Analogie: Zur Aktualität eines philosophischen Schlüsselbegriffs 9783495998199, 9783495488652


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Das analogische und das wissenschaftliche Denken
1. Das wissenschaftliche Denken
2. Das Analogiedenken
3. Anwendungsfelder des Analogiedenkens
4. Untergang und Wiederauferstehung des Analogiedenkens
Entsprechungen jenseits der Analogie
1. Analogie in Husserls V. Cartesianischer Meditation
2. Von der Einheitlichkeit der Welt zum Zwischenreich der Perspektiven
3. Von der Analogie zur Entsprechung
4. Interkulturelle Begegnung
Die Analogie bei Archytas von Tarent
1. Zum mathematisch-arithmetischen Aspekt
2. Zum ontologischen Aspekt
3. Zum musikalisch-harmonischen Aspekt
4. Zum räumlich-harmonischen Aspekt
Sophron oder von der Analogie
Analogische Zeugung
Das schönste Band und die Analogia
Das Physische, Physiologische und Analogische in der aristotelischen Beschreibung der Sinneswahrnehmung
1. Vorwort: Über die zweite Spur des Seins.
2. Über den Übergang von der Physik zur Physiologie
3. Der Übergang von externen Medien in das Innere der Sinneswahrnehmung
4. Die Analogie der Physiologie als Mimesis. Die Membran.
5. Die körpervermittelte Selbstaffiziertheit der Seele. Der Tastsinn.
6. Die Thematisierung der Grenze durch Verleiblichung der Seele. Die Hand.
7. Das Fleisch als Spiegelphänomen
Analogie oder Dialektik des Seins?
1. Einleitung
2. Thomas von Aquin – die analoge Verursachung der Welt durch Gott
2.1 Analogie in der Prädikationslehre
2.2 Analoge Verursachung
3. Hegel – das »ideelle« Sein der Welt und seine Aufhebung im »wahren« Sein Gottes
4. Analoges oder dialektisches Sein der Welt? – Thomas und Hegel im Gespräch
Kant, Herder und der Streit um die Analogie
1. Kant zur Analogie (1770er-1785)
2. Herder zur Analogie
3. Die Analogie in der Kritik der Urteilskraft und in der Jäsche-Logik
4. Analogie und Wissenschaft
Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie
1. Philosophischer und physikalischer Hintergrund für Maxwells Analogiedenken
2. Maxwells Methode der Analogie
3. Physikalische Analogien bei Helmholtz
4. Die Analogie zwischen Quantitäten und Zahlen
5. Schluss
Die Funktion der Analogie in der phänomenologischen Konstitutionsproblematik
1. Analogie als dynamisch-transversale Funktion
2. Analogie und Indirektheit
3. Abschließende Bemerkungen
Von der Analogie zur Tautologie
1. Vorbetrachtung: Entsprechung, Parallelismus und Analogie in der »kategorialen Anschauung«
2. »Köln« und »weißes Papier«. Wahrnehmung, Bild- und Selbst-Sein
2.1. Zwischenbetrachtung: Vorstellung, Analogische Repräsentation und der ›Überschuss‹ in der Satzgliederung
3. »Für Husserl war da nicht der Schatten einer möglichen Frage …« Ein Kritikpunkt Heideggers (Zähringen, 1973)
4. Rene Char, der Mond und der Louvre. ›Lichtung‹ versus Vorstellung und Wahrnehmung
5. Schlussbetrachtung. Der Schritt zurück. Die Tautologie.
Analogie als Ereignis: Heideggers Rezeption und Transformation der Analogie bei Aristoteles und Brentano
1. Analogie und Seinsfrage: Heidegger rezipiert Brentano
1.1 Brentanos ›Deduktion‹ der Analogie
1.2 Die Aporie der Analogie
2 Analogie, Seinsverständnis und Temporalität
2.1 Die ›Deduktion‹ aus dem Seinsverständnis
2.2 Die ›Deduktion‹ aus der Temporalität des Seins
3. Analogie als Ereignis
3.1 Das ›Ge-Stell‹ als Analogie zum gleichen Terminus
3.2 Das ›Geviert‹ als Analogie der Proportionalität
4. Schluss
Synonymie und Analogie
1. Synonymie und Analogie – einführende Präsentation der analytischen Intentionen der Fallstudie
2. Synonymie und Analogie – die Formulierung einiger Voraussetzungen der analytischen Vorgehensweise mit Bezug auf die mathematische Fallstudie
3. Synonymie und Analogie – eine synthetische Darlegung des hierzu anzuwendenden mathematischen Formalismus
4. Vorbemerkungen zur Fallstudie
5. Fallbeispiel
6. Schlussfolgerung
Zu den Autoren
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Analogie: Zur Aktualität eines philosophischen Schlüsselbegriffs
 9783495998199, 9783495488652

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A

Clara Carus

Heidegger Noveanu | Koch | Weidtmann im Ausgang Analogie Kants? Zur Aktualität eines

[Hrsg.]

philosophischen Schlüsselbegriffs Heideggers Kantauslegung im Lichte der systematischen Rolle der Zeit in Kant

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495998199

B .

https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

Alber Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

Alina Noveanu | Dietmar Koch Niels Weidtmann [Hrsg.]

Analogie Zur Aktualität eines philosophischen Schlüsselbegriffs

https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-48865-2 (Print) ISBN 978-3-495-99819-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

Vorwort

Analogie. Zur Aktualität eines philosophischen Schlüsselbegriffs Im antiken Denken stellt die Analogie (gr. analogía, lat. proportio) das erkenntnistheoretische Prinzip par excellence dar. Die Lehren der pythagoreischen Schule, insbesondere des Archytas von Tarent aufnehmend spricht Platon im Dialog Timaios von der Analogie als dem »schönsten Band«, das den Kosmos zusammenhält, und in der Politeia veranschaulicht er seine Auffassung von der höchsten Idee im Liniengleichnis anhand analoger Verhältnisse. Aristoteles distanziert sich bekanntlich von Platons Kosmologie, setzt das Analogiedenken aber vielfach ein: Der Nikomachischen Ethik zufolge soll das über die Analogie zu gewinnende »Gemeinsame«, und nicht die Teilnahme an einer Idee, dasjenige bestimmen, was als das Gute allgemein anerkannt wird. Auch die mathematischen Anwendungsmöglichkei­ ten der Analogie finden sich bei Aristoteles wieder. Er überträgt sie auf die Physik und andere naturwissenschaftliche Gebiete im Sinne eines logisch-methodologischen Prinzips der Ordnung alles Messba­ ren nach der zutreffenden Mitte. Gleichzeitig zeigt Aristoteles, dass die Berücksichtigung von Analogien zwischen verschiedenen Arten und Gattungen ein besseres Verständnis von Strukturmerkmalen in der Biologie ermöglicht. Das Bekannteste und in seiner Wirkungsge­ schichte mächtigste analogische Verhältnis ist jedoch das von Aristo­ teles mit dem Ausdruck Pros-hen beschriebene, das die Grundlage der Seins-Analogie-Lehren bildet, die das Mittelalter prägen. Trotz seiner mathematischen Herkunft verliert der Analogiebe­ griff im Laufe des Mittelalters nach und nach seine streng wissen­ schaftliche Beweiskraft. Die Bedeutung der Analogie, die jetzt zumeist als »Entsprechung« oder »Ähnlichkeit« gefasst wird, bezieht sich zunehmend auf die sprachliche Ebene. Thomas von Aquin versteht das analoge Verhältnis im Sinne eines Mittleren zwischen Univoka­ tion und Äquivokation. Mit der Verwendung des Analogiebegriffs zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und Geschöpf

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wendet sich die Hochscholastik schließlich ganz vom mathematischen Proportionalitätsgedanken der Pythagoreer ab. In der Neuzeit verliert das Analogiedenken weiter an Bedeutung. Spätestens seit Kant kann das Analogieverfahren keinen Anspruch mehr auf objektive Erkenntnis erheben, der einer ernsthaften philo­ sophischen Kritik standhalten würde, trotz der für ihn so wichtigen »Analogien der Erfahrung«. Aber auch wenn das Analogiedenken im Zuge der Aufklärung seiner erkenntnistheoretischen Würde beraubt wird, verschwindet es doch nicht ganz. In dichterischen Tropen bleibt die Analogie allgegenwärtig und legt Zeugnis davon ab, dass leben­ diges Sprechen jenseits von Logik und Grammatik auch anderen, subtileren Assoziationsgesetzen folgt. Im 20. Jahrhundert interessiert sich auch die Philosophie erneut für das Analogiedenken. Es findet Eingang in die Phänomenologie (das Prinzip passiver Genesis ist für Edmund Husserl die Assozia­ tion) und in die Psychoanalyse. Der vorliegende Band Analogie. Zur Aktualität eines philosophischen Schlüsselbegriffs stellt sich der Herausforderung, den Begriff der Analogie ausgehend von der Antike über das Mittelalter und durch das neuzeitliche Denken hindurch bis heute zu untersuchen und das Potential des Analogiedenkens im Kontext gegenwärtiger philosophischer (und in einem Beitrag auch naturwissenschaftlicher) Diskussionen zu entfalten. Tübingen, im November 2022 Die Herausgeber

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Inhaltsverzeichnis

Karen Gloy Das analogische und das wissenschaftliche Denken Verabschiedung der Analogie in der Renaissance und Wiedergeburt in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Niels Weidtmann Entsprechungen jenseits der Analogie

9

Anmerkungen zur Intersubjektivität und Interkulturalität . . . . . .

35

Manuel Schölles Die Analogie bei Archytas von Tarent . . . . . . . . . . . .

63

Elenio Cicchini, Nicoletta Di Vita Sophron oder von der Analogie . . . . . . . . . . . . . . .

75

Damir Barbarić Analogische Zeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Dietmar Koch Das schönste Band und die Analogia Zu Platons »Timaios« (31b – 32c) . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Virgil Ciomoş Das Physische, Physiologische und Analogische in der aristotelischen Beschreibung der Sinneswahrnehmung . . .

113

Johannes Brachtendorf Analogie oder Dialektik des Seins? Das Verhältnis von Gott und Welt im kosmologischen Gottesbeweis nach Thomas von Aquin und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . .

143

7 https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

Inhaltsverzeichnis

Dalia Nassar Kant, Herder und der Streit um die Analogie . . . . . . . .

165

Michael Heidelberger Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie . . . . . . .

187

Ion Copoeru Die Funktion der Analogie in der phänomenologischen Konstitutionsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Alina Noveanu Von der Analogie zur Tautologie Anmerkungen zu einer späten Auseinandersetzung Martin Heideggers mit der Phänomenologie Edmund Husserls . . . . . . . . . . . .

227

Simon Schüz Analogie als Ereignis: Heideggers Rezeption und Transformation der Analogie bei Aristoteles und Brentano

251

Marcel Bodea Synonymie und Analogie

Eine analytische Perspektive auf eine mathematische Fallstudie . . .

281

Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

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Karen Gloy

Das analogische und das wissenschaftliche Denken Verabschiedung der Analogie in der Renaissance und Wiedergeburt in der Moderne

In der Gegenwart erlebt das Analogiedenken Hochkonjunktur. Nicht nur werden immer mehr Bücher dieser Thematik auf den Markt geworfen, zunehmend widmen sich auch Kongresse, Konferenzen und Round-Table-Gespräche dieser Thematik. War das Analogieden­ ken jahrhundertelang, nämlich seit dem Emporkommen der neuzeit­ lichen Naturwissenschaften am Ende der Renaissance, in Diskredit geraten, aus dem Bewusstsein der Elite verdrängt und fristete nur noch unterschwellig im Alltag sein Dasein, so drängt es heute vermehrt wieder hervor. Im Alltagsbewusstsein war es nie ganz verschwunden, haben wir doch die Neigung, menschliche Verhaltensweisen mit tierischen zu identifizieren, z. B. von den emsigen Bienen zu sprechen, von den sanften Lämmern, den friedfertigen Tauben, den gefräßigen Wölfen, der Rabenmutter usw., obgleich diese Vergleiche (Analogien) einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten, da ein Rabe sich genauso fürsorglich um die Aufzucht seiner Jungen kümmert wie jedes andere Tier. Angesichts der ungeheuren Komplexität der Welt, der wir uns auf allen Gebieten konfrontiert sehen, die nicht zum wenigsten verursacht ist durch die Globalisierung und die modernen Medien und Technologien wie das weltumspannende Internet, welche die Welt zu einem globalen Dorf haben werden lassen, stehen wir heute vor Problemen, die so vor einigen Jahrzehnten noch nicht abzusehen waren. Die Distribution aller Arbeits-, Produktions- und Entscheidungsprozesse auf verschiedene Instanzen und Gebiete, oft nicht nur auf diverse Regionen, sondern auf diverse Kontinente, und deren Wiederzusammenführung, Koordination und Organisation (Management) verlangen wie in einem Dorf Gesamtüberblick und

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Karen Gloy

-einsicht sowie generelle Beurteilungskriterien, um einen geregelten Verlauf und die friedliche Koexistenz zu gewährleisten. Keine Politik, keine Wirtschaft, kein Handel, keine Finanzwelt ist heute ohne welt­ weite Aktivitäten denkbar. Die Basis für ein vernünftiges und kontrollierbares Handeln lie­ ferten bisher die Wissenschaften, die jedoch angesichts der Vielgestal­ tigkeit und Vielzahl der Innovationen immer mehr versagen. Weder ein Einzelner noch ein Team ist heute in der Lage, alles zu überblicken. Die Zahl der Publikationen mit neuesten Forschungsergebnissen wächst exponentiell, während die Verfallsrate gleichzeitig drastisch schwindet. Nach Asari Polikarov folgt »im Durchschnitt […] alle 14 Jahre eine Verdoppelung der Zahl der Publikationen, d.h. dass in zwei Jahrhunderten die Zahl etwa 215 (≈3*104) mal zugenommen hat«.1 Da die alten, bewährten Standards des Zugangs zur Wirklichkeit wie das wissenschaftliche Denken zur Bewältigung der sogenannten high variety systems an ihre Grenze gelangt sind, ist nach neuen Methoden der Komplexitätsbewältigung Ausschau zu halten. In der gegenwärtigen Diskussion werden folgende Modelle diskutiert: 1. Der ursprünglichste und primitivste Versuch einer Bewälti­ gung ist das Ausprobieren, das Trial-and-Error-Verfahren, wie wir es aus dem kindlichen Spiel, der handwerklichen Praxis oder dem künstlerischen Experimentieren kennen. Auch wenn sich ein Großteil des Zugangs zur Welt tatsächlich auf diese Weise erschließt, ist die Gefahr des Scheiterns, sowohl des absoluten wie des partialen Kollapses, ständig gegeben. Das erste Mal, sei es die erste Operation am menschlichen Herzen oder am menschlichen Gehirn, vollzogen ohne genügende Erfahrung, ist immer mit enormen Risiken behaftet, der Ausgang daher ungewiss. 2. Ein zweiter Weg ist die Konzentration auf einiges Wenige, die Ausklammerung bzw. Verdrängung alles anderen. Wir kaprizieren uns hier auf einzelne signifikante Daten, denen wir eine herausra­ gende Stellung verleihen und die wir zu unserem Leitfaden und zu unserer Richtschnur wählen, während wir alles andere mehr oder weniger bewusst übersehen. Es handelt sich um ein Verfahren der Simplifizierung und Trivialisierung. Während im Alltag und zum Überleben, auch und gerade zur Bewältigung psychischer Probleme 1 Asari Polikarov: Strukturmodelle der Wissenschaftsentwicklung, in: Friedrich Rapp (Hrsg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Ent­ wicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981, S. 111–119, bes. 119.

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

wie Traumata, die Verdrängung ein praktikabler Weg sein kann, sind Simplifikationen in anderen Fällen wie politischen, juristischen, merkantilen oft eine problematische und waghalsige Angelegenheit, da nicht alle Umgebungsfakten berücksichtigt werden. 3. Nicht unerwähnt bleiben darf ein heute vieldiskutiertes Ver­ fahren: der intuitive, fast schon instinktive Zugang zu Phänomenen, den wir auch Bauchgefühl nennen im Unterschied zur vernunftge­ mäßen Abwägung von Urteilsgründen. Es handelt sich hierbei um eine instantan, ad hoc sich einstellende Situationserfassung und -beurteilung ohne Zuhilfenahme rationaler Erwägungen. Sie dürfte sich nicht nur im Laufe der individuellen Entwicklung des Menschen, also ontogenetisch in Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus­ gebildet haben, sondern auch phylogenetisch auf dem Wege der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Menschen und dazu geführt haben, dass Archetypen (Grundmuster) in uns niedergelegt sind, die wir anlässlich bestimmter Situationen aktualisieren. Wie wichtig diese intuitive Erkenntnis- und Entscheidungsart ist, zeigt, dass sie für unseren Alltag unentbehrlich ist und jeder rationalen Erwägung präferiert wird. Jeder, der ehrlich ist, wird bezeugen, dass bei einem Einstellungsgespräch der allererste Eindruck des Bewerbers, wenn dieser auf der Türschwelle erscheint, über Einstellung oder Absage entscheidet. Alle rationalen Gründe sind später nachgereicht und nicht mehr ausschlaggebend. Der erste Eindruck heißt auch nicht zufällig fruchtbarer oder prägnanter Moment. Für viele Berufe ist diese instantane Situationserfassung – Kant nannte sie kritische Urteilskraft – und die ihr entsprechende Kunst­ fertigkeit und Geschicklichkeit entscheidend, oft ist sie bedeutsamer als die theoretische Analyse, das schul- bzw. methodengerechte Vor­ gehen. Ein genialer Operateur, ein guter Sportler, ein weitsichtiger Politiker, ein hervorragender Schriftsteller handeln instinkt- und stilsicher, ohne rationale Abwägung aller Gründe, die sowieso nicht in Gänze bekannt sein können. Die kritische Situation, die über Krieg oder Frieden entscheidet, der Aufstieg und Fall einer Firma verlangen eine unmittelbare Entscheidung, bei der Instinktsicherheit, nämlich das Bauchgefühl vorausgesetzt wird. Reflex und Reflexion verhalten sich diametral. Je höher die Reflexion steigt, desto geringer ist die Fähigkeit zur schnellen, instantanen Entscheidung; und umgekehrt, je instinktsicherer die Praxis ist, desto geringer ist die Reflexion. Ich verweise auf ein instruktives Beispiel von Klein, das den Fall eines Gehirnoperierten zeigt, dessen rationales Vermögen erhalten

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Karen Gloy

blieb. Es war auf Gewinnmaximierung eingestellt (gedrillt). Vor zwei Kartenhaufen gestellt, deren einer häufig kleinere Gewinne versprach und seltene große Verluste, deren anderer einen seltenen großen Gewinn, aber ebenso großen Verlust versprach, griff der Patient Elliot stets nach dem größten, aber seltenen Gewinn, im Gegensatz zum Normalbürger, der häufigere kleinere Gewinne präferiert. Die strikte Befolgung rationaler Argumente führte Elliot systematisch in den Bankrott. So unumgänglich das Bauchgefühl und handwerkliche Geschick im Alltag, im Umgang mit der Welt und in gewissen Berufen sind, so unheimlich und unberechenbar sind sie, da sie sich einer intersubjektiven Kommunikation und Kontrolle entziehen. Rein sub­ jektiv und privat verlangen sie Vertrauen von anderen, das jedoch aufgrund von Fehlentscheidungen und Fehlbeurteilungen nicht selten enttäuscht wird. 4. Der bisherige Favorit unter den Methoden der Komplexitäts­ reduktion war zweifelsohne der wissenschaftliche Umgang mit der Welt, die Verstandeserkenntnis mit Begriffen, Urteilen und Schlüs­ sen. Er folgt der formalen Logik mit ihren Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Da es sich jedoch um ein artifizielles, widerspruchsloses System handelt, das der konkreten, widersprüchlichen Wirklichkeit aufok­ troyiert wird, zeigt sich hier eine Diskrepanz, die umso größer ist, je reichhaltiger und komplexer die Wirklichkeit vorgestellt wird. Bei der Anwendung dieses Systems auf die Wirklichkeit ist von Anfang klar, dass absolute Sicherheit und Gewissheit auf diese Weise unerreichbar sind. Darüber hinaus krankt das System an dem Defizit, dass die Integrierbarkeit aller Aussagen in das Gesamtsystem unabschließbar ist oder allenfalls einen unendlichen Forschungsprozess ausmacht. Da jede Hypothese und jede Theorie gegenüber den konkreten Fakten unterbestimmt ist, ist sie mit diversen Fakten kompatibel, und sofern jedes Faktum überbestimmt ist, bestätigt es sowohl die eine wie die alternative Hypothese. Glaubte Karl Popper noch an einen Approxi­ mationsprozess der Erkenntnis an die Wirklichkeit, so hat Quine eine solche Meinung als Illusion ad absurdum geführt. 5. Angesichts der Unzulänglichkeit des wissenschaftlichen Para­ digmas legt sich das Analogiedenken nahe, das die hochkomplexe, d. h. aus den verschiedensten Teilen zusammengesetzte, disparate Wirklichkeit durch ein System zu erfassen sucht, das weitaus komple­

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

xer ist als das mit dem Ausschluss des Widerspruchs operierende wissenschaftliche Denken. Bevor der Frage nachgegangen werden kann, warum das Analo­ giedenken im Streit mit dem wissenschaftlichen Denken am Ende der Renaissance in Europa diskreditiert und marginalisiert wurde und erst heute wieder aufersteht, während es in Ostasien bis in die Gegenwart hinein wirksam blieb, müssen beide Denkarten genauer charakterisiert werden. Beide haben den Vorteil gegenüber anderen Methoden der Komplexitätsreduktion, die sinnlich, emotional oder gesamtleiblich sind, dass sie rationale Weisen der Welterfassung darstellen sowie mit Begriffen und Vorstellungen (Bildern) operieren, wenngleich auf verschiedene Art und Weise.

1. Das wissenschaftliche Denken Hauptanliegen der wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Natur (der Welt) ist die Exaktheit und Präzision der Erkenntnis. Als oberste Kriterien gelten dieser Wissenschaft erstens semantische Klarheit, d. h. exakte Bestimmung und Festlegung des Objektes durch Begriffe und deren Unterscheidung von anderen Objekten, zweitens intersubjektive Kommunikation, d. h. Allgemeinverständlichkeit und Mitteilbarkeit und drittens generelle Kontrollierbarkeit, d. h. Über­ prüfbarkeit aller Ergebnisse. Alle drei lassen sich zusammenfassen zur Objektivationsmethode, die die Natur nicht nimmt, wie sie sich in ihrer Fülle von Eigenschaften, Quantitäten, Qualitäten, Habitua­ litäten, Werten u. Ä präsentiert, sondern wie sie gemäß einem a priori festgelegten Programm hergerichtet, d. h. manipuliert wird. Die Erfüllung der Kriterien lässt sich nur auf formalem Wege denken, was der Grund dafür ist, dass sich das wissenschaftliche Denken auf Logik und im Anschluss daran auf Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Proportionslehre) kapriziert. Dazu beruft sie sich auf die von Aristoteles formulierte formale Logik mit den Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausge­ schlossenen Dritten, deren erstes besagt, dass eine gegenständliche Festlegung durch alle Spezifikationen und Modifikationen hindurch durchzuhalten ist, deren zweites ausschließt, dass ein Gegenstand, der durch ein bestimmtes Prädikat A fixiert ist, gleichzeitig durch das gegenteilige non-A bestimmt sein kann, und deren drittes besagt, dass bei der Bestimmung eines Gegenstandes von zwei gegensätzlichen

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Karen Gloy

Prädikaten nur eines vorliegen kann, das andere ausgeschlossen ist, also nur ein Entweder-oder gilt. Obgleich diese sogenannte aristotelische formale Logik in der Moderne einige Erweiterungen erfahren hat, z. B. in der epistemi­ schen, der deontischen oder der modalen Logik, ist sie weiterhin in Geltung, insbesondere was den Satz des auszuschließenden Widerspruchs anbelangt; denn in der Wissenschaft wird niemand Widersprüche dulden. Klarheit und Deutlichkeit begrifflicher Bestim­ mungen in Argumentationen und Schlüssigkeit in Beweisen und Begründungen scheinen nur durchzuhalten zu sein, wenn Widersprü­ che vermieden werden. Daher haben sich Naturwissenschaftler auch nie mit Logiken des Widerspruchs anfreunden können, weder mit der Dialektik, die auf der Geltung des Satzes vom Widerspruch basiert, noch mit der indischen oder fernöstlichen, spätmohistischen Logik, die als konkrete Logiken den Satz tertium non datur bestreiten.2 Dass eine solche Logik bestimmte ontologische Vorentscheidungen trifft und aus der Fülle der Begegnungsweisen des Seienden eine bestimmte Gegenstandskonzeption auswählt, die ihr für ihre Zwecke geeignet erscheint, versteht sich von selbst. Ihre Naturauffassung ist eine wohlbestimmter Objekte, die nach außen gegen andere Objekte abgegrenzt und nach innen hinsichtlich ihrer Merkmale wohlunter­ schieden sind und die darüber hinaus in ein Gesamtsystem gehören, das nach dem Schema genus proximum per differentiam specificam gegliedert ist, nämlich so, dass aus jedem nächsthöheren Begriff durch eine spezifische Differenz Unterbegriffe folgen. Im Idealfall gestaltet sich das Ganze als eine Dichotomie, nicht Tricho- oder Polytomie, bei der jeweils die Gattung bzw. Art in zwei und nur zwei Unterarten zerfällt und so in infinitum. Auf diese Weise resultiert ein hierarchischer Stufenbau, wie er aus den Begriffspyramiden der Logik bekannt ist. Dieses System kann als subjektiv wie als objektiv betrachtet werden. Dient es nur der subjektiven Ordnung und Orientierung, um das Seiende systematisch zu erfassen und nach rein subjektiven Gesichtspunkten zu ordnen wie in den großen botanischen und zoo­ logischen Taxonomien des 17. und 18. Jahrhunderts, denen von Linné, Tournefort, Adam, Vic d’Azur u. a., um das chaotisch erscheinende Seiende fassbar zu machen, dann ist man sich seiner Artifizialität 2 Vgl. Karen Gloy: Kulturüberschreitende Philosophie. Das Verständnis unterschied­ licher Denk- und Handlungsweisen, München 2012, S. 22.

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

a limine bewusst. Erhebt es jedoch den Anspruch, auf die objektive Welt applikabel zu sein, so dass die subjektiven Deduktionen und Ableitungen zu objektiven Abstammungen und Dependenzen wer­ den, dann ist klar, dass die objektive Welt hier künstlich gemäß einem ihr aufoktroyierten System konstruiert wird unter Ausschaltung alles dessen, was nicht hierhergehört. Die Methode ist eine Ausblendungs­ methode. Die Anwendung des subjektiven Systems auf die objektive Welt geschieht im Experiment. Das Experiment ist die Fortsetzung und praktische Umsetzung der logischen Abblendung und damit nichts anderes als ein Akt der Vergewaltigung der Natur. Nicht zufällig hat Heidegger diesbezüglich von ›Gestell‹ gesprochen, da das naturwissenschaftlich behandelte Objekt, das im Experiment einem vorgängigen Plan, einer Hypothese oder Theorie, unterwor­ fen und in bestimmter Weise ausgerichtet wird, nichts anderes als ein künstliches Produkt (Konstrukt) ist. Bei diesem Vorgang geht es um die Herrschaft des Menschen über die Natur. Der Mensch beansprucht, so Descartes, »maître et possesseur de la nature« zu sein. Diese Ansicht hat Francis Bacon, einer der Väter der neuzeitlichen Naturwissenschaft, religiös begründet. Wie der Mensch die mit dem Sündenfall verlorengegangene Unschuld wiedererlangen kann durch den Glauben, so seine einstige Einheit mit Gott und gottgleiche Herr­ schaft über die Natur durch ein immer tieferes Eindringen in die Natur über »Kunst und Wissenschaft«, d. h. Wissenschaft und Technik. Diese Wissenschaftshaltung gegenüber der Natur hat sich im Grunde bis heute erhalten. Sie findet ihren Ausdruck in Friedrich Dessauers Buch Philosophie der Technik (1927), in dem er das Urhumanum die Befreiung des Menschen aus dem Bann und den Zwängen der Natur nennt sowie die technische Beherrschung und Bewältigung derselben, und zwar nicht erst in der industriellen und postindustriellen Phase, sondern bereits in der präindustriellen. Die gegenwärtige Kritik an dieser Natureinstellung bezieht sich auf den Umstand, dass die Annahme wohldefinierter Objekte, noch dazu in systematischem Zusammenhang, eine Illusion ist. Die Phä­ nomene der Natur sind weder eindeutig bestimmbar und exakt gegen­ einander abgegrenzt, weder widerspruchslos, sondern im Gegenteil: Aus allen Bereichen des Alltags und der Wissenschaft, aus der Wahr­ nehmungslehre – der visuellen, auditiven, olfaktorischen usw. –, der Psychologie, der Erinnerungspsychologie, der Musiktheorie, der Mathematik, der Physik, der Katastrophentheorie usw. lassen sich

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Karen Gloy

andersartige Beispiele beibringen; indifferente, diffuse, anonyme, entweder über- oder unterbestimmte Phänomene, von denen es die letzteren noch nicht zur Prägnanz gebracht haben, die ersteren überprägnant sind und daher in andere Gestalten umschlagen. Hierzu gehören die Umschlagphänomene, Kippfiguren wie die Rubin’sche Becherfigur, die sowohl als griechischer Krater wie als zwei sich anblickende Gesichter gelesen werden kann, oder Husserls Beispiel einer Schaufensterpuppe, die sich bei flüchtigem Hinblick auch als lebendige Dame interpretieren lässt, oder das bekannte Beispiel einer jungen Frau mit schwarzem Haarschopf, die auch als alte Frau mit Kopftuch erscheinen kann, ebenso die Vexierspiele, die uns aus der Kindheit bekannt sind, in denen plötzlich aus dem Gewirr von Linien ein Hase oder ein Gesicht hervorspringt und bei Aufmerksam­ keitsveränderung ebenso schnell wieder im Dickicht verschwindet. Der Lithograph Escher hat eine Vielzahl von Lithographien geschaf­ fen,3 die sowohl in dieser wie jener Weise gelesen werden können, beispielsweise als rechts fliegende weiße Schwäne oder als links fliegende schwarze, als Treppen, die sowohl hinauf wie hinabführen. Die Psychologie kennt das sogenannte Double-Bind-Phänomen, das eine zweifache Bindung der Sichtweise in Fällen von Schizophrenie und Paranoia kennt. Während der Nervenarzt seinen Patienten für krank hält, wird kein Patient sich selbst für paranoid halten, sondern den Arzt. Zu diesen überbestimmten Umschlagphänomenen gehören auch die mengentheoretischen und semantischen Paradoxien, z. B. die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Diese enthält sich selbst und auch nicht, ersteres, insofern sie die schlechthin umfassende Menge ist, letzteres, insofern sie sich selbst impliziert und insofern nicht umfassend ist. Oder der Kreter, der auf dem Marktplatz steht und verkündet: »Alle Kreter sind Lügner.« Auch für ihn gilt, dass er gleicherweise lügt, sofern er selbst ein Kreter ist, und doch die Wahrheit spricht, sofern er eine Aussage über alle Kreter tätigt. Ein äußerst wichtiges Phänomen ist die Komplementarität von Welle und Teilchen bzw. Feld und Quant aus der Quantentheorie, bei der auch beide Seiten gleicherweise zu berücksichtigen sind. 3 Teilweise publiziert in Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach – ein Endloses Geflochtenes Band (Titel der Originalausgabe: Gödel, Escher, Bach: an Eternal Golden Braid, New York 1979), aus dem Amerikanischen übersetzt von Philipp Wolff-Win­ degg und Hermann Feuersee, Stuttgart 1985.

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

Handelt es sich in den vorangehenden Fällen vor allem um überbestimmte Phänomene, so dokumentieren die folgenden unter­ bestimmte, indifferente Phänomene. Im lauten Stimmengewirr eines übervollen Cafés gehen bekanntlich die Stimmen unter, nur gelegent­ lich zeichnet sich eine bestimmte Stimme oder ein Redefetzen oder auch ein durchklingender Glockenton ab, ohne dass es zur dauerhaf­ ten Fixierung käme. Aus der Erinnerungspsychologie ist der Fall bekannt, dass man nach einem ganz bestimmten, momentan vergessenen Wort sucht, das einem auf der Zunge liegt, welches man aber nicht finden kann. Man lässt eine Vielzahl von Wörtern Revue passieren, die man allesamt verwirft, bis das richtige erscheint und identifiziert wird. Der Fall absoluter Indifferenz stellt sich ein, wenn z. B. ein kleiner Hund einen großen anbellt. Die Aggression, die seiner Wut entspricht und ihn zum weiteren Angriff motiviert, wird zurückgehalten durch seine Angst, die als Kontrollvariable fungiert. Es gibt dann einen Punkt, der absolut unentscheidbar für das Verhalten des Hundes ist; das Verhalten des Hundes wird unbeherrschbar, da es gleicherweise in Angriff wie in Flucht umschlagen kann. René Thom hat hierauf seine Katastrophentheorie basiert,4 wie man sie politisch zur Zeit des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion beobachten konnte. Die Gefahr eines unbedachten atomaren Erstschlags war jederzeit real. Aus allen Bereichen des Alltags und der Wissenschaft lassen sich eine Vielzahl von Beispielen beibringen, die die These von der wohlbestimmten und unterschiedenen Objektivität der Dinge in Zweifel ziehen. Anstelle des geschlossenen Objektes tritt in der Physik und im Alltag heute das offene, unbestimmte System, für das ein Wollknäuel das Paradigma abgibt. Betrachtet man es aus der Ferne, so erscheint es als nulldimensionaler Punkt, bei Nähertreten als dreidimensionale Kugel, bei noch weiterer Annäherung als eindi­ mensionaler Wollfaden, bei Eintritt in denselben als dreidimensionale Säule usw. Das scheinbar eine Objekt löst sich auf in eine Sequenz von Betrachtungsweisen, die hier, reduziert auf Dimensionen, die Zahlen 0, 3, 1, 3 annehmen. Diesem Umstand hoher Komplexität und Undurchschaubarkeit trägt eine andere Denkweise Rechnung: das Analogiedenken, das 4 René Thom: Stabilité structurelle et morphogenèse. Essai d’une théorie générale des modèles, Reading/Massachusetts 1972, S. 25.

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seinem Anspruch nach nicht auf Singuläres und Getrenntes geht, sondern auf Alleinheit und Allbezug.

2. Das Analogiedenken Das Wort Analogie, das sich von dem griechischen ἀνάλογον ableitet, bedeutet wörtlich: ›gemäß dem Logos‹, wobei Logos die Bedeutung von Denken, Sagen oder Verhältnis haben kann. Im Griechischen war mit ἀνάλογον hauptsächlich das mathematische Verhältnis gemeint. Dass Analogie ein Entsprechungsverhältnis zwischen Verhältnissen

8  . Trotz aller Unter­ ist, zeigt sich bei den Analoga: 23   zu 64   zu 12

schiede besteht eine durchgängige Gemeinsamkeit in 23  , die einen Vergleich zwischen den Verhältnissen ermöglicht. Die bekannteste und berühmteste Analogie dürfte die Makro-Mikrokosmos-Analogie sein, die unterstellt, dass sich die Verhältnisse in der Götterwelt, ihre Genealogien, Familienstrukturen, Freundschaften und Feindschaften, ihre Charaktere, Pläne und Entscheidungen in der Menschenwelt widerspiegeln, so dass Menschen nur Vollzugsorgane der Götter sind. Falls Streit zwischen den Menschen herrscht, so geht dies auf den Einfluss des Kriegsgottes Ares zurück, wenn Liebe die Menschen erfüllt, so ist dies Auswirkung der Liebesgöttin Aphrodite. Der troja­ nische Krieg in den Werken Homers stellt lediglich die Auswirkungen der Entschlüsse der Olympier dar. Die Irrfahrt des Odysseus, bevor er in seine Heimat Ithaka zurückkehrt, geht darauf zurück, dass die Pläne seiner Schutzgottheit ständig von rivalisierenden Göttern perturbiert werden. Eine der ästhetisch schönsten und eindringlichsten Darstellun­ gen analoger Verhältnisse geht auf den Renaissance-Maler Guiseppe Arcimboldo (1527–1593) und seinen Jahreszeitenzyklus zurück. Die­ ser zeigt vier männliche Porträts aus verschiedenen Lebensaltern: den Jüngling, den Erwachsenen, den Alternden und den Greis. Erreicht wird die Darstellung der Lebensalter nicht durch entsprechende menschliche Porträts, sondern dadurch, dass diese mit den Pflanzen­ teilen ausgestattet werden, die aus den verschiedenen Wachstums-, Reife- und Welkphasen stammen. So ist das Bild des Jünglings angefüllt mit Knospen, zartfarbenen Blüten, frischem Grün, das des Erwachsenen mit den Früchten und Ähren des Sommers, Äpfeln, Birnen, Kirschen, Himbeeren, Brombeeren, Gurke und Artischocke,

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das des Alternden mit Weinreben, Weinlaub und Weinzuber und das des Greises mit knorrigem, verdorrtem Wurzelwerk und Astge­ flecht sowie schwammigen Pilzen. Den Lebensphasen entsprechen die Vegetationsphasen der Natur, und diese wiederum sind dem astronomischen Jahreszeitenzyklus korreliert. Obgleich das Analogiedenken häufig pejorativ beurteilt wird als willkürlich, zufällig, hermetisch, unverständlich u. ä., tendiert es genau wie das wissenschaftliche Denken auf semantische Klarheit und Deutlichkeit, intersubjektive Kommunikabilität und generelle Kontrollierbarkeit. Die abfälligen Bemerkungen entstammen der Sichtweise der Wissenschaften, deren Aufwertung zu Beginn der Neuzeit mit einer Abwertung des Analogiedenkens verbunden war. Nicht hinsichtlich des Rationalitätsideals unterscheiden sich beide, sondern hinsichtlich der Auslegung desselben. Im Unterschied zum Wissenschaftsdenken ist das Analogiedenken unendlich reicher und vielschichtiger strukturiert. Mit einem Netzwerk räumlicher und zeitlicher Strukturen überzieht es das Seiende, wobei entlang den Linien, die von oben nach unten, von rechts nach links und umgekehrt verlaufen oder auch transversal, zyklisch, konzentrisch, die Entspre­ chungsverhältnisse expliziert werden, um durch diese Ableitungen, Korrelationen und Korrespondenzen die Verwandtschaftsverhältnisse aller Dinge zu dokumentieren und damit die Grundthese des Ana­ logiedenkens, die Alleinheit der Dinge, zu veranschaulichen. Dazu benutzt es nicht wie das wissenschaftliche Denken abstrakte Begriffe, sondern konkrete Bilder und Vorstellungen, die mit Vorliebe der lebensweltlich-biologischen Sphäre entnommen sind, wie Stamm­ bäume, Genealogien, Vermählung, Vereinigung, Geburt und Tod, Sympathie und Antipathie u. Ä. Das ist zu konkretisieren: 1. Der Weg von oben nach unten, der bildlich gesprochen die Ableitungs- und Abhängigkeitsverhältnisse (Dependenzen) sichtbar machen soll, wird oft durch Genealogien wiedergegeben, wobei die Abstammung der Nachfahren, der Kinder und Kindeskinder, von einem Urelternpaar garantieren soll, dass in ihnen die Spuren von Ähnlichkeit der Ahnen zu finden sind. Das Urbild-Abbild-Verhältnis, das auch in seiner Potenzierung des Abbildes des Abbildes des Urbil­ des usw. geläufig ist, geht schon auf Platon zurück.

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Ein anderes Bild ist die goldene Kette, deren Ringe ineinander­ greifen und den Zusammenhang der Glieder demonstrieren sollen,5 oder die Himmelsleiter, die sogenannte Jakobsleiter, deren Stufen den Auf- und Abstieg zwischen Himmel und Erde ermöglichen.6 2. Neben dieser einsinnig linearen Abhängigkeit gibt es noch die Spezifikation, bildlich dargestellt durch Aufspreizung, die nach dem auch der wissenschaftlichen Methode bekannten Schema genus proximum per differentiam specificam erfolgt und über Diagonalen oder Transversalien Ähnlichkeiten und Entsprechungen zurückverfol­ gen lässt. 3. Ein weiterer Analogietyp sind die Duplexphänomene, entwe­ der einfache Verdoppelungen in Raum und Zeit oder symmetrische positiver und negativer Art, wie sie schon in der Spezifikation vor­ kommen. Beispiele finden sich in These und Antithese, in Klappphä­ nomenen, Umkehrungen, in Zwillingen oder Paaren, dem Hand-, dem Fußpaar, den Schmetterlingsflügeln, dem Himmelsgestirn Cas­ tor und Pollux. 4. Von großer Beliebtheit in den hermetischen Schriften sind die topologischen Tafeln, mit denen das Seiende überzogen wird. Als Leitfaden verwenden sie zumeist die Gestirne Sonne, Mond, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur, um ihnen in der nächstfolgenden Rubrik die entsprechenden Metalle zuzuordnen: der Sonne das Gold, dem Mond das Silber, dem Mars das Eisen, sodann die Farben: der Sonne und dem Gold die gelbe Farbe, dem Mond und dem Silber die silbrig-weiße, dem Mars und Eisen die braune, sodann die Befindlichkeiten: der ersten Reihe das Wohlbefinden, Wachstum und Gedeihen, das Glück, da die Sonnenwärme Wachstums- und Reifeprozesse befördert und Wohlbefinden erzeugt, der zweiten Reihe die Ruhe und Stille, da es nachts bei Mondschein lautlos und kühl ist, der dritten Reihe kriegerische, aufrührerische Attribute, da Mars, der Kriegsgott, hier dominiert. Auffallend gegenüber der uns vertrauten Gliederungsart in den Wissenschaften, die innerhalb einer Gattung, z. B. der Bäume, unter­ teilt, und zwar in Laub- und Nadelbäume, innerhalb der letzteren in Giambattista della Porta: Magia Naturalis oder Haus-, Kunst- und Wunder-Buch (Titel der Originalausgabe: Magia naturalis, sive de miraculis rerum naturalium libri IIII, Neapel 1558). Zuerst von demselben Lateinisch beschrieben; hernach von Ihm selbst vermehret … Nürnberg 1680, Bd. 1, S. 47 (Buch I, Kapitel 6, Abschnitt 7). 6 Johann Wolfgang Goethe: Faust I, Vers 447–453, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hamburg 1948–1960, wiederholte Aufl., Bd. 3, S. 22. 5

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Kiefern- und Fichtengewächse, der letzteren wieder in Tannen und Fichten und dieser wieder in Weiß- und Schwarzfichten, ordnet das Analogiedenken die Gattungen einander zu, also Pflanzen, Tiere, Metalle, Farben, Befindlichkeiten u. Ä. Umfangreiche Analogiereihen hat Agrippa von Nettesheim in seiner Schrift De occulta philosohpia unter dem Leitfaden der Planeten angeführt. So heißt es unter dem Gestirn der Sonne: Unter den Elementen sind solarisch das Feuer und die lichte Flamme; unter den Säften das reine Blut und der Lebensgeist; unter den Geschmäcken der scharfe mit der Süßigkeit vermischte; unter den Metallen wegen seines Glanzes das Gold, dem die Sonne eine herzstär­ kende Eigenschaft verleiht; unter den Steinen solche, welche durch goldene Punkte die Sonnenstrahlen nachahmen, wie der Adlerstein, der solche Punkte hat und eine Kraft gegen die Fallende Sucht und gegen Gifte besitzt. Der Stein, welcher Sonnenauge heißt und die Figur einer Augenpupille hat, aus deren Mitte ein Strahl hervorschimmert, stärkt das Gehirn und Gesicht […].7

Und unter dem Leitgestirn des Mondes heißt es: Dem Monde zugehörig (lunarisch) sind unter den Elementen die Erde, sodann das Wasser, sowohl das Meer- als das Flußwasser, und alles Feuchte, die Säfte der Bäume und der Tiere, hauptsächlich die weißen, als Eiweiß, Fett, Schweiß, Schleim und andere Flüssigkeiten der Körper. Von den Geschmäcken gehören dem Monde an der salzige und unschmackhafte. Unter den Metallen ist lunarisch das Silber, unter den Steinen der Kristall, der silberfarbene Markasit und alle weißen und grünen Steine, desgleichen der Selenit oder Mondstein, welcher von honiggelbem Glanze, weißlich durchscheinend ist und nicht nur die Gestalt des Mondes, sondern auch sein tägliches Zuoder Abnehmen darstellt. Dem Monde gehören auch die Perlen an, die aus Wassertropfen in den Muscheln erzeugt werden, ebenso der Kristall und Beryll. Unter den Pflanzen und Bäumen sind lunarisch das Selenotropium, das sich nach dem Monde wendet, wie die Sonnen­ wende nach der Sonne; die Palme, welche alle Monate neue Zweige ansetzt; […] ferner das Keuschlamm und der Keuschbaum und der Ölbaum, desgleichen das Kraut Chinostares, welches mit dem Monde wächst und abnimmt, nämlich an Substanz und Zahl der Blätter […] Unter den Tieren gehören diejenigen dem Monde an, die gerne im Umgang mit den Menschen leben und die sich durch verschiedene H. C. Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke (Titel der Originalausgabe: De occulta philosophia libri tres, Antwerpen 1531), 4. Aufl. Wiesbaden 1997, S. 59 f.

