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German Pages 358 [360] Year 2000
Franz von Kutschera Die großen Fragen
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Franz von Kutschera
Die großen Fragen Philosophisch-theologische Gedanken
W DE
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Walter de Gruyter • Berlin • New York 2000
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einhdtsaufnahme
Kutschera, Franz / von: Die großen Fragen : philosophisch-theologische Gedanken / Franz von Kutschera. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 I S B N 3-11-016833-2
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: +malsy, Bremen Umschlagmotiv: Joseph S. Martin — A R T O T H E K , Bildnummer 3339, RafFael (Raffaello Santi) 1483—1520, Die Schule von Athen. 1509/1510. Breite unten: 770 cm. Rom, Stanza della Segnatura Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. G m b H & Co. K G , Göttingen
Vorwort
Wer sind wir? Woher kommen wir? Was ist unsere Rolle im Universum? Was erwartet uns? Welchen Sinn können wir unserem Leben geben? Was ist der Sinn von Geschichte und Welt? Hat die ganze Wirklichkeit Wert, Ziel und Bedeutung, oder ist sie nur ein sinnloses Getöse? Das sind, in schlichter Formulierung, die großen Fragen, die Fragen, die Menschen bewegt haben, soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, und die sich auch heute jedem stellen, der über sich und sein Leben nachdenkt, der versucht, sein Dasein in dieser Welt zu verstehen und die Chancen, ihm Sinn zu geben — jedem, der sich nicht einfach treiben lassen will, sondern sein Leben verantworten will. Die Fragen sind groß, weil sie die wichtigsten Fragen sind und unsere Orientierung im Leben von der Antwort abhängt, die wir auf sie finden. Sie sind aber auch groß, weil sie an die Grenzen des uns Begreifbaren vorstoßen. Wir sehen uns der Ambivalenz der Wirklichkeit gegenüber: der Größe des Menschen und seinem Elend, seiner Sehnsucht nach Ewigem und seiner Vergänglichkeit, der Schönheit der Natur und der Brutalität des Kampfes ums Dasein, der Erkennbarkeit des Geschehens in der Natur und dem Walten blinden Zufalls. Diese Ambivalenz steht jeder einfachen Antwort entgegen. Die großen Fragen zielen zudem letztlich auf das Ganze der Wirklichkeit, das wir aus unserer lokalen Perspektive nicht überschauen können. Die Wirklichkeit und unser Dasein bleiben uns daher im Grunde rätselhaft und unbegreiflich. Mit dieser Feststellung können wir es aber nicht bewenden lassen. Wie wir nicht zielstrebig handeln können, ohne uns
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Vorwort
jedenfalls ungefähre Vorstellungen über die Umstände zu bilden, von denen der Erfolg unseres Tuns abhängt, so können wir unser Leben nicht sinnvoll gestalten, ohne uns jedenfalls in Grundzügen eine Antwort auf die großen Fragen zu geben, von denen die Chancen unseres Lebens abhängen. Wir müssen uns Antwort geben, ohne über eindeutige Informationen zu verfügen, in einer Situation tiefer Unsicherheit. Jede Antwort ist daher ein Wagnis, aber ohne Wagnis kommen wir nicht weiter. Die Rätsel des Daseins werden wir nicht auflösen. Unsere Einsichten leuchten nur wenige Schritte voraus, aber trotzdem müssen wir ihnen folgen. Jeder muß seine eigene Antwort auf die großen Fragen finden und dabei von seinen eigenen Anliegen und Erfahrungen ausgehen; jeder muß das Wagnis seines Lebens selbst verantworten. Die Aussagen in diesem Buch bilden meine Antwort. Wie jede andere ist sie nur beschränkt verallgemeinerungsfähig. Vielleicht können meine Überlegungen aber dem einen oder anderen helfen, seine eigene Antwort zu finden, denn manche Erfahrungen und Ziele teilen wir doch, und ich habe in meinem Leben auch viel mehr Gelegenheit gehabt, über diese Dinge nachzudenken, als die meisten anderen. Meine Gedanken können aber nur dem helfen, der sie für sich neu gewinnt. Was Piaton von jeder philosophischen Antwort behauptet hat, gilt vor allem bei Orientierungsfragen: Wenn man die Antwort nicht kritisch mit Alternativen vergleicht und sie dabei nicht neu für sich findet, nützt sie einem nichts. Auf Charakter und Anspruch existentieller Überlegungen komme ich im ersten Abschnitt des i. Kapitels noch genauer zurück; er ist also gewissermaßen das ausführlichere Vorwort. Den systematischen Ausgangspunkt der Überlegungen bilden dann die großen Fragen, die in den folgenden Abschnitten des ι. Kapitels erläutert werden. Jede Antwort auf die Grundfragen menschlichen Daseins ist eine weltanschauliche Deutung. Solche Deutungen bilden das
Vorwort
Thema des 2. Kapitels. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen über Charakter und Rechtfertigung von Weltanschauungen werden zuerst immanente Weltanschauungen erörtert, solche also, für die der Horizont unserer Erfahrungen zugleich die Grenze der Wirklichkeit bildet. Ihre Problematik lenkt dann den Blick auf transzendente Weltanschauungen, die eine jenseitige Realität annehmen. Dazu gehören metaphysische und religiöse Konzeptionen; im 2. Kapitel werden jedoch nur deren erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten erörtert. Meine Antwort auf die großen Fragen ist die des christlichen Glaubens. Daher versuche ich im 3. und 4. Kapitel, dessen zentrale Inhalte zu umreißen. Als zentral wird dabei herausgehoben, was — im Blick auf die Erörterungen des 1. Kapitels — existentiell besonders wichtig ist. Die Schwierigkeit der Darstellung ergibt sich daraus, daß selbst die fundamentalsten Inhalte christlichen Glaubens heute umstritten sind, nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch in ihnen. Jeder, dem ernsthaft an der christlichen Botschaft liegt, muß sich in dieser Situation selbst um ihre Inhalte bemühen. Dazu sollen die Überlegungen in den Kapiteln 3 und 4 anregen; mehr können sie wiederum nicht leisten. Ich bin kein Theologe, sondern Philosoph und als solcher gewohnt, für meine Aussagen keine andere Legitimation zu beanspruchen als Wahrheit und mich an Leser zu wenden, die diese Legitimation auch kritisch nachprüfen. Im 5. Kapitel endlich wird erörtert, welche Antworten sich aus der christlichen Botschaft auf die großen Fragen ergeben. Dabei zeigt sich, daß viele Rätsel nach wie vor ungelöst bleiben; wir erhalten keine metaphysischen Auskünfte über Geist und Leib und Zeit und Ewigkeit. Der Glaube ist nicht erkenntniserweiternd, aber er zeigt einen Weg, den wir gehen können, und öffnet unserem Leben einen überwältigend großen Sinnhorizont.
VII
Inhalt
ι
Größe und Elend des Menschen
ι
υ
Die Frage nach dem Menschen
ι
1.2
Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
12
1.3
Freiheit
34
1.4
Individuum und Gemeinschaft
50
1.5
Geist und Körper
60
1.6
Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit
70
1.7
Die Frage nach dem Sinn
83
1.8
A u f ungesicherten Wegen
94
2
Deutungen
107
2j
Weltanschauungen als Paradigmen
107
2.2
Immanente Weltanschauungen
121
2.3
Die Paradoxien der Aufklärung
137
2.4
Die Idee der Metaphysik
152
2.5
Religiöser Glaube
170
2.6
Glaubensgründe
178
3
Der Glaube an Gott
193
3J
Der personale Gott
193
3.2
Der Gott der Väter
206
3.3
Der Schöpfer
218
4
Heilsgeschichte
227
41
Die alttestamentliche Heilsgeschichte
227
4.2
Jesus von Nazaret
242
X
Inhalt
4.3 4.4
Deutungen Der Glaube an Christus
266 283
5 51 5.2 5.3 5.4
Leben aus dem Glauben Zuwendung zum Nächsten Glauben an Vernunft Hoffnung auf Zukunft Sinn im Leiden
293 293 304 311 325
Literatur
339
Register Autoren Stichwörter
342 342 345
ι
Größe und Elend des Menschen
υ
Die Frage nach dem Menschen
Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind die Bedingungen menschlicher Existenz. Sie wollen wir uns in diesem Kapitel vergegenwärtigen. Zunächst sind aber einige allgemeine Bemerkungen zum Umgang mit diesem Thema am Platz. »Die größte Sache der Welt ist zu verstehen, was man selbst ist«, sagt Montaigne. Es ist die wichtigste Sache der Welt, denn unser Verständnis unserer selbst und der Bedingungen und Perspektiven unserer Existenz bestimmt die Ziele, die wir uns in unserem Leben vernünftigerweise setzen können und unsere Haltung zum Leben. Soweit wir in die Geschichte zurückblicken können, hat sich der Mensch daher um ein tieferes Verständnis seiner selbst bemüht und zu erkennen versucht, woher er kommt, wohin er geht und was seine Stellung im Universum ist. Die Frage »Was ist der Mensch?« umschreibt die Thematik der Anthropologie. Die philosophische Anthropologie ist am Ende der zwanziger Jahre als Reaktion auf die biologische Anthropologie entstanden — die Gründungsschriften waren Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927) und Helmut Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Während die biologische Anthropologie den Menschen als Produkt biologischer Evolution in der Kontinuität mit dem Tierreich betrachtet, und dabei naturgemäß eine Tendenz entwickelt, Unterschiede einzuebnen, hat die philosophische Anthropologie ge-
2
ι Größe und Elend des Menschen
rade das herausgestellt, worin der Mensch sich vom Tier unterscheidet. Sie weist z. B. auf seine Weltoffenheit im Gegensatz zur Umweltgebundenheit der Tiere hin, auf seine Intelligenz, mit der er seine biologischen Mängel kompensiert, oder auf die Tatsache, daß sein Verhalten weit stärker durch kulturelle Traditionen und Institutionen geprägt ist als durch ererbte Instinkte. Die entscheidende Differenz ist aber schon mit der Frage selbst gegeben: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nach seiner eigenen Natur fragt, das sich selbst zum Problem wird. Er allein ist sich seiner selbst bewußt. Er sieht sich nicht nur Dingen der Außenwelt gegenüber, sondern kann auf seine eigenen Empfindungen, Gedanken und Handlungen reflektieren. Unser Selbstbewußtsein ist nicht nur notwendige Bedingung für die Frage nach uns selbst, mit ihm stellt sich diese Frage vielmehr unmittelbar, denn wenn wir für uns selbst zum Thema werden, so auch unsere Stellung in der Welt. Kraft unseres Selbstbewußtseins begreifen wir uns einerseits als Subjekt, das die Welt erfährt und handelnd in ihre Abläufe eingreift, ihr also gegenübersteht, andererseits bleiben wir aber doch Teil der Welt. Die philosophische Anthropologie betont gegenüber der biologischen zurecht, daß jedes brauchbare Menschenbild diesem Doppelaspekt Rechnung tragen muß. Der Mensch ist jedoch nicht bloß Thema einer einzigen philosophischen Teildisziplin, sondern der gesamten Philosophie. Um ihn geht es in der Philosophie von Sprache und Logik, in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, in Ethik und der Philosophie von Recht, Staat, Geschichte und Kunst. Daher ist das Projekt einer Anthropologie als philosophischer Teildisziplin verfehlt. Die Frage nach dem Menschen stellt sich darüber hinaus nicht nur in der Philosophie und den Wissenschaften, sondern sie steht auch im Zentrum der Religionen, der Dichtung und der bildenden Kunst. Auch wenn man die Frage philosophisch angeht, tut man gut daran, über den Rand der Philosophie hinaus zu blicken, denn sie ist eben kein spezifisch philosophi-
1.1 Die Frage nach dem Menschen
sches Problem, insbesondere kein bloß akademisches, sondern ein eminent praktisches, ja existentielles Problem. Auf die Frage nach dem Wesen des Menschen gibt es keine einfache Antwort. Der Mensch war sich selbst vielmehr immer ein Rätsel. Das zeigt schon die Vielfalt heterogener Antworten, die Religion, Philosophie und Wissenschaft gegeben haben, das breite Spektrum der Menschenbilder und der Deutungen menschlichen Daseins. Der Mensch erfährt sich als zutiefst ambivalent. Das drückt sich ζ. B. darin aus, daß er in vielen Mythen als Doppelwesen erscheint. Nach einem orphischen Mythos ist er aus der Asche der von Zeus durch einen Blitz verbrannten Titanen entstanden, die Dionysos zerrissen und verschlungen hatten, ist also aus Göttlichem und Irdischem gemischt. Auch andere Religionen sehen den Menschen als halb Gott, halb Tier oder als Zwischenwesen zwischen Gott und Tier. So wurde er auch oft in der Philosophie aufgefaßt. 1 Nach Genesis 2,7 ist der Mensch aus Lehm gebildet, aber Gott hat ihm seinen Lebensodem eingehaucht. Von dualistischen Konzeptionen wird die Ambivalenz im Wesen des Menschen durch die Verschiedenartigkeit von Geistigem und Materiellem erklärt. Für die Orphik ist das göttliche Element die Seele, das irdische der Körper. Der Körper wird als Gefängnis oder Grab der Seele bezeichnet, und da sie den Kern der Person darstellt, heißt das: Unsere irdische Existenz entspricht nicht der eigentlichen, der geistigen Natur des Menschen; in ihr kann sich sein Wesen nicht frei entfalten. Der Mensch ist durch Schuld — nach anderen Deutungen: durch eine kosmische Panne — in diese Gefangenschaft geraten. 2 Hesiod erzählt in den Werken und Tagen von einem Goldenen Zeitalter, einem paradiesischen Urzustand, in dem die Menschen frei von Leid und Not waren und in Gemeinschaft mit den Göttern lebten; durch Überhebung und Schuld sei menschliches Leben ι
Vgl. ζ. B . Heraklit, Frg. 82 und 83; Cicero, De legibus, I 25 und 59; Plo-
tin, Enneaden 111,2.8 (9—12). 2
Vgl. auch Plaçons Aussagen im Phaidon, 82 d—83 c und Staat, 611 c—d.
3
4
ι Größe und Elend des Menschen dann z u s e i n e m g e g e n w ä r t i g e n Z u s t a n d
heruntergekommen.
D i e Genesis erklärt unser leidvolles D a s e i n m i t d e m Sündenfall der ersten M e n s c h e n . Pascal spricht v o n der G r ö ß e u n d d e m E l e n d des M e n s c h e n u n d sagt: » D i e G r ö ß e des M e n s c h e n ist so sichtbar, daß sie sich sogar aus seinem E l e n d ableiten läßt, d e n n w a s für die T i e r e N a t u r ist, das n e n n e n w i r M e n s c h e n E l e n d ; da also h e u t e seine N a t u r j e n e r der T i e r e gleich ist, e r k e n n e n w i r daraus, d a ß er v o n einer besseren N a t u r gefallen ist, die i h m einst z u e i g e n war. D e n n w e r hält sich für unglücklich, w e n n er nicht K ö n i g ist, es sei d e n n ein entthronter K ö n i g ? « (409). Pascal sagt auch: » D i e G r ö ß e des M e n s c h e n besteht darin, daß er sein E l e n d erkennt. Ein B a u m e r k e n n t sein E l e n d nicht.« (397) 3 A u c h h e u t e h a b e n w i r k e i n einheitliches M e n s c h e n b i l d . W i e M a x Scheler sagt 4 , w i r d unser Selbstverständnis durch drei miteinander u n v e r b u n d e n e K o n z e p t i o n e n b e s t i m m t : D u r c h die Vorstellung v o m M e n s c h e n als E b e n b i l d G o t t e s aus der j ü d i s c h christlichen Tradition, durch die antike B e s t i m m u n g des M e n schen als V e r n u n f t w e s e n , u n d d u r c h die biologische Sicht des M e n s c h e n als P r o d u k t der natürlichen E v o l u t i o n . A u c h für uns steht der M e n s c h also z w i s c h e n G o t t u n d Tier. I n z w i s c h e n hat z w a r die naturwissenschaftliche A u f f a s s u n g die b e i d e n anderen in d e n H i n t e r g r u n d gedrängt, unser Selbstverständnis i m praktischen L e b e n widerspricht ihr aber w e i t h i n : T h e o r e t i s c h g e h e n w i r v o n einer kausalen B e s t i m m u n g unseres Verhaltens durch E r b a n l a g e n u n d U m w e l t e i n f l ü s s e aus, in der Praxis sehen w i r unsere H a n d l u n g e n u n d E n t s c h e i d u n g e n j e d o c h als frei an. W i r reden v o n Schuld u n d V e r a n t w o r t u n g , w ä h r e n d uns das i m Fall unserer nächsten V e r w a n d t e n , der Schimpansen, m i t d e n e n w i r 9 9 % unserer G e n e teilen, absurd erschiene. W i r reden v o n einer W ü r d e des M e n s c h e n , o b w o h l es dafür keinerlei biologische A n h a l t s p u n k t e gibt. 3
Pensees, zitiert nach Paragraphen in der Z ä h l u n g nach L. Brunschvicg:
Pascal, Pensées et opuscules, Paris 4
20I933.
Vgl. die Einleitung zu Scheler (1927).
