden sich ineinander ab.38 Boff ist in seinem theologischen Denken geprägt von seinen Erfahrungen als Priester in den Basisgemeinden in einem der Slums von Petropolis und im Regenwald der Diözese Acre-Perus. Wegen seiner Kritik an der kirchlichen Hierachie und seinem Engagement für die Menschenrechte legte die Kongregation für die Glaubenslehre unter Leitung von Kardinal Joseph Ratzinger (*1927; heute Papst Benedikt XVI) ihm 1985 ein einjähriges Schweigegelübte auf. Als er 1992 wegen seines ökologischen Engagements erneut diszipliniert werden sollte, verließ Boff den Franziskanerorden und nahm den Ruf auf eine Professur für Ethik, Religionsphilosophie und Ökologie an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro an. 37 38
Leonardo Boff, Der dreieinige Gott, Düsseldorf 1987, 22; vgl. ders., Kleine Trinitätslehre, Düsseldorf 1990. Boff, Der dreieinige Gott, 244f. Ein Gedanke, der sich in der europäischen Theologie in den Arbeiten von Karl Rahner oder Jürgen Moltmann findet.
226
Teil III: Generative Themen
Erst im Laufe der 1980er Jahre erwachte unter den lateinamerikanischen Befreiungstheologen das Bewusstsein für die Bedeutung des Volkskatholizismus und die Spiritualität der Indio-Bevölkerung sowie der afrolateinamerikanischen Religionen der schwarzen Minderheiten. Die Schöpfungstheologie etwa kam dadurch unter den Einfluss des Konzeptes der Erdmutter (pachamama).39
2. Gottes Gegenwart in der Kultur – Reden von Gott im Kontext afrikanischer Religion Der Kenianer John Mbiti (*1931) wuchs in einer noch von der Theologie der Missionare geprägten Atmosphäre auf, in der afrikanische Kultur und Religion gemeinhin als heidnisch und böse galten. Mit seinem opus magnum Afrikanische Religion und Weltanschauung widerspricht er dieser Einschätzung vehement. Als im Westen promovierter Neutestamentler entdeckte er „überraschende Parallelen zwischen den biblischen Überlieferungen und afrikanischer Religiosität“.40 Nach dem Studium in Uganda, den USA und Großbritannien zurück in Afrika, lehrte er an der MakarereUniversität in Uganda sowohl Neues Testament als auch Afrikanische Religion (1964–1974). Es folgten sechs Jahre als Direktor des Ökumenischen Instituts in Bossey (1974–1980). Mbiti sollte nicht mehr dauerhaft nach Afrika zurückkehren. Er ließ sich mit seiner Schweizer Frau als Pfarrer in Burgdorf nieder. Dennoch kann Mbiti zu Recht als einer der Gründungsväter der Afrikanischen Theologie gelten, der tonangebend für das Reden von Gott in Afrika war, ähnlich wie er das schon für die Afrikanische Christologie gewesen ist (1968).41 Sein frühes Buch Concepts of God in Africa (1970) enthält eine riesige Datenmenge, die er unter mehr als dreihundert Stämmen aus ganz Afrika gesammelt hat. Mbiti „geht in diesem Buch von der Annahme aus, 39
40
41
Vgl. Mystik der Erde. Elemente einer indianischen Theologie, hg. von Raúl FornetBetancourt, Freiburg etc. 1997; Thomas Schreijäck (Hg.), Die indianischen Gesichter Gottes, Frankfurt/M. 1993. John Mbiti, The Encounter of Christian Faith and African Religion, wiederabgedruckt in: Deane William Ferm (Hg.), Third World Liberation Theologies. A Reader, 199–204, 200. Vgl. auch ders., Bibel und Theologie im afrikanischen Christentum, Göttingen 1986. Vgl. John Mbiti, Afrikanische Beiträge zur Christologie, in: Theologische Stimmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika III, München 1968, 72–85.
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
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dass es [in Afrika] nur einen höchsten Gott gibt”.42 Hier bleibt noch implizit, was unter afrikanischen Theologen schon bald Allgemeingut werden sollte, nämlich, dass dieser Gott derselbe wie der christliche Gott ist. Mbiti selbst konnte später formulieren: „Der Gott, der in der Bibel beschrieben wird, ist kein anderer als der Gott, der uns im Rahmen unserer traditionellen afrikanischen Religiosität schon bekannt war.“43 In Concepts of God in Africa reflektiert Mbiti nicht über seine Methodologie. Sie erscheint als eine Art vergleichender Ansatz, der zu einer Anthologie traditioneller afrikanischer Gottesprädikationen führt. Das Material ist anhand der vier Kategorien „Die Natur Gottes“, „Die aktiven Attribute Gottes“, „Anthropomorphische und natürliche Attribute Gottes“ und „Gott und Mensch“ geordnet. Zusammen mit Unterteilungen wie „Gott als Schöpfer“, „Das Regiment Gottes als König, Herr und Richter“, „Die Trennung von Gott und Mensch” oder „Eschatologische Konzepte“ lassen sie den christlichen Referenzrahmen erkennen. Um einen Eindruck von Mbitis Vorgehen zu vermitteln, zitiere ich den ersten Paragraphen seines Buches: Indem sie Gott Allwissenheit zuschreiben, platzieren ihn die afrikanischen Völker in der höchst möglichen Position. Ihrer Ansicht nach verlangt Weisheit von jedem den größten Respekt. Eine Person, die für weise gehalten wird, ist eine Klasse für sich. Die Akan sprechen Gott an als „Er, der alles weiß oder sieht ...“, während die Zulu und Banyarwanda ihn einfach „den Weisen“ nennen. An die Grenzen ihres Wissens gestoßen, sagen die Bakongo oft, „Gott weiß alles“. Wenn die Banyarwanda mit Kummer, Unsicherheit und Unklarheit konfrontiert werden, nennen sie Gott bei einem Namen, der soviel bedeutet wie „nur Gott weiß alle Dinge“. Die Suk behaupten voller Überzeugung, dass Gott alle Geheimnisse kennt, und die Yoruba sagen öffentlich „Nur Gott ist weise“. Die Bambuti-Pygmäen, die in den dichten Wäldern des Kongo leben, glauben, dass Gott bei Tag und Nacht selbst die dunkelsten Ecken des Waldes kennt. In diesen Namen und kurzen Redensarten wird Gott als jemand beschrieben, dem Weisheit, Wissen und Verständnis eigen sind. Die Menschen geben zu, dass die Weisheit des Menschen begrenzt ist, während diejenige Gottes das nicht ist; selbst wenn die Menschen so manches wissen mögen, nur Gott weiß alles.44
Diese Passage lässt Mbitis Arbeitsweise gut erkennen. Jeder Paragraph hat eine kurze interpretierende Einleitung und einen Schluss sowie einen 42
43 44
John Mbiti, Concepts of God in Africa, London 1970, xiii; vgl. schon ders., Afrikanische Religion und Weltanschauung, 36–93; dazu Ulrike Link-Wieczorek, Reden von Gott in Afrika und Asien. Darstellung und Interpretation afrikanischer Theologie im Vergleich mit der koreanischen Minjung-Theologie, Göttingen 1991. Mbiti, The Encounter of Christian Faith and African Religion, 201. Mbiti, Concepts, 3.
228
Teil III: Generative Themen
Mittelteil, der zahlreiche Zitate und Referenzen aus verschiedenen Stämmen enthält. In einem in diesen Jahren geschriebenen Artikel unterscheidet Mbiti drei Bereiche des Kontaktes zwischen Christentum und traditionellen afrikanischen Religionen, die er als preparatio evangelica betrachtet.45 Zwischen dem, was sich überschneidet und kompatibel ist, und dem, was außerhalb der christlichen Lehre liegt, bleibt eine „Grauzone“. Während Mbiti im Hinblick auf die Frage, wo die Linien zu ziehen sind, eine vergleichende Vorgehensweise bevorzugt, proklamieren afrikanische Theologinnen der zweiten Generation wie Mercy Amba Oduyoye nicht ohne Stolz einen „kreativen Synkretismus“, der von afrikanischer Kultur und Religion alles inkorporiert, was den christlichen Glauben befördert. Wenn die christliche Theologie afrikanisches Denken [religious beliefs] benützt, versucht sie nicht, den afrikanischen Geist einzufangen und zu zähmen, sondern sie möchte, dass der afrikanische Geist das Christentum revolutioniert zum Besten für alle, die sich zu ihm bekennen.46
Charles Nyamiti (Tansania *1931) erweist sich mit seinem 1978 erschienenen Büchlein African Tradition and the Christian God als Mbitis katholisches alter ego.47 Nyamiti schätzt die göttlichen Namen und den reichen Symbolismus afrikanischer Religion. Er ist jedoch wesentlich kritischer gegenüber der afrikanischen Tradition als Mbiti. Es ist deutlich, dass der Afrikaner viel vom christlichen Glauben lernen kann, wenn es darum geht, seinen Glauben an Gott zu reinigen und zu vervollkommnen. Es ist aber auch wahr, dass der Christ etwas vom traditionellen Afrikaner lernen kann; nicht im Sinne neuer Lehren, aber im Sinne neuer Einsichten und neuer Wege um Gott zu verstehen. Christen können dabei nicht nur von den positiven Aspekten des afrikanischen Gottesglaubens lernen, sondern auch von seinen Unzulänglichkeiten und Fehlern. Indem er diese Fehler untersucht, ist der Christ gezwungen, sich selbst zu fragen, ob diese Abweichungen auch in seinen eigenen Vorstellungen und Haltungen existieren.48 45
John Mbiti, Christianity and Traditional Religions in Africa, in: International Review of Mission 59, No. 236, 1970, 430–440; vgl. ders., Christianity and African Culture, in: Journal for Theology in Southern Africa 1977, Nr. 20, 26–40. Mbiti unterscheidet vier Hauptausdrucksformen von Religion, „Glaubensüberzeugungen, Praktiken, Personal und religiöse Objekte“ (433). 46 Oduyoye, Der Wert, in: Dem Evangelium auf der Spur, 210 (→§ 5.2). 47 Charles Nyamiti, African Tradition and the Christian God, Eldoret / Kenya 1978. 48 Nyamiti, African Tradition, 9; Mbiti, Christianity and Traditional Religions, 432 vertritt exakt die entgegengesetzte Position: „... indem es nach Afrika
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
229
Nyamiti scheint die eurozentrische Position der Missionare nachzubeten, dass afrikanische Rede von Gott inferior ist. Der südafrikanische Theologe Gabriel Setiloane (*1925) vertritt in seiner Dissertation The Image of God among the Sotho-Tswana (1976) die gegenteilige Meinung, nämlich dass die Missionare das Sotho-Tswana-Konzept modimo verwässert haben. Wenn MODIMO mit dem Gott der Missionare gleichzusetzen war, bedeutete dies nicht eine bedenkliche Abwertung der traditionellen Währung? [...] Sie [die Missionare] waren nicht dazu in der Lage zu erkennen, dass die Sotho-Tswana ein Defizit, etwas Anstößiges in ihnen sahen. Oder wenn sie es doch erkannten, schrieben sie diese Haltung nicht ihrer eigenen Unfähigkeit zu kommunizieren zu, sondern der Macht des Teufels über unwissende Wilde. Tatsache ist, dass selbst einige verwestlichte, christliche Sotho-Tswana noch immer etwas vermissen an dem westlich-christlichen Gottesbild, sie empfinden etwas Anstößiges im Hinblick auf diejenigen, die beanspruchen, seine Vermittler zu sein.49
Ein interessantes Detail ist, dass Nyamiti die „Mutterschaft“ Gottes als positives Element hervorhebt. Die Tatsache muss erneut betont werden, dass Gott offensichtlich nicht Mutter im biologischen Sinne sein kann. Es ist auch wahr, dass die Bibel – vielleicht wegen der jüdischen patriarchalen Mentalität und den damit verbundenen Vorurteilen gegenüber Frauen50 – Gott nie „Mutter“ nennt. Nichtsdestotrotz ist es nicht nur gesetzeskonform, sondern auch sehr hilfreich Gott Mütterlichkeit zuzuschreiben, wenn das symbolisch und analogisch verstanden wird. [...] Deshalb ist es möglich Gott „Mutter“ zu nennen, ohne der katholischen Lehre zu widersprechen. Wenn der Name Gottes im Sinne einer schöpferischer Kraft von Leben, Fruchtbarkeit, Zärtlichkeit, Mitleid, Sorge usw. verstanden wird. Die Bibel schreibt Gott ebenfalls mütterliche Charakteristika zu.51
49 50
51
kommt, stellt sich das Christentum dem Urteil traditioneller Religiosität bloß, um herauszufinden, ob es an die Religiosität heranreicht, die es beansprucht zu verbreiten“. Gabriel M. Setiloane, The Image of God among the Sotho-Tswana, Rotterdam 1976, 85f. Aussagen wie diese haben Dritte-Welt-Theologen gelegentlich den Vorwurf des Anti-Judaismus eingetragen. Sie teilen die Erfahrung des Holocaust nicht, die progressive europäische und amerikanische Theologen nach dem Zweiten Weltkrieg für die jüdisch-christlichen Beziehungen sensibilisiert hat. Nyamiti, African Tradition, 14f.
230
Teil III: Generative Themen
Während Setiloane Nyamitis Ansicht teilt,52 erscheint Mbiti „dieses Konzept [...] ungewöhnlich“.53 Nyamiti kritisiert afrikanische Religion besonders für ihren „Aberglauben“ und ihre „Diesseitsorierentierung“. „Dass jemand Zuflucht zu Gott nimmt, ist eher selten, die allgemeine Haltung ist praktischer Atheismus.“54 Bereits seit den 1950ern wird diskutiert, ob für Afrikaner Gott ein deus otiosus ist.55 Mbiti verneint dies. Die Transzendenz Gottes ist ein schwer verständliches Attribut. Zudem muss es mit Gottes Immanenz in Einklang gebracht werden. Die zwei Attribute sind paradox komplementär: Gott ist „fern“ (transzendent) und die Menschen können ihn nicht erreichen; aber Gott ist auch „nahe“ (immanent) und kommt den Menschen nahe. [...] Viele ausländische Autoren reiten ständig darauf herum, dass für afrikanische Völker Gott zu „weit entfernt“ und praktisch von menschlichen Angelegenheiten ausgeschlossen sei. Diese Annahme ist falsch.56
In Afrika ist es jedoch Brauch, sich jemandem, der höher gestellt ist, durch einen Vermittler zu nähern. Damit kommt die Christologie ins Spiel (→§ 7.1). Mit den Worten afrikanischer Theologen der zweiten Generation: ‚Afrikaner haben Gott immer schon gekannt, was neu ist für sie, ist Jesus Christus‘.
3. Gottesvorstellungen im Dialog Ähnlich wie schon im vorangegangenen Christologie-Paragraphen gesehen, ist Inkulturationstheologie in Afrika ein indirekter bzw. interner Dialog mit der traditionellen Religion, während in Asien das direkte Gespräch mit Vertretern der anderen Religionen gesucht wird. Sowohl in Afrika als auch in Asien sind es jedoch letztendlich die Denkgebäude einzelner Theologen, die gelegentlich selbst auf ihre interreligiöse Existenz verweisen.
52 Vgl. Gabriel M. Setiloane, Gott, meine Mutter, in: ders., Der Gott meiner Väter und mein Gott. Afrikanische Theologie im Kontext der Apartheid, Wuppertal / Lünen 1988, 91–95; ähnliche Gedanken bei Boff, Der dreieinige Gott, 196–198. 53 Mbiti, Concepts, 92. 54 Nyamiti, African Tradition, 59. 55 Vgl. Nyamiti, African Tradition, 63. 56 Mbiti, Concepts, 12.
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Reden von Gott im Kontext des Buddhismus Selbst wenn Afrikaner den einen und einzigen Gott immer schon gekannt haben sollten, bei den Japanern ist das sicherlich nicht der Fall gewesen. Schintoismus und Buddhismus kennen beide eine Vielzahl von Göttern. Der einheimische Schintoismus hat mit Amaterasu Omikami, der Ahnengöttin der Kaiserfamilie, oder dem Schöpfergott Izanagi zwar auch herausragende Gestalten, denkt aber grundsätzlich polytheistisch. Im Buddhismus endet eine Reinkarnation als Gott soteriologisch in einer Sackgasse. Nur Menschen können ins Nirwana eingehen. Götter müssen also warten, bis sie als Menschen wiedergeboren werden. Ich komme hier noch einmal auf Katsumi Takizawa und die von ihm entwickelte The-anthropologie zurück, eine hybrides bzw. synkretistisches Gedankengebäude aus westlicher Philosophie, japanischem Buddhismus und Christentum (→§ 7.2). Takizawa hatte auf Wunsch seines Vaters zunächst ein Studium der Rechte aufgenommen. Aufgrund der nach seinem Dafürhalten mangelnden theoretischen Fundierung des Rechtssystems wandte er sich jedoch bald der Philosophie zu. Aber auch das Studium der europäischen, hauptsächlich deutschen Philosophie ließ ihn unbefriedigt. Erst als er mit den Schriften von Kitaro Nishida in Berührung kam, entflammte seine Begeisterung. Takizawa vertiefte sich ganz in Nishidas Denken. Nach seinem Examen ermöglichte einer seiner Professoren Takizawa die Publikation eines Artikels, den der junge Mann über Nishida geschrieben hatte. Daraufhin passierte etwas für japanische Verhältnisse völlig Ungewöhnliches. Der viel ältere und bekannte Nishida schrieb Takizawa einen Brief, weil er sich so gut von ihm verstanden fühlte. Von Takizawa gefragt, wo in Deutschland er mit dem ihm verliehenen Humboldt-Stipendium studieren sollte, verwies Nishida ihn erstaunlicherweise nicht auf Martin Heidegger, dessen Existentialphilosophie damals in Japan sehr populär war, sondern auf den Theologen Karl Barth (→§ 7.2). Er antwortete mir: Heute lieber bei Theologen als bei Philosophen, da jene viel interessanter sind als diese. Selbst bei Heidegger fehlt vorläufig etwas, was in Wahrheit Not tut, nämlich Gott. Gehe also am besten zu Karl Barth, der auch unter den Theologen der festeste ist. 57
Schon bald nachdem er in Deutschland Barths Denken näher kennengelernt hatte, erzählt Takizawa seinem neuen Meister, dass er Ähnliches schon von seinem alten (Zen-)Meister Nishida zu Hause in Japan gehört habe. Während 57
Takizawa, Zen-Buddhismus und Christentum, 144.
232
Teil III: Generative Themen
dies für Barth und die Barthianer ein Stachel in ihrem Fleisch bleiben sollte, widmete sich Takizawa für den Rest seines Lebens unbeirrt dem Projekt, eine Synthese aus den Lehren seiner beiden großen Meister zu formulieren.58 Was liegt Takizawas Denken über Gott zugrunde? Von Nishida übernahm er das Konzept der „Selbstidentität der sich absolut Widersprechenden“. Nishida beschreibt damit das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem oder, theologisch gesprochen, zwischen Mensch und Gott als paradox identisch. Dieser Gedanke wurzelt in der Lehre des Mahayana-Buddhismus, zu dem die Zen-Schule gehört, dass jeder Mensch bereits potentiell die Buddhaschaft in sich trage, zu der er lediglich erwachen müsse. Bei genauerem Hinsehen überblendet Takizawa in Anschluss an Nishida und dessen Freund und Weggefährten Daisetzu Suzuki (1870–1966) die Zen-Lehre mit der Lehre vom Amidha Buddha, der zweiten großen Schule des japanischen Buddhismus. Während in Letzterem die Kraft des ganz anderen (jap. Tariki) wirkt, soll im Zen allein die Kraft des Selbst wirken (jap. Jiriki). Für Takizawa bewirkt nun die Kraft des ganz anderen auch das Erwachen des Menschen zur Buddhaschaft. Es gibt an dem Punkt dieser Welt, wo ein wirklicher Mensch entsteht und besteht, immer schon ein Etwas, das keineswegs sein Ich-Selbst ist, sondern auf ewig ist und lebt. Die Verbindung zwischen diesem Etwas und einem menschlichen Ich-Selbst, die im Anfang, jetzt und hier, im Grunde des Entstehens und Bestehens dieses Ich-Selbst existiert, ist kein Verhältnis, das er, erst nachdem er als menschliches Subjekt entstanden ist, mit anderen Dingen oder Menschen herstellt. Die Verbindung ergreift ihn vielmehr an dem Ort, wo er steht, sozusagen vom absoluten Hinten her, ja sie hat ihn dort schon ergriffen und wird ihn nie verlassen. [...] Dieses Etwas, das trotz und in der absoluten Unterschiedenheit mit diesem Ich-Selbst völlig eins ist, das sich von diesem Ich-Selbst gerade dadurch absolut unterscheidet, dass es mit diesem Ich-Selbst unmittelbar eins ist, dieses Etwas wird man im biblischen Glauben als Jahwe (Ich bin, der ich bin), als Gott, den allmächtigen Herrn, den Schöpfer und den unermesslich barmherzigen Gott benennen. Und im Zen-Buddhismus wird man dasselbe Etwas als „das wahre Selbst“ oder als „das absolut gestaltlose Subjekt“ benennen, das mit dem Ich-Selbst im gewöhnlichen Sinn direkt eins, das aber zugleich keineswegs dieses Ich-Selbst ist.59 58
59
Sugirtharajah, Postcolonial Reconfigurations, 16 und 170 spricht in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Edward Said von „kontrapunktischem Lesen (contrapuntal reading)“; vgl. auch Kwok Pui-Lan, Discovering the Bible in the Non-Biblical World, Maryknoll, NY 1995, 4, die eine „dialogische Imagination“ propagiert. Takizawa, Reflexionen, 10f. Takizawa zitiert in diesem Zusammenhang gerne ein Gedicht des Zen-Meisters Daito Kokushi: „Für ewig geschieden, / jedoch keinen Augenblick getrennt; / den ganzen Tag zusammen, / doch keinen Augenblick in eins, / dieser Logos wohnt in jedem Menschen.“
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
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In Barths Lehre vom Urfaktum Immanuel (Gott mit uns), die besagt, dass Gott immer schon mit uns ist, meint Takizawa Nishidas Kerngedanken wiederzuerkennen. Durch seine Begegnung mit Barth entdeckt Takizawa jedoch die Unumkehrbarkeit der Beziehung zwischen Gott und Mensch, etwas, worauf Nishida nicht geachtet hat. Zugleich kritisiert er Barth, weil dieser nicht im Sinne von der durch Nishida betonten „Selbstidentität der sich absolut Widersprechenden“ zwischen dem Zeichen und der Sache unterscheidet. In der Folge trifft Takizawa seine Unterscheidung zwischen einem primären und einem sekundären Kontakt Gottes mit den Menschen. Der primäre Kontakt (Immanuel I) ist immer schon gegeben, ohne dass der Mensch sich dessen notwendig bewusst ist. Buddhistisch gesprochen, muss er erst zu ihm erwachen. Es ist wohlgemerkt ein Erwachen zu etwas immer schon Gegebenem, indem sich der sekundäre Kontakt Gottes mit den Menschen vollzieht (Immanuel II). Dieser Kontakt hat sich in Jesus Christus vorbildhaft vollzogen. Aber, so sagt Takizawa gegen Barth: „Als Zeichen ist die Gestalt Jesu von der Sache selbst streng zu unterscheiden.“ In seiner eigenen Terminologie ausgedrückt, unterscheidet er [Karl Barth] nicht zwischen dem Immanuel im ersten Sinne, der von historisch kontingenten Reflexen völlig unabhängig bei jedem und allen Menschen gegenwärtig existiert, und dem Immanuel im zweiten Sinne, wie er sich bei uns Christen zwar allein durch den Heiligen Geist, jedoch als eine Art Selbstbestimmung unseres fleischlichen Subjektes ereignet.60
In dem Vortrag, den er anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg halten wollte – die schließlich allerdings nur noch posthum überbracht werden konnte, fasst Takizawa sein Denken in dem Begriff The-anthropologie zusammen.61 Die reine The-anthropologie dagegen lässt sich zwar von der kontingent-einmalig gegebenen Gestalt Jesu von Nazareth bzw. der Bibel helfen und führen, aber nie fesseln, sondern eben von ihr als dem lebendigen Wegweiser geführt, wendet sie sich ausschließlich dem Weg, der Wahrheit, dem Logos im Anfang, um mit Barth zu sprechen, dem Urfaktum Immanuel, dem ewig neuen, absolut untrennbaren – unvermischbaren – unumkehrbaren Verhältnis von Gott und Mensch zu. Deshalb kann, darf und will sie keine spezifisch-historische Gestalt als ihren eigentlichen Inhalt in sich enthalten.62 60 61 62
Takizawa, Reflexionen, 122; vgl. 161. Eine Terminologie, die sich schon bei Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, 18 findet. Katsumi Takizawa, Theologie und Anthropologie – Ein Widerspruch? Entwurf einer reinen The-anthropologie, in: Johanan Hesse (Hg.), „Mitten im Leben – vom
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Teil III: Generative Themen
Der primäre Kontakt, wie Takizawa es nennt, zwischen Gott und Mensch bedeutet insofern eine enorme Aufwertung der Anthropologie. Gott ist in jedem menschlichen Wesen schon gegenwärtig. Seiichi Yagi fragt demgegenüber provozierend: „Müssen wir wirklich von Gott reden?“63 Auch wenn er diese Frage mit einem „Ja“ beantwortet, übt er doch substantielle Kritik an Takizawa. Erst im sekundären Kontakt verwirklicht sich der potentiell angelegte primäre Kontakt. Yagi hat in der Folge eine eigenständige Christologie entwickelt, während diese bei Takizawa letztendlich in der Gotteslehre aufgeht. Reden von Gott im Kontext des Hinduismus Als Sohn einer spanischen Katholikin und eines indischen Hindus hoher Kastenzugehörigkeit in Barcelona geboren, scheint Raimon Panikkar (1918– 2010) im Nachhinein wie für seine interreligiöse Existenz prädestiniert. Er selbst skizziert auch seinen akademischen Werdegang, „ein Doktorat in der Chemie (Kosmos), dann in der Philosophie (Anthropos) und schließlich und endlich in der Theologie (Theos)“,64 als konsequent auf sein Lebensthema, den Kosmotheandrismus zulaufend. Polyglott und weltgewandt, führte ihn sein berufstätiges Leben als Religionsphilosoph über drei Kontinente: Europa, Asien und Amerika. Seinen spirituellen Weg beschreibt Panikkar wie folgt: „Ich bin als Christ ‚gegangen‘, ich habe mich als Hindu ‚gefunden‘ und ich ‚kehre‘ als Buddhist ‚zurück‘, ohne doch aufgehört zu haben, ein Christ ‚zu sein‘.“65 Er ist denn auch Zeit seines Lebens praktizierender katholischer Priester geblieben. Panikkar wurde zwar unter obskuren Umständen aus dem Opus Dei ausgestoßen, dem er in jungen Jahren beigetreten war, hatte aber
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Tod umfangen“, Gedenkschrift für Werner Kohler, Frankfurt/M. etc. 1988, 59–68, 61. Yagi Seiichi, Buddhistischer Atheismus und christlicher Gott, in: ders. / Ulrich Luz (Hg.), Gott in Japan. Anstöße zum Gespräch mit japanischen Philosophen, Theologen, Schriftstellern, München 1973, 160–191, 181. Francis X. D’Sa, Der trinitarische Ansatz von Raimon Panikkar, in: Gottesdenken in interreligiöser Perspektive. Raimon Panikkars Trinitätstheologie in der Diskussion, hg. von Bernhard Nitsche, Frankfurt/M. / Paderborn 2005, 230–248, 230. An anderer Stelle sagt Panikkar von sich „Ich befinde mich am Zusammenfluß (sangam) der vier Flüsse: der hinduistischen, christlichen, buddhistischen und säkularen Tradition.“ Vgl. Francis X. D’Sa, Gott der Dreieine und der All-Ganze. Vorwort zur Begegnung zwischen Christentum und Hinduismus, Düsseldorf 1987, 59–78. Raimon Panikkar, Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen leben, München 1990, 51 [Engl. 1978].