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natürliche Neigungen und Abneigungen gleichermaßen auszeichnen, wie die Hunde jeder Art. Lunarisch ist auch das Chamäleon, das nach der Verschiedenheit der Farbe seines Gegenstandes immer eine ähnliche annimmt, wie der Mond nach Verschiedenheit des Zeichens, in welchem er sich befindet, seine Natur wechselt […].«8

Auch in der pseudo-paracelsischen Schrift Philosophia ad Athenien­ ses9 findet sich eine Zuordnung verschiedener Dinge zu den vier Elementen, die quasi »Mütter« sind und selbst aus einer Urmutter hervorgegangen sind. Dem Wasser wird alles Wässrige zugeordnet, Meere, Bäche, Brunnen, aber auch Fische aller Art und Steine wie Bernstein, Beryl, Kristall, Amethyst, desgleichen Korallen, sodann Flusswesen wie Nymphen und Sirenen; der Erde kommt alles Erdar­ tige zu, Metalle, Materialien, Edelsteine, Pflanzen und Kräuter, Tiere und Menschen, aber auch Erdgeister wie Gnome, Nachttraute und Riesen, der Luft alles Unsichtbare und Unbegreifliche, wozu auch Träume und Gesichte gehören, ebenso die »luftischen Reden, Gedan­ ken und Taten«10 Verbindet man die Enden der Raster, dann gelangt man statt zu Tabellen zu konzentrischen Kreisen, wie sie in der hermetischen Literatur beliebt sind, auf deren Bahnen die Planeten, Metalle, Farben, Befindlichkeiten usw. angeordnet werden. 5. Handelte es sich bisher um räumliche Verhältnisse, so darf ein zeitliches nicht fehlen: die Aufeinanderfolge. Die Ähnlichkeit oder Entsprechung aufeinanderfolgender Instanzen erklären am plau­ sibelsten die Erklärungsmodelle der chinesischen Entsprechungslo­ gik, der Zeugungs- oder Fütterungs-, der Eroberungs- oder Unter­ werfungszyklus, der Kontrollzyklus, der Maskierungszyklus usw.11 Statt der in unserer westlichen Tradition bekannten vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer kennt die chinesische Tradition fünf Elemente: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Deren Beziehung A. a. O., S. 62 f. Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus: Sämtliche Werke, 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, hrsg. von K. Sudhoff, 14 Bde., München, Berlin 1922–1933, Registerband von M. Müller (Nova Acta Paracelsica, Supplementum, Einsiedeln 1960), Bd. 13, S. 394–399 (Buch 1, Text 11–20). 10 A. a. O., S. 398 (Buch 1, Text 19). 11 Vgl. Patrick Frei: Grundfragen der Kategorienlehre. Untersuchungen zum Wesen und Umfang der Kategorienlehre sowie zur Begriffslehre der Schullogik und der chi­ nesischen bzw. geheimwissenschaftlichen Logik, Basel 1999, S. 155 ff. 8

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zueinander erklärt der Erzeugungs- oder Fütterungszyklus (xiang seng) derart, dass Holz Feuer nährt, Feuer Asche (Erde) erzeugt, Asche (Erde) Mineralien (Metalle) hervorbringt, Metall Wasser erzeugt oder anzieht wie den nächtlichen Tau, Wasser Pflanzen (Holz) nährt. Nach dem Eroberungs- oder Überwindungszyklus (xiang sheng) lau­ tet die Argumentation folgendermaßen: Erde saugt Flüssigkeit auf, hemmt Wasser und bestimmt tektonisch dessen Lauf, Wasser löscht Feuer, Feuer schmilzt Metall, Metallwerkzeuge schneiden Holz, Holz bemächtigt sich der Erde, wenn die Pflanzenwurzeln ins Erdreich dringen usw. Der Kontrollzyklus (xiang zhi) geht so: Holz überwindet Erde, doch das Ergebnis der Erde, Metall, kontrolliert den Prozess und kommt der Erde zu Hilfe, indem es Holz schneidet. Metall schneidet Holz, doch das vom Holz gespeiste Feuer kontrolliert den Prozess und kommt dem Holz zu Hilfe, indem es das Metall zum Schmelzen bringt, Feuer schmilzt Metall, aber das Erzeugnis des Metalls, das Wasser, kontrolliert den Prozess und eilt dem Metall zu Hilfe, indem es das Feuer löscht. Wasser löscht Feuer, aber das Erzeugnis des Feuers, nämlich Erde (Asche) kontrolliert den Prozess und kommt dem Feuer zu Hilfe, indem es das Wasser dämmt bzw. aufsaugt. Erde dämmt Wasser, aber das Erzeugnis des Wassers, nämlich Holz (Pflanzen), kontrolliert den Prozess und eilt dem Wasser zu Hilfe, indem die in das Erdreich dringenden Wurzeln diese beherrschen. Bei der Anwendung dieser umfangreichen Raum- und Zeitras­ ter treten einige Besonderheiten hervor, die unserem geläufigen wissenschaftlichen Denken merkwürdig erscheinen und daher Beach­ tung verdienen: 1. Da die Ähnlichkeit zwischen den Dingen größer oder klei­ ner sein kann, stellen sich als Extreme einerseits die Identifizie­ rung Unterschiedener, andererseits die scheinbare Unähnlichkeit der Dinge heraus. Hat man ein Zeitungsporträt, das wie üblich gerastert und gepunktet ist und dehnt dieses seitlich, so dass sich die Punkte zu Linien verziehen und die Konturen verschwimmen, so dass das Anfangs- und Endstadium dieses Prozesses keinerlei Ähnlichkeit mehr aufweisen, so vermag dennoch die Rückgängigmachung des Prozesses über verschiedene Stadien hinweg die Verähnlichung der Bilder zu zeigen. Auch scheinbar gänzlich unähnliche Dinge sind noch miteinander verwandt. Die Identität heterogener, sogar gegensätzlicher Dinge liegt vor bei räumlichen Verhältnissen im Falle von Komplementarität wie im quantentheoretischen Modell von Welle und Teilchen, bei

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Umschlagphänomenen und Kippfiguren und bei zeitlichen Verhält­ nissen im Falle von Metamorphosen, deren bekanntestes Beispiel die Entwicklung eines Schmetterlings über den Engerling, die Puppe, die Raupe zum ausgewachsenen Insekt ist. 2. Die Zusammengehörigkeit von Dingen besteht über räumli­ che und zeitliche Distanzen hinweg. Foucault hat unter Aufnahme eines altertümlichen Begriffs von aemulatio gesprochen. Sein Beispiel hierfür sind die anatomischen Vergleichsstudien von Pierre Belon, die dieser zwischen Menschen- und Vogelskeletten, insbesondere ihren Extremitäten vornahm. Der menschliche Knochenbau von Händen und Füßen mit Daumen und Fingern bzw. dem großen Zeh und den kleinen entspricht der Grundriss der Flügel und Greiforgane, der großen Hinterkralle und den kleineren Vorderkrallen. Ein uns etwas merkwürdig erscheinendes Beispiel ist auch der Vergleich eines Hirsches und seines Geweihs mit der Symbiose von Tier und Pflanze, insofern das Geweih mit Grasbüscheln in eins gesetzt wird. Wichtiger noch wegen der praktischen Anwendung in der Medi­ zin und der Möglichkeit einer Einflussnahme auf ähnliche Dinge ist das Beispiel von Walnüssen, die in der Homöopathie zur Linderung von Kopfschmerzen angewendet werden. Da Walnüsse ähnliche Win­ dungen und Schlingen aufweisen wie das Gehirn und somit eine Affinität zu diesem haben, geht die Homöopathie davon aus, dass der Walnusskern die inneren Kopfschmerzen positiv beeinflusst, die dem Walnusskern aufliegende dicke grüne, glatte Schale die Wunden des Gehirnschädels heilt. Aber nicht nur einander ähnliche Dinge stehen in Verbindung, sondern auch aufeinander verweisende wie Bild und Abgebildetes, Name und Person, Fußspur und realer Körper, Accessoire und Träger. Wir stellen uns Bilder und Fotos unserer Verstorbenen auf, um sie durch Bildzauber auf uns zu ziehen, wir rufen den Namen eines Menschen oder Gottes, um ihn auf uns aufmerksam zu machen. Für Naturethnien ist es besonders wichtig, dass Kleidungsstücke und Exkremente nicht in die Hände des Zauberers eines feindlichen Stammes fallen, damit dieser nicht Macht über die betreffende Person und seinen Stamm gewinne. 3. Am auffälligsten dürfte die Beobachtung sein, dass die Erklä­ rung der Zusammengehörigkeit zeitlich aufeinanderfolgender Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, also einander unähn­ lich sind, durch das Kausalitätsgesetz eine typische Kategorisierung

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nicht des Wissenschaftsdenkens, sondern des Analogiedenkens ist. Wenn eine bewegte Kugel einer anderen ruhenden ihre Bewegung mitteilt und sie damit beeinflusst, so gehört dies in den Horizont des magischen-mythischen Weltbildes, dem auch das Analogiedenken angehört. Kausalität ist die einzige Kategorie aus der Vielfalt von Beziehungsmöglichkeiten, die sich aus dem Analogiedenken in das wissenschaftliche Denken hinübergerettet hat. Durch Verkennung dieser Situation hat die Definition und Erklärung der Kausalkategorie den Philosophen schon immer Probleme bereitet. Die Mutakallimun des Mittelalters dachten sich Kausalität als instantanes Entstehen und Vergehen im selben Augenblick, Leibniz ging von einer präs­ tabilierten Harmonie zwischen Ursache und Wirkung seit Beginn der Schöpfung aus, Hume als Empirist ließ nur die empirisch psy­ chologische Beobachtung häufig auftretender Gleichförmigkeiten in der Natur und ihre Generalisation durch Induktionsschluss gelten. Die lediglich auf Gewöhnung und Assoziation basierende Folge von der Art »Immer wenn (eigentlich wann) es regnet, wird die Straße nass«, führt aber nicht zur Kausalfolge ›wenn-dann‹. Um die Not­ wendigkeit der Kausalität zu retten, unternahm Kant den Versuch, diese Kategorie als apriorische Verstandesstruktur zu interpretieren, unter der wir notwendig bei der Erkenntnis der Welt die Dinge interpretieren. Er war jedoch vorsichtig genug, nur das Kausalprinzip, das allerallgemeinste Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, als Gesetzmäßigkeit zu betrachten, nicht hingegen als spezifische Ausformung, etwa dass die Sonne den Stein erwärmt, da auch ein künstliches Feuer die Ursache sein könnte.

3. Anwendungsfelder des Analogiedenkens Angesichts der ungeheuren Fülle von Entsprechungsmöglichkeiten schließt das Analogiedenken Bereiche auf, und zwar auf rationale Weise, die dem wissenschaftlichen Denken verschlossen sind und gerade in der modernen komplexen Welt das Interesse auf sich ziehen. Ich will drei markante Gebiete nennen: 1. Da sind zum einen die Träume, Visionen, Auditionen, Gesichte, Phantasien, Halluzinationen u. Ä., die ihren Niederschlag auch in Märchen und Mythen finden und an die sich wissenschaftliche Forschung mit ihrer Befolgung logischer Sätze nicht wagt, sondern sie in das Gebiet der Psychologie und Parapsychologie verweist. Ebenso

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gehören hier die Sprachspiele der Kinder mit ihren willkürlichen Reimen, Alliterationen, Assoziationen und Umkehrungen, die den Kindern umso mehr Vergnügen bereiten, je unverständlicher sie für Erwachsene sind. Wie willkürlich und phantastisch für die normale widerspruchs­ freie Logik diese psychischen Phänomene auch erscheinen mögen, sie sind keineswegs unstrukturiert, sondern lassen sich nach Prinzi­ pien der Analogielogik sehr wohl erklären. Zum einen herrscht hier das Gesetz der Ähnlichkeit. Träume werden von wiederkehrenden Motiven durchzogen, die auf unbewältigte Traumata oder verborgene Wünsche zurückgehen. Sie kehren unter verschiedenen Vorzeichen, stärker oder schwächer, verzerrt, verschoben, aber immer erkennbar, wieder und geben dem Psychoanalytiker Hinweise auf unverarbei­ tete psychische Probleme. Auch Märchen und Mythen werden kul­ turübergreifend und weltweit von gleichen Mythen beherrscht wie der Himmel- und Höllenfahrt, dem Drachen und Drachentöter, der Schlange, dem Fall in einen tiefen Brunnen u. Ä., was C. G. Jung veranlasste, hier von archetypischen Grundmustern zu sprechen, die stammesgeschichtlich in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt gewonnen wurden und nun unterschwellig sein Bewusst­ sein bestimmen. Prophetien beruhen auf der Erkenntnis latenter Strukturen der Gegenwart, die sich in Zukunft realisieren werden. So heißt es schon bei Homer von dem Seher Kalchas: Er erkannte, was war, was ist und was sein wird. Es sind aber nicht nur ähnliche Motive, die Träume, Märchen, Mythen, Phantasien und Prophetien durchziehen, sondern auch Verkehrungen (Umkippphänomene). So berichtet Freud von einem Traum, in dem eine Gesellschaft zu einer Fahrt aufbricht und in einem Gasthaus Quartier nimmt, die einen oben, die anderen unten im Parterre. Typisch ist, dass der Träumer, der im wirklichen Leben gut situiert ist im Gegensatz zu seinem Bruder, der in der Realität ein kümmerliches Dasein fristet, nach einem Wie­ nerischen Ausdruck im Parterre ist, unten übernachtet, sein Bruder hingegen oben, in genauer Verkehrung der realen Situation. Dies ist kein Einzelfall, vielmehr ist jedem Psychiater wohlbekannt, dass eine heftige Verneinung, z. B. »nein, nein, so war es nicht«, gerade darauf weist, dass sich die betreffende Sache genauso verhielt. Ein weiteres Strukturgesetz von Träumen ist die Metamorphose, der instantane Umschlag einer Person oder Sache in eine andere, ein Phänomen, das der normalen, wissenschaftlichen Logik nicht bekannt ist. Wiederum vermag ein von Freud berichteter Traum

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namens Irma, benannt nach einer seiner Patientinnen, Aufschluss zu geben. Die Hauptperson des Traumes verwandelt sich nacheinander in verschiedene andere Personen. Zunächst nimmt sie die Gestalt einer anderen Patientin an, dann die von Freuds ältester Tochter, von dieser wechselt sie zu einer anderen namensgleichen Patientin über, von dieser zu einem Kind, schließlich zu Freuds eigener Frau usw., wobei die Übergänge jeweils bedingt sind durch Assoziationen entweder des gleichen Namens, der gleichen Krankheitssymptome, der gleichen Untersuchungshaltung. Solche Metamorphosen sind nicht allein typisch für Träume, sondern auch für Märchen und Dichtungen, etwa Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen, in dem es heißt »Heinrich wird im Wahnsinn Stein – [Blume] klingender Baum – goldener Widder – Heinrich errät den Sinn der Welt-Sein freiwilliger Wahnsinn. Es ist das Rätsel, was ihm aufgeben wird.«12 2. Ein weiteres großes Anwendungsgebiet des Analogiedenkens ist die Kunst in ihrer gesamten Breite, angefangen von der Malerei, Bildhauerei über Tanz, Pantomime bis hin zu Musik und Dichtung (Literatur). Typisch für alle Gebiete ist die Durchgängigkeit von Mustern oder Themen, die dem jeweiligen Kunstwerk Skelett und Rückgrat geben. Bezüglich der Malerei wird immer wieder auf das berühmte Gemälde Maria Portinari von Petrus Christus aus dem 15. Jahrhundert verwiesen, das eine Variation des Mandelförmigen ist. Mandelförmig sind nicht nur die Augen, nicht nur das schmale, ovale Gesicht, mandelförmig ist auch der Kragen, das Halsband, die Hutform usw. Ein anderes berühmtes Gemälde ist der farbige Holzschnitt mit dem Namen ›Die große Woge‹ des Japaners Katsushika Hokusai aus dem 18. Jahrhundert, das eine große, sich überschlagende Welle zeigt, die an den Rändern in Gischt, in kleinere und kleinste Wellen übergeht und so ebenfalls das Thema der Woge variiert. Auch Leonardo da Vincis Zeichnung mit dem Titel ›Die Sintflut‹ gehört hierher, deren Thema Turbulenzen sind, was Leonardo durch einen Schwall von Wirbeln, Wellen, Wogen von diverser Form und Größe ausdrückt, die sich ineinanderschlingen. Dieselbe Beobachtung der Durchgängigkeit von Motiven, wenn­ gleich in abgewandelter Form, lässt sich auch bei Musikstücken Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: ders.: Werke, hrsg. und kommentiert von G. Schulz, München 1969, 3. Aufl. 1987 auf der Grundlage der 2., neubearbeiteten Aufl. 1981, S. 286, vgl. S. 283.

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machen. Opern werden gewöhnlich mit Ouvertüren eröffnet, die Themen anklingen lassen, welche die Hauptkomposition durchziehen und strukturieren. Das gilt auch für Tänze und Tanzfiguren, nicht weniger für Gedichte und Romane. So ist Goethes Faust eine Varia­ tion des Themas ›Streben‹ und sein Wilhelm Meister, insbesondere der zweite Teil, eine Variation des Themas der ›Entsagung‹, die in verschiedenen Lebenslagen immer wiederkehrt. 3. Ein drittes großes Anwendungsgebiet des Analogiedenkens ist die fraktale Geometrie, eine moderne Wissenschaftsdisziplin des 20. Jahrhunderts, die von dem polnischen Mathematiker Benoit B. Mandelbrot begründet und in vielen Büchern, z. B. in Les objet fractals. Forme, hasard et dimension13 populär gemacht wurde. Sie stellt eine Kombination aus strenger traditioneller Mathematik und Ästhetik dar, wovon man sich heute dank der Computertechnologie in Computersimulationen und Computerdesigns überzeugen kann. Fraktal, hergeleitet von lat. frangere = ›brechen‹, ›zerbrechen‹, ›regel­ mäßige Stücke erzeugen‹, deutet darauf, dass nicht mehr wie in der traditionellen Geometrie schnurgerade Linien, Parallelen, Win­ kel, Kreise und Quadrate, stete Dynamiken angesprochen werden, sondern gebrochene, die gleichwohl nicht völlig auseinanderklaffen und eine chaotische Welt ergeben, sondern wiederkehrende ähnliche Muster sind und so die Komplexität und Kompliziertheit der Welt erklären. Das Grundprinzip der fraktalen Geometrie ist das soge­ nannte qualitative Maß, welches nicht eine reine Größe bezeichnet, sondern eine Verbindung aus Quantität und Qualität, ein Muster, von dem sich die kompliziertesten Muster aufgrund vielfältiger Variation, Vergrößerung oder Verkleinerung, Verzerrung, Verschiebung, Über­ lagerung usw. herleiten. Auch die kompliziertesten Formen lassen sich auf simple Formeln reduzieren, wobei allerdings mit komplexen Zahlen operiert wird, die rekursiv in die Resultate eingesetzt werden. Eine solche Formel ist die für das berühmte Apfelmännchenmuster z2+c (c = irgendeine beliebige Zahl). Nach diesem Prinzip werden inzwischen immer größere Bereiche der Natur und Kultur erklärt, in der Physik, Astronomie, Kosmologie, Chemie, Geologie, Meteorologie, Anatomie, Biologie, Ökonomie, 13 Paris 1973, 3. Aufl. 1989, vgl. ders.: On the geometry of homogenous turbulence, with stress on the fractal dimension of the iso-surfaces of scalars, in: Journal of Fluid Mech­ anics, Bd. 72 (1975), S. 401–416; Fractals: form, chance, and dimension, San Francisco 1977; The fractal geometry of trees and other natural phenomena, in: Lecture Notes in Biomathematics, Bd. 23 usw.

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Wirtschaftswissenschaft usw. So lässt sich das Wetterverhalten, das bei Langzeitbeobachtung in Abständen immer wiederkehrt, jedoch aufgrund der extremen Sensibilität und Beeinflussbarkeit nicht exakt, sondern mit Abweichungen, nach eben diesem Prinzip der Selbstähn­ lichkeit erklären. Gleiches gilt für Wolkenformationen, Gebirgssil­ houetten, für die Gestalt von Farnblättern, Kohlarten wie Blumenkohl und Broccoli, Baumkronen, Tierfelle mit Leoparden- und Zebramus­ ter. So ist der Konstruktionsplan von Baumkronen eine einfache Gabelung, wie sie im Zeichen Y vorliegt. Wiederholt angewandt und in diversen Größen, zeichnet sich zunehmend die Gestalt einer Baum­ krone ab. Unser Luftröhrensystem, der sogenannte Bronchialbaum, ist ebenfalls nach diesem Prinzip konstruiert: Er verästelt sich in eine rechte und linke Luftröhre, die sich zunehmend detaillierter verzwei­ gen, bis sie schließlich in einem unentwirrbaren Geflecht kleiner und kleinster Verästelungen versinken. Da die Bifurkationen nicht in regelmäßigen Abständen erfolgen, sondern in unterschiedlicher Ska­ lierung, resultieren neue, wenngleich ähnliche Muster. Die Skalie­ rung der ersten sieben Generationen erfolgt nach der sogenannten Fibonacci-Skala, bei der sich jede nachfolgende Zahl aus der Summe der beiden Vorgänger errechnet. Nach diesen Verästelungsgeneratio­ nen ändert sich die Skala auffällig. Bruce West und Ary Goldberger haben herausgefunden, dass die menschliche Lunge mit einer ganzen Reihe fraktaler Skalen überzogen ist. Diese neue Mathematik eröffnet ungeahnte Möglichkeiten exak­ ter Erklärung von Bereichen, die der traditionellen Wissenschaft verschlossen waren. Das Fraktal ist ein Strukturprinzip, das nicht nur die hochkomplexen Strukturen entdeckt, sondern auch deren Schönheit durch modifizierte Wiederholung erklärt.

4. Untergang und Wiederauferstehung des Analogiedenkens Nach einer These von Kurt Hübner, die er in seinem Buch Die Wahr­ heit des Mythos entwickelt, waren Naturwissenschaften und Magie, d. h. Astronomie und Astrologie, Chemie und Alchemie, Medizin und Homöopathie, ursprünglich und lange Zeit Schwestern desselben

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Stammes,14 bis sie sich am Ende der Renaissance auseinanderentwi­ ckelten mit der Konsequenz einer Aufwertung der wissenschaftlichen Disziplinen und der Abwertung der magischen. Da die wissenschaft­ lichen Disziplinen mit der binären Logik operieren, die magischen mit der analogischen, war damit auch das Schicksal des Analogiedenkens besiegelt. Es wurde marginalisiert, wenn nicht gar zum Untergang verurteilt, während mit dem Aufstieg der neuzeitlichen Naturwissen­ schaften auch die Entwicklung ihres Selbstbewusstseins verbunden war sowie des Bewusstseins, alles gemäß ihren Prinzipien erklären zu können. Die These Hübners vom gleichen Stamm von Naturwissenschaf­ ten und Naturmagie lässt sich insofern stützen, als Naturwissenschaft und Naturphilosophie (letztere ist gleich Naturmagie) bis in die Neuzeit hinein als identisch empfunden wurden. Noch Newton, nach heutigem Verständnis ganz sicherlich ein Naturwissenschaftler, nennt sein fundamentales Werk von 1687 Philosophiae naturalis principia mathematica, d. h. Mathematische Prinzipien der Naturphilo­ sophie. Die Naturphilosophen der Renaissance waren infolge ihrer praktischen Bemühungen, den Stein der Weisen durch chemische Experimente zu finden, zugleich Naturmagier, die gemäß dem Wort Magie, das auf die indogermanische Wurzel *mag = ›Macht‹, ›Gewalt‹ zurückgeht, Macht über die Natur gewinnen wollten. Diese Tendenz haben die Naturwissenschaftler fortgesetzt, was bei Descartes zu dem berühmten Ausspruch vom maître et possesseur de la nature führte, Meister und Beherrscher der Natur zu sein. Die Entzweiung der Disziplinen und Denkweisen am Ende der Renaissance dürfte zusammenhängen mit der ungeheuren Simplizität des wissenschaftlichen Denkens gegenüber dem hochkomplizierten Analogiedenken. Es ist ein allseitig zu beobachtendes Faktum, dass im Konkurrenzkampf zweier Alternativen die einfachere, simplere Theo­ rie oder Methode den Sieg davonträgt, da sie gradlinig, schnurstracks auf ihr Ziel zugeht und damit keine unnötigen Kräfte vergeudet. Auch bei der Wahl zwischen geozentrischem und heliozentrischem Weltbild am Beginn der Neuzeit gab den Ausschlag die Einfachheit des letzteren Modells; denn die geozentrische These, die kinematisch wegen der Relativität der Bewegung unwiderlegbar ist, verlangte zur Aufrechterhaltung der Erklärung der angeblichen Fixsternschleifen zu 14

Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 346.

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

viele Subsidiärhypothesen, die die heliozentrische These nicht benö­ tigte. Dieses zweckrationale Verfahren gegenüber dem wertrationalen Verfahren, um Ausdrücke Max Webers zu gebrauchen, dieses strate­ gisch effiziente Denken ist selbst ein Produkt der wissenschaftlichen Weltanschauung und damit an diese gebunden. Unternehmen wir, um ein Beispiel zu geben, eine Reise von München nach Rom, so können wir dies auf zweierlei tun, einmal auf dem schnellsten Wege über die Alpen, nämlich durch Tunnel, die uns allerdings die Sicht auf die Landschaft versperren, dunkel, unheimlich und gefährlich sind, und zum anderen über gewundene Pässe, die den Blick auf schöne, majestätische Landschaften freigeben, uns erfreuen und ästhetischen Genuss und Hochgefühle bereiten. Die Wahl wird von verschiedenen Kriterien bestimmt, die mehr oder weniger reduktionistisch sein können, die sich auf reine Effizienz beschränken oder auch Ästhetik, Ethik, Religion und andere Werte mit einbeziehen. Wenn wir heute angesichts einer überbordenden komplexen Welt uns das Ungenügen und Versagen einer rein wissenschaftlichen Betrachtungsweise vor Augen führen und nach anderen, kompli­ zierteren Erklärungsmustern Ausschau halten, u. a. nach dem Ana­ logiemodell, so ist mit der besagten Komplexität der Welt nicht nur die Potenzierung rational-quantitativer und logischer Struktu­ ren gemeint, sondern auch eine Schichtung qualitativer Ebenen, die sich in verschiedenen Wahrnehmungswelten dokumentieren, bezüglich deren wir die leibliche, die sinnliche, die emotionale, die praktisch-pragmatische, die numinos-religiöse usw. unterscheiden, die sich Zwiebelschalen gleich um den Gegenstand legen, die uns alle mehr oder weniger ansprechen, von denen aber im Zuge der wissenschaftlichen Kultur allein die rationale Ebene und in gewissem Sinne die sinnliche privilegiert wurden, während die anderen als unwissenschaftlich verdrängt wurden. Dass die Wahrnehmung eines Gegenstandes sich nicht auf die sinnlichen Merkmale, die visuellen, auditiven, olfaktorischen, gusta­ torischen und taktilen, beschränkt, sondern auch Emotionen, Gefühle des Wohl- oder Unwohlseins, der Freude, Euphorie, der Angst und Furcht einbezieht, die gegebenenfalls auch moralische Auswirkungen haben, wusste schon Goethe, wenn er in seiner Farbenlehre von der

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Karen Gloy

»sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben« sprach.15 Farbe ist nicht einfach Farbe, d. h. eine neutrale sinnliche Qualität, sondern hat immer auch eine Wirkung auf das Gemüt. Ein schrilles, knalliges Gelb oder ein glühendes Rot gelten in der gesamten Natur als Signalfarbe mit der Botschaft »rühr mich nicht an, sonst verbrennst du dich wie am Feuer oder an der Sonnenglut«. Grün hat eine beruhigende Wirkung, wie wir alle wissen, wenn wir zur Erholung in die Natur hinausgehen und den Blick über eine grüne Wiese gleiten lassen. Blau wirkt kühl, distanzierend und sogar kalt. Nicht weniger haben Formen eine Auswirkung auf Gemüt und Charakter und damit auf die Moralität, was sich an Kirchenbauten studieren lässt. Die festen, gedrungenen, rundbögigen romanischen Kirchen wirken erdverbunden, standfest und standhaft, die hohen, offenen, auf schlanken Pfeilern ruhenden, himmelstürmenden goti­ schen Kathedralen und Hallenkirchen verleihen Offenheit, Freiheit, himmelstürmende Gefühle. Während kräftige gradlinige Pfeiler das Rückgrat stützen und den Charakter festigen, damit auch die Mora­ lität, wirken die verspielten, verschnörkelten Formen des Barocks auflösend und dekadent. Schließlich können bestimmte Gegenstände für bestimmte Indi­ viduen und Gruppen noch eine religiöse Bedeutung annehmen, die sie möglicherweise für andere nicht haben. Während für strenggläubige Katholiken Oblate und Wein mit Fleisch und Blut Christi identisch sind und entsprechend verehrt werden, stellen sie für Ungläubige nichts weiter als Mehl und Wasser dar. Hier dokumentiert sich über die rein sinnliche Wahrnehmungsebene hinaus und eventuell auch über die emotionale und moralische eine numinose, heilige, göttliche Sphäre, der mit Ehrfurcht, Respekt, Unterwerfung begegnet wird. Heidegger hat in Sein und Zeit noch auf eine weitere Wahrneh­ mungsebene aufmerksam gemacht, eine praktisch-pragmatische, die Zuhandenheit, nämlich ob ein Gebrauchsgegenstand im alltäglichen Umgang uns zur Hand geht, steht, liegt oder auch in die Quere kommt, ungebräuchlich und unnütz für unser Leben und unsere Arbeitswelt ist. Wie viele solcher Ebenen unterschieden werden, sei dahinge­ stellt, klar ist, dass mit jeder Wahrnehmung eines Gegenstandes eine Mehrzahl solcher Wahrnehmungswelten (Ebenen) aktualisiert 15 Johann Wolfgang Goethe: Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 13, Hamburg 1955, 5. Aufl. 1966, S. 494 ff.

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Das analogische und das wissenschaftliche Denken

wird, dass wir neben der rationalen Ebenen und ihr vorgängig auf sinnliche wie emotionale, auf praktisch-pragmatische und religiöse Weise angesprochen werden, und dies in unterschiedlichem Grad. Von dieser Mehrzahl von Wahrnehmungswelten hat die traditionelle wissenschaftliche Kultur nur die rationale und sinnliche gelten lassen, auf welche letztere sich das traditionelle Kategoriensystem und die binäre Logik anwenden lassen, während sie alle anderen Ebenen für suspekt und unwissenschaftlich erklärt und damit eliminiert hat. Unsere traditionellen Wissenschaften sind ein Reduktionismus par excellence, da sie von der Vielzahl von Verbindungswegen nur das Spezifikationssystem der Logik sowie die Kausalität in der Physik beibehielten. Das Ausmaß der Reduktion wird erst in der Gegenwart sichtbar, in einem Augenblick, in dem die seit der Neuzeit getrenn­ ten Sachbereiche wieder zusammengeführt werden müssen, da sich zeigt, dass der eine Bereich nicht ohne den anderen auskommt und alles ineinandergreift. Die Verbindung der diversen Wahrnehmungs­ welten, der sinnlichen, eventuell sogar der sinnlich-leiblichen, der emotionalen, der praktisch-pragmatischen, religiösen, der rationalen usw., ist nur durch ein analoges Denken zu bewerkstelligen. Die umfassende ganzheitliche Betrachtung verlangt mehr als nur ein reduktionistisch-wissenschaftliches Denken, sie verlangt eines, das die diversen Bereiche gemäß dem Entsprechungsdenken einander korreliert. In dieser umfassenden Erklärungsart liegt die heutige Bedeutung des Analogiedenkens.

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Entsprechungen jenseits der Analogie Anmerkungen zur Intersubjektivität und Interkulturalität

Karen Gloy spricht in ihrem Beitrag zu diesem Band davon, das Analogiedenken sei eine »materiale Logik« im Unterschied zur ratio­ nalitätsgetriebenen widerspruchsfreien Logik der mathematisierten Wissenschaften.1 Wenn man den materialen Aspekt so versteht, dass das Analogiedenken sehr viel näher am Bereich der Anschauung anzusiedeln ist als die wissenschaftliche Logik, dann wundert es nicht, dass Husserl an einer ganz entscheidenden Stelle seiner transzenden­ talen Phänomenologie, nämlich bei der Frage nach der Konstitution des Alter Ego in der V. Cartesianischen Meditation, auf das Analogie­ denken zurückgreift. Dabei hebt er den Unterschied zwischen einem »Analogieschluss« und der »analogischen Apperzeption« ausdrück­ lich hervor.2 Die analogische Apperzeption ist keine Leistung der Ratio, sie ist kein Denkakt, sondern die (Mit-)Wahrnehmung eines Ähnlichkeitsverhältnisses, und sie beinhaltet deshalb ein Moment der Gebung: Der Leib des Anderen ist als ein dem eigenen Leib ähn­ licher Körper gegeben, nicht wird er zunächst als fremdartiger Körper wahrgenommen und anschließend im Vergleich mit dem eigenen Leib als ähnlich erkannt. Das Besondere der analogischen Apperzeption liegt gerade darin, dass die Ähnlichkeit des anderen Körpers mit dem eigenen Leib in die Wahrnehmung dieses Körpers einfließt, sie mit konstituiert. Auf diese Weise wird der Körper des Anderen als Träger eines eigenen Ich – als Leib – wahrgenommen. Das andere Ich freilich kann niemals zu originärer Anschauung gebracht werden, es bleibt das »originaliter Unzugängliche«, wie Husserl sagt.3 Die analogische

S. Kap. 1 des vorliegenden Bandes, 9-33. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana I hg. von Stephan Strasser, Den Haag: Martinus Nijhoff 1963, § 50, 138–141. 3 Ebd., 143.

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Apperzeption schließt also nicht vom Ich auf den Anderen, sondern erfährt den Anderen lediglich als dem Ich ähnlich. Zugespitzt ließe sich sagen, dass sich der Andere als dem Ich ähnlich zeigt. Husserls »transzendentaler Idealismus«4 ist kein Subjektivismus, sondern der Versuch einer transzendentalen Begründung des Realismus.5 Gerade mit Blick darauf, wie wir anderen Menschen begegnen, ist es von entscheidender Bedeutung, nicht einfach von sich selbst auf Andere zu schließen, sondern die Anderen in ihrer jeweiligen Eigenheit sehen zu lernen. Freilich schleichen sich hier sogleich Zweifel ein, ob die analogische Apperzeption der Herausforderung der Alterität tatsächlich gewachsen ist. Lässt sich die Beziehung zwischen Ich und Anderem adäquat als ein Ähnlichkeitsverhältnis oder als ein richtiges, wohlgeordnetes Verhältnis (so die griechische Bedeutung des Begriffs ἀναλογία) verstehen? Um dieser Frage nachzugehen, will ich zunächst kritisch diskutieren, was genau Husserl unter Analogie versteht und welche Rolle ihr bei der Konstitution des Alter Ego zukommt, bevor ich anschließend zu zeigen versuche, dass sich die Begegnung von Ich und Anderem – anders als von Husserl angenommen – als ein wechselseitiges Sinngeschehen ereignet und sich deshalb besser als durch das immer an einem Vorbild orientierte Analogiedenken mit dem Phänomen der Entsprechung, das das Verhältnis von Ich und Anderem von ihrem Zwischen her fasst, beschreiben lässt.6 Von dieser Analyse her stellt sich die Frage, ob die Analogie nicht grundsätzlich von der Entsprechung noch unterfangen wird.

1. Analogie in Husserls V. Cartesianischer Meditation Der Ausgangspunkt der V. Meditation ist, so Husserl, ein möglicher »schwerwiegender Einwand« gegen die transzendentale Phänomeno­ Ebd., § 41, 116–121. Vgl. dazu die Debatte zwischen Phänomenologie und ›neuem Realismus‹, wie sie exemplarisch geführt wird in: Peter Gaitsch, Sandra Lehmann und Philipp Schmidt (Hg.), Eine Diskussion mit Markus Gabriel. Phänomenologische Positionen zum Neuen Realismus. Wien: Turia+Kant 2017. 6 Rombach hat das Phänomen der Entsprechung in diesem Sinne eingeführt. Vgl. dazu Heinrich Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit. 2. Auf­ lage Freiburg/München: Alber 1988, passim. S. auch Ders., Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie. Freiburg/München: Alber 1994, 56–74 und 92–105. 4 5

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logie, die er in den vorangehenden vier Meditationen entfaltet hat. Die Phänomenologie könnte unter Solipsismus-Verdacht geraten. In Husserls Worten: »Wenn ich, das meditierende Ich, mich durch die phänomenologi­ sche Epoché auf mein absolutes transzendentales Ego reduziere, bin ich dann nicht zum solus ipse geworden, und bleibe ich es nicht, solange ich unter dem Titel Phänomenologie konsequente Selbstausle­ gung betreibe?«7

Wenn ich aber ein solus ipse bin, welchen Geltungsanspruch kann dann die vom transzendentalen Ego konstituierte Erfahrungs­ welt erheben? »Ist es nicht von vornherein selbstverständlich, dass mein transzen­ dentales Erkenntnisfeld über meine transzendentale Erfahrungssphäre und das in ihr synthetisch Beschlossene nicht hinausreicht […]?«8

und: »Können wir als Phänomenologen anders als dem nachgehend sagen, die im Ego ›immanent‹ konstituierte Natur und Welt überhaupt habe hinter sich allererst die an sich seiende Welt selbst, zu der eben der Weg erst zu suchen sei [...].«9

Nachdem Husserl die Konstitutionsbedingungen der Erfahrungswelt im Ich aufgedeckt hat, fragt er sich nun also, ob die solchermaßen vom transzendentalen Ego konstituierte Welt nicht eigentlich eine Privatwelt sei. Es ist entscheidend, Husserls Problemstellung richtig zu verstehen. Er zieht nicht die Richtigkeit des Rückgangs auf das transzendentale Ego in Zweifel, auch nicht die konstitutive Leistung dieses Egos mit Bezug auf Natur und Welt; was er hier in Frage stellt, ist allein die Allgemeingültigkeit der solchermaßen konstituierten Welt. Es geht ihm darum, die Objektivität der im Ich konstituierten Welt auszuweisen. Er tut dies bekanntermaßen, indem er zeigt, dass in dieser meiner vermeintlichen Privatwelt andere Iche vorkommen, die ebenso wie mein eigenes weltliches Ich »Selbstobjektivationen« des transzendentalen Ego sind.10 Ich erfahre die Anderen einerseits Husserl, Cartesianische Meditationen, 121. Ebd., 122. 9 Ebd. 10 Von der »Selbstobjektivation« des transzendentalen Ego im Menschen spricht Husserl in der Krisis-Schrift. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen­ 7

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als »psychophysische Objekte« in der Welt, andererseits zugleich als »Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend« und zwar »diese selbe Welt, die ich selbst erfahre«.11 Husserl geht dabei so vor, dass er den Rückgang auf das trans­ zendentale Ego zunächst weiter radikalisiert. Die phänomenologische Epoché wird ergänzt durch eine so genannte »thematische Epoché«, in der von allem abstrahiert wird, was irgendwie auf „›Andere‹ als Ichsubjekte« verweist.12 Dazu gehört einerseits das, was – so Husserl – anderen Menschen den Sinn »ich-artiger lebender Wesen« gibt, andererseits gehören dazu aber auch alle möglichen kulturellen Arte­ fakte, die auf so etwas wie eine fremde Autorschaft hinweisen. Was ich mit Hilfe dieser thematischen Abstraktion aufdecke, bezeichnet Husserl als »transzendentale Eigenheitssphäre«, »Ich-Monade« oder »Primordialsphäre«, in der die Welt nun nicht mehr als intersubjektiv gültige, sondern als »eigenheitliche Natur« gegeben ist.13 In dieser von jeder Sinnstiftung durch Andere gereinigten Sphäre geht auch das Ich als an sich seiendes, weltliches Ich verloren, weil es sich nicht auf ein Wir oder Uns und eben auch nicht auf ein Du beziehen und folglich auch von niemandem gemeint sein kann. Das ist der Grund dafür, dass Husserl später sagen kann, der »fremde Mensch [sei] konstitutiv der an sich erste Mensch«.14 Allerdings bleibt erhalten das gesamte »welterfahrende Leben« des Ich, und dazu gehört auch die Erfahrung anderer Menschen: »Dabei gehört aber doch jedes Bewusstsein von Fremdem, jede Erscheinungsweise von ihm mit in die erste Sphäre [d. i. die Eigenheits­ sphäre, N.W.].«15

Die Erfahrung von Welt, einschließlich der Erfahrung des bzw. der Anderen bleibt in der Eigenheitssphäre also erhalten. Das ist ein Indiz dafür, dass die Anderen und mit ihnen die Intersubjektivität der Welt auf eine Konstitutionsleistung des Ich zurückgehen. Husserl lässt daran gleich zu Beginn der V. Meditation keinen Zweifel:

schaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI hg. von Walter Biemel, 2. Auflage Den Haag: Martinus Nijhoff 1976, 190. 11 Husserl, Cartesianische Meditationen, 123. 12 Ebd., 127. 13 Ebd. 14 Ebd., 153. 15 Ebd., 131.

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»Innerhalb und mit den Mitteln dieses Eigenen konstituiert es [das transzendentale Ego, N.W.] aber die ›objektive‹ Welt, als Universum eines ihm fremden Seins, und in erster Stufe das Fremde des Modus alter ego.«16

Ich will auf die Einzelheiten der Konstitutionsanalyse nicht näher eingehen, sondern nur noch einmal darstellen, in welcher Hinsicht Husserl hier von Analogie spricht. Der Ausgangspunkt ist, dass sich in der Eigenheitssphäre der eigene Leib gegenüber allen anderen Körpern dadurch auszeichnet, dass er empfindsam ist, ja mehr noch, dass überhaupt alle Empfindungen und Wahrnehmungen an den Leib gebunden sind. Die Wahrnehmung der Welt ist grundsätzlich leiblich vermittelt und verläuft darum kinästhetisch. Wenn ich nun andere Körper, die in der Eigenheitssphäre auftreten, als leibhaft auffasse, dann muss diese Auffassung auf einer Übertragung von meinem eigenen als Leib erfahrenen Körper auf die anderen Körper beruhen. Husserl betont, dass es sich nicht um einen Denkakt, sondern um eine Form von Apperzeption handelt. Andernfalls könnte die Erfahrung des Anderen niemals die Objektivität der wahrgenommenen Welt gewährleisten. Apperzeption meint Mit-Wahrnehmung von etwas, das nicht selbst wahrgenommen werden kann. Am anderen Körper wird die Bedeutung ›Leib‹ gleichsam mit erfahren, weil er meinem eigenen Körper ähnlich ist und ich meinen eigenen Körper als Leib erfahre. Husserl spricht von »Paarung«. Nun kommt aber hinzu, dass ich die apperzipierte Leibhaftigkeit nicht in originäre Erfahrung überführen kann. Lediglich die Ähnlichkeit des anderen Körpers, die mich dazu bringt, ihn als einen anderen Leib aufzufassen, kann durch Erfahrung bestätigt werden. Der andere Körper verhält sich tatsächlich so, wie er sich verhalten sollte, wenn er denn tatsächlich Leib eines anderen Ich ist. Für dieses Zusammenspiel von sich bewäh­ render Ähnlichkeit und grundsätzlichem Entzogensein des Anderen verwendet Husserl den Begriff der Analogie: »Was dadurch in jener fundierten Weise einer primordial unerfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes konse­ quent bewährenden, erfahren ist, ist ›Fremdes‹. Es ist also nur denkbar als Analogon von Eigenheitlichem.«17

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Ebd. Ebd.,144.

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Das Analoge ist das, was ähnlich, aber doch uneinholbar anders ist.18 Darin liegt ein Widerspruch. Ähnlichkeit scheint auf ein Gemeinsa­ mes zu verweisen, die Uneinholbarkeit, bzw. in Husserls Worten die Unmöglichkeit »originaler Ausweisbarkeit«, dagegen auf größtmög­ liche Differenz. Waldenfels spricht vom Paradox der Fremderfahrung: »Fremderfahrung ist und bleibt eine Form der Erfahrung, nur eben in der paradoxen Form einer originären Unzugänglichkeit, einer abwe­ senden Anwesenheit.«19

Mit dem Begriff der Analogie versucht Husserl, dieses Paradox zu fas­ sen. Nun müssen wir allerdings noch einmal etwas genauer hinsehen, wie Husserl das Zusammenspiel von Ähnlichkeit und Entzogensein darstellt. Während mein eigener Leib, der gleichsam so etwas wie mein Tor zur Wahrnehmungswelt ist, grundsätzlich im Modus »Hier« auftritt, fasse ich den anderen Leib im Modus »Dort« auf.20 Schließlich erfahre ich den anderen Leib als räumlich von meinem eigenen Leib getrennt. Nun fasse ich ihn überhaupt nur als Leib auf, weil der andere Körper meinem Körper ähnlich ist und meinem Körper die Bedeutung Leib zukommt. Ähnlich ist der andere Leib also, insofern er meinem eigenen vergleichbar ist; anders ist er, insofern er nicht mit meinem eigenen Leib zusammenfällt, sondern von diesem getrennt einen anderen Ort in der Welt einnimmt. Zwar kann ich die Stelle des Anderen einnehmen und von dort aus die Weltwahrnehmung des Anderen nachvollziehen; es ist dies aber etwas anderes als die »originale Gegebenheit«, schließlich ist der Andere, wenn ich seinen Platz einnehme, bereits weitergerückt und macht seinerseits neue Wahrnehmungen. So trennen mich immer Raum oder Zeit oder beide von der Wahrnehmung des Anderen. Ich und Anderer können die gleichen Wahrnehmungen machen, aber sie machen sie raum-zeitlich getrennt voneinander. Gleiche Wahrnehmungen, die unabhängig voneinander gemacht werden – das garantiert die Intersubjektivität der wahrgenommenen Welt. Wir erinnern uns: Genau darum, die intersubjektive Geltung der Welt aufzuzeigen, ging es Husserl ein­ 18 So ist auch zu verstehen, dass Husserl an einer anderen Stelle des Textes sagt, der Andere sei nicht »bloßes Analogon« im Sinne eines Abbildes. Er möchte den Begriff der Analogie für die paradoxe Erfahrung »originärer Unzugänglichkeit« reservieren. Ebd., 153. 19 Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 30. 20 Husserl, Cartesianische Meditationen, 145 f.

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gangs der V. Meditation. Dieses Ziel hat er mit seiner Analyse der Konstitution des Alter Ego also erreicht. Freilich lassen sich diesbezüglich zahlreiche kritische Nachfragen stellen. Ich will nur einen Punkt herausheben: Der andere Körper taucht in meiner Eigenheitssphäre auf und wird darin als Leib eines Anderen aufgefasst, weil er meinem eigenen Leib ähnlich ist. Diese Ähnlichkeit bewährt sich daran, dass der Andere sich so bewegt und so handelt, wie ich es täte, würde ich seine raum-zeitliche Position ein­ nehmen. So wie mein Leib so etwas wie ein Tor zur Wahrnehmungs­ welt ist, so wird auch der andere Leib als ein solches Tor zur selben Welt vorgestellt, nur eben an einer anderen Stelle. Folglich nimmt er die gleiche Welt wahr. Ein Tor zur Welt kann der Leib aber nur sein, wenn sich auch in ihm ein transzendentales Ego selbst objektiviert. Der andere Leib verweist aufgrund seiner Ähnlichkeit mit meinem Leib ebenso wie dieser auf ein transzendentales Ego. Wenn wir für den Moment davon ausgehen, dass Husserl das transzendentale Ego, auf das der andere Leib verweist, als unterschieden vom transzendentalen Ego, das meinem Ich zugrunde liegt, verstünde, dann müsste auch die Welt des Anderen eine »zweite Originalsphäre« darstellen. Genau das ist, Husserl zufolge, aber nicht der Fall, und zwar deswegen nicht, weil die Appräsentation der Leiblichkeit des anderen Körpers notwendig in Einheit mit der Präsentation eben dieses Körpers in meiner Eigenheitssphäre erfolgt. »Nicht habe ich eine appräsentierte zweite Originalsphäre mit einer zweiten ›Natur‹ und einem zweiten Leibkörper (den des Anderen selbst) in dieser Natur und dann erst zu fragen, wie ich es mache, beide als Erscheinungsweisen derselben objektiven Natur aufzufassen. Sondern durch die Appräsentation selbst und die ihr als Appräsen­ tation notwendige Einheit mit der für sie mitfungierenden Präsenta­ tion (vermöge derer überhaupt ein Anderer und in Konsequenz sein konkretes Ich (Ego) für mich da ist) ist schon der Identitätssinn ›mei­ ner‹ primordialen Natur und der vergegenwärtigten anderen notwen­ dig hergestellt. Ganz rechtmäßig heißt es also Fremdwahrnehmung, und in weiterer Folge Wahrnehmung der objektiven Welt, Wahrneh­ mung, dass der Andere auf dasselbe hinsieht wie ich usw., obschon diese Wahrnehmung ausschließlich innerhalb meiner eigenheitlichen Sphäre sich abspielt.«21

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Die Einheitlichkeit der Welt von Ich und Anderem ist demnach immer schon vorausgesetzt. Was Husserl durch seine Analyse gewinnt, ist deshalb nur die Gewissheit, dass es in dieser Welt neben meinem Ich weitere andere Iche gibt. Diese anderen Iche verweisen aber nicht auf andere transzendentale Egos, die je eigene »Originalsphä­ ren« konstituieren, sondern stellen lediglich andere leibliche Selbst­ objektivationen desselben transzendentalen Ego dar. Damit werden sie transzendentalphilosophisch gesprochen nun aber gerade ihrer Andersheit beraubt. Husserl löst das Paradox der Alteritätserfahrung letztlich dadurch auf, dass er ›dasselbe‹ transzendentale Ego als in verschiedenen empirischen Ichen objektiviert sieht. Freilich geht es ihm nicht eigentlich um dieses Paradox, sondern nur um die Zurück­ weisung des Solipsismus-Einwandes. Tatsächlich ist die Vorstellung einer Vielzahl voneinander unter­ schiedener transzendentaler Egos unsinnig. Da das transzendentale Ego keine weltliche Entität ist, sondern lediglich jenen konstituie­ renden Bewusstseinsstrom bezeichnet, in dem empirisches Ich und erfahrene Welt gleichermaßen gründen, kann es nur durch den Akt der »Selbstobjektivierung« in eine Differenz zu sich selbst treten, sich also in Gestalt verschiedener empirischer Iche und ihrer jewei­ ligen Wahrnehmungsperspektiven pluralisieren. Eine vom transzen­ dentalen Ego konstituierte Welt bedarf aber nicht des Nachweises intersubjektiver Erfahrbarkeit auf der Ebene weltlicher Subjekte, um objektive Gültigkeit beanspruchen zu können. Husserl geraten hier die transzendentale und die empirische Ebene durcheinander. Darin kann man entweder einen Rückfall hinter die Klarheit seiner transzen­ dental-phänomenologischen Analysen in den vorangehenden vier Meditationen sehen oder aber man sieht darin den Versuch, die Wirklichkeit »transzendentaler Erfahrung«, von der Husserl am Ende der Cartesianischen Meditationen ausdrücklich spricht,22 besser zu verstehen. Diese Frage muss hier offenbleiben;23 ich will stattdessen dem Paradox der Alteritätserfahrung etwas weiter nachgehen, in dessen Zusammenhang Husserl den Begriff der Analogie verwendet, Ebd., 177. Husserl spricht in der Krisis-Schrift davon, »dass jeder Mensch ein ›transzenden­ tales Ich in sich trägt‹“. Nur wenige Zeilen später aber betont er die Wichtigkeit, die »absolute[] Einzigkeit des Ego und seiner zentralen Stellung für alle Konstitution« zu erkennen, und spricht davon, dass die Epoché dergestalt erneuert werden müsse, dass sie »auf das absolute Ego als das letztlich einzige Funktionszentrum aller Konstitu­ tion« reduziert. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 190. 22

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um zu prüfen, ob uns ein anderes Verständnis dieser Erfahrung auch zu einem anderen Verständnis von Analogie führt.