1.1 Die Frage nach dem Menschen
Die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen ist freilich selbst problematisch — aus zwei Gründen. Auf den ersten hat schon Pascal hingewiesen. Er sagt: »Die Natur des Menschen läßt sich auf zwei Weisen betrachten: Einmal nach seinem Wesensziel, und ... dann nach der Menge.« (415) Im ersten Sinn ist das Wesen des Menschen ein Ideal; es beschreibt, was er sein kann und sein soll. Im zweiten Sinn beschreibt das Wesen den tatsächlichen Zustand aller oder der meisten Menschen. Vernunft etwa zeichnet nur in einem recht elementaren Sinn alle Menschen aus, in einem anspruchsvolleren Sinn hingegen ist Vernünftigkeit eine durchaus ideale Bestimmung. Entsprechendes gilt für andere Spezies oder Arten von Dingen, sofern für sie eine Funktion, ein Wert, ein Standard oder eine Norm erklärt ist. Ein Messer ist ζ. B. etwas, was sich gut zum Schneiden eignet, da es aber viele stumpfe Messer gibt, ist das eine ideale oder normative Bestimmung, keine deskriptive. Pascal betont nun, daß sich über das Wesen des Menschen ganz verschiedenes aussagen läßt, je nachdem, ob man es im idealen oder im deskriptiven Sinn versteht. In der Anthropologie muß man sich also entscheiden, was man tun will: Will man beschreiben, was allen Menschen tatsächlich gemeinsam ist, oder will man sagen, welche Möglichkeiten des Menschseins es gibt, was Menschsein bedeutet, wenn man es von seinen Gipfeln her sieht. Es gibt noch einen zweiten Grund, warum die Frage nach dem Wesen des Menschen problematisch ist. »Der Mensch«, sagt Arnold Gehlen, »ist von Natur ein Kulturwesen«. Das heißt: Er ist ganz entscheidend das, was er im Verlauf der kulturellen Entwicklung aus sich gemacht hat. In deren Verlauf ist die biologische Natur des Menschen (des homo sapiens) praktisch konstant geblieben, wir unterscheiden uns heute aber in unserem Denken, Handeln, Empfinden und Leben so weitgehend von den Menschen der Steinzeit, daß die biologische Natur offenbar nur einen kleinen Teil dessen festlegt, was für unser Leben wichtig ist. Die kulturelle Evolution ist nicht einfach die Fortsetzung
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ι Größe und Elend des Menschen der biologischen, d e n n in ihr spielt S e l b s t b e s t i m m u n g eine w i c h tige R o l l e . Ist der M e n s c h ein K u l t u r w e s e n , so hat er nicht, w i e andere Spezies, eine fest umrissene Natur, die alle für sein L e b e n u n d Verhalten w e s e n t l i c h e n D e t e r m i n a n t e n enthält. Er hat eine biologische Grundausstattung, aber in deren R a h m e n w a n d e l n sich seine Erkenntnisfähigkeiten, die F o r m e n seines Verhaltens, sein Verhältnis z u r U m w e l t , sein gesellschaftliches L e b e n , u n d feste B a h n e n u n d S c h r a n k e n seiner k ü n f t i g e n Entfaltung lassen sich nicht angeben. V o r 300 Jahren k o n n t e m a n die E n t w i c k l u n g von Wissenschaft und Technik, von Verkehr und K o m m u n i k a tion nicht voraussagen, die unser heutiges L e b e n g a n z entscheid e n d prägen. E b e n s o w e n i g k ö n n e n w i r sagen, w i e sich die M e n s c h h e i t in d e n nächsten 300 Jahren e n t w i c k e l n wird. I m Verlauf der kulturellen E v o l u t i o n beeinflussen w i r sogar die biologische. D i e T e c h n i k der G e n m a n i p u l a t i o n steht z w a r h e u t e erst a m A n f a n g , aber sie e n t w i c k e l t sich schnell u n d w i r d — trotz der V e r b o t e in einigen L ä n d e r n — a u f D a u e r v o r d e m M e n s c h e n nicht haltmachen. Indirekte Eingriffe in die E v o l u t i o n der eigen e n Species gibt es z u d e m schon lange: S t e i g e r u n g e n der U b e r lebensfähigkeit durch technische Hilfsmittel u n d durch soziale Fürsorge f ü r K r a n k e , A l t e u n d B e h i n d e r t e , die für sich allein nicht ü b e r l e b e n k ö n n t e n . H i n z u k o m m e n V e r ä n d e r u n g e n der U m w e l t . D a m i t w e r d e n g e w i s s e r m a ß e n die Selektionsbedingung e n u m g e k e h r t : D i e U m w e l t w ä h l t nicht j e n e Individuen aus, die ihr a n g e p a ß t sind, sondern die U m w e l t überlebt, die d e m M e n s c h e n angepaßt ist; der M e n s c h gestaltet seine U m w e l t so, w i e i h m das für seine Entfaltung nützlich erscheint. D i e Frage ist also nicht nur: »Was ist der Mensch?«, sondern: »Was k ö n n e n w i r u n d w a s w o l l e n w i r sein?« D i e Idee freier S e l b s t b e s t i m m u n g ist in der Renaissance v o n G i o v a n n i Pico della M i r a n d o l a in einer R e d e gefeiert w o r den, die später unter d e m T i t e l Über die Würde des Menschen (i486) erschienen ist. D e r S c h ö p f e r spricht dort z u A d a m : » K e i n e n bes t i m m t e n Sitz, k e i n e e i g e n t ü m l i c h e
Gestalt, k e i n
besonderes
l.i Die Frage nach dem Menschen
Erbe haben wir dir, Adam, verliehen, damit du hast und besitzt, was immer du als Wohnung, als Gestalt, als Wesensausstattung dir wünschst. Alle anderen Wesen in der Schöpfung haben wir bestimmten Gesetzen unterworfen. Du allein bist nirgends beengt und kannst dir nehmen und erwählen zu sein, was du nach deinem Willen zu sein beschließest. ... Nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich und auch nicht unsterblich haben wir dich erschaffen. Denn du selbst sollst, nach deinem Willen und zu deiner Ehre, dein eigener Werkmeister und Bildner sein und dich aus dem Stoff formen, der dir zusagt. So steht es dir frei, auf die unterste Stufe der Tierwelt herabzusinken, doch kannst du dich auch erheben zu den höchsten Sphären der Gottheit.« Faßt man all das, worauf das Bemühen um Selbstverständnis abzielt, in der Frage »Was ist der Mensch?« zusammen, darf man sie also nicht so verstehen, als ginge es um ein konstantes Wesen des Menschen. Sie zielt weniger auf Erkenntnis eines Gegebenen ab, als auf eine Entscheidung für die Zukunft; weniger darauf, was wir sind, als auf das, was wir sein und wie wir leben wollen. Sie ist daher vor allem eine existentielle Frage, in der es um die Orientierung des eigenen Lebens geht, und als solche wollen wir sie im folgenden erörtern. Existentielle Reflexionen sind primär eine Sache des einzelnen. Ihr Resultat sind nicht Aussagen, die Anspruch auf Zustimmung durch jedermann erheben wollen oder auch können. Es handelt sich nicht darum, welche Haltung zum Leben sich nach objektiven Kriterien allgemein empfiehlt, sondern welche Haltung für mich im Blick auf meine Erfahrungen und Einsichten und angesichts meiner konkreten Situation und meiner tiefsten Anliegen richtig und verantwortbar ist. Es gibt keine existentiellen Fragen, die sich jedem Menschen immer stellen, sondern sie stellen sich einer bestimmten Person in einer bestimmten Lage. Daher adressiert man seine existentiellen Überlegungen primär an sich selbst. Natürlich bestehen Gemeinsamkeiten im Erleben, in der
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8
ι Größe und Elend des Menschen
Lebenssituation, in den Anliegen, so daß Antworten, die der eine auf seine existentiellen Fragen findet, auch für andere hilfreich sein können. Die Antworten lassen sich aber jedenfalls nur beschränkt verallgemeinern. Ein Beispiel: In der letzten Strophe von Hyperions Schicksalslied beschreibt Hölderlin das Los des Menschen: Doch uns ist gegeben Auf keiner Stätte zu ruhen, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahrlang ins Ungewisse hinab. Die Strophe drückt persönliche Lebenserfahrungen Hölderlins aus, enthält aber keineswegs nur eine idiosynkratische Sicht menschlichen Schicksals. Diese Sicht hat sich vielmehr vielen Menschen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen aufgedrängt. Sie hebt zwar nur einen Aspekt menschlichen Lebens heraus, aber einen durchaus realen. Man kann den Wahrheitsgehalt des Bildes von den stürzenden Wassern anerkennen, selbst wenn man menschliches Leben insgesamt in freundlicheren Farben sieht. Dichterische Aussagen treten ja auch nicht mit dem Anspruch auf »So und nicht anders ist es!«; sie fällen keine generellen Urteile, sondern präsentieren Aspekte der Wirklichkeit für unser Erleben. 5 Das tut das Bild Hölderlins aber weit eindrucksvoller als begriffliche Bestimmungen es könnten. Das führt zu einer zweiten Beschränkung existentieller Aussagen: der Schwierigkeit, anderen den Gehalt bedeutsamer Erfahrungen, ihre Farbe und ihre Kraft, zu vermitteln. Der sachlich beschreibende Ausdruck bleibt hier oft völlig ungenügend. 5
Zur Unterscheidung verschiedener Darstellungsformen und ihrer spezi-
fischen Leistungen vgl. Kutschera (1988), IJ.
1.1 Die Frage nach dem Menschen
Wirkungsvoller ist es, wie bei Hölderlin, durch Bilder und Metaphern das eigene Erleben der Wirklichkeit für andere erlebnismäßig nachvollziehbar werden zu lassen. In der Philosophie kann man das Erleben wie das Erlebte nur in abstrakten Wendungen beschreiben, und dabei ist es oft schwer, nicht ins gehaltlos Allgemeine abzugleiten. Ein existenzphilosophischer Text erfordert daher vom Leser ein besonders hohes Maß an entgegenk o m m e n d e m Verständnis. Er m u ß seine eigenen Erfahrungen einbringen und zusehen, wie weit er damit die Aussagen mit Leben erfüllen kann — ebenso wie er im Blick auf ihre beschränkte Generalisierbarkeit immer prüfen muß, wie weit er sie sich zu eigen machen kann. Die Schwierigkeit liegt nicht nur in den Wörtern. Die Wirklichkeit, die wir begreifen wollen, ist derart groß, daß alle Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, und alles, was wir über sie sagen, letztlich hoffnungslos inadäquat ist. Dabei geht es nicht so sehr u m die riesigen äußeren Dimensionen und die überwältigende Vielfalt der Erscheinungen als u m ihre Bedeutungstiefe. In einem M o m e n t offenen Auges und Sinns kann in einer einzigen kleinen Blume der Glanz der Welt oder das W u n d e r des Lebens aufscheinen; in einer einzigen Szene des Abschieds kann menschliches Schicksal deutlich werden und der Schatten der Vergänglichkeit. Kein Wort kann das dann wiedergeben und kein Begriff es festhalten. Der Versuch, die großen Dinge ins Wort zu fassen, gerät leicht zur Phrase. Trotz aller Bemühungen ist sicher auch mir manche Formulierung mißraten und ich bin der Versuchung erlegen, große Worte zu machen, wo es u m große Inhalte geht. Ich hoffe aber, daß das, was ich sagen will, trotzdem verständlich ist. A m Eingang zum Apollon-Heiligtum in Delphi stand der Spruch Gnothi s'auton: »Erkenne dich selbst!« Sich selbst zu erkennen galt seit der Antike immer als eine der wichtigsten religiös-moralischen Forderungen. In Delphi hatte sie einen spezifisch religiösen Sinn. Man sollte sich des Unterschiedes zwischen
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ι Größe und Elend des Menschen
Mensch und Gott bewußt sein, die höhere Macht und das höhere Recht der Götter anerkennen, ihre Weisungen befolgen, das Schicksal aus ihren Händen annehmen, und sich ihnen gegenüber nicht überheben. Mit der Zeit verschwand diese religiöse Bedeutung und der Imperativ erhielt einen philosophischen Sinn. Schon Sokrates verstand ihn nicht nur als Aufforderung, sich der eigenen Grenzen bewußt zu werden, insbesondere des eigenen Nichtwissens, sondern auch als Aufruf, sich klar zu machen, worin der eigentliche Kern der Person besteht, das wahre Ich, und worauf es daher im Leben in erster Linie ankommt. Für ihn ging es so auch darum, sich den eigenen Wert und die eigenen Möglichkeiten zu vergegenwärtigen, nicht nur die Grenzen. Unser Alltagsbewußtsein erreicht der delphische Spruch heute kaum mehr. Die Forderung, sich selbst zu erkennen, nimmt sich reichlich merkwürdig aus. Rätsel geben uns weit eher unsere Mitmenschen auf, die Entwicklung der Märkte oder die Erklärung dunkler Materie im Weltraum. An uns selbst, scheint es, ist uns kaum etwas verborgen. Wir wissen für praktische Zwecke hinreichend genau, woher wir kommen, wohin wir gehen, und was unsere Stellung in Familie und Firma ist. Da klingt es dann doch reichlich exaltiert, wenn Pascal sagt: »Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, noch was die Welt ist, noch was ich selber bin; ich bin in einer furchtbaren Unwissenheit über alle Dinge; ich weiß nicht, was mein Leben ist, was meine Sinne sind, was meine Seele ist, ja selbst jener Teil von mir, der das denkt, was ich sage, der über alles und über sich selbst nachdenkt und sich nicht besser erkennt als das Übrige. Ich sehe diese furchtbaren Räume des Weltalls, die mich umschließen, und ich finde mich an einem Winkel dieser unermeßlichen Ausdehnung gebunden, ohne zu wissen, warum ich grade an diesen Ort gestellt bin und nicht an einen anderen, noch warum mir die kleine Zeitspanne, die mir zum Leben gegeben ist, gerade an diesem und nicht an einem anderen Punkt der
l.i Die Frage nach dem Menschen
ganzen Ewigkeit zugeordnet ist: der Ewigkeit, die mir voraufgegangen ist, und jener, die mir folgt. Ich sehe auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die mich umschließen wie ein Atom und wie einen Schatten, der nur einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Alles, was ich weiß, ist, daß ich bald sterben muß, aber was ich am allerwenigsten kenne, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht entgehen kann. Wie ich nicht weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht, wohin ich gehe; und ich weiß nur, daß ich beim Verlassen dieser Welt für immer entweder in das Nichts oder in die Hände eines erzürnten Gottes falle, ohne zu wissen, welche von diesen beiden Bedingungen für ewig mein Los sein muß. Das ist mein Zustand: voll Schwachheit und Ungewißheit.« (194) Robuste Alltagsgemüter, die von den Pascalschen Abgründen des Unwissens nicht beunruhigt werden, sind nicht die Adressaten existentieller Reflexionen wie der folgenden. Ich werde auch nicht versuchen, irgend jemandem zu demonstrieren, daß er sich auf existentielle Reflexionen einlassen sollte. Ich wende mich allein an jene, die dem eingangs zitierten Wort von Montaigne zustimmen und schon auf der Suche nach einem tieferen Selbstverständnis sind und daher auch bereit, sich ernsthaft auf die folgenden Überlegungen einzulassen. Sich ernsthaft einzulassen ist im Falle existentieller Reflexionen keine bloß intellektuelle Forderung. Im existentiellen Denken geht es um Orientierung für das eigene Leben, um praktische Entscheidungen, und wenn der Leser sich nicht auch seinerseits engagiert, wenn er sich nicht sagt: »Hier geht es um deine eigene Sache« und die Darlegungen für ihn allenfalls akademisches Interesse haben, oder wenn die Probleme, die erörtert werden, eben nicht seine Probleme sind, kommt er nicht wirklich in die Überlegungen hinein. Ähnlich ist es schon in der praktischen Philosophie: Ein Denken ohne Folgen für das eigene Tun, eine Erörterung von bloß sachlichen Problemen, bei denen die Antwort zu nichts verpflichtet, verfehlt hier den Sinn der
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Fragestellung. Wenn man der Frage nachgeht, was wir in Situationen der und der Art tun sollen, und findet, daß eine bestimmte unbequeme Alternative die moralisch richtige ist, so kann man, falls man sich selbst in einer solchen Situation befindet, nicht sagen: »Aber warum, schließlich, sollte ich moralisch sein?« Wie moralische Einsicht zum Handeln verpflichtet, so auch existentielle. In beiden Fällen geht es nicht nur darum zu erkennen, was ist, sondern darum, das als richtig Erkannte zu tun. In beiden Fällen gibt es — ich komme im nächsten Abschnitt noch ausführlicher darauf zurück — so etwas wie eine praktische Effektivität der Einsichten: Die Erkenntnis dessen, was richtig ist, erweist sich im moralischen wie existentiellen Fall als Kraft, die unser Handeln bestimmen kann — sonst könnten wir uns das Nachdenken von vornherein sparen. Existentielles Denken muß immer mit der Bereitschaft zusammengehen, sich in seinem Leben von Einsicht, von Vernunft leiten lassen.