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
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im Gegensatz zu anderen Dialog- oder Befreiungstheologen weiter keine offiziellen Schwierigkeiten mit Rom (→§ 2.4). Dass Panikkar zunächst von „Theandrismus“ sprach, lässt unwillkürlich an Takizawas The-anthropologie denken. In beiden Fällen geht es darum, die Einheit von Gott und Mensch zum Ausdruck zu bringen. Ähnlich wie Takizawa betont auch Panikkar: „Wenn ich dieses Band zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen mit dem Namen Christus bezeichne, setze ich keine Identifizierung mit Jesus von Nazareth voraus.“66 Während Takizawa für seine Argumentation den hybriden „buddhistischen“ Philosophen Nishida und den christlichen Theologen Barth heranzieht, schöpft Panikkar aus der hinduistischen Advaita-Philosophie. Gleichzeitig betont er allerdings auch, dass er den Begriff weiter fassen will. Advaita wird ihm zu einer allgemeinen Kategorie für die Non-Dualität oder positiv gewendet die „Ontonomie“67 alles Seienden.68 Es betont weder die lose und unzusammenhängende Unabhängigkeit individueller Gebiete (Autonomie), noch die Herrschaft sogenannter höherer Ränge über schwächere oder niedrigere (Heteronomie), sondern jene gegenseitige Beziehung, jene radikale Relativität (pratityasamutpada),69 welche davon ausgeht, dass letztendlich die Wirklichkeit eine nichtdualistische Polarität darstellt, und dass somit eine harmonische Integration in das Ganze für jeden einzelnen Daseinsbereich das Beste ist (Ontonomie).70
Es ist ein drittes All-Umfassendes neben Monismus und Dualismus.71 Mit dem Gebrauch des Wortes advaita oder Nicht-Dualität nehmen wir nicht Bezug auf indische philosophische Systeme; wir beziehen uns vielmehr auf eine Aufhebung
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Raimon Panikkar, Trinität. Über das Zentrum menschlicher Erfahrung, München 1993, 83 [engl. 1970]. Vgl. D’Sa, Der trinitarische Ansatz, 232. Von der Tendenz her ist Panikkars Umgang mit der asiatischen Tradition und Begrifflichkeit vergleichbar mit dem von Charles Nyamiti mit der afrikanischen (→§ 7.1). Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 81. Dieses buddhistische Konzept „Gegenseitiger Abhängigkeit und AufeinanderBezogen-Seins (mutual dependence and relatedness)“ ist auch für Seiichi Yagi von großer Bedeutung; vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 122f. Raimundo Panikkar, Philosophie als Lebensstil, in: Philosophes critiques d’eux mêmes, hg. von André Mercier, Bern etc. 1978, 209–220, 216f. Es gibt verschiedene Varianten in der Schreibung von Panikkars Vornamen. Im Text habe ich mich für Raimon entschieden, in den Fußnoten halte ich mich an die Schreibweise der betreffenden Publikation. Während in Asien Nicht-Dualität oder Einheit das vorherrschende Prinzip sind, lässt afrikanische Weltanschauung durchaus Dualität und Pluralität zu. In beiden Fällen ist Harmonie ein zentraler Wert.
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Teil III: Generative Themen
des Monismus ohne in Dualismus zu verfallen. Advaita ist kein abgeschwächter Monismus oder ein relativer Dualismus, sondern eine unabhängige und dritte mögliche Erfahrung der Realität.72
Um diese kosmische Dimension besser zum Ausdruck bringen zu können, erweitert Panikkar seinen Zentralbegriff zum Kosmotheandrismus. Wie im christlichen Denksystem seit der alten Kirche vorgezeichnet, kommt er von der christologischen Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch in Jesus Christus zur trinitarischen Frage nach dem Verhältnis von Gott, Sohn und Geist. Ähnlich wie das Advaita-Konzept verallgemeinert Panikkar nun auch den trinitarischen Gedanken zur Weltformel. In einer mystischen Weltschau spürt die „kosmotheandrische Intuition“ in allem das Grundmuster der Dreieinheit auf.73 Die kosmotheandrische Intuition betont, dass die drei Dimensionen der Wirklichkeit weder drei Seinsweisen einer monolithisch ununterschiedenen Wirklichkeit sind, noch drei Elemente eines pluralistischen Systems. Es ist vielmehr eine, allerdings unabdingbar dreifaltige Relation, welche die letztendliche Konstitution der Wirklichkeit manifestiert.74
Sichtbar wird dies in der „Christophanie“: „Jesus Christus ist das lebendige Symbol der Göttlichkeit, der Menschheit und des Kosmos (das materielle Universum).“75 Aber eben ein Symbol, irgendwie geartete Absolutheitsansprüche lassen sich daraus nicht ableiten. In diese Richtung argumentiert auch Stanley Samartha, der wesentlichen Anteil an der Entwicklung der modernen Dialogbewegung hat. Samartha versucht, den christlichen Glauben in Kategorien des advaita zu denken und ihn dabei zu deabsolutieren. Sein Ausgangspunkt ist die Christologie. „Durch die Inkarnation in Jesus Christus relativiert Gott sich selbst in der Geschichte“ (76). Samartha optiert für eine „theozentrische Christologie“ 72 73
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Raimon Panikkar, A Self-Critical Dialogue, in: Joseph Prabhu (Hg.), The Intercultural Challenge of Raimon Panikkar, Maryknoll, NY 1996, 227–291, 274. Panikkar spricht in diesem Zusammenhang auch von „diatopischer Hermeneutik“; vgl. Rudolf von Sinner, Reden vom dreieinigen Gott in Brasilien und Indien. Grundzüge einer ökumenischen Hermeneutik im Dialog mit Leonardo Boff und Raimon Panikkar, Tübingen 2003, 256; Krieger, New Universalism, 47–76. Raimon Panikkar, Der Dreiklang der Wirklichkeit, auszugsweise wiederabgedruckt, in: Gott, Mensch und Welt, 77. Raimon Panikkar, Christophanie. Erfahrungen des Heiligen als Erscheinung Christi, Freiburg etc. 2006, 237. Vgl. schon ders., The Unknown Christ of Hinduism. Towards an Ecumenical Christophany.
§ 8 Gott, der immer schon mit uns war
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(86). Sie erlaubt, das Geheimnis Gottes zu wahren und gleichzeitig die „relationale Besonderheit (distinctiveness)“ (77) Jesu Christi anzuerkennen. Während Panikkar Trinitätslehre und advaita gleichermaßen universalisiert, hebt Samartha sie gewissermaßen im Begriff des Geheimnisses auf. „Der Begriff des Geheimnisses liegt jenseits der theistisch / nicht-theistisch Debatte“ (83).
4. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und interkulturelle Lernchancen Abschließend frage ich nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verschiedenen Herangehensweisen an die Gottesrede und zeige interkulturelle Lernchancen auf: • Alle hier vorgestellten Theologen operieren in ihrem eigenen Referenzrahmen – hybride relecturen und Rekonstruktionen ihrer jeweiligen Tradition – jenseits hellenistischer Philosophie. Keiner redet auch von einem personalen Gott im westlichen Sinne. Kontextuelle Gottesrede ist im Allgemeinen eng mit der Christologie verbunden, der Beziehung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus oder seiner Beziehung mit Gott (Mbiti; Takizawa). Gott wird sichtbar durch Christus. Die wenigen trinitarischen Konzeptionen (Panikkar; Boff) setzen immanente und ökonomische Trinität für ihre eigenen Zwecke miteinander in Beziehung. • Panikkar und Boff divergieren im Blick auf den Umgang mit der Trinität erheblich.76 Ist Boff am Wohl der Gemeinschaft orientiert, steht bei Panikkar der individuelle Erkenntnisgewinn im Vordergrund. Nicht der Wunsch nach Weltverbesserung, sondern der nach Welterkenntnis scheint ihn zu treiben. In diesem Unterschied gründet der Vorwurf, Panikkar vernachlässige die ökonomische Trinitätslehre zugunsten der immanenten. Panikkar interpretiert letztendlich aber auch die ökonomische Trinität innerhalb seines eigenen Systems schlüssig als hermeneutische Kategorie, die es ermöglicht, die Dreieinheit der Wirklichkeit zu erfassen. Während Boff der Trinitätslehre intrareligiös als befreiende Botschaft neuen Glanz gegeben hat, dehnt Panikkar sie interreligiös aus. Beide treffen sich dann aber doch in einer kosmischen Mystik und den ökologischen Konsequenzen, die sie aus ihren Denkbewegungen ziehen. Ganz im Duktus ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte spricht Panikkar allerdings 76
Vgl. von Sinner, Reden vom dreieinigen Gott.
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Teil III: Generative Themen
von der „Ökosophie“,77 der „Weisheit der Erde“, und Boff von der „Würde der Erde“. Wo Panikkar seinem individuellen Erkenntnisdrang folgt, bleibt Boff gemeinschaftsorientiert und verknüpft sein ökologisches Engagement mit dem befreiungstheologischen Credo von der „Würde der Armen“.78 • Mbiti dekonstruiert die westliche Sicht, dass Gott auf dem Rücken der ersten Missionare nach Afrika gebracht worden ist.79 Stattdessen rekonstruiert er afrikanische Gotteskonzepte, die von den Missionaren verworfen wurden. In der Afrikanischen Theologie wird die Christologie durch ihre vermittelnde Funktion zwischen Menschen und Gott, der ihnen schon immer bekannt war, integriert. Weil es im Buddhismus keinen Gott gibt, muss Takizawa eine buddhistisch-christliche Gottesvorstellung re/ konstruieren („God filled gap“).80 Dabei dekonstruiert er die traditionelle Christologie, weil Gott in jedem Menschen immer schon präsent ist. Jesus ist lediglich das Zeichen dieser Tatsache. Der Hinduismus hat verschiedene religiöse Traditionen integriert und kennt viele Götter. Panikkar verquickt das christliche Konzept der Trinität mit dem hinduistischen Nondualismus (advaita). Indem er sie in eine transkulturelle Metapher verwandelt, beansprucht er den Kosmotheandrismus zu re/konstruieren, der sich hinter aller religiösen Erfahrung verbirgt. Wie in Takizawas Schriften driften Christus und Jesus dabei auseinander. In beiden Fällen wird „Christus“ zur Metapher für Gottes den Menschen zugekehrte Seite. • Während Takizawa und Panikkar sich selbst als buddhistischer bzw. hindu-buddhistischer Christ bezeichnen, ist für Mbiti das Christentum die Erfüllung der afrikanischen Religion. In Afrika ist Dialogtheologie im Allgemeinen Inkulturationstheologie. Ähnlich wie Takizawa und Panikkar sind afrikanische Theologen deswegen in einem inneren Dialog mit ihren religiösen Traditionen involviert. Wenn er die afrikanische Religion als preparatio evangelica vereinnahmt, entpuppt Mbiti sich als klassischer 77
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Raimon Pamikkar, Ökosophie, oder der kosmotheandrische Umgang mit der Natur, in: Heiner Kessler (Hg.), Ökologisches Weltethos im Dialog der Kulturen und Religionen, Darmstadt 1996, wiederabgedruckt in: Panikkar, Gott, Mensch und Welt, 125–134. Vgl. Leonardo Boff, Unser Haus, die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören, Düsseldorf 1995. Vgl. Hyun Young-Hak, Der koreanische Maskentanz aus dem Blickwinkel eines Theologen, in: Moltmann, Minjung, 49–59, 59; Leonardo Boff, Gott kommt früher als der Missionar, Düsseldorf 21992. Vgl. im Kontext des Theravada-Buddhismus auf Sri Lanka Lynn A. de Silva, Mit Buddha und Christus auf dem Weg, Freiburg etc. 1998, 62–122.
§ 9 Gegenwärtig im Geist
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Inklusivist. Takizawa und Panikkar scheinen auf den ersten Blick differenzierter, aber die von beiden geteilte Überzeugung, dass es der eine Gott hinter allem ist, ist genauso inklusivistisch.81 Gott wird als immer schon anwesend gedacht. Alle genannten Theologen überschreiten fortwährend die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Traditionen. Sie sind gute Beispiele für interreligiöse Identitätsre/konstruktionen. • Übersetzung ist in diesen Prozessen zunächst einmal Vergleich und Suche nach Analogien. Selbst wenn wir denken, wir hätten eine adäquate Übersetzung gefunden, ist das ursprüngliche Bedeutungsgeflecht im Kommunikationsprozess noch stets hörbar. Ob afrikanische Theologen Gott in einem Namen, der Gott von einem bestimmten Stamm gegeben wurde, wiedererkennen oder Takizawa und Panikkar christliche oder hindubuddhistische Vorstellungen universalisieren, um gemeinsame religiöse Erfahrungen zu beschreiben, in beiden Fällen wird Übersetzung zur Interpretation. Alle bleiben sie dem Inklusivismus verhaftet. Andererseits sind die Anhänger afrikanischer Religion davon überzeugt, dass andere Stämme andere Götter haben. Hindus oder Buddhisten würden Jesus Christus als einen avatara, guru oder boddhisatva neben anderen akzeptieren. Es ist darum also nicht Gott, der in der Übersetzung verloren geht, sondern der Übersetzer droht sich zwischen all den verschiedenen Gottesvorstellungen zu verlieren. Gott mag deswegen Dialekt sprechen, wie die Inkulturationstheologie gerne sagt, aber zugleich bleibt auch menschliche Rede von Gott immer Dialekt. Interkulturelle Theologie übt darin ein, diese Vielstimmigkeit in der Gottesrede als Sprachgewinn zu erfahren.
§ 9 Gegenwärtig im Geist In der modernen ökumenischen Bewegung wird das Thema „Heiliger Geist“ immer verbunden bleiben mit der furiosen Performance von Chung HyunKyung auf der 7. Vollversammlung des ÖRK in Canberra, Australien 1991. Was war damals geschehen? Die bis dahin völlig unbekannte junge koreanische Theologin (*1956) war eingeladen worden, eines der beiden Hauptreferate zum Thema der Vollversammlung Komm Heiliger Geist, erneuere die 81
Jan Assmann, Der Name Gottes und das Problem interkultureller Übersetzbarkeit, in: Zwischen den Kulturen. Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs, hg. von Carola Hilfrich-Kunjappu und Stéphane Mosès, Tübingen 1997, 47–64, legt die Wurzeln dieser Idee in der Antike frei.
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ganze Schöpfung zu halten.82 Größer hätte der Kontrast nicht sein können: Das Referat des Patriarchen der orthodoxen Kirche von Alexandrien, Parthenios III. (1920–1996), das wegen dessen golfkriegsbedingter83 Abwesenheit durch Erzpriester Dr. Georges Tsetsis verlesen wurde, und daran anschließend das von Chung inszenierte Gesamtkunstwerk. Gekleidet in ein traditionelles weißes Gewand (hanbok), zog sie mit einer koreanischen Bauernmusikgruppe auf die Bühne ein, die mit ihren Trommeln und Gongs einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugte. Dazwischen mengten sich noch einige spontan einbezogene halbnackte Aborigines mit ihren Blasinstrumenten (Digeridoos).
1. „Komm Heiliger Geist – Erneuere die ganze Schöpfung“ (Chung Hyun-Kyung) Musik und Tanz sollten den Heiligen Geist herbeirufen und ihm den Weg bereiten. Nach dieser Eröffnung lud Chung die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein ‚sich selbst zu entäußern‘ um den Heiligen Geist empfangen zu können (17). Symbolisch sichtbar gemacht wurde das durch die Aufforderung zum Ausziehen der Schuhe. Zugleich sollte durch diese Geste Respekt vor der heiligen Erde der Australischen Urbevölkerung bezeugt werden. Heilige Orte ohne Schuhwerk zu betreten, ist nicht nur in Asien und insbesondere den Weltreligionen Hinduismus, Buddhismus und Islam allgemeiner Brauch, sondern findet sich auch in der Bibel, wenn Gott Mose auffordert vor dem Dornbusch seine Schuhe auszuziehen (Ex 3,5). Die DornbuschEpisode wird von Chung denn auch als biblische Begründung für die von ihr initiierte Symbolhandlung herangezogen. Im Film ist nur das Rücken 82
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Chung Hyun-Kyung, „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“, in: Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991. Offizieller Bericht der Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 7. bis 20. Februar 1991 in Canberra / Australien, hg. von Walter Müller-Römheld, Frankfurt/M. 1991, 47–56. Ich zitiere nach dem Wiederabdruck der offiziellen ÖRK-Übersetzung in: dies., Schamanin im Bauch, 17–30 (Seitenangaben im Text). Eine vorläufige Übersetzung findet sich in: Junge Kirche 52, 1991, 130–137. Hier wird „(Heiliger) Geist“ überwiegend mit dem hebräischen ruach wiedergegeben. In den ersten Jahren nach Canberra war über den ÖRK auch ein Filmmitschnitt des Vortrags zu beziehen. Chung kommt in ihrem Vortrag wiederholt auf die Schrecken des zweiten Golfkrieges (1990–1991) zu sprechen.
§ 9 Gegenwärtig im Geist
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einzelner Stühle und das Geräusch dumpf auf den Boden fallender Schuhe zu hören. Es scheint gespannte Konzentration zu herrschen. Die Performance wird fortgesetzt mit dem Verlesen einer Liste mit Namen von Märtyrerinnen und Märtyrern sowie verschiedener Erscheinungsformen der gemarterten Natur, in denen Chung Ikonen des Heiligen Geistes sieht (18f.). Der Bogen der Litanei spannt sich von der Herbeirufung des Geistes von Hagar und Jephtas Tochter über den Geist der Holocaust- und Atombombenopfer sowie den Geist des von Ausrottung bedrohten tropischen Regenwaldes bis hin zur Anrufung des Geistes Jesu des Befreiers, unseres Bruders, der am Kreuz gefoltert wurde und gestorben ist. Letztere steht gewissermaßen als Inklusion am Ende. Nachdem sie die Liste in Flammen hat aufgehen lassen und die Asche in alle Windrichtungen verteilt hat, beginnt Chung mit ihrem Vortrag, der eine Fortsetzung des Rituals mit anderen Mitteln ist.84 Chung Hyun-Kyung bezeichnet sich selbstbewusst als Befreiungstheologin der zweiten Generation.85 Sie hat die südkoreanische Minjung-Theologie (→§ 7.3 und 10.1) um eine feministische Dimension bereichert. In der Minjung-Bewegung, innerhalb der Christen deutlich in der Minderheit waren, wurde die Übersetzung ihres Namens, der aus der Kontraktion zweier sino-koreanischer Worte entstanden ist, etwa mit „Masse (min) des Volkes (-jung)“ bzw. „Volksmasse“ abgelehnt, weil er eine spezifisch koreanische Erfahrung widerspiegele. Das Minjung soll nicht in eine Definition gezwängt werden und das Konzept möglichst offen bleiben. Entstanden im Widerstand gegen die südkoreanische Militärdiktatur in den 1970ern setzte die MinjungTheologie sich im Gefolge der säkularen Minjung-Bewegung für soziale Gerechtigkeit, Achtung der Menschenrechte, Demokratisierung und im Hinblick auf die Teilung des Landes für nationale Selbstbestimmung und Wiedervereinigung ein. Bald gerieten ihre Repräsentanten in einen hermeneutischen Streit über die Interpretation der koreanischen Geschichte und Kultur mit den militärischen und administrativen Eliten. Die Geschichte wurde neu geschrieben aus der Perspektive des han – ein weiterer Begriff, der als unübersetzbar gilt –, des Leidens des minjung unter dem japanischen Kolonialregime, der Teilung des Landes und der Militärdiktatur. Als die In84
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In meinen Lehrveranstaltungen habe ich jedoch immer wieder festgestellt, dass es einen Unterschied macht, ob die Studierenden zuerst den Film gesehen haben oder den Text lesen. Letzterer wird als weniger spektakulär empfunden. Das Visuelle scheint die Fremdheitserfahrung zu potenzieren. Vgl. Chung Hyun-Kyung, „Han-pu-ri“: Doing Theology from Korean Women’s Perspective, in: Ecumenical Review 40, 1988, 27–36, 27f.
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tellektuellen von den Schergen der Diktatur verhaftet, verhört und gefoltert werden, ihrer Ämter enthoben und unter Hausarrest gestellt, sehen sich manche von ihnen selbst als Teil des Minjung. Die Gefängniserfahrung hat ihr Denken nachhaltig bestimmt. Zugleich kommt es zu einer Renaissance koreanischer Kultur, die durch die Japanisierungspolitik des Kolonialregimes (1905/10–1945) und die anschließende Amerikanisierung beinahe ausgerottet schien. Die Minjung-Theologie ist eine politische Theologie, die anders als etwa die lateinamerikanische Befreiungstheologie allerdings von Anfang an auch die kulturell-religiöse Dimension ihres Kontextes mit bedachte. Ihre Repräsentanten interpretierten die von der Minjung-Kulturbewegung auf Demonstrationen und politischen Versammlungen im Untergrund aufgeführten Maskentänze und schamanistischen Rituale aus theologischer Sicht. Analog der Rolle der Schamanin, die im Ritual (kut) das han des Minjung löst, betrachten sie sich als Priesterschaft des han.86 In einem frühen Aufsatz beschreibt Chung ein dreistufiges schamanistisches Ritual, das das han der überwiegend weiblichen Klientel der Schamaninnen – auch hier sind die Frauen in der Überzahl – lösen soll (han-pu-ri): „Das Leiden aussprechen können und dabei jemanden haben, der zuhört“ (speaking and hearing), „Die Ursachen beim Namen nennen“ (naming) und „Veränderung der ungerechten Situation durch Handeln“ (changing by action).87 Diesen Dreischritt hat Chung zur Grundstruktur ihrer CanberraPerformance gemacht. Musik und Tanz rufen den Heiligen Geist herbei und bereiten ihm den Weg, die Litanei nennt die Namen der Märtyrerinnen und Märtyrer und beschreibt kurz ihr Schicksal, im Vortrag werden die Probleme beim Namen genannt und die Geister geschieden, bevor der Ruf zu Buße und Umkehr (metanoia) ergeht. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Geist „inmitten der leidenden Schöpfung“ seine Wirkung entfaltet (21). Die Geistkraft des barmherzigen Gottes ermöglicht Veränderung, Transformation des Bestehenden.88 86
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Vgl. Volker Küster, Priesterschaft des Han. Betrachtungen zu einem Holzschnitt von Hong Song-Dam, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 49, 1993, 37– 48, 46. Chung, „Han-pu-ri“, 35; vgl. dies., „Opium oder Keim der Revolution?“ Schamanismus: Frauenorientierte Volksreligiösität in Korea, in: Concilium, 1988, 393– 398. Vgl. Akke van der Kooi, De ziel van het christelijk geloof. Theologische invallen bij de praktijk van geloven, Kampen 2006, 106 die in Anschluss an David Ford die Gegenwart des Geistes als eine performance von Affirmation (affirmatie), Kritik (onder kritiek stellen) und Transformation (transformatie) versteht.
§ 9 Gegenwärtig im Geist
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Wenn Chung die vom han erfüllten Geister „Ikonen des heiligen Geistes“ nennt (19f.), spielt sie damit bewusst auf die orthodoxe Frömmigkeit an, die in den Ikonen den Heiligen Geist selbst präsent sieht. Zugleich erklärt sie diese Geister zu Mittlergestalten (19). Hiermit greift sie auf die Frömmigkeit ihrer Ziehmutter zurück, die die konfuzianistische Ahnenehrung ihres Ehemannes so in ihre christliche Weltsicht integrierte.89 Chung hat diese Vorgehensweise im Vorwort ihrer am Union Theological Seminary geschriebenen Dissertation zum Programm erhoben: „Nun wird es Zeit, dass ich mir meine westliche theologische Ausbildung wieder ‚aberziehe‘, um wieder neu von der spirituellen Weisheit meines Volkes, vor allem aber von meinen Müttern und Großmüttern zu lernen (44).“ Sie hat dafür den Begriff „überlebensund befreiungszentrierter Synkretismus“ geprägt (36; 204). Damit bekennt Chung sich offen zu dem, was ihre Gegner ihr vorwerfen. Allerdings sind die dahinter stehenden Bewertungen des Phänomens Synkretismus einander entgegengesetzt (→Prolog). Kompositorisch geschickt lässt Chung ihre Litanei auf den Geist Jesu Christi zulaufen (19). Der Vorwurf der Orthodoxen, dass der Geist hier frei flottieren würde,90 greift insofern nicht. Es ist für Chung nicht nur der Geist Jesu, unseres Bruders (ebd.), sondern auch der Geist des barmherzigen Gottes (21). Diese Barmherzigkeit, die Fähigkeit mitzuleiden (compassion), ist 89
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Vgl. Chung Hyun-Kyung, Auf den Spuren eines langen Traumes, in: In den Gärten unserer Mütter. Religiöse Erfahrungen von Frauen heute, Freiburg 1990, 52–70, 63f. Chung beschreibt in diesem autobiografischen Text, wie sie nach dem Tod ihrer Eltern erfährt, dass ihr Vater sie wegen der Unfruchtbarkeit seiner Ehefrau mit einer Leihmutter gezeugt hat und wie sie dieser Frau zum ersten Mal begegnet. Vgl. Überlegungen orthodoxer Teilnehmer gerichtet an die Siebte Vollversammlung, in: Im Zeichen des Heiligen Geistes, 280–282, 281; Athanasios Basdekis, Canberra und die Orthodoxen. Anfragen und Forderungen an den ÖRK im Anschluß an die 7. Vollversammlung, in: Ökumenische Rundschau 40, 1991, 356–374, 359 und 363f. Umgekehrt wurde den Orthodoxen selbst eben dies in den Gesprächen über das filioque im Rahmen von Glauben und Kirchenverfassung vorgeworfen. Vgl. Gottes Geist – Geist Christi, 16–22; Ritschl, Zur Geschichte der Kontroverse um das Filioque, 39. Ganz anders hat sich der indische Metropolit der syrisch-orthodoxen Kirche Paulose Mar Gregorius in einem Interview für WDR 2 gegenüber Gudrun Löwner geäussert: „Wir möchten den Heiligen Geist und Christus als alleinigen Besitz der Kirche deklarieren, aber damit handeln wir völlig falsch. […] In der Kirche gibt er besondere Gaben für den Aufbau der Kirche und für den Dienst in der Welt. Aber davon abgesehen, ist er aktiv in der ganzen Welt, sei es in anderen Religionen, bei säkularisierten Menschen, in Pflanzen, Bäumen und sogar in dem kleinsten Sandkorn.“ (Geistliches Wort, WDR 2, 24.03.1991, 7:40 Uhr).