2. Von der Einheitlichkeit der Welt zum Zwischenreich der Perspektiven Wird die Differenz zwischen Ich und Anderem nicht transzendental vermittelt gedacht, dann spitzt sie sich dramatisch zu. Sartre zeigt in seiner Analyse des Blicks in Das Sein und das Nichts, dass der Andere meine Erfahrungswelt nicht einfach bestätigt und damit objektiviert, sondern im Gegenteil die Subjektivität und Kontingenz dieser Erfah­ rungswelt gnadenlos offenlegt. Das Verständnis des Anderen als eines Körpers, der in unserer Erfahrungswelt auftaucht, schlägt durch die bloße Möglichkeit des Angeblicktwerdens in größte Fremdheit um. Der Umschlag ereignet sich als »eine Umgruppierung aller Gegen­ stände, die mein Universum bevölkern« auf den Anderen hin.24 Nicht nur erblicke ich den Anderen, der Andere blickt seinerseits mich an und offenbart sich damit als ein Zentrum, auf das hin meine ganze Welt neu ausgerichtet wird und sich mir selbst entzieht. »So ist plötz­ lich ein Gegenstand erschienen, der mir die Welt gestohlen hat.«25 Der Andere ist Anderer dadurch, dass er mir die Welt entzieht und sie zu der seinen macht. Gewiss, Sartre geht es um die Offenlegung einer Dimension des Für-sich-Seins im Bewusstsein, dennoch erfasst er mit seiner Analyse den entscheidenden Grundzug einer Erfahrung des Anderen: Der Andere ist nicht anders, weil er von einer anderen Stelle aus auf dieselbe Welt blickt, sondern er ist anders dadurch, dass er meine Welt anders ausrichtet und ihr damit einen neuen Sinn gibt.26 Erst damit wird das Subjekt konsequent als ein in die Welt involviertes gedacht. In Husserls Philosophie der Intersubjektivität dagegen steht es der Welt auf gewisse Weise nach wie vor gegenüber. Das liegt auch daran, dass es Husserl vorrangig darum geht, die Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek: Rowohlt 1997, 461. 25 Ebd., 462. 26 Vgl. dazu meine etwas ausführlichere Darstellung in Niels Weidtmann, »Begeg­ nung von Kulturen – Pluralität von Welt«, in: Dietmar Koch, Michael Ruppert und Niels Weidtmann (Hg.), Globalisierung – Eine Welt? Philosophische Annäherungen. Tübingen: Attempto 2015, 13–38. 24

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Konstitution von Gegenständlichkeit zu klären.27 Sehr deutlich wird das an der Art und Weise, wie Husserl in der V. Meditation den Leib einführt. Er bestimmt den Leib als denjenigen Ort, an dem die als weltliches Ich selbstobjektivierte transzendentale Subjektivität in der Welt auftritt. So verstanden ist der Leib nicht an der Konstitution der Erfahrung beteiligt, sondern er ist lediglich Sitz des empirischen Sub­ jekts in der transzendental konstituierten Welt. Nur deshalb kann die »analogische Apperzeption« eines anderen Ich im Körper des anderen Menschen zur Sicherung der Objektivität der Erfahrungswelt führen. Husserl versteht den eigenen Leib in der V. Meditation offensichtlich ebenso gegenständlich wie den Körper des anderen Menschen und alles andere, das in der Welt begegnet. Ausgezeichnet ist der Leib allein dadurch, dass er der eigene Körper ist und das erfahrende Ich sich in der Welt nicht von ihm lösen kann. Merleau-Ponty nennt das bekanntlich die »Ständigkeit« des Leibes, fragt jedoch sogleich, ob sich der Leib angesichts solcher Ständigkeit noch als Gegenstand auffassen lässt.28 Schließlich ist die Ständigkeit des Leibes ganz anderer Art als diejenige der Gegenstände, die sich in wechselnden Perspektiven als beständig erweisen. Die Ständigkeit des Leibes ist »Ständigkeit ›meinerseits‹“.29 Sie ist dafür verantwortlich, dass sich der eigene Leib nicht in unterschiedlichen Perspektiven zeigen kann, weshalb »er selbst nie Gegenstand, niemals ›völlig konstituiert‹ sein kann«.30 Diese Konsequenz übernimmt Merleau-Ponty von Husserl, der sie selbst in den Ideen II bereits gezogen hat.31 Wenn der Leib nicht »völlig konstituiert« sein kann, dann ist er aber auch kein Gegenstand und kann folglich auch nicht als derjenige Ort verstanden werden, an dem die Subjektivität in der Welt auftritt. Er ist auf sehr viel innigere Weise 27 Husserl sieht nicht, dass bloße Gegenständlichkeit von der situativen Gegeben­ heitsweise der Dinge abstrahiert (ähnlich wie die wissenschaftliche Beschreibung der Dinge von der Lebenswelt abstrahiert) und folglich ein abgeleitetes Phänomen darstellt. Es kann keinen reinen Dinghorizont geben, da Dinge niemals isoliert erfahren werden. 28 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. von Rudolf Boehm, Berlin: De Gruyter 1966, 115. 29 Ebd. 30 Ebd., 117. 31 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hus­ serliana IV hg. von Marly Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952. Husserl spricht dort vom Leib als einem »merkwürdig unvollkommen konstituierte[m] Ding«. Ebd., § 41, 159.

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mit der Subjektivität verbunden, als lediglich von ihr bewohnt zu werden. Husserl scheint genau das in den Ideen II auch zu sagen, wenn er vom »psychophysische[n] Subjekt« spricht.32 Er zeigt dort auch, dass die Erfahrungen von der leiblichen Struktur abhängen und dass beispielsweise leibliche Anomalien zu entsprechend veränderten Erfahrungen führen. Allerdings weist Husserl sogleich darauf hin, dass zwischen dem »Ding selbst und seinen subjektiv bedingten Erscheinungsweisen« zu unterscheiden ist.33 Das »Ding selbst« ist der in der Wahrnehmung eigentlich »vermeinte« bzw. »intendierte« Gegenstand, die »subjektiv bedingten Erscheinungsweisen« (meine Hervorhebung) dagegen bloße Abschattungen. Darum kann Husserl den Leib auch als den »Nullpunkt« jeglicher Orientierung des Ich in der Welt bezeichnen.34 Ein solcher Nullpunkt setzt die Konstitution des Raumes, der von ihm aus erschlossen wird, bereits voraus. Auch in den Ideen II scheint Husserl den Leib also nicht in seiner eigenen konstituierenden Leistung zu erschließen. Das Ich ist dann aber nicht selbst in die Welt involviert, sondern betrachtet sie lediglich durch den Leib hindurch. Werden die verschiedenen Erfahrungen dagegen nicht so aufge­ fasst, dass sie allesamt auf die Leistung eines transzendentalen Egos zurückgehen, dann lässt sich auch die Differenz zwischen Ich und Anderem nicht durch Beobachtung und Einfühlung überwinden. Der Andere kann dann vom Ich nicht erfasst werden, ohne dass er gleich­ sam selbst zu Wort kommt. Er muss gehört werden, und das, was er sagt, wird niemals bloße Bestätigung der eigenen Erfahrungswelt sein. Der Andere sichert deshalb auch nicht die objektive Gültigkeit meiner Erfahrungswelt ab; stattdessen müssen wir unsere Erfahrun­ gen austauschen und gemeinsame Erfahrungen machen, um Verbin­ dendes zu stiften. Am konsequentesten hat vielleicht Lévinas diese grundsätzliche Differenz zwischen Ich und Anderem aufgegriffen, und zugleich ist er nicht bei der Konstatierung einer Relativität des Subjekts stehengeblieben, sondern hat die ethischen Konsequenzen der Differenz zwischen Ich und Anderem herausgearbeitet.35 Lévinas Ebd., § 18, 75 (im Original gesperrt gedruckt). Ebd. (Hervorhebungen im Original gesperrt gedruckt). 34 Ebd., § 41, 158 (im Original gesperrt gedruckt). 35 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übers. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München: Alber 1987. Lévinas nimmt darin auch direkt Bezug auf Husserls V. Cartesianische Meditation: »Die Konstitution des Leibes des Anderen in dem Bereich, den Husserl ›primordiale Sphäre‹ 32

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geht es dabei freilich gerade nicht um ein Verstehen des Anderen, sondern um die Erfahrung der grundsätzlichen Alterität, die mir im Angesicht des Anderen begegnet oder, richtiger gesagt, widerfährt. Das Moment der Ähnlichkeit tritt deshalb hinter das Moment des Entzogenseins zurück. In der Analogie gehören diese beiden, wie wir gesehen haben, aber zusammen. Ich will darum einer anderen Fährte folgen und darauf zurück­ kommen, was eben beiläufig erwähnt wurde, nämlich dass wir uns über Erfahrungen austauschen, um so etwas wie einen gemeinsa­ men Erfahrungsraum zu konstituieren. Tatsächlich teilen wir unse­ ren Erfahrungsraum im Alltag doch mit unzählig vielen anderen Menschen. Zumindest in einem oberflächlichen Sinn ist das ganz offensichtlich, aber auch tieferliegende Erfahrungsebenen teilen wir immer noch mit anderen, seien dies Kollegen, Freunde oder die eigene Familie. In Wirklichkeit scheint also doch das Moment der Ähnlich­ keit zu überwiegen. Man könnte versucht sein, ein Modell anzuneh­ men, in dem das Verhältnis von Ähnlichkeit und Differenz in Form konzentrischer Kreise vorgestellt wird: Der äußerste, größte Kreis stünde dann für die gemeinsame Welt, wogegen der innerste, kleinste Kreis meine ganz privaten Erfahrungen umfassen würde; dazwischen könnte es eine Vielzahl kleinerer und größerer Kreise geben, in denen unterschiedliche Grade von Ähnlichkeit und Differenz herrschen. Der Fehler, der diesem Modell zugrunde liegt, ist der, dass Erfahrung hier als solche Erfahrung verstanden wird, die wir mit oder von der Welt haben. Der Begriff der Erfahrungswelt, wie Husserl ihn verwendet und wie er uns letztlich seit Kant vertraut ist, deutet dagegen gerade darauf hin, dass die Welt selbst an der Erfahrung hängt.36 Die Welt nennt, die transzendentale ›Paarung‹, die das so konstituierte Objekt mit meinem Leib eingeht – wobei mein Leib selbst von Innen als ein ›Ich kann‹ erfahren ist – die Apperzeption dieses fremden Leibes als des Leibes eines alter ego –, all dies verschleiert, dass auf jeder der Stufen, die man für eine Beschreibung der Konstitution hält, die Objektkonstitution mit der Beziehung zum Anderen verwechselt wird – obwohl diese Beziehung ebenso ursprünglich ist wie die Konstitution, aus der man sie ableiten möchte.« Ebd., 90. 36 In Kants Worten: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […].« Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe Bd. III hg. von Wilhelm Weischedel, 10. Auflage Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, B 197. Husserl zeigt über Kant hinaus, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht einfach im Subjekt bereitliegen, sondern selbst am Vollzug der Erfahrung hängen; das Apriori wird zum Korrelationsapriori.

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transzendiert die Erfahrungen zwar, aber nicht deshalb, weil sie den Erfahrungen vorausliegt, sondern weil die Erfahrungen ihrer Struktur nach selbst-transzendierend sind: Erfahrung meint die wechselseitige Konstitution von Erfahrungssubjekt und Erfahrungswelt, und das nicht qua transzendentalem Bewusstsein, sondern qua leiblichem In-der-Welt-sein. Hinzu kommt, dass Erfahrungen, das macht bereits Husserl ganz deutlich, immer aus anderen Erfahrungen hervorgehen und ihrerseits neue Erfahrungen motivieren. Erfahrungen stehen also grundsätzlich in einem Erfahrungszusammenhang, sie haben ihre eigene Geschichte bzw. schlicht: sie sind geschichtlich. Der Andere ist also vor allem darin anders, dass er eine andere Erfahrungsgeschichte hat und deswegen auch andere Erfahrungen macht, als ich sie mache. Husserl versteht die Geschichtlichkeit der Erfahrung freilich bei wei­ tem nicht radikal genug. Er diskutiert sie in seinen Analysen zu Heim- und Fremdwelt.37 Um die Fremdwelt ganz zu durchdringen und ihre Erfahrungswirklichkeit so verstehen zu können, wie sie von den Bewohnern der Fremdwelt verstanden wird, müsste auch (und zunächst) ihre Erfahrungsgeschichte nachvollzogen werden. Da sich das niemals vollständig realisieren lässt, bleiben Heim- und Fremdwelt einander immer ein Stück weit entzogen. Für Husserl ist der entscheidende Punkt nun aber, dass gerade angesichts der Unterscheidung von Heim- und Fremdwelt die Idee der einen Welt aufgeht. Heim- und Fremdwelt erweisen sich als bloße Abschattungen der einen Welt. Zwar gibt es kein Ende der Geschichte, so dass die Erfahrungswelten nie mit der Idee der Welt zusammenfallen und immer auf mögliche fremde Welten verwiesen bleiben. Zugleich sind die möglichen fremden Welten damit aber immer schon als andere Erfahrungsweisen von der einen, auch in der Heimwelt erfahrenen Welt aufgefasst. In der Begegnung von Heim- und Fremdwelt wie­ derholt sich gewissermaßen jene »analogische Apperzeption«, die es dem Ich ermöglicht, im Anderen ein Alter Ego zu erkennen. Das ist zu wenig, wird die Geschichtlichkeit der Erfahrung damit doch auf die Entfaltung vom im transzendentalen Ego bereitliegenden Erfahrungen reduziert. Tatsächlich verweist die Geschichtlichkeit der Erfahrung aber gerade darauf, dass sie ihre Herkunft in sich selbst hat; Erfahrungen sind durch Erfahrungen motiviert, sie bilden einen Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nach­ lass. Dritter Teil: 1929–1935. Husserliana XV hg. von Iso Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, s. bes. Beilagen XI, XIII, XLVIII und Text 27.

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eigenen inneren Zusammenhang bzw. eine eigene Struktur aus, die durch nichts anderes als eben die Konsequenz der Erfahrungen charakterisiert ist.38 Um dennoch Erfahrungen auch über die Grenzen von Heim- und Fremdwelt hinweg teilen zu können, müssen wir uns deshalb darum bemühen, einen gemeinsamen Erfahrungskontext erst aufzubauen. Auch müssen wir uns über unsere Erfahrungen austauschen und wir müssen uns für die Erfahrungsgeschichte der Fremdwelt inter-essieren, d. h. strenggenommen, dass wir ein Stück weit in sie eintauchen und Teil der anderen Erfahrungswelt werden müssen. Die Fremdwelt ergänzt die Heimwelt nicht einfach, indem sie sich in den »Horizont aller Horinzonte« einfügt, auf den auch die Heimwelt verweist. Stattdessen erweist sie sich als Stachel im Fleisch der Heimwelt ebenso wie der Idee der einen Welt. Die Erfahrungswelt des Anderen ist aus anderen Erfahrungen gewoben als meine eigene und hat darum ihren eigenen Sinn. Es ist in erster Linie dieser andere Sinn, der sich mir entzieht. Einzelne Erfahrungen kann ich leicht nachvollziehen, aber sie verknüpfen sich dann mit meiner eigenen Erfahrungsgeschichte und erscheinen deshalb in einem anderen Licht. Die Erfahrungswelt des Anderen hat dagegen ihren eigenen Sinn. Dieser ist es, der sich entzieht, nicht eine vermeintlich substanziell andere Welt. Der Sinn hängt nun nicht an der einen oder anderen einzelnen Erfahrung, sondern daran, wie all diese Erfahrungen miteinander verwoben sind. Er liegt also eigentlich zwischen den Erfahrungen. Das hat weitreichende Konsequenzen, die ich kurz andeuten möchte, bevor ich auf das Verhältnis von Ich und Anderem zurückkomme. Dass der Sinn zwischen den Erfahrungen liegt, bedeutet, dass es ihn nur dort gibt, wo er konkret erfahren wird; er muss also beständig aktualisiert werden. Und er wandelt sich mit jeder neuen Erfahrung, und sei es nur minimal. Die einzelne Erfahrung erhält ihren Sinn vom Erfahrungszusammenhang her, in dem sie steht; zugleich aber beeinflusst sie selbst diesen Sinn, konsti­ tuiert sich der Sinn doch aus dem Zusammenspiel aller Erfahrungen eines Erfahrungszusammenhangs. Diese wechselseitige Bedingtheit von einzelner Erfahrung und Erfahrungssinn, der sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Erfahrungen ergibt und deshalb eigentlich zwischen ihnen liegt, führt dazu, dass sich der Sinn eines Erfahrungszusammenhangs oder gar einer Erfahrungswelt in den einzelnen Erfahrungen je anders zeigt. Es ist der gleiche Sinn; da er 38

Vgl. dazu Rombach, Strukturontologie, 87 ff.

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selbst aber nur im Zusammenspiel der Erfahrungen besteht und sich dieses Zusammenspiel von jeder einzelnen Erfahrung aus gesehen etwas anders darstellt, ist er doch in jeder Erfahrung ein etwas anderer. Der Sinn der einen Erfahrung ist also einerseits identisch mit dem Sinn einer anderen Erfahrung desselben Erfahrungszusammenhangs und doch ist er zugleich ein anderer (und kann nur deshalb derselbe sein). Dieses Zusammenspiel von Identität und Differenz, das sich nicht in der spekulativen Identität einer höheren Ordnung auflöst, finden wir auch im Verhältnis von Ich und Anderem, und zwar dort, wo sie miteinander Erfahrungen machen, d. h. dort, wo ihr Verhältnis zueinander in Bewegung gerät und nicht statisch verstanden wird.

3. Von der Analogie zur Entsprechung Ich will versuchen, das angedeutete Verhältnis von Ich und Anderem, das sich aus einem Zwischenreich jenseits von Identität und Differenz speist, an einem geläufigen Beispiel zu verdeutlichen: dem Spiel. Ein Spiel kann man nicht planen, sondern man muss es spielen. Das bedeutet, dass sich die Spielenden auf die dem Spiel eigene Verlaufs­ form einlassen müssen und diese nicht von außen vorgeben können. Dabei ergibt sich die Verlaufsform eines Spiels erst im Laufe des Spiels selbst, sie kann nicht in einem Regelwerk festgeschrieben werden. Jedes Spiel und noch viel mehr jeder Spielverlauf haben so etwas wie ihren eigenen Takt, ihren Rhythmus und ihren eigenen Ernst, die sich während des Spieles ausbilden. Tatsächlich müssen auch die Spielenden erst in ein Spiel hineinkommen, es dauert etwas, ehe sie sich vom Spiel ansprechen lassen und mit ihren Spielhandlungen so auf den Spielverlauf antworten können, dass sie diesen tatsächlich voranbringen. Sie müssen erst ein Gespür für das Spiel bekommen, ehe sie es spielend weiterführen können. Das Hineinkommen der Spieler ins Spiel ist dabei zugleich das In-Fahrt-kommen des Spiels selbst, schließlich lebt das Spiel von den Handlungen seiner Spieler. Das Spiel gibt vor, welche Spielhandlungen möglich und sinnvoll sind; zugleich ergibt sich der Spielverlauf selbst erst aus den verschie­ denen Spielhandlungen. Deswegen sind die ersten Spielhandlungen noch ganz offen für alle möglichen Spielverläufe und orientieren sich zunächst allein an den vorgegebenen Spielregeln. Je weiter das Spiel fortschreitet, desto klarere Konturen nimmt der Spielverlauf an und desto mehr richten sich auch die Spielhandlungen nach dem

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Spielverlauf. Das Spiel durchläuft also eine eigene Genese, es liegt nicht schon vor, sondern muss selbst erst erspielt werden. Deshalb auch geht das Spiel in dem Moment verloren, in dem es nicht mehr weitergespielt wird. Man kann ein Spiel nicht unterbrechen, jedenfalls nicht für länger, weil die Spielenden dann nicht mehr in den Bann des Spiels geschlagen bleiben, sondern andere Erfahrungen machen, die nun wichtiger werden; sie kommen desto mehr ›raus‹, je tiefer sie in andere Erfahrungsfelder eintauchen. Passiert das, dann müssen die Spieler von neuem ins Spiel hineinfinden und das Spiel muss erst langsam wieder Fahrt aufnehmen. Die Spieler sind bei alldem keine Außenstehenden, sondern sie haben am Spiel teil, ja sie werden durch die Teilhabe allererst zu Spielern. Sie sind dieser oder jener Spieler, weil sie das Spiel in diese oder jene Richtung drängen und zugleich selbst vom Spiel diese oder jene Rolle zugewiesen bekommen. Nur als ein solch Teilhabender kann der Einzelne ein Spiel spielen, weil sich ihm nur als am Spiel Teilhabendem der eigentümliche Verlauf eines Spiels erschließt. Von außen kann man ein Spiel nicht beurteilen. Der Maßstab einer Beurteilung ergibt sich allein aus dem Spiel selbst. Die Spieler spielen das Spiel, aber wie sie es spielen und welche Rolle sie im Spiel einnehmen, das gibt ihnen das Spiel vor bzw., richtiger, das ergibt sich aus dem Spiel selbst. So hängt auch das Gelingen des Spiels nicht allein von den Fähigkeiten der einzelnen Spieler, sondern in ebenso großem Maße vom Spielverlauf selbst ab. Technisch sehr gute Spieler, etwa im Profisport, können gelegentlich schlecht spielen, ihnen kann vieles, manchmal gar alles misslingen, ebenso kann umgekehrt technisch weniger gut ausgebildeten Spielern u. U. vieles gelingen. Das Gelingen hängt nicht so sehr an den techni­ schen Fähigkeiten der einzelnen, als vielmehr daran, dass die Spieler die Spielsituationen richtig aufnehmen und spielfördernd auf sie antworten. Gut spielt deshalb derjenige, der sich auf ein Spiel einlässt und sich seine Spielhandlungen ganz vom Spielverlauf vorgeben lässt. Gelingt dies den Spielern, dann erfahren sie sich selbst als vom Spiel getragen; ihre Spielhandlungen spielen sich wie von selbst – nämlich vom Spiel her – und müssen von den Spielern nicht mühsam ins Spiel hineingetragen werden. Darum kann Gadamer in seiner Analyse des Spiels, anhand derer er die Ontologie des Kunstwerks erläutert, sagen: »Zum Spiel gehört, dass die Bewegung nicht nur ohne Zweck und Absicht, sondern auch ohne Anstrengung ist. Es geht wie von selbst. Die Leichtigkeit des Spiels, die natürlich kein wirkliches Fehlen von

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Anstrengung zu sein braucht, sondern phänomenologisch allein das Fehlen von Angestrengtheit meint, wird subjektiv als Entlastung erfah­ ren.«39

Wir spielen, so könnte man hier weiterdenken, also nicht, um der Anstrengung aus dem Weg zu gehen, sondern um die Erfahrung des gelingenden Zusammenspiels von Spielanforderung und Spielhand­ lung zu machen. Auch das Spiel stellt Anforderungen an uns und kann uns u. U. alles abverlangen. Die Anforderungen, die das Spiel an uns stellt, sind aber nicht von anderswo an uns herangetragen, sondern ergeben sich selbst erst aus dem Zusammenspiel; sie offenbaren sich in dem Maße, in dem wir in das Spiel ›hineinkommen‹ und es zu ›unserer‹ Sache machen. Wir erfahren die Anforderungen, die das Spiel an uns stellt, deshalb als selbst gestellte und frei gewählte Anfor­ derungen. Sie zwingen uns nicht, sondern weisen uns im Gegenteil den von uns selbst eingeschlagenen Weg. Die Zuordnung des Spiels zur sogenannten ›Freizeit‹ ist darum doppeldeutig. Zum einen ist sie vom ›echten‹ Leben her gesprochen, das sich den Sorgen und Zwängen des Alltags ebenso wie den Vorgaben des Arbeitslebens widmen muss und von dem her das Spiel deshalb wie eine kurze Auszeit verstanden wird; zum anderen aber ist die Zeit, die wir mit dem Spiel verbringen, tatsächlich ›freie‹ Zeit, weil das Spiel Ziel und Zweck aus sich selbst schöpft und dem Spielenden damit die freie Selbstentfaltung ermöglicht. Offensichtlich ist uns diese Autonomie-Erfahrung im Alltag weitgehend abhandengekommen. Das ist vermutlich auch der eigentliche Grund dafür, dass vor allem im Sport Millionen von Menschen zusehen, wie andere spielen. Ein gutes und in unserer Gesellschaft prominentes Beispiel dafür ist das Fußballspiel. Beim Fußballspiel kann auch der ungeübte Zuschauer erleben, wie entscheidend es ist, dass eine Mannschaft ins Spiel hineinfindet. Ob ein Spiel gelingt, steht auch bei professionellen Mannschaften beständig auf der Kippe bzw. ›auf dem Spiel‹, und beim Fußballspiel ist das aufgrund des im Vergleich zu anderen Ballsport­ arten relativ langsamen Spielverlaufs sehr viel offensichtlicher als bei

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke Bd. 1, 6. Auflage Tübingen: Mohr Siebeck 1990, 110. Es ist wichtig zu sehen, dass sich die Aussage, die Bewegung des Spiels sei »ohne Zweck und Absicht« auf außerhalb des Spiels liegende Zwecke und Absichten bezieht. Das Spiel hat seinen einzigen Zweck in sich selbst. 39

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vielen anderen Sportarten.40 Dass es gerade im Sport dann natürlich doch auch auf die technischen Fähigkeiten des Einzelnen ankommt, liegt daran, dass die Spielsituationen im professionellen Bereich sehr viel komplexer sind, so dass die vom Spiel geforderten Spielhandlun­ gen schwieriger durchzuführen sind. Gelingen kann ein Spiel aber auf der Amateurebene genauso wie auf der professionellen Ebene.41 Im Spiel verstehen sich die Spielenden ganz vom Spiel her. Sie spielen miteinander selbst dann, wenn sie gegeneinander spielen. Dabei gibt es das Spiel ohne die Handlungen der Spieler gar nicht; es existiert nicht an sich. Das Spiel besteht in nichts anderem als dem Hin und Her der verschiedenen Spielhandlungen, im Zusammenspiel der verschiedenen Spieler. Das Wesen des Spiels liegt in einem Zwischenbereich, der von den Spielern weniger bewusst gestaltet wird, als dass diese im Gegenteil gerade von ihm her ihre Rollen zugewiesen bekommen. Das Spiel selbst spielt sich im Zwischen ab. Dafür steht das Bild des Rades, das sich im Daodejing (Tao Te King) findet: Das Rad muss ›Spiel‹ haben, um sich um die Achse drehen zu können. Es ist ein Nichts, das Rad und Achse trennt; und doch ergibt sich erst von diesem Nichts her die Brauchbarkeit beider.42 Ebenso sind die verschiedenen Spieler im Spiel durch nichts als ihr Zusammenspiel getrennt; und doch gelingt ein solches Zusammenspiel nur, wenn die Spieler im Spiel verschiedene Rollen spielen. Anders gesagt: Ich und der Andere verstehen uns im gelingenden Spiel blind; aber nicht deswegen, weil wir uns im Spiel irgendwie einander angleichen, und auch nicht, weil wir uns in unseren Spielhandlungen auf dieselbe vorgegebene Wirklichkeit beziehen, sondern im Gegenteil gerade Gadamer weist zudem darauf hin, dass die Faszination des Ballspiels auch darauf zurückzuführen ist, dass der Ball frei beweglich ist und »gleichsam von sich aus das Überraschende tut«. Der Ball ist nie völlig beherrschbar, darum sind gerade Ballspiele nicht bis ins Letzte hinein planbar. Ebd., 111. 41 Die unterschiedlichen Anforderungen, die die jeweiligen Ebenen an die Spieler stellen, sind vermutlich ein Grund dafür, dass sich Profimannschaften häufig eigen­ tümlich schwertun, wenn sie gegen Amateurmannschaften spielen. 42 Lao Tse, Tao-Te-King. Das heilige Buch vom Tao und der wahren Tugend. Neu übertragen und mit einer Einführung versehen von Wolfgang Kopp, Interlaken: Ansata 1988. Das elfte Spruchkapitel lautet in Kopps Übersetzung: »Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: / Eben dort, wo nichts ist, / liegt des Rades Brauchbarkeit. / Man knetet Ton zurecht, so dass ein Topf entsteht: / eben dort, wo nichts ist, / liegt des Topfes Brauchbarkeit. / Man meißelt Tür und Fenster aus, / so dass ein Haus entsteht. / eben dort, wo nichts ist, lieget des Hauses Brauchbarkeit. / Darum: Das Seiende zeigt seinen Nutzen im Gebrauch erst durch das Nichtseiende.« 40

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deswegen, weil sowohl wir als die Spielenden als auch das Spiel selbst, auf das sich unsere Handlungen beziehen, erst im Zusammenspiel konstituiert werden. Wir sind uns nicht ähnlich, denn das würde das Spiel als gemeinsame Grundlage immer schon voraussetzen; stattdessen sind wir einander gerade in der Differenz ›identisch‹, weil wir beide erst aus dem gelingenden Zusammenspiel als Spielende hervorgehen und selbst nichts anderes als Präsentationen dieses Zusammenspiels sind. Auf einen letzten Aspekt möchte ich in diesem kurzen Verweis auf das Phänomen des Spiels noch zu sprechen kommen. Es scheint ein Charakteristikum des Spiels zu sein, dass die Spielenden zu jeder Zeit um die Differenz zwischen Spiel und Alltagswirklichkeit wissen.43 Fink beschreibt am Beispiel eines spielenden Kindes ein­ drücklich, dass das Kind ganz ins Puppenspiel vertieft sein und das Rollenspiel ernstnehmen kann und doch zugleich immer darum weiß, dass es spielt und im Spiel eine Rolle einnimmt, die ihm in seiner Alltagswirklichkeit nicht zukommt.44 Die Ernsthaftigkeit des Spielenden geht zusammen mit einer eigentümlichen Distanz dem Spiel gegenüber. Der Spielende geht ganz im Spiel auf und weiß doch ›irgendwie‹ zugleich darum, dass er ›nur‹ spielt. Das Verhältnis des Spielenden zum Spiel hat gewissermaßen selbst Spiel und ist nicht starr festgelegt. Das Spiel hat selbst einen spielerischen Charakter. Es hat seine eigene Wirklichkeit, aber es schreibt diese Wirklichkeit nicht fest, verabsolutiert sie nicht, sondern bleibt durchlässig und auf andere Wirklichkeiten ansprechbar. Das ist der Grund dafür, dass das Spiel »darstellen« kann, wie Gadamer sagt.45 Das Spiel vermag dem Leben einen Spiegel vorzuhalten und ihm die Wahrheit seiner selbst zu zeigen, es ist, in den Worten Finks, »Symbol«.46 »In der Darstellung des Spiels kommt heraus, was ist. In ihr wird hervorgeholt und

Das heben alle großen Phänomenologen des Spiels hervor. Vgl. bspw. Johan Huizinga, Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Amsterdam: Pantheon 1939, 13. Eugen Fink, Die Grundphänomene des menschlichen Daseins. Hg. von Egon Schütz und Franz-Anton Schwarz, 2. Auflage Freiburg/ München: Alber 1995, 380 ff. Gadamer, Wahrheit und Methode, 107–139, s. bes. 108. 44 Fink, Die Grundphänomene des menschlichen Daseins, 366. 45 Gadamer, Wahrheit und Methode, 113 ff. 46 Fink, Die Grundphänomene des menschlichen Daseins, 394 ff., s. bes. 395. Vgl. auch Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol. Gesamtausgabe Bd. 7 hg. von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp, Freiburg/München: Alber 2010. 43

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ans Licht gebracht, was sich sonst ständig verhüllt und entzieht.«47 Deshalb erfährt der Spielende »das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit«.48 Es wäre nun aber völlig falsch anzunehmen, dem Spiel käme grundsätzlich eine höhere Wirklichkeit und größere Wahrheit zu als der Alltagswirklichkeit. Vielmehr vermag das Spiel in seiner Darstellung des Lebens nur deshalb das ans Licht zu bringen, »was sich sonst ständig verhüllt und entzieht«, weil das Leben selbst in all seinen Bereichen, nicht nur im Spiel, Spielcharakter besitzt. Fink kann das Spiel deshalb als ein »Grundphänomen« beschreiben, weil es in alle Phänomene hineinspielt, weil alle Phänomene einen spielerischen Grundzug besitzen. Das gerade macht ein Phänomen zum Grundphänomen, dass es einen wesentlichen Grundzug aller Phänomene beschreibt. Worauf die Darstellung im Spiel aufmerksam macht, ist deshalb dies, dass die Alltagswirklichkeit missverstanden wird, wenn sie als unhintergehbare Realität verstanden und damit gleichsam festgestellt wird, – so dass es Veränderungen und Wandel immer nur innerhalb dieser Realität geben kann. Auch die Alltags­ wirklichkeit muss offen bleiben für ihre eigenen Tiefendimensionen und ihre eigene Lebendigkeit. Andernfalls wird sie schlicht voraus­ gesetzt und damit fraglos und letztlich auch sinnlos. Die Wahrheit vermag aber nur dann aufzuscheinen, wenn sie nicht fraglos voraus­ gesetzt wird und folglich unbedacht bleibt. Fink beschreibt sehr schön, dass alles Philosophieren mit dem Fraglichwerden des vermeintlich Fraglosen beginnt.49 Das Grundphänomen des Spiels weist also darauf hin, dass die Wirklichkeit dann als »übertreffend« (s. o.) und wahr erfahren wird, wenn wir in jeder Lebenssituation offenbleiben für andere Lebenssituationen und -wirklichkeiten und keine einzige von ihnen verabsolutieren oder fraglos hinnehmen. Die Wahrheit unserer Lebenswirklichkeit liegt nicht in der voraussetzungslosen Realität, sondern im freien Spiel der verschiedenen Lebenswirklich­ keiten. In diesem Sinne ließe sich vom ›Spiel des Lebens‹ sprechen, dessen eigener Sinn erspielt werden muss. Was für das Verhältnis von Ich und Anderem im Spiel gilt, dass sie nämlich gerade in ihrer Differenz einig sind und sich jenem Zwischen verdanken, als welches das Spiel erspielt wird, zeigt sich nun auch als ein entscheidender Gadamer, Wahrheit und Methode, 118. Ebd, 115. 49 »Der Einbruch der Philosophie in unser Leben geschieht als Verwandlung des Selbstverständlichen ins Fragwürdige.« Fink, Die Grundphänomene des menschlichen Daseins, 18. 47

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Grundzug der menschlichen Lebenswirklichkeit. Die verschiedenen Lebenssituationen bzw. die unterschiedlichen Grundphänomene des menschlichen Daseins ergänzen sich nicht einfach, sie sind sich weder ähnlich noch sind sie einander analog, sondern sie schenken sich in ihrem Zusammenspiel wechselseitig ihren je-eigenen Sinn. Ähnliche Strukturmomente, wie ich sie beim Spiel herausgestellt habe, lassen sich für das Gespräch aufweisen. Auch im Gespräch ist es so, dass die Gesprächspartner zunächst zögerlich beginnen und sich nur langsam an das eigentliche Gesprächsthema herantasten. Man will den Anderen nicht überfallen, und – was viel wichtiger ist – man spricht vorsichtig, weil man nicht weiß, wie der Andere das Gesagte aufnimmt. Wir geben etwas von uns preis, ohne zu wissen, was der Andere damit macht, ob und wie er es versteht und wie er darauf antwortet. Das Gespräch verlässt die Form der bloßen Mitteilung und nimmt die Gestalt eines Antwortgeschehens an. Lévinas hat sehr schön gezeigt, dass sich der Gesprächspartner durch das Gesagte nicht festlegen lässt, sondern frei bleibt, ja dass er gerade im Gespräch in seiner Alterität zu begegnen vermag: »Die Beziehung der Sprache setzt die Transzendenz voraus, die radikale Trennung, die Fremdheit der Gesprächspartner, den Anderen, der sich mir offenbart. Anders gesagt: Die Sprache wird da gesprochen, wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muss. Die Sprache steht in dieser Transzendenz. Also ist die Rede Erfahrung von etwas absolut Fremdem, reine ›Erkenntnis‹ oder ›Erfahrung‹, Trauma des Staunens.«50

Solange das Gespräch von den Gesprächspartnern gleichsam abtas­ tend geführt wird, verläuft es schleppend. Unter Umständen aber gewinnt das Gespräch mit der Zeit an Fahrt, wird flüssiger und vor allem fokussierter. Die Gesprächsbeiträge beruhen dann weniger auf dem, was die Gesprächsteilnehmer zu Beginn des Gesprächs von sich aus sagen wollten oder vom Anderen gefragt wurden, als vielmehr auf dem, was vom Gesprächsverlauf her gefordert und gefragt ist. Die Gesprächspartner antworten beide auf die Sache, um die es im Gespräch geht. Dabei ist es möglich, dass die einzelnen Beiträge weit 50 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 100. Vgl. auch Emmanuel Lévinas, »Sprache und Nähe«, in: Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übers. von Wolfgang N. Krewani, 3. Auflage Freiburg/München: Alber 1992, 261–294.

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über das hinausgehen, was die Gesprächspartner von sich aus zu sagen gewusst hätten. Im Fall eines gelingenden Gesprächs machen wir die Erfahrung, dass wir mehr sagen, als wir eigentlich dachten beitragen zu können. Das Gespräch führt die Sprechenden über sich selbst hinaus; sie entdecken im Gespräch etwas, finden Worte für etwas, das sie von sich aus nicht hätten ausdrücken können. Ähnlich wie beim Spiel ist es hier das Gespräch, das die Führung übernimmt und die Sprechenden mitnimmt. Und doch besteht das Gespräch nur im Hin und Her der Gesprächsbeiträge. Auch im Gespräch begegnet uns ganz ähnlich wie im Spiel dieses wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Gespräch auf der einen und Gesprächsbeiträgen bis hin zu den Sprechenden selbst auf der anderen Seite. Am Beispiel des Gesprächs wird nun vielleicht noch deutlicher als beim Spiel, dass sich die Sprechenden vom gleichen Geschehen her verstehen – und genau deswegen auch einander verstehen – obwohl sie im Gespräch u. U. doch ganz konträre Ansichten vertre­ ten. Für ein gelingendes Gespräch ist es nicht entscheidend, ob die miteinander Sprechenden einer Meinung sind oder nicht. Das von ihnen Gesagte muss sich aber ent-sprechen, und das tut es nur dann, wenn es auf das gleiche Gesprächsgeschehen antwortet, nicht wenn einer der Gesprächspartner, gleichsam isoliert und ohne auf den Gesprächsverlauf zu achten, das sagt, was er von Beginn an hatte sagen wollen. Solches Sprechen, da ist Lévinas zuzustimmen, kann niemals entsprechen, es bleibt das Eigentliche der Antwort immer schuldig. Entsprechungen bilden sich nur dort aus, wo das Gesagte auf ein- und dasselbe Gesprächsgeschehen antwortet, ganz so, wie ein Spieler seine Handlungen am Spielverlauf ausrichtet. Das Gesagte kann aber nur dann auf das Gesprächsgeschehen antworten, wenn es dieses im Ganzen aufnimmt und weiterführt. In jedem einzelnen Gesprächsbeitrag ist das Gesprächsgeschehen im Ganzen präsent und wird dadurch, dass es weitergeführt wird, aufrechterhalten. Der einzelne Gesprächsbeitrag ist also kein Puzzlestein, der sich ins Ganze des Gesprächs einfügt. Stattdessen ist in ihm die Sache, um die es im Gespräch geht und die das Gespräch ausmacht, auf seine Weise im Ganzen getroffen und eben ausgesagt. Ja, es gibt diese Sache und mit ihr das ganze Gespräch überhaupt nur in Gestalt des jeweiligen Gesprächsbeitrags. Das Gespräch selbst ist jenseits des einzelnen Beitrags zu ihm nichts, jenes Nichts, das Achse und Rad voneinander trennt.

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Damit zeichnet sich eine erste vorläufige Antwort auf die Frage ab, wie sich das Paradox der Fremderfahrung bzw. die Frage, worin die Ähnlichkeit zum Anderen besteht, obgleich dieser doch radikal von mir unterschieden ist, verstehen lässt. Husserls Antwort lautet, wie wir gesehen haben, dass Fremdes nur als »Analogon von Eigen­ heitlichem« denkbar ist. Die Antwort, die ich hier zu geben versuchen möchte, liegt darin, dass sich das Paradox der Fremderfahrung erst dort stellt, wo ich mich vom Anderen in einer Weise betreffen lasse, die mich zu einer Antwort auffordert, d. h. in einer Situation, in der mir der Andere von sich her begegnet und auf irgendeine Weise selbst zu Wort kommt. Dann aber bin ich eben nicht mehr alleiniger Souverän der Ereignisse, sondern werde zum Mitspieler in einem Begegnungs- und Sinngeschehen, das die bestehende Wirklichkeit für neue Erfahrungen öffnet. Ich begegne dem Anderen nicht einfach als einem mir Entzogenen, sondern ich begebe mich durch die Begegnung in eine Situation, die mich selbst verändert, indem sie mir Handlun­ gen – und seien es sprachliche Handlungen – abverlangt, die ich nicht voraussehen kann und deren Sinn sich allein aus der Begegnungssi­ tuation ergibt. Ich verstehe mich selbst von der Begegnung her, ich bin Begegnender. Ich bin freilich nur dort Begegnender, wo ich mich auf die Begegnung einlasse, und das heißt, dem in der Begegnung Gesche­ henden die Führung überlasse. Was dann geschieht, ist Folgendes: Ich und der Andere verstehen uns von dem her, was zwischen uns geschieht, aber wir tun dies auf sehr verschiedene Weise. Weder ist die Differenz unüberwindbar, noch geht sie in einer übergreifenden Identität auf oder wird von einer zugrundeliegenden Einheit wie dem transzendentalen Ego vermittelt. An die Stelle von Identität und Differenz der Begegnenden tritt die Entsprechung, die beide zu dem, was sich zwischen ihnen ereignet, ausbilden. »[D]ie Entsprechung realisiert sich dadurch, dass ein in Einzelent­ wicklungen immer deutlicher hervortretender ›Geist‹ sich in jeder Einzelentwicklung bewährt und beweist. Er wird dadurch zu einem Gesamtgeist aller Einzelentwicklungen.«51

Die analogische Apperzeption, von der Husserl spricht, greift im Fall der Intersubjektivität und Fremdwahrnehmung vor allem deswegen zu kurz, weil sie das Sinngeschehen, das jede Begegnung mit dem Anderen ausmacht, verkennt. Ich kann dem Anderen überhaupt 51

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nur dort begegnen, wo wir an einem gemeinsamen Sinngeschehen teilhaben. Anders gesagt: Die Begegnung ist selbst ein Ereignis, das die sich Begegnenden nicht unberührt, sondern an einem Geschehen teilhaben lässt – einem Geschehen, das sie selbst allererst zu sich Begegnenden macht. Insofern sie auf dasselbe Geschehen antworten und demselben Geschehen zu entsprechen versuchen, entsprechen sie auch einander. Zumindest mit Blick auf die zwischenmenschliche Begegnung erscheint das Analogiedenken als zu statisch. Da jede Begegnung ihre eigene Verlaufsform hat, ja überhaupt erst im Laufe der Begegnung zu etwas werden muss, das über das zufällige Aufeinandertreffen zweier Personen hinausgeht – und zwar dadurch, dass sich die Begegnenden wechselseitig voneinander betreffen lassen –, lässt sie sich mit dem Begriff der Analogie nur unzureichend fassen. Die sich begegnenden Personen sind einander nicht notwendiger Weise ähnlich, aber in der Begegnung und als sich Begegnende ent-sprechen sie sich.