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft Wir wollen uns im folgenden einige Grundphänomene wie Bewußtsein, Vernunft, Freiheit, Endlichkeit und Vergänglichkeit vergegenwärtigen und uns an ihnen einerseits die Größe und die Chancen menschlichen Lebens vor Augen stellen, andererseits aber auch seine Grenzen. Das sind zwar auch Themen der philosophischen Anthropologie, hier geht es uns aber nicht nur um eine theoretische Wesensbestimmung des Menschen, sondern um das, was Karl Jaspers als Existenzerhellung bezeichnet hat, um die existentiell relevanten Aspekte dessen, was sich vom Menschen sagen läßt. Die Schwierigkeit dabei besteht darin, daß diese Phänomene uns so vertraut sind und so allgemeine Züge menschlichen Daseins darstellen, daß es uns schwer fällt, ihre Bedeutung zu erkennen. Wir beginnen mit dem Bewußtsein. Bewußtsein ist immer Bewußtsein eines Subjekts, und vielfach ist es Bewußtsein von etwas, einem Objekt oder einem Sachverhalt, also intentio-
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
nal. Nur Subjekten ist etwas bewußt. Zum Subjekt gehört sicher mehr, als daß ihm etwas bewußt ist, Bewußtsein ist aber jedenfalls ein wesentliches und exklusives Merkmal von Subjekten. Dasjenige, was einem Subjekt bewußt ist, sind einerseits eigene Akte und Inhalte eigenen Wahrnehmens, Denkens, Wollens und Wünschens, eigene Empfindungen und Gefühle, also Eigenpsychisches, andererseits Tatsachen der Außenwelt wie z. B., daß N e w York an der Ostküste der U S A liegt, daß es gerade regnet, oder auch Fremdpsychisches, wie z. B. die gedrückte Stimmung von Hans, sowie abstrakte Sachverhalte wie der, daß 2+2=4 ist. Bewußtsein ist freilich nicht immer Bewußtsein von etwas; es ist nicht immer intentional. Schmerz-, Wärme- oder Helligkeitsempfindungen etwa sind nicht Empfindungen von etwas. Sie haben insbesondere keinen propositionalen Inhalt, sind also keine Formen des Bewußtseins vom Bestehen eines Sachverhalts. Demjenigen, der eine Empfindung hat, ist sie aber bewußt, denn es gibt keine unbewußten Empfindungen — Schmerzen, die ich nicht empfinde, sind nicht meine Schmerzen. Man kann Grade des Bewußtseins unterscheiden. Deutlich bewußt ist uns nur das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren; was wir bemerken. Während ich z. B. das, was mein Begleiter mir erzählt, sehr bewußt erfasse, berühren die Umweltgeräusche nur den Rand meines Bewußtseins; ich bemerke sie vielleicht zunächst gar nicht und werde mir ihrer erst später bewußt. Wir wollen hier keine Theorie des Bewußtseins entwikkeln, sondern uns vor allem die Bedeutung des Phänomens vor Augen stellen: Nur im Bewußtsein ist uns überhaupt etwas gegeben, zunächst einmal die äußere Welt. Unser einziger Zugang zu unserer Umwelt ist sinnliche Wahrnehmung, und die gibt es nicht ohne Bewußtsein. Nur kraft des Bewußtseins seiner eigenen psychischen Akte, Zustände und Vorgänge ist das Subjekt sich zweitens selbst gegenwärtig; in seinen Gefühlen und Aktivitäten erlebt es sich selbst. Bewußtsein ist nicht nur nach außen gerichtet, sondern auch nach innen. Es umfaßt das Selbstbewußt-
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sein; wir sind uns unserer selbst inne als des konstanten Bezugspunkts unseres Erlebens und als des konstanten Ausgangspunkts all unserer Handlungen. Wir erleben und verstehen uns selbst in einer bestimmten Weise, die ganz verschieden sein kann von der Weise, wie andere uns erfahren. Mit dem Bewußtsein entsteht eine Innenwelt, und während die Außenwelt eine gemeinsame Welt ist, hat jedes Subjekt seine eigene Innenwelt, die für andere nur indirekt zugänglich ist. Deutlicher als selbst die eigene Innenwelt ist uns allerdings meistens die äußere Wirklichkeit präsent, die Natur wie andere Personen. Philosophie beginnt nach Aristoteles damit, daß man über etwas staunt. Oft beginnt sie mit dem Staunen über Selbstverständliches, ζ. B. eben über das Phänomen des Bewußtseins. Im Bereich der Physik, der fundamentalen Naturwissenschaft, hat es keine Parallele. Zu den physikalischen Sachverhalten, daß physische Dinge bestimmte Eigenschaften haben oder in bestimmten Beziehungen zueinander stehen, kommen mit dem Auftreten von Subjekten ganz neue Sachverhalte hinzu, daß nämlich solche physikalischen Sachverhalte diesem und jenem Subjekt bewußt sind oder nicht, daß es glaubt, vermutet oder es in dem und dem Grade für wahrscheinlich hält, daß dieser und jener physikalische Sachverhalt besteht. Die Realität erhält damit neue Dimensionen. Mit dem Auftreten von Subjekten erhält die Wirklichkeit gewissermaßen neue Freiheitsgrade. Kraft ihres Bewußtseins, in dem ihnen etwas anderes, Außeres oder Inneres, präsent sein kann, unterscheiden sich Subjekte fundamental von den Objekten der Physik. Bewußtsein ist ein aus anderem unableitbares und unerklärbares Phänomen. Es ist nicht definierbar und auch schwer zu erläutern — wir könnten es trivialerweise niemandem begreiflich machen, der es nicht hat. Da Bewußtsein für uns als Subjekte konstitutiv ist, können wir nicht auflisten, welchen Gewinn wir daraus ziehen — ohne Bewußtsein würden wir als Subjekte ja gar nicht existieren. Trotzdem kann man von dem Wert reden, den Bewußtsein für uns hat: Es ist die Helligkeit der
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
Wirklichkeit für uns, die Bedingung , daß es für uns eine Welt und uns selbst gibt. Seine Bedeutung wird uns häufig erst angesichts von Bewußtseinstrübungen deutlich, wie sie sich ζ. B. unter der Einwirkung von Krankheiten oder Medikamenten einstellen. Auch Steigerungen des Bewußtseins können uns aber das Phänomen und seinen Wert verdeutlichen, also Zustände besonderer geistiger Klarheit, intensiven Erlebens von Natur oder Kunst, oder des Evidentwerdens von Zusammenhängen, seien sie historischer, psychologischer oder mathematischer Art. Bewußtsein ist eng mit Sprache verbunden. 6 Das gilt insbesondere für intentionales Bewußtsein, denn über propositionale Inhalte verfügen wir erst mit einer Sprache. Das heißt aber: Gegenständliches Bewußtsein im vollen Sinn können wir nur Lebewesen zuschreiben, die über eine Sprache verfügen, praktisch also nur uns Menschen. Da für uns ferner Bewußtsein vor allem intentionales Bewußtsein ist, ist Bewußtsein, wie wir es kennen, eine spezifisch menschliche Sache. W i r schreiben zwar ζ. B. auch Hunden Freude, Angst, Zuneigung, Wünsche und Absichten zu, bei der Übertragung von Vokabeln, die für menschliches Erleben erklärt sind, auf Tiere sollte man aber doch sehr vorsichtig sein — wir haben eben letztlich keine Ahnung, wie etwa ein Hund die Welt erlebt und wie es ist, ein Hund zu sein. Unser seelisches Leben jedenfalls ist insgesamt sehr stark durch unser Denken und unsere Sprache geprägt. Bewußtsein ist also die Bedingung, daß es für uns etwas gibt — uns selbst ebenso wie die Außenwelt. Es ist die fundamentalste Bedingung für unser Erkennen, ja unser Subjektsein. Die Weltoffenheit des Menschen, von der die Anthropologie redet, setzt Bewußtsein voraus, geht aber darüber hinaus. Weltoffenheit heißt erstens, daß das Fenster unserer Sinne und unseres Verstandes, durch das wir die äußere Welt sehen, so groß ist, daß wir weit 6
Vgl. dazu Kutschera (1998), Kap. 3.
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mehr erkennen als für uns aufgrund unserer vitalen Bedürfnisse von Interesse ist, mehr als Beutetiere und Feinde, Hindernisse, Zugänge oder Verstecke. Nach Jakob von Uexküll haben Tiere artspezifische Umwelten, die sich jeweils auf das für sie biologisch Relevante beschränken. Weltoffenheit heißt, daß unsere Welt keine solche Umwelt ist. Wir gehen sogar meistens davon aus, daß wir prinzipiell die ganze Wirklichkeit erkennen können. Aristoteles sagt: »Alles, was existiert, ist entweder wahrnehmbar oder denkbar«.7 Die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens sind für uns naturgemäß die Grenzen j e ner Wirklichkeit, die uns zugänglich ist, die wir begreifen und über die wir sinnvoll reden können. Trotzdem ist die Annahme, es gebe auch jenseits dieses unseres Erkenntnishorizonts etwas, sinnvoll und nicht zu widerlegen. Daher ist die aristotelische These keineswegs selbstverständlich. Sie ist vielmehr Ausdruck eines starken Erkenntnisvertrauens, dessen Berechtigung zunächst einmal durch nichts garantiert wird. Weltoffenheit besagt zweitens, daß unser Interesse an der Wirklichkeit sich nicht nur auf den kleinen Ausschnitt dessen beschränkt, was für uns biologisch wichtig ist. Nun gibt es zweifellos für jeden von uns zahllose Dinge, für die er sich persönlich nicht interessiert. Für ein umfassendes Interesse würden schon unsere individuellen geistigen Kapazitäten nicht ausreichen. Es gibt Menschen mit sehr weit gespannten Interessen, prinzipiell schrankenlos ist aber nicht das Interesse einzelner, sondern nur das der Menschen in einem kollektiven Sinn. Es gibt wenig, wofür sich die Wissenschaften nicht interessieren. So uninteressiert der einzelne sein mag, der Mensch ist von einer grenzenlosen Neugier. Wenn wir uns an den Unterschied zwischen Zustand und Ideal erinnern, können wir aber auch von der Weltoffenheit des einzelnen als einer prinzipiellen Interessiertheit für alles Wirkliche reden. 7
De anima, III.8.
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
Dieses Konzept der Weltoffenheit ist noch in einem Punkt zu ergänzen: W i r interessieren uns — keineswegs immer, aber wiederum idealiter — für das Wirkliche u m seiner selbst willen. Der Normalfall ist das freilich nicht, für keinen von uns. Normalerweise verfolgen wir vielmehr bestimmte Ziele, suchen dies zu erreichen und jenes zu vermeiden, und interessieren uns für die Dinge oder Ereignisse, die uns dabei begegnen, nur soweit, als ihre Existenz für das relevant ist, was wir gerade vorhaben. Es gibt aber jedenfalls auch viele Fälle, in denen wir uns für die Sache selbst interessieren, ganz unabhängig von praktischen Zwecken. Dieses Interesse hat Aristoteles als theoretisch bezeichnet — für ihn ist eine theoretische Betrachtung also eine zweckfreie, nur auf die Sache selbst abzielende Betrachtung, unabhängig davon, ob sie Wertaspekte einschließt oder nicht. Im theoretischen Interesse, d e m Interesse an Erkenntnis, sah Aristoteles das Spezifische des Menschen, und das höchste menschliche Glück war für ihn theoria, die Schau des Wahren und Guten. Hinter dieser Konzeption steht eine grundsätzlich positive Sicht der Realität: Die Wirklichkeit ist, zumindest in ihren Grundstrukturen, gut, ja sie ist ein derart reicher Komplex sinnvoller Teile und Beziehungen, daß sie für den Betrachter eine unerschöpfliche Quelle reinster Freude ist. A m Anfang der Aristotelischen Metaphysik steht der Satz: »Alle Menschen streben von N a tur aus nach Erkenntnis«. Aristoteles betont, daß uns nicht nur an Informationen gelegen ist, die wir für ein erfolgreiches Handeln benötigen, sondern daß Erkenntnis für uns u m ihrer selbst willen wertvoll ist. Tatsächlich spielt ja z . B . auch die praktische Verwendbarkeit der Resultate bei philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen vielfach eine ganz untergeordnete Rolle, und die Intensität dieser Bemühungen, das außerordentliche Maß an Zeit und Anspannung, das viele Wissenschaftler in ihre Arbeit investieren und das auch Aristoteles selbst investiert hat, gibt dem Satz aus der Metaphysik sein Gewicht. Es ist wiederum wichtig, das Phänomen der Weltoffenheit wirklich zu sehen, es vom Staub des vermeintlich Vertrauten zu
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befreien. Vergegenwärtigen wir uns daher für einen Augenblick die ungeheuren Dimensionen unseres heutigen wissenschaftlichen Weltbilds in Raum und Zeit. Heute ist nicht nur die gesamte Erdoberfläche erforscht, sondern weitgehend auch der Meeresboden bis in größte Tiefen und die Atmosphäre bis in die höchsten Höhen. Fotografische Aufnahmen aus Raumschiffen und -Stationen zeigen uns das Bild unserer Erde im Weltraum, und verändern damit unser Bewußtsein: Die Erde, der Ort unseres Lebens, steht für uns nun auch ganz anschaulich nicht mehr im Mittelpunkt der Welt. Menschen waren auf dem Mond, Sonden liefern uns immer genauere Informationen über andere Planeten, immer größere Teleskope erschließen uns unsere eigene Galaxie und lassen uns unzählige andere Sternsysteme sehen. Wir empfangen Signale von Galaxien, die uns Kunde von ihrem Entstehen vor über 10 Milliarden Jahren geben, und wir machen uns immer genauere Vorstellungen vom Kosmos in seinen ungeheuren, sich jeder Anschauung entziehenden Dimensionen. Andererseits ist die Wissenschaft auch ins unsichtbar und unvorstellbar Kleine vorgedrungen. Sie hat Mikroorganismen im Mikroskop sichtbar gemacht und die Struktur von Zellen. Wir haben genaue Vorstellungen vom Aufbau von Molekülen und Atomen und experimentieren mit Elementarteilchen, die sich in ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten wiederum jeder Anschauung entziehen. Wir gewinnen auch ein immer genaueres Bild der zeitlichen Entwicklung der menschlichen Geschichte und des Entstehens und Vergehens zahlreicher Kulturen, dem Werden der menschlichen Art, der biologischen Evolution, angefangen von den einfachsten Organismen vor über 3 Milliarden Jahren. Wir haben Theorien über die Erdgeschichte, die Entstehung unseres Planetensystems, von Sternen und Sternsystemen, von Elementen, ja es gibt recht detaillierte Theorien über das, was in der ersten io 4 °-tel Sekunde nach dem Urknall passiert ist. Wenn man sich all das vor Augen hält, gewinnt man eine Vorstellung davon, was Weltoffenheit bedeutet, wie weit sich
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
unsere Welt von der Umwelt von Tieren unterscheidet, und wie wenig unser Erkenntnisinteresse noch mit vitalen Bedürfnissen zu tun hat. Die älteste Wesensbestimmung des Menschen ist die eines vernunftbegabten Lebewesens. Vernunft ist zunächst einmal ein Komplex von Fähigkeiten des Wahrnehmens, Denkens, Sprechens, Urteilens, Schließens, Verstehens, usf. Ich will nicht versuchen, das genauer aufzulisten. W i r alle haben ein intuitives Verständnis des Gemeinten, das wir hier zugrunde legen können. Ich will vielmehr von der Formel ausgehen: Vernunft ist Fähigkeit und Bereitschaft, sich am objektiv Richtigen zu orientieren. Das objektiv Richtige soll dabei nicht nur das Wahre umfassen, sondern auch das objektiv Gute und Schöne. Als Fähigkeit, sich am objektiv Richtigen zu orientieren, ist Vernunft erstens die Kraft, es zu erkennen. Sie ist zweitens auch die Möglichkeit, dem Erkannten zu folgen, die Freiheit, sich für das zu entscheiden, was man als richtig erkannt hat. Als Bereitschaft, sich am objektiv Richtigen zu orientieren, gehört zur Vernunft drittens Weltoffenheit als Interesse am Wahren, Guten und Schönenjenseits bloß persönlicher Neigungen und Bedürfnisse. Das Wort »Interesse« ist hier allerdings etwas blaß, denn von »Interessen« reden wir heute auch dann, wenn sie völlig unverbindlich bleiben; man »interessiert« sich ζ. B. für ein soziales Projekt, ohne bereit zu sein, etwas dafür zu tun. W e n n wir hier vom Interesse am Guten reden, ist mehr gemeint: Anteilnahme und Engagement. »Vernunft« in dem herausgehobenen Sinn, indem wir das Wort hier verwenden, meint mehr als Intelligenz und breit gefächerte Neugier. Zur Vernunft gehört Freude am Wahren, Schönen und Guten, und ein Bewußtsein der Verantwortung dafür. Formeln wie unsere für Vernunft sind meist wenig informativ und für viele Zwecke zu vage. Unsere Formel lenkt aber jedenfalls den Blick aufs Wesentliche, auf das Phänomen, das im Zentrum der folgenden Überlegungen steht. Kraft unserer
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Weltoffenheit, der Offenheit und Empfänglichkeit für alles Wirkliche, erschließt sich uns die Fülle der objektiven Wertund Sinngestalten, denn Großes, Gutes und Schönes finden wir eben meist nicht im eigenen Innern, sondern in der Welt, die uns umgibt. Das W u n d e r der Vernunft ist, daß wir Anteil nehm e n können an dieser größeren Wirklichkeit, daß wir unsere zunächst auf uns selbst und unseren eigenen Nutzen zentrierten Interessen erweitern, so daß uns am Dasein und Schicksal anderer Menschen gelegen ist — nicht nur der uns Nahestehenden — , dann aber auch an großen geschichtlichen Vorgängen — selbst wenn wir in ihrem Windschatten leben — und am Reichtum der Gestalten und Entwicklungen in der Natur. Die Stoiker haben das als Oikeiosis bezeichnet, und dieses Ideal der Ablösung partikulärer Eigeninteressen durch eine universelle Anteilnahme an der gesamtem Wirklichkeit in all ihren Erscheinungen war das Zentrum ihrer Anthropologie und Ethik. Oikeiosis ist Vertrautwerden und Sichanfreunden. Das stoische Ideal meint also ein sich Befreunden mit der ganzen Welt, bei der das Eigene zunehmend nur mehr als der kleine Teil gilt, der es im Ganzen tatsächlich ist. Der Begriff der Vernunft als Fähigkeit und Bereitschaft, so über die Selbstbezogenheit hinauszugehen, entspricht dem Vernunftverständnis der großen antiken und mittelalterlichen Philosophie. Seit dem Beginn der neuzeitlichen Philosophie hat sich der Vernunftbegriff jedoch verengt, und das was man heute meist als »Vernunft« oder »Rationalität« bezeichnet, ist vom einstigen Ideal weit entfernt. Charakteristisch für den modernen Begriff des Vernünftigen ist sein prozeduraler Charakter. Rational ist, was gewissen etablierten Regeln des Denkens entspricht. Rationale Argumente sind ζ. B. jene, die den N o r m e n deduktiven oder induktiven Schließens genügen, rationale empirische Urteile sind jene, die nach den Methoden der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen gewonnen wurden. Diese Bestimmung des Regelhaften geht auf das methodologische Programm
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
der neuzeitlichen Philosophie zurück. Francis Bacon und Rene Descartes haben versucht, die Wissenschaften auf eine neue Grundlage zu stellen und ihren Fortschritt gewissermaßen durch eine Dressur der Vernunft zu sichern: Dann, aber auch nur dann, wenn man sich auf den von ihnen vorgezeichneten Wegen hält, sollte ein kontinuierlicher, sicherer Fortschritt der Erkenntnis möglich werden. Descartes Regulae ad directionem ingenii sind freilich recht nebulös und daher in konkreten Fällen wenig hilfreich, manchmal sogar eher hinderlich. Die neuzeitliche Wissenschaft hat ihre Leistungen erbracht, ohne sich u m solche Regeln viel zu kümmern, insbesondere ohne sich dadurch Beschränkungen auferlegen zu lassen. Vernunft läßt sich aber auch prinzipiell nicht auf Regeln bringen. Erstens ist, wie schon Kant gesehen hat, auch die richtige Anwendung einer Regel auf den Einzelfall eine Sache der Vernunft, und die kann offenbar nicht wiederum allgemein geregelt werden. Zweitens ist Vernunft kreativ, und Kreativität ist gerade das, was sich nicht auf Regeln bringen läßt. Die Wirklichkeit bildet sich weder nach kausalen noch nach logischen Gesetzen in unser Bewußtsein ab. Selbst wenn bei einfachen Beobachtungen wenig an Deutung im Spiel sein mag, so determinieren sie unsere Ansichten über die Welt doch nicht nach irgendwelchen Kriterien der Rationalität, z. B. nach Prinzipien induktiven Schließens. Das hat insbesondere Karl Popper immer wieder betont. Für ihn sind Theorien kreative Entwürfe, und systematische Beobachtungen sind erst aufgrund von Theorien möglich. Nach Popper sehen wir die Welt, zumindest wissenschaftlich, nur im Lichte von Theorien, und ohne Theorien sehen wir gar nichts. A m Anfang unserer theoretischen Auseinandersetzung mit der Welt steht also nicht die Anwendung von Denkregeln, sondern die Kreativität der Vernunft. Zur Vernunft gehört ferner die Fähigkeit zu sehen, zu hören, wahrzunehmen, was ist. Es gibt Kriterien der Rationalität für Argumente, aber kaum für Wahrnehmungen. Ein rationaler Maßstab dafür, ob wir von einem gegebenen Eindruck »So
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scheint es« zum Urteil »So ist es!« übergehen sollen, ist lediglich die Verträglichkeit dieses Urteils mit unseren vorgängigen Annahmen, mit unseren Vor-Urteilen, wenn wir diesen Ausdruck einmal wörtlich verstehen. Wollten wir uns aber immer nur nach denen richten, so könnten wir nie wirklich Neues lernen, nie die Falschheit alter Ansichten erkennen. Vernunft ist auch Perzeptivität, die Fähigkeit, etwas auch unabhängig von unseren Vorurteilen oder gegen sie als wahr zu akzeptieren; zu sehen, daß etwas so oder so ist. Das deutsche Wort »Vernunft« kommt von »vernehmen«. Vernunft ist vor allem auch die Fähigkeit, etwas zu vernehmen, sich etwas sagen zu lassen, ι Kön 3,9 erzählt, wie Salomon Gott um Weisheit für sein Königsamt bat; er erbat sich ein »hörendes Herz«. Das ist ein großartiger Ausdruck für das, was ich hier unter Perzeptivität verstehe, der insbesondere auch die Empfänglichkeit für das Richtige und Wertvolle einschließt. Ohne Perzeptivität, ohne die Fähigkeit, Neues zu sehen und Wirkliches anzuerkennen, kämen die regelgeleiteten Ratiocinationen des Verstandes gar nicht in Gang. A m gravierendsten ist jedoch die neuzeitliche Einschränkung des Vernunftbegriffes in dem Punkt, daß der Vernunft die Zuständigkeit für die Bestimmung von Zielen und Präferenzen genommen wird. Das hängt damit zusammen, daß sich heute der Wertsubjektivismus weithin durchgesetzt hat.8 Danach gibt es keine objektiven Werttatsachen, kein objektives Gut oder Schlecht, Schön oder Häßlich. Die Wirklichkeit an sich ist wertneutral, positiven oder negativen Wert hat sie nur für ein Subjekt im Licht von dessen Interessen. Bekannt ist Humes Diktum, der Wert der Dinge werde ihnen von uns verliehen, indem wir sie »vergolden oder einschwärzen mit den Farben, die unserer inneren Einstellung entnommen sind«.9 Sind Werte immer subjektiv, so gibt es kein Erkennen von und kein Orientieren an objektiv 8
Vgl. dazu Kutschera (1999), Kap. 4—7.