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die weibliche Seite Gottes. Chung spielt darauf an, dass im Hebräischen ruach weiblichen Geschlechts ist (ebd.).91 Sie „ist mit uns seit der Zeit der Schöpfung“ (ebd.). Vor dem Hintergrund der Minjung-Theologie ist in diesem Zusammenhang auch an das Diktum eines ihrer Lehrer an der Ehwa-Frauenuniversität, Hyun Young-Hak, zu erinnern: „Wir glauben nicht an einen invaliden Gott, der erst Huckepack vom ersten Missionar nach Korea gebracht wurde“.92 In Asien und Afrika, wo die Ahnen eine zentrale Rolle sowohl im religiösen Leben als auch im sozialen Netzwerk spielen, kam unmittelbar mit dem Beginn der christlichen Mission die Frage auf, ob diese dann vom Heil ausgeschlossen seien. Die Antworten, die viele Theologinnen und Theologen aus Asien und Afrika hierauf geben, sind schöpfungstheologisch und/oder pneumatologisch begründet: Gott ist im Geist in der ganzen Schöpfung gegenwärtig, seit ihren Anfängen. Dasselbe gilt für den Christus praesens, den im Geist gegenwärtigen Jesus Christus.93 Im weiteren Gang ihrer Argumentation führt Chung einen Dualismus ein zwischen dem Geist Babels und dem Geist Gottes, der „am Pfingsttag auf die Menschen kam“ (22f.).94 Diesen Dualismus will sie in einer dreifachen Umkehr überwinden: – vom Anthropozentrismus zur Lebenszentriertheit (25), – vom Prinzip des Dualismus zum Prinzip der Verknüpfung (26), – von der „Kultur des Todes“ zur „Kultur des Lebens“ (28).95 91 92 93
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Die erste Übersetzerin hatte darum „Geist“ auch zunächst konsequent mit ruach übersetzt. Hyun, Der koreanische Maskentanz, 59. In Asien hat der Ritenstreit die Mission in eine tiefe Krise gestürzt. Die Missionsstrategie des Jesuiten Matteo Ricci (1552–1610) beruhte darauf, sich durch Vermittlung westlicher Wissenschaft am chinesischen Kaiserhof Respekt zu verschaffen und gleichzeitig dem christlichen Glauben mit Hilfe des Konfuzianismus eine chinesische Gestalt zu geben. Die konfuzianistische Ahnenehrung wurde dabei als Pietätsbekundung der gebildeten Oberschicht genommen. Nachdringende Orden, wie die Dominikaner und Franziskaner, die in der Unterschicht missionierten, waren demgegenüber mit der Volksfrömmigkeit konfrontiert und lehnten alles Fremdreligiöse und -kulturelle ab. Die kirchliche Hierarchie folgte ihnen darin letztendlich durch das Erlassen strikter Verbote. Die afrikanische Ahnenchristologie hat in der 2. Hälfte des 20 Jh. die Ahnen zu Mittlergestalten analog zu Jesus Christus als dem „Proto-Ahn“ erklärt. Eine Funktion, die ihnen in der traditionellen afrikanischen Religion immer schon zukam (→§ 7.1). Vgl. Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, NeukirchenVluyn 21993, 259, der zwischen pneuma und nous unterscheidet. Diese Art prophetischer Rede wird traditionell dem Geist zugeschrieben, der durch die Propheten spricht.
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Die Erörterungen aller drei Umkehrforderungen drehen sich um die generativen Themen „Leben“ und „Mitleiden“ (compassion). Gottes Schöpfung umfasst nicht nur die Natur, sondern den ganzen Kosmos, in dem alles miteinander verknüpft ist, nur so kann die Lebensenergie (ki) fließen. Für uns ist ki Atem und Wind des Lebens. Ki gedeiht in den harmonischen Verknüpfungen zwischen Himmel, Erde und den Menschen. Wenn irgendeine Spaltung oder Teilung besteht, kann ki (die Lebensenergie) nicht fließen, und dies führt zur Zerstörung oder Krankheit aller Lebewesen (27).
Chung belässt es allerdings beim Aufzeigen einer gewissen Analogie zwischen ki und Heiligem Geist. Sie unternimmt nicht den Versuch, aus dieser Perspektive asiatischer Weltsicht die Person des Geistes neu zu profilieren.96 Die Umkehr impliziert für sie ein Sich-Bergen in die Geistkraft des barmherzigen Gottes, die den Kosmos durchwirkt. Zugleich sind Mitfühlen und Mitleiden die Kennzeichen für den Habitus des bekehrten Menschen – des Neugeschaffenen – in der Nachfolge Jesu und der namentlich bekannten und unbekannten Märtyrerinnen und Märtyrer. Die in der Inclusio von Chungs Litanei eingeführte Kreuzestheologie ist immer mitzuhören. Ein Bild der Kwan In auf dem großen Projektionsschirm im Rücken der Rednerin beendet den Auftritt. Für Chung bündeln sich in dieser Figur die dreifache Umkehr und das generative Thema des Mitleidens (29). Kwan In ist ein ursprünglich männlicher boddhisatva, „ein erleuchtetes Wesen“ (ebd.), das seinen Einzug ins Nirvana hinausgeschoben hat, bis alle Lebewesen darin Eingang finden. Unter dem Einfluss christlicher Ikonographie, der Maria, hat dieser boddhisatva in der kulturellen Zirkulation entlang der Seidenstraße sein Geschlecht gewechselt. Später hat die katholische, insbesondere die jesuitische Mission in China (aber auch in Japan und Korea) die Kwan In wiederum zum Vorbild für asiatische Marienbilder genommen.97 Vor diesem Hintergrund klingt Chungs rethorische Frage, ob „dies vielleicht auch ein weibliches Bild für Christus sein [könne]“ (30) noch einmal ganz anders. Gewissermaßen wird so aber doch der Christus praesens, der im 96
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Laut einer Fußnote in der in Junge Kirche abgedruckten Version ihres CanberraReferates verdankt Chung diesen Hinweis auf ki dem Nestor der Minjung-Theologie Ahn Byung-Mu. Ahn hatte auf einer Vorbereitungstagung des Koreanischen Kirchenrates (NCCK) zum Thema „Ki und der Heilige Geist“ gesprochen (136, Anm. 12). Vgl. Horst Rzepkowski, Art. Kuan-Yin, in: ders., Lexikon der Mission. Geschichte. Theologie. Ethnologie, Graz etc. 1992, 258. Dietrich Seckel, Kunst des Buddhismus. Werden, Wanderung und Wandlung, Baden-Baden 1962, 224–228.
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Teil III: Generative Themen
Geist gegenwärtige Christus, zur Ikone des Heiligen Geistes. Hier liegt das trinitätstheologische Dilemma nicht nur der Pneumatologie Chungs, sondern der Pneumatologie im Allgemeinen. Die Kirchenväter haben den aus der antiken Philosophie stammenden Personbegriff eingeführt, um die Dreiheit in der Einheit zu beschreiben. Für spätmoderne Menschen hat der Begriff „Person“ jedoch einen ganz anderen Klang; Konzeptionen wie „Individualität“ oder „Autonomie“ schwingen immer mit.98 Chungs Rede vom Heiligen Geist bringt vor allem die Relationalität Gottes zum Ausdruck, sowohl zwischen Gott und Sohn, als auch zwischen ihnen und der Welt. Das Personsein des Geistes wird charakterisiert durch dieses In-Beziehung-Sein.99 Ein Seitenblick auf das Werk der beiden einzigen kontextuellen Theologen, die Monographien zum Thema geschrieben haben, und einige Neuansätze in der westlich akademischen Theologie zeigt, dass sie damit nicht alleine steht.
2. Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu anderen Entwürfen Der indische Jesuit Samuel Rayan100 problematisiert, dass Anreden wie „Vater“ und „Sohn“ ganz anders an das Personsein referieren als „Geist“. „Innerhalb des trinitarischen Geheimnisses ist der Geist die Beziehung und Gegenseitigkeit von Vater und Sohn“ (98). Rayan zeigt eine große Nähe zu Chungs Ansatz. Unter Verweis auf die in der Alten Kirche noch gebräuchliche Anrede des Heiligen Geistes als weiblich kommt er zu der Aussage: „Heute wäre das beste alltägliche Sakrament des Geistes jede Mutter, überall“ (ebd.). „Ihr Handeln ist nicht auf eine bestimmte Person, Institution, Epoche, Kultur oder Religion beschränkt“ (99). Sie ist vorrangig in den Armen und Unterdrückten gegenwärtig. Sie trauert über die endlosen Konflikte in Kashmir, Sri Lanka, Algerien, Sierra Leone, Sudan, Rwanda und Burundi, Mexiko, Kosovo, Ost-Timor, über die zwei großen Kriege und die vielen regionalen Kriege und inneren Konflikte; über die Holocausts und Genozide; über die Eroberung der beiden Amerikas und das Sklavensystem; über 98 Vgl. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, Göttingen 2004, 348. 99 Gerrit Neven sucht in diesem In-Beziehung-Sein im Anschluss an die Versöhnungslehre von Karl Barth die pneumatologische Begründung für seine dialogische Dogmatik. Vgl. Gerrit Neven, Barth Lezen, Naar een Dialogische Dogmatiek, Zoetermeer 2003, 47–49. 100 Samuel Rayan, Holy Spirit, in: Dictionary of Third World Theologies, hg. von Virginia Fabella / R.S. Sugirtharajah, Maryknoll, NY 2000, 98–101 (Seitenangaben im Text). Vgl. ders., The Holy Spirit: Heart of the Gospel and Christian Hope, Maryknoll, NY 1978.
§ 9 Gegenwärtig im Geist
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koloniale Zerstörung von Völkern, Geschichten und Kulturen; über Diktatoren, die Tausende gefoltert, getötet und verschwinden lassen haben; über die Unterstützung die diese Diktatoren von den Großmächten bekommen; über die andauernde Produktion von Atomwaffen [...] Grenzenlos ist die Trauer des Geistes und das Leiden Gottes und die Kreuzigung der Menschen (100).
Die bei Chung sichtbare Dialektik zwischen Leiden (han) und „Leben (in Fülle)“ findet ihre Analogie in Rayans Gegenüberstellung von der Trauer des Geistes über diese Zustände und der Freude an der Schöpfung (ananda), die der Geist vergegenwärtigt. José Comblin (*1923),101 Priester und Theologieprofessor, beklagt, „dass die lateinamerikanische Theologie keine eigene Theologie des Heiligen Geistes erarbeitet hat“ (611). Er sieht Gottes Geist befreiend in der Geschichte handeln und in den Armen gegenwärtig. Ein patristisch versierter Ökumeniker wie Dietrich Ritschl (*1929) zeigt sich gegenüber Begriffen wie „Person“ oder „Seinsweisen“ und Titeln wie „Vater“ und „Sohn“ ebenso skeptisch wie gegenüber einer separaten Pneumatologie. Er begründet dies damit, dass „der materiale Inhalt einer Lehre vom Geist Gottes zugleich sein kognitiver Zugang ist“.102 Jürgen Moltmann teilt diese Skepsis: „Die genauere Wahrnehmung der Personalität des Heiligen Geistes ist das schwierigste Problem in der Pneumatologie im Besonderen und der Trinitätslehre im Allgemeinen“.103 Er definiert Personsein in Anschluss an Martin Buber als „In-BeziehungSein“.104 Diese Relationalität ist der Ausgangspunkt für die Versuche von Jürgen Moltmann und Leonardo Boff, der Dreieinigkeit in einer sozialen Trinitätslehre neue Gestalt zu geben (→§ 8.1). Chung selbst denkt deutlich in trinitarischen Konstellationen – es ist der Geist des barmherzigen Gottes und des gekreuzigten Jesus – aber sie argumentiert anders als ihre orthodoxen Kritiker nicht in den Kategorien klassischer Trinitätslehre. Mit ihrer relationalen Pneumatologie befindet sie sich dabei in guter Gesellschaft. 101 José Comblin, Der Heilige Geist, in: Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, hg. von Ignacio Ellacuría / Jon Sobrino, Luzern 1995, 611–634 (Seitenangaben im Text). Vgl. ders., Der Heilige Geist. Gott der sein Volk befreit, Düsseldorf 1988. 102 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 179 und 197f. 103 Jürgen Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 281. 104 Moltmann, Der Geist des Lebens, 27, vgl. 282. Welker, Gottes Geist, 289 spricht unter Rekurs auf Niklas Luhmann vom Heiligen Geist als dem „Resonanzbereich Christi“.
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Teil III: Generative Themen
• Innovativ ist ihr Zugang aus der Perspektive der Inkulturations- und Dialogtheologien, der interkulturelle Lernchancen eröffnet. Die Fragen nach dem Verhältnis von Gottes Geist und den Geistern und ihrer Scheidung werden pneumatologisch verantwortet. Um für Gottes Geist offen zu sein, muss der Mensch sich entäußern und umkehren. Der Heilige Geist selbst ist dabei die transformierende Kraft. Im Transformationsprozess der Umkehr werden die Geister geschieden. • Zugleich steht Chung in der Tradition der Befreiungstheologien. Sie denkt die Pneumatologie vom Kreuz her. Der Geist des barmherzigen Gottes und des gekreuzigten Jesus manifestiert sich bevorzugt in den Armen und Unterdrückten, den vielen namentlich Bekannten und Unbekannten, die das Martyrium erlitten haben, ja selbst in der gequälten Schöpfung. Nicht das Leiden für, sondern das Leiden mit der göttlichen Schöpfung in all ihrem Reichtum steht hier zentral. • Chung ist nicht nur ökologie- sondern auch genderbewusst. Deutlich weist sie auf die feminine Seite Gottes. Die ruach ist weiblichen Geschlechts.105 Mit ihrer Performance ist es Chung gelungen, die verschiedenen Dimensionen der kontextuellen Theologien zu integrieren. Es war ein kairos, der die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur auf die Agenda der ökumenischen Bewegung setzte.106 Neben der Schöpfungstheologie – Gott hat die Welt in ihrer kulturell-religiösen Vielfalt geschaffen – hat Chung mit ihrer Betonung des In-Beziehung-Seins zugleich die Pneumatologie als weiteren Zugang zum kulturell-religiösen Pluralismus der Spätmoderne erschlossen. Gottes Geist durchwirkt die Kulturen und Religionen.
105 Die feministische Theologie im Westen bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die sophia-Tradition. Vgl. Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996. 106 Im Gefolge von Canberra wurde ein breit angelegter Studienprozess beschlossen, der in der Weltmissionskonferenz in Salvador de Bahia (1996) gipfelte (→§ 1.4). Dass die Thematik danach trotz ihrer anhaltenden Aktualität von der ökumenischen Agenda verschwand, ist zu beklagen. Vgl. Wesley Ariarajah, Gospel and Culture. An Ongoing Discussion within the Ecumenical Movement, Geneva 1994; Zu einer Hoffnung berufen – Das Evangelium in verschiedenen Kulturen. Berichtsband zur elften Konferenz für Weltmission und Evangelisation in Salvador de Bahia 1996, hg. von Klaus Schäfer, Frankfurt/M. 1999.
§ 10 Kirche mit anderen sein
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§ 10 Kirche mit anderen sein Die Ekklesiologie ist der Lackmustest, ob es der jeweiligen kontextuellen Theologie gelingt, in der Kirche vor Ort Wurzeln zu schlagen. Für Theologinnen und Theologen, die den Anspruch erheben, als organische Intellektuelle (Antonio Gramsci) aus der Mitte ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu sprechen, ist dies eine durchaus existentielle Frage. Die Befreiungstheologien mit ihrem Fokus auf gesellschaftlichen Wandel haben selbst stärker den Charakter einer theologischen Bewegung und können daher noch eher auf Zulauf rechnen als die Inkulturations- und Dialogtheologien, die Gedankengebäude Einzelner sind, die auf eine Erneuerung bzw. Kontextualisierung der Großkirchen setzen. Während die lateinamerikanische Befreiungstheologie und die Schwarze Theologie ihre Wurzeln denn auch in den Gemeinden haben, werden viele kontextuelle Theologinnen und Theologen von ihren Kirchen noch stets als entwurzelt betrachtet. Die protestantischen Kirchen in der Dritten Welt sind oft ein Spiegelbild ihrer westlichen Mutterkirchen aus dem 19. Jahrhundert. Die zumeist pietistische bzw. evangelikale Theologie der Missionare ist noch heute an vielen ihrer Theologischen Seminare maßgeblich. Katholischerseits ist der Aufbruch, den das Zweite Vatikanische Konzil einst markiert hat, durch den restaurativen Kurs Roms ins Stocken geraten. Ekklesiologie wird hier verstanden als das theologische Nachdenken über neue Gestalten von Kirchesein in einem bestimmten Kontext. Dies ist durchaus als ein Versuch zu begreifen, sichtbare und unsichtbare Kirche dialektisch aufeinander zu beziehen.107 Auch kontextuelle Ekklesiologie weiß dabei um den eschatologischen Vorbehalt, die Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“ des anbrechenden Gottesreiches. Im Folgenden werden protestantische und katholische Beispiele vergleichend nebeneinander gestellt, ohne dass die konfessionellen Unterschiede dabei nivelliert werden sollen. Die Typologie kontextueller Theologie als Raster nehmend, zeichne ich anhand der lateinamerikanischen Basisgemeinden, der Schwarzen Kirchen in den USA, der Minjung-Gemeinden in Südkorea und der Afrikanischen Unabhängigen Kirchen Transformationsprozesse im ekklesiologischen Denken nach. Gelegentliche Seitenblicke in andere Kontexte untermauern das Gesagte. Auf dieser ökumenischen Grundlage werde ich dann einige notae novae ecclesiae benennen. 107 Ein ähnlicher Ansatz findet sich schon bei Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, München 1986 [1927]; vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Art. Ekklesiologie, in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 276–280.
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Teil III: Generative Themen
1. Die befreiende Kirche Die Befreiungstheologien sind bei Weitem die ergiebigsten Quellen kontextueller Ekklesiologie. Sie sind entweder an der kirchlichen Basis entstanden oder ihre Repräsentanten haben selbst Gemeinden gegründet. Das führt zu einer wechselseitigen Befruchtung zwischen kirchlicher Praxis und theologischer Reflexion. Basisgemeinden in Lateinamerika Die lateinamerikanischen Basisgemeinden sind die Keimzellen der Befreiungstheologie. Entstanden nicht zuletzt aus akutem Priestermangel, sind diese Kleingruppen eine Erneuerung der Kirche von unten, von den Graswurzeln her, wie gerne gesagt wird. Die Aufbruchsstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils hat ihre Ausbreitung und die Akzeptanz durch die Amtskirche befördert. Leonardo Boff sieht in dieser Ekklesiogenesis „eine Wiedergeburt der Kirche und damit das Eingreifen des Geistes in den Horizont der Notwendigkeiten unserer Zeit“.108 „Die Armen und Unterdrückten, die in die Geschichte Lateinamerikas und seiner Kirche einbrechen, konstituieren ein Volk, das gleichzeitig unterdrückt und gläubig ist“, so der Nestor der Befreiungstheologie, Gustavo Gutiérrez, anlässlich der lateinamerikanischen EATWOT-Kontinentalkonferenz 1980 in Sao Paulo / Brasilien, die ganz im Zeichen der Basisgemeinden stand.109 Ronaldo Muñoz (Chile, *1933) benannte als ihre Kennzeichen: „Es ist eine evangelisierende Kirche, eine Kirche der Armen und eine Kirche als Gemeinschaft.“110 Die „Option für die Armen“, die zum Signet dieser Bewegung und inzwischen ein geradezu allgemein akzeptierter theologischer Leitsatz geworden ist, ist von der Formulierung her missverständlich. Das profiliert etwa durch Dietrich Bonhoeffer vertretene Modell einer „Kirche für andere“ wurde durch die Basisgemeinden ja gerade abgelöst durch das Modell einer Kirche mit den Armen bzw. einer Kirche als Gemeinschaft der Armen. Die Dokumente der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) tragen diesem Perspektivenwechsel Rechnung, wenn sie vom „hermeneutischen Privileg“ und vom „evangelisatorischen Potential der Armen“ sprechen. Die innovative Kraft der Basisgemeinden liegt in ihrer 108 Leonardo Boff, Die Neuentdeckung der Kirche. Basisgemeinden in Lateinamerika, Mainz 1980, 20; vgl. ders., Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf 1985. 109 The Challenge of Basic Christian Communities, 112 (→§ 5.4). 110 The Challenge of Basic Christian Communities, 150.
§ 10 Kirche mit anderen sein
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kontextuellen Bibelauslegung, die Text und Kontext dialektisch aufeinander bezieht und in konkretes Handeln umsetzt. Das „hermeneutische Privileg der Armen“ besteht darin, dass sie in ihren Lebensumständen Jesus besonders nahe sind. Der hermeneutische Zirkel weist die Basisgemeinden als partizipatorische Gemeinschaften aus (→§ 2.2). In der guten Nachricht, dass das Reich Gottes mitten unter ihnen angebrochen ist, entfaltet sich ihr „evangelisatorisches Potential“. Das Leben der Basisgemeinden beschränkt sich aber keinesfalls auf ihr prophetisches Kirchesein. Die Armen verstehen es, Gottes Gegenwart in ihrer Mitte schon jetzt zu feiern. Trotz aller Versuche der Hierarchie der römisch-katholischen Amtskirche, die Befreiungstheologie mundtot zu machen und die Basisgemeinden zu diffamieren, haben sie bisher alle Stürme überstanden, und sei es unter dem Deckmantel eines neuen Gemeindeaufbaukonzeptes. Als familienzentrierte „kleine christliche Gemeinschaften“ haben sie längst auch in Afrika Verbreitung gefunden. In der Situation christlicher Minderheiten in Asien wurden die christlichen Basisgemeinden zu „menschlichen Basisgemeinschaften“, die sich bewusst den fremdreligiösen Nachbarn öffnen.111 Die regionalen Bischofskonferenzen in Afrika, Asien und Lateinamerika haben die Bedeutung der Basisgemeinschaften „als Brennpunkte der Evangelisierung“ immer wieder hervorgehoben. Schwarze Theologie und Schwarze Kirche Zeitgleich mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie katholischer Provenienz entstand in den USA unter protestantischen Pfarrern und Professoren die Schwarze Theologie.112 James Cone, einer ihrer Gründungsväter, sieht sie tief verwurzelt in der historischen Erfahrung der Schwarzen Kirche. Schwarze Theologie ist eine Befreiungstheologie, habe ich behauptet, weil sie aus einer Schwarzen Kirche hervorgegangen und ihr verantwortlich ist, die schon immer in unserem historischen Kampf um Gerechtigkeit involviert war. Wenn schwarze Prediger und Laien diese Botschaft hören, reagieren sie begeistert und mit einem gewissen Stolz darauf, dass sie zu einer radikalen und kreativen Tradition gehören. Wenn ich allerdings mit jungen Schwarzen in Colleges und Universitäten spreche, sind die meisten von ihnen überrascht, dass eine solche radikale Tradition der Schwarzen Kirche wirklich 111 Vgl. Franz Weber, Basisgemeinden. Kirchengestalt am Beginn des 3. Jahrtausends, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 83, 1999, 103– 123. 112 Zu schwarzer Theologie und katholischer Kirche vgl. die entsprechenden Beiträge in Black Theology. A Documentary History, 1966–1979 (und 1980–1992), 2 Bde, hg. von James Cone / Gayraud S. Wilmore, Maryknoll, NY 1979 und 1993.
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existiert. Nachdem sie vom Appell von David Walker aus dem Jahr 1829, der „Rede an die Sklaven“ von Henry H. Garnet von 1843 oder der Erklärung von Henry M. Turner, „Gott ist ein Neger“ (1889) gehört haben, sind sie schockiert. Sie fragen unweigerlich „Was ist bloß mit den heutigen Schwarzen Kirchen los?“ „Warum haben unsere Prediger und Kirchen nicht denselben radikalen Geist?“ Diese jungen Schwarzen stellen fest, dass die Schwarzen Kirchen von heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht für Befreiung eintreten, sondern hauptsächlich damit beschäftigt sind, möglichst viel Geld für ein neues Kirchengebäude oder den Geburtstag des Predigers einzusammeln.113
Die Beziehung zwischen Schwarzer Theologie und Schwarzer Kirche bleibt ambivalent. Der Balanceakt zwischen der Black-Power-Bewegung von Malcolm X (1925–1965) und der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King Jr. (1929–1968), zwischen schwarzem Nationalismus und Integration, stellte die Schwarze Theologie vor eine Zerreißprobe. Zugleich sind Cones erste theologische Gehversuche in Richtung einer Schwarzen Theologie nicht zuletzt beeinflusst gewesen durch die Solidaritätsbekundungen schwarzer Pfarrer mit der Black-Power-Bewegung.114 Dennoch musste er die Ablehnung durch seine eigene Afrikanisch-methodistische Episkopalkirche (African Methodist Episcopal Church – AME) früh erfahren.115 In der Folge richtete sich seine Kritik nicht nur gegen die weißen Kirchen, sondern auch gegen die schwarzen, die in ihrer Nachahmung der weißen evangelikalen Kirchen auch den Rassismus der weißen unterdrückerischen Mehrheitsgesellschaft internalisiert zu haben schienen. Im Rückblick unterscheidet Cone im Anschluss an Gayraud Wilmore (*1921) drei Phasen im Verhältnis von Schwarzer Theologie und Kirche. Nach einer Phase des Aufbruchs innerhalb der Schwarzen Kirchen wandten sich die schwarzen Theologen den akademischen Institutionen zu und verstrickten sich in den wissenschaftlichen Diskurs der weißen Mehrheit. Die dritte Phase ist eine Wiederannäherung an die Schwarze Kirche.116 Der ConeSchüler Dennis W. Wily, selbst Pastor einer Schwarzen Kirche, warnt, dass diese Annäherung um den Preis der prophetischen Kritik nach innen erkauft zu werden droht. Seiner Einschätzung nach hat sich zwar die Schwarze Theologie wieder der Schwarzen Kirche anzunähern versucht, umgekehrt hat sich 113 James Cone, Black Theology and the Black Church: Where do we go from here?, in: Black Theology. A Documentary History, Bd. 1, 350–359; vgl. ders., Für mein Volk. Schwarze Theologie und Schwarze Kirche, Freiburg, Schweiz 1987, 23. 114 Vgl. James Cone, Zeugnis und Rechenschaft. Christlicher Glaube in schwarzer Kirche, Freiburg/Schweiz 1988, 53f. 115 Vgl. Cone, Zeugnis, 82f. 116 Vgl. Cone, Für mein Volk, 40–44.