4. Interkulturelle Begegnung Zum Schluss möchte ich nun noch eine Überlegung zur interkultu­ rellen Begegnung anführen. Das Besondere dessen, was wir Kultur nennen, sind die vielfältigen und nie zur Ruhe kommenden Entspre­ chungsvorgänge in allen möglichen Lebensbereichen, die immer wieder zur Entwicklung neuer gemeinsamer Sinngestalten führen. So wie sich im Verlauf eines Gesprächs durch das Hin und Her der Gesprächsbeiträge, so verschieden, ja konträr diese sein mögen, ein gemeinsamer Sinn herausbildet (auch die Streitenden streiten nicht beliebig, sondern antworten auf den Gesprächsverlauf), so finden sich ähnliche (richtiger: ›entsprechende‹) Entsprechungsvorgänge auch in anderen Lebensbereichen; im Spiel ebenso wie im ›echten‹ Leben, im Bildungsbereich, im Feld der Gesundheit und in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik. Überall gehen die einzelnen Handlungen und das jeweilige Handlungsfeld erst aneinander auf – und zwar dadurch, dass sich im Zusammenspiel der einzelnen Handlungen ein gemeinsamer Sinn ausbildet, der seinerseits auch die Handlungen erst sinnvoll sein lässt. Vor allem aber finden wir solche Entsprechungsverhältnisse auch zwischen den verschiedenen Sinnfeldern. Es gibt gleichsam ein Gespräch zwischen dem Feld der Wirtschaft und jenem der Gesund­ heit, der Politik, der Bildung, des Sports, der Religion u. a. m. Erst im

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Entsprechungen jenseits der Analogie

Verlauf dieses Gesprächs bzw. ihrer Auseinandersetzung untereinan­ der werden sie zu dem, als was wir sie kennen: Lebensbereiche unserer Gesellschaft. Es ist offensichtlich, dass nicht jede Wirtschaftsform, die unter rein ökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll ist, von der Gesellschaft auch gewollt wird. Stattdessen wird sie so ausgerich­ tet sein müssen, dass sie die Gesundheit der Bürger fördert oder ihr doch zumindest nicht schadet. Sie wird sich bestimmten nicht ökonomisch begründeten politischen Zielen anpassen müssen, sie wird den Umweltschutz nicht ignorieren können und sie wird auch religiöse Gefühle nicht verletzen dürfen (ein Beispiel dafür ist der arbeitsfreie Sonntag). Weniger offensichtlich ist, dass die jeweiligen für eine Gesell­ schaft sinnvollen Gestalten der verschiedenen Lebensbereiche nicht einfach ausgehandelt und durch Kompromisse besiegelt, sondern im gesellschaftlichen Leben über Generationen hinweg im konkre­ ten Handeln gestaltet werden. Sie werden natürlich auch ausgehan­ delt, aber nicht so, dass der Aushandlungsprozess dem jeweiligen Lebensbereich vorausginge, sondern grundsätzlich so, dass der Aus­ handlungsprozess selbst bereits in den Lebensbereich hineingehört und deshalb Teil des konkreten Handelns ist. Das bedingt, dass kein einzelner Lebensbereich je zur Ruhe kommt, sondern sich alles fortwährend in Bewegung befindet. Und doch lösen sich die Lebensbereiche nicht einfach auf. Es macht durchaus Sinn, von ›der Wirtschaft‹ als einem prominenten Lebensbereich moderner (und vermutlich aller) Gesellschaften zu sprechen; aber nicht deswegen, weil es die Wirtschaft im Sinne eines abgrenzbaren Handlungsfeldes, in dem bestimmte Regeln gelten, faktisch gibt, sondern weil sich die wirtschaftliche Interpretation menschlicher Handlungen als sinnstif­ tend erweist. Der konkrete Sinn ändert sich fortlaufend, sinnstiftend aber ist eine solche Interpretation über allen Wandel hinweg zu jeder Zeit; und weil sie sinnstiftend ist, beschränkt sich die Interpretation nicht auf einen anderweitig irgendwie definierten Bereich, sondern richtet sich auf das menschliche Leben im Ganzen. Richtiger, als von verschiedenen Lebensbereichen zu sprechen, wäre es deshalb von Grundphänomenen oder, im Anschluss an Rombach, von »sozialen Ordnungen« zu sprechen.52 Die sozialen Ordnungen stehen nicht nebeneinander, sondern sie konkurrieren miteinander um die Inter­ pretationshoheit über den Sinn des gesellschaftlichen Lebens. Aus 52

Ebd., 31 ff.

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dieser Konkurrenz erst entsteht das, was wir ein gesellschaftliches Selbstverständnis nennen. Entsprechungen gibt es also auf ganz verschiedenen Ebenen. Wir sind ausgegangen von einzelnen Situationen wie einem Spiel oder einem Gespräch, in denen sich Menschen begegnen und Ent­ sprechungen untereinander ausbilden. Nun sehen wir, dass es solche Entsprechungen auch bei der Ausgestaltung sozialer Ordnungen gibt und dass sogar die verschiedenen sozialen Ordnungen untereinander Entsprechungen ausbilden. Auf dieser letztgenannten Ebene bildet sich so etwas wie ein gesellschaftliches Selbstverständnis bzw. ein kultureller Sinn aus. Der kulturelle Sinn wird in seiner ihm eigenen Besonderheit aber selbst nur in Konkurrenz zu anderen Kulturen deutlich. Kulturen sind wie Spiele und Gespräche nichts, das sich irgendwie festschreiben und auf konkrete Charakteristika reduzieren ließe. Stattdessen stellen auch sie Interpretationsgeschehen dar, die ihre eigene Lebendigkeit in dem Moment verlieren, in dem sie ihre Offenheit für andere Lebenswirklichkeiten – und das heißt jetzt für andere Kulturen – einbüßen. Der Kontakt zu anderen Kulturen ist konstitutiv für jede einzelne Kultur; sie lebt wie der Spielende und der Sprechende aus dem Zwischen, das sie mit anderen Kulturen verbindet. Auch hier gilt: Das Zwischen ist nichts jenseits der Begeg­ nung der Kulturen, es stellt also keinen gemeinsamen Raum dar, in dem die Kulturen nebeneinander existierten. Kulturen sind keine geographischen Gebilde, sondern Interpretationen menschlichen und gesellschaftlichen Daseins. Solche Interpretationen meinen immer die Menschheit im Ganzen, deshalb stehen die verschiedenen Kul­ turen in Konkurrenz zueinander. Die Konkurrenz kann aber nicht zur Verdrängung führen, sie kann nur dazu führen, auf das Andere der anderen Kultur zu antworten, indem es in der eigenen Kultur aufgegriffen und auf eigene Weise profiliert wird. Rombach spricht in diesem Sinne vom Gespräch der Kulturen bzw. einem »Gespräch der Welten«.53 Die Kulturen antworten mit ihrer eigenen Gestalt auf die Sache, um die es in diesem Gespräch geht, das ist die Menschlich­ keit.54 Das Beispiel des interkulturellen Gesprächs macht noch einmal besonders deutlich, wieso die Kategorie der Analogie jedenfalls so, 53 Heinrich Rombach, Drachenkampf. Der philosophische Hintergrund der blutigen Bürgerkriege und die brennenden Zeitfragen. Freiburg: Rombach 1996, 117 ff. 54 Vgl. dazu Niels Weidtmann, Interkulturelle Philosophie. Aufgaben, Dimensionen, Wege. Tübingen: Francke/UTB 2016, 18 ff. und passim.

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Entsprechungen jenseits der Analogie

wie sie bei Husserl verwendet wird, zu kurz greift und weshalb an ihre Stelle die Entsprechung treten muss. Analogie meint bei Husserl Ähnlichkeit des Entzogenen; sie siedelt sich damit irgendwo zwischen Gleichheit bzw. Identität und Differenz an und setzt folglich beide immer schon voraus. Mit Blick auf die interkulturelle Begegnung hieße das, dass sowohl die Differenz der Kulturen als auch die einheit­ liche Welt, in der verschiedene Kulturen vorkommen, vorausgesetzt sind. Tatsächlich zeigt die phänomenologische Analyse aber, dass Kulturen keine Entitäten sind, die in der Welt nebeneinander existie­ ren könnten, sondern stattdessen konkurrierende Interpretationen der Menschlichkeit, die in ihrer Begegnung aufeinander antworten, Entsprechungen untereinander ausbilden und so voneinander lernen. Damit vermag die interkulturelle Begegnung gerade angesichts der Differenz der Kulturen untereinander die Menschlichkeit in jeder einzelnen Kultur zu stärken.

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

Die Philosophie des Pythagoreers Archytas von Tarent zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr die Figur der Analogie eine besondere Stellung einnimmt.1 Dabei können vier Aspekte unterschieden werden: 1.

2.

3. 4.

Der mathematisch-arithmetische Aspekt: Archytas entwickelt eine komplexe Analogietheorie. In dieser gibt es die Analogie in drei Versionen: als arithmetische, geometrische und als harmo­ nische Analogie. Der ontologische Aspekt: Die drei Analogien können als Momente eines ontologischen Zusammenhangs gedeutet werden: in Hin­ sicht auf den Ursprung (arithmetisch), die Ordnung des Ganzen (geometrisch) und die Wirklichkeit (harmonisch). Der musikalisch-harmonische Aspekt: Archytas verwendet die drei Analogien zur Konstruktion der Harmonie. Der räumlich-harmonische Aspekt: Die geometrische Analogie dient Archytas als algebraisches Schema, um im Zuge des Pro­ blems der Inkommensurabilität einen rationalen Zugang zum Phänomen des Raumes zu erschließen. Sie hat so auch eine eminent wichtige Bedeutung für die Bewegungslehre.

1. Zum mathematisch-arithmetischen Aspekt Fragment 22 nennt drei mathematische Mittel (μέσαι), die es in der Mousiké gebe: das arithmetische, das geometrische und das inverse, Die folgenden Ausführungen sind eine Zusammenstellung einiger Ergebnisse meines Buches Harmonie – Zahl – Mimesis. Archytas und die Frage nach der Viel­ heit, Tübingen 2016. Dort findet sich auch eine deutsche Übersetzung der wichtigs­ ten Archytas-Fragmente. 2 Textgrundlage ist die Edition der Archytas-Fragmente von Carl A. Huffman, Archy­ tas of Tarentum. Pythagorean, Philosophen and Mathematician King, Cambridge 2005. 1

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welches Archytas das »harmonische« nennt. Jedes Mittel ist dadurch bestimmt, dass drei Zahlterme (ὅροι) durch zwei Beziehungen, des ersten Terms zum zweiten und des zweiten zum dritten, in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht sind. Dieser Zusammenhang von drei Termen nennt Archytas Analogie (ἀναλογία): a : b :: b : c Die drei Mittel waren auch in früherer Zeit bekannt, wahrscheinlich schon bei den Babyloniern.3 Archytas’ Verdienst besteht also nicht darin, die Mittel gefunden, sondern sie in einen spezifischen systema­ tischen Zusammenhang gebracht zu haben, der durch die folgenden Punkte charakterisiert ist: 1. 2. 3. 4.

Archytas weist den drei Mitteln eine Bedeutung im Bereich der Musik zu. Die drei Mittel werden exakt definiert. Die drei Mittel werden hinsichtlich der Größe ihrer beiden Relationen miteinander verglichen. Archytas revidiert die hergebrachte Terminologie und bezeichnet das inverse Mittel nun als harmonisches Mittel.

Ein arithmetisches Mittel liegt vor, wenn der erste Term den zweiten um dasselbe überragt wie der zweite den dritten. Eine moderne Formulierung für die zwei Werte a und b lautet folgendermaßen: Das arithmetische Mittel von a und b ist die Hälfte der Summe von a und b. Allgemeiner für zwei oder mehr Terme: Das arithmetische Mittel ist der Quotient aus der Summe aller untersuchten Terme und ihrer Anzahl. Die moderne Definition des arithmetischen Mittels lässt außer Acht, dass die archyteische Definition die Differenz des Mehr (ὑπεροχή) betont, dieses also die Betrachtungsweise bestimmt. In der modernen Definition hingegen geht es vorrangig um die gleichmä­ ßige Verteilung der Summe aller Terme, wodurch eine völlig andere Perspektive eingenommen wird. Dass im Griechischen die Terme eines zu untersuchenden Verhältnisses nebeneinander stehen bleiben und betrachtet werden, während wir es heute gewohnt sind, die Divi­

3 Vgl. Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg/München 1954, 78.

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

sion (oder Multiplikation) auszuführen, macht einen wesentlichen Unterschied zwischen der alten und der modernen Mathematik aus.4 Das geometrische Mittel wird bestimmt als die Gleichheit zwi­ schen den Verhältnissen des ersten zum zweiten und des zweiten zum dritten Term. Die moderne Formulierung dieser Definition für die zwei Werte a und b lautet: Das geometrische Mittel ist die Quadratwurzel aus dem Produkt von a und b. Allgemeiner für zwei oder mehr Terme: die n-te Wurzel aus dem Produkt von n Termen. Auch hier wird in der modernen Formulierung versteckt, worauf es Archytas eigentlich ankommt, nämlich die Gleichheit der bei­ den Verhältnisse. Vom harmonischen Mittel heißt es in Fragment 2 weiter, dass »der erste Term den zweiten um einen Teil seiner selbst überragt und um diesen Teil des dritten der mittlere den dritten überragt«. In moderner Formulierung kommt dies dem Quotienten des doppelten Produkts der äußeren Terme a und b und ihrer Summe gleich. Beim harmonischen Mittel wird wie beim arithmetischen die Differenz des Mehr (ὑπεροχή) hervorgehoben, anders beim geometri­ schen Mittel, das allein durch die Gleichheit definiert ist.5 In Fragment 2 werden die Mittel und ihre Definitionen nicht nur aufgelistet, sondern implizit auch miteinander verglichen. Den Vergleichspunkt stellt die Größe der einzelnen Relationen dar: Beim arithmetischen Mittel ist das Verhältnis zwischen den größeren Ter­ men kleiner als zwischen den kleineren; das geometrische Mittel ist, wie beschrieben, durch die Gleichheit der beiden Relationen gekenn­ zeichnet; beim harmonischen Mittel verhält es sich genau umgekehrt zum arithmetischen: Das Verhältnis zwischen den größeren Termen ist größer als zwischen den kleineren. So viel zur Mathematik, wie sie im Text von Fragment 2 erscheint. Bei näherer Betrachtung der Analogien ergibt sich jedoch, dass die Reihenfolge der Darstellung nicht zufällig, sondern nach der Größe der Mittel geordnet ist. Das arithmetische Mittel ist größer Vgl. Johannes Lohmann: Musiké und Logos. Aufsätze zur griechischen Philosophie und Musiktheorie, Stuttgart 1971, S. 11: »So sprechen die Griechen, wo wir von »Brü­ chen« reden, von λόγοι, Verhältnissen. Sie führen gewissermaßen die Division nicht aus, sondern »betrachten« das Verhältnis von Dividend und Divisor. Und sie führen auch die Multiplikation nicht aus, sondern betrachten das Produkt als ein räumliches Verhältnis, weswegen wir heute noch die Multiplikation einer Zahl mit sich selbst als »Quadrat« bezeichnen. 5 Vgl. Huffman: Archytas, S. 170. 4

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als das geometrische, das geometrische Mittel größer als das harmo­ nische. Dies lässt sich leicht an einem Beispiel deutlich machen: Das arithmetische Mittel zwischen den Zahlen 6 und 12 beträgt 9, das harmonische Mittel 8, das geometrische Mittel ist die irrationale Zahl √72 und liegt zwischen dem harmonischen und arithmetischen. Nicht genug: Das geometrische Mittel von 6 und 12 ist zugleich das geometrische Mittel von 8 und 9, das heißt des jeweils harmonischen und arithmetischen Mittels von 6 und 12. Das geometrische Mittel von a und b ist dieselbe Zahl wie das geometrische Mittel des arithmetischen und des harmonischen Mittels von a und b. Es lässt sich leicht zeigen, welche Bewandtnis es mit dem Namen »geometrisches Mittel« hat: Wenn die Fläche eines Quadrates gege­ ben ist, kann mit Hilfe der geometrischen Folge die Seitenlänge berechnet werden, nämlich durch Mittelbildung zwischen 1 und der gegebenen Größe der Fläche; dasselbe Prinzip gilt bei der Konstruk­ tion eines Würfels mit gegebenem Volumen, wobei in diesem Fall durch Konstruktion zwei Mittelglieder zu ermitteln sind.6 Auch Aristoteles bestimmt die Analogie an einer Stelle der Nikomachischen Ethik als Gleichheit der Verhältnisse (ἰσότης λόγων – Arist. EN 1132a31), kennt jedoch auch die arithmetische Analogie (Arist. EN 1106a35, 1132a), bei welcher eben keine Verhältnisgleich­ heit, sondern numerische Gleichheit des Abstands des Mittelgliedes von den beiden umgrenzenden Größen vorliegt. Dass die Gleichheit das bestimmende Prinzip dessen ist, was Analogie genannt wird, lässt sich auch etymologisch zeigen: Vermutlich handelt es sich bei den Wörtern ἀνάλογον bzw. ἀναλογία um Verkürzungen des Ausdrucks ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον7 oder ἀριθμοὶ ἀνὰ λόγον ἴσοι8. Analogien sind als Gleichheitsverhältnisse von Verhältnissen zu verstehen. Archytas stellt in Fragment 2 dar, dass diese in dreifa­ cher Weise vorkommen, nämlich, wie oben gezeigt, als arithmeti­ sche, geometrische und harmonische. Das Wesen der arithmetischen Gleichheitsbeziehung besteht nun darin, dass die beiden verglichenen Verhältnisse denselben Term als Maßstab haben.9 Dadurch kann sie Generationsvorschrift der natürlichen Zahlen sein und ist in diesem 6 Vgl. Karl Bärthlein: Der Analogiebegriff bei den griechischen Mathematikern und bei Platon, Würzburg 1996, S. 73. 7 Vgl. Bärthlein: Analogiebegriff, S. 28. 8 Vgl. Árpád Szabó: Entfaltung der griechischen Mathematik, Mannheim 1994, S. 173. 9 Vgl. Bärthlein: Analogiebegriff, S. 70.

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

Sinne den anderen Analogien vorgängig. Numerische Verschieden­ heit ist allererst durch die arithmetische Analogie gegeben, wobei für die Griechen der einfachste und kleinste Unterschied, der zugleich das beherrschende Gleichheitsprinzip der einfachsten und kleinsten arithmetischen Analogie ist, die Eins darstellt. Karl Bärthlein weist darauf hin, dass es von entscheidender Bedeutung sei, zwischen der Setzung aufeinander bezogener kom­ mensurabler Größen und der Analogie strikt zu unterscheiden. Während wir es bei der Analogie mit einer »Hinordnung auf ein gleichbleibendes Gesetz« zu tun haben, die unendlich iterierbar sei, zeichne sich die Beziehung bloß einzeln gesetzter Größen durch ihre Endlichkeit aus.10 Die arithmetische Analogie zwischen den Verhältnissen 1 : 2 und 2 : 3 sagt demnach nicht nur etwas über die verwendeten Größen, sondern auch, und dies ist für die Analogie wesentlich, über das Gesetz einer bestimmten Ordnung, hier über die Ordnung der natürlichen Zahlen und mithin über die Ordnung numerischer Verschiedenheit überhaupt. Wenn wir uns die Zahlen figuriert vorstellen, nach dem Vorbild des Eurytos, indem wir mit Steinchen Figuren legen,11 dann zeigt sich überdies, dass die arithmetische Analogie nicht nur die Gleichheit des numerischen Unterschieds, sondern auch eine gewisse Gleichheit oder besser, wenn wir die Größenunterschiede in Anschlag bringen, Ähnlichkeit der Gestalten mit sich bringt.12 Während also die arithmetische und geometrische Analogie Vorschriften darstellen, die je auf ihre Weise gleichbleibende Bezie­ hungen ins Unendliche eröffnen,13 ist die Iterierbarkeit bei der har­ monischen Analogie ausgeschlossen. Indem es sich bei ihr um ein Gleichheitsverhältnis in Bezug auf den gleichen Teil der ersten Größe handelt, um das sie vom Mittelglied übertroffen wird, und den glei­ chen Teil der dritten Größe, um das diese wiederum das Mittelglied übertrifft, kann sie nicht fortgesetzt werden. Die harmonische Mitte Vgl. ebd. Vgl. Arist. Met. 1092b10. Vgl. auch Bärthlein: Analogiebegriff, S. 70. 12 Vgl. Bärthlein: Analogiebegriff, S. 72: »Wahrung der Ähnlichkeit der Figur ist gleichbedeutend mit Wahrung der Differenz zwischen den Gnomonen. Daher bedeu­ tet arithmetische (bedingende) Analogie als Beziehung auf die gleichbleibende Dif­ ferenz zugleich Beziehung auf das eine, ähnlich bleibende Eidos.« – Bei den Gnomo­ nen handelt es sich um diejenigen Zahlen, die eine Figur unter Wahrung der Form vergrößern. 13 Vgl. Bärthlein: Analogiebegriff, S. 76 und Nicom. Ar. 93, 16 und 127, 2. 10 11

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ist vielmehr als »stehende« zu begreifen, wie sie auch von Iamblich genannt wurde.14 Da sie Archytas ebenfalls als Analogie bezeichnet, können wir annehmen, dass ihm die extensive Fortsetzung ins Unendliche nicht zu den gleichbleibenden Eigenschaften der Analogie bei all ihren verschiedenen Ausprägungen gehört. Eine Analogie liegt für den Tarentiner also auch dann vor, wenn die Mitte eine stehende ist und kein Gesetz zu ihrer Vermehrung einbegreift.

2. Zum ontologischen Aspekt Während sowohl die arithmetische als auch die geometrische Ana­ logie Gesetze zur Bildung von Verhältnissen ad infinitum darstellen, besteht die wesentliche Funktion der harmonischen Analogie gerade darin, dass mit ihr eine stehende Mitte bestimmt werden kann, welche im musikalischen System der Griechen sogar die Mitte im engeren Sinne besetzt. Mit der harmonischen Mitte ist gleichsam ein konkreter Angelpunkt definiert, da dieser von den bereits bestimmten Werten der Außenglieder abhängig ist. Die arithmetische Analogie weiter, auf der die Ordnung der natürlichen Zahlen und numerische Verschiedenheit beruht, eröffnet allererst die Dimension, in der Ver­ hältnisse als Einheiten von Differentem existieren können. Und die geometrische Analogie lässt uns eine Mitte bestimmen, die gar als Mitte der Mitten bezeichnet werden kann, weil sie als Mitte zwischen der arithmetischen und der harmonischen Mitte diese beiden auf ihr Prinzip der Gleichheit hin ordnet. Wir können auch sagen: Die drei Mittel bilden ein System, das Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Extension und Intension sowie Statik und Dynamik in ein zu denkendes Ganzes bringt. Wie dieses System nun hierarchisch strukturiert ist, ist eine Frage der Hinsichten: In Hinsicht auf den Ursprung scheint die arith­ metische Analogie herrschend zu sein; in Hinsicht auf die das Ganze durchgreifende Ordnung die geometrische Analogie; und in Hinsicht auf die konkrete Wirklichkeit des Systems die harmonische Analogie.

14

Vgl. Bärthlein: Analogiebegriff, S. 76.

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

3. Zum musikalisch-harmonischen Aspekt Archytas ist für die Umtaufung des inversen Mittels in »harmonisches Mittel« verantwortlich.15 Der Name »inverses Mittel« ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei diesem um die Umkehrung des arithmetischen Mittels handelt.16 Der Name »harmonisches Mittel« deutet darauf hin, dass es Archytas tatsächlich auf die musikalische Bedeutung der Analogien ankommt und ihm diese wichtiger ist als deren mathematische Herleitung: Mit Hilfe des harmonischen Mittels konnte die Mittelnote der Oktave bestimmt werden, die sogenannte Mese.17 Durch die Teilung entstehen dann zwei Intervalle, das untere ist eine Quarte, das obere eine Quinte. Da es sich bei der Mese um den vierten Ton nach dem tiefsten, der Hypate, handelt, der achte Ton aber nur die Wiederholung des ersten ist, trägt sie den Namen Mese zurecht, zumal in klassischer Zeit die meisten Kitharai mit sieben Saiten bestückt waren. In Huffman A 16 finden wir einen Bericht über die Einteilung des Tetrachords durch Archytas. Andrew Barker hat einen in allen wesentlichen Punkten überzeugenden Vorschlag gemacht, wie diese Intervallkonstruktionen nachvollzogen werden können.18 Dabei ist wesentlich, dass alle Intervalle in allen drei Genera sich auf ein Beziehungsgeflecht aus den Verhältnissen 2 : 1, 3 : 2, 4 : 3, 5 : 4, 6 : 5, 7 : 6, 8 : 7 und 9 : 8 zurückführen lassen. Diese lassen sich wiederum allein aus der Anwendung der drei mathematischen Mittel erzeugen.19 Die Art und Weise der Konstruktion markiert auch den entschei­ denden Unterschied zwischen dem archyteischen und dem platoni­ schen System, wie es im Timaios entfaltet wird: Archytas konstruiert die Konsonanzen unter Zuhilfenahme aller drei Analogien. Platon jedoch gewinnt sie mit der geometrischen Progression allein: Indem er eine Reihe des Unbegrenzten (nämlich aus Zweierpotenzen) und eine Reihe des Begrenzten (nämlich aus Dreierpotenzen) geometrisch Vgl. Huffman: Archytas, S. 173. Vgl. ebd., S. 177. 17 Vgl. ebd., S. 173. 18 Vgl. Andrew Barker: Greek Musical Writings, Vol. II: Harmonic and Acoustic Theory, Cambridge 1989, 46–52. Referiert wird diese Erörterung auch in Schölles: Harmonie, 62–68. 19 Vgl. Huffman: Archytas, S. 419. 15

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erzeugt und ineinander fügt (1, 2, 3, 4, 9, 8, 27), gewinnt er die συμφωνίαι: die Oktave (2 : 1), die Quinte (3 : 2), die Quarte (4 : 3) und den Ganzton (9 : 8). Die beiden Auffüllungen können dieser geometrischen Erzeugung nichts mehr Wesentliches hinzufügen und dienen nur noch der intrinsischen Ausdifferenzierung.20

4. Zum räumlich-harmonischen Aspekt In Musik und Harmonik wird für Archytas die Inkommensurabili­ tät zum Problem. Andererseits erbt die Harmonik dieses Problem allererst aus dem Bereich der Akustik: Bewegung, Geschwindigkeit, Tonhöhe sind Kontinua, die unendlich teilbar sind, das heißt, die nicht in einzelne Atome aufgelöst werden können. Insofern ist auch der Ton nicht vorzustellen als aus vielen Schällen zusammengesetzt, sondern läßt sich, genau gedacht, als ein Drittes erkennen, welches zwei Schälle unterschiedlicher Höhe in ein Verhältnis zusammenbindet. Die Schälle mit ihren verschiedenen Geschwindigkeiten sind als ein Geflecht von Verhältnissen zu denken. Die Schall-Verhältnisse können nun mit Hilfe der drei mathematischen Mittel (arithmetisch, geometrisch, harmonisch) analysiert werden und gehen mithin, den Lehren der Harmonik entsprechend, in ein System auf; sie bilden die harmonische Welt. Sie ist Welt, weil in ihr Sinn gestiftet ist durch die wesentliche Differenz konsonant/dissonant. Archytas’ Beweis, dass die Mitte eines epimoren Verhältnisses irrational ist (Huffman A 19), führt eine weitere Differenz ein, die das Tonkontinuum problematisch macht: Zwar ist es unendlich teilbar, aber nicht beliebig; in der Mitte jeder Konsonanz klafft eine offene Stelle im System der Harmonik. Die Sinndimension der harmoni­ schen Welt stößt so an ihre Grenzen, weil hier sogar die Sprache fehlt (ἄρρητον). Mit der Inkommensurabilität wird die Unendlichkeit also, welche integraler Bestandteil des durch die Oktave (2 : 1) abgeschlos­ senen Systems der ἁρμονία ist, noch einmal auffällig. Mit der harmonischen Welt und ihrer musikalischen Sinndimen­ sion ist weiter gegeben ein harmonischer Raum, dessen Tiefe sich im akustischen Höher-Tiefer des kontinuierlichen Tonphänomens zeigt. Würde dieses rein arithmetisch betrachtet, obschon die Entdeckung der Inkommensurabilität nach einer geometrischen Behandlung ver­ 20

Vgl. hierzu ausführlich Schölles: Harmonie, pp.75 – 91.

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

langt, wäre die somatische Ausdehnung der Schälle annihiliert; wie in Eurytos’ Referenzpunkt-Theorie würde in einer rein arithmetischen Theorie des Raumes von den Körperchen und ihrer Mechanik abstra­ hiert. Archytas’ Lösung des Delischen Problems gibt hier weitere Auf­ schlüsse. Nach der Legende soll Apollon den Bewohnern der seuchen­ geplagten Insel Delos durch einen Orakelspruch aufgetragen haben, die Größe ihres würfelförmigen Altars zu verdoppeln. Hippokrates von Chios hat die Aufgabe verhältnistheoretisch aufs Grundsätzliche reduziert: Bei zwei gegebenen Geraden, wobei die zweite Gerade doppelt so lang sei wie die erste, seien zwei mittlere Proportionale in kontinuierlicher Progression zu finden, um die Kubikwurzel zu ermit­ teln.21 Archytas' Lösung des Problems der Würfelverdopplung auf Grundlage dieser von Hippokrates aufgestellten Verhältnisse stellt das erste Stück dreidimensionaler geometrischer Konstruktion in der Geschichte dar und erscheint angesichts des allgemeinen Standes der damaligen Mathematik in besonderem Maße verschlungen und abstrakt.22 Hierin liegt auch das enorme Verdienst der archyteischen Lösung: in der systematischen Erweiterung der geometrischen Kon­ struktion auf den Raum, indem zum ersten Mal eine Raumkurve konstruiert wird.23 Vor Archytas scheint noch kein Mathematiker den Raum derart durchdrungen zu haben, so dass sich noch Platon darüber beschweren kann, in welch kümmerlichem Zustand sich die Stereometrie als eigenständige Disziplin befinde (Pl. R. 528a10–e1). Im Rahmen der Entwicklung des Pythagoreismus bedeutete die neu gewonnene stereometrische Perspektive jedenfalls ein zusätzliches Instrumenta­ rium, mit der Inkommensurabilität auf nun höherer Ebene umzu­ gehen. Schon von Hippokrates wurde in Form der geometrischen Progression das algebraische Schema erkannt, mit dessen Hilfe irra­ tionale Größen, nun im Bereiche der Planimetrie, nicht einfach aus der mathematischen Betrachtung ausgeschlossen werden mussten; erst Archytas jedoch gelang die allgemeine Konstruktion dieser Größen. Entscheidend ist: Gelingt der Übergang in die nächste Dimension via geometrica, kann das Problem der Inkommensurabilität domesti­ 21 22 23

Vgl. Huffman: Archytas, S. 350. Vgl. ebd., S. 356. Vgl. Becker: Grundlagen der Mathematik, S. 94.

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ziert und im Rahmen dieser anderen Betrachtungsart der Weg zur Aufstellung allgemeiner Verhältnisse zur Ermittlung der gesuchten Größen gebahnt werden. Auf diese Weise gehen die irrationalen Größen einerseits in ein rationales algebraisches Schema ein24 und können andererseits, wenn auch unbenannt (das heißt ohne Zahl), allgemein konstruiert und für jeden gegebenen Fall gemessen werden. Die philosophische Relevanz der mathematischen Erschlie­ ßung des Raumes unter Verwendung der geometrischen Gleichheit wird anhand einer Schlüsselstelle im platonischen Timaios (31b5– 32c4) deutlich. Die Bildung des »schönsten Bandes« (δεσμὸς κάλλιστος) durch den Demiurgen vollzieht sich analog zur Lösung des Delischen Problems der Würfelverdopplung. In kontinuierlicher geometrischer Progression sind zunächst das erste und vierte Glied gegeben (Feuer und Erde), die beiden Mittelglieder (Luft und Wasser) werden erst später mit den entsprechenden Verhältnissen eingesetzt. Platon stellt zudem fest, dass die Viergliedrigkeit der Analogie mit den drei Raum­ dimensionen zusammenhängt; im Bereich der Ebenen wäre ja wie bei der Quadratverdopplung im Menon die dreigliedrige Proportion ausreichend. Die Komposition des dreidimensionalen Weltkörpers aus den vier Elementen läßt hier also zugleich das Prinzip der Räum­ lichkeit erkennen, das allem Gewordenen innewohnt: nämlich seine innere Tektonik gemäß der geometrischen Analogie. Die Analogie, und dies unterscheidet sie von der Gleichung, hat es nicht mit Quanta zu tun,25 die gegenübergestellt werden; sie stellt vielmehr eine Abstraktion von der Quantität dar. Die konkreten Größen in den jeweiligen Relationspaaren sind unbedeutend, sie müssen sich lediglich in einem bestimmten Verhältnis befinden. Es ist dieses identische Verhältnis, das sich in allen Beziehungen der geometrischen Progression wiederholt und die gemeinsame Grenze des analogischen Zusammenhangs ausmacht. In diesem Sinne ist die analogische Struktur des kosmischen Körpers zunächst unteilbar (ἄτομον): weil er nur immer wieder so geteilt werden kann, dass er in dieselbe Analogie aufgeht. Würde bei der Teilung die Analogie selbst aufgelöst (was nur dem Demiurgen zukäme), würde der Körper Vgl. zur Bedeutung der geometrischen Proportion als algebraisches Schema zur Beherrschung der Irrationalität Stefan Gerlach: Die Fügung der Welt. Mathematik und Ontologie der Proportionenlehre im platonischen Timaios, in: Philosophisches Jahr­ buch 115, 1, pp. 21–43, hier: S. 36. 25 Vgl. ebd., S. 27. 24

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Die Analogie bei Archytas von Tarent

vernichtet. Im Rahmen sensitiver Materialität (körperlich, sichtbar, fühlbar) ist die analogische Struktur unhintergehbar und unteilbar. Die Atomismusthese, wie hier skizziert, ist nicht zu verwech­ seln mit dem landläufig als mathematisch bezeichneten Atomismus des Timaios, demzufolge die stofflichen Elemente auf geometrische Elemente zurückzuführen sind. Die atomistische Geometrie der Elemente unterschreitet die materielle Räumlichkeit hin zu einer rein mathematischen, nur dem Denken zugänglichen Sphäre; hier findet ein Ebenenwechsel statt. Ein Oktaeder (= Wasseratom) für sich betrachtet, das heißt außerhalb der Analogie, kann aber gemäß Timaios 31b-32c keine sensitive Körperlichkeit besitzen: Jedem Kör­ per als solchem eignen, wie gesagt, zwei geometrische Mittel im Kontext einer kontinuierlichen Progression. Andererseits rührt die Aufstellung der Analogie als Prinzip sensitiver Räumlichkeit von der Kontinuität des Raumes her: In der Herstellung und Begründung des sensitiv-räumlichen Kontinuums liegt der Hauptzweck der gesamten Ausführung zur analogischen Komposition des Weltkörpers. Wie bei der Quadrat- und Würfel­ verdopplung verwendet Platon die Analogie als ein allgemeines algebraisches Schema, das geeignet ist, um auch inkommensurable Verhältnisse systematisch zu integrieren. Wegen der Kontinuität des Raumes können diese nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Das Kontinuum des Raumes als unendliche Teilbarkeit des Raumes wird dabei verwandelt in das Kontinuum der Analogie im Sinne der durchgängigen und alle Teile gemeinsam begrenzenden Gleichheit der Verhältnisse. Die Irrationalität wird somit integraler Bestandteil des Kosmos und auf höherer Ebene ›rationalisiert‹, ohne sie als solche auszumerzen.26 So bleiben irreduzible Formen der Negativität und manifestieren sich weiterhin als Brüche, Friktionen, Aporien … Der Unterschied ist nur: Die Brüche, Friktionen und Aporien gehören nun zur Güte des Ganzen. Das Problem der Inkommensurabilität ersteht für die griechi­ schen Mathematiker allererst aus der Begegnung mit kontinuierli­ chen Zusammenhängen, die im arithmetischen Paradigma ganzer Zahlen nicht behandelt werden können, so auch im Falle der musika­ lischen Konsonanz. All diesen Fragestellungen eignet, dass im Zuge 26 Vgl. ebd., S. 41: »Das Ungeheure der Lehre von den Mittleren Proportionalen als Lösungsschema des Delischen Problems ist eben, dass hier in der Analogie, dem Medium der Rationalität selbst, zugleich die höchste Irrationalität darstellbar wird.«

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Manuel Schölles

der Betrachtung von Verhältnissen immer wieder die Grenzen der diskreten arithmetischen Welt aufgebrochen werden hin zu kontinu­ ierlichen Phänomenen. Die Frage lautet dann: Wie kann mit der Inkommensurabilität rational – und das heißt im Sinne der griechi­ schen Mathematik: auf Grundlage des λόγος – umgegangen werden? Archytas’ Umgang mit der Inkommensurabilität und der Heraus­ forderung des Delischen Problems deutet auf einen spezifischen Zugang zum Phänomen des Raumes hin: Dieser Zugang ist dadurch charakterisiert, das Unbegrenzte und Unendliche, wie es im Konti­ nuum des Raumes aufscheint, theoretisch zu bändigen. Angesichts der zahlreichen und anspruchsvollen Versuche des späten Platon, Phänomene der Negativität zu integrieren, kann Archytas aus Tarent hier als philosophischer Verwandter des attischen Denkers erkannt werden.

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Elenio Cicchini, Nicoletta Di Vita

Sophron oder von der Analogie

hores dûʒ lieber hêrre, ich sage dir ein scône spel Kaiserchronik aut parvi agri aut non ambitiosae doctrinae cultor Lateinischer Spruch Denn du bist noch jung, und die Philosophie hat dich noch nicht so ergriffen, wie sie dich einst noch ergreifen wird, wenn du keins dieser geringwertigen Dinge mehr missachten wirst. Platon, Parmenides

1. Eine apokryphe Denktradition – die unsere Historiographie selten ernsthaft beachtet hat – bezeugt, dass es eine Beziehung zwischen antiker Philosophie und dem sogenannten mimos des Sophron (einem zweitrangigen Theatergenre, das im 5. Jh. v. Chr. in Syrakus betrieben wurde) gegeben hat. Die Quellen sind alles andere als unscharf, im Gegenteil, sie weisen auf eine wesentliche Zusammengehörigkeit hin: Von Duris von Samos, über Timon von Phleius, Valerius Maximus, Quintilian und Tzetzes bis zu Schleiermacher beweisen biographische Anekdoten sowie doxographische Hinweise, dass Platon von den Mimen des Sophron nicht nur Kenntnis genommen hat (vielleicht sogar ihren Darstellungen beiwohnte), sondern auch Aspekte und Eingebungen für die Gestaltung seiner eigenen Philosophie erhielt1. Beispielhaft für diese Tradition ist alsbald eine Quelle des Diogenes Laertios (180–240 n. Chr.) geworden, die Folgendes berichtet: 1 Für die antiken Zeugnisse vgl. P. Schuster, Heraklit und Sophron in Platonischen Citaten, «Rheinisches Museum für Philologie», 29 (1874), S. 590–632; H. Reich, Der Mimus. Ein litterar-entwickelungsgeschichtlicher Versuch, Weidmannsche Buchhand­ lung, Berlin 1903; J.M.S. McDonald, Character-Portraiture in Epicharmus, Sophron and Plato, University Press of Sewanee, 1931; M. W. Haslam, Plato, Sophron and the dramatic dialogue, «Bulletin of the Institute of Classical Studies», 19 (1972), S. 17–38; J. H. Hordern, Sophron’s Mimes, Oxford University Press, Oxford 2004.

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Es scheint, dass Platon als Erster die bis dahin unbeachteten Bücher des Mimographen Sophron nach Athen mitbrachte, und dass er von ihm die Kunst der Charakterzeichnung übernahm (ἠθοποιῆσαι). Man sagt, ferner, dass diese Bücher unter seinem Kopfkissen wiedergefunden worden seien. (D. L. III, 18)

Wenn, wie es scheint, bei den antiken Biografen die Wiedergabe von Anekdoten häufig zur Gelegenheit wird, in der Allegorie beson­ dere Wesensmerkmale des Werkes bzw. des Autors zu verbergen2, dann darf die angedeutete Vorliebe des Platon nicht weiter unbefragt bleiben. Seine Bemühungen, in Athen ein derart minderwertiges, noch nicht einmal komisches und sogar syrakusisches Werk (was im Kontext des Krieges zwischen der griechischen und der sizilianischen Stadt bedenklich gewesen sein dürfte) zu verbreiten, legen nahe, dass irgendein gemeinsamer Wesenszug zwischen ihnen bestehen muss. Die Eigenheit des antiken mimos kann hier zunächst durch die treffenden Worte von Karl Kerényi wiedergegeben werden: Er sei »ein von sprechenden und handelnden Personen getragenes Lebensbild, das auch ohne jede dramatische Verwicklung sein kann. Und das Wichtigste: diese Gattung beabsichtigt [nichts anderes als] naturge­ treue Nachahmung. Was sie erreicht, ist eine sozusagen »gespensti­ sche Ähnlichkeit««3. Diogenes Laertios führt uns zu der Entdeckung, dass im Genre des Mimus der Ursprung der platonischen Dialogform zu finden ist; er hebt damit die alte Verbindung zwischen den zwei Gattungen hervor, die schon Aristoteles in seinem Frühwerk De Poetis aufgezeigt hat: Sollen wir dann leugnen, dass die sogenannten Mimen des Sophron, die nicht einmal im Metrum verfasst sind, logoi und mimeseis sind, oder die von Alexamenos von Teos erstmals verfassten sokratischen Dialoge? (Arist. De poetis, Fr. 3 Ross = 72 Rose).

Die Andeutung des Diogenes, der in der ethopoiia (Charakterzeich­ nung) den Begegnungsort von Philosophie und Mimus sah, erhält durch die aristotelische Nebeneinanderstellung von logos und mimes­ eis eine gewichtige Ergänzung. Nur wenn die ethopoiia in Zusammen­ hang mit den Hendiadys logos kai mimesis gedacht wird, mag das Bild 2 Zur antiken Anekdotik Vgl. G. Arrighetti, L’aneddoto, la biografia greca e Aristo­ tele, «Studi Classici e Orientali», 49 (2003), S. 32–40. 3 K. Kerényi, Sophron oder der griechische Naturalismus, in Id., Apollon. Studien über antike Religion und Humanität, Diederichs, Düsseldorf 1953, (S. 134–56), S. 135.

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des Platon als Liebhaber (ἐραστής) des Sophron und des Komödiogra­ phen Epicharmos4 – und damit das Verhältnis zwischen Philosophie und Komödie – unsere Auffassung nicht irreleiten. Denn das weist auf die Möglichkeit hin, dass die sophronische ethopoiia jenseits ihres Beitrages zur Gestaltung der philosophischen Dialogform betrachtet werden kann. Sie muss in so etwas wie einem Sprachereignis verortet werden, und zwar im Logos, sofern er in seinem Bezug zur Mimesis betrachtet wird. Es ist zu vermuten – und das stellt unsere Hypothese dar –, dass gerade jenes Sagen, das im Politikos als »anderes Sagen« bezeichnet wird (τὸν λόγον ἕτερον) – d. h. der einzige logos, der sich zur Schau des »Größten und Wertvollsten« (μεγίστοις καὶ τιμιωτάτοις) emporhebt –, diese Affinität von Mimus und Philosophie bezeugt. Bei jenem Logos berührt die Spur des Komischen zum ersten Mal die Schau der Idee. Weil es aber bei der Bestimmung des »anderen Logos« auf die Entdeckung eines analogen Logos ankommt, lässt sich – wie ausreichend zu bemerken sein wird – die Affinität von Philosophie und Mimus als die Darstellung des Verhältnisses von Analogie und komischem Charakter umschreiben. 2. Worin das philosophische Moment des komischen bzw. mimischen Charakters zuvorderst besteht, hat Aristoteles in der Poetik und in der Politik beschrieben. Seitdem gilt als wesentliches Kennzeichen unse­ rer literarischen und politischen Tradition, dass dem komischen ethos die Urqualität des »Niedrigen« oder des »Geringwertigen« (φαῦλον) zugeschrieben wird. Als Gegenteil nennt Aristoteles das tragische ethos, welchem die Bezeichnung des »Höheren«, »Hochwertigen« (κρεῖττον) zukomme. Wenn aber das Komische wesentlich in der Darstellung des durch Gesten und die Sprache der Charaktere ausge­ drückten phaulon besteht – des Lächerlichen, Profanen und Ordinären (im Gegensatz zum Würdevollen, Heroischen und Gehobenen) –, dann muss auch an den Gesten und der Sprache der Philosophie eine gewisse Form des niedrigen pragma sichtbar werden. Man darf sich demzufolge nicht wundern, dass eine sonderbare Neigung zum Alltäglichen die platonischen Dialoge unbefangen durchzieht. Sie ist kaum zu überschätzen: Nicht nur bewohnt sie 4 Wie er von Coricius von Gaza (Apol. Mim. 3, 10) gekennzeichnet wird. Auf Epich­ armos – in dessen Dialogen R. Hirzel ein »Vorspiel, wenn auch nur en miniature, des sokratischen Dialogs« erkannte – bezieht sich Platon, und zwar lobend, im Gorgias. Vgl. R. Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Leipzig 1985, S. 23.

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die absonderliche Figur des Sokrates – ständig als »Silen« oder »inso­ lenter Satyr« dargestellt, d. h. als eine Figur, die kaum dem strengen Ideal des Weisen ähnelt –, sondern wird alsbald zum Angelpunkt allen Versuches, sich zur Idee hinzuwenden. Wenn Alkibiades in einer bekannten Passage des Symposions bemerkt, dass Sokrates nichts anderes bewirkt, als jederzeit zu reden, und zwar von »Lasteseln und einigen Schmieden und Schustern und Gerbern, und es scheint, dass er immer wieder dasselbe sagt und immer wieder mit denselben Wörtern spricht, so dass jeder Unkun­ dige und Gedankenlose seine Diskurse belächeln würde«, dann setzt er ihn genau in den Schnittpunkt von Komödie und Philosophie. Denn das Reden des Sokrates – gerade sein Hantieren am Geringwertigen – entspricht der wohl zur Philosophie gehörigen Tatsache, dass er »die einzigen Reden hält, die Intelligenz besitzen mögen, diejenigen die vollkommen göttlich seien« (Symp. 222 a). Es ist nicht erforderlich, die Dialoge eingehender zu betrach­ ten, um zu erblicken, inwiefern die dialektische Architektur der platonischen Philosophie – und damit auch ihre Hinwendung zur Idee – ihren Ansatzpunkt beim »Kleinsten« (σμικρότατον) – »am zugleich Verächtlichen und Einfachen im Vergleich zum Edleren und Komplexeren«5 – nimmt. Die deutlichste Darbietung dessen ist in einer Passage des Politikos zu finden. Gesprächsstoff des Dialogs ist dort gerade die Natur und der philosophische Gebrauch von Para­ digmen (παραδείγματα) oder »Beispielen«. Sokrates der Jüngere und der Fremde aus Elea unterhalten sich über die Natur des Politikers. Nachdem eine Antwort mittels einer langen Erzählung vergeblich gesucht wurde – es wird hier der bekannte Mythos des Goldenen Zeitalters und des göttlichen Hirten der Menschenherde dargelegt – entschließen sich die Gesprächsteilnehmer zu dem zu greifen, was allein zur Erschließung des »Hochwertigen« imstande sei. Mit einer unerwarteten Wendung wird von Platon jener Offenbarungsort in der Sprache erkannt, dessen Objekte gerade die »niedrigsten Sachen« (ἐν τοῖς ἐλάττοσιν) sind – d. h. in einem Logos, der, wie Sokrates sagt, sich eines »gar geringeren Paradigmas« bedient: Es ist gewiss schwierig, oh Dämonischer, etwas Größeres angemessen zu zeigen (ἐνδείκνυσαι τι τῶν μειζόνων), ohne auf Beispiele zurückzu­ greifen (μὴ παραδείγμασι χρώμενον) (Pol. 277 d 1–2). 5

G. Carchia, La favola dell’essere. Commento al Sofista, Macerata 1997, S. 36.

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Und die Übung ist überall einfacher bei den geringeren Sachen als bei den Größeren (286 b 1–2).