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Hume, Enquiries Concerning the Principle of Morals, Anhang I, Sect. 246.
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
Gutem und Schönem. Vernunft als Sinn fürs Objektive hat es dann nur mit wertneutralen Fakten zu tun, so daß ihre Funktion für unser Handeln sich auf die intelligente Wahl der Mittel und Wege bezieht, mit bzw. auf denen wir unsere Ziele am besten erreichen. H u m e sagt: »Reason is, and ought only to be, the slave of our passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.« 1 0 In dieser Aussage Humes steckt mehr als die Behauptung der Unzuständigkeit der Vernunft für die Wahl unserer Ziele. Sie besagt auch, daß die Triebfedern unseres Handelns allein unsere Leidenschaften sind, gegen die Vernunft nichts ausrichten kann. Ein ganz anderes Bild der Vernunft begegnet uns bei Piaton. Für ihn ist sie nicht nur zuständig für die Wahl der Ziele unseres Handelns, sondern hat die Kraft, das als richtig Erkannte auch gegen unsere Antriebe, Wünsche und Empfindungen durchzusetzen. Sie ist Herr im Hause. Im Protagoras (352 b-c) läßt er Sokrates sagen: »Die meisten denken von der Erkenntnis ungefähr so, daß sie nichts Starkes, nichts Leitendes und Herrschendes ist. Sie achten sie auch gar nicht als solches, sondern meinen, daß, wenn auch Erkenntnis im Menschen ist, sie ihn doch oft nicht beherrscht, sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald Unlust, manchmal Liebe, oft auch Furcht. So denken sie offenbar von der Erkenntnis wie von einem Sklaven, daß sie sich von allem anderen herumzerren läßt. Glaubst nun auch du so etwas von ihr, oder vielmehr, sie sei etwas Schönes, das den Menschen regiere, und wenn einer Gutes und Schlechtes, erkannt habe, werde er von nichts anderem mehr bezwungen werden, irgend etwas anderes zu tun, als was seine Erkenntnis ihm befiehlt, und Einsicht sei fähig, dem Menschen durchzuhelfen ? « Bewußtsein, Weltoffenheit und Vernunft zeichnen uns als M e n schen aus. Für die weiteren Überlegungen ist es wichtig einzuse10
Hume, A Treatise of Human Nature, Buch 2, III.3.
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hen, daß sie aus unserer physischen Natur nicht ableitbar oder erklärbar sind — davon war oben schon kurz die Rede. Das ist nun ein höchst kontroverser Punkt, widerspricht doch diese Behauptung der herrschenden Weltanschauung, der — jedenfalls unter Philosophen und Humanwissenschaftlern — quasi offiziellen Doktrin von Materialismus und Naturalismus. D e s w e g e n erfordert die Behauptung eine ausführliche Begründung. D i e habe ich aber schon an anderen O r t e n gegeben, und darauf m u ß ich hier verweisen. 1 1 K u r z gesagt ist Bewußtsein deswegen physikalisch nicht erklärbar, weil die Physik nur die Inhalte, nicht aber die Subjekte von Beobachtungen beschreibt. D i e kann man nicht als Teile der untersuchten Systeme betrachten, weil die Anzahl der möglichen epistemischen Einstellungen zu den Sachverhalten einer bestimmten M e n g e — hier also zu den physikalischen Sachverhalten — immer wesentlich größer ist als die Zahl dieser Sachverhalte selbst. Es gibt ferner keine vollständige physikalische Theorie des Denkens, weil es überhaupt keine vollständige Theorie des Denkens geben kann. Eine solche Theorie müßte j a auch unser Verständnis der Sprache beschreiben, in der die Theorie formuliert ist. Eine Sprache, die für die Beschreibung einer anderen Sprache, deren Regeln und Bedeutungen, geeignet ist, m u ß j e d o c h aus logischen Gründen immer reicher sein als diese. D i e zahlreichen angeblichen physikalischen oder biologischen Erklärungen von Bewußtsein, D e n k e n und Erkennen, die man in der Literatur findet, beruhen einfach darauf, daß man die W ö r t e r »Bewußtsein« oder »Erkennen« so umdeutet, daß die dann damit bezeichneten Phänomene in den Zuständigkeitsbereich der Physik bzw. Biologie fallen. »Erkenntnis« wird ζ. B. umgedeutet in »Angepaßtsein«, so daß etwa der Pferdehuf, der
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Zur Kritik am Materialismus vgl. Kutschera (1993), Kap. 1; (1994 a);
(1998), 6.2. Z u m Wertrealismus vgl. (1994 b); (1998), 7.3; (1999), Kap. 5 und 6.
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
der Steppe angepaßt ist, diese »erkennt«. Erkenntnis, das steht dann fest, ist ein Produkt der natürlichen Evolution. 12 Unsere Weltoffenheit ist biologisch ebenfalls nicht erklärbar. Weltoffenheit heißt ja nicht nur, daß die Umwelt des Menschen im Sinne Uexkülls besonders groß ist — das ließe sich evolutionär sicher irgendwie plausibel machen. Weltoffenheit setzt vielmehr erstens voraus, daß sich der Mensch einen energetisch außerordentlich aufwendigen kognitiven »Apparat« leistet, der für seine biologischen Bedürfnisse viel zu groß ist, und das ist evolutionstheoretisch kaum zu erklären. Zweitens heißt Weltoffenheit, daß wir an unzähligen Dingen Interesse nehmen, die uns biologisch gesehen gar nichts angehen, die insbesondere unseren Reproduktionerfolg nicht steigern. Daß uns irgendetwas bewegen sollte, unsere eigenen vitalen Bedürfnisse der Sorge für andere Menschen unterzuordnen, von denen wir keine Vorteile zu erwarten haben, oder dem Streben nach zweckfreier Erkenntnis, muß bei einer rein biologischen Sicht des Menschen völlig unverständlich bleiben. Damit ist auch schon das wesentliche zur Vernunft gesagt. Biologisch gesehen bleibt das Phänomen der Oikeiosis unbegreiflich: Das Hinausgehen über sich selbst und die eigenen Belange, das kognitive wie praktische Anteilnehmen an Personen und Dingen, die für unser eigenes Leben, unser Überleben und Wohlergehen, unsere Sicherheit und unser Fortkommen völlig gleichgültig sind, die Sorge für andere, von denen wir selbst keine Vorteile zu erwarten haben, der Einsatz für Gemeinschaftsprojekte, die erst nach unserem Tod Frucht tragen werden, die interesselose Freude am Schönen — kurz all das, was den Menschen im eigentlichen Sinn ausmacht und was wir hier pauschal »geistig« nennen wollen. Naturwissenschaftlich unerklärt bleibt schon, wie Bewußtsein, Denken und Sprache entsteht, vor allem aber, wie ein Wesen entstehen konnte, das über 12
Vgl. K. Lorenz (1973), Kap.I.
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den Sinn seiner eigenen Existenz nachdenkt, für das Gut und Schlecht nicht einfach mit Nützlich und Schädlich zusammenfallen, sondern dem das Nützliche erst nach dem Guten kommt, und das sogar den Wert und Sinn des eigenen Lebens an objektiven Maßstäben mißt. Das Rätsel, das der Mensch sich immer war, kommt nur dem in den Blick, der erstens überhaupt sieht, was ein Mensch im vollen Sinn des Wortes ist, der also insbesondere sieht, was das ist: Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft. Zweitens muß er sich darüber klar sein, daß all das sich nicht mit dem A B C der Physik und Biologie erklären läßt, daß Menschsein nicht nur ein bißchen mehr ist von dem, was wir auch bei Ratten und Affen beobachten können. Das Rätsel entsteht vielmehr gerade durch die Diskrepanz zwischen unserer biologischen und unserer geistigen Natur. Vernunft ist ein erstes Beispiel für Größe und Elend des Menschen. Bewußtsein öffnet uns den Zugang zu einer größeren Wirklichkeit, an der wir kraft unserer Weltoffenheit auch Anteil nehmen. W i r freuen uns an den Formen und Farben der Dinge in ihrer unerschöpflichen Vielfalt, über Pflanzen und Tiere, Landschaften, das Spiel der Wolken oder der Wellen, den Wechsel von Licht und Schatten, den Wandel der Jahreszeiten — den Glanz der Welt in der Fülle ihrer Erscheinungen. Der Wert des Naturerlebens liegt dabei nicht nur in den Dingen, sondern auch in der Weise, wie wir sie sinnlich erfahren, im Spüren von Wärme, Wasser oder Wind, im Schauen und Hören selbst und dem Einklang mit der Natur, den wir dabei fühlen. Im Bewußtsein erschließt sich uns ferner die seelisch-geistige Innenwelt, die Tiefe und der Reichtum der Gefühle und Strebungen. W i r freuen uns über Einsichten, auch w o sie keine praktische Bedeutung haben, über Intelligenz, Phantasie und Kreativität, die Fähigkeit, uns sprachlich auszudrücken und flüchtigen Gefühlen oder Gedanken in sprachlicher Formulierung Gestalt und Dauer
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zu geben. Insbesondere die Romantiker haben hervorgehoben, daß sich uns im eigenen Innern eine fast ebenso reiche Welt eröffnet wie draußen in der Natur. Kraft unserer Vernunft haben wir endlich die Möglichkeit, uns in unserem Handeln und Leben an den objektiven Werten, die wir erkennen, zu orientieren, uns für Ziele zu engagieren, die über unsere privaten Belange und unsere individuelle Existenz weit hinausgehen. Durch unsere Vernunft haben wir die Fähigkeit zur Oikeiosis, zur Anteilnahme an allem, was in der Welt geschieht. Die großen Möglichkeiten der Vernunft lassen andererseits ihre tatsächlichen Mängel deutlich hervortreten. Bedrükkend ist schon der Mangel an Intelligenz, bei uns selbst wie bei anderen, und das vermeidbare Ausmaß unseres Nichtwissens. Bedrückender noch ist die Interesselosigkeit am Wahren und Guten, nicht nur die verbreitete Unfähigkeit, objektiv zu urteilen, sondern die noch verbreitetere Unwilligkeit, das zu tun — wiederum: auch bei uns selbst. Uns belastet ferner die praktische Schwäche der Vernunft, das Unvermögen das als richtig Erkannte und an sich auch Gewollte, tatkräftig zu realisieren. Wir leiden aber auch unter prinzipiellen Grenzen unserer Erkenntnis, dem Maß an Unsicherheit, an Dunkel, das trotz aller Bemühungen um Aufhellung bleibt — gerade auch in Fragen, von denen das Gelingen unseres Lebens abhängt. Erkenntnis zielt auf das, was objektiv gilt, was objektiv wahr ist oder gut. Das Objektive ist aber das, dessen wir nie definitiv sicher sein können. Das ist der Kern der Skepsis, die von Anfang an alle philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen begleitet hat. »Alle Menschen streben von Natur aus nach Erkenntnis«, haben wir Aristoteles zitiert. Die Fähigkeit des Menschen, zu sicheren Einsichten zu gelangen, ist jedoch immer wieder bezweifelt worden. A m Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. war die Klage über die Unfähigkeit des Menschen, zuverlässige Erkenntnis zu erreichen, ein fester Topos der griechischen Dichtung. Allein die Götter verfügten über sichere Erkenntnis, hieß es, wir
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Menschen seien hingegen auf Vermutungen angewiesen, die sich immer wieder als falsch erwiesen; wir könnten nichts wissen und unsere Suche nach Wissen bliebe vergeblich. Theognis sagt: »Wir raten vergeblich herum, wissen aber nichts.« Das Fragment 28 von Heraklit lautet: »Nur Meinung ist, was selbst der Angesehenste erkennt und vertritt.« Xenophanes sagt im Fragment 34: »Und Genaues weiß freilich kein Mensch, und es wird auch nie jemanden geben, der es weiß von den Göttern und was ich nur immer nenne. Denn wenn es ihm auch im höchsten Maß gelänge, vollendet Wahres zu sagen, wüßte er das doch nicht. Denn Schein haftet an allem«. 13 Mit dem Aufblühen der Mathematik, in der zuerst strenge Beweise möglich waren und sich Theorien, ausgehend von einfachen, evidenten Axiomen, rein deduktiv aufbauen ließen, schien sich dann jedoch auch dem Menschen die Möglichkeit von Erkenntnis mit einer gewissermaßen göttlichen Sicherheit zu eröffnen. Damit und mit der Entfaltung anderer Wissenschaften machte sich ein Erkenntnisoptimismus breit. Aristoteles wandte sich gegen die alten Dichter, wenn er sagte, Gott sei nicht eifersüchtig auf unser Wissen und könne es uns nicht neiden. 1 4 Aufgrund der enormen wissenschaftlichen Erfolge seit dem 19. Jahrhundert herrscht auch heute weithin ein unbegrenztes Vertrauen auf unsere Erkenntnisfähigkeit und einen schrankenlosen Erkenntnisfortschritt. Trotzdem war und blieb die Skepsis selbst in optimistischen Zeiten eine konstante Unterströmung der europäischen Geistesgeschichte, und sie ist auch immer wieder einmal zur Hauptströmung geworden. Piatons Akademie wurde seit der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. zum Hort der Skepsis — wissenschaftliche Philosophie schien nur in dieser Form noch möglich zu sein. Descartes, einer der Begründer der neuzeitlichen Philosophie, ein bedeutender Mathematiker und 13
Vgl. dazu E. Heitsch (1983), S. 173 ff. und Kutschera (1983).
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Metaphysik I, 2,12 (982 bîç—983 as).
1.2 B e w u ß t s e i n , Weltoffenheit, Vernunft
Naturwissenschaftler, wurde von Zweifeln an der Möglichkeit sicherer Erkenntnis bedrängt. Sie spiegeln sich in seiner methodischen Zweifelsbetrachtung am Beginn der Meditationes de prima philosophia, und er sah seine Leistung hauptsächlich in der Überwindung epistemologischer Z w e i f e l . 1 5 Kants kritische Philosophie war ein Versuch, der Skepsis von H u m e zu begegnen, aber auch für ihn galt der Satz von Pascal: »Der letzte Schritt der Vernunft ist zu erkennen, daß es unendlich viele Dinge gibt, die sie übersteigen; sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu dieser Einsicht gelangt« (267). Ich will kurz auf drei systematische Überlegungen hinweisen, aus denen sich prinzipielle Grenzen menschlicher Erkenntnis ergeben. 1 6 Die erste geht davon aus, daß für eine realistische Auffassung der Außenwelt die Unterscheidung zwischen dieser selbst und unseren sinnlichen Eindrücken von ihr bzw. unseren Annahmen über sie grundlegend ist. Aufgrund ungünstiger Beleuchtungsverhältnisse kann uns etwas tatsächlich Weißes als rot erscheinen, und etwas tatsächlich Rotes als schwarz. J e d e Annahme über die Natur kann sich als falsch erweisen, j a wir würden im Sinn von Karl Popper sagen: Eine Annahme oder eine Theorie hat nur dann einen empirischen Gehalt, sie sagt überhaupt nur dann etwas über die Außenwelt aus, wenn sie prinzipiell an der Erfahrung scheitern kann. Für all unsere Eindrücke und Annahmen stellt sich also die Frage, ob sie richtig sind, ob sie die Welt tatsächlich so darstellen, wie sie an sich beschaffen ist. Aus ihnen selbst folgt nichts über die objektive Beschaffenheit der Welt. Es ist nun eine erkenntnistheoretische Grundeinsicht, daß der Philosoph oder Wissenschaftler kein Münchhausen ist, der sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ziehen konnte. Es gibt für ihn keinen Standpunkt, von dem aus er, befreit von den Bedingtheiten und Beschränkungen mensch-
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V g l . dazu Discours I, 12 und 13.
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V g l . dazu ausführlicher Kutschera (1998), K a p . 2.