§ 10 Kirche mit anderen sein
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diese bisher aber wenig beeindruckt gezeigt. Zugleich hat die Schwarze Kirche ihren Rückhalt in der schwarzen Gemeinschaft verloren. Zudem werden Schwarze Theologie und Kirche von neuen generativen Themen herausgefordert: Drogenkonsum, Prostitution, Kriminalität und HIV / Aids haben die schwarze Gemeinschaft zerrüttet. Die womanistische Theologie prangert den latenten Sexismus der schwarzen Gemeinschaft an. Jüngere Theologen der zweiten Generation weisen auf den Mangel an Bewusstsein für die Klassenunterschiede hin. Die internationale Solidarität mit der Dritten Welt lässt Schwarze Theologen den Neokolonialismus des amerikanischen Imperiums kritisch hinterfragen. Wily mahnt: „Ohne Schwarze Theologie wird die Schwarze Kirche ins Wanken geraten und ohne die Schwarze Kirche wird die afro-amerikanische Gemeinschaft zerstört werden, sowohl von innen heraus als auch von außen.“117 Die Schwarze Theologie hat schnell auch in Südafrika Fuß gefasst, wo Rassismus und Apartheid von den weißen Kirchen theologisch sanktioniert wurden. Die südafrikanische Schwarze Theologie verstand sich als prophetische Theologie, die die Staatstheologie und die Kirchentheologie der weißen Kirchen gleichermaßen an den Pranger stellte.118 Nach dem Ende der Apartheid mussten ihre Protagonisten sich neuen generativen Themen wie Wiederaufbau und Wiedergutmachung stellen (→§ 2.4). Im Zuge des Versöhnungprozesses wurde auch die Frage nach Kirchenunionen zwischen den getrennten weißen und Schwarzen Kirchen aktuell. Die Minjung-Gemeinden in Südkorea Anders als die lateinamerikanische Befreiungstheologie oder die schwarzen Theologen konnten sich die von Haus aus ebenfalls protestantischen Minjung-Theologen nicht auf eine breite kirchliche Basis stützen (→§ 9.1). Aber ihre Exponenten hatten z.T. Kontakt zur Arbeit der Stadt-und-Land-Mission (Urban Industrial and Urban Rural Mission – UIM / URM). Diese hatte sich in den 70er Jahren von einer Evangelisierung traditionellen Zuschnitts zu einer gesellschaftsdiakonischen Initiative gewandelt. Die Pfarrer arbeiteten zumindest zeitweilig selbst unter den gleichen Bedingungen wie die Arbeiter. UIM-Zentren wie Yongdongpo wurden zu Zellen der Bewusstseinsbil117 Dennis W. Wiley, Black Theology, the Black Church and the African-American Community, in: Black Theology. A Documentary History, Bd. 2, 127–138, 129. 118 Vgl. Christen im Widerstand. Die Diskussion um das südafrikanische KAIROS Dokument, hg. von Rudolf Hinz / Frank Kürschner-Pelkmann, Stuttgart 1987.
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dung.119 Einige der Schüler der Minjung-Theologen haben dann selbst Minjung-Gemeinden gegründet – die entgegen dem Wachstumsdenken der koreanischen Kirchen kleine Solidargemeinschaften waren – und sich in einer Vereinigung zusammengeschlossen. Hier ging die Initiative anders als in Lateinamerika also nicht vom Volk, sondern von den Pfarrern aus. Diese berufen sich dezidiert auf ihre Lehrer. Ich skizziere daher im Folgenden den Ansatz von Ahn Byung-Mu (1922–1996), einem der Gründerväter der Minjung-Theologie. Der Neutestamentler Ahn hat das Markusevangelium einer relecture aus der Perspektive des Minjung unterzogen. Er hat dabei die besondere Beziehung zwischen Jesus und der Volksmenge (griechisch: ochlos) herausgearbeitet. Der ochlos ist die amorphe, in ihrer Zusammensetzung schwankende Volksmenge, die zusammenströmt, wo Jesus auftritt, ihm z.T. aber auch nachfolgt. Es handelt sich dabei um eine Gruppe sozial entwurzelter Menschen aus der galiläischen Unterschicht, denen Jesu besondere Zuwendung gilt. Sie sind die Adressaten seiner Mission. Der ochlos ist für Ahn Träger der Überlieferung des Jesusereignisses. Diese Menschen verbreiteten Erzählungen über das Jesusereignis in Form von Gerüchten, um die Wahrheit über das Jesusereignis zu bezeugen. Gleichzeitig wollten sie ihrem eigenen Leiden und ihren Erwartungen Ausdruck geben. Denn sie sahen im Jesusereignis und besonders in seinem Leiden ihr eigenes Geschick sich widerspiegeln.120
Demgegenüber hat die Kirche das Kerygma herausgebildet, durch das das Jesusereignis enthistorisiert wurde. Es diente der Konfliktreduzierung nach außen und der Institutionsstabilisierung nach innen. Jesus hat jedoch nie intendiert, eine Kirche zu gründen. Auch hat er weder Taufe noch Abendmahl als Sakramente eingesetzt. In diesen Hypothesen spiegelt sich Ahns eigene kritische Haltung gegenüber der Institution Kirche. Er hat Zeit seines Lebens das Laienelement stark gemacht und sich der Ordination verweigert. Ahn betont die eschatologische Dimension des christlichen Glaubens. „Die Gemeinschaft, die sich jetzt an dem eschatologischen Ort, wo das Reich 119 Cho Seung Hyuk, Presence of Christ among Minjung. Introduction to the UIM in Korea, Christian Institute for the Study of Justice and Development, Seoul 1981; In Myung-Jin, Rething the work of Urban Industrial Mission in the Presbyterian Church of Korea in the Light of Minjung Theology, unveröffentliche Dissertation, San Francisco Theological Seminary 1986. 120 Ahn Byung-Mu, Die Träger der Überlieferung des Jesusereignisses, in: ders., Draußen vor dem Tor, 99–119, 119. Vgl. Küster, Jesus und das Volk.
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Gottes anbricht, versammelt, ist die wahre Gestalt der Kirche.“121 Dieser eschatologische Ort ist der Ort, an dem Jesus und Minjung sich treffen. Diesen Ort gilt es immer wieder neu zu entdecken. Zur ursprünglichen Eschatologie zurückzukehren bedeutet, der Tradition des „Sendens“ der Jesusbewegung zu folgen. Die Kirche sollte die Gemeinschaft sein, wo wir uns selbst entäußern, uns selbst opfern bis in den Tod und uns selbst in die Welt senden. „In die Welt!“ – das führt die Kirche zum Minjung Jesu und an den Ort, wo das Minjung lebt.122
An diesem Ort muss sich Kirche immer wieder neu konstituieren. Sie muss dem Minjung das Recht, die Bibel auszulegen, zurückgeben und seine kulturellen Traditionen im Gottesdienst aufnehmen. Sie muss die Gegenwart Christi im Minjung bezeugen bis hin zum Martyrium. Der Systematiker Suh Nam-Dong spricht in diesem Zusammenhang von der „Dritten Kirche“. Die Stadt- und Industriemission und die Landmission im Korea der späten 70er Jahre können als Dritte Kirche bzw. Minjung-Kirche oder Kirche des Heiligen Geistes bezeichnet werden. Sie folgen auf die katholische und die protestantischen Kirchen und sind die neuen Kirchen in der post-christlichen Ära, die Gottes Mission [Missio Dei] unter der Führung des Heiligen Geistes ausführen.
Ahn, Suh und andere von den Universitäten relegierte Professoren haben in den 1980ern die Galiläa-Gemeinde gegründet. Der Name nimmt wiederum Bezug auf das Markusevangelium, Jesus wirkte unter dem galiläischen ochlos, dem seine ganze Zuwendung galt. Diese Personalgemeinde kümmerte sich um die Angehörigen der politisch Verfolgten und Inhaftierten unabhängig davon, ob sie Christen waren oder nicht. In den Gottesdiensten wurde gemeinsam das Evangelium ausgelegt, für die Inhaftierten gebetet, es wurden aber auch die neuesten Gerüchte über die politische Lage ausgetauscht. Ich habe auch erlebt, wie Pfarrer Moon Ik-Kwan (1918–1994) nach dem Gottesdienst die Gemeindemitglieder mit Akupressur behandelt hat. Park Hyung-Kyu (*1923), ein Pfarrer, der seit Langem in der Arbeit der Stadt- und Industriemission engagiert war, hielt seinen Sonntagsgottesdienst mehrere Jahre vor einer Polizeistation im Stadtzentrum von Seoul ab, weil er in seiner Kirche wiederholt von Spitzeln der Regierung zusammengeschlagen worden war. Die Ambivalenz der Inkulturationsbemühungen der Minjung-Theologie lässt sich am Beispiel der Dongwol-Gemeinde aufzeigen. 121 Ahn Byung-Mu, The Church of Minjung, unveröffentlichtes Manuskript 10 Seiten. 122 Ahn, The Church of Minjung, 8.
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Pfarrer Huh Byung-Sub (*1941) war einer der Ersten, der in einer der Mondscheinstädte, der koreanischen Variante der urbanen Slums, eine Gemeinde gegründet hat. Der Minjung-Künstler Lee Chul-Soo (*1954) hatte den Versammlungsraum mit Gemälden ausgestaltet. Dagegen regte sich Widerstand aus der Gemeinde. Vielen der einfachen Gemeindeglieder waren sie zu schamanistisch angehaucht. Der Abriss der Kirche durch staatliche Rollkommandos kam letztendlich nur der Übermalung dieser Bilder zuvor. Gemeinden wie die drei soeben beschriebenen haben den jungen Pfarrern aus der Schülergeneration der Minjung-Theologen bei ihren Gemeindegründungen als Vorbilder gedient. Sie wollten mit den Armen leben und ihre Not teilen. Da die Pfarrer in Korea von ihren Gemeinden bezahlt werden, bedeutete dies ein Leben am Rande des Existenzminimums. Ein gewisser Finanzausgleich wurde erst nach zähem Ringen in den Synoden möglich. War die Arbeit der UIM/URM anfangs noch geprägt von dem Gedanken der „Kirche für andere“, steht hier ganz das „mit dem Minjung Sein“ im Vordergrund. Die Transformationsprozesse Koreas haben auch die Minjung-Gemeinden nicht unberührt gelassen. Sie sind teilweise zu Zentren zur Betreuung der Arbeitsmigranten geworden.123 Der Dachverband der Minjung-Gemeinden hat sich umbenannt in „Leben, Mission, Solidarität“. Theologische Neuaufbrüche in den 1980er Jahren wie die japanische Burakumin-Theologie oder die indische Dalit-Theologie haben von ihren Vorgängern gelernt und bewegen sich methodisch und argumentativ in vergleichbaren Bahnen. Die Burakumin-Theologie ist aus der Arbeit einiger Pfarrer mit diesen Ausgestoßenen der japanischen Gesellschaft hervorgegangen.124 Für die in Japan ebenfalls diskriminierten Koreaner, meist von den ehemaligen Kolonialherren über Korea verschleppte Zwangsarbeiter oder ihre Nachkommen, waren die Gettos der Burakumin oft ein Zufluchtsort. Dass ein Großteil der indischen Christen, protestantisch wie katholisch, Kastenlose oder wie sie sich heute selbst bezeichnen, Dalits, sind, ist im Westen lange durch die Bemühungen um einen Dialog mit dem Hinduismus seitens der Theologen mit brahmanischen Hintergrund verschleiert worden. Diese dominierten lange die leitenden Positionen in Kirche und Universitäten. De 123 Im Gefolge der Demokratisierung und der Legalisierung der Gewerkschaften entstand in Südkorea ein Bedarf an billigen Arbeitskräften für die sogenannten drei-D-jobs: dirty, dangerous und degrading. Dadurch wurden Arbeitsmigranten aus den asiatischen Nachbarländern Myanmar, Philippinen etc. ins Land gelockt. Nach Ablauf ihrer in der Regel dreijährigen Arbeitserlaubnis blieben sie oft illegal im Land. 124 Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 188.
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facto ist das hinduistische Kastensystem jedoch in den christlichen Kirchen perpetuiert worden. Sowohl die Burakumin- als auch die Dalit-Theologie sind prophetische Stimmen, die die Kirchen zur Umkehr zu den Armen und Unterdrückten mahnen. Sie rufen sie dazu auf, sich nicht auch der allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung schuldig zu machen, sondern dagegen vorzugehen. Ekklesiologien im klassischen Sinn haben sie beide nicht entwickelt. Die Mitte der 1980er aufkommenden Theologien von Frauen in der Dritten Welt haben sich bisher ebenfalls weniger durch ekklesiologische Theoriebildung denn durch praktisches Engagement in Form der koinonia von Frauen profiliert.125 Sie identifizieren die Frauen als die „Unterdrückten der Unterdrückten“ in den jeweiligen Kontexten, die nicht allein unter der sozioökonomischen und politischen, sondern auch unter der kulturell-religiösen Unterdrückung als Frau leiden. Sie neigen daher im Allgemeinen stärker der Befreiungstheologie zu. Ein wiederkehrendes Thema ist die wechselseitige Verstärkung des Patriarchats in Kirche und Kultur. In Korea und anderswo hat die anhaltende Verweigerung der Frauenordination in vielen protestantischen Denominationen zur Gründung einer Frauenkirche geführt. Die dargestellten befreienden Ekklesiologien haben ihre Wurzeln oft in den Kirchen bzw. Gemeinden oder sie haben selbst zur Gemeindegründung beigetragen. Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Kirchen und kontextuellen Theologien ambivalent. Das gilt für die katholische Amtskirche in Lateinamerika ebenso wie für die evangelikalen bzw. pfingstlerischen Schwarzen Kirchen in den USA oder die großen presbyterianischen Denominationen in Südkorea.
2. Die inkulturierte Kirche Katholischerseits ist die Kirche nicht zuletzt aufgrund der zentralen Bedeutung der Liturgie geradezu das Subjekt der Inkulturation, während im protestantischen Bereich die Ekklesiologie selbst eher randständig ist. An den Afrikanischen Unabhängigen Kirchen zeige ich exemplarisch, welche Impulse die sogenannte „neue Christenheit“ geben kann. Liturgiereform und Inkulturation Wie die Befreiungs- sind auch die Inkulturationstheologien die praktische Umsetzung der Reformideen des Zweiten Vatikanischen Konzils in den Kon125 Vgl. Walz, „... nicht mehr männlich und weiblich ...“.
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texten der Dritten Welt. Sie haben ihre Wurzeln in der Messreform und der Kirchenkonstitution. Durch die Feier der Messe in der Landessprache wurde zugleich auch die lokale Kultur gewürdigt. Die Aufnahme von traditionellen Instrumenten und Kunsthandwerk in die Liturgie, die Transformation traditioneller Riten oder die Aufnahme des Gedankenguts der lokalen Kultur und des fremdreligiösen Umfeldes blieb jedoch nicht unwidersprochen. Nachdem die Missionare jahrhundertelang Christentum und westliche Kultur gleichgesetzt und das kulturell-religiöse Erbe der Konvertiten als „heidnisch“ verurteilt hatten, begegneten gerade afrikanische Christen dem plötzlichen Umschwung mit Argwohn. Sie vermuteten dahinter einen abermaligen Versuch des Westens, sie in Abhängigkeit zu halten und ihnen den Fortschritt zu verwehren. Cécé Kolié etwa, katholischer Priester aus Guinea, bringt die Ambivalenz der Inkulturationsbemühungen im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils auf den Punkt, wenn er im Hinblick auf die Anrede Jesu mit traditionellen afrikanischen Titeln wie Häuptling, Initiationsmeister oder Ahne feststellt: Wieder einmal zwingen wir eine Sichtweise auf, die wir von unseren westlichen Lehrmeistern übernommen haben. Werden unsere Gemeinden uns folgen, wenn wir die Meßgebete mit diesen Titeln Jesu ausdrücken, die in Afrika noch nicht den Erweis ihrer tatsächlichen Wirksamkeit erbracht haben?126
Auf theologischem Gebiet ist manches sicher fragwürdig und nicht gut durchdacht, nicht umsonst ist gerade die Inkulturationstheologie in einer tiefen Krise. Dennoch sind Kirchenbau, Messgewänder und -bücher im katholischen Bereich materieller Beweis für die Notwendigkeit dieser Bemühungen. Neuansätze in den 1990er Jahren haben versucht, den Graben zwischen theologischer Reflexion und kirchlicher Praxis durch ein Verständnis der Inkulturation als „pastorale Strategie“ zu überwinden (→§ 2.4). Die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen Die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen (AUK) sind eine Form inkulturierten Christentums (→§ 2.5). Im Gegensatz zu den theologischen Aufbrüchen der kontextuellen Theologinnen und Theologen und ihrer Randstellung in den etablierten Kirchen handelt es sich hier um christliche Gemeinschaftsbewegungen. Sie können auf eine nun schon gut hundertjährige Geschichte zurückblicken und waren lange Zeit die am schnellsten wachsenden Kirchen Afrikas. 126 Cécé Kolié, Jesus – Heiler?, in: Der schwarze Christus, 108–137, 128.
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„Die AUK möchten eine afrikanische Antwort auf die christliche Botschaft geben und unter afrikanischer Leitung ihr kirchliches Leben nach afrikanischen Formen und Denkweisen selbst gestalten“, so die Definition von HansJürgen Becken (*1926), einem der besten deutschen Kenner der AUK.127 Die AUK sind aus einer Begegnung mit bzw. durch Abspaltung von den Missionskirchen entstanden und galten lange Zeit als deren „ungewollte Kinder“. Heute gehören viele AUKs den nationalen Kirchenräten an. Die Kimbanguistenkirche ist sogar Mitglied des ÖRK. Becken unterscheidet drei Phasen der Kirchwerdung dieser Bewegungen:128 • Gründungsphase: Sie steht ganz im Licht des wandernden Propheten oder einer Prophetin, die predigend und heilend durch das Land ziehen. Im Alter gründen diese Charismatiker zumeist ein Kirchenzentrum, das zum Anziehungspunkt für die Gemeinschaft wird. • Festigungsphase: Sie dient der Festigung nach innen und der Herausbildung einer eigenen Identität. Die Leitung wird bestimmt von einem Häuptlingstyp, der sich häufig erst in den Nachfolgestreitigkeiten durchsetzen musste. Oft kommt es auch zu familiärer Sukzession. • Organisationsphase: In dieser Phase etabliert sich die Kirche nach außen. Becken bezeichnet den Leiter dieser Phase als „Generalsekretär“. In ihrer Konzentration auf Heilungen und lebendige Gottesdienste spiegeln die AUK die beiden Grundkategorien afrikanischer Weltanschauung: Leben und Gemeinschaft. Gleichzeitig grenzen sie sich dezidiert etwa gegen das Heilen in den traditionalen Religionen ab. Sie schaffen ihr eigenes Symbolsystem und eigene Riten. Ich zitiere Frederick Timothy Cekwane, den Leiter der Ukukhanya Mission (Mission des Lichtes): Alles was hier getan wird, vollbringen wir durch Gebet. Wir verwenden hier keine Medizin; der Mensch wird allein durch Gebet geheilt ... Die Fürbitte geschieht im Gottesdienst. Wir legen die Hände auf die Kranken, während sie in der Kirche auf den Knien liegen. Sie knien an einem Ort, der „im Teich“ genannt wird; da hinein gehen sie zur Reinigung. Aber dort ist kein Teich mit Wasser; dieser Ort wird nach dem Teich aus alten Zeiten genannt, dem Teich, in dem Jesus die Leute reinigte, damit sie gerettet würden, wenn sie mit vielen Krankheiten behaftet waren, mit Verkrüppelungen, mit 127 Hans-Jürgen Becken, Wo der Glaube noch jung ist. Afrikanische Unabhängige Kirchen im Südlichen Afrika, Erlangen 1985, 11. Vgl. auch die Arbeiten des Südafrikaners Geradus Cornelis Oosthuizen. Zuletzt ders., The Healer-Prophet in Afro-Christian Churches, Leiden etc. 1992. 128 Vgl. Becken, Glaube, 19–27.
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Blindheit, und auch die Lahmen wurden immer nahe bei jenem Teich dort gehalten, wenn sie dort gereinigt werden wollten. Und so bringen auch wir sie nahe zu ihm. Aber das bedeutet nicht, dass Wasser darin ist; es bedeutet nur, dass auch wir sie durch den Geist zu ihm bringen.129
Die Unabhängigen Kirchen sind aus afrikanischer Initiative erwachsen. Sie haben in ihrer kirchlichen Praxis längst vieles von dem verwirklicht, was kontextuelle Theologinnen und Theologen heute in den etablierten Kirchen fordern. Diese müssen mit der überkommenen westlichen Tradition ringen, die von den Mitgliedern ihrer Kirche längst als ihre eigene betrachtet wird. Protestantische kontextuelle Theologen blicken daher gelegentlich interessiert in Richtung AUK. Gemeinschafts- und Lebenszentriertheit auch afrikanischer Theologie bieten durchaus Anknüpfungspunkte. Während die afrikanischen Theologinnen aufgrund der Konvergenz von patriarchalen Tendenzen in Christentum und Kultur gegenüber dem Inkulturationsprojekt im Allgemeinen eher kritisch eingestellt sind, sehen sie die afrikanische Mutter-Kind-Beziehung als adäquates Kirchenmodell (hearth-hold).130 Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Liturgiereform einst den Impuls zur Inkulturation gegeben hatte, nehmen neuere offizielle Verlautbarungen ihr gegenüber ebenfalls wieder eine viel ambivalentere Haltung ein. Die enge Verquickung der katholischen Inkulturationsbemühungen mit der Liturgie und der Ortskirche hat im Protestantismus keine Parallele. Das Kontextualisierungsprogramm war zwar ursprünglich auf die theologische Ausbildung gemünzt, doch eine explizite Ekklesiologie hat es bisher nicht hervorgebracht. Die chinesische Drei-Selbst-Kirche und die kleine Bali-Kirche sind jedoch Beispiele inkulturierter Kirchen im protestantischen Spektrum Asiens.131
3. Die dialogische Kirche Tissa Balasuriya (*1924) propagiert für den asiatischen Kontext, wo sich das Christentum in einer absoluten Minderheitenposition befindet, „menschliche Basisgemeinschaften (Basic human communities)“: 129 Zitiert bei Becken, Glaube, 64. 130 Vgl. Mercy Amba Oduyoye, Introducing African Women’s Theology, Cleveland, Ohio 2001, 78–80. 131 Vgl. Philip L. Wickeri, Reconstructing Christianity in China. K.H. Ting and the Chinese Church, Maryknoll, NY 2007; Volker Küster, Accommodation or Contextualisation? Ketut Lasia and Nyoman Darsane – Two Balinese Christian Artists, in: Mission Studies 16, 1999, 157–172.
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Die Hauptagenten des sozialen Wandels und der menschlichen Befreiung in Asien (außerhalb der Philippinen) werden Gruppen sein, die sich als Volksbewegungen formieren ohne Bezug zum christlichen Glauben. Wenn Religion überhaupt eine Rolle spielt, dann innerhalb von Gruppen, die von einer Vielzahl von Religionen motiviert sind. [...] Das bedeutet, dass asiatische christliche Theologen im Hinblick auf ihr befreiendes Handeln in einem breiteren religiösen Bezugsrahmen denken müssen.132
Ansätze zu solch einem entgrenzenden Denken finden sich schon in der Befreiungstheologie selbst, wenn Jon Sobrino im Hinblick auf Genozid und Massenmorde unter der lateinamerikanischen Bevölkerung von einem „materiellen Martyrium“ spricht (→§ 5.2.4). Während Balasuriya von Rom wegen seiner Äußerungen zum interreligiösen Dialog exkommuniziert wurde, hat sich die Asiatische Bischofskonferenz das Konzept der menschlichen Basisgemeinschaften zu eigen gemacht. Wieder zeigt sich die Ambivalenz der Amtskirche, die Mission und Dialog institutionell getrennt zu halten versucht, und oft Mission meint, wenn sie Dialog sagt (→§ 4.4).
4. Neue Kennzeichen der Kirche Auf die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden lässt sich vorläufig vielleicht soviel sagen: Da, wo die Initiative vom Volk ausgeht bzw. charismatische Führungsgestalten auftreten, ob in den lateinamerikanischen Basisgemeinden (sozio-ökonomischer und politischer Typus) oder in den Unabhängigen Kirchen Afrikas (kulturell-religiöser Typus), entstehen kontextuelle Gestalten des Christentums, die zugleich eigene Formen von Kirche-Sein hervorbringen. Kontextuelle Theologen und Theologinnen reflektieren hierüber gelegentlich ekklesiologisch. Zugleich sind die kontextuellen Theologien insgesamt als Versuch zu verstehen, die Großkirchen lokal zu verorten und zu erneuern. Dabei werden wahlweise die generativen Themen des in der Kirche bzw. den Gemeinden gegenwärtigen Jesus Christus (Befreiungstheologien) oder des in ihnen wirkenden Heiligen Geistes (Heilungen in den Unabhängigen Kirchen) akzentuiert. Während in der katholischen Dogmatik die Ekklesiologie traditionsgemäß eine zentrale Position einnimmt, ist sie im Protestantismus demgegenüber eher schwach ausgeprägt. Dies spiegelt sich 132 Tissa Balasuriya, Divergences. An Asian Perspective, in: Abraham, Third World Theologies, 113–119, 115f. (→§ 5.1).