Was die phaula zum Ansatzpunkt jeder auf die Bezeichnung der Idee abzielenden Sprache macht, ist ihre Fähigkeit, zu paradeigmata oder »Beispielen« zu werden. Nur dem »Einfachen«, »Kleineren« und deshalb »einfach wahrhaftig zu Erkennenden« sei es möglich, das außerordentliche Gewand der Beispielhaftigkeit überzuziehen. Es ist vorerst in diesem Sinne, dass der Charakter der Komödie dem sprach­ lichen Sein der Philosophie entspricht (dass das mimische pragma und das philosophische pragma miteinander zusammenfallen). Die sophronsche Darstellung der (einfachen, bescheidenen, gar gemei­ nen) Charaktere erhält dadurch eine erste philosophische Umsetzung. Alle sokratischen Verwendungen von niedrigen Figuren (der Weber im Sophistes, der Fischer oder der Regenpfeifer im Politikos usw.) müs­ sen unter diesem komisch-beispielhaften Licht betrachtet werden. Wie aber das stattfinden mag, das heißt, wie das Niedrige zum Paradigma wird und wie das Paradigma den Zugang zur Idee eröffnet, ist nicht unmittelbar zu begreifen. In einer lehrreichen Passage des Phaidon hat Platon den logos, der sich auf den Weg vom Festen zum Unsicheren begibt, als ein »Floß« bezeichnet: Gleich einer Überfahrt mit einem Rettungsschiff lenkt die paradigmatopoietische Sprache die Seelen von dem, was ihnen vertraut ist, zu dem hin, was seiner Größe wegen übermäßig aussieht. Es geschieht auf dieser abenteuerlichen Überfahrt, dass das Paradigma zeigt, was es eigens auszeichnet. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassung ist das Beispiel in den platonischen Dialogen kein zweckdienliches Mittel der dialekti­ schen Methode: Seine Tragweite können weder ein bloß pädagogi­ scher Wert noch eine einfache heuristische Aufgabe befriedigend erschöpfen. Ein gravierendes Missverständnis begleitet daher das Begreifen dessen, wie die Sachen – die geringwertigen Sachen – zu paradeigmata werden können: Man hat sie öfters als bloß individuelle Vertreter einer höheren Klasse oder eines Allgemeinen gedeutet. Doch kennt das Beispiel nicht nur überhaupt kein Allgemeines, sondern zeichnet sich ausschließlich durch ein nicht gewöhnliches Verhältnis zwischen Partikularitäten aus. Wie ausführlich gezeigt worden ist, kann der Beispielfall nicht zum »Teil einer Klasse« werden, da er »in demselben Moment, als er die Klasse darstellt und eingrenzt, […] aus ihr herauskommt«. Das »Paradox des Beispiels« besteht also darin, dass »das als Paradigma geltende Element von seinem

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normalen Gebrauch desaktiviert wird – nicht aber, um zu einem anderen Bereich zu gelangen, sondern bloß um den Kanon jenes Gebrauchs zu zeigen, der sonst nicht darstellbar wäre«6. Es ist nun erforderlich, bei diesem Sachverhalt länger zu verweilen. 3. Eine Erläuterung dessen, worum es im Beispiel geht, wird von Platon im Politikos angegeben. Es handelt sich um eine für uns besonders paradigmatische Stelle, übrigens von Platon selbst als »Paradigma des Paradigmas« bezeichnet: Wir wissen, dass die Jugendlichen beim Lesen- und Schreibenlernen […] jeden Buchstaben (στοιχείων) innerhalb der kürzeren und einfa­ cheren (ἐν ταῖς βραχυτάταις καὶ ῥᾴσταις) Silben ausreichend erkennen, und wahrhaft darüber reden können (τἀληθῆ φράζειν) […]. Indem sie aber diese selbigen innerhalb anderer wieder verkennen, fehlen sie sowohl im Meinen als auch im Sprechen (δόξηι καὶ λόγωι). (Pol. 277 e 3 – 278 a 3).

Derjenige, der das »Hochwertige« zu erfassen versucht, nimmt hier – so der Fremde – die Gestalt eines Kindes an, dessen Geschicklichkeit bei den »kürzeren und einfacheren Silben« bei den komplexeren alsbald zur schweren Ratlosigkeit wird. Gerade hinsichtlich dieser Schwierigkeit zeigt sich auf welche Weise das paradeigma helfen kann: Die schönste und einfachste Weise, um die Jugendlichen zum noch nicht Erkannten zu führen, ist es also, sie zunächst zu dem zu führen, wo sie schon richtig die Buchstaben erkannt haben (ὀρθῶς ἐδόξαζον), und somit sie vor das noch nicht Erkannte zu bringen, und, indem man sie daneben gestellt hat (παραβάλλοντας), dieselbe Ähnlichkeit und Natur (τὴν αὐτὴν ὁμοιότητα καὶ φύσιν) in beiden Fällen aufzuzeigen. Sobald das wahrhaft Gemeinte, neben dem Unbekannten gestellt (παρατιθέμενα), aufgezeigt worden ist, und indem es dadurch zur ›Anspielung auf das Nebenbei-Stehende‹ (παραδείγματα ~ Bei-spiele) 6 Der Fall eines performativen Satzes kann die Eigenheit des Paradigmas aufschluss­ reich erläutern: Wenn die Aussage »Mach die Tür auf!« als Beispiel eines performati­ ven Satzes genommen wird, dann hört sie auf, als eine wirkliche Aufforderung zu gelten. Denn sie kann keinerlei wirklicher Handlung mehr entsprechen. Und dennoch, weil sie dafür als Beispiel gilt, kann sie nicht einmal aufhören, als ein Performativ betrachtet zu werden. Vgl. G. Agamben, Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Einaudi, Torino 1995, S. 26 (dt. Übersetz.: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2011) und Id., Signatura rerum. Sul metodo, Boringhieri, Torino 2008, S. 20 (dt. Übers. Signatura rerum. Zur Methode, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2009).

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geworden ist, dann wird daraus folgen, dass jeder Buchstabe bei jeder Silbe als »verschieden« und zugleich als »derselbe« bezeichnet wird; denn er ist von den anderen verschieden, derselbe aber immer in Bezug auf sich selbst. (278 a 8 – c 1)

Einige wesentliche Merkmale erschließen den platonischen Begriff von paradeigma: (i.) Es wird zunächst als das Seiende beschrieben, von dem man eine richtige Ansicht erlangen kann (ὀρθῶς ἐδόξαζον). Es fungiert, wie schon im Phaidon, als Nachen vom »festeren« zum unstabilen Logos. Die Geste, mit der Platon Richtigkeit (ὀρθότης) und Wahrheit (ἀλήθεια) der Meinung (δόξα) – das heißt einem Geringwertigem, fernab jedweder ontologischen Stabilität – zuschreibt, kann auf den ersten Blick provokatorisch erscheinen. Denn wie unter anderem an einer Stelle aus dem Timaios präzisiert wird, entspricht ein »stabi­ ler und unveränderlicher und unanfechtbarer Logos« nur dem, was ebenso »stabil und beständig und mit Vernunft versehen (μονίμου καὶ βεβαίου καὶ μετὰ νοῦ)« ist – das heißt nur dem, was »mit dem Sein verwandt« (συγγενής) (29 b–c) ist. Wenn also im Politikos das »wahre«, stabile Erkennen einem Geringwertigen (der Silbe) zuerkannt wird, dann deshalb, weil es sich beim Paradeigmawerden des phaulon gerade um einen Übergang han­ delt: von einem mit der sinnlichen Ordnung »verwandten« zu einem dem Ideenreich zugehörigen Logos. Nichts anderes ist demnach das Paradigma als die ausgezeichnete Schwelle, an der die Überfahrt der Sprache vom Bildhaften zum Wahrhaftigen, vom Unsicheren zum Beständigen verortet wird. (ii.) Die Rede aus dem Politikos kann noch an einer zweiten Stelle den eigentümlichen Charakter des paradigmatopoietischen Logos erleuchten. Beim genaueren Zusehen wird es nämlich deutlich, dass bei diesem »Paradigma des Paradigmas« nichts anderes zum Vor­ schein kommt als eine besondere Verbindung zwischen der bekann­ ten und der noch unbekannten Buchstaben- und Silbenebene. Nur angesichts dieser speziellen Verhältnisform zwischen den verschie­ denen Gliedern wird die paradigmatische Beschaffenheit des Niedri­ gen erfassbar. Dass die erste Silbe zum Paradigma für die zweite wird, bedeutet nämlich, dass sie das Verhältnis hervortreten lässt, das die einzelnen

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Buchstaben im Inneren der Silbe stiften, indem sie erkannt werden. Paradigmatisch kann also eine Silbe nur sein, indem das für die Buch­ stabenartikulierung wesentlich Entscheidende als Artikulierungsve­ hikel auf eine beliebig andere Silbe übertragen wird. Bei diesem Übergang vom exemplum zum Exemplifizierten, vom Beispiel zum »Beigespielten«, geht es nicht um das wesentliche Kennzeichen, um die Definition der Silbe (um die einzelnen Buchstaben hinsichtlich ihrer Eigenschaften), sondern nur um jenes Verhältnis – jenen logos, jene ratio – zwischen den Buchstaben und daher zwischen ihnen und der dadurch zu bildenden Silbe. Gegebenheit und gewöhnliche Denotation der Silbe sind dadurch wie desaktiviert, stillgelegt. Denn die Silbe ist nicht als »Wortbestandteil« (oder als jedwede andere ihr zuschreibbare, die quidditas ausdrückende Definition) zum Para­ digma geworden, sondern nur als Intelligibilitätsvehikel des Lesens – und zwar als ein Aufzeigen der Lesbarkeit (der Möglichkeit des Lesbarseins der Silben). Das Paradigma kann dabei als solches von einer hexis begleitet werden, das, was Enzo Melandri zu Recht einen »Habitus intelligenter Haltung« genannt hat7, d. h. einen nicht aufzu­ klärenden, aus sich verständlichen, beispielhaften Gebrauch. Bei der Übertragung des Lesen-Könnens von der ersten zur zwei­ ten Silbe, indem ihre quidditas suspendiert wird, ist das Übertragene nichts anderes als die ihnen gemeinsame Lesbarkeit. Das bedeutet, dass das, was im Paradigma (in diesem außerordentlichen Verhältnis) zum Vorschein kommt, nichts anderes ist als das Intelligible selbst: das Beispiel führt zur Erschließung der Idee. Indem die Sprache etwas als »paradigmatisch« erfasst, befasst sie sich nicht weiter mit einem Individuum oder einer Substanz, sondern nur mit dem, worum es bei seinem Beispiel-Sein geht – also um sein Verhältnis zum »Beigespielten«8. Allein das Verständnis dessen, E. Melandri, La linea e il circolo. Studio logico-filosofico sull’analogia (1968), Quod­ libet, Macerata 2004, S. 23. 8 In seinem Kommentar zum Paragraphen der Phänomenologie Hegels, der von der sinnlichen Gewissheit handelt, greift schon Heidegger zum Ausdruck »Beigespieltes«, um das zu bezeichnen, was bei der »Vorhandenheit des sinnlichen Gegenstandes und seines Wissens«, wie schon Hegel meinte, jedes Mal »beiherspielt«. Laut Heidegger ist nämlich die sinnliche Gewissheit im Hegel’schen Sinne keine unmittelbare Wahr­ nehmung des Dieses-Seins des Gegenstandes, weil dieser immer schon von seinem »Diesiges-Sein« vermittelt wird. Bei jedem Gegenstand stößt man deshalb vorerst auf ein »Diesiges« – das heißt, dass das Diesiges-Sein bei z. B. dem jedes Mal vorhande­ nen Tisch oder der vorhandenen Tür jeweils beiherspielt. Heidegger nennt »Beispiel« daher eben die sinnliche Gewissheit, welche das Diesiges-Sein der Gegenstände ver­ 7

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worum es in der Silbe paradigmatisch geht (das heißt dessen, was im pragma in Frage steht), ermöglicht es, den logos in der Perspektive der aletheia erscheinen zu lassen. Auf diesem und auf nichts anderem gründet die ontologische Bedeutung des paradigmatischen Wesens. Dadurch wird auch verständlich, inwiefern Platon in einer Pas­ sage des Parmenides die Ideen als das Paradigmatische bezeichnen konnte: »Als Paradigmen stehen sie in der Natur (ὥσπερ παραδείγματα ἑστάναι ἐν τῇ φύσει)« (132 d) (später als αἰτία παραδιγματική von Xenokrates wiederaufgenommen [Fr. 94 Isn. Parente] und als exem­ plar aeternum von Seneca wiedergegeben). Die Idee wird als das Sinnliche (das Niedrige) im Medium seiner Beispielhaftigkeit, d. h. seiner eigenen Intelligibilität, seiner Einsehbarkeit selbst, erfasst. (iii.) Diese besondere, bei der Genese des Paradigmas in Frage ste­ hende Verhältnisform fällt mit dem zusammen, was die Tradition als »analogisches Verhältnis« bezeichnet hat. Dieses wurde zuerst innerhalb einer mathematisch-musikalischen Lehre aufgezeigt, wel­ che auf das Peri tes Mousikes des Archytas von Tarent zurückgeht, und die Platon als besonders paradigmatisch für das Sprachwesen selbst geschätzt haben soll. Archytas führt nämlich die Lehre der schon von Pythagoras und Hippokrates teilweise angedeuteten Verhältnisform namens ἀναλογία weiter aus9. Er zieht drei verschiedene Größen (oder »Grenzwerte«: ὅροι) in Betracht (A, B, C) und stellt sich vor, dass zwischen der ersten (A) und der zweiten (B) so etwas wie ein »Medium« (μέσον, oder διάστημα, »Abstand«) besteht, welches auch das Verhältnis zwischen der zweiten (B) und der dritten (C) bestimmt. Als »analog« wird also von ihm die Gleichheit zwischen dem ersten und dem zweiten Medium (zwischen A:B und B:C) bezeichnet. Das bedeutet z. B., dass – wie mehrere Jahrhunderte später durch ein von Varro vorgeschlagenes Beispiel besonders deutlich wird – es bei den arithmetischen Größen 1, 2, 4 möglich ist, das innere Verhältnis des Paares »1:2« auf das innere Verhältnis des Paares »2:4« zu übertragen. Das erste Paar ist hierdurch zum Paradigma des zweiten geworden: mittelt. Er formuliert dies folgendermaßen: »Jede wirkliche sinnliche Gewißheit ist als solche beispielend, ein Bei-spiel. Das Meinen, das das Dieses meint, läßt in dem Dieses und durch es je dessen Diesiges beiherspielen« (M. Heidegger, Hegels Phäno­ menologie des Geistes, GA, Bd. 32, S. 83). 9 Proklos berichtet von Pythagoras, dass er »τὴν τῶν ἀνὰ λόγον πραγματείαν« ent­ deckte, vgl. P. Grenet, Les origines de l’analogie philosophique dans les dialogues de Platon, Boivin, Paris 1948, S. 100 ff.

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Das Verhältnis ½, das, mit Platon gesprochen, durch »das wahrhaft Meinen« bezüglich des ersten Paares begriffen werden kann, wird zum Intelligibilitätsvehikel des zweiten. Wenn man nun Varro und Archytas folgt, dann scheint die bei der Analogie in Frage stehende Intelligibilität nichts anderes als eine bloße Verhältnisidentität zu sein: »Nachdem man die Paare verglichen hat (simul collata)«, so schreibt Varro, »hat jedes von ihnen als gesondertes denselben logos« (De lingua lat., X, 3.37 – 38). Eine grundlegende, aber unerwartete ontologische Konnotation musste jedoch die Lehre gewinnen, sobald sie von Platon auf die Ebene der (auf analogia kai diairesis beruhenden, vgl. Resp. 533 a) techne dia­ lektike verlegt wurde10. Denn Platon formt das analogische Arkanum des mesotes Archytas’ philosophisch zu einer dialektischen Medialität zwischen Seienden um, welche als Schwellen (ὅροι) zwischen Sinnli­ chen und Intelligiblen, zwischen pragma und logos bestimmt werden. Es dürfte kein Zufall sein, wenn die deutlichste analogische Exemplifizierung solch einer philosophischen Übertragung ihrer geo­ metrischen Herkunft schuldig bleibt: An einer berühmten Stelle der Politeia stellt sich Platon eine Linie vor, deren zweigeteilten Segmenten er die unterschiedlichen Erkenntnisformen (doxa, eikasia, dianoia, nous) zuordnet. Die ersten zwei entsprächen dem anderen Paar – so Platon – »ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον« (Resp. 509 d): Für das Verständnis des zweiten Paares (dianoia–nous) sei der Abstand des ersten (doxa–eikasia) paradigmatisch, das heißt, er diene als eine dia­ lektische Medialität. So ist in unserem Beispiel aus dem Politikos nicht einfach das Medium (das Verhältnis) zwischen den Buchstaben als »analog« zu verstehen, sondern lediglich ihr Im-Medium-Sein selbst, das Aufzeigen des Im-Verhältnis-Seins des ersten Paares, insofern als es zum Intelligibilitätsvehikel für das zweite wird. Denn nicht dieselbe, nicht einmal eine gleiche Lektüre oder ein gleiches Verhältnis 10 Es ist nicht verwunderlich, dass Platon den Begriff aus dem Bereich der Musik entnommen und ihn in den der techne dialektike eingeführt hat. Wenn es wahr ist, was Johannes Lohmann behauptet hat, dass Wort und Nummer, Mathematik und Philosophie genealogisch auf den Logos-Begriff als Verhältnis zwischen musikalischen Intervallen zurückgreifen, dann muss der analogische logos als eine besondere Veror­ tung der Mathematik in der Sprache erscheinen – wenn nicht als ein Zeichen ihrer gemeinsamen musikalischen Herkunft. Platon präzisiert diesen Sinn im Protagoras (332 d), wo ἀναλογίζειν durch das Verb συναρμόττειν erläutert wird: Beim Rekapitu­ lieren (analogizein) des bisher Gesagten erscheint dieses den Gesprächsteilnehmern als »einstimmig«.

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(logos) einigt die zwei Silben, sondern bloß eine gemeinsame Teilhabe an der Lesbarkeit. »Anders« (heteron) ist also der Logos, der, indem er die pragmata in analogische Beziehungen setzt, deren paradigmatische Mediali­ tät, d. h. die ihrem Logos innewohnende Intelligibilität, zu erschlie­ ßen vermag. (iv.) Dass die platonische Bestimmung des Paradigmas wesentlich mit seiner analogiestiftenden dynamis zusammenfällt, kann noch durch eine andere bekannte Stelle aus dem Phaidon gezeigt werden. Inner­ halb eines Gesprächs über die »ursprüngliche Ursache von allem« ent­ schließt sich Sokrates dazu, auf ein analogisches Verhältnis zwischen vier Elementen zurückzugreifen (Sonnenfinsternis, Wasserspiegel, Seiendes, Logos). In dieser Passage greift Sokrates, um die Idee der Sprache auszudrücken, zum bekannten Beispiel des Wasserspiegels. Er bringt analogisch das Verhältnis zwischen der Sonnenfinsternis und ihres im Wasser sich widerspiegelnden Bildes in Verbindung mit dem Verhältnis zwischen den pragmata und dem logos. Der Gebrauch einer Analogie ist hier entscheidend, denn er ermöglicht es, ein sich in der Tradition lange haltendes Missverständnis zu vermeiden: Der logos, wie sich Sokrates selbst äußert, kann nur als »ein solches wie« (τοιοῦτόν τι, 99 e 1) und niemals als »dasselbe« eines widergespiegelten Bildes gemeint werden. Das heißt, dass das pragma den logos so bewohnt wie schon die Finsternis das Spiegelbild, ohne aber zur selben Klasse zu gehören. Der Logos ist also nicht wie ein Spiegel der Realität zu verstehen, sondern verhält sich bloß zu den Sachen wie das Wasser zur Finsternis (d. h. in der Passage als »Zuflucht«). Der für die Bezeichnung des Untersuchungsobjektes ausge­ wählte Ausdruck lautet an dieser Stelle »ὅπῃ ποτὲ ἔχει« (Phaed. 99 c 7). Er zeichnet den von Archytas selbst für seine Analogie gebrauchten Ausdruck nach: »ὅκκα ἔωντι οἷος« (D.-K. 35 B 2). Nicht welche Ursache, noch was jene sei, ist das zu Begreifende, sondern lediglich »wie immer sie sich habe« (ὅπῃ ποτὲ ἔχει). Das in der Analogie in Frage stehende Sein ist nur in seinem hope pote zu betrachten, das heißt in seiner dynamis, in seinem Modus, in der Art und Weise, wie die Sache auf sich selbst Bezug nimmt, indem sie die andere beleuchtet – und nicht weiterhin in seinem ti, im Wesenhaften. Dadurch fällt das analogische Moment mit dem paradigmatischen zusammen. Wie Victor Goldschmidt es schon vor einigen Jahren ausgedrückt hat:

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»l’élément paradigmatique est lui-même un rapport«11 (das Beispiel ist in sich selbst ein Verhältnis). (v.) Es ist zu vermuten, dass gerade die Übersetzung des griechischen Wortes ἀναλογία mit dem lateinischen Ausdruck proportio zum Hin­ dernis für das Verständis von dem wurde, worum es im analogischen, paradigmatisch gestifteten Verhältnis geht. Mit dem aus dem öko­ nomisch-juristischem Bereich stammenden Wort »proportio« wurde nämlich der »Anteil« an einem Besitz bezeichnet (Cato, Agr. 106, 2: siquid plus voles aquae marinae concinnare, pro portione ea omnia facito – »wenn jemand mehr Meerwasser gewinnen möchte, das wird teilmäßig getan«). In der Bedeutung von pars wird es noch von Plinius gebraucht: Der Ausdruck »luna aequa portione divisa« (2, 42) ist der Fachausdruck für den Halbmond. Doch gerade im Gegenteil ermöglicht die als Paradigmenverhält­ nis gedeutete Analogie – und zwar indem sie in die Dialektik einge­ führt wird –, dass das Einzelne von jedem Verdacht, eine Beziehung zum Allgemeinen zu haben, entlastet wird. Etwas Ähnliches muss die »seemingly arcane relation«12 bewahrt haben, die noch Boethius in De musica eine »superparticularis proportio«13 genannt hatte: Die Seienden suspendieren ihr besonderes Verhältnis, sobald sie auf die analogische Ebene gesetzt werden. Das Paradigma geht, wie von Aristoteles präzisiert worden ist, vom Besonderen zum Besonderen über (ὡς μέρος πρὸς μέρος ~ Anal. Pr. 69 a 14–15), aber nur wenn, über Aristoteles hinausgehend, seine metabasis nicht ein blinder rhetorisch-poetischer Sprung von einer zur anderen Gattung ist, son­ dern ein Sichaufhalten bei dem Übergang selbst, im überpartikularen Medium des Intelligiblen. Solcher Widerstand des Paradigmas, Verhältnisse zwischen Besonderem und Allgemeinen zu stiften, wird schließlich an unserer Stelle aus dem Politikos durch ein etymologisches Kennzeichen aus­ reichend bezeugt. Das Beispiel – so der Ausdruck des Fremden – sei bloß als das »Nebenstehende« aufzuzeigen (para-ballo, para-tithemi, 11 V. Goldschmidt, Le paradigme dans la dialectique platonicienne, P.U.F., Paris 1947, S. 77. 12 D. Heller-Roazen, The Fifth Hammer. Pythagoras and the Disharmony of the World, New York 2011, S. 36. 13 »Superparticularis proportion scindi in aequa medio proportionaliter interposta numero non potest« (De musica, III, 11).

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para-deiknymi). »Paradeigma« bedeutet nämlich wörtlich so etwas wie »Hindeuten auf das Nebenbei-Stehende«. Noch das deutsche »Bei-Spiel«, hierdurch mit der biblischen parabolé oder hypodeigma verwandt, wahrt die Bedeutung einer »nebenstehenden fabula« (spel heißt im Altdeutschen sermo, fabula). Das Beispiel sei ursprünglich ein logos, eine »Erzählung«, dessen Absicht nicht in einer juristischen Strafe oder, hinsichtlich unserer hier verfolgten Interessen, in den Handlungsfolgen der Tragödie liegt, sondern im bloßen Aufzeigen einer vorbildhaften Haltung14. Das Paradigma spielt sich auf nur einer Ebene ab und lässt somit keinen Raum für eine Über- oder Unterordnung. Es ist mehr als ein Besonderes und weniger als ein Allgemeines und deshalb auf keinen Induktions- oder Deduktionsfall rückführbar. Denn das Beispiel, indem es zeigt (deiknymi), setzt sich selbst und zugleich das von ihm Gezeigte neben sich (para), d. h. auf die gleiche Ebene. Und gerade so beieinanderstehend entschwinden die Substanzen wie in einem Kraftfeld, bei dem die auf der Ebene erkennbaren Punkte von ihren Spannungsvektoren ersetzt werden. Weder zum Teil noch zum Ganzen gehörend ist die Analogie ein logon heteron, eine ratio tertia, die mit einer radikalen »Zurückhaltung des Urteils«15 letztlich zusammenfällt. 4. Wenn es allerdings bei der Analogie nicht um eine bloße Gleich­ artigkeit geht, inwiefern können die im analogischen Verhältnis gesetzten Seienden noch aufeinander Bezug nehmen? Was ist die Natur der Verbindung von Beispiel und dem damit ins Spiel Gebrach­ ten? Wenn es im Paradigma um »den Zusammengehörigkeitssinn der Einzelnen, d. h. um ihre Gemeinschaftswerdung«16 geht, und wenn diese Gemeinschaft als »analogisch« begriffen werden kann, dann wird es erforderlich, die Natur solcher Paradigmengemeinschaft zu präzisieren. 14 »Spell und beispell setzen also ursprünglich eine erzählung voraus und die ins heutige beispiel gelegte bedeutung von exemplum, vorbild, das durch die that gegeben wird, war ihnen ganz fremd« (Grimm, Bd. 1, S. 1395). Wulfila wird mit »Beispiel« das Griechische mythos übersetzen (1 Tim. 4, 7), und im Niederrheinischen ist noch »spellchen« mit der Bedeutung von »Märchen« zu finden. Von Immanuel Kant wird dann das »Beispiel« vom »Exempel« ausdrücklich unterschieden: Letzteres sei als Sonderfall einer praktischen Regel gemeint; ersteres als das einen allgemeinen theo­ retischen Begriff aufstellende Besondere. 15 E. Melandri, L’analogia, la simmetria, la proporzione, Milano 1974, S. 19. 16 G. Agamben, Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, a. a. O., S. 27.

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Es ist Platon selbst, der im letzten Teil des Politikos die Natur der analogischen Gemeinschaft durch den Begriff »Ähnlichkeit« (ὁμοιότης) bestimmt. Für »Ähnlichkeit« aber ist eine doppelte Kon­ notation bezeugt, auf deren Unterscheidung Platon immer wieder zurückgreift. Innerhalb jener Passage selbst, bei der das Beispiel des Buchstabenlernens wiedereingeführt wird – und zwar um den paradigmatischen logos zu bestimmen – beharrt der Fremde auf den Unterschied zwischen einer »sinnlichen Ähnlichkeit« (αἰσθηταὶ ὁμοιότητες) und, wie er selbst sich ausdrückt, »seinem Gegenteil« (285 e). Wenn im Fall der sinnlichen Ähnlichkeit sich die dynamis der Sprache in der Darstellung eines »εἴδωλον« erschöpft, d. h. in einem bloßen Abbild der Sache, von ihrer Individualität aus betrachtet, dann ist das Paradigma durch die zweite, »gegenteilige« Form der Ähn­ lichkeit zu erläutern: »Für die hochwertigeren Sachen«, erklärt der Fremde, »gibt es kein εἴδωλον, das die Seele zu befriedigen wüsste«. Die dem Paradigma zukommende »Ähnlichkeit selbst (τὴν αὐτὴν ὁμοιότητα)«, der die allererste Textpassage ein »Natur«-Verhältnis (τὴν αὐτὴν ὁμοιότητα καὶ φύσιν) zwischen den Singularitäten entspre­ chen ließ, wird dadurch unter dem Licht einer Gegensätzlichkeit zur bloßen Ähnlichkeit. Zur Erläuterung dieser paradoxen Definition von Analogie als Ähnlichkeits-Unähnlichkeits-Verhältnis wird man in der Darstellung der Hendiadys mimesis kai logos einen Anhaltspunkt finden, die von Walter Benjamin in seinem Essay Über das mimetische Vermögen (1933) entfaltet wurde. Anlässlich seiner sprachtheoretischen Refle­ xionen entwickelte Benjamin den Begriff einer »unsinnlichen Ähn­ lichkeit«17: Die unterschiedlichen Wörter, die innerhalb unterschied­ licher Sprachen dasselbe Objekt bezeichnen, seien durch diese von aller Sinnbezogenheit befreite Ähnlichkeit vereinigt. Der Ausdruck eignet sich ausgezeichnet dazu, das Paradoxon der platonischen Ähn­ lichkeit im Kontext der Ideenbezeichnung zu lösen. Zudem scheint es sinnvoll, zu vermuten, dass sich in der unsinnlichen Ähnlichkeit von Benjamin selbst ein analogisches Verhältnis versteckt. So ist, platonisch betrachtet, das Weben insofern der Politik analog, als das Verhältnis zwischen Weber und Gewebe auf der einen Seite und dasjenige zwischen Politiker und Staat auf der anderen Seite als »ähnlich« erkannt werden kann – und zwar durch eine unsinnliche 17 W. Benjamin, Über das mimetische Vermögen, in Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hrsg. V. R. Tiedemann, H. Scheppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 210–213.

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Sophron oder von der Analogie

Ähnlichkeit verbunden. Ihr logos betrifft somit keine »Identität«, sondern gerade die Tatsache, dass es sich bei dem ersten wie bei dem zweiten um das eidos des »Verflechtens« (πλέγμα) handelt und dass gerade auf diesem ihre gemeinsame Intelligibilität beruht. Das lateinische Wortgut verfügt über eine terminologische Fein­ heit, die es ermöglicht, zwischen den zwei Formen von Ähnlichkeit eindeutig zu unterscheiden. Es gehört zu derselben Wurzel wie auch similitudo (rassemblance, Ähnlichkeit) – aus dem z. B. simulatio, simulacrum, simulo stammen, d. h. Signifikanten der Unterscheidung zwischen Art und Gattung –, oder wie auch die Vokabel simultas, die das gemeinsame, gleichzeitige Zustandekommen ausdrückt. Die Ähnlichkeit zwischen Beispiel und »Beigespieltem« ist analogisch nicht als einfache Gleichartigkeit von Individuen zu verstehen, son­ dern als Simultaneität (eines simultanen Intelligibelwerdens) des Verschiedenen. Man kann in diesem Sinne die enigmatische Passage aus dem Politikos auslegen, in der das Beispiel als »das Seiende, das im Verschiedenen dasselbe (ταὐτόν) ist«, bezeichnet wird. Hierin werden Beispiel und »Beigespieltes« erst insofern verständlich (μίαν ἀληθῆ δόξαν, Objekt einer wahren Ansicht), als »jedes von beiden nur als (ὡς) zusammen mit dem andern (συνάμφω)« vernommen wird (Politikos, 278 c)18. Es leuchtet nun ein, in welchem verhüllten Sinne Aristoteles gleich am Beginn unserer Studie die Verwandtschaft von Mimus und Philosophie in den Hendiadys logos kai mimesis verschlüsselt hatte. Laut einer gängigen Annahme unserer literarischen und philo­ sophischen Tradition bezeichnet der Begriff »Mimesis« gerade das Vorkommen von Ähnlichkeiten. Um nichts anderes als um ein solches mimetisches Vermögen handelt es sich in der dynamis des platoni­ schen logos. Wenn »die Unkörperlichen« (ἀσώματα), wie es noch im Politikos heißt, »die schönsten und höchsten unter den Seienden, nur im logos und ausschließlich in ihm deutlich gezeigt werden können« (286 a), dann deshalb, weil nur der zwischen den Sinnlichen (den phauloi), aber jenseits all ihrer Denotation erscheinende logos (das heißt der analogische, ihre Simultaneität umfassende logos) wirklich »mimetisch« genannt werden kann. Was zwischen Handlung und Mimus und, in ihrer Analogie, zwischen Sinnenreich und Ideenreich entsteht, ist also nichts anderes 18 Gegen den Kodex B (»kai«) wird hier die lectio mit der Konjunktion »hos« übernom­ men.

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als, um es mit Kerényi auszudrücken, eine »gespenstische«, d. h. eine mimische Gestalt des Ähnlichen. 5. Die mimetische Handlung ist für den Mimus eine analogische Geste: Indem er bei der Darstellung irgendeines Fischers die Geste des ins Wasser Werfens der Angelschnur mimt, ohne aber dadurch tatsächlich etwas zu bewirken, desaktiviert er alle empirische Hand­ lung des Fischens. Dadurch vermag er den Habitus und die Idee der Fischerei aufzuzeigen19. Es ist die Welt des in der Szene zur Miniatur gewordenen Fischers, die, wie im platonischen Dialog selbst (Soph. 218 b–e), der Welt des Sophisten analog ist: Die Fischerei in actu wird suspendiert, der Mimus bewirkt allein das bloße Aufzeigen des »Köderns« als Möglichkeit des Fischer- bzw. Sophistenseins. In diesem Sinne lebt der Mimus das nicht wahrnehmbare Leben des Paradigmas: Als phau­ lon spielt er die Intelligibilität selbst des beispielhaften Lebens herbei.

19 Daran muss auch J.-C. Milner gedacht haben, als er darauf das Ereignis des Theaters gründete : »Phèdre n’existe pas, ou n’existe pas comme ce qui existe, ou qu’elle existe ailleurs (dans le cœur de Racine, dans l’imagination du spectateur, dans le Ciel des Idées) […] existe comme la classe paradoxale de ces effectuations singulières, tenues et liées par cela qui les disjoint et les isole« (J.-C. Milner, L’exemple et la fiction, in : Id., Transparence et opacité, Paris 1988, S. 179).

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Analogische Zeugung

Das griechische ἀνὰ λόγον heißt »im selben Verhältnis wie …«.* Nach der maßgeblichen Bestimmung des Aristoteles besteht die Analogie in der »Gleichheit der λόγοι«1. Da λόγος in diesem Zusammenhang zweifelsohne »das Verhältnis« heißt, ist die Analogie des Genaueren als Gleichheit von zwei oder mehreren Verhältnissen zu verstehen. Da aber schon die Gleichheit als solche nichts anderes als das Verhältnis ist, so ist die Analogie in ihrem wahren Sinne das Verhältnis von zwei oder mehreren Verhältnissen. Das heißt, dass der eigentümliche Bereich der Analogie das rein Verhältnismäßige ist, eben das nämlich, was seit Aristoteles als das »Bezugshafte« (πρός τι) in die Gattung des wesentlich Unselbstständigen (τὸ συμβηβεκός) eingeordnet wird, dessen nämlich, was, um zu sein, an einem Zugrundeliegenden (τὸ ὑποκείμενον) haften und darauf beruhen muss. Daraus entnehmen wir als erstes Merkmal der Analogie, dass sie sich im freischwebenden »formellen« und »ideellen« Bereich des Substanzlosen aufhält. Es ist wohl kein Zufall, dass ihre Erfindung und volle Entfaltung sich der frühgriechischen Mathematik verdankt. Die Analogie ist zum zweiten die die Gleichheit bewahrende Gliederung eines Ganzen, welche eben als die Gliederung dieses Ganze einigt und zusammenhält. Im Unterschied zum stoffartigen organischen Zusammenwachsen, worin jedes der Einzelnen seine Selbstständigkeit und Eigenheit verliert und in die neuentstandene Einheit verschwindet, wie auch zu der bloß mechanischen Zusam­ mensetzung, wo jedes der Einzelnen nur anscheinend in die entstan­ dene übergreifende Einheit eingeht, aber in Wahrheit von den anderen wesentlich getrennt und ihnen fremd bleibt, bleibt in der wahren Analogie jedes der darin sich Verhaltenden eben das, was es ist, Der Aufsatz ist im Buch vom Verf. Wiederholungen. Philosophiegeschichtliche Studien, Tübingen 2015, bereits veröffentlicht worden. 1 Aristotelis ethica Nichomacheia, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater, Oxford 1894, V, 6 (1131a31): ἡ γὰρ ἀναλογία ἰσότης ἐστὶ λόγων. *

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wird gleichzeitig aber durch das Verhältnis zu dem übergreifenden Zusammenhang, in den es gebracht wird, zum wesentlich anderen. Eben das, dass etwas, stofflich gesehen, zwar dasselbe, und doch gleichzeitig in formeller und ideeller Hinsicht das andere werden kann, ist das Eigentümliche und wohl Erstaunliche an der Analogie. In diesem Sinne ist die durch Analogie vollbrachte Einigung als eine nicht gewaltsam erzwungene, sondern wesentlich freie anzusehen. Die Analogie macht es möglich, dass auch die Gegensätze, die nicht nur getrennt und völlig voneinander geschieden, sondern, da sie sich gegenseitig nicht brauchen und vertragen, einander sogar feindlich und widerstrebend sind, doch zueinander kehren und sich in gewisser Weise verbinden. In diesem über das Mathematische hinausgehenden Sinne wird bei den frühgriechischen Denkern, mit einem bedeutsamen Nachklang im Platonischen Gorgias, das wohlge­ ordnete Ganze des Seienden (κόσμος) als der rhythmisch strukturierte Zusammenhang der aufeinander angewiesenen und verbundenen Gegensätze wie etwa Tag und Nacht, Erde und Himmel, Feuchtes und Trockenes, Kaltes und Heißes, Unsterbliches und Sterbliches gedacht. Wie es an klassischer Stelle des Platonischen Timaios heißt, alle Gegensätze, etwa Erde und Feuer, als die voneinander am weitesten entfernt und entgegengesetzten unter den sogenannten Elementen, können nur mittels eines in der Mitte stehenden und zu beiden sich verhaltenden Bandes (δεσμός) zusammengebracht werden. Dieses Band, das schönste aller Bänder, das sowohl sich selbst als auch das Verbundene soweit wie möglich auf die schönste Weise zur Eins macht, ist die Analogie.2 Es ist also treffend, wenn Proklos behauptet, bei Platon wird »das All zum Einen durch die Analogie vollendet«3. Dazu ist noch einmal hervorzuheben, dass die Analogie von Platon nachdrücklich als das »schönste Band« bezeichnet wird, wohl um damit anzudeuten, dass die durch sie vollzogene Verbindung wesentlich frei und ideell ist, eine solche nämlich, welche die Verschiedenen und sogar Entgegenge­ setzten zwar vereint, aber immer nur auf diese Weise, dass ein jedes dasselbe bleibt, was es sonst ist, und weiterhin sein Eigenes bewahrt, um nur im Verhältnis zum Anderen zugleich ein anderes zu werden. 2 Platon, Timaios 31c, in: Platonis Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet. Tomus IV, Oxford 1902. Platons Text wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. 3 Procli Diadochi in Platonis Timaeum commentaria, ed. E. Diehl, vol. I–III, Leipzig 1903–1906, vol. II, 27, 13 f.: ἕν τὸ πᾱν ἀποτελεῖται διά τῆς ἀναλογίας.

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Analogische Zeugung

Den Worten Platons ist noch etwas zu entnehmen, was zum dritten Wesensmerkmal der Analogie erklärt werden kann. Die Ana­ logie ist nicht nur das Band, welches das Verschiedene und sogar Gegensätzliche zusammenbringen und einigen kann; was wichtiger ist, sie eint dadurch auch sich selbst. Als das einigende Band ist sie überhaupt nicht außer dieser Einigung; ihr volles Sein besteht nur darin. Damit kommt der schon besprochene verhältnismäßige, und d. h. nichtsubstantielle, genauer gesagt übersubstantielle Charakter der Analogie wieder zum Vorschein, und zwar in einer gesteigerten Weise. Nämlich, um das Verbindende und Einigende zu sein, muss die Analogie zunächst sich selbst einigen. Die alles zusammenführende und verbindende Analogie, dieses mächtigste und schönste Band, welches das Ganze vereint und zusammenhält, ist also keine seiende, und d. h. hier bestehende Einheit, sondern eher so etwas wie der reine Vollzug der ständigen Einigung sowohl von sich selbst als auch von allem anderen. Es leuchtet ein, dass die Analogie, verstanden in diesem, die ursprüngliche mathematische und vorwiegend formelle Bedeutung hoch überragenden Sinne, beinahe unmittelbar zu jenem Höchsten der ganzen Philosophie Platons führt, was er »die Idee des Guten« bzw. »das Gute selbst« nennt.* Immer wieder gilt es darauf aufmerk­ sam zu machen, dass er mit dem Namen ἀγαθόν keineswegs etwas nur Praktisches, Ethisches oder Moralisches anspricht. Damit ist kein Prinzip der Handlung gemeint, zum Unterschied vom Erken­ nen und Wissen.4 Bereits im Phaidon5 findet Platon das wesentlich Mangelhafte bei den frühen Physiologen darin, dass sie das Gute * Die folgenden Ausführungen sind ausführlicher im Buch des Verf. Ideja dobra. Pla­ tonova Politeia VI i VII. Prijevod s filološkim i filozofskim komentarom [Idee des Guten. Platons Politeia VI und VII. Übersetzung mit dem philologischen und philosophischen Kommentar], Zagreb 1995, ausgearbeitet worden. [Anm. zu dieser Veröffentlichung.]. 4 Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theäetet, GA 34, hrsg. Von Hermann Mörchen, Frankfurt am Main 1988, S. 100: »[W]ir müssen uns von vornherein von jeder sentimentalen Vorstellung dieser Idee des Guten freihalten, aber ebenso auch von allen Perspektiven, Auffassungen und Bestimmungen, wie sie die christliche Moral und deren säkularisierte Abarten (oder sonst irgendeine Ethik) darbieten, wo das Gute als Gegensatz zum Bösen und das Böse als das Sündige gefasst wird. Es handelt sich überhaupt nicht um Ethisches oder Moralisches, so wenig freilich wie um ein logisches oder gar erkenntnistheoretisches Prinzip. Das alles sind Unterscheidungen für Philosophiegelehrte, die es auch in der Antike schon gegeben hat, − nicht für die Philosophie.« 5 Platon, Phaidon 99c5–6.

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nicht als das Verbindende und Zusammenhaltende erkannt haben. Den enigmatischen, nur gleichnishaften Äußerungen dazu in den mittleren Büchern der Politeia ist zum Mindesten zu entnehmen, dass das eigentümlichste Wesen des Guten in der Macht der Einigung und Verbindung besteht. Das Licht, das durch die Sonne als seiner unmittelbaren Ursache letztlich vom Guten als ihrem »Vater« stam­ men soll, wird mit Nachdruck als das einigende Joch, und zwar das würdigste aller, bezeichnet.6 Auch die wahren Philosophen, die zu solchen durch das mühsam errungene Anfassen und Berühren des Guten geworden sind, sollen in der Nachfolge seines verbindenden und zusammenführenden Wesens selbst zum »Zusammenhalt der polis« gebraucht werden.7 Es ist demnach nicht übertrieben, darauf zu bestehen, dass die Analogie der höchste Gesichtspunkt ist, unter dem die beiden ersten, damit aber alle drei Gleichnisse von der Idee des Guten stehen. Im ersten wird ausdrücklich gesagt, dass die Sonne vom Guten selbst und in der Analogie zu ihm gezeugt ist8, und in der Analogie, welche das Verhältnis der Sonne zur Fähigkeit des Sehens und zum Sichtbaren mit dem Verhältnis des Guten zu Denkkraft und zum Denkbaren ver­ bindet, besteht zweifellos die tragende Säule des ganzen Gleichnisses. Auch das Liniengleichnis ist gänzlich auf der vielfältigen Analogie aufgebaut9: Sowohl das Vernünftige zum Verstandsmäßigen als auch das sinnlich Wirkliche zum bloß Bildhaften, aber – was in geläufi­ gen Interpretationen meistens nicht entsprechend beachtet wird – nicht weniger auch das Vernünftige zum sinnlich Wirklichen und das Verstandesmäßige zum Bildhaften, stehen im selben gegenseiti­ gen Verhältnis wie das allgemein Denkbare zum Sichtbaren. Diese verwickelte und sich mehrfach überschneidende analogische Verfas­ sung der Linie hebt Platon selbst hervor in der zusammenfassenden Rekapitulation des Gleichnisses.10 Gehen wir zunächst auf das erste Gleichnis ein, um dann das zweite und dritte anzuschließen. Wohl braucht es keine Erwähnung, dass alle drei Gleichnisse nicht einzeln und getrennt voneinander, sondern nur in ihrem Zusammenhang entsprechend zu verstehen sind. Platon, res publica 508a1. Platon, res publica 520a4. 8 Platon, res publica 508b13. 9 Vgl. Platon, res publica 509d7: ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον. 10 Platon, res publica 533e7–534a8. 6 7

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Wie schon erwähnt, im ersten Gleichnis wird versucht, der Idee des Guten näher zu kommen durch die genaue Erörterung der Wirkungen der Sonne, die zunächst als vom Guten erzeugt erklärt wird, und zwar »in der Analogie zu ihm«. Die Sonne ist die Ursache des Lichts, welches wiederum bewirkt, dass die Augen, denen die Sehmöglichkeit zwar ständig innewohnt, aber von sich nie zum Sehen kommen, das wirkliche Sehen vollziehen, und dass andererseits die sichtbaren Dinge, die zwar stets gesehen werden können, aber von sich zum Gesehenwerden nicht kommen, wirklich gesehen werden. Im Vollzug des wirklichen Sehens verbinden sich die Sichtbarkeit und das Sehen derart, dass sich die Augen ebenso den Dingen zuwenden wie umgekehrt die Dinge der Sehfähigkeit. Die Sichtbarkeit und die Sehkraft sind zwar immer da, aber ohne das Licht, das als Drittes dazwischen tritt und beide verbindet, blieben sie ewig getrennt und gleichsam in bloßer Möglichkeit begraben. In der Abwesenheit des Lichts herrschte nur die Nacht, in deren Dunkel die Augen erloschen sind und nichts Bestimmtes erscheint, sondern alles im Undurchsich­ tigen und Unbestimmbaren verschlossen bleibt. Über die Sichtbarkeit, Unterscheidbarkeit und Bestimmtheit hinaus gibt die Sonne durch ihr Licht und ihre Wärme den werdenden Wesen selbst das Entstehen und Wachsen, in einem Wort das Leben. Durch den Rhythmus der periodischen Annäherung und Entfernung bringt sie die Jahreszeiten hervor und zeitigt damit die vielfältigen Lebensprozesse des Werdenden. Ohne Sonne gäbe es für das Wer­ dende nicht nur keine Sichtbarkeit, sondern auch kein Leben. Was an dieser Überlegung auffällt, ist das Ausbleiben jeder Erwähnung dessen, was als das Andere und Gegensätzliche zur Sonne mit seinem Licht und seiner Wärme da im Spiel sein müsste. Das den frühen Griechen wohl bekannte geheimnisvolle nächtliche Dunkel bleibt ebenso verschwiegen wie der unermessliche Abgrund im Inneren der Erde, das Vergehen und der Tod, also alle unerbittli­ chen und fürchterlichen Gegensätze zum Entstehen und Leben. Alles wird gleichsam von außen gesehen und dargestellt, ohne den dabei mitzudenkenden gegensätzlichen Hintergrund auch nur aus der Ferne durchschimmern zu lassen.11 11 In Blick darauf scheint Heideggers bekannte These vom Wandel der Wahrheits­ auffassung bei Platon und vom damit zusammenhängenden Verabschieden der ursprünglichen, alle Gegensätze gleich umfassenden Unverborgenheit trotz mancher Übertreibung nicht ganz unberechtigt zu sein.