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ι Größe und Elend des Menschen
liehen Erfahrens, Denkens und Sprechens, einen Blick sowohl auf die Welt hätte, wie sie an sich ist, als auch auf die menschliche Erkenntnisfähigkeiten, so daß er sagen könnte, ob und in welchem Umfang diese Welt für Menschen erkennbar ist, und welche unserer Annahmen zutreffen. Es gibt für uns keinen externen Standpunkt. Jede Sicht der Wirklichkeit ist Sicht eines Subjekts und als solche von den Formen seines Erfahrens und Denkens geprägt. Die sind für uns also nie bloß Gegenstand, sondern immer auch Mittel der Untersuchung, und damit müssen all unsere Aussagen über die Welt, über uns selbst und unsere Erfahrungen verträglich sein. Kant sagt: »Das: Ich denke, m u ß all meine Vorstellungen begleiten können«. 1 7 Das heißt: Jede Behauptung, die ich mache, m u ß mit der Tatsache verträglich sein, daß ich sie mache. Ich kann z.B. nicht sinnvoll behaupten, daß ich nicht existiere, und ich kann auch nicht behaupten »Es regnet, aber ich glaube das nicht«. D e n n mit dem ersten Teil dieser Behauptung bringe ich eine Uberzeugung zum Ausdruck, von der ich im zweiten Teil sage, ich hätte sie nicht. Ebenso kann ich nicht behaupten: »Die Welt ist (in der und der Hinsicht) anders beschaffen, als wir das glauben«, eine solche Aussage müßte aber von einem externen Standpunkt aus möglich sein. Daraus folgt natürlich nicht, daß wir nicht erkennen können, wie die Welt beschaffen ist, sondern nur, daß unsere Erkenntnisansprüche grundsätzlich problematisch bleiben. Der zweite Gedanke zur prinzipiellen Begrenztheit menschlicher Einsicht ist, daß eine umfassende Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit unerreichbar ist — selbst eine umfassende Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie sich uns in unseren Erfahrungen zeigt. Eine solche Erkenntnis suchen wir aber, denn wir gehen ja von der Einheit der Wirklichkeit aus, und das heißt, daß sich jedes Phänomen letztlich nur aus seinem Zusammenhang mit dem Ganzen erkennen läßt; gibt es also keine Erkennt17
Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β l j l f .
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
nis des Ganzen, so bleibt alles Erkennen Stückwerk. Die Physiker suchen heute nach einer Weltformel, oder einer »Theorie von allem«. Vielleicht gibt es eine Theorie von allem Physischen, von allem überhaupt kann es aber deswegen keine vollständige Theorie geben, weil es schon keine vollständige Theorie unseres eigenen Denkens gibt, wie wir gesehen haben. Eine dritte Schranke für unsere Erkenntnisansprüche ergibt sich aus der Unhaltbarkeit des fundamentalistischen Erkenntnisideals. Seit den Anfängen von Philosophie und Wissenschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein war die leitende Vorstellung die eines systematisch deduktiven oder induktiven Aufbaus der Theorien auf einem festen Fundament unbezweifelbarer Wahrheiten. Dieses Ideal schien zuerst in der Mathematik realisiert zu sein, und so ist es kein Wunder, daß sie zum Vorbild der Philosophie und der Wissenschaften wurde. Noch am Beginn der Neuzeit, als man an deren Neubegründung ging, war die Mathematik das Leitbild, an dem man sich orientierte. Dieses Erkenntnisideal, das man heute als »fundamentalistisch« bezeichnet, die Suche nach einer Letztbegründung unserer Erkenntnisansprüche durch Prinzipien und Schlußweisen, die keinen vernünftigen Zweifel mehr zulassen, muß als gescheitert angesehen werden. Es gibt keine unbezweifelbaren Sätze, die als Basis in Frage kämen, also informativ genug wären, uns detailliertere Informationen über die Wirklichkeit zu liefern — je informativer ein Satz, desto problematischer ist er auch. Die einzigen wirklich unbezweifelbaren Aussagen sind einfache analytisch wahre Sätze wie »Wenn es regnet, regnet es« und Sätze über eigene gegenwärtige mentale Zustände, Uberzeugungen, Präferenzen oder sinnlichen Eindrücke, und aus ihnen folgt nichts über die Beschaffenheit der Außenwelt. Selbst wenn man als Basis empirische Tatsachen zuläßt, die sich durch einfache, direkte Beobachtungen feststellen lassen und sich — da Irrtümer auch bei sorgfältigen Experimenten nicht ausgeschlossen sind — zwar prinzipiell als falsch erweisen können, aber doch praktisch ein sehr hohes
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ι Größe und Elend des Menschen
Maß an Sicherheit haben, folgen aus ihnen logisch keine generellen Theorien. Diese lassen sich nur induktiv durch Beobachtungen bestätigen, dabei hängt aber die Bestätigung von vorgängigen Erwartungen ab, die sich ihrerseits nicht mehr logisch oder empirisch rechtfertigen lassen. Man ist zudem auf die Theoriebeladenheit aller Beobachtungen aufmerksam geworden: Selbst einfachste empirische Feststellungen erfolgen im Licht vorgängiger Annahmen oder Theorien, sind also keine neutralen Instanzen für deren Uberprüfung. Solche Einsichten wie auch die alte Erkenntnis, daß man immer nur etwas begründen kann, wenn man anderes — die ersten Prämissen — voraussetzt, daß man also nicht alles zugleich begründen kann, haben dazu geführt, daß das fundamentalistische Erkenntnismodell heute durch das paradigmatische abgelöst worden ist. Von diesem Paradigmen-Modell werden wir im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu sprechen haben. Man hat jedenfalls das Ziel einer auf sichere, durch künftige Erfahrungen und Einsichten nicht mehr erschütterbaren Fundamente gegründeten Erkenntnis aufgegeben und geht davon aus, daß sich jede unserer gegenwärtigen Uberzeugungen später einmal als unhaltbar erweisen kann, so wenig wir uns das momentan auch vorstellen können; es gibt kein ein für allemal gesichertes Wissen. Diese drei Gedanken zeigen prinzipielle Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auf, Beschränkungen, die unserem Ideal einer umfassenden und sicheren Erkenntnis entgegenstehen. Normalerweise stoßen wir uns allerdings nicht an diesen grundsätzlichen Erwägungen. Wenn wir uns auf die Wirklichkeit beschränken, wie sie sich in unseren Erfahrungen zeigt, und uns mit der grundsätzlichen Irrtumsmöglichkeit in unseren Erkenntnisansprüchen abfinden, erscheint der Horizont dessen, was sich erkennen läßt, immer noch als unabsehbar groß. Weit stärker bewegt uns im Alltag die Unsicherheit beim Handeln. Wir haben oft nicht genügend Informationen, um die tatsächlichen Resultate einer Handlung zuverlässig beurteilen zu
1.2 Bewußtsein, Weltoffenheit, Vernunft
können, oder nicht die Zeit, sie uns zu verschaffen. Wir können nicht jede Brücke untersuchen, bevor wir sie betreten, nicht jede Auskunft anderer überprüfen, bevor wir uns auf sie verlassen. Unsicher ist für uns insbesondere, was die Zukunft bringt. Die Rationalität unserer Entscheidungen im Sinne unserer Erwartungen und Interessen garantiert nicht den Erfolg, denn die Erwartungen können sich als falsch erweisen. Unsicher sind insbesondere langfristig wirksame Lebensentscheidungen; man hat keine Garantie, daß es gut geht, sondern kann selbst nach gründlicher Überlegung nur darauf vertrauen. Gerade in existentiellen Fragen fehlt uns jene Gewißheit, die wir hier dringender brauchten als anderswo. Wir leiden endlich nicht nur an der Beschränktheit unserer Erkenntnis in Fragen, was der Fall ist, sondern auch an der praktischen Schwäche unserer Vernunft. Oben war von der praktischen Effektivität moralischer wie existentieller Einsichten die Rede, davon, daß die Einsicht, was in der gegebenen Situation zu tun ist, ein Anstoß ist, es tatsächlich zu tun. Dieser Anstoß ist aber oft bedrückend schwach; er wird überwogen von massiven Eigeninteressen, von Eitelkeit, Angst oder Mattigkeit. Für Hume war Vernunft ein »Sklave der Leidenschaft«; sie sagt uns, was wir tun sollten, wenn wir dies oder jenes wollen, hat aber auf das, was wir wollen und letztlich auch tun, keinen Einfluß. Eine ganz andere Vorstellung von der Kraft der Vernunft ist uns bei Piaton begegnet: Vernunft nicht als Sklave, sondern als Herr im Haus, der bestimmt, was geschieht. Die sokratischplatonische These »Die klare Erkenntnis dessen, was zu tun ist, bewirkt von sich aus schon, daß man es tut« wird oft als Übertreibung bezeichnet, die das Phänomen der Willensschwäche ignoriert — so hat es schon Aristoteles gesehen. Für die meisten Menschen ist es sicher eine Übertreibung, aber eben nicht für alle; nicht z.B. für Sokrates. Sein Charisma beruhte vor allem darauf, daß Vernunft in seinem Tun tatsächlich die entscheidende Kraft war. Für Kant bewies sich menschliche Freiheit als
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ι Größe und Elend des Menschen
Freiheit, auch gegen die natürlichen Antriebe und persönlichen Interessen das als moralisch richtig Erkannte zu tun. Für ihn bestand, so können wir in unserem Sinn von Vernunft sagen, die Freiheit des Menschen in der Kraft seiner Vernunft. Und mit dieser Kraft der Vernunft steht es — von den Schwächen unserer persönlichen Intelligenz einmal ganz abgesehen — oft nicht zum besten.
1.3 Freiheit Größe und Elend des Menschen zeigt sich auch in seiner Freiheit. W i r verstehen uns als freie Agenten, die fähig sind, ihr Leben selbst zu gestalten, wenn auch nur in mehr oder minder engen Grenzen. Als Handlung bezeichnet man vielfach ein Verhalten, das der Betreffende auch hätte unterlassen können. In diesem Sinn sind Handlungen immer frei. Handlungen gibt es dann nur in einer indeterministischen Welt, einer Welt, die in die Zukunft hinein offen ist, deren weiterer Verlauf nicht in jedem Zeitpunkt durch das festgelegt ist, was vorher geschehen ist, in der nicht alle Ereignisse kausal determiniert sind. Daß die Welt indeterministisch ist, läßt sich nicht beweisen. Die Physik nimmt heute zwar irreduzible Zufallsereignisse an, daraus folgt aber nicht, daß es auch Handlungsfreiheit gibt. Schon Kant hat betont, daß sich diese Frage theoretisch nicht definitiv entscheiden läßt. Die Annahme von Freiheit ist jedoch in unserem normalen Selbstverständnis und damit auch in unserer normalen Sprache über menschliches Verhalten, über sprachliche Kommunikation und über Seelisch-Geistiges so tief verankert, daß sich ein Determinismus kaum kohärent formulieren läßt. Das will ich hier nur kurz durch zwei Überlegungen andeuten, ohne ausführlich für Freiheit argumentieren zu wollen, denn das habe ich andernorts schon mehrfach getan. 18
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Vgl. dazu Kutschera (1993), 2.2 und (1998), 5.3.
1.3 Freiheit
W i r wollen erkennen, was der Fall ist. Dazu müssen wir uns unsere Uberzeugungen selbst bilden können. W i r müssen prüfen, vergleichen und gewichten, wir müssen uns an Standards rationaler Meinungsbildung orientieren und uns mit den Ansichten anderer auseinandersetzen. All das sind Aktivitäten. Wären unsere Überzeugungen kausal bewirkt, etwa durch Vorgänge im Gehirn, so hätte die Aufstellung von Normen vernünftiger Meinungsbildung keinen Sinn — man würde sie ja dann zwangsläufig erfüllen oder gar nicht erfüllen können —, und die Wahrheitschance solcher Überzeugungen wäre gering — jedenfalls in Bereichen, die für unser Überleben nicht maßgeblich sind; auf überlebenswichtigen Gebieten könnte man Anpassung aufgrund von Selektion annehmen. Normen der Rationalität sollen ja gerade die Wahrheitschance unserer Annahmen erhöhen, und daher ist es doch wahrscheinlicher, daß ein freier und rationaler Agent das Wahre trifft als ein kausaler Automat, der dazu gar nicht konstruiert ist. Vor allem aber gehört Freiheit zur Subjektivität: Eine Meinung, von der ich erkenne, daß ich sie mir nicht selbst gebildet habe, sondern daß sie ein Produkt von U m welteinflüssen, politischer Propaganda, Hypnose oder gegebener neuronaler Vernetzungen ist, würde ich nicht mehr als meine eigene Meinung ansehen. Denken, Erkennen, Urteilen, Schließen sind für uns freie Aktivitäten, wir können sie nicht anders verstehen, und es gibt auch keinen Grund, warum wir sie anders verstehen sollten. Dasselbe gilt für sprachliche Kommunikation. Paul Grice hat die Bedeutung von Sprechakten auf die Intentionen zurückgeführt, die der Sprecher damit verfolgt. 1 9 Der Hörer erkennt also das, was der Sprecher mit seiner Äußerung meint, nur dann, wenn er die Absichten des Sprechers erfaßt. Der Sprecher will seinerseits auch, daß der Hörer seine kommunikativen Absichten erkennt, weil er nur so hoffen kann, die gewünschte W i r 19
Vgl. dazu die Aufsätze in Grice (1989).
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ι Größe und Elend des Menschen
kung zu erreichen. Eine Äußerung von Lauten ist ja nicht als solche wirksam, sondern nur, wenn sie vom Hörer verstanden wird. Sprache funktioniert nach Grice also nur über kommunikative Absichten und das Erkennen dieser Absichten, d. h. eine sprachliche Kommunikation kann nur zwischen Wesen gelingen, die freier Handlungen fähig sind. Endlich sollten wir uns auch daran erinnern, daß existentielle Reflexionen, wie wir sie hier anstellen, Freiheit voraussetzen. Denn diese Reflexionen sollen Lebensentscheidungen rechtfertigen; sie sind also nutzlos, wo es nichts zu entscheiden gibt. Es ist nicht auszuschließen, daß all unser Verhalten, Reden und Denken von einem externen Standpunkt aus betrachtet tatsächlich determiniert ist, uns selbst ist der aber jedenfalls verschlossen. Daher wollen wir im folgenden voraussetzen, daß es Handlungsfreiheit gibt, obwohl sich diese Annahme kaum mit der üblichen Vorstellung der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt in Einklang bringen läßt — Kant redet denn auch von einer »Unerforschlichkeit der Kausalität von Freiheit«.20 Auf die Annahme von Freiheit können wir aber weit schlechter verzichten als auf die der kausalen Geschlossenheit des physischen Geschehens. Wir sprechen uns also die Fähigkeit zu, »von uns aus Kausalketten anzufangen«, uns zwischen Alternativen zu entscheiden, Neues zu beginnen. Existentiell bedeutsam ist nun aber weniger, ob es überhaupt Handlungsfreiheit gibt, als die Reichweite unserer Freiheit, der Spielraum, den wir für unser Handeln in den verschiedenen Bereichen des Lebens haben, das Außmaß, in dem wir unser Leben selbst gestalten können. Das ist eine empirische Frage. Sie läßt sich auch nicht generell beantworten, sondern nur für einzelne Situationen, und auch da oft nicht eindeutig. Klar ist jedenfalls, daß unsere Handlungsfreiheit durchaus beschränkt 20 Vgl. ζ. B. Kant, Die 218 f.
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,
Β
1.3 Freiheit
ist. Was wir tun können, hängt von unseren körperlichen und geistigen Fähigkeiten ab wie von äußeren Umständen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Schon bei Homer findet sich die Aussage, allein die Götter hätten den Erfolg ihres Tuns in der Hand, nicht aber wir Menschen. Ob das, was wir tun, auch die beabsichtigte Wirkung hat, hängt tatsächlich meist von Faktoren ab, auf die wir keinen Einfluß haben und von denen wir auch oft nichts wissen. Eine der eindrucksvollsten Darstellungen dieses Bewußtseins, daß sich Handlungen ins Gegenteil dessen verkehren können, was mit ihnen intendiert war, daß selbst die Aussagen eines Menschen aufgrund ihm verborgener Umständen eine andere Bedeutung erhalten können als die von ihm intendierte, ist Sophokles Darstellung des Mythos von Odipus. Diese Einsicht, daß fast alles was wir tun, sich als vergeblich erweisen kann, daß das Schicksal oft mächtiger ist als wir, ist es vor allem, was unsere Freiheit fragwürdig erscheinen läßt, nicht irgendwelche philosophischen Argumente gegen Handlungsfreiheit insgesamt. Ein sinnvoller Gebrauch von Freiheit setzt voraus, daß wir uns in unserem Verhalten nach guten Gründen richten können. Das heißt zunächst einmal, daß wir uns die notwendigen Kenntnisse über die äußeren Bedingungen verschaffen können, von denen die Resultate der verschiedenen Handlungsalternativen abhängen. Das erfordert entsprechende Erkenntnisfähigkeiten und Informationen, und über die verfügen wir oft nicht, so daß wir unter Unsicherheit handeln oder uns auf bloße Wahrscheinlichkeiten stützen müssen. Wir gehen daher mit unseren Entscheidungen meist ein mehr oder minder großes Risiko ein. Angesichts einer vollständigen Unkenntnis, welche der uns offenstehenden Alternativen zum Ziel führt, würde uns die Freiheit, eine von ihnen zu wählen, wenig nützen. Neben Uberzeugungen oder Erwartungen bzgl. der Resultate der Handlungsalternativen sind nun auch Bewertungen dieser möglichen Resultate Gründe. Für ein sinnvolles Tun kommt es auch darauf an, daß wir die richtigen Wertmaßstäbe haben. Geht es um objektive,
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ι Größe und Elend des Menschen
ζ. B. moralische Werte, so stellt sich damit das schwierige Problem der Werterkenntnis. 21 Aber auch dann, wenn es bei einer Entscheidung nur um meinen persönlichen Nutzen geht, muß ich mich fragen, ob sie auf längere Sicht vernünftig ist, ob es ζ. B. sinnvoll ist, etwas anzustreben, das kurzfristig Vorteile, langfristig aber Nachteile erwarten läßt, oder sich um etwas zu bemühen, von dem sich voraussehen läßt, daß ich daran, wenn ich es erreicht habe, gar nicht mehr sehr interessiert sein werde. Ein sinnvoller Gebrauch von Freiheit setzt also Erkenntnisse von Fakten und Werten voraus, und damit findet Freiheit ihre Grenzen nicht nur in unseren körperlichen, sondern auch in unseren intellektuellen Fähigkeiten. Die Fähigkeit, sich nach guten Gründen zu richten, nach dem, was man als richtig erkannt hat, erfordert endlich oft W i l lenskraft, denn der als richtig erkannte W e g kann große Anstrengungen erfordern, er kann kurzfristig mit erheblichen Nachteilen verbunden sein oder in Konflikt mit starken Wünschen oder Antrieben stehen. Davon war schon im vorigen Abschnitt die Rede. Wünsche sind von Präferenzen zu unterscheiden. Unter den Präferenzen, nach denen sich die Rationalität der Handlungen des Agenten im Sinne der Entscheidungstheorie richtet, versteht man eine Wertordnung, in die all seine Interessen, Neigungen und Bewertungen integriert sind, eine kohärente Ordnung der Dinge oder Zustände nach ihrem Gesamtwert für den Agenten. Ist ein Zustand im Sinne der Präferenzordnung einer Person besser als ein anderer, so sprechen ihre Interessen insgesamt mehr dafür, den ersteren zu realisieren, und insofern hat sie auch ein Motiv, so zu verfahren. Ein Wunsch ist dagegen ein einzelner Antrieb, etwas zu tun. D e m jeweils stärksten Wunsch folgen, heißt nicht, im Sinne der Präferenzen handeln. Für jemanden, der am Verdursten ist, kann ζ. B. der Wunsch übermächtig werden, Salzwasser zu trinken, obwohl er weiß, daß das seinen 21
Vgl. dazu Kutschers (1999), Kap. 5.