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noch in den kontextuellen Theologien unterschiedlicher Konfession wider. Doch sieht sich auch die regulative Zentralinstanz Rom immer wieder mit Widerstand seitens der Ortskirchen konfrontiert. Inkulturation und Dialog sind im Kontext des kulturell-religiösen Pluralismus unabdingbar. Der eingangs erwähnten Dialektik von sichtbarer und unsichtbarer Kirche folgend, will ich versuchsweise vier notae novae ecclesiae benennen, um die interkulturellen Lernchancen zu umreißen: • kontextuelle Gemeinden: Das Evangelium wird von der Gemeinschaft in ihrer konkreten Situation ausgelegt. Text und Kontext werden dabei wechselseitig aufeinander bezogen. Dabei kann in unterschiedlichem Maße die sozio-ökonomische und politische Dimension (Befreiung) oder die kulturell-religiöse Dimension (Heilungen) akzentuiert werden. • prophetische Gemeinden: In den AUK sind die Gründergestalten Propheten, die sich oft nicht nur von den Missionskirchen absetzen, sondern auch gegen die Kolonialmächte opponieren. Die Basisgemeinden oder die Minjung-Gemeinden sind Initiativen der Armen und Unterdrückten, die ihnen eine eigene Identität als Gemeinschaft verleihen. Sie klagen offen die gesellschaftlichen Missstände an. Die Reich-Gottes-Botschaft wird im Sinne einer „realisierten Eschatologie“ ins Zentrum gerückt. • überschaubare Gemeinden: Die Mitglieder kennen sich untereinander und sind durch vielfältige Sozialbeziehungen miteinander verbunden. Die Zusammensetzung ist relativ homogen. Der Gottesdienst ist das Zentrum der Gemeinschaft und Quelle ihrer Erneuerung. • missionarische Gemeinden: Die Kirche ist ganz bei den Leuten. Sie ist „Stadt auf dem Berge“ (Mt 5). Die Einladung an den Abendmahlstisch wird offen ausgesprochen. Hinter den hier vorgestellten neuen Gestalten von Kirchesein, die sich als kontextuell, prophetisch, überschaubar und missionarisch kennzeichnen lassen, wird schon etwas von der unsichtbaren Kirche sichtbar.
§ 11 Der neue Mensch in Christus Der christliche Kontextualisierungsdiskurs teilt mit anderen Humanwissenschaften die Ausrichtung auf die De- und Re/konstruktion von Identitäten. Die kontextuellen Theologien sind auch darin gemeinschaftszentriert und denken von den Rändern aus der Perspektive der Marginalisierten her. Sie
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lassen dadurch die generativen Themen christlicher Anthropologie – Sünde, Rechtfertigung und Versöhnung – in einem neuen Licht erscheinen (1.). Zugleich geben sie ihr mit den am Kontext gewonnenen generativen Themen – Narrativität, Leiblichkeit und Relationalität – neue Konturen (2.).
1. Die gottgegebene Würde des Menschen – Christliches Menschenbild im Kontext von Armut und Unterdrückung Der Aufbruch der Befreiungstheologien wurde von einem ungemeinen anthropologischen Optimismus getragen. So ist in Gustavo Gutiérrez Klassiker Theologie der Befreiung zu lesen: Deshalb haben wir uns zu vergegenwärtigen, dass das, was wir jenseits oder – besser – mittels des Kampfes gegen Elend, Ungerechtigkeit und Ausbeutung anstreben, die Schaffung eines neuen Menschen ist (134). Es geht um die „Entsakralisierung“ der sozialen Praxis. In Zukunft wird sie das Werk des Menschen sein. Der Mensch bildet und schafft sich selbst, indem er arbeitet, die Welt verändert, eine gerechte Gesellschaft aufbaut und sein Geschick in der Geschichte selbst in die Hände nimmt (147).
Diese Erwartung einer „Antropophanie“ (197), die ihren Ursprung im Kreuz Christi hat, teilen Schwarze,133 Minjung-, Dalit- und Burakumin-Theologie mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Der von evangelikalen wie eurozentrischen Kritikern gleichermaßen erhobene Vorwurf, sie vergöttlichten damit den Menschen, zeigt allein, dass sie nichts verstanden haben von der Umwertung aller Werte, die sich im Jesusereignis vollzieht.134 Die befreiende Würde Das Credo der Schwarzen Theologie „Schwarz sein ist schön sein (Black is beautiful)“, überwindet die internalisierte Perspektive der Unterdrücker, die Frantz Fanon dem kolonisierten Menschen attestiert hat.135 Der arme, aufgrund von Klasse, Rasse, Geschlecht oder kultureller Faktoren unterdrückte Mensch entdeckt sich bedingt durch die Gegenwart Jesu Christi in seinem Leiden und sein gleichzeitiges „In-Christus-Sein“ als immer schon durch
133 Allan A. Boesak, Unschuld, 35 und 81 spricht ebenfalls von der „Schaffung eines neuen Menschen“. 134 Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 156. 135 Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M. 1966.
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Gott angenommen.136 Dies macht ihn endlich frei um für seine Befreiung einzutreten. Die Befreiungstheologien berufen sich durchgehend auf die von Gott mit der Gottebenbildlichkeit verliehene Würde des Menschen, die durch die Leidensgegenwart Christi bestätigt und der in der Gemeinschaft der ekklesia Form gegeben wird. Gleichzeitig haben sich ihre Exponenten immer wieder für die lokale Ratifizierung und Einhaltung der Menschenrechte eingesetzt, die heute im Völkerrecht verankert sind. Trotz gelegentlicher Versuche, auch die Menschenrechte in Gott zu begründen,137 besteht doch ein qualitativer Unterschied zwischen der gottgegebenen Menschenwürde und den in ihr begründeten bzw. aus ihr abgeleiteten Menschenrechten,138 deren Kataloge im Einzelnen variieren können. Dass heißt nicht, dass nicht auch die Menschenrechte christliche Wurzeln haben. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte – im Zuge säkularer, oft ausgesprochen kirchenkritischer Emanzipationsbewegungen – wurden sie von den Kirchen jedoch lange mit Skepsis betrachtet.139 Nichtsdestotrotz kann und muss auch ein theologischer Diskurs über sie geführt werden. Wolfgang Huber (*1942) und Heinz Eduard Tödt (1918– 1991) sehen darin geradezu einen Testfall dafür, „wie die Theologie mit Themen umzugehen hat, die nicht innertheologischen Ursprungs und doch von theologischer Relevanz sind“ (11). Ihre Antwort darauf ist eine „Ethik der Analogie“, „die nach Entsprechungen und Differenzen zwischen den Problemen der neuzeitlichen Lebenswirklichkeit und den Grundaussagen des christlichen Glaubens fragt“ (ebd.). Sie buchstabieren das anhand der generativen Themen Freiheit, Gleichheit und Teilhabe durch (71–73 und 160–175). Ich selbst neige einem kontextuellen Ansatz zu, der den Wechselwirkungen zwischen christlicher und säkularer, aber auch fremdreligiöser Sprach- und Argumentationsweise nachspürt.140 Schon Cyprian (†258) und Ambrosius (339–397) vollzogen die christologische Umwertung der Werte auch im Blick auf die Würde, wenn sie diese 136 Vgl. Cone, Schwarze Theologie, 63f. 137 Vgl. Ahn Byung-Mu, Jesus und die Menschenrechte, in: ders., Draußen vor dem Tor, 66–71. 138 Vgl. Wolfgang Huber, Art. Menschenrechte / Menschenwürde, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, 577–602; Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000. 139 Vgl. Wolfgang Huber / Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, München 1988 (Seitenangaben im Text). 140 Vgl. Küster, Gott / Terror.
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im Martyrium bzw. der Leidensnachfolge Christi begründeten.141 Die von Hans Jochen Margull eingeführte Kategorie der „Verwundbarkeit“ ist insofern auch ein Bindeglied zwischen Christologie und christlicher Anthropologie. Die Menschenwürde ist ebenso verwundbar, wie die Menschenrechte verletzbar sind. Trotz dieser Verwundbarkeit ist die Menschenwürde jedoch etwas, was dem Menschen letztendlich nicht vorenthalten oder genommen werden kann, die Menschenrechte dagegen schon. Gleichzeitig wird von säkularer – etwa juristischer oder philosophischer Seite – die Gottgegebenheit auch der Menschenwürde hinterfragt. Sie wird für grundsätzlich begründungsoffen erklärt. Hier ist zunächst einmal zu unterscheiden zwischen internem theologischen Diskurs und theologischer Sprache und anderen Binnendiskursen, die im kulturell-religiösen Pluralismus notwendig miteinander in Dialog treten müssen. Die Menschenwürde hat dann plötzlich viele Väter und Mütter. Sie hat ihre Wurzeln in den Religionen ebenso wie in den verschiedensten Philosophien und Ideologien. Hans Küng benennt für sein Projekt Weltethos (→Epilog) die „Goldene Regel“ als Minimalkonsens, wobei hier durchaus Unterschiede und Entwicklungen nachweisbar sind. In der Antike etwa war die Würde das Vorrecht freier Männer, dem Rest der Menschheit stand sie nicht zu.142 Diese hatten sie sich hart erarbeitet und mussten sich in ihr bewähren. Das Urchristentum entfaltete demgegenüber ein egalitäres Ethos, das durch den „Abwärtstransfer von Oberschichtswerten“143 gekennzeichnet ist. Noch bis ins 20. Jh. hinein wurde die Würde der Frau allgemein geringer angesetzt als die des Mannes.144 Insofern ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde auch eine Rückprojektion und Verallgemeinerung rezenter Entwicklungen im Westen. Festzuhalten ist an der Letztgültigkeit im jeweils eigenen System bei gleichzeitiger Anerkennung, dass niemand die Alleinurheberschaft der Idee der Menschenwürde für sich beanspruchen kann. Ausgehend von der Prämisse, dass die Menschenwürde transkulturell 141 Vgl. Stephan Schaede, Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, in: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, hg. von Petra Bahr / Hans Michael Heinig, Tübingen 2006, 28f. 142 Vgl. Schaede, Würde, 7–69; Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod, 79–84. 143 Vgl. Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. 144 Vgl. Annemarie Pieper, Menschenwürde. Ein abendländisches oder ein universelles Problem?, in: Menschenbild und Menschenwürde, hg. von Eilert Herms, Gütersloh 2001, 19–30.
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gültig ist, fragt der kontextuelle Ansatz dann nach der konkreten Umsetzung in der Situation vor Ort.145 Die durch die Sünde verleugnete Würde Indem sie ihren Kontext mit Hilfe marxistisch inspirierter Gesellschaftstheorien analysierten, entdeckten die lateinamerikanischen Befreiungstheologen die soziale Dimension der Sünde. Bezug nehmend auf die Dependenztheorie über die ökonomische Abhängigkeit der Peripherie des globalen Südens von den Banken- und Handelszentren des Nordens mit ihren lokalen Subzentren in der Dritten Welt, sprachen sie von „struktureller Sünde“, durch die die Würde des Menschen verleugnet wird.146 Dasselbe gilt für die unterdrückerischen Militärregime dieser Jahre, die von der Ausbeutung der Armen profitierten und diese ihrer elementaren Menschenrechte beraubten. Auf der Weltmissionskonferenz in Melbourne 1980 hat der langjährige Direktor der Stadt- und Industriemission in Hongkong, Raymond Fung (*ca. 1940), von den Armen als denjenigen gesprochen, gegen die gesündigt wird (sinned againstness).147 Weder die Lateinamerikaner noch Fung negieren dabei die Sündhaftigkeit jedes Menschen unabhängig von seiner sozialen Position. Im Gegenteil, Fung sieht den gesellschaftlichen Bewusstwerdungsprozess sogar als Möglichkeit der Entdeckung der eigenen Sündhaftigkeit, nicht nur der Reichen, sondern auch der Armen: „Zusammen mit der Tatsache, dass gegen einen gesündigt wird (sinned against), kommt schnell die nackte Tatsache seiner oder ihrer persönlichen Sündhaftigkeit und der Notwendigkeit Gottes ans Licht (88).“ 145 Dabei ist noch undeutlich, wie der Rezeptionsprozess in Afrika, Asien und Lateinamerika im Einzelnen verlaufen ist. Eventuell wurde hier im Umkehrschluss von den Menschenrechten auf die Menschenwürde zurückgeschlossen. Vgl. die Symposien-Reihe von Theologie interkulturell „Das eine Menschenrecht für alle und die vielen Lebensformen“: Johannes Hoffmann (Hg.), Begründung der Menschenrechte aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Frankfurt/M. 1991; ders. (Hg.), Universale Menschenrechte im Widerspruch der Kulturen, Frankfurt/M. 1994; ders. (Hg.), Die Vernunft in den Kulturen – Das Menschenrecht auf kultureigene Entwicklung, Frankfurt/M. 1994. 146 Vgl. José Ignacio González Faus, Sünde, in: Ignacio Ellacuría / Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 2, 725–740. 147 Raymond Fung, Good News to the Poor – A Case for a Missionary Movement, in: Your Kingdom Come. Mission Perspectives, Melbourne, Australia 12–25 May 1980, Geneva 1980, 83–92 (Seitenangaben im Text). Der Beitrag fehlt in der deutschen Dokumentation.
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Sünde wird hier ganz traditionell verstanden als Gottferne. Gleichzeitig ruft das Evangelium dann nicht nur zur Umkehr von der Sünde und damit zur Bekehrung zu Gott, sondern auch zum Widerstand gegen sie auf (85) – im Kampf für die Würde des Menschen und die Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes (84). Schon die Lateinamerikaner sprechen davon, dass auch die Reichen der Befreiung bedürfen. Sie müssen umkehren und sich zu den Armen Jesu Christi bekehren, an denen sie sich versündigt haben. Diese haben darum ein evangelisatorisches Potential. Für Raymond Fung führt die Umkehr zu den Armen zu Mitleiden (compassion, 86), das persönliches Engagement und Solidarität (87) voraussetzt. Durch diesen Akt der Freiwilligkeit können sich auch die Reichen befreien: „Die gute Nachricht für die Armen ist die gute Nachricht von Jesus Christus für alle, die Wohlhabenden eingeschlossen (90).“ Die lateinamerikanische Philosophin und Theologin Ivone Gebara (*1944) betrachtet den von Fung beschriebenen Zustand der sinned-againstness aus der Gender-Perspektive unter der phänomenologischen Fragestellung, wie Frauen das Böse, aber auch Heil erfahren.148 Nur einmal referiert sie dabei explizit an die Sündenlehre (89). Das Böse, das ich hier behandle, ist nicht nur das Böse, das jemand persönlich verübt, sondern auch das Böse, das erlitten wird, das nicht gewählte, aber ertragene Böse, wie es in gewissen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, die ihm Vorschub leisten, gegenwärtig ist (23).
Im Unterschied zum männlichen Blick, der universalistisch (26) und dualistisch ist (ebd.), will Gebara mit ihrer feministischen Phänomenologie des Bösen dicht bei den Erfahrungen der Frauen bleiben. Sie konzentriert sich auf den häuslichen Bereich (25). Dem verbreiteten Muster, dass Frauen sich mit dem Leiden Jesu identifizieren (121) und dadurch ihr eigenes Leiden internalisieren und in der Konsequenz patriarchale Strukturen selbst perpetuieren (133 vgl. 137), begegnet Gebara mit einer theologischen Revision. Sie spürt die alles überragende und durchdringende Macht des Bösen, seine Transzendenz und Immanenz am eigenen Leib (88). Diese bleibende Macht des Bösen will Gebara durch die Erfahrung von Heil im Jetzt und Hier durchbrechen. Das Leben und Handeln Jesu ist realisiertes Heil (164), das im „noch nicht“ schon angebrochen ist (ebd.; vgl. 162). Gebara propagiert Beziehungen zwischen Menschen, die von Gerechtigkeit, Respekt und Zärt148 Ivone Gebara, Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse erfahren, Freiburg etc. 2000 (Seitenangaben im Text).
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lichkeit getragen werden (150; vgl. 31) und die menschliche Würde restituieren (85). In diesen Formulierungen schimmert das Pathos der Freiheit durch. In Würde gerechtfertigt Elsa Tamez, die mit der Rechtfertigungslehre das generative Thema protestantischer Theologie als Zugang zur Anthropologie wählt,149 beruft sich eingangs direkt auf Fung und seine Charakterisierung der Armen und Unterdrückten als diejenigen, gegen deren Würde permanent gesündigt wird (2). Sie konstatiert, was Rechtfertigung für sie konkret bedeutet: „Es geht um ein Leben in Würde, es geht darum, dass die Menschen Träger ihrer Geschichte sein können“ (3). Tamez unterzieht die Theologie des Paulus einer relecture im Kontext von Armut und Unterdrückung in Lateinamerika. Dieser Perspektivenwechsel lässt sie in ihm einen Leidensgenossen erkennen. Sie bearbeitet damit ganz im Sinne des hermeneutischen Zirkels die zweifache Frage nach dem Kontext, nämlich der Bedeutung der paulinischen Rechtfertigungslehre für ihre eigene Situation in Lateinamerika heute und nach deren Entstehungszusammenhang. Ausgangspunkt ist die Biographie des Paulus selbst (52–71).150 Als Jude gehörte er zu einer von den römischen Kolonialherren mit Argwohn betrachteten Bevölkerungsgruppe. Diese hatte sich gewisse Privilegien zu erstreiten gewusst, wurde aber gleichzeitig immer wieder diskriminiert. Paulus war Handwerker von Beruf. Als Wandermissionar (Apg 18,3) verdiente er sich nebenbei seinen Lebensunterhalt als Zeltmacher, im Tagelohn (1 Thess 2,9; 1 Kor 4,12). Er kannte entsprechend gute und schlechte Zeiten (Phil 4,11f.). Paulus kam wiederholt in Konflikt mit der Obrigkeit. Für seine Predigt des Aufruhrs beschuldigt, wurde er ins Gefängnis geworfen (Phil 1,7.12–26; Phlm 1,9f.13) und mit Stockschlägen gedemütigt (2 Kor 11,24f.). Freiheit heißt in diesem Kontext immer auch Befreiung – und Gerechtigkeit hat eine soziale Dimension (105).151 Paulus betont, dass Gott eine Vorliebe für die Armen und Schwachen hat (94; vgl. 1 Kor 1,25–28). Ihm schwebt eine egalitäre Gesellschaft vor, in der alle Diskriminierungen aufgehoben sind (52.55; vgl. Gal 3,28f.). Rechtfertigung aus Glauben schafft dann Raum zum Leben. Entgegen einem Verständnis der Rechtfertigungslehre, dass die Unterdrücker zu begünstigen droht, die sich von ihren Freveltaten freigespro149 Vgl. Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod (Seitenangaben im Text). 150 Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 201–210. 151 Vgl. Ahn, Draußen vor dem Tor, 21–25; Küster, Theologie im Kontext, 127f.
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chen fühlen dürfen, plädiert Tamez für eine Neuinterpretation im Sinne der Option für die Armen bzw. der „Ermöglichung von Leben“ (47–49). Es darf doch nicht sein, dass eine bestimmte Handhabung der Rechtfertigungslehre die Reichen begünstigt und die Armen ins Aus schickt! (13) Die Rede von der Rechtfertigung aus dem Glauben muss auf die Erneuerung von Leben abzielen – darauf, dass alle wirklich leben können (47).
Am Ende ihrer Ausführungen kommt Tamez auf den „dynamischen Bezug“ von Sünde und Vergebung bzw. Versöhnung zu sprechen. Wer gerechtfertigt ist, bringt auch die nicht um, die Jesus ans Kreuz gebracht haben; denn als Gott verkündete, alle sollten hinfort das Leben haben, hat er ihnen auch vergeben. Wer gerechtfertigt ist, vermag mit derselben Gnade zu vergeben, wie Gott ihm vergeben hat (240).
Unter Rekurs auf Jon Sobrino erklärt sie die Armen zu Subjekten bzw. Vermittlern der göttlichen Vergebung. Wenn die Armen es sind, die da beleidigt werden, dann muss die Möglichkeit von Vergebung und Annahme Gottes auch durch die Armen vermittelt werden. Jeder aufrichtige Mensch, der zugibt, dass er sich an den Ausgeschlossenen versündigt hat, fühlt sich von seiner Schuld befreit, wenn Gott ihm durch sie vergibt. Die Brisanz, in den Armen jene zu sehen, die einem vergeben, liegt darin, dass man sich seine eigenen Sünde ihnen gegenüber eingesteht (ebd.).
Es geht dabei wohlgemerkt um den Unterdrücker als Menschen, nicht um das System, das den Menschen ausgrenzt (ebd.). Menschliche Vergebung und Versöhnung in Christus Allan Boesak hatte schon in seiner Kampener Dissertation Unschuld, die schuldig macht von 1976 den Nachdruck auf die Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß gelegt.152 Dabei betont er, dass die Schwarzen erst die internalisierte Perspektive der Unterdrücker überwinden müssen, um frei zu sein zur Versöhnung (33;109). Gleichzeitig ist diese „nur nach der Aufrichtung von Recht und sozialer Gerechtigkeit möglich“ (110). Dieser Habitus, in den dunkelsten Jahren der Apartheid entwickelt, hat sich durchgehalten bis in seine Beurteilung der Arbeit der Wahrheitskommission unter ihrem Vorsitzenden Desmond Tutu, an der er heftige Kritik übt.153 152 Vgl. Boesak, Unschuld (Seitenangaben im Text). 153 Vgl. Allan Boesak, The Tenderness of Conscience. African Renaissance and the Spirituality of Politics, Stellenbosch 2005, 195–200; Desmond Tutu, No Future
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Tutu hatte immer wieder auf den nahezu unfassbaren Vergebungswillen der Opfer hingewiesen: „Die Menschen mit der größten Vergebungsbereitschaft, denen ich je begegnet bin, sind diejenigen, die selbst gelitten haben – es ist, als ob sie durch das Leiden zur Emphatie gereift sind. Ich spreche über verletzte Heiler.“154 Boesak spricht in diesem Zusammenhang von „emotionaler Erpressung“, die den Opfern suggeriere, dass etwas mit ihnen nicht stimme, wenn sie ihren Folterern nicht vergeben können. Er klagt demgegenüber den Raum für den gerechtfertigten Zorn der Opfer ein: „So wie das Opfer die Wahrheit und Worte der Reue anhören muss, ist es für den Täter notwendig, diese Worte des Zorns zu hören.“155 Hinter dieser Diskussion um die südafrikanische Wahrheitskommission156 lassen sich fünf generative Themenkomplexe identifizieren, die eng verflochten sind mit den christlichen generativen Themen Schuld, Versöhnung und Gnade.157 • Erzählen, nicht verschweigen, verdrängen oder möglichst schnell vergessen wollen Bei aller Kritik an der Wahrheitskommission wird doch immer wieder konzediert, dass sie den Opfern ein Forum gewährt hat, um sich die erlittenen Gräueltaten von der Seele zu reden. Das Ansprechen-Können, ein Gegenüber zu haben, der oder die zuhört, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Heilung. Die Namen der Opfer dürfen nicht vergessen und die Namen der Täter nicht verschwiegen werden.158 Mehr noch, auch die Täter müssen dazu angehalten werden, sich zu ihren Taten – durch die sie selbst auch entmenschlicht wurden (T, 24) – zu bekennen (T, 220). • Kein Verständnis für die Tat, aber verstehen wollen, wie es passiert ist Eines der vordringlichen Ziele der Wahrheitskommission war denn auch zu rekonstruieren, was alles Schreckliches im Namen des Apartheidsregimes, aber auch seiner erbittersten Gegner passiert ist.159 Without Forgiveness, London etc. 1999 (Seitenangaben mit Sigle T im Text). 154 Tutu zitiert in Antjie Krog, Country of my Skull, London 1999, 24. 155 Boesak, Tenderness, 195f. 156 Vgl. Boesak, Tenderness, 171–212; John W. de Gruchy, Reconciliation. Restoring Justice, London / Minneapolis 2002; Looking Back Reaching Foward. Reflections on the Truth and Reconciliation Commission of South Africa, hg. von Charles Villa-Vicencio / Wilhelm Verwoerd, Capetown / London 2000. 157 Vgl. Küster, Gott / Terror, 86–93. 158 Boesak, Tenderness, 104 spricht in diesem Zusammenhang von unremembering. Vgl. Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg etc. 2006. 159 Vgl. Krog, Country, 82 und 99f.
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• Vergebung fragt nach Reue, nur so wird Versöhnung möglich Tutu beklagt selbst, wie wenig Reue die Verantwortlichen für ihre Taten zeigten.160 Die südafrikanische Schriftstellerin Antjie Krog bringt in ihrem opus magnum Country of my Skull wiederholt ihre Scham über dieses Ungleichgewicht zum Ausdruck. • Amnestie oder Gnade gewähren Während eine Amnestie – etwa aus Anlass eines einschneidenden Regimewechsels – per Gesetz geregelt werden muss, kann Gnade durch einen politischen Funktionsträger, in der Regel das Staatsoberhaupt, gewährt werden. Tutu betont im Hinblick auf die südafrikanische Wahrheitskommission, dass es dabei um „Amnestie, nicht Amnesie“ gehe (T, 10–36). Wehrt dem Vergessen! Nur wer bereit war, vor der Kommission seine Taten zu bekennen, sollte Amnestie beantragen können. Die individuell gewährte Gnade ist letztendlich jedoch an keine Vorbedingungen geknüpft (T, 48).161 Dabei wird weder die Tat relativiert noch ein bestehendes Urteil aufgehoben. In diesem Zusammenhang ist Johann Baptist Metz’ Warnung vor dem „soteriologischen Zirkel“, in dem die „Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden […] in die Frage nach der Erlösung der Schuldigen“ verwandelt wird, immer mitzuhören.162 Menschliche Gnadengewährung ist nur möglich eingedenk der Opfer, die in der memoria passionis bei Gott geborgen sind. • Entschädigung der Opfer im Hier und Jetzt Eine theologisch demgegenüber bisher wenig durchdachte Frage ist die nach einer möglichen Entschädigung der Opfer (reparations). Einmal abgesehen von der grundsätzlichen Problematik, wie sich der Verlust von Menschenleben und die erlittene Pein in Geld konvertieren lassen, bestehen in den meisten Ländern der Dritten Welt keine sozialen Sicherungssysteme und der Staat ist viel zu finanzschwach, um für die Opfer aufzukommen. Der Verlust des Ehemanns und Vaters etwa hat jedoch handfeste existentielle Konsequenzen für die Lebenschancen der Hinterbliebenen. Einer der wiederkehrenden Kritikpunkte an der südafrikanischen Wahrheitskommission ist denn auch, dass es nicht geglückt ist, die Opfer zumindest materiell zu entlasten, während die Täter frei nach Hause gehen konnten (T, 58). 160 Vgl. Krog, Country, 239. 161 Vgl. Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 3., überarb. Aufl. 2006, 430–434. 162 Metz, Memoria Passionis, 10 und 57.