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Dasselbe gilt für den in der Analogie dazu dargestellten Bereich des Denkbaren. Die Denkkraft könnte nicht wirklich denken und das Denkbare wäre nicht gedacht, wenn es die in Entsprechung zur Leich­ tigkeit, Durchsichtigkeit und Offenheit des Sonnenlichts zu denkende Vernunftwahrheit und deren Erzeuger nicht gäbe. In dem Falle käme das Zu-denkende nicht zum Stehen und zur dauernden Beständigkeit, die es erst möglich machen, dass es erkannt, bestimmt und benannt wird, wie andererseits die Denkkraft selbst nicht erweckt und wirklich erkennend wäre, sondern versunken bliebe im Schlaf des unbeständi­ gen Wandels des Entstehenden und gleich wieder Vergehenden. Wie dort die Sonne so kehrt hier die Idee des Guten die getrennt Entgegen­ stehenden einander zu, lässt sie sich gegenseitig entgegenkommen, um aus dieser Zuwendung und diesem Entgegenkommen das Denken bzw. Erkennen des Beständigen zustande zu bringen. Nebenbei gesagt, hier scheint die Analogie letztlich an ihre Grenze zu stoßen, da die Idee des Guten nicht wie die Sonne nur über einem Bereich herrscht, sondern, da die Sonne ihr Sprössling ist, über das Ganze der beiden Bereiche. Die weitführenden Konsequenzen davon können hier nicht verfolgt werden. Es ist stattdessen wieder aufmerksam zu machen auf das Ausbleiben jedes Eingehens darauf, was der Gegensatz zur Wahrheit und zum beständigen Seienden wäre. Worin bestünde in diesem Bereich des Denkbaren die Analogie zu der im Bereich des Werdenden mitzudenkenden Nacht, zum Vergehen und Tod? Was sonst als Lüge verstanden wird, könnte dies gewiss nicht sein, da sie von vornherein den ganzen Horizont der Wahrheit, wie sie hier bestimmt wird, voraussetzt und daher nicht sein Gegen­ satz sein kann. Dasselbe gilt für das Werden bzw. die Bewegung im Sinne der Unbeständigkeit, die, beide verstanden als bloßer Mangel an Beständigkeit, diese stets voraussetzen. Behalten wir diese in sich vielfältige Frage und wenden uns dem Liniengleichnis zu. Zunächst ist hervorzuheben, dass es beim Versuch des Begreifens gilt, die Ganzheit und Einheitlichkeit der Linie nicht weniger als ihre Teilung stets vor Augen zu halten, obwohl bei der Darstellung auf jener der volle Nachdruck liegt. Denn hier erweist sich, vielleicht mehr als anderswo in Platons Werk, die traditionelle Auffassung seiner Philosophie im Sinne von »zwei Welten« als zu kurz greifend und irreführend. Es gilt stets zu beachten, dass alle Teilungen der Linie in Wahrheit die einheitliche analogische Gliede­ rung einer Linie sind. Um keinen Zweifel über die Einheitlichkeit der Linie zuzulassen, weist Platon selbst wiederholt darauf hin, dass in

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allen Abschnitten eine und dieselbe Grundkraft der Seele – auch hier wie sonst bei ihm absichtlich in terminologischer Unbestimmtheit gehalten – am Werk ist. Darüber hinaus verführt schon die geometrische Darstellungs­ weise des Gleichnisses leicht dazu, das, was durch die Linie dargestellt wird, grundsätzlich statisch, d. h. als den vorliegenden Sachverhalt, zu verstehen. Es kommt hingegen alles darauf an, die Linie von Grund auf dynamisch zu fassen, als einen einheitlichen, schrittweise fortfahrenden und mehrmals umkippenden Weg der Seele, in dem Sinne etwa wie Hegel Jahrtausende danach seine Phänomenologie des Geistes als den aufsteigenden Weg der Erfahrung des Bewusstseins zu lesen und zu verstehen empfiehlt. Daraus leuchtet ein, dass gerade die Brüche und die Übergangspunkte an der Linie eine besondere Beachtung erfordern. Dem ist hinzuzufügen, dass die Auslegung des Liniengleichnisses nicht gelingen kann, wenn dabei die ständige Rücksichtnahme auf das dritte Gleichnis, jenes von der Höhle, sowie auf den Zusammenhang beider, ausbleibt. Wohl nicht zufällig hielt es auch Platon für nötig, auf diesen Zusammenhang ausdrücklich hinzu­ weisen. Im Liniengleichnis verschränken sich zwei verschiedene, obwohl zusammenhängende Analogien. Einerseits verhalten sich innerhalb von jedem der beiden zuerst gemachten Abschnitte durch die wei­ tere Teilung zustande gekommenen Bestandteile zueinander in der gleichen Weise wie die ersten Abschnitte selbst: Das Dafürhalten (πίστις) zur Einbildung (εἰκασία) und die Vernunft (νοῦς) zum Ver­ stand (διάνοια) verhalten sich zueinander in gleicher Weise wie im Allgemeinen das Denken (νοῆσις) zur Meinung (δόξα). Hinter dieser im Vordergrund stehenden Analogie verbirgt sich aber, wie schon angekündigt, eine andere, nicht weniger wichtige, jene nämlich, in der sich der Verstand zur Einbildung und die Vernunft zum Dafürhalten gleichermaßen verhalten. Die volle Bedeutsamkeit dieser anderen Analogie kommt allerdings nur dann zum Vorschein, wenn auch das Höhlengleichnis in die Interpretation einbezogen wird. Es liegt auf der Hand, dass der Aufenthalt der Menschen in der unterirdischen Höhle die Verbildlichung des unteren Abschnitts der Linie, jenes der Meinung, wie auch das Wohnen außerhalb der Höhle, im Offenen des wahren Lichts und unter dem wahren Himmel, das Bild des oberen Abschnitts, jenes des Denkens, ist. Hier aber, in der Erzählung von der Höhle, vom Ausbruch daraus und der notwendigen Rückkehr dahin, wird alles auf einmal äußerst bewegt und dynamisch.

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Die Knoten- und Übergangspunkte an der Linie, die ihre Abschnitte sowohl trennen wie verbinden und zusammenhalten, verlieren ihre geometrische Abstraktheit und zeigen sich gleichsam als gärend vom wirklichen Leben. Sie werden zu den Punkten des Übergangs im vollen Sinne des Wortes, stark affektiv und existenziell beladen. Die ganze Tragweite dessen kann hier nicht verfolgt werden. Schränken wir uns, und zwar in aller Kürze, auf die nähere Betrachtung von zweien dieser Übergänge ein, zunächst auf den Übergang vom Dafürhalten zum Verstand und dann auf jenen vom Verstand zur Vernunft. Der erste Übergang gewinnt zusätzlich an Wichtigkeit, wenn man in Betracht zieht, dass er zugleich der Übergang vom unteren Hauptabschnitt der Linie zum oberen, vom Bereich des Sichtbaren und Werdenden zu jenem des Denkbaren und Seienden ist. Was sich darin ereignet, sei folgendermaßen zusammengefasst: Der in der Höhle gefangene Mensch wird auf einmal gelöst und befreit von den Ketten, die ihn sonst zwingen, mit dem ausschließlich nach vorne gerichteten Blick mit den anderen zusammen stets an einem einzigen Ort zu sitzen, ohne imstande zu sein, den Kopf umzuwenden und im vollen Kreis um sich zu schauen. Das aber, was im Augenblick der Befreiung mit ihm geschieht, ist höchst merkwürdig. Das Aufstehen und Sich-umwenden ruft sofort die blitzartige Verblendung und Verdunkelung seiner Augen hervor, und zwar sowohl der leiblichen als auch jener der Seele, woraus der kaum zu ertragende Schmerz und die kaum zu überwindende Angst entspringen sowie der unwider­ stehliche Drang, zum gewohnten Leben in der Hölle zurückzukehren. Was steckt in dieser äußerst eindrucksvollen Schilderung? Worauf stößt der von den Ketten gelöste Mensch, um solcherweise verblendet und von Schmerz und Angst so gewaltig überfallen zu werden? Die Antwort ergibt sich aus einer späteren Stelle im sieben­ ten Buch der Politeia12, die wieder auf Phaidon und die berühmte Geschichte von der »Flucht in die λόγοι« zurückweist. An allen diesen Stellen wird die streng philosophisch zu fassende »Weglosigkeit« (ἀπορία) ihrem Wesen nach dargestellt. Ohne darauf einzugehen, sei angedeutet, dass das Wesen der »Weglosigkeit« im Verlassen des ganzen Bereichs des im geläufigen Sinne genommenen Werdens und gleichzeitigem Übergang zum Bereich des Seienden besteht, was durch die entscheidende Frage »Was ist dieses da?« vollzogen wird. Alle sinnlichen Wahrnehmungen bzw. Empfindungen, allen voran 12

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jene der sogenannten Qualitäten, also von heiß und kalt, hart und weich, schwer und leicht usw., sind so verfasst, dass das empfindende Sinnesorgan, da es selbst ein und dasselbe ist, es dem Ganzen der Seele stets als etwas vermittelt, was das Eine und dasselbe ist, obwohl diese Empfindungen in Wahrheit nie ein bestimmtes Etwas ergreifen, sondern immer nur ein vorübergehendes Übergangsmoment des unaufhörlichen Fließens von einem der diesbezüglichen äußersten Gegensätze zum anderen. Wird aber der Seelenblick einmal dafür frei, dass in jede solche Empfindung gleichzeitig deren entgegenge­ setzte einfällt13, findet die Seele sich in höchste Verwirrung und Weglosigkeit gestürzt, aus der sie allein durch die Frage nach dem was das, was ihr da von den Sinnen vermittelt wird, eigentlich ist, herauszukommen hoffen darf. Was tut die Seele mit dieser Frage und was bringt sie damit zustande? Das ununterscheidbare, unaufhörliche Fließen der mitein­ ander vermischten Gegensätze, in dem alles in jedem Augenblick zugleich das Entgegengesetzte ist, also das Große zugleich das Kleine, das Schwere zugleich das Leichte usw., zwingt sie zum Anhalten und Stehen, um dann jeweils ein der in dieser Mischung enthaltenen Übergangsgrade gleichsam anzuhalten und abzuheben, damit auch von allen anderen abzutrennen, so dass es jetzt als das bestimmte, eine, dasselbe und von allen anderen verschiedene Etwas gelten kann. Während z. B. der Gesichtssinn das Große und das Kleine in der Weise sieht, dass in seine Sicht beide zusammenfallen und miteinander vermischt sind, werden sie vom Denken als geschieden und getrennt voneinander gesetzt, so dass jedes als das von allen anderen unterschiedene Eine gilt. Weiß man, dass nach zuverlässigen Berichten »Das Große-undKleine« (τò μέγα καὶ σμικρόν) und »Das Mehr und Weniger« (τò μᾶλον καὶ ἧττον) neben manchen anderen die bevorzugten Bezeichnungen Platons für sein zweites Prinzip waren, das der nachkommenden Phi­ losophie durch die stark modifizierende Vermittlung des Aristoteles unter dem Namen »Materie« (ὕλη) überliefert wurde*, während das erste Prinzip meistens als »das Eine« galt, dann wird offenkundig, dass in diesen anscheinend einfachen und fast trivial scheinenden Überle­ gungen jene schwere und im höchsten Maße ernst zu nehmende Lehre Platon, res publica 524e. Ausführlicher dazu in der Monographie des Verf. Chora. Über das zweite Prinzip Platons, Tübingen 2015. [Anm. zu dieser Veröffentlichung.].

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zu suchen ist, welche Platon nicht für geeignet hielt, um »wie die ande­ ren Lehren« mitgeteilt zu werden. Es ist bezeichnend, dass bei vielen eifrigen Befürwortern des sogen. esoterischen Platon Gadamer viel­ leicht der einzige war, der die zentrale Bedeutung dieser Stelle gesehen und zu ihrem vollen Verständnis auf die vielbesprochene Geschichte von der »Flucht in die logoi« im Phaidon hingewiesen hat.14 Damit haben wir eine vorläufige Antwort erlangt auf die uns bewegende Frage danach, was im Bereich des Denkbaren jenem entsprechen soll, was im Bereich des Werdenden als »Nacht« und »Erdenabgrund« der Sonne und ihrem Licht entgegenstehen müsste, auch wenn es im Sonnengleichnis unausgesprochen bleibt. Nach allem Gesagten ist es eben das reine Fließen, in dem es gar nichts Beständiges und damit auch Bestimmbares gibt. Sowohl die Einbil­ dung wie das Dafürhalten, der gesamte Höhlenbereich also, worin sich der Mensch den überlieferten Bräuchen der Vorfahren folgend in blinder Vertrautheit aufhält und von möglichem Wohnen im Freien keine Ahnung hat, zeichnen sich wesentlich dadurch aus, dass der Mensch sich darin den freien Blick auf das unendliche Fließen im Grunde, genauer Abgrunde des Alls ständig und gleichsam metho­ disch versperrt. Allerdings bezieht er sich stets mittelbar darauf – wie könnte er es nicht? –, und zwar vor allem in den auf den Tod bezogenen kultischen Handlungen der Opfer und rituellen Verschwörung. Aber sich damit unmittelbar und frei auseinanderzusetzen, wagt er nicht. Wie gesagt, die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem unendlichen Fließen, die im gewöhnlichen menschlichen Leben immer ausbleibt, ist das Wesentliche am sich befreienden Verabschie­ den des werdenden Bereichs. Darin lässt sich die Seele für einen Augenblick auf das unaufhörlich Fließende ein, schrickt aber im selben Nu vor der daraus entspringenden Verwirrung und Verblendung zurück und setzt dem unaufhörlichen Fließen das dauerhafte und bestehende, daher auch bestimmbare Seiende (οὐσία) zugrunde. Eben dadurch kommt der Verstand (διάνοια) als eine neue Gestalt des Seelenhaften zustande. Sein Wesen besteht darin, dass er sich bei allem, was er macht, bei jedem Betrachten, Fragen und Suchen, immer auf etwas Beständiges und Seiendes stützt, was er als allem zugrunde liegend annimmt, auf eine »Hypothese« also im ganz 14 Hans-Georg Gadamer, »Platons ungeschriebene Dialektik«, in: Gadamer et al. (Hrsg.), Idee und Zahl. Studien zur Platonischen Philosophie, Heidelberg 1968, S. 9– 30. Jetzt in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 6: Griechische Philosophie II, Tübingen 1985, S. 129–153, hier S. 138.

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buchstäblichen Sinne des Wortes. Sowohl die Mathematik und alle aus ihr entspringenden Wissenschaften als auch das Ganze des an den Verstand angelehnten Handelns beruhen letztendlich auf einer letzten Hypothese des beständigen und insofern stehenden Seienden. Das wird durch das griechische Wort für das Wissen ἐπιστήμη ebenso wie durch den deutschen Namen »Verstand« bezeugt, worauf übrigens schon Aristoteles und Hegel, jeder im Rahmen der eigenen Sprache, aufmerksam machten. In Abhebung davon wird die Philosophie weitergetrieben. Sie verlässt jedes Zugrundeliegende und nimmt vom Seienden als Beständigem Abschied. Alle Wissenschaften und das Ganze des vom Verstand geleiteten Handelns stufenartig auf ihre Grundsätze hin durchgehend und prüfend, sucht sie nach ihren verborgenen Hypothesen, um sie aufzuheben, in Bewegung zu bringen und in der freien gesprächsmäßigen Untersuchung einander gegenübertreten zu lassen. In diesem wahrhaft grundlosen Gespräch, das bei Platon den Namen »Dialektik« trägt, verfährt sie jedoch nicht beliebig und willkürlich, sondern wird von der einzigen Frage nach dem Ersten und Höchsten schlechthin richtungweisend getrieben, nach dem nämlich, was alles aus sich entlässt ohne selbst auf etwas zu beruhen. Nicht von den Hypothesen ausgehend nach vorne, sondern gleichsam hinter sie zurückschreitend, bewegt sie sich ganz im Lichten, Grundlosen und Freien in Richtung auf das schlechthin Voraussetzungslose. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Platon mit der Rede vom »auf keiner Hypothese beruhenden Anfang« (ἀρχὴ ἀνυπόθητος) in einer ande­ ren Wendung auf die Idee des Guten anspielt. Wie sie, ist auch dieser Anfang grundlos, an nichts angelehnt, und insofern »jenseits des Seienden« (ἐπήκεινα τῆς οὐσίας). Seine rätselhafte, befremdliche Seinsweise lasse sich vermutlich durch die in diesem Umkreis stän­ dig begegnenden Andeutungen darauf erraten, dass sein jenseitiges Über-Sein ausschließlich im Überfluss der freien, um des Anderen willen sich opfernden und verschwendenden Zeugung besteht. Wie schon die Analogie, schwebt insbesondere noch die »ana­ logische Zeugung« im Freien des Überflusses. Damit sind wir zum zweiten Teil unseres Vorhabens gelangt, worauf einzugehen hier nicht möglich ist. Es ist nicht zu verheimlichen, dass hier angesichts der unermesslichen Aufgabe nur ein winziger Schritt gemacht ist. Trösten wir uns mit dem Satz, den Platon selbst in seinem vermutlich späten Vortrag über das Gute in ähnlicher Hinsicht angeführt haben soll:

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Damir Barbarić

»Nicht nur der Glückliche, sondern auch der Beweisende muss im Gedächtnis behalten, dass er Mensch ist.«15

15 Vita Aristotelis,Marciana‘, herausgegeben und kommentiert von Olof Gigon, Berlin 1962, S. 69 f.: Δεῖ μεμνήσθαι ἄνθρωπον ὄντα οὐ μόνον τὸν εὐτυχοῦντα, ἀλλὰ καὶ τὸν ἀποδεικνύντα.

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Dietmar Koch

Das schönste Band und die Analogia Zu Platons »Timaios« (31b – 32c)

»Wenn der Kosmos schön ist und der Baumeister gut, dann ist es offenkundig, dass er auf das Stets-Bleibende geblickt hat; wenn aber jenes gilt [das andere] – was man nicht einmal aussprechen darf –, auf Gewordenes. Jedem ist doch nun klar, dass er auf das Stets-Bleibende geblickt hat; denn der eine ist das Schönste des Gewordenen, der andere die beste der Ursachen« (»Timaios« 29a, eigene Übersetzung). Die Bildung des gewordenen Kosmos als Werk des Baumeisters beginnt in der Erzählung des Timaios mit der Bildung des Allkör­ pers. Die zuvor ins Spiel gebrachten grundsätzlichen Charakterisie­ rungen des hervorbringenden Gestaltens des Demiurgen lassen sich in dem Gedanken verdichten, dass das Geordnete des Gewordenen aus dem Ungeordneten, also das gewordene Verbundene aus dem Unverbundenen kommt. Auch das Paradeigma des Ideenkosmos ist zu Beginn unverbunden mit dem Bereich der Ananke bzw. Chora und der Genesis. Diese grundlegende Figur bestimmt auch die Bildung des Allkörpers, der aus den zuvor unverbundenen Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde seine Konstitution erfährt. Diese Elemente sind zu Beginn der Erzählung zur Hervorbringung des Allkörpers bereits selbst schon mit Hilfe der Elementardreiecke konfigurierte Körper, wie wir aus dem zweiten Anfang des »Timaios« erfahren. Von daher wird auch unsere jetzt zur Diskussion stehende Passage zur Analogia uns nicht alles beantworten, was die Stelle an Fragen aufwirft – wir kommen bei einem bestimmten Punkt auf diesen Umstand zurück. Diese erste werkhafte Bildung im »Timaios« hat jedoch auch paradigmatischen Charakter für andere Bildungen, die zum sicht­ baren Kosmos gehören. Von daher hat sie über die Bildung des Allkörpers hinaus Gewicht. Dies zeigt sich vor allem an der Analogia. Schauen wir uns zuerst die Passage als ganze an: »Körperlich, sichtbar und berührbar muss das Gewordene sein, ohne Feuer aber

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Dietmar Koch

könnte niemals etwas sichtbar werden, und nicht berührbar ohne etwas Festes, nicht fest ohne Erde. Daher schuf der Gott den Körper des Alls, indem er damit begann, ihn aus Feuer und Erde zusammen­ zusetzen. Ohne ein drittes Element aber ist es nicht möglich, nur zwei passend zusammenzufügen. Es muss nämlich in der Mitte irgendein Band bestehen, das die beiden zusammenführt. Das schönste Band aber ist das, welches sich selbst und das Verbundene so weit wie möglich zu einem Einzigen macht; dies aber leistet natürlicherweise am besten eine Proportion. Denn wenn von drei Zahlen, seien es Raum- oder Flächenzahlen, sich die mittlere zur letzten so verhält wie die erste zur mittleren und umgekehrt die mittlere zur ersten so, wie die letzte zur mittleren, dann folgt daraus notwendig, indem die mittlere zur ersten und letzten wird, die letzte und erste hingegen beide zur mittleren, dass alles dasselbe ist. Wenn aber alles dasselbe geworden ist, dann ist alles miteinander ein Einziges. Wenn nun der Körper des Alls als Fläche ohne jegliche räumliche Tiefe hätte entste­ hen sollen, dann hätte ein einziges mittleres Glied genügt, die äußeren Glieder und sich selbst zusammenzubinden. Er sollte aber nun einmal körperlich sein, das Körperliche fügen aber immer zwei Mittelglieder passend zusammen, niemals ein einziges. So setzte der Gott Wasser und Luft in die Mitte zwischen Feuer und Erde und, indem er sie so weit wie möglich in Beziehung zueinander in demselben Verhältnis gestaltete, nämlich wie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde, band er sie zusammen und schuf sich so einen sichtbaren und greifbaren Himmel. Und deshalb wurde aus diesen so beschaffenen Elementen, vier an der Zahl, der Körper des Kosmos durch eine Proportion in Einklang gebracht, erschaffen und gewann hieraus freundschaftlichen Zusammenhang, so dass er, mit sich selbst eins geworden, durch keinen anderen als den, der ihn zusammenfügte, aufgelöst werden kann« (»Timaios« 31b-32c, Übersetzung Paulsen und Rehn; s. Anm. 1)1. Die Gestaltung des Allkörpers aus den bereits stereometrisier­ ten körperhaften Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde ist von Anfang an auf die Wahrnehmung bezogen. Der unaufhebbare und je und je gleichzeitige Zusammenhang von Wahrnehmendem, Wahr­ nehmen, Wahrnehmung, Wahrgenommenes und Wahrnehmbarem wird im Laufe des »Timaios« sukzessive eingeholt und erzählerisch 1 Platon: Timaios. Griechisch und Deutsch. Übersetzung Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. Stuttgart 2003.

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Das schönste Band und die Analogia

abgeschlossen mit der Bildung des nous-bestimmten und mit einem Leib ausgezeichneten Sterblichen, das heißt mit der Einführung des Todes in die Bildung des Kosmos. Begonnen wird also mit dem Wahrnehmbaren und abgeschlossen wird mit dem Wahrnehmenden bzw. dem Wahrnehmen. Der Demiurg hat dieses Ganze jedoch von Anfang an im Blick, wie die ersten Passagen zu erkennen geben. Die Konstitution des Allkörpers geschieht durch ein Ins-Verhält­ nis-Setzen der Elemente zueinander. Dieses kann jedoch erst gelin­ gen, wenn mindestens drei Elemente im Spiel sind, nur zwei würden dies nicht erlauben. Die Zwei ist die erste Vielheit und erbringt von sich her noch keine Einheit, so Platons Grundüberzeugung. Die Hintergründe dieser These zeigen auf ein Frag-Würdiges unserer Passage. Die hier auftauchende Bildungs- oder Fügungsfigur findet sich beispielsweise auch in Platons »Symposion«, wenn wir die Rede des Eryximachos im Blick auf die Heraklit-Kritik2 sowie die Rede der Diotima im Blick auf die Stellung des Eros heranziehen. Interpretie­ rend zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: das Unverbundene – in der Eryximachos-Rede das »einander Entgegengesetzte« – ver­ bindet sich nicht von sich aus, es bedarf immer einer eigenständigen Macht des Verbindens, die das Unverbundene zusammenbringt bzw. in ein Gefüge setzt. Dieses Verbinden lebt von einem Wissen, einem Gesehenhaben namens Techne. Techne ist Kompositionswissen, im Höchsten ist es musikalisches Kompositionswissen. Das Eine ist immer zuerst es selbst und das Andere ist auch immer zuerst und vorrangig es selbst und vollbringt nicht von sich aus die Beziehung zum jeweilig Anderen. Die einzelnen Elemente bleiben im Gefüge 2 »Das Eine, sagt er nämlich, das in sich entzweit ist, versöhnt sich mit sich selbst wie die Harmonie eines Bogens und auch der Leier. Es ist aber ein großer Widersinn zu sagen, die Harmonie sei in sich entzweit oder bestehe aus noch Entzweitem. Doch vielleicht wollte er dies sagen, daß sie aus dem vorher Entzweiten Höheren und tieferen, dann durch die Kunst der Musik in Einklang Gebrachten entstanden sei. Dem ohne Zweifel kann aus dem noch Entzweiten Höheren und Tieferen keine Harmonie bestehen. Harmonie ist nämlich Einklang, Einklang aber eine Art Übereinstimmung. Übereinstimmung aber unter Entzweitem ist unmöglich, solange es noch entzweit ist; das Entzweite und nicht in Einklang Stehende wiederum kann keine Harmonie bilden. So steht es beim Rhythmus, der aus dem Schnelleren und dem Langsameren, vorher auseinander Strebenden, danach aber in Einklang gebrachten entsteht. Zum Einklang aber verhilft all dem, wie dort die Heilkunst, so hier die Musik, indem sie ihm gegenseitige Liebe einpflanzt; und so ist denn die Musik eine Wissenschaft von der Liebe in Bezug auf Harmonie und Rhythmus.« (»Symposion«187a–c; Platon: Symposion. Griechisch und Deutsch. Übersetzung Barbara Zehnpfennig. 2. Auflage. Hamburg 2012).

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auch stets als sie selbst erhalten, es geht nie um eine Verschmelzung, stets um Einbindung. Von daher müssen sie erst zueinander in ein Verhältnis gesetzt oder gebracht werden. Die Diotima-Rede bringt als Bedingung dafür, dass Sterbliche und Unsterbliche in eine Verbindung treten können, das Daimonion des Eros ins Spiel, das eigentümliche Zwischen, das erlaubt, dass Sterbliche und Unsterbliche sich durch diese vermittelnde Mitte begegnen können.3 Das erotische Daimonion – selbst unvergänglich, aber kein »Gott« wie die Aphrodite, weil es von einem Entzugsmo­ ment bestimmt wird – vermag an beiden Anteil zu haben, so dass eine Verbindung möglich wird.4 Von daher müsste analog – in der Flä­ chenbetrachtung unserer Passage – das dritte Element die Verbindung von Feuer und Erde erlauben, weil es selbst an beiden auf eine Weise Anteil hat. Die Anteilhaftigkeit wird jedoch erst mit der Konfiguration durch die Elementardreiecke beantwortbar. Platon benennt dieses dritte Element in der Flächenbetrachtung nicht mit Namen. Das Offenlassen mag darin begründet sein, dass es letztlich nicht um eine geometrische, sondern um eine stereometrische Bildung geht, also an der Flächenbetrachtung überhaupt nur das Sichbilden einer Einheit aus der kleinstmöglichen Vielheit, der Zwei, grundsätzlich erläutert wird. Das Schwergewicht liegt also darauf, dass die kleinstmögliche Einheit aus der kleinstmöglichen Vielheit notwendigerweise drei Ele­ mente verlangt, wenn es stimmt, dass zwei nicht ohne ein Drittes mit einander verbunden sein können. Die kleinstmögliche Einheit wäre also im Blick auf unsere Passage die Fläche. Auch das Stereometrische macht von der Grundfigur des Ersten, der Mitte und dem Äußersten bzw. Letzten Gebrauch, nur dass die Mitte nicht aus einem Element besteht, sondern selbst aus zwei, um aus der Quadratdimension in die Kubikdimension zu kommen. Von daher ist auch hier die Dreiheit das Einheitsermöglichende. »S: Was wäre denn also Eros? Etwas sterblich? / Di: Keineswegs / S: Aber was dann? / Di: Wie vorhin zwischen Sterblichem und Unsterblichem. / S: Was also, Diotima? / Di: Ein großer Dämon, Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und Sterblichem. / S: Und welches Vermögen hat es? / Di: Zu übersetzen und zu überbringen – den Göttern was von den Menschen kommt, und den Menschen, was von den Göttern kommt: von dem einen Gebete und Opfer, von den anderen Anordnungen und Vergeltungen der Opfer; und da es in der Mitte zwischen beiden steht, ergänzt es sie, so dass das Ganze in sich selbst verbunden ist« (»Symposion«, 202d–e, Übersetzung Zehnpfennig; s. Anm. 2). 4 Dieses Entzugsmoment des Eros erlaubt bzw. verlangt ein »Je und Je«. 3

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Das schönste Band und die Analogia

Dass etwas miteinander verbunden wird, ist schöner als wenn es unverbunden bliebe. Der Demiurg ist gut – also durch die Idee des Guten maßgebend bestimmt – und vermag deswegen, wie unser Eingangssatz sagte, etwas Schönes durch Verbinden oder Zusammen­ fügen (Synarmottein) hervorzubringen. Das schönste Band ist nun das Dritte, das anderem erlaubt eine Verbindung einzugehen, dadurch dass es sich auch selbst in die Verbindung einbringt, genauer eingebracht wird. Im Flächenbeispiel: a² zu b² wie b² zu c² (wenn b² = n x a² und c² = n² x a²).5 Dies kann beispielsweise mit den Zahlen a = 2, b = 6, c = 18 und wenn n = 3 durchgespielt werden. Dieses Dritte als schönstes Band wird aber einzig durch oder mittels einer Analogie vollbracht, griechisch apotelein. Das dritte Element wird also erst durch das Ins-Verhältnis-Setzen zu der Mittel­ position, zu dem Dritten als dem Verbindenden zwischen den zweien. Das Grundverhältnis der Einheit muss also notwendigerweise aus zwei Verhältnissen bestehen. Oder anders ausgedrückt könnten wir auch sagen: ein Verhältnis besteht immer aus zwei Beziehungen mit einem gemeinsamen Mittelglied. Die Analogie ist nicht das Band, sondern erlaubt einem Verbindenden – dem Demiurgen in seiner Güte, seinem Bestimmtsein von der Idee des Guten – allererst durch das Analogisieren etwas miteinander in Verbindung treten zu lassen – Symbainein, um mit einem häufigen Ausdruck aus dem »Parmenides« zu sprechen. Einheit ist Einheit der Analogie. Durch die Analogie ergibt sich ein homologes Gebilde, die Elemente sind jetzt als homologe Elemente – wie es in unserem Text heißt – miteinander befreundet (philia). Dies ist besser und schöner, als wenn sie es nicht währen. Die Elemente sind nun als Teile der Einheit etwas »Gleiches«, sie sind Homoia. Das unverbundene Viele wird durch das Analogisieren hindurch zu einem verbundenen Vielen als eine sich gebildet habende Einheit: »[…] wie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde« (32b). Dieses analogisierende Synarmottein ist zugleich rhythmisierend – Harmonia und Rhythmos spielen zusammen. 5 Von drei Zahlen a, b, c bzw. a², b² (nach dem Text ist auch das Mittelglied eine Quadratzahl) c² verhält sich »a zu b wie b zu c« oder »b zu a wie c zu b« oder »c zu b wie b zu a« oder »b zu c wie a zu b« (wenn b = n x a und c = n² x a) bzw. a² zu b² wie b² zu c² (wenn b² = n x a² und c² = n² x a²). So kann die mittlere Zahl (b bzw. b²) die erste und letzte Stelle einnehmen, die letzte (c bzw. c²) und die erste (a bzw. a²) aber die Mittelposition.

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Dietmar Koch

Das Einheits-Vielheits-Verhältnis – stereometrischer Allkörper aus vier stereometrischen aber zuvor unverbundene Elementen – wird hier im Kontext eines hervorbringenden Einigens von unver­ bundenem Vielem vorgestellt. Das Einigen erbringt das HomoionBestimmte der Elemente, erzeugt Verwandtschaft. Das grundlegende Spannungsverhältnis beruht also in der Beziehung zwischen Homoion und Anomoion – Verwandtem und Unverwandtem bzw. Gleichem und Ungleichem. Im weiteren Verlauf der Bildung des Allkörpers kommt die Kugelgestalt und die Kreisgestalt ins Spiel – als die vollkommensten aller Gestalten –, weil der Demiurg »das Gleiche [Homoion] für tausendmal schöner als das Ungleiche [Anomoion] hielt« wie es im »Timaios« in 33b heißt. Die Ungleichheit als Unverbundenheit spielt im Mythos der zwei Weltperioden im »Politikos« – und nicht nur im »Timaios« – eine entscheidende Rolle im kosmischen Geschehen. Blicken wir als Beleg auf folgende Stelle: »Solange sie [die Weltordnung, der Kosmos] daher unter Aufsicht des Steuermannes [Kybernetes] ihre lebendigen Bewohner ernährt, erzeugt sie in ihnen nur wenig Schlech­ tes und viel dagegen Gutes. Ist sie aber von jenem getrennt, so besorgt sie in der nächsten Zeit nach ihrer Freilassung noch alles aufs herrlichste; je weiter aber die Zeit vorrückt und Vergeßlichkeit sich einschleicht bei ihr, um so mehr nimmt auch überhand der Zustand der alten Verwirrung, welcher am Ende der Zeit vollkommen aufblüht, so daß sie nur aus wenig Gutem und einem großen Anteil des Entgegengesetzten jede Mischung zusammensetzend in Gefahr des Verderbens gerät, sie selbst und alles in ihr. Weshalb denn alsdann schon der Gott, welcher sie eingerichtet hat, wenn er sie in diesen Nöten erblickt, aus Besorgnis, daß sie nicht zertrümmere und durch die Zerrüttung gänzlich aufgelöst in der Unähnlichkeit [Ungleichheit: eis ton tes anomoiótetos apeiron onta ponton dýe] unergründlichem Meer [Textvariante: Ort] versinke, sich selbst wiederum an das Ruder stellend, alles, was erkrankt und aufgelöst ist, durch Umwendung in den ihm eigentümlichen Umlauf wieder in Ordnung bringt und so alles wieder bessernd die Welt unsterblich und unveraltet darstellt« (»Politikos« 273 c–e; Übersetzung nach Schleiermacher)6.

6 Platon, Politikos. Griechisch und Deutsch. Werke in acht Bänden. Herausgegeben von Gunther Eigler. Band 6. Darmstadt 1970.

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Das schönste Band und die Analogia

Auflösung lässt Ungleichheit entstehen, Verbindung hingegen Gleichheit und somit Einheit und Gestalthaftigkeit. Der entschei­ dende Punkt besteht nun darin, dass im »Timaios« die Kreisbewegung diejenige Bewegung ist, die alles Gestalthafte, alles miteinander Verbundene, hervorgehen lässt und so die Homoion-Verhältnisse aus dem Anomoion hervorbringt. Die Kreisbewegung ist eine Bewe­ gung, die mit sich selbst zusammenkommt oder sich mit sich selbst zusammenschließt, das heißt: sie ist diejenige Bewegung, die ein Ankommen kennt (Telos, siehe hierzu auch das Apotelein aus unserer Zentralpassage). Das Einigen oder Vereinigen eines Vielen zu einem entfalteten Einen ereignet sich stets in oder durch eine Kreisbewe­ gung. Die Bildung des Allkörpers hebt bei der unentfalteten ganzheit­ lichen Stereometrie des Körperlichen an und kommt bei der durch die Verbindung der vier Elemente erreichten entfalteten stereometrischen Körperlichkeit des Ganzen an. Platon lässt im »Timaios« nun die Kreisbewegung selbst aus zwei Bewegungen hervorgehen: aus der Drehbewegung und der Vorwärtsbewegung, wobei die Drehbewegung die Vorwärtsbewegung beherrscht.7 Die Drehbewegung ist die Bewegung des Selben um sich selbst. Das Selbe ist in unserem Fall der stereometrische Allkörper, der bei seiner Bildung durch die vier körperhaften Elementen im Kontext ihrer Analogisierung – also die Analogisierung des Vielen zu einem Einen – die Bewegung des Fortschreitens von einem zum anderen beherrscht. Der mögliche Allkörper und der vollbrachte Allkörper gehören einer Kreisbewegung an – der vollbrachte Allkörper ist – wie gesagt – etwas in einer rhythmisierenden Kreisbewegung Erzeugtes. Die Selbigkeit des Allkörpers wird zu einer Einheit durch seine Vielheit. Die Kreisbewegung ist dann vollendet, wenn die Selbigkeit als das Herrschende über eine Vorwärtsbewegung durch die bestimmte Vielheit zu dieser bestimmten Einheit geworden ist. Dies ereignet sich nur in der Kreisbewegung. Diese erzeugenden Kreisbewegungen bringen immer Einheiten hervor, die zugleich einzig sind. Die Kreisbewegung zeichnet sich dadurch aus, dass der sich bewegende Punkt auf der Kreislinie immer gleich weit vom Mittel­ 7 Die Stelle, die diese Deutung begründet, findet sich in der Einführung der krei­ senden Sternbewegung durch den Demiurgen: »An jeden Stern heftete er zwei Bewegungen: die eine an derselben Stelle auf immer diese dieselbe Weise, wobei er bei sich selbst immer dasselbe über dasselbe dachte; die andere nach vorne, beherrscht von dem Umlauf des Selben und Gleichen« (»Timaios« 40 a–b; Übersetzung Paulsen u. Rehn; s. Anm. 1).

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Dietmar Koch

punkt entfernt bleibt. Philosophisch übersetzt bedeutet dies: die Drehbewegung, die die Vorwärtsbewegung beherrscht, muss in jedem Augenblick die ruhende Einheit überhaupt – also den Kreismittel­ punkt – im Blick haben, damit die jeweilige Einheit – hier der vollbrachte Allkörper – durch das verhältnishafte Zusammenspiel der vier Elemente – zustande kommt. Der Kreismittelpunkt ist zudem natürlich auch für die vielen Kreisbewegungen im Kontext einer Kugelgestalt die bleibende und ruhende Mitte. Der Mittelpunkt ist – mit Philolaos gedacht – als das Hen überhaupt das gebändigte Herdfeuer. Der Nous des Demiurgen vermittelt so die Drehbewegung mit der Vorwärtsbewegung in stän­ digem Blick auf die Einheit überhaupt. »Das erste Zusammengefügte [Gefügte, harmosten], das Eine (Hen), in der Mitte der Kugel heißt »Herd (Hestia)« (DK 44, B 7, Übersetzung Gemelli)8. Nebenbei gesagt: Dass das ruhende Hen in der Mitte schon verhältnishaft gedacht wird, – arithmetisch gesprochen: die Eins als die Einheit von Geradem und Ungeradem –, gibt dem Phänomen der Verhältnishaf­ tigkeit ein weiteres dimensionales Gewicht. Die Schönheit des Ideenkosmos als Paradeigma für die Schönheit des gewordenen und sichtbaren Kosmos ist nicht die ganze Schönheit, ist nicht das Holon. Die ganzheitliche Schönheit zeigt sich einzig im sichtbaren Kosmos – er ist das Eschaton von allem; jenseits dessen gibt es nichts, weil der Demiurg in seiner Güte und Neidlosigkeit alles in dem Werk eingebracht hat, was es gibt. In Bezug auf das Ganze (Holon) ist der sichtbare Kosmos dem Ideenkosmos gegenüber nicht mangelhaft, sondern überlegen. Freilich wird diese Überlegenheit nur verstanden, wenn der Aufbau durch den Demiurgen in der Bewegung von »oben herab« erblickt wird. Das heißt: dies eröffnet sich einzig denkend aus dem Paradeigma des Ideenkosmos, der durch den verbin­ denden und analogisierenden Demiurgen hindurch die Genesis als das reine Werden sowie Ananke bzw. Chora beherrscht.

8 Die Vorsokratiker. Bände I bis III, Griechisch-Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von: Laura Gemelli Marciano. Düsseldorf 2007, Band I, S. 145.

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Das schönste Band und die Analogia

»Und so wollen wir denn sagen [so Timaios], dass unsere Untersu­ chung jetzt ihr Ende erreicht hat; indem nämlich dieser Kosmos sterb­ liche und unsterbliche Lebewesen in sich aufnahm und mit ihnen ange­ füllt wurde, entstand er als ein sichtbares Lebewesen, das die (anderen) sichtbaren umfasst als ein wahrnehmbarer Gott, ein Bild des mit dem Denken Erfassbaren, als größter, bester, schönster und vollendetster einer Himmel hier, der einzigartig ist« (»Timaios« 92c; Übersetzung auf der Grundlage von Paulsen u. Rehn; s. Anm. 1).

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Virgil Ciomoş

Das Physische, Physiologische und Analogische in der aristotelischen Beschreibung der Sinneswahrnehmung

1. Vorwort: Über die zweite Spur des Seins. Viel früher als die Neuzeit vermochte Aristoteles nicht nur den unbestimmten Charakter des Seins im Allgemeinen1 denkerisch zu würdigen, sondern auch die »besondere« Natur desjenigen privile­ gierten Seienden, das der Mensch ist: das, gemäß der aristotelischen Definition, »unvollendete«, un-fertige Lebewesen. Anders gesagt: ein Seiendes, genauso unbestimmt wie das Sein selbst. Und tatsächlich ist das Sein einerseits keine Kategorie, nicht einmal eine privilegierte, wie die ousía: das Wesen (substantia für die Scholastiker)2 stellt einen Ausgangspunkt dar, der radikal genug ist, um, mehr als zwei Jahrtau­ sende im Voraus, auf die kantischen Paralogismen der reinen Vernunft vorzugreifen. Andererseits aber, obwohl der Mensch in der Regel durch dasjenige berufen (be-stimmt) ist, was an ihm das Edelste aus­ macht – durch den noûs als Ort aller intelligiblen Formen – kann sein definiens für Aristoteles nicht mehr eine besondere, bestimmte Form annehmen. Das, was für uns in diesem bestimmten Zusammenhang interessant wird, ist die Tatsache, dass diese Un-bestimmtheit des intelligiblen definiens, des Menschen, sich auf den untersten Ebenen seiner ontischen Verfasstheit wiederfindet. So wird das scheinbar pri­ * Eine leicht veränderte Fassung dieses Textes erschien in Ciomoș, Virgil, Être(s) de passage, Bukarest, 2008, Kap. 1.1. Der Ausdruck »allgemein« meint hier nicht eine allgemeine Bestimmtheit, sondern im Gegenteil, die ontologische Unbestimmtheit. 2 Pierre Aubenques Beiträge (s. Le problème de l’être chez Aristote, Paris, 1962), in denen mit unbestreitbaren Textnachweisen die vollkommen unaristotelischen Miss­ verständnisse von Sein und Wesen (essentia) und sowie von Wesen und hypokeimenon aufgedeckt werden, sind bis heute für die Forschung maßgebend. 1

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Virgil Ciomoş

vilegierte Seiende, das der Mensch ist, in Wirklichkeit vollkommen unvorbereitet, (unvollendet, unbestimmt), den großen Herausforde­ rungen (d. h. den Gefahren) der Natur ausgeliefert: er kann sich nicht auf eigenen Füßen fortbewegen und besitzt auch keine Zähne, um sich alleine zu ernähren. Mehr als das, selbst im Erwachsenen zeigt sich seine Ernährungweise als unbestimmt (un-spezifisch) – denn der Mensch ist, bekannterweise, ein Omnivore, ein Allesfresser. Auch seine Sexualität manifestiert sich genauso un-bestimmt, (un-eigen­ tümlich) im Verhältnis zum (bestimmten) kosmischen Zyklus der Jahreszeiten – im Unterschied zum Paarungsverhalten der anderen Tiergattungen, das immer zyklisch d. h. bestimmt ist. Es scheint, als ob, paradoxerweise, die geistige, zuletzt auftretende, finale Kraft des Menschen, eben in seiner natürlichen, anfänglichen Hilfslosigkeit gründe3 … Deshalb sind die zugleich logischen (ante rem) und ontologischen (in re) Beziehungen zwischen dem Sein im Allgemeinen und allen anderen, bestimmten (vom menschlich Seienden unterschiedlichen) Seienden, ta onta, nicht von der Art einer einfachen Homonymie, was eine Rückkehr zum klassischen Platonismus voraussetzten würde bzw. zu einem ontisch-ontologischen hiatus zwischen Sein und Sei­ endem4. Die Verhältnisse sind aber auch nicht von der Art einer einfachen Synonymie, wie sich aus der Perspektive der aristotelischen vulgata schließen ließe5, die zum Beispiel als Verwechslung von Sein und Wesen (oder Substanz) definiert werden könnte, Quelle aller späteren Onto-theo-logien. Im Gegenteil: das, was Aristoteles hier vorschlägt, ist eine Paronymie6, als Antizipation (eine, die u. E. noch unausreichend gewürdigt wurde) einer analogia entis die, eigentlich, neu zu definieren wäre7, als die einzige Form eines Verhältnisses, 3 Siehe Le problème …, X, 46, beziehungsweise Rémi Brague, Aristote et la question du monde, Paris, 1988, S. 247–250. 4 Es ist zwar immer möglich, bei Platon im Sinne eines prosagoreîn zu sprechen, aber nicht auch von einem kategoreîn (wobei kata kontextgemäß eine bestimmte Verteilung des Allgemeinen unter das Besondere bezeichnet). 5 Ein oft anzutreffendes Missverständnis ist die Verwechslung der Kritik des Aris­ toteles am klassischen Platonismus mit einer Art,,Überwindung« der Homonymie zwischen Idee und ihrem eikon, dem sinnlich gegebenen Gegenstand, durch ihre einfache Synonymie. 6 Siehe die Definition zu Beginn der Kategorien. 7 An anderer Stelle habe ich dies gezeigt, s. vor allem Timp şi Eternitate. Aristotel, Fizica IV, 10–14. Interpretare fenomenologică, Bukarest, 1998 (dt. Zeit und Ewigkeit – Aristoteles, Physik IV, 10–14 eine phänomenologische Interpretation) – dass die

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das eine transversale, un-kategoriale Annäherung an die Kategorien ermöglichen könnte. Die sehr wichtige Tatsache, dass beispielsweise in der Metaphysik8 Aristoteles das Verhältnis zwischen dem EinenSein und den vielfältigen von diesem abkünftigen Seienden mit demjenigen zwischen den Begriffen, die einen gemeinsamem Wort­ stamm (als Urstamm) teilen, vergleicht, beziehungsweise, mit dem Verhältnis zwischen den abgeleiteten Begriffen, die unter einer jeweils anderen Kategorie fallen, lässt nicht nur auf einen ontologischen Aus­ ganspunkt avant la lettre schließen, sondern lässt auch die Möglichkeit zu, dass ein privilegiertes Analogon des Seins selbst, auf der Ebene des Seienden, zu finden wäre. In diesem Fall, auf der Sprachebene. Wir treffen hier auf die gleiche analogische Vorgehensweise, die Aristoteles nicht nur für die Definition der Verhältnisse zwischen dem Sein und den Kategorien benutzt, sondern auch für die Definition der Verhältnisse zwischen den Kategorien untereinander: selbst wenn das Sein keine Kategorie ist, gibt es unter den Kategorien eine privilegierte, die, vermittels der Analogie: pròs hén, die Rolle des Seins übernehmen kann, nämlich das Wesen (protè ousía), als diskursives Subjekt aller anderen Prädikabilien (predicamenta). Aus diesem Gesichtspunkt ist die große Herausforderung, die Aristoteles für sich angenommen zu haben scheint, diejenige, die möglichen Analogien zwischen der ersten und der zweiten Philoso­ phie zu suchen. Seine Grundfrage, die in einem gewissen Sinne sogar platonischer ist als Platons Fragestellung, bleibt die folgende: Wie genau lassen sich Wesenheiten wiederfinden (erkennen, vernehmen), wenn sie bereits als eine bestimmte Materie aktualisiert (heutzutage würde man sagen: phänomenalisiert) wurden? Demzufolge ist es ihm nicht genug, die Existenz intelligibler Ideen einfach zu behaupten, wie es Platon tut. Es gilt nun, zu beweisen, dass ihrer Präsenz nichts entrinnen kann, nicht einmal die sinnliche Immanenz der natürlichen Gegenstände. Folglich, mehr sogar als es für Platon der Fall ist, dem Lehrer, für den die Wissenschaft noch immer die regelmäßige Bewegung der Gestirne bedeutete und folglich auf ihre Geometrie Kritik G. L. Muskens an den Thomisten und Neuthomisten mit Bezug auf die analogia entis vom Text her Grenzen aufweist. Siehe De vocis analogiae significatione ac usu apud Aristotelem, J. B. Wolters, Groningen, 1946. Tatsächlich gibt es mindestens zwei Texte im Corpus Aristotelicum, die die Verwendung der Analogie im Sinne des pròs hén bezeugen. 8 Vgl. Arist. Metaphysik, IV, 1003 a 33 – b 5.