1-3 Freiheit
Durst nur steigern wird. Es gehört also oft Willensstärke dazu, das als richtig Erkannte gegen innere Widerstände zu tun. Das gilt nicht nur, wenn es darauf ankommt, das moralisch Richtige zu tun, sondern ebenso, wenn es nur darum geht, im Sinne der eigenen Präferenzen rational zu handeln. Das Problem ist nun, daß Willensstärke auch eine Sache der natürlichen Anlagen ist. Man kann sie zwar langfristig durch Übung stärken, aber auch dazu gehört schon ein gewisses Maß an Willenskraft. Mangel an Willenskraft beschränkt zwar wiederum nicht die Handlungsfreiheit als solche, wohl aber den sinnvollen Gebrauch, den wir von ihr machen können. Was wir bei rationalem Verhalten tun, hängt von unseren Uberzeugungen oder Erwartungen und unseren Präferenzen ab. Hat ein Agent in einer Situation mehrere Handlungsalternativen, so wird er vernünftigerweise diejenige wählen, die das für ihn beste Resultat hat — oder wenn es mehrere Alternativen mit optimalen Resultaten gibt: irgendeine von ihnen. Wenn der Agent nicht weiß, welche Resultate die einzelnen Alternativen haben — weil sie etwa von Umständen abhängen, von denen er sich nicht sicher ist, ob sie eintreten, er den Resultaten aber jedenfalls Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann —, so wird er eine jener Alternativen wählen, für die der Erwartungswert des Nutzens am größten ist. Die subjektiven Nutzenswerte der Resultate geben dabei die Stärke der Präferenz des Agenten für diese Resultate an, die Wahrscheinlichkeiten der Resultate geben den Grad an, in dem der Agent mit dem Eintreten der Resultate rechnet. Das ist das entscheidungstheoretische Modell rationalen Handelns. Was für jemanden in einer Situation rational ist, hängt also von seinen Erwartungen und Präferenzen ab. Könnten wir nun unsere eigenen Präferenzen nicht bestimmen oder jedenfalls beeinflussen, so wäre es mit unserer Freiheit offenbar nicht weit her: Wir würden uns im besten Fall immer so verhalten, wie es aufgrund unserer gegebenen Präfe-
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ι Größe und Elend des Menschen
renzen allein sinnvoll wäre. Handlungsfreiheit ist also zuwenig Freiheit. U m wirklich frei zu sein, müssen wir auch unsere Ziele frei bestimmen können, wir müssen über Willensfreiheit verfügen. Die Freiheit, auf die es uns ankommt, ist nicht nur das Fehlen äußerer Beschränkungen, sondern auch die Möglichkeit, uns gewisse Ziele zu eigen machen zu können und sie zu verfolgen. Für Kant ζ. B. war Freiheit im wesentlichen die Freiheit, moralisch zu handeln. Willensfreiheit ist die Fähigkeit, seine eigenen Präferenzen zu bestimmen. Wir gehen normalerweise davon aus, daß wir auch über einen freien Willen verfügen, denn wir bewerten auch die Ziele, die Interessen und Wertungen einer Person moralisch, wir verurteilen ζ. B. den Egoisten, der auf die Interessen anderer keine Rücksicht nimmt, dem das Wohl anderer gleichgültig ist. Wir mißbilligen es, wenn jemand Spaß an Tierquälerei hat, wenn sein Streben bloß auf materiellen Gewinn oder auf Macht über andere gerichtet ist, und zwar unabhängig davon, ob er sich auch entsprechend verhält. W i r setzen damit voraus, daß jeder für seine Interessen verantwortlich ist, sie also ändern könnte, wenn er wollte. Die Existenz von Willensfreiheit ist nun noch weit stärker umstritten als die von Handlungsfreiheit. Das Hauptproblem hat schon J o h n Locke aufgewiesen. Er sagt: »Diese Frage [der Willensfreiheit] ist so offensichtlich absurd, daß man schon deswegen überzeugt sein kann, daß Freiheit sich nicht auf den Willen erstreckt. D e n n zu fragen, ob jemand frei ist, entweder gehen oder stillstehen zu wollen, zu sprechen oder zu schweigen, was ihm gefällt, heißt fragen, ob er wollen kann, was er will, oder ob er Gefallen an dem finden kann, was ihm gefällt. Eine Frage die, denke ich, keine Antwort erfordert. Jene, die daraus ein Problem machen, müssen voraussetzen, daß ein Wille die Akte eines anderen bestimmt, und daß es einen dritten gibt, der den ersten determiniert und so weiter ad infinitum«.22 Man kann Lockes Ge22
Locke, An Essay Concerning Human Understanding II, 21, § 25. Im glei-
chen Sinn hat sich Leibniz in den Nouveaux essais sur l'entendement humain, II, Kap. 21, § 24 geäußert.
1.3 Freiheit
danken so wiedergeben: Für eine rationale, nicht bloß willkürliche Entscheidung über unsere eigenen Präferenzen müssen wir uns nach dem entscheidungstheoretischen Modell wiederum auf Präferenzen stützen. Das wären dann Präferenzen 2. Stufe, Präferenzen für Präferenzen 1. Stufe, wie wir sie bisher betrachtet haben; es wären Interessen daran, gewisse Interessen zu haben. Sind diese Interessen 2. Stufe nicht frei, so auch nicht jene 1. Stufe, die sich daraus ja zwangsläufig ergeben; gehen sie hingegen aus einer freien Entscheidung hervor, so benötigen wir dafür Präferenzen 3. Stufe, usw. Dieses Lockesche Argument ist aber nicht haltbar. 23 W i r wählen nicht mit einem Schlag umfassende Präferenzordnungen, die Bildung und Veränderung von Präferenzen ist vielmehr ein langer Prozeß der Systematisierung und Anpassung bisheriger Bewertungen an neue Erfahrungen und Situationen, der nicht weniger komplex ist als jener der Systematisierung und ständigen Anpassung unserer faktischen Annahmen an neue Erfahrungen. Erstens müssen wir die verschiedenen Wertaspekte gewichten und in eine umfassende, einheitliche Wertordnung einbringen, und dabei ist das Resultat keineswegs eindeutig ausgezeichnet, sondern wir haben in der Regel mehrere Möglichkeiten. Zweitens gehen in unsere Präferenzen auch Annahmen über faktische Zusammenhänge ein — der Wert eines Zustands hängt für uns ja auch von den Folgen ab, die er voraussichtlich haben wird —, und die sind ebenfalls keine Naturprodukte, sondern gehen wiederum aus Überlegungen und Entscheidungen hervor. Drittens ändern wir unsere Interessen aufgrund neuer Erfahrungen. Unsere subjektiven Interessen sind also etwas, das wir uns selbst bilden — beeinflußt sicherlich von vielen äußeren Faktoren. Der entscheidende Punkt für uns ist aber, daß wir die Freiheit haben, uns in unserem eigenen Wollen an dem zu orientie23
Vgl. dazu auch wieder Kutschera (1999),7.2.
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ι Größe und Elend des Menschen
ren, was objektiv gut und richtig ist. Das wurde ja im letzten Abschnitt als zentraler Aspekt der Vernunft bezeichnet. Zur Vernunft gehört Freiheit des Willens ebenso wie Freiheit im Denken. Freiheit des Willens vergegenwärtigt man sich am besten, indem man sie ausübt. W i r können auf unsere eigenen Präferenzen reflektieren. Dazu entziehen wir uns dem Einfluß momentaner Wünsche, Pläne und Sorgen, wir nehmen Distanz zu dem, was uns gerade bewegt, um uns zu fragen, worauf es uns denn vor allem ankommt, was die für unser Leben entscheidenden Ziele sind. Dabei können wir zur Einsicht kommen, daß wir bestimmte Aspekte überbewertet, andere hingegen nicht hinreichend berücksichtigt haben. In einer solchen Reflexion werden sich nun meine bisherigen Präferenzen bestätigen, wenn meinem Urteil dieselben Wertmaßstäbe zugrunde liegen wie der beurteilten Präferenzordnung, wenn ich mich mit ihr in der Reflexion identifizieren kann. Gilt das nicht, so folge ich in meinen Urteilen anderen Kriterien als in meinen Handlungen, bin also insofern in mir gespalten. D e n Maßstab der Urteile über meine bisherigen Präferenzen bilden aber nicht einfach diese Präferenzen selbst oder andere subjektive Präferenzen, sondern meine Ansichten über das, was objektiv wertvoll ist. Bei der Beurteilung geht es ja um die Frage, ob wir das Richtige wollen. Dafür ist aber nicht ausschlaggebend, was wir tatsächlich wollen, sondern was wir für objektiv gut und richtig halten. Ein begründetes Urteil ist nur möglich, wenn ich mich auf objektive Gründe stütze; ich kann meine Bewertungen nicht mit ihnen selbst rechtfertigen. N u n beeinflussen meine Ansichten über das, was objektiv richtig ist, wegen der praktischen Effektivität moralischer Urteile ohnehin schon meine Präferenzen. 24 Sie brauchen dafür aber nicht ausschlaggebend zu sein, d. h. ich ziehe nicht immer das insgesamt vor, was ich als moralisch richtig erkannt
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Z u r praktischen Effektivität moralischer Urteile vgl. den letzten A b -
schnitt.
1.3 Freiheit
habe. Es ist nicht nur so, daß ich das als richtig Erkannte oft aufgrund von Willensschwäche nicht tue, sondern meine Präferenzen können ζ. B. so etwas wie Klauseln beschränkter moralischer Haftung enthalten: Ich ziehe das moralisch Gute vor, aber nur, solange es mich oder die mir Nahestehenden nicht allzu viel kostet. Sollen nun die Maßstäbe meines Urteilens mit denen meines Handelns übereinstimmen, so m u ß ich meine Präferenzen so modifizieren, daß für sie das ausschlaggebend ist, was ich für objektiv besser halte. Es m u ß also gelten: Glaube ich, daß etwas moralisch besser ist als etwas anderes, so ziehe ich es diesem auch tatsächlich vor, es ist dann für mich auch insgesamt besser. W i r wollen dann von einer starken Kohärenz unserer Präferenzen reden. Die Forderung einer solchen starken Kohärenz ist nun nicht einfach ein Postulat der Rationalität. Das ist sie vielmehr nur für denjenigen, der seine Präferenzen moralischen, oder allgemein: objektiven Maßstäben unterwirft. Es wäre sicher verfehlt, Argumente dafür zu suchen, daß sich j e d e m das Problem stellt, ob seine Interessen moralischen Maßstäben genügen. Dagegen spricht die Lebenserfahrung wie auch die Tatsache, daß vielfach die Existenz objektiver Werte geleugnet wird. W e m jedoch an einer Orientierung seines Handelns und seiner Ziele an objektiven Maßstäben gelegen ist, w e m sich die Frage nach der Richtigkeit seines Tuns im Ernst stellt, für den ist klar, daß er damit auch seine Präferenzen an seinen moralischen Uberzeugungen zu messen hat, für den ist die starke Kohärenz eine Forderung der Vernunft. O h n e neue Erfahrungen zu machen, hätten wir keinen Grund, unsere faktischen Meinungen zu revidieren. O h n e Erfahrungen hätten wir auch keinen Hebel, u m unsere subjektiven Neigungen zu verändern. Z u m Konzept der Willensfreiheit, wie es hier vorgestellt wurde, gehört also wesentlich die Annahme von Werterfahrung als einer Erfahrung vom objektiven Wert der Dinge, und die setzt wiederum einen Wertrealismus voraus, d. h. die Annahme der Existenz objektiver Werttatsachen. Die wird
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ι Größe und Elend des Menschen vom Wertsubjektivismus bestritten, für den dann Werterfahrung konsequenterweise im Sinn Humes nur eine Projektion unserer Neigungen auf die Gegenstände unserer Erfahrung ist. Meine Argumente für den Wertrealismus brauche ich hier wiederum nicht weiter auszubreiten, da ich das andernorts schon mehrfach getan habe. 25 N i m m t man die Existenz von Willensfreiheit an, so bleibt immer noch die Frage, welches M a ß an Willensfreiheit wir tatsächlich haben, wie weit wir unsere Ziele wirklich selbst bestimmen können. Es ist oft schwer, die eigenen Wertvorstellungen zu ändern, insbesondere wenn es nicht nur um Details geht, sondern um Ideale, die uns wichtig waren, die unser bisheriges T u n und Urteilen bestimmt haben und tief in unseren Gefühlen verankert sind. Der Anstoß zu Änderungen muß vor allem von Erfahrungen ausgehen. Werterfahrungen sind nun aber in besonders hohem Maße theoriebeladen, d. h. sie sind nicht einfach neutrale und unhypothetische Feststellungen, sondern immer auch schon Interpretationen. W e n n ich ζ. B. behaupte, ich sähe, daß auf der Fensterbank eine Katze sitzt, so ist die Wahrheit dieser Behauptung nicht schon durch meinen Blick auf das Fenster mit der Katze garantiert. Es könnte sich etwa herausstellen, daß ich Opfer einer Halluzination bin, daß die vermeintliche Katze ein Plüschtier ist oder ein Exemplar einer bislang unbekannten Art, das nur aussieht wie eine Katze, aber Eier legt und Gras frißt. Gottlob Frege sagt: »Mit dem Schritte, mit dem wir uns eine U m w e l t erobern, setzen wir uns der Gefahr des Irrtums aus.« 26 Mit jeder Feststellung über objektive Tatsachen gehen wir über das hinaus, was subjektiv gewiß ist. Meine Deutung der Katzenbeobachtung beruht darauf, daß ich es als unwahrscheinlich ansehe, daß ein Plüschtier in mein Zimmer geraten ist oder
25
Ich verweise wieder auf Kutschera (1994 b), (1998), 7.3 und (1999),
Kap. 5 und 6. 26
Frege (1967), S. 358.
1-3 Freiheit
gar ein der Biologie bislang unbekanntes Tier. Ich interpretiere meine Erfahrungen also im Licht vorgängiger Annahmen und Erwartungen, und das meint die Rede von der Theoriebeladenheit der Erfahrung. Auch Urteile über die moralische Qualität von Handlungen sind nun von unseren vorgängigen Vorstellungen über das geprägt, was erlaubt oder gut ist. Diese Theoriebeladenheit ist, wie im theoretischen Fall, zwar keine Determination durch unsere Vorurteile — es gibt ja auch Erfahrungen, die uns bewegen, unsere Ansichten zu korrigieren —, die Schwierigkeit liegt aber doch darin, daß wir über Erlebnisse, die nicht zu unseren Vorurteilen passen, oft leicht mit der Behauptung hinweggehen, es handle sich lediglich um Ausnahmen. Wir ignorieren gern, was uns nicht in den Kram paßt, und erst, wenn sich gegenteilige Erfahrungen häufen — insbesondere, wenn wir selbst betroffen sind —, entsteht die Bereitschaft, unsere bisherigen Wertvorstellungen zu ändern. Wir sind in unseren moralischen Vorstellungen auch vielfach stark von dem abhängig, was unsere Umgebung für richtig oder erlaubt hält. Wir haben erlebt und erleben fast täglich neu, daß das moralische Empfinden ganz normaler Leute durch politische, rassistische oder religiöse Parolen derart korrumpiert werden kann, daß sie bedenkenlos andere ausgrenzen, unterdrücken oder gar ermorden. Was so dramatische Ausmaße annehmen kann, deutet sich schon in der alltäglichen und ganz normalen Angst an, unpopuläre Ansichten zu vertreten, im Bestreben, sich nicht nur im Handeln, sondern auch in den Wertungen dem anzupassen, was die Mehrheit sagt oder die einflußreichen Kreise. Willensfreiheit erfordert oft ein erhebliches Maß an Selbständigkeit im Urteil, und das ist selten; für viele ist es aber auch tatsächlich schwer zu erreichen. Zum Ideal der Autonomie, der Selbstbestimmung des Menschen, zählt insbesondere die Vorstellung geistiger Freiheit, der Herrschaft im eigenen Inneren. In unserem äußeren Leben sind
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wir von den Umständen und anderen Personen abhängig, über unser Denken, Fühlen und Streben aber glauben wir selbst zu bestimmen. Wir gehen davon aus, daß wir uns unsere Uberzeugungen aufgrund eigener Einsichten, Erfahrungen und Überlegungen selbst bilden können, daß wir frei sind in unserem Denken, die Fähigkeit haben, uns allein von guten Gründen leiten zu lassen. Zur Freiheit im intellektuellen Bereich gehört ferner die Möglichkeit, unsere Ziele und Wertvorstellungen selbst zu bestimmen, also Willensfreiheit. Es gehört dazu, daß wir unseren Charakter nach unseren eigenen Idealen bilden können, also ζ. B. Regungen von Feigheit, Neid und Mißgunst zu überwinden vermögen. Endlich müssen wir die Fähigkeit zu rationalem Handeln haben, zu einem Handeln, wie es im Sinn unserer Uberzeugungen und Ziele am besten ist, und weder durch Willensschwäche, noch durch unkontrollierbare Gefühle oder Triebe daran gehindert werden. Diese Vorstellung einer Autonomie im eigenen Inneren, einer Herrschaft über unser eigenes Denken, Fühlen und Wollen, ist nun durchaus problematisch. Bzgl. der Willensfreiheit und Willenskraft wurde das schon betont. Auch in unserem Denken sind wir nicht schlechthin frei, sondern unterliegen mannigfachen Beschränkungen und Einflüssen. Intelligenz ist eine Sache der Anlage. Man kann seine Fähigkeiten zwar ausbilden, sich aber leider keine zusätzlichen verschaffen. Unsere Konzentrationsfähigkeit, die Fähigkeit zu geistiger Arbeit, hängt von unserer körperlichen Verfassung ab. Schon Müdigkeit oder Kopfschmerzen beeinträchtigen sie erheblich, und mit dem Alter nimmt die intellektuelle Beweglichkeit ab. Wir sind auf Einfälle angewiesen, und die stehen nicht in unserer Kontrolle. Wir müssen uns auf unsere Erinnerungen verlassen, aber die sind oft unzuverlässig, sie verblassen und manchmal sind sie auch blockiert. Wir übernehmen unsere Ansichten zum größten Teil von unseren Mitmenschen und sind auf den allermeisten Gebieten zu kompetenten, selbständigen Urteilen gar nicht in der
1-3 Freiheit
Lage. Unser Charakter ist durch Anlagen, Erziehung und frühe Erfahrungen geprägt, und läßt sich nicht so leicht verändern. D e r Angstliche kann sich nicht einfach entschließen, künftig mutig zu sein, man kann nicht per Entschluß zum Optimisten werden, ein habituelles Mißtrauen gegenüber dem Leben oder den Menschen läßt sich nur schwer überwinden. Gefühle und Stimmungen stehen nicht in unserer willentlichen Kontrolle, sie überkommen uns, manchmal ohne ersichtlichen Anlaß. Es gibt seelische Tiefenschichten, die das Bewußtsein kaum erreicht — Sigmund Freud spricht vom Unbewußten —, und in ihnen oft nur schwer faßbare Haltungen, Einstellungen und Strebungen, die unser Denken beeinflussen, unser Erleben und Tun. Gefühle quellen oft aus größeren Tiefen, als sie das Bewußtsein erreicht, und bestimmen unser Verhalten vielfach stärker als Überlegungen und Argumente. Unübersehbar ist endlich auch die Abhängigkeit unseres geistigen Lebens von seiner physischen Basis: G e hirnverletzungen oder Krankheiten können zum Ausfall geistiger Leistungen im Bereich des Gedächtnisses, der Sprachfähigkeit oder des Erfassens der U m w e l t führen, j a den Charakter eines Menschen völlig verändern. Das Autonomieideal sieht sich also mit der Tatsache konfrontiert, daß wir uns oft selber nicht in der Hand haben, daß das bewußte Ich, das wir als Kern der Person verstehen, nicht autark ist und manchmal nicht der bestimmende Teil. Im eigenen Inneren gibt es etwas, das von der Helligkeit des Bewußtseins nicht erreicht wird, unser bewußtes seelisches Leben aber beeinflußt. Heraklit sagt im Fragment 45: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausmessen, auch wenn du alle Wege abwandertest; so tief ist ihr Wesen (logos)«. Augustinus spricht vom intimum hominis, einem verborgenen Seelengrund. Für Nietzsche war der Seelengrund dann einfach der Leib, und er verstand den Geist nur als Werkzeug des Leibes. In der modernen Psychologie war es vor allem Sigmund Freud, der die Vorstellung der Autonomie des bewußten Ich durch seine Theorien zutiefst in Frage gestellt hat.