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Teil III: Generative Themen
Tutu ist sich der Defizite der Wahrheitskommission durchaus bewusst. Er nennt die Indifferenz und Ignoranz der Weißen163 und das Scheitern des Reparationsprozesses. Das Militär hat sich der Kommission ebenso entzogen wie die Inkatha-Freiheitspartei. Schließlich war die Amnestie-Kommission rechtlich so gestellt, dass sie allerlei Entscheidungen über die Köpfe der Wahrheitskommission hinweg fällen konnte (T, 184–189). Doch argumentiert Tutu aus der Perspektive der Opfer, wenn er auf Jesu voraussetzungslose Vergebungsbereitschaft verweist. Vergebung ist nicht an die Reue des Täters gebunden. Dies würde das Opfer womöglich gar noch in seiner Gefangenschaft festhalten. Wenn das Opfer nur vergeben könnte, sobald der Täter sich zu seiner Schuld bekennt, dann wird das Opfer von der Laune des Täters abhängig, gefangen in seiner bzw. ihrer Opferrolle, was immer ihre eigene Einstellung oder Absicht auch sein möge. Das wäre eindeutig unrecht (T, 220).
Boesak stellt weder das Ziel der Versöhnung noch die theologische Begründung in Frage, wohl aber den Weg dahin, den er als eine latente Ungleichbehandlung von Täter und Opfer anprangert. Zudem äußert er den Verdacht, dass der christliche Versöhnungsdiskurs vom ehemaligen Staatspräsidenten de Klerk, der Mitglied der weißen Niederländisch-reformierten Kirche (Nederduitse Hervormde Kerk) ist, die die Apartheid theologisch rechtfertigen wollte, politisch missbraucht wurde.164 Boesak und Tutu legen gleichermaßen den Akzent auf die Selbstbestimmung des Menschen zur Vergebung wie zur Reue, ohne die letztendliche Versöhnung in Christus in Zweifel zu ziehen.
2. Der zur Freiheit geschaffene Mensch – christliches Menschenbild im Kontext der Kulturen und Religionen Bei der Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Anthropologie der beiden großen Schulen kontextueller Theologie führt kein Weg an Aloysius Pieris mit seiner asiatischen Theologie der Befreiung und vor allem Engelbert Mveng mit seinem Konzept der „anthropologischen Armut“ vorbei, die Brücken zu den befreiungstheologischen Diskursen mit ihrem Nachdruck auf der Menschenwürde und den daran anschließenden Menschenrechtsdiskursen geschlagen haben (→§ 5.2.5). 163 Vgl. Krog, Country, 239f. 164 Vgl. Boesak, Tenderness, 182–185.
§ 11 Der neue Mensch in Christus
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In beiden Fällen geht es um die Re/Konstruktion von Identitäten. Die an der sozio-ökonomischen und politischen Dimension des Kontextes ausgerichteten Befreiungstheologien appellieren in elementarer Weise an die Menschenwürde, die den Armen und Unterdrückten vor Gott und den Mitmenschen kontrafaktisch zu ihren Lebensumständen eigen ist. Das Identifikationsangebot des (mit-) leidenden Christus inspiriert immer wieder aufs Neue Emanzipationsbewegungen dazu, im Bewusstsein der Würde des Menschen Gerechtigkeit und Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Die Inkulturations- und Dialogtheologien richten sich dann insbesondere auf das Recht kultureller und religiöser Identität. An diesem Punkt sind die beiden Schulen kontextueller Theologie denn auch aufs Engste miteinander verknüpft. Zugleich ergibt sich eine große Nähe zu den säkularen Emanzipationsdiskursen des 20. Jh., nicht nur über sozio-ökonomisch und politische, sondern auch kulturelle (und religiöse) Menschenrechte. Die Inkulturations- und Dialogtheologien teilen mit den Befreiungstheologien auch das Interesse an den Geschichten (stories) gerade der kleinen Leute. Dass der Mensch in Geschichten verstrickt ist,165 ist eine transkulturell gültige anthropologische Konstante. Seine narrative Identität166 wird im Erzählen seiner Lebensgeschichten ständig dekonstruiert und rekonstruiert. Mit seiner Rede von der „Sozialbiographie“ hat der südkoreanische Minjung-Theologe Kim Yong-Bock (*1938) die für die kontextuellen Theologien kennzeichnende Gemeinschaftsbezogenheit ins Spiel gebracht. Die individuellen Geschichten spiegeln zugleich korporative Erfahrungen der Armen und Unterdrückten wider. Kim selbst hat mit dem Erzählen der Geschichten der koreanischen Zwangsprostituierten und Atombombenopfer das kollektiv erlittene Unrecht unter der japanischen Kolonialherrschaft ans Licht gezerrt, das in der koreanischen Kultur von Scham und Ehre verdrängt zu werden drohte.167 165 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt/M. 31985. 166 Vgl. Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, 3 Bde, München 1988–1991; Dorothea Erbele-Küster, Narrativität, in: www.wibilex.de. 167 Kim, Yong-Bock, Theology and the Social-Biography of the Minjung: in: CTC Bulletin, vol. 5 nr. 3 – vol. 6 nr. 1, Singapore 1984/85, 66–78. Ähnliche Gedanken vertritt Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod, 52 unter Berufung auf Lucien Goldmann für die Biographie des Paulus. Die Inkulturations- und Dialogtheologien haben sich für ihr Anliegen, die Anerkennung der kulturellen (und religiösen) Differenz, seltsamerweise nie auf Paulus und seine Rechtfertigungslehre berufen. Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 201–210.
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Durch Kosuke Koyama (1929–2009) und C.S. Song (*1929) wurde das kulturell-religiöse Erzählgut Asiens als Ressource einer asiatischen Theologie erschlossen.168 Die Theologie von Frauen in der zweiten Generation kontextueller Theologie konnte daran lückenlos anknüpfen, indem sie den oft unterdrückten und verschwiegenen Frauenerfahrungen erzählerischen Raum gab. Zugleich widersetzten sich diese Theologinnen der Leibfeindlichkeit der Theologie. Es sind inkorporierte Geschichten (embodied stories), die sie erzählen. Elsa Tamez bezeichnet entsprechend den weiblichen Körper als Text: Der Körper der Frauen kann sich demnach als heiliger Text kundtun, der seine Geschichten darlegt, damit sie gelesen werden und befreiende Verhaltensweisen und Einstellungen hervorbringen. Dem Leben der Frauen liegt eine Grammatik zugrunde, deren Morphologie und Syntax erlernt werden muß, um zu besseren menschlichen Beziehungen zu gelangen.169
Ivone Gebara hat das Motto der lateinamerikanischen Befreiungstheologie umformuliert in „die Option für den Körper“. Sie kann im Blick auf den Bewusstwerdungs- und Emanzipationsprozess der afro-indio-lateinamerikanischen Frau von der „Auferstehung des Körpers“ sprechen.170 Mercy Amba Oduyoye wendet sich gegen die Negierung des (weiblichen) Körpers und den damit einhergehenden Dualismus zwischen Mann und Frau, Geist und Materie. Sie propagiert eine egalitäre und holistische Sicht der Gottebenbildlichkeit der Menschen in Anschluss an Gen 1,26 ebenso wie an die traditionelle afrikanische Religion.171 Kwok Pui-Lan spricht in diesem Zusammenhang von „inkorporierter Spiritualität (embodied spirituality)“, die der Sexualität Raum gibt.172 Die feministisch-postkoloniale Theologie schließlich sieht in der systematischen Unterdrückung und Vergewaltigung von Frauen durch die Repräsentanten der Kolonialmächte eine Kolonisierung des Körpers.173 Theologisch gesprochen verdankt sich die menschliche Würde der Relationalität Gottes im Schöpfungshandeln und der Leidensgegenwart Jesu Christi 168 Vgl. Küster, Die vielen Gesichter, 129–147. 169 Elsa Tamez, Das Leben der Frauen als heiliger Text, in: Concilium 34, 1998, 288– 296; Strahm, Vom Rand in die Mitte, 293 verweist auf das Konzept der „Verleiblichung (encorporalidad)“. 170 Vgl. Strahm, Vom Rand in die Mitte, 356 und 363. Vorher hatte Gebara schon von der „Option für die Frau“ gesprochen. 171 Vgl. Oduyoye, Introducing African Women’s Theology, 66–77. 172 Kwok, Introducing, 114. Vgl. Elizondo, The Future is Mestizo. 173 Vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation, 95. Kwok mit Zuspitzung auf die Sexualität, vgl. Kwok, Discovering the Bible, 9; dies., Postcolonial Immagination, 71; 118f. und 223–230.
§ 12 „Schon jetzt“ und „noch nicht“
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aber auch oft weniger prononciert der Gemeinschaft der Kinder Gottes in der ekklesia (1 Joh 3,2). Menschliche Identität konstituiert sich in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht zwischen Gott, den Mitmenschen und der ganzen Schöpfung. „Ich bin in Beziehungen, also bin ich“, wie afrikanische Theologie in Abwandlung des Descarte’schen Diktums gern sagt. Der japanische Theologe Seiichi Yagi erklärt mit seinem Konzept des Frontwechsels diese Relationalität für seinskonstitutiv (→§ 3.4). „Da das Lebewesen als das Einzelne für sich allein nicht existieren kann, ist es kein Seiendes. Damit es aber ein Seiendes werden kann, bedarf es notwendig des anderen, dessen Front es sich aneignet.“174 In der Erkenntnis, dass sich der Mensch dazu oft erst aus ungerechten entfremdeten Strukturen befreien muss, liegen die interkulturellen Lernchancen verborgen. Jenseits aller zwischenmenschlichen Diskriminierung aufgrund von Rasse, Klasse, Geschlecht oder kultureller Faktoren kann er sich in seiner Andersheit zugleich immer schon von Gott angenommen wissen. Diese Spannung zwischen menschlichem Handeln und Immerschon-geborgen-Sein in Gott, die die christliche Freiheit kennzeichnet, verleiht der christlichen Anthropologie eine eigene Dynamik.
§ 12 „Schon jetzt“ und „noch nicht“ Christliche Eschatologie wird allgemein in zeitlichen Kategorien gedacht. Oft wird auch unterschieden zwischen der linearen Geschichtsauffassung des christlichen Glaubens und dem zirkulären Denken vieler Stammes- bzw. Naturreligionen, das sich am Lebens- und Jahreszyklus orientiert. Es ergibt sich dann eine Kontinuität, die von der göttlichen Schöpfung (Gen 1–3) über die Neuschöpfung in Jesus Christus (Gal 6,15; 2 Kor 5,17) bis zum eschatologischen Schöpfungsfrieden reicht (Jes 65,17–25; Apk 21). Die Zeit steht in der Spannung zwischen dem „schon jetzt“ des in Jesus Christus angebrochenen Gottesreiches und dem „noch nicht“ seiner vollkommenen Verwirklichung. Das Verhältnis von Welt- und Heilsgeschichte ist dabei durchaus umstritten. Manche interpretieren Letztere als exklusiv christlich. Die kontextuellen Theologien haben auch hierin Bewegung gebracht, nicht nur, dass sie die Trennung von Heils- und Weltgeschichte in der zeitlichen Dimension aufgehoben haben (1.), sie eröffnen zudem die räumliche Dimension (2.) und integrieren diese beiden konkurrierenden Dimensionen schließlich in der kosmischen (3.). Dieser letzte Paragraph der kleinen inter174 Yagi, Frontstruktur, 44.
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kulturellen Glaubenslehre schließt mit einigen Überlegungen zum Bekennen des christlichen Glaubens zwischen den Zeiten und Räumen (4.).
1. Die zeitliche Dimension Es liegt in der Konsequenz des Glaubens an das befreiende Geschichtshandeln Gottes sowie des anthropologischen Optimismus vieler Befreiungstheologen der ersten Generation, dass die künstliche Trennung zwischen Heilsgeschichte und Weltgeschichte durch die kontextuellen Theologien vielfach aufgehoben wurde;175 ein Trend, der sich schon in der Missionstheologie mit der Durchsetzung des Missio Dei-Gedankens abzeichnete. Auch wenn es der heilsgeschichtlichen Schule gelungen ist, die Grundidee, dass es Gottes Mission in der Geschichte ist, dahingehend umzudeuten, dass die Kirche noch stets das ausführende Organ bleibt, lebt daneben doch das verheißungsgeschichtliche Denken eines Hans Hoekendijk in den kontextuellen Theologien fort (→§ 1.2). Ihm selbst waren die kontextellen TheologInnen ungeliebte Kinder, Zauberlehrlinge, die mit den einmal durch ihn geschaffenen Werkzeugen ihr gefährliches Spiel trieben. Hoekendijk konnte jedoch die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bezähmen. Aus der Perspektive einer christlichen Theologie der Religionen und Kulturen ist Jesus Christus in Gottes Geschichte mit der Schöpfung im Geist gegenwärtig und kommt zugleich als der Messias, der Gottes Gerechtigkeit bringt, auf uns zu. Gleichzeitig wird die Geschichte zukunftsoffen gedacht, der Mensch ist entlassen ins Projekt Autonomie (42, 49 und 63). Alle drei Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) stehen unter der Verheißung Gottes. Diese Entschränkung geschichtstheologischen Denken macht es möglich, auch die Vielfalt der Kulturen und Religionen als durch Gott geschaffen anzusehen. Die nicht-christliche Mehrheit der Armen und Unterdrückten in Asien kann dann als aus menschlichen Basisgemeinschaften bestehend betrachtet werden, in denen Gott immer schon gegenwärtig ist. Die vergangenheitsorientierte, für afrikanische und asiatische Konvertiten jedoch drängende Frage, wie es um das Heil ihrer Ahnen bestimmt ist, findet darin ebenso ihre Antwort, Gott kam nicht erst huckepack mit dem ersten Missionar (Hyun Young-Hak), er „kam früher“ (Leonardo Boff) bzw. war immer schon da (John Mbiti). 175 Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 140–160 (Seitenangaben im Text); Bonino, Theologie im Kontext der Befreiung, 81 und 110.
§ 12 „Schon jetzt“ und „noch nicht“
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Das befreiende Handeln Gottes im Exodus und die Fleischwerdung in Jesus Christus sowie seine messianische Gegenwart im Geist sind die Eckdaten eines Prozesses, der die Armen und Unterdrückten zu Subjekten ihrer Geschichte macht. Das Gottesreich ist dann „schon jetzt“ angebrochen, auch wenn es „noch nicht“ verwirklicht ist (151).176 Diese eschatologische Spannung, die einer solchen präsentischen Soteriologie inhärent ist, erzeugt eine ungemeine Dynamik, die die kontextuellen Theologien antreibt (125 und 199). Gerichtet auf die konkrete Situation vor Ort, suchen sie zugleich nach Spuren des Geschichtshandelns Gottes177 und sind zukunftsoffen auf ständige Veränderung hin.
2. Die räumliche Dimension George E. Tinker setzt dem geschichtstheologischen Denken in direkter Auseinandersetzung mit Gustavo Gutiérrez ein schöpfungstheologisches entgegen. Eine einheimische (native) amerikanische Theologie muss aus einer einheimischen amerikanischen spirituellen Erfahrung und Praxis heraus argumentieren, dass Gott Gottes Selbst in der Schöpfung im Raum oder an einem Ort offenbart und nicht in der Zeit.178
Dieses räumliche Denken kehrt er in letzter Konsequenz gegen die eschatologischen Reich-Gottes-Vorstellungen: Der historische Impetus muss unausweichlich die volle Verwirklichung der Gottesherrschaft (basileia) verzögern. Tinker versteht die „basileia demgegenüber als eine Schöpfungsmetapher“ (128). Sie wird zum Ausgangspunkt einer Gemeinschaftstheologie, die „das Aufeinander-bezogen-Sein und die gegenseitige Abhängigkeit (the communal notion of inter-relatedness and reciprocity)“ ins Zentrum rückt (ebd.). Das Reich Gottes verwirklicht sich in einem Leben in Gemeinschaft, das gekennzeichnet ist durch Gerechtigkeit, Frieden und Einklang mit der Schöpfung. Dieser radikale Perspektivenwechsel lässt die alte Debatte um präsentische und futurische Eschatologie in einem neuen Licht erscheinen. Die geschichtliche Dimension ist dem christlichen Glauben jedoch inhärent. Tinker übertreibt in seiner Polemik, wenn er die spatiale gegen die temporale Dimension ausspielt. Dahinter mag nicht zuletzt auch die Diffe176 Vgl. Cone, Schwarze Theologie, 50; Boesak, Unschuld, 26. 177 Vgl. Cone, Schwarze Theologie, 46 und 54. 178 George E. Tinker, Spirituality and Native American Personhood. Sovereignty and Solidarity, in: Spirituality of the Third World, 119–132, 122.
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renz zwischen linearem und zirkulärem Zeitdenken durchschimmern. Dennoch ist in einer ganzen Anzahl neuerer Entwürfe aus dem Bereich der Theologien einheimischer Völker (tribal theologies) diese Aufwertung der räumlichen Dimension zu beobachten, einhergehend mit einer Erhebung des „Landes“ zu einer theologischen Kategorie. Wati Longchar etwa betont für die indische Stammestheologie: Für die Stammesangehörigen ist das Land Leben. Das Land ist die Quelle unseres Ursprungs, unser Nährboden, unsere Lebensgrundlage und unsere Identität. Das Land ist kein bloßer Raum, es ist ein Ort und Symbol der Einheit, das der Gemeinschaft Identität verleiht. Das Land besitzt die Menschen. Wenn es kein Land gibt, gibt es auch keine Gemeinschaft, kein Personsein und keine Identität. Der Missbrauch des Landes bedeutet Chaos in der Schöpfung. Es ist, als ob jemand seine eigene Mutter töten würde.179
Im Kontext des Pazifik zeigt Ilaitia Sevati Tuwere180 die enge Verflochtenheit zwischen Land (vanua), christlicher Kirche, die an die Stelle des traditionellen Priestertums getreten ist, und der Regierung durch den Häuptling auf. Auf dieser Grundlage skizziert er eine kosmisch-eschatologische Vision von Gottes Gartengemeinschaft. Von besonderer Brisanz ist die Theologie des Landes im Kontext des Nahostkonfliktes. Hier trifft die Befreiungstheologie palästinensischer Christen, die unter enormem Druck massiv das Land verlassen, auf eine orthodox-jüdische Auslegung der Landverheißungen.181 Während die jüdischen Siedler das ihnen von Gott verheißene Land für sich reklamieren, hält der anglikanische Theologe Naim Ateek (*1937) ihnen entgegen, dass es Gott gehört.182 Zugleich will er den Partikularismus, der sich mit der Verheißung eines bestimmten Landes für ein auserwähltes Volk verbindet, durch den Hinweis überwinden, dass Gott die ganze Erde und nicht nur ein Teil davon 179 A. Wati Longchar, The Need for Doing Tribal Theology, in: Tribal Theology: A Reader, hg. von Shimreingam Shimray, Jorhat, Assam 2003, 1–16, 9. Vgl. Tinker, Spirituality, 124–131. 180 Vgl. Ilaitia Sevati Tuwere, Theologie im Kontext des pazifischen Lebensraums, Freiburg etc. 2004. 181 Anders Marc H. Ellis, Toward a Jewish Theology of Liberation, Maryknoll, NY 1987 [dt.1992]. 182 Vgl. Naim Stifan Ateek, Justice, and only Justice. A Palestinian Theology of Liberation, Maryknoll, NY 1989, 103–114 [dt. 1990]; ders. et.al. (Hg.), Faith and the Intifada. Palestinian Christian Voices, Maryknoll, NY 1992, 108–116; Uwe Gräbe, Kontextuelle palästinensische Theologie. Streitbare und umstrittene Beiträge zum ökumenischen und interreligiösem Gespräch, Erlangen 1999.
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gehört und entsprechend Gottes Heilsverheißungen für die ganze Erde und alle Völker gelten (Ps 24; 95). Zudem haben viele wichtige Ereignisse in der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes außerhalb der Grenzen Palästinas stattgefunden. Gott lässt sich nicht auf diese Grenzen festlegen. Die Autoren der hebräischen Bibel lassen die Israeliten während des „zweiten Exodus“ aus dem babylonischen Exil dann auch wesentlich aufgeschlossener gegenüber den Menschen, die im Lande wohnen, auftreten als während der Landnahme. Im neuen Testament schließlich werden geographische Grenzen transzendiert. In Jesus Christus ist das Reich Gottes angebrochen. Noch einmal ganz anders wird die räumliche Dimension bei Katsumi Takizawa und Seiichi Yagi thematisiert (→§ 7.2 und 8.3). Die Einheit von Gott und Mensch ist für Takizawa in einem Punkt bzw. Ort gegeben. Yagi dehnt diesen Punkt zu einem Feld des In-Christus-Seins aus.
3. Die kosmische Dimension In der kosmischen fließen zeitliche und räumliche Dimension zusammen. Der Mensch hat zeitlich in einem fortgeschrittenen Stadium der Evolution seinen Platz im Kosmos eingenommen. Theologisch gesprochen ist ihm die Bewahrung der Schöpfung aufgetragen. Das bedeutet konkret die Pflege des Lebensraumes auch für zukünftige Generationen. Lange Zeit wurde dies allerdings als sich „die Erde untertan machen“ (Gen 1,26) interpretiert. Erst die in den 1970er Jahren langsam ins Bewusstsein dringende Umweltzerstörung als Folge von Industrialisierung und massivem Raubbau an der Natur führte zu einem Umdenken. Die ökologische Bewegung fand früh in der Theologie Resonanz. Jürgen Moltmann publizierte eine ökologische Schöpfungslehre.183 Leonardo Boff parallelisierte die Ausbeutung der Natur mit derjenigen der Armen; auch die Natur hat eine Würde.184 In Fortschreibung der trinitarischen Ansätze von Moltmann und Boff (→§ 8.1) spricht Ivone Gebara dann von der esse-Diversität Gottes, „eine Metapher, die sich aus dem Zusammenhang von allem mit allem speist: Alle Dinge leben in Gott und Gott lebt in allem“.185 183 Vgl. Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985; Gerhard Liedke, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie, Stuttgart / Berlin 1979. 184 Vgl. Leonardo Boff, Von der Würde der Erde. Ökologie – Politik – Mystik, Düsseldorf 1994; ders., Unser Haus, die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören. 185 Gebara, Die dunkle Seite, 172.
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Der ökofeministischen Theologie ging die Überwindung des Herrschaftsdurch das Bewahrungsdenken noch nicht weit genug, da auch Letzteres noch stets dualistisch ist.186 Entsprechend will sie die Unterscheidung von Mensch und Natur transzendieren. Hierin trifft sie sich mit traditionellem asiatischem und afrikanischem Denken, das dem westlichen Fortschritts- und Machbarkeitsdenken der Moderne eine kosmische Weltanschauung entgegenzusetzen hat, die den Menschen als Teil des Ganzen versteht. Mit der reflexiven Moderne gewinnt dieses holistische Denken im Westen an Überzeugungskraft. Rosemarie Radford Ruether hat früh darauf verwiesen, dass die traditionelle Unterscheidung von Natur und Kultur auch eine Gender-Dimension hat.187 Frauen werden demnach als naturverbunden charakterisiert, Männer repräsentieren den Geist der Kultur. Mit der Begründung, dass sie geistig minderwertig seien, wurden Frauen ebenso unterdrückt und ausgebeutet wie die Natur. Die dritte Welle der Frauenbewegung im Westen hat diesem Frau-Natur-Nexus entweder widersprochen und ihn als biologischen Determinismus entlarvt oder auch darin eine Umwertung der Werte vollzogen. Die Naturverbundenheit der Frauen wird dann spirituell aufgeladen. Geburtlichkeit und Mütterlichkeit machen sie in besonderem Maße zu Bewahrerinnen der Natur. Sie leben in Einklang mit Gaia, wie das Ökosystem der Erde dann gerne genannt wird, und geben das Leben weiter. Sally McFague (*1933) experimentiert in ihrer metaphorischen Theologie mit verschiedenen Möglichkeiten, die Beziehung Gott – Welt zu beschreiben.188 Sie kann dabei einerseits die Erde als Körper Gottes betrachten, bricht diese in die Nähe des Panentheismus führende Vorstellung andererseits aber am Gegenüber Gottes als Mutter, Liebhaber und Freund. Die Metapher des „Lebens in Fülle“ interpretiert sie als „mittleren Weg“, der das Individuum in der Gemeinschaft verortet und auf Solidarität und Nachhaltigkeit gerichtet ist. Theologinnen aus der Dritten Welt wenden sich gegen den Eurozentrismus des Frau-Natur-Nexus und eröffnen damit interkulturelle Lernchan186 Vgl. Heather Eaton, Introducing Ecofeminst Theologies, London / New York 2005. 187 Vgl. Rosemary Radford Ruether, New Woman – New Earth. Sexist Ideologies and Human Liberation, San Francisco etc. 1975, 186–214; dies., Gaia and God. An Ecofeminist Theology of Earth Healing, London 1993. 188 Sallie McFague, Models of God. Theology for an Ecological Nuclear Age, London 1987; dies., The Body of God. An Ecological Theology, 1993; dies., Life Abundant. Rethinking Theology and Economy for a Planet in Peril, Minneapolis 2001.
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cen.189 In ihren durch den Kolonialismus vielfach beschädigten Kulturen bestand ursprünglich kein Dualismus zwischen Natur und Kultur. Im kolonialen System wurden Frauen nicht nur als minderwertig aufgrund ihres Geschlechts angesehen, sondern sie wurden aufgrund rassistischer Argumente auch als niedere Kreaturen eingestuft. Misshandlung und Vergewaltigung waren die Folge. Heute werden mit dem Argument, dass das Bevölkerungswachstum die menschliche Entwicklung und die Umwelt bedroht, Frauen in der Dritten Welt zu Versuchstieren für neue empfängnisverhütende Mittel der Pharmaindustrie degradiert oder zwangssterilisiert. Der „grüne Imperialismus (green imperialism)“ richtet sich schon lange nicht mehr nur auf Rohstoffe wie in Monokulturen produzierte Futtermittel oder Holz, die Nahrungsmittelkonzerne monopolisieren die Wasserreserven der Erde und lassen sich Grundnahrungsmittel wie Mais patentieren. Der „ökologische Rassismus (environmental racism)“ lässt die Dritte Welt zugleich zur Müllhalde der westlichen Überflussgesellschaften werden. Im täglichen Überlebenskampf der Dritten Welt gewinnt dies noch einmal eine eigene Dramatik. Frauen kommen oft nicht umhin, Raubbau an der Natur zu treiben. Nachhaltigkeit ist nicht nur ein hohes Gut, sondern auch ein teures. Im Ökofeminismus zeigt sich erneut der Unterschied zwischen Frauen in der Ersten und der Dritten Welt. Selbst wenn ihnen allen die Erfahrung der Unterdrückung durch das patriarchale System gemeinsam ist, profitieren die einen doch zugleich von den globalen Ausbeutungsstrukturen, während die anderen doppelt und dreifach unterdrückt werden. Mit der Kombination von Befreiungs-, Inkulturations- und Dialogtheologien mit Ökofeminismus, Postkolonialismus und Globalisierungskritik, wie sie im Werk von Ivone Gebara, Kwok Pui-Lan, Musa Dube und anderen Dritte-Welt-Theologinnen praktiziert wird, sind wir in der Jetztzeit angekommen. Sie arbeiten an den interdisziplinären Schnittstellen interkultureller theologischer Reflexion. Abschließend will ich mich noch einem in der interkulturellen Theologie bisher wenig beachteten Phänomen zuwenden, nämlich der fortwährenden Bekenntnisbildung. Bekenntnisse sind prägnante Summen bzw. Formeln, mit denen örtlich und zeitlich identifizierbare Gemeinschaften ihrem christlichen Glauben Ausdruck verleihen. Sie sind eine Schnittstelle zwischen theologischer Reflexion und Glaubenspraxis. In ihrer kontextuellen Gebunden189 Vgl. Kwok Pui-Lan, Postcolonial Imagination, 209–230; Rosemary Radford Ruether, Women Healing Earth. Third World Women on Ecology, Feminism, and Religion, Maryknoll, NY 1996; Ecotheology. Voices from South and North, hg. von David G. Hallman, Maryknoll, NY / Genf 1994.