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beschränkt blieb, versucht Aristoteles eine zweite Spur der Präsenz des Seins zu finden, nämlich eine seines unbestimmten Charakters und zwar auf der Ebene der phýsis selbst. In der Physik gelingt es dem Stagiriten, den Himmel platonischer Ideen auf die Ebene der irdischsten aller Seienden hinab zu befördern. Die platonische chôra des Kosmos (die chôra des Timaios) wird hier so zum abgrenzenden tópos eines jeden einzelnen Naturdinges; tò exaíphnès (von welchem der Parmenides spricht) wird selbst, zum tò nýn, Grenze – peíras – jeder natürlichen Zeitverfassung, während die platonische Vollkom­ menheit der Bewegung der Gestirne, zum abgrenzenden télos einer jeden natürlichen Bewegung, als entelécheía9 umdefiniert wird. Auf diese (fast phänomenologische) Art und Weise, werden Ort, Zeit, sogar Bewegung zu Themen, welche einer philosophischen (zweiten) Untersuchung würdig sind. Und dieses eben weil es ein unbestimmtes Analogon der Omnipräsenz des Seins gibt, den tópos, der, selbst ohne Ausdehnung, nicht mehr der Räumlichkeit zugehörig ist, jedoch aber dessen physische (un-bestimmte) Grenze darstellt, und weil es zweitens ein eigentümliches, doch unbestimmtes Analogon der Ewigkeit des Seins gibt, tò nýn, das, da darin keine Zeit ein- oder auf­ gehen kann, nicht mehr der Zeitlichkeit zugehörig ist, und trotzdem dessen physische unbestimmte Grenze darstellt. Schließlich, bietet ein besonderes unbestimmtes Analogon der Unbewegtheit des Seins (des ersten Beweggrundes) einen Anlass zur weiteren Untersuchung: der tópos der Entelechie, der, da sich innerhalb seiner keine Bewegung ereignen kann, nicht mehr der Bewegung angehört, jedoch trotzdem seine physische (unbestimmte) Grenze darstellt. In dem, was folgt, werden wir versuchen, den gleichen Sachverhalt auch in Bezug auf die Größe, dem letzten der vier Grundbegriffe der aristotelischen Physik, nachzuweisen, und zwar anhand der Qualität des Sinneskörpers, besser gesagt, des Leibes als Eigentum der Sensibilität.

2. Über den Übergang von der Physik zur Physiologie Wenn für Aristoteles jeder bestimmte Erkenntnisakt in seiner Teilung zwischen einem (ontischen) Subjekt und einem Objekt ein anderes »Subjekt« voraussetzt, ein unbestimmtes Subjekt (das eigentliche 9 Siehe M. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis, Aristoteles, Physik B, 1 1939, Martin Heidegger Gesamtausgabe Band 9, S. 239 ff.

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ontologische Subjekt, und zwar, to hypokeimenon) das unter (hypo) den konträren Prinzipien steht, wie ein un-bestimmtes Drittes (siehe Arist. Physik), dann geht daraus hervor, dass, wie spezifisch unsere Wahrnehmung nun auch sei, in ihrer Konstitution an der Grenze zwischen dem sinnlichen Gegenstand und dem sinnlichen Subjekt, die sinnlich-unspezifische »Spur« des anderen ontologischen (apper­ zeptiven) Subjektes in jeder der Spezies ihrer eigenen Sinnlichkeit, präsent sein muss. Laut Aristoteles stellt eine solche Präsenz die fundamentale, vorlaufende, immer unspezifische Charakteristik aller Sinnlichkeit dar, abgesehen von ihrer Bestimmtheit und sie steht letztendlich (d. h. verallgemeinernd) für dasjenige Vermögen, das man üblicherweise Gemeinsinn (koine aisthesis) nennt. Die Notwen­ digkeit einer solchen zweiten Präsenz, in und mittels der Seele, in ihrer undeterminierten Qualität, selbst auf der Ebene der Sinnlichkeit, bestätigt das implizite phänomenologische Engagement des Aristo­ teles. Übrigens ist es regelrecht erstaunlich zu bemerken, dass der Stagirit in seiner Abhandlung Über die Seele nicht über die Seele »als solche« spricht, sondern eher über ihre »phänomenologischen Projek­ tionen« (wie wir es heute ausdrücken würden), das heißt über die pflanzliche, tierische Seele, usw. Die Seele selbst erweist sich immer schon als die Entelechie eines lebendigen Körpers, mit anderen Wor­ ten ist sie eine verleiblichte Seele. Was auch die psyche zu einer Art macht und nicht zu einer Gattung – hos eidos somatos physikou (Über die Seele, II, 1, 412 a 20–21). Das heißt, dass das eigentliche Faktum der Inkarnation die Gattung Seele (in dem doppelten Sinne des Wortes, das sowohl genos wie auch genesis im Wortlaut mitschwingen lässt) verwandelt, trans-formiert und zwar in eine »Art«-Seele (Aristoteles, Metaphysik, Buch VII), genauer gesagt, eine »spezifische« Seele, welche sich, letztendlich, als eine Art unbestimmter Bestimmtheit erweist (und zwar, durch die Verleiblichung der Gattung Seele). Wir werden also im Folgenden das jeweilig bestimmte Analogon der see­ lischen Unbestimmtheit innerhalb jeder Spezies, die ihre Sensibilität konstituiert, finden müssen. Der Unterschied zwischen der Seele »an sich« und der spezifisch bestimmten Seele greift auf eine andere, viel bekanntere, vor, nämlich auf die Differenz anima–animus. Anders gesagt, jede Psychologie, und an sich, jedwelches unbestimmte logi­ sche Prinzip (das die Psyche schon impliziert) wird eine bestimmte Physiologie und, als solche, ein körperliches (sinnliches) Analogon voraussetzen müssen, und zwar eines, das genauso unbestimmt ist, wie das oben erwähnte, logische Prinzip.

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Bevor wir nun zu der Erläuterung dieser ungewöhnlichen Auf­ fassung von den Sinnen und von der Sinnlichkeit voranschreiten, müssten wir, auch wenn nur in aller Kürze, gemeinsam mit Aristo­ teles, bei der untersten Ebene dieser Projektionen ansetzen, um, phänomenologisch gesprochen, von den,,Sachen selbst« ausgehen zu können. Und wahrlich, damit eine sinnliche Erkenntnis möglich wird, müsste zuerst das Sein selbst auf der Ebene der sinnlichen Gegenstände vertreten bzw. »eingeschrieben« worden sein. Die Phy­ sik geht immer der Physiologie voran. Mit anderen Worten und prä­ ziser ausgedrückt setzt die Philosophie zuerst die Medizin und diese ihrerseits die Physik voraus (vgl. Arist. Über die Seele, 436 a). Indes­ sen, um ein unbestimmt »Drittes«, das allen Dingen, selbst unter den entgegengesetzten, nicht nur den unterschiedlichen zugrunde liegt, zu verorten, müssen wir dieses dritte Prinzip, eben an der Stelle, die ein Grenzbereich zwischen den Dingen selbst darstellt, ausfindig machen. Dieser Bereich ist keine einfache topologische Grenze (das heißt eine, der die Dimension fehlt), sondern eine einigermaßen »ausgedehnte«; sie ist also wirklich, physisch, topisch, und nur als solche sinnlich-empfindlich [und sie wird] umdefiniert, als unspezifischer Zwischenort gegenseitiger Bestimmung unter den Dingen. Die bestimmten physischen Gegenstände existieren immer innerhalb unspezifischer physischer Medien. Nur so, d. h. nur durch Affizierung dieser unspezifischen Anwesenheit physischer Medien können uns (physische) Gegenstände ihre sinnlichen Bestimmun­ gen erfahren lassen. Wenn somit der Physiologie ein physisches Analogon entspräche, dann müsste das physiologische Medium sein Analogon in einem physischen Medium wiederfinden. Fast könnte man sagen, dass die unbestimmte Seele eben dank dieses Umstandes thematisch werden kann, dass sie analogisch gewissen (d. h. unspe­ zifischen) physischen Medien entspricht. Oder, umgekehrt ist es gerade die Wirklichkeit unspezifischer Medien der physischen Welt, die innerhalb einer gewissen Phänomenalisierung eine Vorstellung der unbestimmten Realität unserer »metaphysischen« Seele möglich macht. Überhaupt ist diese Art des Vorgehens gar nicht vereinzelt bei Aristoteles aufzuweisen. Wir finden sie, unter anderem, in der Abhandlung Über den Himmel vor. Wenn sich alle bestimmten phy­ sischen Gegenstände in einem unbestimmten Himmel »eingehüllt« wiederfinden, der alles Seiende umfasst, alle Sterne einschließend (Aristoteles macht eine Unterscheidung zwischen dem sinnlichen Himmel, der eine topische Wirklichkeit hat, und dem Himmel haplos,

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dessen Sinn ein topologischer ist), so liegt es nahe, diesen unspezi­ fischen Himmel als ein physisches Analogon der Seele zu betrach­ ten, die ihrerseits alles Seiende »umhüllt« (periechein). Mehr sogar, wenn das »natürlich« Seiende von einem ihm eigentümlichen topos, »umhüllt« wird, könnte man sogar vermuten, dass der topos des Seienden seinen eigenen »irdischen« Himmel darstellt. Der unspezi­ fische (unbestimmte) Himmel haplos wird also immer abhängig von dem Spezifischen des jeweiligen irdischen topos, »verteilt«. Nur auf diese Weise ist eine Physik überhaupt möglich und, im Allgemeinen, eine darauffolgende Philosophie (die für Platon eigentlich noch nicht möglich war, dessen Erkenntnisinteresse sich auf die Bewegungen der Gestirne beschränkte). Es geht in diesem Fall sogar darum, jenseits der topologischen Analogie vorzudringen, im Sinne einer anderen, topischen Analogie, welche die Natur, sogar noch direkter, aufnimmt. Und wahrlich findet sich, wie vorher erwiesen, das dritte Prinzip sein Analogon eher aufgrund der Medien, welche zwischen den Seienden existieren. Und diese Wahl ist keinesfalls eine unerwartete, weil, wenn sich die Dinge bewegen, ihr topos immer »ent-rückt« wird (laut Aristoteles bringt die Bewegung die Dinge und implizit, ihren topos dazu, sich in Ek-stase zu begeben, ekstasei (laut Arist. Phys. IV, 12, 221 b 3), um an ihrem (Bewegungs-)telos anzukommen, ihrer Entelechie, oder an ihrem unbeweglichen Ankunftsort. Durch die Bewegung streben die Dinge ihrem »Ort« zu, eben weil sie sich nicht da befinden, wo sie sich, entsprechend ihrer eigentümlichen Daseinsweise, zu befinden hätten, nämlich an einem durch die oben erwähnte Ek-stase »ent-rückten« Ort. Die Sachen, warnt uns Aristo­ teles, sind nicht »an sich« selbst, eben weil sie in Raum und Zeit, und somit in Bewegung sind. (Das ist auch die Weise, in der das In-(etwasanderes-)Sein für Aristoteles zum logischen und ontologischen, alles zugrundeliegenden Verhältnis wird, das am schwierigsten zu fassende Verhältnis überhaupt, (vgl. Arist. Physik, I, 189 a 30 – 189 b 5).) Daher ist keine gegenständliche Bewegung möglich, außerhalb eines nicht gegenständlichen Mediums, das dazu da ist, um die Bewegung selbst und somit ihre Entelechie zu sichern. Von diesem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet, folgt weiter, dass, wenn das Sein selbst akategorial ist, es sich sein Analogon nicht in einem bestimmten Gegenstand, sondern eher in einem unbestimmten Medium finden wird, d. h. in einem »Inter-medium«, einem Zwischenbereich der Gegenstände. Und da apperzeptive Erkenntnis Bezüge impliziert, die gewöhnlich als Beziehungen zwischen dem Erkenntnissubjekt

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und dem zu erkennendem Objekt definiert werden, wird sich das physische Medium als ein privilegiertes Analogon konstituieren und gleichzeitig als ein auf »unterster Stufe« fungierendes Prinzip der Erkenntnis, das an sich die Seele selbst ist. Da kein Prinzip des Prinzips und auch keine Seele der Seele möglich ist, existiert an sich auch kein »Medium des Mediums«: … ein Grund-Satz darf aber nicht von etwas schon Vorliegendem ausgesagt werden, denn dann gäbe es ja einen Grund des Grundes. Das Zugrundeliegende ist doch der Anfang, und es scheint vor dem von ihm Ausgesagten zu liegen. Weiter, wir behaupten, dass ein Ding nicht einem Ding entgegengesetzt sein kann. Wie sollte dann aus Nicht-Dingen Ding (herleitbar) sein? Oder, wie sollte Nicht-Ding grundsätzlicher sein als Ding? Also: wenn jemand die frühere Beweisführung für richtig halten will, und diese nun auch, so ist es notwendig – wenn man sie doch beide retten will –, etwas Drittes zugrunde zu legen, in dem Sinne, wie jene sprechen, die da behaupten, das Welt-Ganze sei ein einziger Naturstoff, z. B. Wasser oder Feuer oder ein Stoff, der mitten ihnen liegt. Dabei spricht mehr für dieses Mittlere; denn Feuer, Erde, Luft und Wasser sind bereits mit Gegensätzlichkeiten verflochten. (Arist. Phys. I.189 a 30 – 189 b 510)

Das stärkste Argument zugunsten der Wichtigkeit physischer Medien ist die Tatsache, dass in ihrer Abwesenheit keine Empfindung mehr möglich ist: Das Sehen geschieht ja, indem das Wahrnehmungsfähige etwas erlei­ det. Unmöglich jedoch durch die sichtbare Farbe selbst. So bleibt also nur übrig, daß es durch das Medium geschieht, so daß es notwendig ein Medium geben muß. Wenn dieses leer wird, so wird nicht nur nicht deutlich, sondern überhaupt nichts gesehen. Aus welchem Grunde also die Farbe notwendig im Licht gesehen werden muß, ist hiermit gesagt. Das Feuer wird in beiden, sowohl im Dunkel als auch im Licht, gesehen, und dies aus Notwendigkeit; denn das Durchsichtige wird durch das Feuer durchsichtig. Dieselbe Begrün­ dung gibt sich auch beim Schall und Geruch. Keines von ihren Objekten bewirkt, wenn es das Wahrnehmungsorgan berührt, die Wahrneh­ mung, vielmehr wird vom Geruch und vom Schall das Medium erregt

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und von diesem jedes der beiden Wahrnehmungsorgane. (Arist. Über die Seele, II, 7, 419 a 18–35.11)

Daher besteht die Fähigkeit der Medien, Wahrnehmungen, von wel­ cher Sorte auch immer, zu ermöglichen, eben in der Tatsache, dass sie an sich keine »Qualitäten« aufweisen. Die Medien, die Zwischen­ stoffe, welche bestimmte wahrnehmbare Qualitäten vermitteln, kön­ nen als solche keine spezifischen mehr sein: »Was Farbe aufzunehmen vermag, ist das Farblose, was Schall, das Schallose« (Arist. Über die Seele, 418 b 26–2712).

3. Der Übergang von externen Medien in das Innere der Sinneswahrnehmung Wäre Aristoteles hier stehengeblieben, wäre er noch nicht mit den Prinzipien der viel späteren Phänomenologie der Wahrnehmung in Übereinstimmung gewesen. Damit ein Reiz in eine apperzeptive Selbstaffizierung übergeht und schließlich zu einem Erkenntnisakt wird, muss diese Affizierung eine dem Subjekt und Objekt gemein­ same gewesen sein. Die Folgerung des Stagiriten betreffs der Notwen­ digkeit einer physischen Affizierung des Vermögens der Sinnlichkeit mittels der erwähnten Medien muss also wieder aufgenommen wer­ den, und zwar auch im Falle der physiologischen Selbstaffizierung, die dem apperzeptiven Medium eigentümlich ist. Denn, gemäß der Analogie, kann in Abwesenheit unspezifischer Medien, d. h. durch einen direkten physischen Reiz, der auf die apperzeptive Sinnlichkeit ausgeübt wird, keine Wahrnehmung erzeugt werden. Dementspre­ chend ist die Selbstaffizierung unmöglich in Abwesenheit des geeig­ neten Mediums, des vermittelnden Zwischenstoffs. Im Unterschied zur Affizierung durch äußere, unspezifisch-physische Zwischenstoffe muss das geeignete Medium, in einem zweiten Anlauf, ein unspezi­ fisches, inneres d. h. physiologisches Medium affizieren. Das eben bedeutet die Selbstaffizierung: ein zweites Affiziertwerden vermittels eines internen Zwischenstoffes. Es folgt, dass der Erkenntnisakt eine Art Verinnerlichung von elementar externen, physischen Medien darstellt, in Form von elementar internen, physiologischen Medien. 11 12

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Und wenn die kosmischen Elemente (d. h. die von Aristoteles als Zwischenstoffe umdefinierten Prinzipien) den Makrokosmos bilden, wird dessen Erkenntnis nur vermittels eines Analogons möglich gemacht, und das ist der menschliche Körper selbst, gemäß seiner unspezifischen Ausdehnung umdefiniert als der Mikrokosmos. Der apperzeptive Körper wird also zu einer Art »Falte«, einem Effekt einer mikrokosmischen Zurücknahme und »Faltung« des Makrokos­ mos; einem internen Selbstbezug mit reflexivem Wert, was noch einmal den so wertvollen topologischen Intuitionen der Physik und der Metaphysik Rückhalt gibt. So wie bereits angedeutet, konnte Aristoteles als Sohn eines Arztes sowohl die Verknüpfung zwischen der Wahrnehmung natürlicher Gegenstände und Medizin als auch diejenige zwischen Physik und Physiologie nicht ignoriert haben: Der Naturphilosoph muss auch die Anfangsgründe von Gesundheit und Krankheit in seine Betrachtung einbeziehen, denn weder Gesund­ heit noch Krankheit kann leblosen Wesen zukommen. Daher werden auch die meisten Naturphilosophen letztlich zu medizinischen Fragen geführt, während die Ärzte, die ihr Handwerk philosophisch betreiben, von Fragen bezüglich der Natur ausgehen. Alle genannten Erscheinun­ gen haben ihren Ursprung in der Seele und im Körper gemeinsam, das ist klar … “ (Arist. Über die Wahrnehmung und die Gegenstände der Wahrnehmung 436 a 18 – 436 b 3. Übers. Eugen Dönt)

Die Zusammensetzung – to synolon – von Leib und Seele ist nicht das Ergebnis einer einfachen Nebeneinanderreihung der beiden zwei. Hier ist gar nicht mehr die Rede von einer Art »reinen« Seele, welche als solche (d. h. unverändert) vom Himmel »abgestiegen« wäre, um, gleich einem Gefangenen, einen »fremden« Körper zu »bewohnen«. Eigentlich verändert die Verleiblichung die allgemeine, un-bestimmte Seele in eine spezifische, aber genauso unbestimmte Seele. Analogisch wird hier nicht mehr die Rede sein von einem (an sich toten) Körper, welcher nachträglich von einer (himmlischen) Seele »animiert«, beseelt wäre. Durch seine Geburt ist der physiolo­ gische Körper ein lebendiger Körper, ein Leib. Nur ein solcher (ein lebendiger) Leib kann zur gleichen Zeit empfinden wie seine Seele. Die Physiologie der Sinne kann nur bestätigen, dass an Stel­ len, wo keine geeigneten (das heißt verinnerlichte) Medien oder Zwischenstoffe auftreten, auch keine Wahrnehmungen entstehen können. In Abwesenheit solcher Medien, welche mittels einer phy­ sisch-physiologischen Analogie das externe Affizieren in ihrem Inne­ ren durch ein Selbstaffizieren nachbilden können, werden beispiels­

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weise die Pflanzen nur auf eine »materielle« Weise affiziert. Sie werden, anders gesagt, von externen Stimuli (Reizen) »alteriert«, verändert, modifiziert. Das Gleiche widerfährt den Tieren, und zwar wenn die Intensität des Reizes unerträglich wird. Was wiederum die Notwendigkeit der Bewahrung des Differenzierungsprozesses beweist, der von der physischen Affizierung vorausgesetzt wird, und zwar innerhalb der Grenzen physiologischer Normalität, zum Zwecke der Sicherung von Identität und Kontinuität zwischen dem externen Affiziertwerden und der internen Selbstaffizierung. Wir werden also, mit Aristoteles, auf der Ebene der Sinnlichkeit eine fundamentale Alternanz, einen Wechsel zwischen Identität und Differenz neu definieren müssen: Erstes (eigentliches) Sinnesorgan ist das, worin sich ein solches Sin­ nesvermögen befindet. machen dasselbe aus, doch ist ihr Sein verschieden, denn wäre das Wahrnehmende eine ausgedehnte Größe. Das eigentliche Sein des Wahrnehmungsfähigen wie auch der Wahrnehmung ist jedoch nicht Größe, sondern ein gewisser Begriff (Verhältnis) und Vermögen jenes (Organs). Daraus wird auch offenbar, warum die Übermaße der wahr­ nehmbaren Eigenschaften die Wahrnehmungsorgane zerstören; denn wenn die Bewegung stärker als das Organ war, so löst sich das begriffliche Verhältnis auf – dieses war aber die Wahrnehmung –, wie auch Zusammenklang und Ton , wenn die Saiten zu stark angeschlagen werden; und warum die Pflanzen nicht wahrnehmen, obwohl sie doch einen Seelen-Teil (-Vermögen) haben und von dem Tastbaren selbst etwas erleiden; denn sie werden kalt und warm. Der Grund davon ist nämlich der, daß sie keine wahrnehmungfähige Mitte und kein derartiges Prinzip haben, das die Formen des Wahrnehmbaren aufzunehmen vermag, sondern sie erleiden mit der Materie. (Arist. Über die Seele, II, 12, 424 a 25 – 424 b 3 Übers. H. Seidl.)

Aristoteles deutet hier etwas ziemlich Außergewöhnliches an, näm­ lich dass es gar keine andere Möglichkeit gäbe, die Seele für sich selbst (in ihrer als solcher behaupteten Einheit) thematisch zu fassen, außer der effektiven, sinnlichen Differenzierung zwischen einem externen, (physischen) Zwischenstoff und einem internen, physiologischen. Im Falle der Pflanzen macht die Abwesenheit eines solchen empfindli­ chen internen Mediums eine Thematisierung ihrer Seele praktisch unmöglich. Ähnlich sollten wir festhalten, dass das Wesen des ana­ logen Verhältnisses zwischen einem Äußeren, die Physik der Affi­

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zierung, und einem Inneren (die Physiologie des Selbstaffizierens) in einer Möglichkeit besteht, genauer, in dem gleichzeitig möglichen und konkreten Vermögen, das die Seele selbst zu sein scheint. Was auf die Schlussfolgerung drängt, dass es, ohne die implizite Anwesenheit einer gewissen Form »in Potenz« und somit, eines rein noetischen Vorgriffes, kein analoges Verhältnis zwischen den physischen Reizen und ihren analogen, physiologischen Abbildern geben könnte. Zwischen dem sinnlichen Gegenstand und dem ihm zugeordne­ ten Sinn besteht nicht lediglich eine physische Differenz, sondern auch eine physiologische Identität, die auf die apperzeptive Einheit des Wahrnehmungsaktes (und der von ihm vorausgesetzten Analogie) zurückgeht. Aus dieser Perspektive ist es wesentlich, dass es eine gewisse Logik, eine gleichzeitig »mögliche« und »konkrete«, gibt, die innerhalb aller Physiologie (was die Sinneswahrnehmung angeht) am Werke ist und die auf eine Analogie zurückzuführen ist, d. h. auf eine doppelte Negation des Logos: eine erste Negation, welche dem Logos, der im äußeren Bereich »eingeschrieben« (festgehalten) wurde, eigentümlich ist, beziehungsweise eine zweite Negation, die des im Inneren »eingeschriebenen« [oder festgehaltenen] Logos. Die »Symphonie« zum Beispiel, oder der (analogische) Modus, vermittels dessen der Gehörsinn funktioniert, ist kein einfacher Effekt der physischen Laute, welche direkt von Außen her auf das Ohr einwirken würden. Das Gehör ist wahrhaftig eine »Sym-phonie« zwischen einer externen Affizierung und der internen Selbstaffizierung, eine Symphonie zwischen dem, »objektiven« Laut – der durch das äußere Medium der Luft weitervermittelt wird – und dem »subjektiven Laut« – der durch ein internes Medium vermittelt wird, der Luft im Mittelohr (das »vermittelnde« Ohr). Es ist hier nicht die Rede über ein einfaches Problem einer »-phonie«, sei diese extern oder intern, sondern über eine Ko-inzidenz, eine Übereinstimmung im Akt zwischen der externen und internen Schwingung. Einerseits existiert eine paronymische Kontinuität zwischen den beiden Medien, dem externen und dem internen, andererseits wird der externe Laut durch Homonymie wiedergegeben, als »interner« Laut. Genauer ist die Kontinuität zwischen den zwei Arten von Lauten durch die Diskonti­ nuität im Trommelfell gekennzeichnet, das zum Analogon des emp­ findlichen Körpers wird, das (jedes Mal) umdefiniert wird, als eine Art »Grenzlinie« zwischen dem Inneren und Äußeren. Wir werden in diesem Kontext über zwei Spezies des »Ohrs« sprechen können: das Innenohr, das Ohr des Menschen und somit des Mikrokosmos

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und das äußere Ohr, das Ohr der Natur, des Makrokosmos. Wir können die Natur »hören«, weil sie (uns) »zuhört«. Und umgekehrt sind ihre (externen) Laute, eigentlich, jedes Mal Laute, die unser Mit­ telohr wiedergibt (mittels der Knochen, die es zusammensetzen). Das physiologische Echo wird zum Widerhall des physischen Echos. Als weitere Folge dieses Sachverhaltes kann ohne diese Ortsverlegung, ohne eine Verdoppelung der Ortschaft der Laute zu einem externen Medium und einem internen, analogen, keine Seele an sich existieren, die für sich als wahrnehmungsfähige thematisiert werden könnte.

4. Die Analogie der Physiologie als Mimesis. Die Membran. Was das Sehen betrifft, gibt es an sich kein Auge, das in Abwesenheit des Lichtes sehen könnte, d. h. ohne interne Durchsichtigkeit. Analog stellt das äußere Licht nur die Bedingung dar für das Funktionieren des »externen Auges«, desjenigen der Natur. Die Wahrnehmung physischer Größen und deren Verhältnisse hat, zum Beispiel, nichts mit ihrer strengen Wiedergabe (d. h. in der gleichen Größenordnung) in einem internen, physiologischen Medium zu tun. Sie zielt, im Gegenteil, auf ein analoges Verhältnis zwischen den äußeren Größen und ihre Zusammensetzung und den inneren Größen und deren Artikulation. Wir betrachten zum Beispiel das Verhältnis innerhalb der Analogie des Raumes. Eine exakte Wiedergabe externer topischer Größen, wie sie innerhalb des externen Mediums manifest werden, das durch die natürliche Durchsichtigkeit der Luft gesichert wird in einem internen Medium, das durch die Durchsichtigkeit des Glaskör­ pers im Auge reproduziert wird, wird in der Regel in einem Gleich­ heitsverhältnis unmöglich sein, weil ja die meisten Körper die viel kleinere Dimension des menschlichen Auges übertreffen. Deshalb wird die Größe nur als interner Effekt eines rein analogen Verhältnis­ ses zwischen einer Äußerlichkeit und einer Innerlichkeit wahrnehm­ bar: Denn Größen und Entfernungen denken wir nicht dadurch, dass wir, wie es manche vom Sehen behaupten, unser Denken zu den Objekten aussenden (wir denken ja ebenso an nicht existente Dinge), sondern durch eine analoge Denkbewegung: in ihr spiegeln sich die Formen und Bewegungen der Objekte. Worin besteht nur der Unterschied, wenn man an größere Objekte denkt, zwischen dem Denken an diese und dem an kleinere? Die Bilder im Inneren der Seele sind immer

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kleiner, und zwar proportional zu den äußeren Objekten. Vielleicht ist es möglich, in sich selbst ein Analogon – wie zu den Wahrnehmungs­ gegenständen – auch zu den Zeitenabständen zu finden«. (Arist., Über Gedächtnis und Erinnerung … 452 b 7–7. Übers. Eugen Dönt)

Die implizite Noetik der Empfindung (die wir bereits oben angezeigt haben) deutet auch auf ein analoges Verhältnis hin. Bevor sie etwas erblicken können, sehen Kleinkinder nichts Bestimmtes bis auf das Medium selbst (die Transparenz), in dem etwas Spezifisches, Bestimmtes allererst auftreten könnte. Dieses unbestimmte Sehen setzt auch kein bestimmtes Blicken voraus. Um überhaupt einen Fokuspunkt auszubilden, um sich zu konzentrieren (und also zu differenzieren), muss sich der Blick erst in Analogie zu dem Zu-Erblickenden, dass aber noch nicht »gesehen« wurde, konstituieren. Andererseits aber, wie im Falle des Gehörs, ist das, was für sich »angeschaut« wird, kein von Außen her »Sichtbares«, sei dies ein sichtbares Medium oder ein innerhalb dessen sichtbarer Gegenstand, sondern ein Inneres, sei dies ein sichtbares Medium oder ein innerhalb dessen sichtbarer Gegenstand. Wenn die Seele »nach außen« schaut, blickt sie eigentlich auf ein Inneres, genauer, auf das flüssige Medium des eigenen Auges. Die Seele schaut auf den Makrokosmos indem sie eigentlich den Mikrokosmos anschaut. Wären folglich die externen physischen Medien des Makrokosmos nicht mittels der inneren physio-logischen Medien des Mikrokosmos (das wir selbst jeweils ›sind‹)»verinnerlicht«, wäre auch kein Sehen und kein Erblicken möglich. Diese können erst dann tatsächlich wirken, wenn eine Kontinuität zwischen dem äußeren elementaren Medium und dem inneren elementaren Medium besteht: … wie soll sich das Innere mit dem Äußeren verbinden, wenn die Membran dazwischen ist? Ohne Licht gibt es kein Sehen; das haben wir anderswo erörtert. Doch mag es nun Licht oder Luft sein, was zwischen dem Gegenstand und dem Auge vermittelt, die Bewegung durch dieses Medium hindurch ist es, die das Sehen bewirkt. Und natürlicherweise besteht das Innere des Auges aus Wasser. Denn das Wasser ist durchsichtig, und Sehen setzt sowohl außerhalb wie innerhalb des Auges Licht voraus. Das Innere muss daher durchsichtig sein, und zwar Wasser, da es nicht Luft ist. Denn die Seele oder das Wahrnehmungsvermögen der Seele liegt nicht an der Oberfläche des Auges, sondern deutlich innerhalb des Körpers. Diese innere Region des Auges muss daher durchsichtig sein

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und aufnahmebereit für das Licht. (Arist., Über die Wahrnehmung und die Gegenstände der Wahrnehmung, 438 b1–11. Übers. Eugen Dönt)

Das Sehen wird zum inneren Reflex einer äußeren Transparenz und somit zum analogischen Übergang zwischen den beiden. In den beiden zitierten Paragraphen besteht das Wesentliche einerseits in dem Zusammenhang, den Aristoteles zwischen Sehen und Bewegung, herstellt; eigentlich schaut sich die Seele unmittelbar nur diejenigen Bewegungen an, die sich innerhalb des Auges abspie­ len. Andererseits ist es nicht das Auge, das Erblickende, sondern die Seele, die die Sicht besitzt (»Denn die Seele oder das Wahrnehmungs­ vermögen der Seele liegt nicht an der Oberfläche des Auges, sondern deutlich innerhalb des Körpers«, ebd. Arist., Über die Wahrnehmung und die Gegenstände der Wahrnehmung, 438 b1–11. Übers. Eugen Dönt.) Das heißt, dass die Seele nicht mit dem internen Medium des Sehvermögens verwechselt werden kann, als sinnlicher »Teil« eines »Ganzen«. Wie wir im Falle des Vorgangs des Sehens beobachten konnten, kann aber die Seele an sich auch nicht für ein äußeres Medium gehalten werden (sie »geht« nicht aus dem Körper »heraus«, um zu den Gegenständen zu gelangen). Die Seele kann eher als eine Membran gedeutet oder vorgestellt werden, und zwar im Sinne eines sekundären Effekts (der einer Faltung oder Rückfaltung, einer »Doppelung« zweier durchsichtigen Medien, des externen, bzw. des internen). Wir haben es hier mit einem außergewöhnlichen Bild zu tun, der den Gedanken eines Seins qua Übergang mit Bezug auf ein Selbstbewusstsein (so wie dieser von Hegel in der Phänomenologie des Geistes, vor allem im dritten Kapitel über Kraft und Verstand definiert wird) antizipiert. Im letzten Fall überwindet das Selbstbe­ wusstsein die Dichotomie zwischen der Innerlichkeit des Inneren eines Verstandes an sich und die Innerlichkeit »der Äußerlichkeit« eines Dinges an sich. Nun, im Falle des Aristoteles ist es die zwischen den Bewegungen bestehende Analogie (die der äußeren Gegenstände und die der inneren, der Augen des sehenden Subjektes eigentümli­ chen Bewegungen), die das gemeinsame kinetische Schema der zwei Bewegungen, die physische und die physiologische, thematisieren kann. Dieses zeigt sich als eine, »reine« Möglichkeit, als eine rein formale Macht (oder Kraft, im Falle Hegels), obwohl sie, dank ihrer Wirkungskraft, in gleichem Maße auch als konkrete, aktualisierte Möglichkeit wahrgenommen wird: eine die, zu gleicher Zeit, sowohl als äußere Bewegung, im externen Medium, wie auch als innere Bewegung, im internen Medium, auftritt. Wenn es stimmt, dass die

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Bewegungen an sich entweder äußerlich sind oder aber innerlich, so kann das ihnen gemeinsame Schema weder extern noch intern sein. Eben weil sie auf das Formale hindeutet (auf den Bereich des Möglichen), übertrifft das Schema der Bewegung jede spezifischbestimmte, materielle Bewegungsart. Der aristotelische Text bestätigt dies: die Definition des Schemas selbst tritt in einem noetischen Kontext auf. Der zwischen dem Äußeren und Inneren bestehende Isomorphismus schafft nichts anderes, als dass es über die Differenz hinweg die Identität der einen und gleichen Form, morphe, themati­ siert. Die aristotelische Bedeutung der Mimesis besteht also weder in der einfachen Darstellung eines nachzuahmenden Gegenstandes (eines Vorbildes) noch in einer Repräsentation, der Wiedergabe desselben, sondern in der Mächtigkeit, in dem Prinzip, das jede Darstellung und jede (ab)bildende Wiedergabe ermöglicht. Weil bei Aristoteles dem Analogon des Schemas der Bewegung die physische Membran entspricht, die sich an der Grenze (und somit, im Übergang) vom Äußeren zum Inneren befindet, und weil ihrerseits die Grenze dieses Überganges prinzipiell ohne eigene Ausdehnung ist, kann das wahre Vorbild nicht mehr der materiellen Welt zugehörig sein, weder einer reell-äußeren noch einer imaginär-inneren. Und dennoch, ohne dieser Doppelung der Welt in einer physischen, externen Wirklichkeit und einer inneren, physiologischen, besteht für uns keine Möglichkeit einer Thematisierung der noetischen (logischen) Form. Folglich wird die Annahme externer Medien als interne Medien zur natürlichen Bedingung der Möglichkeit der Thematisierung der Seele als solcher, die somit »jenseits« der Unterscheidung von Innen und Außen veror­ tet wird. Mit anderen Worten würde dies heißen, dass die Möglichkeit einer Psychologie eben dieser Differenzierung zwischen einer Physik und einer Physiologie innewohnt.

5. Die körpervermittelte Selbstaffiziertheit der Seele. Der Tastsinn. Wie aus dem vorher Gesagten zu schließen ist, kommt dieser Art der Differenzierung eine doppelte Natur zu: eine gegenständliche und eine andere, nicht-gegenständliche. Einerseits wird der Vorgang in unserer physiologischen Innerlichkeit verortet und andererseits in der physischen Äußerlichkeit der Natur: ihre unspezifischen Medien

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erlauben eine Vielfalt von Phänomenen und Empfindungen. Derselbe Vorgang findet nun auch zwischen den unbestimmten Medien selber statt, genauer, als ein Differenzierungsprozess zwischen äußeren und inneren Medien. Auch bevor wir formal, noetisch, dank einer erkennenden Seele, die Unterscheidung machen zwischen dem, was sich aus dem Gesichtspunkt der Sinneswahrnehmung »äußerlich« abspielt, und dem, was »innerlich« vorgeht, als Einbildung, können wir mittels unseres Leibes zwischen dem unterscheiden, was physisch, und dem, was physiologisch stattfindet. Das physiologische, gegen­ ständliche Analogon, das wir im Inneren des eigenen Körpers nach­ bilden, dasjenige, mittels dessen wir sein äußerlich-gegenständliches Analogon nachahmen, stellt eine »horizontale« Nachahmung dar, die eine »vertikale« Perspektive voraussetzt, die den ungegenständli­ chen Schemata eigentümlich ist, die sich jenseits einer Distinktion Innen-Außen befinden. Durch diese ungegenständliche Differenzie­ rung kann das Prinzip der Analogie selbst, das Analogiestiftende, thematisiert werden, das die Seele selbst ist. Folglich werden wir in diesem Fall behaupten können, dass sich die Seele als Ent-diffe­ renzierung (eine gleichzeitig universale, wie auch »konkrete«) der Differenz zwischen den externen und internen Medien konstituiert. Der Ent-differenzierung der Seele entspricht somit eine ontologische Differenzierung einer ontischen Differenz. Was den Körper betrifft, so zeigt sich dieser als ein innerer Mikrokosmos, ein Abbild des äußeren Makrokosmos. Was noch zu klären bleibt, ist das schwierige Problem des Status der Körper-Membran, die eine Grenze innerhalb eines Überganges zwischen Außen und Innen darstellt. Nehmen wir den aristotelischen Gedankengang wieder auf. Die Erörterung der Seele setzt an (oder »innerhalb«) der Grenze die Über­ einstimmung zwischen äußerem Affiziertwerden und innerer Selb­ staffizierung voraus. Die seltsame Gleichzeitigkeit zwischen Außen und Innen, die, gegen ihre scheinbare Materialität, eine konkrete Möglichkeit formeller Natur mit voraussetzt, gibt Anlass dazu, einen für Aristoteles besonderen Sinn zu untersuchen, den Tastsinn: ein der Grenze selbst eigentümlicher Sinn. Die Sonderstellung dieses Sinnes ist den Interpreten nicht entgangen. Zuallererst, weil Aristoteles den Tastsinn als den ersten unter den Sinnen betrachtet, als den allen anderen zugrundeliegenden Sinn, der allen Lebewesen zukommt. Tatsächlich kann letztlich das Leben selbst nur mithilfe einer Differen­ zierung Innen-Außen begriffen werden. Es ist der Tastsinn, der diese Scheidung und die Grenze zwischen den beiden Bereichen setzt, weil

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das Charakteristische dieses Sinnes eben dasjenige ist, keine konkrete Bestimmung für sich zu besitzen. Das macht ihn gewisserweise zu einer Art Analogon aller spezifischen Sinne. Gegen Ende der Abhandlung Über die Seele behauptet Aristoteles: »Eigentlich arbeiten auch die anderen Sinne mit Berührungen, nur sind es mittelbare, allein der Tastsinn scheint mit dem bloßen Tasten auszukommen.« (siehe Arist., Über die Seele, III, 13, 435 a 18–19 Übers. Paul Gohlke). Mit anderen Worten wird der Sinn, der sich selbst mitempfindet, durch sich selbst affiziert. Eben diese Einzelstellung im Vergleich zu den anderen Sinnen macht den Tastsinn zum spezifischen Analo­ gon der un-bestimmten Seele, die sich auch selbst bewegen (d. h. durch sich selbst affiziert werden) kann. Das Auge sieht sich selbst nicht, das Gehör kann sich selbst nicht hören und der Geschmack kann sich selbst nicht schmecken. Nur der Leib (als Ganzes) ver­ mag sich selbst und durch sich selbst zu berühren (affizieren), als Objekt-Subjekt und nur auf diese Weise ist es ihm auch möglich, andere Gegenstände zu berühren. Dies ist es, was den unbestimmten Charakter der »Bestimmtheit« des Tastsinnes ausmacht: wenn wir einen Gegenstand berühren, berühren wir uns selber. Dies entspricht einer Wiederkehr der Affizierung als Selbstaffizierung. Unsere Sinne haben alle einen bestimmten Charakter, obwohl sie jedes Mal ein elementares (unspezifisches) Medium voraussetzen, damit sich ihre Bestimmtheit kundgeben kann. Aber die Sinne funk­ tionieren dank der Organe, die sich als Teile eines Leibes konstituie­ ren, der als unspezifische Ganzheit neu definiert wird. Wenn der Leib kein un-spezifisches Organ der Seele wäre, könnten seine spezifischen Teile wiederum nicht allesamt Teile einer und derselben Seele sein. Vielmehr besteht der besondere analogische Charakter, der dem Tastsinn zukommt, eben in dem Spezifischen dieser Unbestimmtheit der Selbstaffizierung in der der Reflexion, der Widerspiegelung des Leibes in und durch den Körper hindurch. Wie bereits erwähnt existiert im Unterschied zu den anderen (spezifischen) Sinnen kein spezifischer Vermittler, was den Tastsinn angeht. Das Tasten findet durch Kontaktnahme, ohne Zwischenraum, statt. In diesem Sinne könnte man behaupten, das dem Tastsinn eigentümliche Medium sei, sozusagen, das reine Nichts. Diese Thematisierung des Nichts (ein Nichts, das für den Kontakt vorausgesetzt ist) ist eine Darstellung des Wesens der Unbestimmtheit des Leibes und dessen eigensten Sinnes, des Tastsinnes als Fähigkeit der Selbstberührung. Das »natürliche« Nichts, welches, aus einem ontischen Gesichtspunkt, die Seele ist,

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erscheint symbolisch mittels des Tastsinnes, dessen Hauptfunktion eben diejenige ist, die Grenze zu thematisieren, d. h. die gemeinsame Grenze zwischen Leib (Mikrokosmos) und Welt (Makrokosmos). Das Nichts dieser Grenze durch ein Vereinzeltes (Partikuläres) zu symbo­ lisieren, macht die Unbestimmtheit des Tastsinnes aus. In diesem Punkt ist Aristoteles wahrhaftig außergewöhnlich: Sein Gedanken­ gang bringt, gar nicht zufällig, eine zentrale Thematik ins Spiel, eine, die wir bereits angesprochen haben, nämlich die der atopischen Grenze, durch die hindurch uns dasjenige, was »jenseits« von uns waltet, in das »hiesige« erscheinen kann. Wie das exaiphnes des platonischen Parmenides ein atopon ist und die chora des Timaios, eine reine Grenze, so auch der telos der aristotelischen Entelechie (das, die Bewegung ermöglichende, Unbewegte). Wie könnte man anders diese Grenze thematisieren und an sich phänomenalisieren, wobei »das Phänomenale« hier mit dem »Körperlichen« synonym zu lesen ist, und folglich mit der Größe (dem vierten Grundbergriff der Physik) eine Grenze, die, einer Ausdehnung prinzipiell mangelnd, keine eigene Korporalität mehr haben kann? Wie genau kann der Leib ein Medium darstellen, für die Thematisierung der eigenen Grenze im Verhältnis zu der zu ihm in Kontakt stehenden Welt? Die Antwort des Aristoteles stellt einen genialen Einfall dar: durch die Betrachtung des Leibes selbst als »Grenze«.