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ι Größe und Elend des Menschen
Daß das Autonomieideal sich nicht einfach von selbst versteht, daß es vielmehr das Ideal einer bestimmten kulturellen Tradition ist, zeigt ein Blick auf frühe, wir sagen meist: »primitive« Formen des Selbstverständnisses, wie sie sich z . B . in der alten griechischen Dichtung finden.27 Bei Homer fehlt die Konzeption eines autonomen Subjekts in unserem Sinn. Die Grenze zwischen Körperlichem und Seelischem zwischen Innen- und Außenwelt ist fließend. Es steht nicht ein autonomes Subjekt einer autonomen Natur gegenüber, sondern Subjekt und sichtbare Natur sind unselbständige Teile einer umfassenden Wirklichkeit. Auch die Natur ist beseelt, und beim Menschen sind seelische Vorgänge eng an körperliche gebunden. Sie beschränken sich nicht auf die Innenwelt, sondern können die Außenwelt direkt beeinflussen, nicht nur über Handlungen. Umgekehrt können sie auch ohne Vermittlung durch Wahrnehmungen direkt von äußeren Vorgängen beeinflußt werden. Das individuell Seelische ist in das kosmische Geschehen eingebunden und von überpersonalen Kräften bestimmt. Das zeigt sich ζ. B. darin, daß bei Homer Entschlüsse, Einsichten und Gefühle wie Mut oder Angst oft nicht aus dem Inneren der Person hervorgehen, sondern ihr von den Göttern eingegeben werden. Es gibt die Verblendung durch die Götter als zeitweilige Trübung des normalen Bewußtseins. Plötzliche Erleuchtung in Erkenntnis oder Erinnerung und das Eingießen von Kraft in den Willen sind Beeinflussungen des Psychischen von außen. Das Seelische steht im Spannungsfeld fremder Mächte und erscheint noch nicht als etwas in sich Geschlossenes. Wille, Denken und Vorstellungen stehen so nicht allein in der Verfügung des Subjekts. Es gibt noch gar kein Subjekt in unserem Sinn. Man blickt erstaunt oder entsetzt auf das zurück, was man eben getan hat; das eigene Verhalten kann als fremd und unbegreiflich erscheinen. Das führt zu einem Gefühl durchgängiger Abhängigkeit von äußeren Mächten, einem 27
Vgl. dazu B. Snell (1975), Kap.I und IV, sowie Kutschera (1990), 3J.
1.3 Freiheit
Gefühl, das wir heute als psychische Störung ansehen würden. Dieses Selbstverständnis war eine der Wurzeln für die tragische Sicht des Menschen in der griechischen Religion, deren letzter Zeuge Sophokles war: Obwohl er in seinem Handeln, Denken und Wollen nicht frei ist, ist der Mensch verantwortlich für sein Tun; er kann schuldlos schuldig werden. Das Ideal der geistigen Autonomie ist aus dem Protest gegen diese radikale Abhängigkeit des Menschen entstanden. Die Würde des Menschen beruht nach Kant auf seiner Freiheit, die wiederum Bedingung dafür ist, daß man die Person als Subjekt von Rechten und Pflichten ansehen kann. Autonomie ist weniger Tatsache als Postulat und Programm: Die Idee der Freiheit ist Ziel der Arbeit des einzelnen an sich selbst wie der kulturellen Entwicklung. Wo freilich die Realität dem Postulat widerspricht, führt auch das Ideal oft nicht zu humanerem Verhalten: Wir bürden jedem die Verantwortung für sein Tun auf, obwohl wir oft nicht wissen, ob er darin wirklich frei war. Das Ideal hat also seinen Preis, einen Preis, den zu zahlen man heute zunehmend weniger bereit ist. Freiheit und Menschenwürde gehören aber zusammen; eine ist nicht ohne die andere zu haben. Der Autonomiegedanke gehört zu einem Selbstverständnis, das nicht bloß theoretische, sondern auch eine eminent praktische Bedeutung hat. Es hat das Leben der Menschen und ihr Verhalten zueinander geprägt. Aus ihm ist eine Lebensform und eine Kultur hervorgegangen, von der auch wir immer noch zehren, obwohl sie mit dem Zweifel an der Richtigkeit dieses Menschenbildes zunehmend ihre Verbindlichkeit verliert. Wir sind uns heute bewußt, daß es sich nicht von selbst versteht, sondern Produkt einer ganz bestimmten geistesgeschichtlichen Entwicklung ist, und sehen, deutlicher wohl als vergangene Zeiten, daß es ein Ideal ist, das sich mit der Realität oft nur schwer vereinbaren läßt. Zudem steht es mit unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nicht im Einklang. So verliert es zunehmend die Kraft, die Realität zu bestimmen — oder besser vielleicht: Wir verlieren
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ι Größe und Elend des Menschen
die Kraft, die Realität dem Ideal anzunähern. Es ist einer der Widersprüche im modernen Bewußtsein, daß uns einerseits freie Selbstbestimmung als einer der höchsten Werte gilt, während Freiheit doch andererseits keinen Platz in unserem theoretischen Weltbild hat.
1.4 Individuum und Gemeinschaft Wir Menschen sind soziale Wesen. W i r leben in Gemeinschaften und sind nur in der Gemeinschaft mit anderen überlebensfähig. In unserer Persönlichkeit, im Denken, Fühlen und Wollen, Sprechen und Handeln sind wir von der Kultur geprägt, der wir angehören. Wir leben in Dörfern und Städten in einer Umgebung, die von Menschen gestaltet ist, und unter Bedingungen, in wirtschaftlichen, staatlichen, rechtlichen Ordnungen, die von Menschen bestimmt werden. Der einzelne ist aber auch nicht bloß Teil der Gemeinschaft, sondern steht ihr als in Grenzen eigenständige Persönlichkeit gegenüber; er kann sich aus sozialen Bindungen lösen und neue eingehen. Menschliches Leben ist so in elementarer Weise durch die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft bestimmt, und daher ist auch die ein zentrales Thema der Existenzerhellung im Sinn von Karl Jaspers. Der Gegensatz von individueller Freiheit und sozialer Bindung ist zunächst ein Thema der Theorie von Gesellschaft und Staat. Der Individualismus vertritt die These vom Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft — »Gemeinschaft« steht dabei in erster Linie für die Gemeinschaft der Bürger eines Staates. Die Rede vom Vorrang hat eine ontologische Komponente, die beinhaltet, daß die Gemeinschaft aus ihren Mitgliedern besteht und nicht mehr ist als das Ganze ihrer Teile. Das ist freilich eine Trivialität. Ihr steht die Trivialität des Kollektivismus gegenüber, daß das Individuum in eine vorhandene Gemeinschaft hineingeboren ist, nur in ihr existieren kann und in seiner Entwicklung vom Zustand der Gesellschaft, und in seinen Handlungsmöglichkeiten von den gemeinsamen Handlungsformen, Leistungen
1.4 Individuum und Gemeinschaft
und Institutionen abhängig ist. Aus beiden Trivialitäten folgen nach dem Humeschen Gesetz 2 8 keine Aussagen über den Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft oder umgekehrt. Die Kontroverse ist aber normativ. Für den Individualismus soll der einzelne Vorrang vor der Gemeinschaft haben. Aufgabe des Staates ist es danach, das Recht und die Freiheit des einzelnen zu schützen und das Gemeinwohl, verstanden als Summe des Glücks der Individuen, zu fördern. Das kann man im Sinn des Liberalismus verstehen, nach dem der Staat nur eine Schutzfunktion für seine Mitglieder hat, also nur ein Nachtwächterstaat sein darf, der die freie Selbstentfaltung und Betätigung seiner Bürger im wesentlichen nur nach dem Grundsatz gleichen Rechts für alle beschränken darf. Man kann es aber auch im Sinn des Sozialismus (genauer: Sozialdemokratismus) verstehen, nach dem der Staat in möglichst egalitärer Weise für die Wohlfahrt der einzelnen zu sorgen hat. In beiden Fällen ist die Aufgabe des Staates ausschließlich Dienst am Wohl der Individuen, beide Theorien sind also individualistisch. Der Kollektivismus gibt hingegen der staatlichen Gemeinschaft Vorrang vor den Individuen. Für ihn leitet sich staatliches Recht nicht aus individuellem Recht her und wird nicht durch die Zustimmung der Rechtsunterworfenen legitimiert. Der Staat hat eigene Ziele, die sich nicht aus dem Willen seiner Mitglieder ergeben, seine Erhaltung und Machtentfaltung gehen den persönlichen Interessen seiner Bürger vor. Während für den Individualismus jeder staatliche Zwang als Eingriff in die primären Rechte der Bürger zu rechtfertigen ist, bedarf für den Kollektivismus umgekehrt jeder Anspruch auf individuelle Freiheitsräume der Rechtfertigung. Eine mittlere Position halten Universalismus und Kommunitarismus — Bezeichnungen, die in ihrem Gebrauch freilich alles andere als einheitlich sind. Universalisten reden gern in vagen Wendungen vom
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Das Humesche Gesetz besagt, daß aus Fakten keine Normen folgen.
Vgl. dazu ζ. B. Kutschera (1999), 1.5.
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Staat als einem »organischen Ganzen«. Da Staaten keine Lebewesen sind, bleibt das aber nur eine mystifizierende Metapher für die simple Tatsache, daß Staat und Volk mehr sind als die Summe ihrer Teile, daß sie den Tod des einzelnen wie auch ganzer Gruppen überdauern, und staatliches Leben durch eine Vielzahl von (rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen) Beziehungen der Bürger untereinander definiert ist, durch Institutionen, Verhaltensregeln usw. Hier geht es nun nicht um Theorien von Staat und Gesellschaft, sondern um die Rolle, die andere Menschen und Gemeinschaften in unserem Leben spielen und spielen sollten. Das tatsächliche Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft wie auch das Ideal dieses Verhältnisses unterliegt offenbar dem kulturellen Wandel. In primitiven Kulturen begreift sich der einzelne, ganz pauschal gesagt, weit stärker als Teil von Familie, Sippe, Stamm oder Volk als in hochentwickelten Kulturen. In der westlichen Welt erleben wir seit längerer Zeit einen Prozeß radikaler Individualisierung. Das äußert sich ζ. B. darin, daß die Beziehungen zwischen Individuen wie zwischen Individuen und Gruppen zunehmend verrechtlicht werden. Das ist einerseits eine Folge der Auflösung von Gemeinschaften, die verbindliche und im Gefühl verankerte Verhaltensmuster garantieren konnten, insbesondere der Familie, andererseits beschleunigt die Verrechtlichung diese Auflösung wiederum. Das Resultat ist der Verlust innerer Bindungen, das Schwinden einer Anerkennung von Pflichten über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus, die Veräußerlichung sozialer Rollen, die Verwandlung des Berufs in einen Job, die Verlagerung zwischenmenschlicher Bindungen ins Private, die Vertauschbarkeit von sozialen Bindungen und Rollen. Diese Folgen sind uns freilich meist nicht gegenwärtig; für uns ist der Individualismus eine Selbstverständlichkeit. Für ihn muß man nicht weiter argumentieren. Schwierig ist es dagegen, Gemeinschaftswerte ins Bewußtsein zurückzurufen. Beginnen wird man dabei zunächst einmal mit der Vergegenwärtigung der faktischen Einbindung des Individuums in
1.4 Individuum und Gemeinschaft
größere Gemeinschaften und seiner Abhängigkeit von ihnen. Beides braucht man nicht weiter zu erläutern. Unser gesamtes Leben und Wirtschaften beruht ja auf Arbeitsteilung, ebenso wie wissenschaftliche Forschung, und fast keiner von uns kann sich auch nur die elementarsten Güter unabhängig von anderen verschaffen. Wir sind fast alle täglich auf das Funktionieren von Landwirtschaft, Industrien, Verkehrsbetrieben, Wasser- und Energieversorgung, Handel, Banken usw. angewiesen. All das sind äußere Abhängigkeiten. Weniger präsent, aber weit wichtiger noch sind Abhängigkeiten in unserem eigenen Denken, Wollen und Fühlen. Wir verdanken die Sprache, die wir sprechen, der Gemeinschaft, in der wir leben, und damit nicht nur unsere Ausdrucksmöglichkeiten, sondern auch das Begriffssystem, in dem wir denken, in dem wir das auffassen, was uns in der Erfahrung begegnet, in dem wir unsere Ziele, Wünsche und Pläne formulieren. Wir übernehmen ferner unser Weltbild von unseren Mitmenschen, machen uns die Wertungen, Ideale und Lebensziele der Menschen um uns herum zu eigen. Von ihnen übernehmen wir Formen des Verhaltens, ja Weisen des Empfindens. Unser Leben hängt also in unzähligen Hinsichten von den Gemeinschaften ab, in denen wir leben. Gemeinschaft ist aber nicht nur Mittel zur Förderung individueller Zwecke, sondern hat einen intrinsischen Wert, einen Wert in sich. Wenn man sagt, menschliches Leben finde seine höchste Erfüllung in der Gemeinschaft mit anderen, so ist das zwar keine Behauptung, der sich jeder aufgrund seiner eigenen Erfahrungen anschließen kann, sie beschreibt aber eines der großen menschlichen Ideale. Formen der Gemeinschaft wie Ehe oder Freundschaft stellen spezifische Erfüllungsmöglichkeiten des Lebens dar. Ohne Teilnahme am Leben anderer, ohne vertrauensvolle Gespräche, ohne gemeinsames Tun, Erleben und Erinnern, ohne jemanden, auf den man sich verlassen kann, fehlt Entscheidendes. Einsamkeit ist gelegentlich willkommen, manchmal notwendig, als Dauerzustand aber kein Ideal, sondern
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ι Größe und Elend des Menschen ein Defizit. Höchste Lebensfülle wird in vielen Kulturen, gerade auch in der jüdisch-christlichen Tradition, im Bild der Feier, insbesondere des Festmahls vorgestellt, als Freude am Dasein in der Gemeinschaft mit anderen. Höchste Lebensfülle entfaltet sich vor allem in der Liebe zweier Menschen. In ihr kann einer für den anderen z u m Licht in seinem Leben werden, z u m Mittelpunkt und Sinn seines Lebens. Heute ist es zwar schwierig, von großen Gefühlen zu sprechen — die W ö r t e r sind abgenutzt und die Ideale entsorgt — , die Realität ist aber doch w o h l im Grunde dieselbe geblieben: A u f die Gipfel des Lebens k o m m e n wir nur gemeinsam. Vieles, was wir tun, dient dem W o h l anderer Menschen und einem gedeihlichen gemeinsamen Leben. Das zeigt sich schon am Phänomen moralischen Handelns. Das soziale Leben erfordert moralische N o r m e n , N o r m e n des Umgangs miteinander. Versuche einer rationalistischen Begründung der Moral gehen davon aus, daß wir in unserem Leben ständig auf andere angewiesen sind und von ihnen nur dann eine Rücksichtnahme auf unsere Interessen erwarten können, w e n n wir unsererseits auf ihre Interessen Rücksicht nehmen. 2 9 D a wir nicht voraussehen können, mit w e m wir es zu tun haben werden und in welchen Situationen das der Fall sein wird, empfiehlt es sich daher, allgemeine Regeln des Umgangs miteinander festzulegen, die niemanden von vornherein benachteiligen, und das sollen die Regeln der Moral sein. Diese Begründungsversuche scheitern j e doch nicht nur, sondern verfehlen das Phänomen des Moralischen von Anfang an. Moral beruht auf dem Respekt vor der personalen
Würde
des anderen,
der
darin
zum
Ausdruck
k o m m t , daß wir uns verpflichtet sehen, zu unterlassen, was seine Freiheit und sein gleiches Recht auf Selbstentfaltung und Mitbestimmung einschränken würde. Schon im Sinn der Pflichtethik ist moralisches Verhalten das genaue Gegenteil des Egoismus, 29
Vgl. dazu Kutschera (1999), 4.3 und (1995).