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heit bei gleichzeitigem Anspruch auf Verbindlichkeit verdichtet sich das Universalität-Partikularität-Dilemma des christlichen Glaubens.
4. Den interkulturell geteilten Glauben kontextuell bekennen In der Zeit nach 1945 sind in den jungen Kirchen protestantischer Provenienz eine Anzahl neuer kontextueller Bekenntnisse formuliert worden. Sie berufen sich oft auf die Barmer Theologische Erklärung, die 1934 im Kontext der Machtergreifung von Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Partei in Deutschland formuliert wurde. Obwohl in diese distinkte Situation gesprochen, verband sich mit ihr ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Über die Rezeption der Barmer Thesen im Rahmen der traditionellen Bekenntnisschriften hat es denn auch erhebliche Diskussionen gegeben. Die Bekenntnisse aus Afrika und Asien teilen mit Barmen – oft unter direkter Bezugnahme – die Orientierung an sozio-ökonomischen und politischen Problemen wie der südkoreanischen Militärdiktatur, dem Apartheidssystem in Südafrika, Armut und Unterdrückung in Lateinamerika oder jüngst der Situation in Palästina, die als kairos erkannt werden.190 Die kulturell-religiöse Dimension scheint demgegenüber weniger Anlass zu Bekenntnisäußerungen gegeben zu haben. Dabei fragt sowohl das Überschreiten kultureller Grenzen in der Mission als auch die interreligiöse Begegnung nach bekenntnishaften Formulierungen des christlichen Glaubens. Die Diversität theologischer Aussagen angesichts des kulturell-religiösen Pluralismus lässt es als notwendig erscheinen, dass die globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft der Christenheit sich gelegentlich rückversichert, was wir gemeinsam über unseren Glauben aussagen können. Hier ist zunächst einmal eine gewisse Konkurrenz zwischen christo- und theozentrischen Ansätzen beobachtbar. Diese lässt sich jedoch mithilfe neuerer trinitätstheologischer Modelle überwinden, die den Nachdruck auf Relationalität und Gemeinschaft legen. Gott hat die Welt geschaffen mitsamt der Vielfalt der Kulturen und Religionen. Diese wurden daher gelegentlich 190 Der Reformierte Weltbund hatte auf seiner homepage (www.warc.org) neben der Barmer Theologischen Erklärung eine Anzahl dieser Bekenntnisse dokumentiert, wie die Theologische Erklärung Koreanischer Christen (1973), das Südafrikanische Kairosdokument (1985) und das Belharbekenntnis (1986 [1982]); vgl. The Kairos Documents, hg. von Gary S.D. Leonard, Ujamaa Centre for Biblical and Theological Community Development and Research University of KwaZuluNatal 2010; Kairos-Dokumente www.oikoumene.net.
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auch zu Orten der Gottesbegegnung erklärt. Gott setzt sich immer wieder in Beziehung zur Schöpfung: im Exodus, in der Kenosis bzw. Inkarnation in Jesus Christus und in der Gegenwart im Geist (Christus praesens). In Jesus Christus hat Gott am Kreuz das Leiden der Welt geteilt, in ihm ist er stets aufs Neue in den Armen und Unterdrückten gegenwärtig. In der Würde ihres Menschseins und ihrer letztendlichen Befreiung ist das Reich Gottes bereits angebrochen. Sünde, Rechtfertigung und Versöhnung werden in ihrer sozialen Dimension erkannt. Die Kirche als Solidargemeinschaft vor Ort ist nicht nur prophetisch, sondern auch missionarisch. Sie sucht Gott immer wieder an den Rändern auf. Wer die gottgeschaffene Vielfalt der Kulturen und Religionen nicht als bedrohend zu empfinden gelernt hat, sondern als bereichernd erfährt, kann sie im messianischen Fest in der Vorfreude auf das Kommen Gottes feiern. Dialog, Respekt und Nachbarschaftlichkeit werden dann zur Signatur spätmoderner christlicher Existenz in der eschatologischen Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“.
Epilog
Abschließend will ich die im Vorangegangenen skizzierte Interkulturelle Theologie dem direkten Vergleich mit anderen Modellen theologischer Pluralitätsbewältigung aussetzen. Um die von mir konstatierte Epochenwende Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des 20. Jh. herum drängten eine Reihe neuer Ideen auf den theologischen Markt. Auf unterschiedliche Weise versuchten sie, auf die veränderten Rahmenbedingungen des kulturell-religiösen Pluralismus im Zeitalter der Globalisierung zu reagieren. In Deutschland lancierte Hans Küng sein Projekt Weltethos, nachdem er zuvor in einem groß angelegten Symposium (1983) schon dem Paradigmenwechsel in der Theologie nachgespürt hatte.1 John Hick und Paul Knitter scharten in einer Konferenz – deren Beiträge unter dem Titel The Myth of Christian Uniqueness auch publiziert werden sollten – eine Anzahl international renommierter Theologen um sich, die auf unterschiedliche Weise für eine Pluralistische Theologie der Religionen optierten. Hicks Schüler Gavin D’Costa antwortete mit einer Gegendarstellung, die die Inklusivisten und moderate Exklusivisten der Zunft vereinigte.2 Einer aus ihrer Mitte, der Jesuit Francis X. Clooney propagierte eine vergleichende Theologie, die sich
1
2
Vgl. Hans Küng / David Tracy (Hg.), Theologie – wohin?: Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma, Gütersloh etc. 1984; Hans Küng / David Tracy (Hg.), Das Neue Paradigma von Theologie. Strukturen und Dimensionen, Gütersloh etc. 1986; Hans Küng, Theologie im Aufbruch. Eine ökumenische Grundlegung, München / Zürich 1987. Das von Küng und Tracy avisierte Paradigma einer kritisch ökumenischen Theologie, „das auf die veränderten neuzeitlichen Erfahrungen [Postmoderne] adäquat zu reagieren vermag“ (Küng / Tracy, in: Theologie – wohin?, 7), hat nach eigenem Bekunden die Welt als Horizont und die christliche Botschaft als Maßstab (Küng, in: Theologie – wohin?, 70–75). Küngs Kooperationspartner Tracy bezeichnet dieses Paradigma in Anspielung auf Paul Tillich als „revidiertes korrelationales Modell“ (Tracy, in: Das Neue Paradigma, 233). Vgl. Hick / Knitter, The Myth of Christian Uniqueness; Gavin D’ Costa (Hg.), Christian Uniqueness Reconsidered. The Myth of a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll, NY 1990.
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Epilog
in den USA inzwischen zu einer eigenen Schule entwickelt hat.3 In meiner Darstellung der genannten Positionen mache ich Gebrauch von der im Prolog eingeführten Unterscheidung in trans-, multi-, cross- und interkulturellreligiöse Modelle der Pluralitätsbewältigung. Projekt Weltethos – Die transkulturell-religiöse Option (Hans Küng) Hans Küng (*1928) geht dezidiert von den Gemeinsamkeiten aus, die alle Religionen schon jetzt miteinander teilen.4 Dieser transkulturell-religiöse Ansatz (50; 57; 147) erkennt die Differenz der Religionen ausdrücklich an: „Wer die nun einmal miteinander konkurrierenden Religionen wirklich kennt, wird kaum behaupten, alle seien gleich und damit auch gleich wahr“ (106). Es geht ihm nicht um die Konstruktion einer Einheitsreligion (14). Neben der für Küng transkulturell gültigen Menschenwürde, die er gewissermaßen von außen an die Religionen heranträgt, beruft er sich auf die von diesen allgemein geteilte „Goldene Regel“, ob positiv oder negativ formuliert (84; E, 27f.). Auf dieser Grundlage postuliert Küng „Maximen elementarer Menschlichkeit“ (82; E, 29–40), die als „vier unverrückbare Weisungen“ auch Eingang in die Erklärung zum Weltethos gefunden haben. Die Weisungen „Du sollst nicht töten, stehlen, lügen oder Unzucht treiben“, werden umformuliert in vier Verpflichtungen auf eine Kultur, die gekennzeichnet ist von (1.) „Gerechtigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben“, (2.) „Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung“, (3.) 3 4
Vgl. The New Comparative Theology. Interreligious Insights from the Next Generation, hg. von Francis X. Clooney, London / New York 2010. Vgl. Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990 (Seitenangaben im Text). In gewisser Weise weitet Küng damit die Kernfrage seines Paradigmenwechselprojektes: „Ist heute trotz aller Differenzen ein Basiskonsens in christlicher Theologie möglich?“ (Küng / Tracy, Theologie – wohin?, 7) interreligiös aus. Er kann denn auch von einer Ökumene der Religionen sprechen (→§ 6.1). Auf Einladung der Veranstalter des Zweiten Weltparlaments der Religionen 1993 in Chicago verfasste Küng eine Erklärung zum Weltethos die nach einem längeren Konsultationsprozess den Delegierten zur Abstimmung vorgelegt wurde. Diese Versammlung war zum 100. Jubiläum des Ersten Weltparlaments der Religionen, das anlässlich der Weltausstellung in Chicago 1893 getagt hatte, zusammengerufen worden. Vgl. Hans Küng / Karl-Josef Kuschel (Hg.), Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlamentes der Weltreligionen, München 1993, 29–40 [III.1–4] (Seitenangaben mit Sigle E im Text). Küng hat hier schlicht auf die sozialethischen Bestimmungen der zweiten Tafel des Dekalogs zurückgegriffen. Das in Küng, Projekt Weltethos, 82 noch als fünftes großes Gebot der Menschlichkeit separat genannte intergenerative „die Eltern achten und die Kinder lieben“ hat Eingang in die Formulierungen der vierten Verpflichtung gefunden (Küng / Kuschel, Erklärung zum Weltethos, 40).
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„Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit“ und (4.) „Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“. Küng wirft allerdings selbst schon die Frage auf, ob die genannten Maximen nicht auch jenseits jeder Religion transkulturell gültig sind (58–61). Mehr noch denn als Quelle des Ethos scheint er die Religionen als Autorität zu seiner Letztbegründung im Blick zu haben (116). Mir schiene es demgegenüber sinnvoller herauszuarbeiten, inwieweit die Religionen diese heute vielfach säkularisierten Maximen einst hervorgebracht haben und sie dann dafür in die Verantwortung zu nehmen. Dies würde ihre Selbstreinigungskraft nach innen wie ihre prophetische Stimme oder zumindest doch Vorbildfunktion nach außen verstärken. Im Hinblick auf die von Küng anvisierte Rolle der Religionen als Instanzen, die diese Maximen auch durchsetzen, stellt sich demgegenüber wiederum die Frage der Repräsentation – wer in einer Religionsgemeinschaft hat die Autorität, für diese als Ganze zu sprechen, die Weisungen durchzusetzen und ihre Befolgung zu kontrollieren? Letztendlich niemand (→§ 4). Die auch von Küng gesehenen Differenzen der Religionen nicht nur untereinander, sondern auch innerhalb ihrer selbst tun ein Übriges. Im Westen lässt sich dann leicht auf den demokratischen Rechtsstaat als Garant für Menschenwürde und -rechte verweisen (→§ 3.4). Dies ist ein Luxus, den der Großteil der Menschheit jedoch nicht teilt. Die Menschenrechte werden noch stets mit Füßen getreten, sei es im kommunistischen China oder in der islamischen Welt. Indien, die bevölkerungsreichste Demokratie der Erde, schändet die auf dem Papier stehenden Rechte der Dalits und ethnischen Minoritäten ebenso wie das amerikanische Imperium, das der Welt vorgeblich Demokratie und Menschenrechte bringen will. Die Menschenrechtserklärung wird heute von vielen, die sich lieber nicht daran halten wollen, als Produkt westlicher Kultur abgetan. Das Credo kultureller Differenz entpuppt sich dann plötzlich als janusköpfig, Fundamentalismus und Ethnizität sind die Kehrseite kultureller Vielfalt. Pluralistische Theologie der Religionen – Die multikulturell-religiöse Option (John Hick / Paul Knitter) Der Religionsphilosoph John Hick (*1922), gemeinsam mit Paul Knitter (*1939) spiritus rector der Pluralistischen Theologie der Religionen, scheint zunächst ein multikulturell-religiöses Modell zu favorisieren.5 Er beschreibt den bereits zurückgelegten Weg vom Exklusivismus zum Inklusivismus und 5
Vgl. John Hick, The Non-Absoluteness of Christianity, in: ders. / Knitter, Myth, 16–36 (Seitenangaben im Text).
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will nun den „Rubikon“ (16) zum Pluralismus überschreiten. Dies kann der Einteilung des bereits genannten Bandes folgend über drei Brücken geschehen: eine historisch-kulturelle, eine theologisch-mystische und eine ethischpraktische. Hick selbst beschreitet die erstgenannte. Im Vollzug der von ihm mit eingeleiteten „kopernikanischen Wende“ (23) in der Theologie wurde zunächst der Übergang vom Ekklesio- bzw. Christozentrismus zum Theozentrismus vollzogen, um schließlich bei einer Position jenseits von Theismus / Non-Theismus anzukommen (34). Auch der Messianismus blieb so auf der Strecke. Bei jedem Schritt auf diesem Weg ging stets ein Stück christlicher Existenz mehr verloren. Hick dekonstruiert den christlichen Absolutheitsanspruch ebenso wie zentrale Lehrgehalte, um zu zeigen, dass das Christentum ein Heilsweg unter anderen ist (33). Zugleich nimmt der von Hick noch stets vorausgesetzte „gemeinsame Grund“ (34), den vorgeblich alle Religionen miteinander teilen, diese in ihrer Identität und Differenz nicht ernst. Die pluralistische Option entpuppt sich letztendlich als ein Meta-Inklusivismus. Die Treffen der Pluralisten sind längst zu exklusivistischen Salons geworden, deren Türen sich nur denjenigen öffnen, die ihren epigonalen Zerberussen die Losung zurufen: ‚Es gibt allein drei Optionen: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus, der Pluralismus aber ist die einzig vernünftige unter ihnen‘ (→§ 4.1). Querdenker wie Paul Knitter laufen das Risiko, als Abtrünnige gescholten zu werden. Mit seiner Einleitung in die Theologien der Religionen hat Knitter gewissermaßen die summa seiner nunmehr 20 Jahre währenden Auseinandersetzung mit diesem Thema vorgelegt.6 Knitter durchbricht das zum Dogma verhärtete Dreier-Schema Exklusivismus – Inklusivismus – Pluralismus, indem er diesen Optionen neue Etiketten verleiht und die dritte ausdifferenziert. Das Nebeneinander von Ersatz-, Erfüllungs-, Gegenseitigkeits- und Akzeptanzmodell kann dabei durchaus stimulierend wirken, wenn es zu einem genuinen intra-christlichen Austausch über die unterschiedlichen Standpunkte gegenüber den anderen Religionen kommt. Die beiden erstgenannten Modelle repräsentieren die klassischen, schon in der Bibel und der alten Kirche vertretenen exklusivistischen und inklusivistischen Optionen. Die Ende des 20. Jh. postulierte pluralistische Option unterteilt Knitter jetzt in eine die Einheit und eine andere die Differenz betonende Variante.7 Aus seiner Darstellung wird deutlich, dass beide letztend6 7
Paul F. Knitter, Introducing Theologies of Religions, Maryknoll, NY 2002. Reinhold Bernhardt (Hg.), Horizontüberschreitung. Die pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991, 22 hat in diesem Zusammenhang bereits „zwi-
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lich dem Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma verhaftet bleiben. Knitter selbst tendiert noch immer zur ethischen Brücke, was ihn in die Nähe des Ansatzes von Hans Küng bringt. Schon 1986 hatte Knitter dafür plädiert, die beiden parallel laufenden Diskurse der Theologie der Religionen und der Befreiungstheologien miteinander zu vernetzen.8 Anders als Hick wollte er die dogmatischen Fragen zugunsten der ethischen zurückstellen. Er suchte die Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen denn auch nicht wie Hick in einer „höchsten Realität (ultimate reality)“, sondern in der Soteriologie. Im Unterschied zu Küng, der den Dialog der Theologie der Religionen nachordnet und bei dem beginnen will, was diese schon jetzt miteinander teilen – ein Set transkulturell gültiger Maximen – ist Knitter dialog-offen. Er will aus dem interreligiösen Gespräch ethische Lehren ziehen. Komparative Theologie – Die crosskulturell-religiöse Option (Francis X. Clooney) Der Jesuit Francis Clooney (*1950) tritt mit seiner komparativen Theologie in die Fußstapfen seines prominenten Ordensbruders Roberto de Nobili.9 Wie dieser sucht er die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Hinduismus. Clooney fühlt sich „einer interreligiösen, vergleichenden, dialogischen und zugleich auch konfessionellen Theologie“ verpflichtet (vii). „Interreligiös“ versteht er dabei im Sinne eines genitivus subjectivus. „Eine Religion mag einzigartig sein, aber ihre Theologie ist es nicht (8).“ Alle Theologie operiert auf einem „gemeinsamen Grund“ (ebd.). Wenn Clooney von „inter“ spricht, gebraucht er es demzufolge im Sinne eines crosskulturell-religiösen Vergleiches, der nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragt. Diese interreligiöse, vergleichende Theologie ist ihm zufolge zugleich dialogisch. Er
8
9
schen ‚unitiven (oder monistischen) Pluralisten‘, die eine Universalisierung bzw. Globalisierung der christlichen Theologie anstreben, und den […] ‚konsequenten Pluralisten‘, die Theologie als ein auf andere Traditionen hin offenes und unvoreingenommen dialogbereites, doch unhintergehbar an den partikularen christlichen Kontext gebundenes Glaubensdenken verstehen“ unterschieden, deren Positionen er letztendlich jedoch lediglich als „unterschiedliche Akzentsetzung“ bewertet. Vgl. Paul Knitter, Toward a Liberation Theology of Religions, in: Hick / ders., Myth, 178–200; ähnliche Gedanken im EATWOT-Diskurs im Hinblick auf die beiden großen Schulen kontextueller Theologie (→§ 5). Vgl. Francis X. Clooney, Hindu God, Christian God. How Reason Helps Break Down the Boundaries between Religions, Oxford etc. 2001, 3–7 (Seitenangaben im Text); ders., Divine Mother, Blessed Mother. Hindu Goddesses and the Virgin Mary, Oxford etc. 2005; ders., Comparative Theology. Deep Learning Across Religious Borders, Chichester 2010.
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gibt dabei dem „literarischen Dialog (textual dialogue, 10)“ den Vorzug vor dem konkreten Gespräch mit Hindu-Gläubigen.10 Der Nachdruck liegt auf der Einzeltextanalyse. Für Clooney steht deutlich die verstandesmäßige (reason) Durchdringung des anderen Glaubenssystems im Vordergrund. Er liest diese nicht-christlichen Texte allerdings ausdrücklich „im christlichen Horizont“.11 Clooney schließt die konfessionelle bzw. apologetische Dimension bewusst ein. Respektvoll vorgetragene Kritik, die zugleich eigene Kritikfähigkeit signalisiert, erlaubt es, die Vorzüge der eigenen Religion zu preisen (11). Zwar setzt Dialog Zeugnis konstitutiv voraus – ohne dass die Teilnehmenden einen eigenen Standpunkt einnehmen, ist er schlicht nicht möglich – und doch ist dies nicht sein Selbstzweck. Ebenso problematisch ist der Nachdruck auf der eigenen Lektüre von Texten im christlichen Bezugsrahmen. Gerade diese Übernahme christlicher Kategorien wird in der Dialogdiskussion von Partnern aus anderen Religionen immer wieder kritisiert. Ein dritter Raum wird dadurch nicht eröffnet. Clooney macht denn auch kein Geheimnis daraus, dass er letztendlich eine inklusivistische Position vertritt.12 Die Modelle im Vergleich Die skizzierten Modelle teilen eine gewisse Schnittmenge mit einer sich interkulturell verstehenden Theologie: – Dass wir als Menschen eine Anzahl Gemeinsamkeiten haben, jenseits aller kulturell-religiöser Unterschiede, ermöglicht gemeinsames Handeln gerade in Krisen, sowohl im Blick auf zwischenmenschliche Konflikte als auch auf Naturkatastrophen. Die Notwendigkeit eine Ethik für die Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck) zu entwickeln ist Interkultureller Theologie darum inhärent. – Das Bestreben, überkommene Absolutheitsansprüche zu überwinden, und die Bejahung von Pluralität ist eine Grundvoraussetzung für den interkulturellen Dialog in allen seinen drei Dimensionen. 10 11 12
Francis X. Clooney, Reading the World in Christ. From Comparison to Inclusivism, in: D’Costa, Christian Uniqueness, 63–80, 63. Clooney, Reading the World in Christ, 68. Clooney, Reading the World in Christ, 64. Clooneys Vorgänger in Harvard, W.C. Smith, der von einer „Welt-Theologie (World Theology)“ bzw. „Theologie der vergleichenden Religionswissenschaft (Theology of Comparative Religion)“ sprach, neigte demgegenüber einer radikal pluralistischen Option zu. Vgl. Smith, Towards a World Theology; Andreas Grünschloß, Religionswissenschaft als WeltTheologie. Wilfred Cantwell Smiths interreligiöse Hermeneutik, Göttingen 1994.
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– Das Vergleichen unterschiedlicher kulturell-religiöser Traditionen ermöglicht Verstehen und eröffnet interkulturelle Lernchancen. Alle drei Modelle richten sich auf unterschiedliche Art und Weise auf die interreligiöse Dimension des christlichen Glaubens. Interkulturelle Theologie setzt demgegenüber wesentlich breiter an. In der Tradition der Missionsund Ökumenewissenschaft stehend, sind für sie gerade auch die interkulturelle und interkonfessionelle Dimension der intra-christlichen Beziehungen zentraler Forschungsgegenstand. Hier liegt die Nähe zu den angelsächsischen Projekten der Erforschung der Weltchristenheit (World Christianity). Allerdings analysiert Interkulturelle Theologie auch die Entwicklungen im westlichen Christentum wie Säkularisierung und Multikulturalität. Sie sucht dabei das Gespräch mit den liberalen Traditionen westlich akademischer Theologie. Interkulturelle Theologie will von den Erfahrungen der Weltchristenheit lernen und als Vermittlungsinstanz bzw. Begegnungsplattform fungieren. Die Auseinandersetzung mit den kontextuellen Theologien stand darum auch von Anfang an zentral. (Systematische) Theologie, die ihre heutige „interkulturelle Existenz“ nicht mitbedenkt, bleibt demgegenüber provinziell. Wie die kontextuellen Theologien ist Interkulturelle Theologie ein offenes System, Fluidität gehört zu ihren Wesensmerkmalen. Sie entwickelt sich im Diskurs des Verhandelns zwischen Konfessionen, Kulturen und Religionen (Teil II) sowie dem Lokalen und dem Globalen (Teil III) ständig weiter. In den Reflexionen über die Prozesse von Synkretismus und Hybrisierung, die sich in diesen „Zwischenräumen“ abspielen, sind kontextuelle und Interkulturelle Theologie stets mehr miteinander verflochten worden. (Interkulturelle) Theologie wird zu einem glokalen Geschehen, das einen kosmopolitischen Blick voraussetzt. Mindestens ebenso wichtig wie die theoretische Durchdringung der Materie ist dabei die Entwicklung des richtigen Habitus (Teil I). Christliche Theologie bietet ein Repertoire an Geschichten und generativen Themen, um Erfahrungen von gesellschaftlicher Asymmetrie oder biographischer Fragmentarität zu bewältigen, und eröffnet einen weiten Raum für Dialog, Respekt und Nachbarschaftlichkeit, jenseits der allgegenwärtigen interkulturell-religiösen Konflikte. Das Denken in Dilemmas schließlich bietet die Möglichkeit, nicht nur interkulturell-religiöse, sondern auch intrachristliche Differenzen, etwa zwischen Evangelikalen und Ökumenikern, zu überbrücken, da es die Position der jeweils anderen als mit-konstitutiv für die eigene Identität wahrnimmt.
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Zugleich ist die Ambiguität der christlichen Tradition nicht zu leugnen. Sie hat ihre Anfänge selbst an den Rändern genommen. Nicht nur im geographischen Sinne am Rande des römischen Imperiums, sondern auch sozial und religiös am Rande der jüdisch-hellenistischen Gesellschaft unter der Landbevölkerung in Galiläa. Der Weg ins Zentrum nach Jerusalem war für Jesus zugleich ein Gang an den Rand seiner menschlichen Existenz. Er ist draußen vor dem Tor gekreuzigt worden, von allen verlassen. Nur die Frauen standen von ferne. Theologische Denkfiguren wie Perichorese, Kenosis und Kreuzestheologie bekräftigen diese Orientierung Gottes auf die Leidensgemeinschaft mit der Schöpfung (compassion). Diese marginale Religion wurde durch die sogenannte „konstantinische Wende“ zu einer imperialen Religion mit hierarchischer Struktur, die sich in den Kreuzzügen, der kolonialen Expansion und diversen Diktaturen immer wieder als Legitimationsmittel hat missbrauchen lassen. Das Wissen darum erfordert eine Hermeneutik des Verdachts, die auch säkularen Diskursen Tor und Tür öffnet, um die eigene Tradition kritisch zu befragen. Eine solche reflexive Theologie hat die Zeichen der Zeit erkannt. Übersicht 13: Theologische Modelle der Pluralitätsbewältigung Weltethos
Pluralistische Theologie
Vergleichende Theologie
Interkulturelle Theologie
H. Küng; K.-J. Kuschel
J. Hick; P. Knitter
F. Clooney
V. Küster; R. Schreiter
transkulturellreligiös
multikulturellreligiös
crosskulturellreligiös
interkulturellreligiös
Co-Operation
Co-Existenz
Vergleich & Bekenntnis
Wechselwirkung
viele Religionen, ein gemeinsames Ziel
viele Wege, aber ein leitendes Prinzip
eine Religion als Referenzrahmen
eine Religion (mit ihren jeweils eigenen Absolutheitsansprüchen) unter anderen
Inklusivismus
Pluralismus
Hilfsmittel zum Studium der Interkulturellen Theologie
Interkulturelle Theologie ist aus der Pluridisziplin Missionswissenschaft, Ökumenik und Religionswissenschaft hervorgegangen, die in unterschiedlichen Kombinationen an deutschen und internationalen theologischen Fakultäten gelehrt wird. Sie kennt noch kein festgefügtes Curriculum und auch keinen Kanon. Was die Mutterdisziplinen hervorgebracht haben, weist teilweise fließende Übergänge auf, manchmal handelt es sich auch um bloßen Etikettenschwindel. Ich habe ausgewählt, zu was ich selbst gelegentlich greife. Die Anmerkungen zu den vorangegangen Paragraphen bieten darüber hinaus eine Auswahl der Primärquellen und Literatur zu den jeweiligen generativen Themen. Die besten Sammlungen, nicht nur von theologischen Zeitschriften aus der Dritten Welt, sondern auch der einschlägigen Fachliteratur befinden sich in den Bibliotheken von Missio Aachen (mikado [www.missio-aachen.de]) und des Centrum IIMO an der Universität Utrecht (www.uu.nl). Beide Bestände sind vorbildlich elektronisch erfasst.
1. Lehrbücher und Nachschlagewerke Interkonfessionell (Ökumene) Dietrich Ritschl / Werner Ustorf, Ökumenische Theologie – Missionswissenschaft, Stuttgart etc. 1994. Bert Hoedemaker / Anton Houtepen / Theo Witvliet, Oecumene als Leerproces. Inleiding in de Oecumenica, Zoetermeer 32005. Ökumene Lexikon. Kirchen – Religionen – Bewegungen, Frankfurt /M. 21987. Dictionary of the Ecumenical Movement, Genf 22002. Interkulturell (Mission) Volker Küster, Die vielen Gesichter Jesu Christi. Christologie interkulturell, NeukirchenVluyn 1999. Robert J. Schreiter, Die Neue Katholizität. Globalisierung und die Theologie, Frankfurt 1997 [engl. 1997].
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Ders., Abschied vom Gott der Europäer. Zur Entwicklung regionaler Theologien, Salzburg 1992 [engl. 1985]. Horst Rzepkowski, Lexikon der Mission. Geschichte – Theologie – Ethnologie, Graz etc. 1992. Karl Müller / Theo Sundermeier (Hg.), Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, Berlin 1987 [engl. 1997]. Karl Müller / Werner Ustorf (Hg.), Einleitung in die Missionsgeschichte. Tradition, Situation und Dynamik des Christentums, Stuttgart etc. 1995. Jonathan Bonk (Hg.), Encyclopedia of Missions and Missionaries, New York / London 2007. Virginia Fabella / R.S. Sugirtharajah (Hg.), Dictionary of Third World Theologies, Maryknoll, NY 2000. Theologiegeschichte der Dritten Welt, 4 Bde (Afrika; Indien; Japan; Lateinamerika), hg. von Theo Sundermeier / Norbert Klaes, München 1991-1993. Klaus Koschorke / Frieder Ludwig / Mariano Delgado (Hg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen VI), NeukirchenVluyn 22006. • Asien Asian Christian Theologies. A Research Guide to Authors, Movements, Sources, 3 Bde, hg. von John C. England et.al., Maryknoll, NY 2002-2004. Friedrich Huber, Das Christentum in Ost-, Süd- und Südostasien sowie Australien, Leipzig 2005. Samuel Hugh Moffett, A History of Christianity in Asia, 2 Bde, Maryknoll, NY 1998 und 2005. • Afrika African Christianity Series, hg. von J.N.K. Mugambi / Carrol Houle, Acton Publishers, Nairobi, Kenya seit 1998 [themengebundene Sammelbände]. Klaus Hock, Das Christentum in Afrika und dem Nahen Osten, Leipzig 2005. Ogbu U. Kalu (Hg.), African Christianity. An African Story, Pretoria 2009. Bengt Sundkler / Christopher Steed, A History of the Church in Africa, Cambridge 2000. • Lateinamerika Ignacio Ellacuría / Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, 2 Bde, Luzern 1995/96. Liberation Theology. A Documentary History, hg. von Alfred T. Hennelly, Maryknoll, NY 1990. Hans-Jürgen Prien, Das Christentum in Lateinamerika, Leipzig 2007. Enrique Dussel, Die Geschichte der Kirche in Lateinamerika, Mainz 1988.
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295
Interreligiös (Religion) Hans-Jürgen Greschat, Was ist Religionswissenschaft?, Stuttgart etc. 1988. Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 32008. Karl Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993. Encyclopedia of Religion, New York / London 1987. Einschlägige Artikel in EKL3, RGG4, TRE und LThK3.
2. Zeitschriften Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft International Review of Mission International Bulletin of Missionary Research Mission Studies Exchange. Journal of Missiological and Ecumenical Research Ökumenische Rundschau Ecumenical Review Themanummern von Evangelische Theologie und Verkündigung und Forschung; zu der Vielzahl theologischer Zeitschriften aus der Dritten Welt vgl. die eingangs genannten Kollektionen in Aachen und Utrecht.
3. Reihen Theologie Interkulturell (seit 1986) Theologie der Dritten Welt (seit 1981) Contactzone. Explorations in Intercultural Theology (seit 2007) Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums (seit 1975)
Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten
Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10:
Das heilsgeschichtliche Modell Das Kommunikationsmodell Der hermeneutische Zirkel Das hermeneutische Prisma Hermeneutik des Verdachts Die Frontstruktur (Seiichi Yagi) Der multikulturelle Triangel (Gerd Baumann) Dimensionen der Marginalität (Jung-Young Lee) Mission und Dialog Dimensionen des Ökumenebegriffs
37 39 62 79 95 121 127 129 153 189
Übersichten Übersicht 1: Theologische Modelle der Mission (Theo Sundermeier) Übersicht 2: Ökumeniker und Evangelikale Übersicht 3: Repräsentationsstatistik der Weltmissionskonferenzen Übersicht 4: Die Weltmissionskonferenzen Übersicht 5: Theologie kirchlicher Verlautbarungen zur Mission Übersicht 6: Akkommodation und Inkulturation Übersicht 7: Typologie kontextueller Theologie Übersicht 8: Die Genese der Interkulturellen Theologie Übersicht 9: Modelle der Wahrnehmung des Fremden Übersicht 10: Typologie des Interreligiösen Dialogs Übersicht 11: Der EATWOT-Prozess Übersicht 12: Zur Rezeption kontextueller Theologie Übersicht 13: Theologische Modelle der Pluralitätsbewältigung
36 41 45 48 52 58 59 112 122 139 158 186 292
Index Abesamis, Carlos H. 161, 165, 167 Abraham, K.C. 105, 172, 175 Achebe, Chinua 99 Ahn, Byung-Mu 123, 218, 245, 254f., 264, 268 Alopen 101 Althaus, Paul 221 Alves, Ruben 56 Amalorpavadass, D. S. 161 Ambrosius 264 Amin, Samir 178 Amstutz, Josef 158 Anderson, Gerald H. 57 Apess, William 103 Appasamy, Aiyadurai Jesudasen 103, 107 Appiah, Kwame Anthony 10 Appiah-Kubi, Kofi 162f. Appleby, R. Scott 23 Ariarajah, Wesley 97, 143f., 248 Aritonang, Jan Sihar 224 Assmann, Jan 239 Ateek, Naim Stifan 278 Augustinus 28, 101 Bachmann-Medick, Doris 131 Bahr, Petra 265 Bakker, Freek L. 224 Balasundaram, Franklyn J. 161 Balasuriya, Tissa 89, 109, 173f., 260f. Balz, Heinrich 36, 113, 117 Banerjea, K. N. 103 Barth, Karl 10, 37f., 44, 77, 80, 107, 215f., 231233, 235, 246 Baßler, Moritz 79 Bauman, Zygmunt 13 Baumann, Gerd 126f. Beaman, Lori 88 Bechert, Heinz 143 Beck, Ulrich 10, 13, 88, 290 Becken, Hans-Jürgen 259f. Becker, Dieter 86, 122
Ben-Chorin, Schalom 141 Benhabib, Seyla 126 Berger, Klaus 83f. Berger, Peter L. 21 Bernhardt, Reinhold 21, 135, 288 Bevans, Stephen B. 35, 49 Beyer, Peter 88 Beyerhaus, Peter 40, 184 Bhabha, Homi K. 16, 99, 106, 151 Bimsbergen, Wim van 17 Bimwenyi, Oskar K. 154 Bitterli, Urs 122 Blomjous, Joseph 131 Blum, Erhard 39 Boeckh, Andreas 157 Boesak, Allan A. 90, 160, 217f., 263, 269f., 272, 277 Boff, Clodovis 59, 66-69 Boff, Leonardo 20, 59, 81, 89, 156, 161, 167, 225, 230, 236-238, 247, 250, 276, 279 Bonhoeffer, Dietrich 38, 249f. Bonk, Jon 11 Bosch, David J. 33, 35f., 42, 48, 131 Botman, Russel 90 Bouteneff, Peter 203 Braybrooke, Marcus 131 Breckenridge, Charles 29 Bria, Ion 49 Brinkman, Martien E. 209 Brosse, Richard 186 Brück, Michael von 144, 145 Buber, Martin 119, 247 Bühlmann, Walbert 11, 111 Bujo, Bénézet 211 Bultmann, Rudolf 63, 69, 80f., 83f., 107 Bunge, Marcia 69 Calixt, Georg 28 Camps, Arnulf 154, 158, 180 Cantwell Smith, Wilfred 133, 143, 290
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Index
Cassian, Johannes 80 Cekwane, Frederick Timothy 259 Chandran, J. Russel 161 Charles, Pierre 36 Chenu, Marie-Dominique 156 Chikane, Frank 175f. Childs, Brevard S. 65 Cho, Seung Hyuk 254 Chung, Hyun-Kyung 14, 20f., 47f., 181, 239248 Clooney, Francis X. 285f., 289f., 292 Coe, Shoki 57 Colenso, John 103 Collet, Giancarlo 154, 158 Comblin, José 247 Concha, Miguel 166 Cone, James H. 92, 154, 160, 163f., 168, 174, 177, 180, 217, 251f., 264, 277 Cornille, Catherine 21 Costas, Orlando 185 Coward, Harold 144 Cracknell, Kenneth 150 Croatto, J. Severino 64-69, 76-78, 169f. Crüsemann, Frank 9 Cullmann, Oskar 36f. Cyprian 134f., 264 D’Costa, Gavin 134, 285, 290 D’Sa, Francis X. 234f. Daly, Mary 69 Davie, Grace 21 Dembowski, Hermann 211 Dhavamony, Mariasusai 144 Dibelius, Martin 83 Dilthey, Wilhelm 76f. Dirlik, Arif 99 Dölger, Franz Joseph 22 Donaldson, Laura E. 147 Dube, Musa W. 75, 78, 93-100, 107-109, 112, 274, 281 Duff, Alexander 29 Eagleson, John 68, 105, 166 Eaton, Heather 280 Ebach, Jürgen 141 Ebeling, Gerhard 80 Eck, Diana L. 137 Eco, Umberto 19, 78 Elizondo, Virgil 92, 156, 171, 274
Ellacuría, Ignacio 247, 266 Ellis, Marc H. 212, 278 England, John C. 101 Equiano, Olaudal 103 Erbele-Küster, Dorothea 14, 59, 73, 94, 98, 224, 273 Evers, Georg 156, 184 Fabella, Virginia 64, 73, 159, 164, 168, 171, 181, 187, 224, 246 Falke, Heino 13 Fanon, Frantz 99, 106, 263 Ferm, Deane William 186, 226 Fernandez, Eleazar S. 127 Figl, Johann 143 Fokas, Effie 21 Ford, David 242 Fornet-Betancourt, Raúl 226 Francke, August Hermann 28 Frederiks, Martha T. 74, 140, 151, 209 Freire, Paulo 61 Freytag, Walter 38, 46, 219 Friedli, Richard 110, 113 Fuchs, Ernst 80 Fung, Raymond 266-268 Gadamer, Hans Georg 79f., 83 Garnet, Henry H. 252 Gebara, Ivone 74, 267, 274, 279, 281 Geertz, Clifford 18, 25, 76, 127 Gensichen, Hans-Werner 117, 183 Gerloff, Roswith I.H. 19 Gern, Wolfgang 183 Golob, André 148 Gombrich, Richard 143 González Faus, José Ignacio 266 Gort, Jerald D. 19 Gräbe, Uwe 278 Graf, Friedrich Wilhelm 13, 21, 185, 249 Gramsci, Antonio 161, 249 Graul, Karl 29 Greenblatt, Stephen 79 Gregor der Große 28 Greive, Wolfgang 211 Gruchy, John W. de 90, 270 Grünschloß, Andreas 136, 138, 290 Günther, Wolfgang 42 Gundert, Wilhelm 215 Gunkel, Hermann 83
Index
Guttiérrez, Gustavo 56, 212 Haar, Gerrie ter 19 Habermas, Jürgen 18 Hahn, Ferdinand 30 Hallman, David G. 281 Hannerz, Ulf 17 Hardt, Michael 88 Hartenstein, Karl 38 Heidegger, Martin 81f., 231 Heinig, Hans Michael 265 Helfenstein, Pius F. 133, 143 Heller, Dagmar 203, 206 Herms, Eilert 265 Hesse, Johanan 217, 233 Hick, John 134f., 217, 285, 287-289, 292 Hilfrich-Kunjappu, Carola 239 Hiller, Doris 98 Hinkelammert, Franz J. 176f. Hintersteiner, Norbert 143 Hinz, Rudolf 253 Hoedemaker, Bert 21, 42, 190 Hoekendijk, Johannes Christian 36, 38, 167, 219, 276 Hoffmann, Johannes 266 Hofstede, Geert 18 Hollenweger, Walter J. 110f., 118 Holtrop, Pieter N. 203 Houtepen, Anton 190 Huber, Wolfgang 10, 205, 264, 271 Huh, Byung-Sub 256 Hummel, Reinhart 143 Huntington, Samuel 88f. Hyun, Young-Hak 238, 244, 276 Iglesias, Maria 168 In, Myung-Jin 254 Irarrázaval, Diego 91, 184 Iser, Wolfgang 59, 78, 83, 136 Jaspers, David 63 Jaspert, Bernd 135 Jeanrond, Werner 63 Jenkins, Philip 11 Joh, Wonhee Anne 128 Johannes Paul II. 49 Jong, Wietske de 14 Justin 135 Kabasélé, Francois 210 Kalsky, Manuela 21, 147, 209
301
Kamphausen, Erhard 154, 171 Kanyoro, Musimbi R.A. 75, 92-97 Käsemann, Ernst 215 Kasper, Walter 204 Katoppo, Henriette Marianne 165, 170 Kessler, Heiner 238 Khan, Syed Ahmed 103 Khoury, Adel Theodor 139, 142 Kim, Yong-Bock 97, 221, 273 King, Martin Luther Jr. 252 King, Salbe B. 144 Kitamori, Kazoh 107 Klaes, Norbert 186 Klappert, Berthold 140 Klostermeier, Klaus 143 Kluckhohn, Clyde 17 Knitter, Paul F. 134f., 217, 285, 287-289, 292 Koch, Klaus 139 Koffeman, Leo J. 14, 190, 203 Kohl, Karl-Heinz 120 Kohler, Werner 234 Kokushi, Daito 232 Kolié, Cécé 212, 258 Kooi, Akke van der 14, 242 Körtner, Ulrich H.J. 205 Koschorke, Klaus 35 Kößmeier, Norbert 186 Koyama, Kosuke 97, 213, 274 Kraemer, Hendrik 36, 39, 44, 48, 113 Kress, Christine 98 Krieger, David 133, 236 Kristeva, Julia 119 Kroeber, Alfred Louis 17 Krog, Antjie 270-272 Kruijf, Gerrit de 14 Küng, Hans 33, 138, 188, 265, 285-287, 289, 292 Kürschner-Pelkmann, Frank 253 Küster, Volker 10, 15, 31, 40, 57, 89, 114f., 118, 122, 139, 148, 152, 184, 188, 192, 209f., 213, 215, 218, 235, 242, 254, 256, 260, 263f., 264, 268, 270, 273f., 292 Kurian, K. Mathew 164 Kuschel, Karl-Josef 140f., 188, 286, 292 Kwok, Pui-Lan 65, 75, 94, 96-100, 102, 107, 108, 112, 147, 181, 232, 274, 281 Lai, Whalen 144f.
302
Index
Lange, Ernst 9, 61, 84, 193 Las Casas, Bartholomé de 103 Lash, Scott 88 Latourette, Kenneth Scott 32-34, 53 Lee Park, Sun Ai 174, 181 Lee, Chul-Soo 256 Lee, Jung-Young 127-129 Lee, Peter K.H. 164 Lehmann, Karl 200 Lemopoulos, George 49 Lerinum, Vinzenz von 80 Leuze, Reinhard 133 Lévinas, Emmanuel 119 Liedke, Gerhard 279 Lietaert Peerbolte, L.J. 30 Lima Silva, Silvia Regina de 224 Ling, Amy 106 Link-Wieczorek, Ulrike 227 Loenhof, Jens 18 Long, James 103 Longchar, Wati 278 Löwner, Gudrun 144, 243 Lucas, Virginia 95 Luhmann, Niklas 247 Lullus, Raimundus 28f. Luz, Ulrich 216, 234 Maduro, Otto 212 Magesa, Laurenti 87, 91, 146 Mahan, Brian 71 Malcolm X 252 Mall, Ran Adhar 120, 123 Maluleke, Tinyiko Sam 90, 192 Mananzan, Mary John 161, 181 Margull, Hans Jochen 20, 36, 38, 47, 110f., 113, 123, 132, 150-152, 219, 265 Martini, Carlo 19 Marty, Martin E. 23 Masson, Joseph 36 Matsuoka, Fumitaka 127 Mbiti, John S. 145f., 154, 162, 222, 224, 226228, 230, 237f., 276 Mbuy-Beya, Bernadette 175 McFague, Sally 280 McGavran, Donald 37 McLuhan, Marshal 69 Menzel, Ulrich 176 Mercier, André 235
Mesters, Carlos 68f., 84 Metz, Johann Baptist 9, 25, 34, 66, 71, 111, 171, 270f. Meyer, Harding 196 Michaels, Axel 143 Míguez Bonino, José 56f., 154, 167, 173 Moltmann, Jürgen 9, 107, 123, 141f., 151, 218f., 221, 225, 238, 247, 279 Moon, Ik-Kwan 255 Mosès, Stéphane 239 Mott, John 43, 48, 204 Müller, Harald 89 Müller, Karl 33-35 Müller-Römheld, Walter 240 Mugambi, J.N.K. 90 Munoz, Ronaldo 250 Mushete, Ngindu 162 Mveng, Engelbert 163, 170, 272 Myklebust, Olav Guttorm 28 Naipaul, V.S. 99 Negri, Antonio 88 Neven, Gerrit 246 Newbegin, Leslie 48 Newlands, George 111 Nida, Eugene A. 36, 39, 113 Niles, D. T. 204 Niles, Preman 168 Nippel, Wilfried 120 Nishida, Kitaro 214-216, 231-233, 235 Nitsche, Bernhard 234 Nobili, Roberto de 213, 289 Nüssel, Frederike 195 Nyamiti, Charles 154, 159f., 211, 228f., 230, 235 O’Neill, Maura 147 Oduyoye, Mercy Amba 20, 58, 73f., 92f., 95, 146, 162f., 170, 173, 178f., 181, 212, 228, 260, 274 Oldham, John 204 Oosthuizen, Gerardus Cornelis 259 Osten-Sacken, Peter von der 141 Padilla, Rene 185 Panikkar, Raimon (Raimundo) 21, 213, 234239 Pannenberg, Wolfhart 200 Parekh, Bhikhu 126 Park, Hyung-Kyu 255
Index
Pemberton, Carrie 74 Phan, Peter C. 91, 128 Philip, T.V. 42f. Phiri, Isabel Apawo 75 Pieper, Annemarie 265 Pieris, Aloysius 23, 57, 97, 143, 161, 164f., 169f., 272 Potter, Philip 187 Prabhu, Joseph 236 Prange, Don 171 Queen, Christopher S. 144 Race, Alan 133f. Rad, Gerhard von 69 Radford Ruether, Rosemary 70, 73, 280f. Rahner, Hugo 22 Rahner, Karl 49, 135, 142, 152, 225 Raiser, Konrad 33, 193f., 205 Ratzinger, Joseph 18, 225 Rayan, Samuel 178, 246f. Reis, Alfred 168 Rendtorff, Rolf 39 Rendtorff, Trutz 185 Ricci, Matteo 244 Richard, Pablo 176 Richesin, L. Dale 71 Ricoeur, Paul 78, 273 Ritschl, Dietrich 10, 189f., 195, 197, 243, 247 Robertson, Roland 88 Rosario-Battung, Mary 172 Rosenkranz, Gerhard 49 Rosin, Hellmut H. 38 Ruokanen, Mikka 135 Russel, Letty M. 70, 90, 186 Rzepkowski, Horst 245 Sachau, Rüdiger 143 Said, Edward 99, 106, 107, 232 Samartha, Stanley 47, 144, 213f., 236f. Samuel, Vinay 185 Sanneh, Lamin 11, 224 Sanon, Anselme Titianma 210f. Santa Ana, Julio de 177 Sattler, Dorothea 195 Sauvy, Alfred 100 Schaede, Stephan 265 Schäfer, Klaus 248 Schapp, Wilhelm 273 Schenk, Wilbert R. 35
303
Scherer, James A. 49 Schleiermacher, Friedrich D. E. 29, 77 Schmidlin, Joseph 28, 36 Schmidt-Leukel, Perry 21, 134, 145 Schneider, Theodor 200 Schneider-Flume, Gunda 98, 246 Schottroff, Luise 9 Schottroff, Willy 9 Schreiner, Peter 14 Schreiter, Robert J. 19, 33, 42, 85, 89, 91, 114f., 117, 161, 183, 292 Schröder, Roger P. 35 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 9, 63, 70-73, 75, 98 Schwantes, Milton 66 Seckel, Dietrich 245 Segundo, Juan Luis 63, 81 Setiloane, Gabriel M. 229f. Shimray, Shimreingam 278 Siller, Hermann P. 19 Silva, Lynn A. de 238 Simon, Benjamin 14, 19 Simpfendörfer, Werner 114 Sinner, Rudolf von 236f. Sobrino, Jon 89, 167f., 247, 261, 266, 269, 293 Sofola, Zulu 163 Sölle, Dorothee 9, 171 Song, C.S. 97, 154, 213, 274 Souga, Thérese 219 Soyinka, Wole 99 Sperber, Jutta 142 Spijker, Gerard van ‘t 145 Spivak, Gayatri Chakravorty 99 Stamoolis, James J. 49 Steenbrink, Karel 14, 140, 224 Stegemann, Ekkehard 9 Stegemann, Wolfgang 9 Stieglecker, Hermann 142 Stosch, Klaus von 148 Strahm, Doris 147, 209, 274 Stransky, Thomas F. 57 Stuhlmacher, Peter 71f., 80, 84 Sudbrack, Josef 138 Suess, Paulo 91 Sugden, Chris 185 Sugirtharajah, R.S. 99-109, 224, 232, 246 Suh, Nam-Dong 218, 255
304
Index
Sundermeier, Theo 10, 14, 35f., 39, 42, 113f., 117, 119-121, 138, 145, 151, 183, 186 Sundkler, Bengt 36f. Surendra, Lawrence 176 Suzuki, Daisetzu 232 Swidler, Leonard 137, 141, 221 Takizawa, Katsumi 21, 145, 215-217, 231239, 279 Tamez, Elsa 74, 103, 107, 174, 181, 265, 268f., 273f. Taylor, Charles 21, 126f. Tekere, Ruvimbo 168 Tertullian 101 Thangaraj, M. Thomas 30, 35 Theißen, Gerd 9, 18, 60, 83, 265 Thomas, M.M. 20, 117, 144, 154, 213f. Thurian, Max 196 Tillich, Paul 285 Tinker, George E. 177f., 277f. Tödt, Heinz Eduard 264 Tödt, Ilse 160 Tomkins-Cameron, Ruth 181 Torres, Sergio 64, 68, 73, 105, 154, 156, 159, 162, 165f., 168, 171, 174, 187 Tracy, David 285f. Trible, Phylis 94 Tsetsis, George 240 Turner, Henry M. 252 Tutu, Desmond 90, 103, 269-272 Tuwere, Ilaitia Servati 278 Ustorf, Werner 13f., 33-35, 110, 189, 219 Ven, Johannes A. van der 138 Verwoerd, Wilhelm 270 Villa-Vincencio, Charles 90, 270 Vischer, Lukas 197 Visser’t Hooft, Willem A. 33, 48, 194, 204 Voetius, Gisbertus 28
Vögele, Wolfgang 264 Vorgrimler, Herbert 49, 142, 152 Vries, S. Ph. de 140 Waldenfels, Bernhard 120f. Waldenfels, Hans 145, 151, 186, 216 Walker, David 252 Wallis, Jim 171 Walz, Heike 181, 257 Warneck, Gustav 28f. Weber, Franz 151 Weber, Max 18 Weder, Hans 80, 84 Weems, Benjamin B. 20 Welker, Michael 244, 247 Werner, Dietrich 43, 47 Wessels, Anton 22 West, Cornel 168 West, Gerald 64 Wickeri, Philip L. 131, 260 Wiedenhöfer, Siegfried 114 Wietzke, Joachim 49f. Wijsen, Franz 131 Wille, Wilhelm 158 Wilmore, Gayraud S. 251 Wily, Dennis W. 252f. Witvliet, Theo 190 Woly, Nicolas J. 142 Xavier, Franz 145 Yagi, Seiichi 120f., 128, 215-217, 234f., 275, 279 Young, Robert C. 99 Zehner, Joachim 140 Zenger, Erich 141 Ziebertz, Hans-Georg 138 Ziegenbalg, Bartholomäus 28 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf 28