1-4 Individuum und Gemeinschaft
der auf die Anliegen und Bedürfnisse anderer keine Rücksicht nimmt bzw. das nur soweit tut, als es mittelbar in seinem eigenen Interesse liegt. Größere Dimensionen der Gemeinschaft öffnen sich jedoch, wenn wir den anderen nicht nur als gleichberechtigt respektieren, sondern ihn bejahen, uns darüber freuen, daß er da ist, und ihn zu fördern und ihm zu helfen suchen. Eine solche Zuwendung zum anderen ist keine Basis für eine Ethik im üblichen Sinn, die uns, unabhängig von unseren Gefühlen und Interessen, Normen des Verhaltens auferlegt. Zuwendung läßt sich nicht gebieten. Für alles, was sich gebieten läßt, gibt es Grenzen der Zumutbarkeit, für Zuwendung nicht. Zuwendung bestätigt sich gerade in supererogatorischen Akten, in Handlungen also, die über das Pflichtgemäße hinausgehen. Im normalen Sprachgebrauch bedeutet Zuwendung vor allem die Aufmerksamkeit, Sorge und Hilfe, die wir einem anderen geben. Wir wollen das Wort hier in einem weiteren Sinn verwenden, in dem es auch die Voraussetzung solchen Verhaltens mit abdeckt. Dazu gehört zunächst einmal die Fähigkeit, andere in ihrer Eigenart zu sehen, sie in ihren Gefühlen, Gedanken und Wünschen wie in ihren Taten zu verstehen, sich in ihre Situation zu versetzen. Als nächstes muß die Bereitschaft zum Verstehen dasein; man muß den anderen überhaupt sehen wollen. Erforderlich ist also eine Offenheit für andere, ein Interesse an ihnen, das nicht wieder irgendwie durch ein Eigeninteresse motiviert ist. Wir müssen uns für sie um ihrer selbst willen interessieren, und zwar nicht in einem unverbindlichen Sinn, sondern im Sinn echter Anteilnahme. All das muß gegeben sein, wenn wir uns einem anderen zuwenden, wenn uns an ihm etwas liegt, wenn wir uns über sein Dasein freuen und Gemeinschaft mit ihm suchen, wenn wir uns an seinem Glück freuen, mit ihm trauern, an seinen Sorgen und Hoffnungen teilnehmen. Kommen wir noch einmal auf die Tatsache zurück, daß unsere Sprache eine gemeinsame Sprache ist, und daß all unser Denken in ihr verläuft. Unser innerstes Leben vollzieht sich so
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ι Größe und Elend des Menschen
in einer fortlaufenden Rede, die, obwohl still, doch im Grunde auf Adressaten angelegt ist. Auch unsere Selbstgespräche führen wir in einer Form, deren Ursprung und Grundlage der Dialog ist. Martin Buber hat in seinem Buch Ich und Du (1923) von einem dialogischen Charakter des Menschen, ja der Realität gesprochen. Ich will hier nicht versuchen, seine Gedanken zu interpretieren, sondern nur auf sie verweisen. Buber sagt: »Der Mensch wird am D u zum Ich«, und an anderen Stellen: »Ohne D u kein Ich«. 30 Das heißt: Erst in Beziehungen zu anderen Personen gelangen wir zu uns selbst, und j e tiefer diese Beziehungen sind, desto tiefer kommen wir auch zu uns selbst. Für die Soziologie definiert sich die Individualität, die Persönlichkeit eines Menschen durch seine sozialen Rollen. Auch psychologisch gesehen hängt das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl des einzelnen von der Rolle ab, die er in den verschiedenen sozialen Funktionen und Gruppen hat, wie auch von der Anerkennung durch andere. Was man ist, ist man also zu einem erheblichen Teil kraft seiner Beziehung zu anderen. Buber hat, wenn er von der dialogischen Natur des Menschen redet, aber etwas im Auge, das jenseits solcher soziologischen und psychologischen Kategorien liegt: Man kommt nur in der Gemeinschaft mit anderen zu sich selbst, weil wir unserem innersten Wesen nach auf Gemeinschaft angelegt sind. Reden wir von uns als Menschen wieder im idealen, nicht im beschreibenden Sinn, so müssen wir sagen, daß Zuwendung zu anderen uns ebenso fundamental charakterisiert wie Vernunft. Die Fähigkeit und Bereitschaft, an anderen um ihrer selbst willen ernsthaft Interesse zu nehmen, sich ihrer Eigenart, ihrem Eigenwert, ihrer Situation, ihren Anliegen, Sorgen und Nöten, Freuden und Leiden zu öffnen, ist mit Vernunft als Fähigkeit und Bereitschaft, sich am objektiv Richtigen zu orientieren, verwandt: In Zuwendung wie Vernunft gehen wir über unsere 30
Werke I, S. 97.
1.4 Individuum und Gemeinschaft
Selbstzentriertheit, die Konzentration auf unsere eigenen Interessen, Sorgen und Hoffnungen, auf unsere partikulären Perspektiven hinaus. Erst dieses Hinausgehen aus dem Kasten des Ich in die Weite der Wirklichkeit u m uns herum macht den Menschen im vollen Sinn aus — und bleibt in den biologischen Kategorien des Kampfes ums Uberleben und sich Durchsetzens unverständlich. Bubers Wort vom dialogischen Wesen des Menschen beinhaltet nicht nur, daß er in der Gemeinschaft mit anderen existiert und nur in ihr zu sich selbst findet, sondern auch, daß diese Gemeinschaft wesentlich eine Gemeinschaft im Wort und Gespräch ist. Nach stoischer Lehre ist es die gemeinsame Vernunft, die uns zu sozialen Wesen macht. Vernunft, haben wir gesagt, ist die Fähigkeit und Bereitschaft, sich am objektiv Richtigen zu orientieren. Als vernünftige Menschen haben wir daher prinzipiell dieselben Ziele und erkennen dieselben Werte an. W i r können zwar durchaus unterschiedliche Ansichten über das haben, was richtig ist, sofern wir am objektiv Wahren und Guten interessiert sind, bleiben solche Divergenzen aber vorläufig und lassen sich überwinden. Bloße Intelligenz begründet keine Gemeinschaft, sondern lediglich ein intelligentes Verfolgen individueller, und das heißt vielfach: konträrer Ziele. Gemeinschaft, die trägt, ist immer auch Wertegemeinschaft. W i r finden zusammen und stehen zusammen, wenn wir gemeinsame Ziele haben. Für Mark Aurel waren wir Menschen als Vernunftwesen Verwandte. 3 1 W i r sind alle Teile eines großen Ganzen, und je stärker einer am Leben des Ganzen teilnimmt, je mehr er sich dessen Ziele zu eigen macht, desto tiefer k o m m t er zu sich selbst. Für Mark Aurel ist Vernunft auch Fähigkeit und Bereitschaft, sich am Gemeinsamen zu orientieren. Er beschreibt damit das, was man als Paradoxie der Vernunft bezeichnen kann: Eigenstes und zugleich Gemeinsames zu sein. Im vernünftigen Herangehen an die Dinge nehmen wir eine eigenständige, unabhängige 31
Zu sich selbst, v g l . ζ . Β . X I , 8 .
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ι Größe und Elend des Menschen
Haltung zu ihnen ein, mit der wir uns auch in der Reflexion identifizieren können. Seit Sokrates gilt daher die Seele, die Vernunft als innerster, eigenster Kern der Person. In diesem eigensten Innern beziehen wir uns aber in freier Entscheidung auf etwas Objektives, von uns und unseren Meinungen und Interessen Unabhängiges. Dieses Phänomen, daß wir uns im eigensten Wesen auf anderes beziehen, begegnet uns in der dialogischen Natur des Menschen wieder, in unserer Fähigkeit und Bereitschaft, uns anderen zuzuwenden, in der Anlage unserer Existenz auf Gemeinschaft hin, kraft der wir um so tiefer ins Eigene kommen, je stärker wir uns anderen öffnen. Das Ideal menschlicher Gemeinschaft ist von der Realität des Alltags freilich oft weit entfernt. Die Vertiefung von Beziehungen scheitert häufig an der Unfähigkeit, den anderen zu verstehen, sich auf seine Sorgen und Freuden einzulassen, ihm zuzuhören — dazu ist man meist zu sehr mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt oder klebt zu sehr an den eigenen Vorurteilen. Wir leiden an der Abhängigkeit von anderen, unter der Mißachtung oder Unterdrückung durch sie. Andere sind uns oft bloß im Wege und gehen uns auf die Nerven. Die Abläufe des Lebens lassen wenig Raum für tiefere personale Beziehungen — dafür sind wir freilich auch selbst mitverantwortlich. Die Dürftigkeit unserer Beziehungen zu anderen liegt nicht immer nur an der Stärke unseres Egoismus, denn die Forderung, den anderen anzunehmen und auf ihn einzugehen, ist häufig schwer zu erfüllen. Zu einer Gemeinschaft kommt es nur, wenn jeder sich dem anderen öffnet, sich bemüht, auf ihn einzugehen und ihn zu verstehen. Schon die Fähigkeit, andere zu verstehen, insbesondere dort, wo sie von uns selbst ganz verschieden sind, ist nicht gerade weit verbreitet, noch weniger die Bereitschaft, sich um ein Verständnis zu bemühen, und beide nehmen schnell ab, wenn man selbst unter Druck gerät. Die Schwierigkeiten echter Zuwendung zeigen sich bereits an der moralischen Grundforderung, die
1.4 Individuum und Gemeinschaft
personale Würde des anderen zu achten. Sie verlangt j a von uns nicht nur Achtung vor dem, der sich korrekt benimmt, sondern auch Achtung vor der Person dessen, der sich selbst über moralische Regeln hinwegsetzt und sich wie ein Schwein verhält. Das moralische Grundgebot verlangt von uns ferner, die Freiheit der anderen auch dann zu respektieren, wenn sie ihre Freiheitsrechte nicht verantwortlich ausüben. Das demokratische Recht auf politische Mitbestimmung muß man ζ. B. auch denen einräumen, die sich nicht einmal um die für eine rationale Wahlentscheidung notwendigen Informationen bemühen. Man muß eine Mehrheitsentscheidung auch dann akzeptieren, wenn sie offensichtlich falsch ist und ihre negativen Konsequenzen absehbar sind. Jeder ist natürlich verpflichtet dafür einzutreten und dafür zu werben, daß das Richtige getan wird, er muß anderen aber auch dort Freiheiten einräumen, wo das nicht der Fall ist. Sich auf Gemeinschaft einzulassen schließt die Bereitschaft ein, dem Gemeinsamen zu folgen, auch dort, wo man es für falsch hält — Ausnahmen bilden natürlich Verstöße gegen moralische Grundnormen. Wenn Heraklit fordert (Fragment Β 2), dem Gemeinsamen zu folgen, meint er die gemeinsame Vernunft. Anderen auf vernünftigen Wegen zu vernünftigen Zielen zu folgen, ist aber weit einfacher, als ihnen auch dann zu folgen, wenn man davon überzeugt ist, daß ihr Weg falsch ist. Sich einem anderen rückhaltlos zuwenden heißtjedoch: Mit ihm gehen, wohin er auch geht. Vernunft, Freiheit und Zuwendung gehören zusammen und charakterisieren zusammen das, was wir hier die geistige Natur des Menschen nennen wollen. Ich habe schon im Abschnitt 1.3 daraufhingewiesen, daß Erkenntnisfähigkeit Freiheit im Denken voraussetzt, und daß ohne Einsicht von Freiheit nicht die Rede sein könnte. Oben habe ich die Verwandtschaft zwischen Vernunft und Zuwendung betont. Tatsächlich besteht weder eine scharfe Grenze zwischen der Fähigkeit zur Erkenntnis von Gegenständen und der von Personen, noch eine scharfe Grenze zwischen der Weltoffenheit und der Offenheit für andere Men-
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ι Größe und Elend des Menschen
sehen. Dennoch wäre es sprachlich gewaltsam, Zuwendung insgesamt zur Vernunft zu rechnen oder umgekehrt. Wichtiger als die Einheit der Bezeichnung ist die Verwandtschaft in der Sache, die es rechtfertigt, beides als Ausprägung der einen geistigen Natur zu verstehen. Deren Eigentümlichkeit ist dann darin zu sehen, daß sie einerseits das Zentrum der Person ausmacht, dieses Zentrum andererseits aber gerade in der Offenheit auf die äußere Wirklichkeit hin lokalisiert. Die Paradoxie der Vernunft, der Zuwendung, der geistigen Natur insgesamt besteht darin, daß der W e g der Person zu sich selber zugleich als W e g über sich hinaus erfahren wird, und der wiederum als Weg, auf dem man in neuer und tieferer Weise zu sich selbst kommt. Hier geht es nicht um eine Metaphysik des Geistigen, sondern zunächst einmal darum, das Phänomen zu sehen, das Geistige als das zu verstehen, was den Kern der eigenen Person ausmacht, das, w o z u man sich bekennen muß, wenn man sich zu sich selbst bekennen will, den Boden, auf den man sich stellen muß, wenn man sich überhaupt auf existentielle Fragen einläßt. Es kommt darauf an einzusehen, daß dieser Boden sich nicht wegerklären läßt, daß alle Versuche des Materialismus, Subjektivität, Bewußtsein, Freiheit, Weltoffenheit, Vernunft und Zuwendung aus Physischem abzuleiten, von vornherein verfehlt sind — andernfalls stellen sich , wie schon eingangs betont wurde, die existentiellen Fragen gar nicht erst, denen wir hier nachgehen.
1.5 Geist und Körper Eines der wichtigsten Motive des Leib-Seele-Dualismus war und ist es, die Ambivalenz des Menschen dadurch zu erklären, daß man ihn als Verbindung zweier verschiedenartiger Substanzen begreift, als Verbindung einer immateriellen Geist-Seele mit einem materiellen Körper. Das, was ihn groß macht, schreibt man dabei der Seele zu, während man die Körperlichkeit als Quelle alles Schlechten ansieht, als Ursprung von Krankheit, Vergänglichkeit und Tod, von Trieben und egoistischen Neigungen. Vor-
1.5 Geist und Körper
aussetzung für diesen Dualismus war die konzeptuelle Verselbständigung von Seele und Körper. Bei H o m e r ist psyche ursprünglich die Totenseele, soma der Leichnam; beide entstehen erst beim Tod der Person. Für Seele und Körper des Lebenden treten bei H o m e r jeweils unterschiedliche seelische bzw. körperliche Fähigkeiten ein. W e n n nun aber so verschiedenartige Dinge wie Seele und Körper nicht erst beim Tode entstehen, sondern schon im lebenden Menschen vereint sind, so ist er in sich zutiefst gespalten. Aus östlichen religiösen Quellen kam die Vorstellung eines himmlischen Ursprungs der Seele hinzu und die Idee der Seelenwanderung oder Wiederverkörperung derselben Seele in ganz unterschiedlichen Körpern. Von daher lag es dann nahe, die Person mit der Seele zu identifizieren und ihre Einkörperung als den Grund menschlichen Elends anzusehen. Schon in der Orphik war vom Körper als Gefängnis oder gar Grab der Seele die Rede. Philosophische Gestalt bekam der Dualismus bei den Pythagoreern und, für uns greifbarer, bei Piaton. Großartige Zeugnisse dafür finden sich im Phaidon und Phaidros. Im Staat sagt Sokrates: »Was aber die Seele in Wahrheit ist, kann man ihr nicht so ansehen, wie wir sie jetzt vor uns haben, verunstaltet durch die Verbindung mit dem Leib und andere Übel, sondern man m u ß denkend zu erfassen suchen, wie sie ist, wenn sie sich reinigt. Dann wirst du sie viel schöner finden und sehen, daß sie viel klarer Recht und Unrecht unterscheidet und alles, was wir eben besprochen haben. Jetzt aber haben wir zwar richtig von ihr geredet, wie sie gegenwärtig erscheint. Wir sehen sie aber nur in dem Zustand, wie die, welche den Meergott Glaukos erblicken und dabei kaum seine ursprüngliche Natur erkennen, weil seine alten Glieder teils zerschlagen, teils zerschmettert und auf alle Weise von den Wellen beschädigt sind, während ihm andererseits Neues angewachsen ist: Muscheln, Tang und Gestein, so daß er eher einem Ungeheuer gleicht als dem, was er vorher war. So sehen wir auch unsere Seele, von tausend Übeln
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zugerichtet.« 32 Der wie ein gesunkenes Schiffswrack von den Gewalten des Meeres entstellte, von Muscheln und Tang bedeckte Gott ist eines der eindrucksvollsten Bilder für die dualistische Sicht der Seele. Seine für die neuzeitliche Philosophie maßgebliche Form hat der Dualismus bei Descartes gefunden, für den Seelen und Körper zwei radikal verschiedene Arten von Substanzen sind, so verschieden wie ihre Grundeigenschaften: Denken bzw. Ausgedehntsein. Der Mensch ist eine Verbindung einer Seele mit einem Körper, wobei die Seele mit dem Subjekt, dem Ich identifiziert wird. Wegen der großen Schwierigkeiten, kausale Wechselwirkungen zwischen zwei derart unterschiedlichen Substanzen anzunehmen,
wird
dieser
Cartesische
Substanzendualismus
heute auch von denen kaum mehr vertreten, die den Materialismus, die Reduktion des Psychischen aufs Physische ablehnen. 33 Plausibler ist ein Eigenschaftsdualismus, für den jede Person nur eine einzige Substanz ist, die aber sowohl physische wie psychische Eigenschaften hat. Noch plausibler ist es allerdings, ein kontinuierliches Spektrum personaler Eigenschaften anzunehmen, das von rein psychischen Eigenschaften wie > glauben, daß der homo sapiens aus Afrika stammt< bis zu rein physischen Eigenschaften reicht wie >80 kg wiegen«Der Mond ist rund« sagen< bzw. >sagen, daß der Mond rund ist