6. Die Thematisierung der Grenze durch Verleiblichung der Seele. Die Hand. Da jede Wahrnehmung eine physiologische Wiederholung des Affi­ ziertwerdens durch ein physisches Analogon voraussetzt, setzt ihrer­ seits die Vermittlung eine äußere und eine innere Doppelung der Mitte des Mediums selbst, ein Intermedium voraus. Indessen, da es für den Tastsinn kein un-spezifisches externes Medium gibt (dank des vorausgesetzten Kontaktes ist die taktile Wahrnehmung eben durch die Abwesenheit jeder Vermittlung charakterisiert), folgt, dass es auch kein unspezifisches, internes Medium gibt, das diesem zukommen würde. Wenn es jedoch eine gewisse »Äußerlichkeit« und »Innerlichkeit« geben muss, da auch im Falle des Tastsinnes ein zu erkennendes Objekt und ein erkennendes Subjekt existieren müssen, kann ihr Verhältnis zueinander (das zwischen der Sinnlichkeit, und beziehungsweise dem Sinnlichen) nichts anderes als ein unkörperli­

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ches Analogon voraussetzen, das aber in einer körperlichen Weise thematisiert wird – ein Analogon, welches nichts Anderes sein kann, als die gemeinsame Grenze zwischen Seele und Welt. Auch wenn der Leib (in seiner Qualität als Gesamtheit interner Organe) objektiv an der Welt teilhat, als einer ihrer Gegenstände, so wird er jetzt (taktil) eben in dieser anderen Qualität, als Analogon einer Seele, affiziert (und somit als Subjekt). Angesichts dieser doppelten Affizierbarkeit, die gleichzeitig das Objekt und das Subjekt anvisiert, folgt, dass der Leib selbst (da er von der Taktilität vorausgesetzt wird) gleichzeitig ein externes Analogon der Innerlichkeit und ein internes Analogon der Äußerlichkeit darstellt. Seine Grenze, sowohl die äußere wie auch seine innere oder, besser gesagt, weder die äußere noch die innere, deutet immer auf ein Gemeinsames hin: das Gemeinsame des Äußeren der Innerlichkeit und beziehungsweise der Innerlichkeit des Äußeren. Anders gesagt: die Grenze, die von dem taktilen Kontakt vorausgesetzt wird, ist, gleichzeitig sowohl die Äußerlichkeit des Leibes im Verhältnis zur Welt wie auch die Innerlichkeit der Welt im Verhältnis zum Leib. Auf diese Weise wird der Leib eben zum Analogon der Grenze zwischen dem Physischen (der Welt) und dem Metaphysischen (der Seele): Hinsichtlich der Frage, ob das Sinneswerkzeug innen liegt oder nicht, sondern dieses direkt das Fleisch ist, scheint (für das letztere) dies kein Beweis zu sein, daß die Wahrnehmung zugleich mit der Berüh­ rung stattfindet. Wenn man nämlich jetzt eine Haut/Folie verfertigt und sie um das Fleisch spannt, so zeigt sie ebenso bei Berührung direkt die Wahrnehmung an. Und doch ist klar, daß in dieser nicht das Sinnesorgan liegt. Wenn sie nun auch zusammenwüchse (mit dem Fleisch), dann ginge die Wahrnehmung noch schneller hindurch. Deshalb verhält sich anscheinend dieser Körperteil (das Fleisch) so, wie wenn rings um uns herum die Luft angewachsen wäre. (Arist. Über die Seele, II, 423 a Übers. H. Seidl)

Die Schlussfolgerung dürfte keine Überraschung darstellen: »Daher ist notwendigerweise auch der angewachsene Zwischenkörper (Medium) des Tastvermögens , durch den hindurch die (Tast-)Wahrnehmungen in einer Mehrzahl erfolgen.« (Arist. ebd. Übers. H. Seidl) In unserem Leib, oder besser: in unserem Fleisch, so undurchsichtig es sein mag, ist das körperliche Analogon der Unkörperlichkeit der gemeinsamen Grenze des Leibes und der Welt zu sehen, als etwas Inter-mediäres (ein Zwischen-Ding), ähnlich der

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Luft, die sich mit der reinen Durchsichtigkeit verwechseln lässt. All dies liefert uns einen der wichtigsten Beweise der philosophischen, unsubstantialistischen Ausrichtung des Aristoteles. Die Verbindung zwischen dem Leib (dem Fleisch also) und dem Analogon der Grenze, die »Membran«, die ebenso gut die Haut darstellen könnte, als Grenze des Leibes, ist mehr als offensichtlich. Unangesichts der Tatsache, dass der Leib an sich eine physisch bestimmte Größe hat, müssen wir akzeptieren, dass seine Funktion in diesem Kontext der taktilen Apperzeption im Gegenteil diejenige ist, eine Grenze zu thematisieren – eine Grenzlinie, der die physische Dimension fehlt – und dass der Leib selbst einen Übergang darstellt. Ein doppelter Übergang: von der Seele zur Welt und von der Welt zur Seele. Was auch den Leib zum sekundären Ort macht, dessen Größe eben das Nicht-Dimensionale der topologischen Grenze, oder, besser gesagt, das Ortlose bedeutet, das einer Reflexivität eigentümlich ist. Im Vergleich zu anderen äußeren, physischen Medien, die Luft, das Feuer, das Licht, steigert sich Aristoteles zu der etwas paradoxen Annahme, die uns auf die Möglichkeit der Existenz eines Leibes »aus Luft«, »aus Feuer« und sogar »aus Licht« hinweist. Die Tatsache, dass wir »aus Erde« sind und dass wir, wie es heißt, in die Erde zurückkehren, hebt diesen Sachverhalt nicht auf, sondern im Gegenteil, hebt etwas hervor, und zwar nicht nur den intermediären Status der Erde, son­ dern den ebenfalls intermediären Status des Leibes selbst. Es ist, als ob die Grenze zwischen der Äußerlichkeit physischer Medien und der Innerlichkeit physiologischer Medien sich »ausweiten« und die ungegenständliche Konsistenz des Fleisches annehmen würde und, als solche, die eines Leibes, und zwar in dem genauen Maße, in welchem sie, eben diese letzte Grenze, »verkörpern«. Eine topische Grenze, die, auch wenn in einem topo-logischen Sinne ohne eigene Ausdehnung, doch eine »Größe« erhält, ohne aber aufzuhören, als Grenze zu funktionieren. Wenn die Seele bzw. die Psychologie auf die Möglichkeit eines Verhältnisses zwischen dem äußerlich Physischen und dem innerlich Physiologischen hinweist, ohne selbst außerhalb des Leibes und auch nicht in seinem Inneren verortet zu sein, dann geschieht dies dank ihrer Qualität, als Grenze zwischen Physischem und Physio-logischen zu fungieren. Die einzige materiale Projektion, die ihr eigentümlich zu sein scheint, bleibt das Fleisch und zwar inso­ fern das Fleisch die Verkörperung der Grenze selbst ist. Offensichtlich führt die aristotelische Problematik der Seele zum Problem ihrer Ver­ körperung, ihrer Inkarnation, als Grenze zwischen Innen und Außen.

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Antizipationen der Problematik liefert der Timaios, wo Platon den topologischen Begriff der Chora analysiert, wie auch sein politisches Analogon, die Grenze der Polis. Auch in der politischen Geographie kann die Grenzlinie zwischen den Staaten, die idealerweise unsichtbar sein müsste, eigentlich nur in Form des topos eines Niemandes (eines no mans land) ihre Konturen bekommen, beispielsweise in der Gestalt eines Flusses oder Stromes, in dessen Bett sich schrittweise eine andere Art »Territorium« bilden kann, ein nicht nationales, d. h. ein internationales. Eigentlich thematisieren alle physischen und physiologischen Medien mittels eines Ausdehnungs[-begriffes] eine Grenze, die, im Prinzip, keine eigene Dimension mehr besitzt. Unser Sehen, zum Beispiel, findet an der Grenze zwischen Außen und Innen statt, als einem »zweiten Ort«, der einer nicht eigens verortbaren Ortschaft der Seele entspricht (sie ist nämlich diejenige, die eigentlich »sieht«). Denn damit sich das Sehen physiologisch vermittels der inneren Durchsichtigkeit aktualisieren kann, muss es sich physisch thematisiert haben, mittels einer äußeren Transparenz. Folglich kann das Sehen selbst nicht »stattfinden«, es sei denn innerhalb und in der gleichzeitigen Anwesenheit (der Ko-präsenz) in und durch das Inter-medium zwischen den zwei Medien. Indessen, wenn wir in Betracht nehmen, dass der Tastsinn als externes Medium immer auch ein internes Medium voraussetzt und umgekehrt, kann der Leib, welcher eben das Medium dieses Sinnes konstituiert, wahrhaftig die Rolle einer reflexiven »Transparenz« spielen. Die Reziprozität der gemeinsamen Grenze zwischen Seele und Welt hat als Folge, dass der Körper praktisch die Differenz zwischen Objekt und Subjekt aufhebt, weil die Selbstaffizierung ihm eine doppelte Qualität verleiht, nämlich diejenige, gleichzeitig ein Äußeres und ein Inneres zu sein. Die an der Grenze auftretende Reziprozi­ tät, die Wechselseitigkeit des Objektes und Subjektes, gehört der partikulären Erfahrung des Tastens zu, diejenige, die es ermöglicht, das Unspezifische als spezifisch zu erfahren. Und wahrlich, bemerkt Aristoteles, ist der Tastsinn der un-bestimmteste unter den Sinnen. Er kann nur angeben, ob etwas ist oder nicht ist. Indessen gilt es zu bedenken, dass das Sein keine Kategorie, keine Bestimmtheit ist, selbst wenn wir sie als die allgemeinste auffassen. Das dem Tastsinn eigentümliche Medium wird genauso unspezifisch-allgemein aufge­ fasst: Doch unterscheidet sich das Tastbare vom Sichtbaren und Tönenden, weil wir diese dadurch wahrnehmen, daß das Medium in uns etwas

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bewirkt, das tastbare aber nicht durch Einwirkung eines Mediums, sondern zusammen mit dem Medium, wie jemand der durch den Schild einen Schlag erhält; denn nicht schlägt ihn der angestoßene Schild, sondern beide haben zugleich den Schlag erhalten. Arist. Über die Seele, II, 11, 423 b 12–15. Übers. H. Seidl

Wenn uns äußere Gegenstände berühren, finden wir uns als rein rezeptive Körper vor, und der Kontakt verursacht eine Art »Konkavi­ tät« innerhalb unserer Körper. Im Gegenteil werden wir aktiv, wenn wir die Gegenstände selbst berühren. Aus diesem Grund muss für Aristoteles der aktive Charakter der Seele, die ihre eigene Tätigkeit mittels des Leibes thematisiert, passenderweise einen körperlichen Ausdruck finden, nämlich den einer »Konvexität« des Leibes. Anders ausgedrückt: trotz des Umstands, dass wir die äußeren Gegenstände mit dem ganzen Leib berühren können, gibt es ein spezifisches »Organ«, das diesem unspezifischen Sinn eigens zukommt, oder umgekehrt, ein unspezifisches Analogon aller spezifischen Sinne: dieses ist die Hand, das privilegierte Analogon der Seele, eine Verlängerung der Unbestimmtheit des Tastsinnes (siehe Arist. De partibus animalium, 687 a 8–11). Eben die unspezifische »Qualität« der Hand macht sie zum Organ und gleichzeitig zum bevorzugten Instrument der Reflexivität. Das Instrument aller zukünftigen von ihm angefertigten Instrumente wird somit zum zweiten privilegierten Ort der Projektion der Seele in ihrer vermittelnden Rolle zwischen der physischen Äußerlichkeit und der physiologischen Innerlichkeit. Wenn das Wissen eine Thematisierung der Grenze zwischen dem Sensiblen und Intelligiblen voraussetzt, so ist die Grenzlinie, die Gegenstände metaphysisch »umfasst«, identisch mit derjenigen, die die Dinge physisch »umgrenzt«. Denn die Grenze zwischen dem Physischen und Metaphysischen, zwischen unendlich und endlich, zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung, ist eine einzige, auch wenn sie von zwei unterschiedlichen Richtungen aus denkbar ist. Indessen kann die physische Grenze der Dinge nur mittels einer gewissen Greifbarkeit dieser thematisiert werden, eine Tätigkeit, die vor allem der Hand vorbehalten bleibt. Einen Gegenstand mit der Hand zu streicheln bedeutet also nicht nur eine Thematisierung seiner physischen, sondern auch eine seiner metaphysischen Grenze, denn die Grenze zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen ist, wie im Falle der Chora, eine einzige. Unsere Seele hat die Fähigkeit eines metaphysischen Er-fassens oder Be-greifens des Gegenstandes, eben weil sein leibliches Analogon, die Hand, ihrerseits die Fähigkeit

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des Fassens und Greifens besitzt. Wir berühren (streicheln) auch mit der Seele, wenn wir es mit der Hand tun. Genauer berühren wir mit der Seele in gleichen Maßen, wie wir es mit der Hand tun. Und wir fassen mit der Hand, eben weil wir schon etwas mit der Seele erfasst haben. Die Konstitution des Gegenstandes ist zu gleicher Zeit ein physisches Problem und ein metaphysisches. All dies ist möglich, weil (Aristoteles folgend) die Erkenntnis der Prinzipien und der Seele nur mittels einer Analogie möglich ist. Um einen eingangs angekündigten Gedanken wieder aufzunehmen: wir benötigen ein temporales Analogon der Ewigkeit des Seins, nämlich den Augen­ blick, um die Ewigkeit thematisch zu fassen und wir benötigen ein räumliches Analogon der Ubiquität des Seins, nämlich den Ort, um die Ubiquität an sich zu thematisieren. Weiter wird ein bewegliches Analogon der Unbeweglichkeit des Seins benötigt, nämlich den telos der Entelechie, um die Unbeweglichkeit selbst fassbar zu machen. Schließlich wird ein dimensionales Analogon der Unausgedehntheit der Seele benötigt, nämlich das Fleisch, um die Unausgedehntheit selbst zu thematisieren, und ein physisches Analogon des Metaphy­ sischen, um die Metaphysik selbst zu thematisieren: für die Seele tritt also die Hand ein, und zwar als zweites Organ des Logos. In dieser Analogie besteht u. E. die aristotelische Möglichkeit einer Philosophie von den Materie besitzenden Wesenheiten. Die Analogie zwischen der Hand als Instrument aller physischen Instrumente und der Logik als Organon, als Instrument aller Wissenschaften (die Logik ist für Aristoteles keine bestimmte Wissenschaft, sondern das Prinzip aller Wissenschaften) kann somit neu definiert werden als eine Analogie zwischen der Topik der Grenze und ihrer Topologie. Einen Ort zu denken, der keine Dimension besitzt, setzt die Möglichkeit, diesen mit etwas anderem, Ausgedehntem, zu ersetzen, voraus, ohne dass sich so der Ort selber verändern würde. Die rein topologische Definition des Ortes als un-gegenständliche Grenze aller Gegenstände bahnt somit einen Weg zu einer Algebra sui generis, einer mathematischen Disziplin, dessen Name (arabischen Ursprun­ ges) eben die generische Möglichkeit, ersetzt zu werden, andeutet und, als solche, die reine, »ungesättigte« Möglichkeit. Das Verfah­ ren gleicht dem der Thematisierung jedes physischen Gegenstandes mittels eines topischen Griffes, in dem die Hand diesen mit einem beliebigen anderen Gegenstand ersetzen kann und indem hier eine Art Leere, ein Bestimmungsvakuum entsteht, das nur dem Medium, dem Zwischenstoff eigentümlich ist. Mit anderen Worten erweist sich

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die Hand als die Aktualisierung der Un-bestimmtheit aller anderen (vermittelnden) Zwischen-Bestimmungen: Erde, Wasser, Luft und Feuer und alle zusammen. Sie stellt die Besitzergreifung durch den Leib dar, der als Fleisch das zweite Organ der Grenze selbst darstellt, und ist somit umdefinierter »Leib« aller sensiblen, und, vergleichs­ weise, rein passiven Medien. Im Gegensatz aber zum Fleisch, das die Aufnahme der Vermittlung auf passive Weise bezeugt, bedeutet die Hand eine rein aktive Aneignung des Inter-mediären. Mehr und genauer kann man nur in dem Augenblick, in dem eine Hand eine andere Hand berührt (nicht als Objekt, sondern als Subjekt-Objekt), wahrlich behaupten, dass die Seele, die intelligible Bewegung der Selbsterkenntnis, thematisiert werden kann. Auf diese Weise ist die wechselseitige Selbstaffizierungs-Bewegung der Hände eben dieje­ nige, die die Seele in einem zweiten Sinne bewegt. Folglich ist die Grundfunktion der Hand eben diejenige, eine Funktion (im Akt) zu symbolisieren, und zwar die des Handhabens, d. h. der analogischen Ersetzung dessen, was intendiert wird, mit einer sensiblen Darstel­ lung. Dagegen ist die Funktion der Logik ihrerseits die des Symboli­ sierens einer Funktion im Akt des analogischen Ersetzens desjenigen, was thematisiert wird, mit einer intelligiblen Darstellung. Die Logik stellt uns eine gewisse Form zur Verfügung, eine designierte Form -f-, die Hand, eine gewisse designierte Materie, -x-, und gemeinsam bilden diese beiden bei Aristoteles ein Zusammengesetztes, ein syno­ lon, wo Form und Materie aufeinander treffen an und innerhalb derer gemeinsamen Grenze, die die Klammer darstellt. Eine ausführliche Besprechung dieses genialen Vorgriffs der modernen Theorie der Funktionen bei Aristoteles findet sich in den Arbeiten René Thoms und in dem eingangs genannten eigenen Versuch; dies darzustellen würde aber den Rahmen der hiesigen Untersuchung überschreiten.

7. Das Fleisch als Spiegelphänomen Der unbestimmte Charakter des Fleisches als universales Medium, durch das die Seele die äußere Welt ohne weitere Vermittlung emp­ findet, ist mit dem Tastsinn gegeben, da sein Inter-medium ein »innerlicher« ist. Im Vergleich zu den anderen, spezifischen Sinnen ist der Tastsinn mit einer »Universalpräsenz« (gr. koine) ausgezeich­ net. Wir haben es hier mit einer »Faktizität« zu tun, die ihrerseits unspezifisch ist und die Aristoteles umdefiniert als Gemeinsinn: koine

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aisthesis. Das ist auch der Grund, warum der Stagirit über eine gewisse Vorhandenheit des Tastens in jedem der elementaren Sinne spricht: Daß der Körper des Lebewesens nicht einfach sein kann, z. B. aus Feuer oder Luft, ist klar; denn ohne Berührung/Tasten kann es auch keine andere Wahrnehmung geben. Jeder beseelte Körper ist ja tastfähig, wie gesagt. Die anderen Elemente außer der Erde können zwar zu Sinnesorganen werden, alle aber bewirken die Wahrnehmung dadurch, daß sie durch anderes wahrnehmen und durch Medien. Der Tastsinn hingegen besteht darin, daß er die Objekte selbst berührt/betastet, weshalb er auch diese Benennung hat. Freilich auch die anderen Sin­ nesorgane nehmen durch Berührung wahr, aber mittels eines anderen (Körpers, Mediums) der Tastsinn allein, wie es scheint, mittels seiner selbst. Arist., Über die Seele, III 13, 435 a 13–24. (Übers. H. Seidl)

Diese aristotelischen Ausführungen stellen die Verhältnisse zwi­ schen den Bereichen, die von der modernen Philosophie als »Imma­ nenz« beziehungsweise »Transzendenz« auseinandergehalten wer­ den, erneut zur Diskussion. Wir können nämlich einen Vergleich aufstellen zwischen dem Tasten, dem Sinn der »Immanenz« und dem Sehen, dem Sinn der »Transzendenz«, dessen Medium die Transpa­ renz selbst ist. Die »universale« Natur des Tastsinnes macht aus dem Sehen auch eine Art »Tasten« der sichtbaren Gegenstände, die im Blick der Augen (in einer Doppelung des Intermediären) »einge­ hüllt« werden, genauso wie Gegenstände auch in der Berührung der Hände »umhüllt« werden. Auf ähnlicher Weise, wie die sichtbaren Gegenstände im Medium des sie umhüllenden Lichtes leuchtend werden, werden auch die berührbaren Gegenstände dank des Leibes, der sie als Medium umhüllt, körperlich. Da das Medium des Tastens auch alle intermediären Formen als gedoppelte voraussetzt – die äußeren (physischen) Medien und inneren (physiologischen) Medien – und da alle diese Medien als gedoppelte genauso viele Formen der Reflexivität darstellen, folgt, dass auch das Fleisch zu einer Art »Reflexionsorgan« werden muss. Und umgekehrt, da die Medien der anderen Sinne an der Grenze eines Makrokosmos beziehungsweise eines Mikrokosmus »gedoppelt« werden, soll auch das Fleisch – als gemeinsames Prinzip der entsprechenden Sinne – nicht nur als ein innerlich angenommenes Grenzorgan (vonseiten des Mikrokosmos, den unser Leib darstellt), sondern auch als ein äußerlich angeeigne­ tes Organ vonseiten des Makrokosmos, den unsere Welt darstellt, betrachtet werden. Präziser: so wie das körperliche Medium das Fleisch unseres eigenen, empfindsamen Leibes konstituiert, so wird

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auch das mundane Medium, das »Fleisch« unserer eigenen, sensiblen Welt, konstituiert. Auch in diesem Falle wird das Fleisch an sich zum Erkenntnisorgan, als zweiter Ort einer eigentümlichen Reflexion. Was dazu führen wird, das, unabhängig von Aristoteles (dessen Bei­ träge hierzu, seltsamerweise, unbekannt geblieben sind) viel später, Merleau-Ponty sowohl den Begriff der »(inneren) Reflexion des Flei­ sches« prägen wird wie auch denjenigen vom »Fleisch der Welt« (vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare). Die Analogie, die Merleau-Ponty zwischen der Thematisierung des Körpers als SelbstAffizierung des taktilen Sinnes aufweist, ist praktisch identisch mit derjenigen, die Aristoteles bereits als Analogie zwischen Fleisch und Membran festhält. Sie bestätigt erneut die Bedeutung der Haut als Ort des Einschreibens im Sinne einer »Grenze« und zugleich als Analogon des Leibes. Der Leib an sich wird so zur privilegierten Möglichkeit der Thematisierung der Grenze zwischen Seele und Leib, zwischen Transzendenz und Immanenz: Er selbst stellt eine Art immanente Transzendenz oder transzendente Immanenz dar. Das Geheimnis der körperlichen Ek-sistenz dessen, was nicht körperlich ist, entspricht also dem Geheimnis der verleiblichten Ek-sistenz dessen, was nicht leiblich ist. Das, was »jenseits« der Welt ist, eignet sich ein weltliches Analogon an. Wenn die Transzendenz (der Seele) innerhalb der Immanenz (der Welt) thematisiert wird, dann kann sie nur einen Ort in und durch die Verleiblichung erhalten. Der ursprüngliche, unbestimmte Charakter des Tastsinnes und des Leibes im Verhältnis zu allen anderen spezifischen Sinnen hat als Analogon den ursprünglichen Charakter der Welt, die im Verhält­ nis zu ihren bestimmten Gegenständen unbestimmt bleibt. In dem Kontext kann der Leib keinen einfachen Gegenstand darstellen. Er hat eher einen ungegenständlichen, d. h mundanen Charakter und auch umgekehrt gibt es ein »Fleisch der Welt« oder eine unbestimmte, mundane »Körperlichkeit«, die für den Menschen die Umgrenzung von Welt in der Erfassung jeden ihrer Gegenstände thematisch fassbar macht. Die elementaren Medien stellen genau diese (umgreifenden, umhüllenden) Zwischenräume des mundanen Fleisches dar, ihr unbe­ stimmtes Zwischengewebe (Interstitium). Das taktile Erfassen der Welt erfolgt, wie vorher angedeutet, gleichzeitig mit der Bejahung oder Verneinung einer unbestimmten Präsenz. Der Tastsinn ermög­ licht eigentlich eine bestimmte Art der Thematisierung der Vorhan­ denheit oder Abwesenheit. Sein oder Nichtsein stellen folglich die zwei Extreme einer der unbestimmten, taktilen Sensibilität eigentüm­

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lichen Tätigkeit dar. Wenn uns die anderen Sinne eine bestimmte Form der Präsenz von Welt vorweisen, so rührt dies daher, dass es einen taktilen, aller Sinne gemeinsamen Grund und so auch eine Begründung gibt. Demnach, wenn es, jenseits der Vielheit der Sinne, auch eine gemeinsame Sensibilität gibt, geschieht dies eben aufgrund des taktilen Sinnes. Deshalb hat das Wort, das die gemeinsame, allen Sinnen zukommende Sensibilität bezeichnet, der Gemeinsinn, eine doppelte Bedeutung: eine unspezifische (dieser gemeine Sinn kommt allen anderen Sinne zu, ohne sich als »sechster Sinn« zu behaupten), d. h. diejenige der begleitenden Sensibilität jedes Aktes, der »für sich« wahrgenommen wird, und eine zweite, spezifische Bedeutung, die aus der Präsenz des Taktilen innerhalb aller anderen Sinne gewonnen wird (diese Präsenz ist jedoch eine sekundäre, da sich hier die Bestimmun­ gen auf die Prädikate des Seins bzw. Nichtseins reduzieren lassen.) Das Taktile ist praktisch eine Art physiologisches Analogon einer psychologischen Sensibilität. Indessen, der Gemeinsinn, der nicht mehr (nur) von der Physiologie abhängt, begleitet nicht auf irgend­ eine Weise »von außen her« den Tastsinn, wie auch umgekehrt dieser nicht »von außen her« die anderen Sinne begleitet. Der gemeine Sinn und folglich das Faktum, sich selbst (psychologisch) als ein ganzer Leib aus einem physiologischen Gesichtspunkt empfinden zu können, ist unmöglich ohne die »Taktilität« der Selbstwahrnehmung. Die Hand hat vor allem die Aufgabe, das physiologische Fleisch zu einer psychologischen Präsenz wachzurufen. Eben die physiologische Selbstaffizierung des Leibes über Autotaktilität bewirkt es, dass letzt­ lich auch eine psychologische Selbstaffizierung der Seele stattfindet, die als Selbstwahrnehmung mittels des Leibes umdefiniert wird. Die Gegenstände, die sich einer Seele darstellen (präsentieren), sind je schon Gegenstände, welche einem Leib vorgestellt (re-präsentiert) wurden. Das körperliche Schema, von dem Aristoteles behauptet, dass es sich weder innerhalb noch außerhalb des Körpers befände, ist daher dank einer vollkommenen psychologischen Präsenz des Gemeinsinnes möglich. Anders ausgedrückt: Die Wahrnehmung einer Ganzheit, deren »Bewegung« von sich ausgeht, um »zu sich« selbst zu gelangen setzt eine psychologische Präsenz voraus, die nur für einen Leib möglich ist, der sich (taktil) selbst affizieren kann. Der Leib wird auf diese Weise zum abgrenzenden Grund der Schema­ tisierung selbst. Anders gesagt, in seiner undifferenzierten Qualität ist der Leib das körperliche Analogon eines Schemas, oder, genauer, des unbestimmten Schemas aller spezifischen Schemata: die Seele.

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Das Physische, Physiologische und Analogische

Eben dieser unbestimmte Charakter der leiblichen Physiologie und, als solche, seine Eigentümlichkeit, ein Analogon der psychologischen Seele zu sein, führt dazu, dass umgekehrt sich gewisse psychische Krankheiten zuerst in Störungen der Aneignung des Körpers äußern, d. h. der Anerkennung seiner Qualität als unbestimmter physiolo­ gischer Ausdruck einer Seele. Das aristotelische Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Medizin, das mehr als zwei Jahrtausende zuvor untersucht wurde, wird so erneut aufgenommen von (oft) unab­ hängigen Versuchen gegenwärtiger Analoga: die Phänomenologie und die Psychoanalyse.

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Johannes Brachtendorf

Analogie oder Dialektik des Seins? Das Verhältnis von Gott und Welt im kosmologischen Gottesbeweis nach Thomas von Aquin und Hegel

1. Einleitung Der vorliegende Beitrag1 kontrastiert das analoge Seinsverständnis des Thomas von Aquin mit dem dialektischen Seinsbegriff Hegels, und zwar ausgehend vom sogenannten kosmologischen Gottesbe­ weis. Thomas kennt zwar diesen Namen noch nicht, doch der Sache nach sind mehrere seiner berühmten fünf Wege zum Beweis des Daseins Gottes dem kosmologischen Argument zuzuordnen. Hegel hat im Jahre 1827 seine »Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes« gehalten. Von den drei großen Gottesbeweisen, dem ontolo­ gischen, dem teleologischen und dem kosmologischen, schätzt Hegel zwar den ontologischen am meisten, doch in den genannten Vorlesun­ gen behandelt er fast ausschließlich den kosmologischen, den er in gewissen Grenzen ebenfalls für wertvoll hält. Der kosmologische Gottesbeweis ist besonders geeignet, um die jeweilige Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt, die im Hintergrund steht, sichtbar werden zu lassen; und nur um diesen Hintergrund soll es hier gehen, nicht um den Beweis als solchen. Denn während der ontologische Beweis apriorisch verfährt – er argumen­ tiert allein aus der Bedeutung des Wortes »Gott« heraus und braucht daher von der Welt nichts zu wissen –, verbindet der kosmologische Beweis Gott und Welt, indem er von der Erfahrung des Daseins der Welt auf die Existenz Gottes schließt. Hier werden also Gott und Welt in Beziehung gesetzt, und zwar auf so grundsätzliche Weise, dass es noch gar nicht um bestimmte Eigenschaften der Welt geht, sondern Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: »Theologische Quartalschrift« 199 (3/2019). 1

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nur um die Tatsache ihres Daseins. Leibniz bezeichnet diesen Beweis als das argumentum a contingentia mundi, also als Argument aus der nicht-notwendigen Existenz der Welt. Es soll zeigen, dass das Sein der Welt als zufälliges eines Grundes bedarf, der im notwendigen Sein Gottes liegt. Wie bezieht sich der kosmologische Gottesbeweis bei Thomas und Hegel auf die Frage nach Analogie oder Dialektik? Die Analogie, insbesondere als analogia entis, ist bei Thomas eben genau das begriffliche Werkzeug, mit dessen Hilfe er das endliche Sein der Welt auf das unendliche Sein Gottes beziehen und aus diesem erklären will. Analogie soll verstehbar machen, wie das Unendliche und das Endliche, das Transzendente und das Immanente, das Notwendige und das Zufällige zusammenhängen. Das kosmologische Argument bringt bei Thomas zum Ausdruck, dass das Sein der Welt in einem Analogieverhältnis zum Sein Gottes steht. Hegel konzipiert dagegen ein dialektisches Verhältnis von Welt und Gott, demzufolge das Zufällige gar kein eigenes Sein hat, sondern sich aufhebt in das Sein des wahrhaft Notwendigen, denn nur so lasse sich die Unendlichkeit und Absolutheit Gottes behaupten. In diesem Sinne unterzieht Hegel den kosmologischen Gottesbeweis einer Kritik, aber auch einer Neu­ formulierung.2 Das Thema »Analogie und Dialektik« wurde zuletzt in den 1950er Jahren intensiv diskutiert. Hervorzuheben sind drei Publikationen dieser Zeit. Hans Wagner, Existenz, Analogie und Dialektik. Religio pura seu transcendentalis (Religionsphilosophie Band I, 1. Halbband), München 1953. Bernhard Lakebrink, Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Analektik, Köln 1955. Joseph Möller, Thomistische Analogie und Hegel’sche Dialektik, in: Theologische Quartalschrift 137 (1957), 129–159. Wagner kritisiert Thomas‘ Analogiekonzeption, weil sie den von ihr selbst erhobenen Anspruch, den Schöpfertheismus philosophisch zu beweisen, nicht erfüllen könne. In Wahrheit setze sie diese der christlichen Vorstellungswelt entstammende Idee voraus und operiere auf deren Grundlage (vgl. Wagner (1953), 196). In philosophischer Sicht werde die Analogielehre damit »überschwänglich« und insofern im Kantschen (nicht im Hegel’schen) Sinne »dialektisch«. Nach Thomas von Aquin habe erst Hegel wieder das Niveau seiner metaphysischen Fragestellung erreicht, doch auch Hegels Lösung könne nicht befriedigen, weil sie von Anfang an Religion und Philosophie durch­ einandermenge (vgl. Wagner (1953), 194). Wagner kritisiert also sowohl Thomas‘ Analogie als auch Hegels Dialektik von einem (neo-)kantianischen Standpunkt aus. (Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik war vermutlich für den zweiten Halbband von Wagners Werk geplant, der aber nie erschienen ist.) Lakebrink verteidigt in seiner Monographie die thomistische Metaphysik gegen Hegels Dialektik. In seiner umfangreichen Darstellung hebt er wiederholt die Unver­ einbarkeit des analektischen und des dialektischen Denkens hervor. Die These, dass 2

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2. Thomas von Aquin – die analoge Verursachung der Welt durch Gott Thomas führt in der »Summa Theologiae« (= STh) und in der »Summa contra Gentiles« (= ScG) jeweils mehrere Gottesbeweise vor. Dem kosmologischen Argument sind vor allem zwei dieser Beweise zuzuordnen, nämlich erstens der Schluss vom Möglichen als dem, was sein oder nicht sein kann, also vom Kontingenten auf das aus sich heraus Notwendige (STh I q.2 a.3, Dritter Weg), und zweitens das Argument aus den Seinsstufen (STh I q.2 a.3, Vierter Weg; ScG I 13), das besagt: Bei den Dingen gibt es ein mehr oder weniger an Gutem, an Wahrem und an Seiendem. Jedes Mehr oder Weniger verweist aber auf ein Maximum und dieses Maximum ist zugleich die Ursache all dessen, was eines Mehr oder Weniger fähig ist. Daher müsse es ein maximal Seiendes geben, das Ursache des (mehr oder weniger) Seins Sein und Nichts dasselbe seien, hält Lakebrink für den Grundirrtum der Dialektik, der letztlich darauf beruhe, dass Hegel der Negation, die doch eine bloße Denkoperation sei, metaphysische Realität zuerkenne und sie zu einem ens naturae stilisiere (vgl. Lakebrink (1955), 152). Hegel mache die Negation der Negation zu einem modus essendi Gottes, während es sich nach Thomas nur um einen menschlichen modus significandi handele (vgl. Lakebrink (1955), 131 f.). Lakebrink stellt insgesamt die logische und die metaphysische Bedeutung des Nichts bei Hegel und Thomas ins Zentrum. Die vorliegende Abhandlung geht in mehreren Punkten über diese ältere Diskussion hinaus. Während Lakebrink und Möller nur einige Stellen in Hegels »Wissenschaft der Logik« und seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« heranziehen, wird hier die viel ausführlichere Darstellung und Kritik des kosmologischen Gottes­ beweises in Hegels »Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes« zugrunde gelegt. Erst diese »Vorlesungen« geben ein genaues und vollständiges Bild der Argu­ mentation Hegels, während die »Wissenschaft der Logik« und die »Enzyklopädie« nur knappe Hinweise auf die Gottesbeweise bieten. Dementsprechend ist Lakebrinks Darstellung von Hegels Diskussion des kosmologischen Argumentes ganz ungenü­ gend (vgl. Lakebrink (1955), 89–92). Weiterhin erfordert eine Gegenüberstellung der »Vorlesungen« Hegels mit Thomas‘ Analogiekonzeption, dass die kausalitätstheore­ tische Bedeutung der Analogie stärker als bei Lakebrink und Möller ins Zentrum gerückt wird. Möller kritisiert in seinem Aufsatz Hegel vor allem von dessen Gottesbegriff her. Die Dialektik nehme die Seinsmächtigkeit Gottes nicht ernst genug, weil sie Gott auf die Vermittlung durch das Endliche angewiesen sein lasse (vgl. Möller (1957), 156–159). Die vorliegende Abhandlung fokussiert dagegen weniger auf den Gottesbegriff als auf den Begriff des endlichen Seienden. Sie fragt, ob Hegel Recht hat mit der These, das Konzept des endlichen Seienden sei selbstwidersprüchlich, so dass dieses Seiende sich von selbst vernichte und in das Unendliche aufhebe.

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alles anderen Seienden ist. Beide Wege zusammengenommen ergibt sich, dass das Notwendige als zuhöchst Seiendes Ursache für das Sein des Zufälligen ist. Zur Erklärung seiner These greift Thomas auf die Analogielehre aus der Kategorientheorie des Aristoteles3 zurück, erweitert sie aber in zweifacher Weise. Erstens überträgt er die Frage nach analogen Begriffsverwendungen aus der Rede über innerweltliche Gegenstände auf die Rede über Gott: Haben die Begriffe, die wir auf Gott und die Welt anwenden, in beiden Fällen die gleiche Bedeutung? Zweitens erweitert er die Analogie über die Prädikationslehre hinaus auf die Theorie der Kausalität, um zu zeigen, dass es nicht nur univoke, sondern auch analoge Verursachung gibt. Gottes Erschaffung der Welt ist nach Thomas ein Fall solcher analogen Verursachung.

2.1 Analogie in der Prädikationslehre Wie Aristoteles, so unterscheidet auch Thomas zwischen einer uni­ voken, einer äquivoken und einer analogen Begriffsverwendung. In der univoken Verwendungsweise wird ein Prädikat von zwei Dingen im genau gleichen Sinne ausgesagt, z.B. das Prädikat »Mensch« in den Sätzen: »Sokrates ist ein Mensch« und »Platon ist ein Mensch«. Bei der äquivoken Verwendungsweise nimmt das gleiche Wort als Prädikat ganz verschiedene Bedeutungen an, z. B. »Bank« in: »Das Geldinstitut ist eine Bank«, und »Die Sitzgelegenheit ist eine Bank«. Der analoge Begriffsgebrauch steht gewissermaßen in der Mitte zwischen beiden. Ein Beispiel dafür ist etwa die Verwendung des Begriffes »gesund« in »Peter ist gesund« und »Äpfel sind gesund«. Thomas wendet diese Unterscheidung an auf die Frage, wie über Gott und die Welt zu sprechen ist. Ihm zufolge gibt es durchaus eine Übereinstimmung oder ein Verhältnis (proportio) zwischen Gott und Welt, das es erlaubt, Gemeinsames von ihnen auszusagen. Diese Gemeinsamkeit könne aber nicht rein äquivok sein, denn dann wäre Metaphysik im Sinne der natürlichen Gotteserkenntnis nicht möglich, weil diese aus der Erkenntnis der Welt ein Wissen über Gott als Grund der Welt gewinnen will. Thomas sieht die Möglichkeit der natürli­ chen Gotteserkenntnis auch biblisch abgesichert durch die Worte des 3

Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV 2, 1003a 33 – 1003b 10.

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Apostels Paulus, der in Röm 1,20 sagt, dass durch die Betrachtung der Kreaturen vieles über Gott erkannt werden könne.4 Außerdem, so führt Thomas an, würde sonst auch Gott selbst nicht durch die Betrachtung seines Wesens die Geschöpfe erkennen können.5 Weder wüssten wir also etwas von Gott, noch wüsste Gott etwas von der Welt. Damit scheidet die Äquivokation als Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt für Thomas aus. Die Univokation kommt Thomas zufolge aber ebenfalls nicht in Frage, denn während die Äquivokation Gott und Welt zu weit auseinanderrückt, gleicht die Univokation sie zu sehr aneinander an. Univokation liegt nach Thomas dann vor, wenn zwei Dinge aufgrund derselben ratio gleich benannt werden. Im Beispiel von Sokrates und Platon ist die gemeinsame Zugehörigkeit zur Gattung Mensch diese ratio. Wenn die Übereinstimmung darin gründet, dass beide Dinge ein- und dieselbe natura bzw. forma bzw. quidditas aufweisen, sind univoke Begriffsverwendungen möglich. Dies ist im Blick auf Gott und die Welt aber nicht der Fall. Zwar, so erklärt Thomas, sind die Kreaturen Gott ähnlich und ahmen ihn nach, »aber sie können nicht so sehr an ihn heranreichen, dass ihnen etwas aus dem gleichen Grund zukäme, aus dem es Gott zukommt«6. Betrachten wir diese Verschiedenheit des Grundes am Beispiel der Eigenschaft der Weisheit. Zwar sagt man von Gott und auch von einem Menschen, sie seien weise, aber trotzdem bezeichnet dieses Prädikat jeweils nicht das Gleiche. Der Unterschied liegt nach Thomas darin, dass Weisheit eine einzelne Bestimmung eines Menschen unter vielen anderen ist. Sie ist verschieden vom Wesen des Menschen und von seinem Sein.7 Bei Gott hingegen fällt jede seiner Eigenschaften mit seinem Wesen zusammen, d. h. Gott hat nur essentielle Eigenschaften, keine akzidentellen, und dieses Wesen wiederum ist mit dem Sein Gottes identisch, weil es aufgrund von Gottes Einfachheit keine Differenz zwischen esse und essentia Gottes gibt. Alle Eigenschaften Gottes sind somit sein eigenes Sein.8 Ein »Seit Erschaffung der Welt wird seine [sc. Gottes] unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit« (Röm 1,20). Vgl. dazu Thomas von Aquin: STh I q.13 a.5; In quattuor libris sententiarum (= Sent) I 35 q.1 a.4; De veritate (= ver.) q.2 a.11. 5 Vgl. ver. q.2 a.11. 6 Vgl. ver. q.2 a.11. 7 Vgl. STh I q.13, a.5. 8 Vgl. ver. q.2 a.11. 4

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weiteres Beispiel Thomas‘: In Sokrates sind das Sein dieses Menschen (esse proprium) und das Menschsein (humanitas) verschieden. Wenn es nicht so wäre, könnte es außer Sokrates keine anderen Menschen geben, denn das gesamte Menschsein wäre dann sozusagen an das esse proprium des Sokrates gebunden. Platon könnte somit nicht auch Mensch sein. Zwar sagen wir also von einem Menschen und von Gott aus, dass sie weise sind, aber die Weisheit kommt ihnen nicht aus dem gleichen Grund zu, d. h. die ratio ist verschieden. Alle Eigenschaften, die Gott hat, z. B. die Weisheit, hat er aus dem Grund, dass sie sein Wesen und sein Sein sind. Sokrates hingegen hat sein Wesen, das Menschsein, nicht aus dem Grund, dass es sein Sein wäre, und die besondere Eigenschaft der Weisheit besitzt er noch nicht einmal aus dem Grund, dass sie sein Wesen wäre, geschweige denn sein Sein. Da somit auch die Univokation ausscheidet, folgert Thomas, dass die Analogie der richtige Weg ist, um die Gemeinsamkeiten zwischen Gott und Welt zu fassen. Diese Gemeinsamkeiten werden Thomas zufolge secundum analogiam bzw. secundum proportionem ausgesagt. Allerdings sind nach Thomas noch einmal mehrere Arten von analogia/proportio zu unterscheiden, und nur eine von diesen ist auf das Verhältnis von Gott und Welt anwendbar. Eine erste Art von analoger Gemeinsamkeit liegt dort vor, wo mehrere eine je ver­ schiedene Beziehung auf das Gleiche aufweisen. Thomas greift hier auf das berühmte Beispiel für Analogie aus Aristoteles‘ Metaphysik zurück. Die Medizin, der Urin und der Apfel werden gemeinsam mit dem Prädikat »gesund« belegt.9 Doch wird dieses Prädikat nicht im univoken Sinne von ihnen ausgesagt, sondern nur in analoger Weise, nämlich von der Medizin, weil sie die Gesundheit eines Menschen wiederherstellt, vom Urin, weil er die Gesundheit eines Menschen anzeigt, und vom Apfel, weil er die Gesundheit eines Menschen erhält. Die Gemeinsamkeit liegt also in der Beziehung auf ein und dasselbe, wobei diese Beziehung von je verschiedener Art ist (Wiederherstellung, Anzeige, Erhaltung).10 Diese Art von Analogie ist auf Gott und die Welt nicht anzuwenden, denn es gibt kein drittes, auf das sie in je verschiedener Weise bezogen wären. Wenn Gott und die Welt Gemeinsamkeiten aufweisen, dann nicht in dem Sinn, in dem Medizin und Urin das Gesundsein gemeinsam haben.

9 10

Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV 2, 1003a 35 – b 5. Vgl. STh I q.13 a.5; ScG I 34.

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In einer zweiten Art von Analogie stehen die Analogate in einem bestimmten Verhältnis (determinata habitudo) bzw. einem bestimm­ ten Abstand (determinata distantia) zueinander. Thomas‘ Beispiel entstammt der Arithmetik: das Einfache und das Doppelte. Sie stehen nicht bloß gemeinsam unter einer Gattung, nämlich der Quantität, sondern das Einfache ist früher als das Doppelte, weil dieses aus jenem gebildet wird. Wichtig ist hier, dass das Verhältnis zwischen beiden genau bestimmt ist, so dass man sogar aus dem einen Analogat das andere errechnen kann. Eine solche Analogie aufgrund einer determinata distantia ist Thomas zufolge zwischen Gott und Welt ebenfalls nicht anzusetzen, weil sie beide zu nah aneinanderrücken würde. Gott ist nicht das Doppelte oder Dreifache der Welt.11 Eine dritte Art der Analogie liegt dort vor, wo das eine Ana­ logat auf das andere ausgerichtet ist. Auch hier greift Thomas auf Aristoteles‘ Beispiel der Gesundheit zurück. Die Analogate sind aber nun die Medizin und die Gesundheit des Menschen. Medizin und Mensch werden gemeinsam »gesund« genannt, aber die Gesundheit des Menschen ist Gegenstand der Primäraussage (»Peter ist gesund«), während die Medizin in »Medizin ist gesund« nur in Bezug auf Peters Gesundheit gesund genannt wird. Hier wird das gleiche Prädikat angewendet auf Gegenstände, die nicht unter dieselbe Gattung fallen, so dass ihnen dieses Prädikat, wie Thomas sagt, aufgrund einer je verschiedenen ratio zukommt. Ganz wie Aristoteles benennt Thomas den Begriff des Seienden (ens) als ein weiteres Beispiel des auf diese Weise analogen Begriffsgebrauchs: Substanz und Akzidenz werden beide seiend genannt, aber nur analog, denn im primären Sinn ist nur die Substanz, während das Akzidenz bloß auf die Substanz hin, der es anhaftet und ohne die es nicht existieren könnte, seiend genannt wird.12 Substanz und Akzidenz fallen nicht unter dieselbe Gattung, so dass ihnen das Prädikat »seiend« nicht aus dem gleichen Grund zukommt. Das Verhältnis zwischen Primärem und Sekundärem konstitu­ iert nach Thomas diejenige Art der Analogie, in der Gott und Welt zueinander stehen. Die Analogate befinden sich hier nicht in einer determinata distantia, wie das Einfache und das Doppelte, oder wie ein zeugender Mensch und ein gezeugter Mensch, wo der erste zwar Prinzip des zweiten ist, aber beide univok als Menschen angesprochen 11 12

Vgl. Sent I 35 q.1 a.4; ver. q.2 a.11, STh I q.13 a.1 ad 4. Vgl. STh I q.13 a.5; ScG I 34.

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werden. Vielmehr ist das Verhältnis, das zwischen dem notwendigen Sein Gottes und dem zufälligen Sein der Welt besteht, dasjenige einer Analogursache zu ihrer Wirkung.13 Innerhalb jener Art von Analogie, die auch auf Gott und die Welt anwendbar ist, sind nach Thomas nochmals zwei Varianten zu unterscheiden. In der ersten Variante ist das der Sache nach frühere Analogat auch in der Erkenntnisfolge das frühere. Beispiel dafür ist das Substanz-Akzidenz-Verhältnis. Beide werden in analogem Sinne seiend genannt, wobei die Substanz sowohl der Sache nach als auch der Erkenntnisordnung nach den Primat vor dem Akzidenz besitzt,

Ein notorisches Problem bei der Interpretation von Thomas‘ Analogielehre, das lang andauernde Streitigkeiten unter den Thomisten verursachte, stellen die Ausfüh­ rungen in ver. q.2 a.11 dar. Dort unterscheidet Thomas zwischen einer convenientia (analogia) proportionis und einer convenientia (analogia) proportionalitatis. Die analo­ gia proportionis wird hier beschrieben als Relation von zweien, die ein bestimmtes Verhältnis zueinander (determinata habitudo/distantia) aufweisen, wie z. B. das Dop­ pelte und das Einfache. Ebenso wie in den anderen Texten erklärt Thomas hier, dass diese Art von Analogie auf das Verhältnis von Gott und Welt nicht anwendbar ist. Im Unterschied zur STh und ScG ordnet Thomas in ver. q.2 aber das Verhältnis der Gesundheit des Lebewesens zur Gesundheit des Urins und allgemeiner das des Seins der Substanz zum Sein des Akzidenz ebenfalls dieser, für die Beschreibung des Gott-Welt-Verhältnisses ungeeigneten Art der Analogie zu. Ihr setzt er (aber nur in ver. q.2) die analogia proportionalitatis entgegen. Sein Beispiel sind die Zahlen 6 und 4. Sie sind analog zueinander, weil sie das gleiche Verhältnis zu einem jeweils anderen aufweisen. So ist 6 das Doppelte von 3, und 4 das Doppelte von 2. Demnach sind 6 und 4 analoge Zahlen, weil sie beide im Verhältnis der Doppeltheit zu ihrer jeweiligen Hälfte stehen. Gleichzeitig, und das ist für Thomas der springende Punkt, besteht kein bestimmtes Verhältnis (determinata distantia/habitudo) zwischen 6 und 4, denn man kann nicht etwa vom einen her das andere errechnen. Als nichtmathematisches Beispiel führt Thomas an, dass man sowohl in Bezug auf das Auge als Sinnesorgan als auch auf den Geist (mens) des Menschen von Blick (visus) spricht. Das Sehen des Auges und die Einsicht des Geistes werden analog »visus« genannt, weil sich der sinnliche Blick zum Auge genauso verhält wie der intellektuelle Blick zum Geist. Übertragen auf das Gott-Welt-Verhältnis bedeutet dies: Es besteht eine Analogie zwischen Gott und Welt, die darin gründet, dass Gott sich zu Göttlichem genauso verhält wie Endliches zu Endlichem. Dabei existiert keine determinata distantia zwischen Gott und Welt. Der Unterschied der Ausführungen von ver. q.2 zu den anderen Texten über Analogie liegt vor allem darin, dass Thomas hier das Verhältnis von Substanz und Akzidenz zu den bestimmten Verhältnissen (determinata habitudo) rechnet, was er sonst nicht tut. In ihren Darstellungen der Analogielehre heben Möller und Wagner einseitig auf die analogia proportionalitatis nach ver. q.2 ab. Die bei Thomas eigentlich vorherrschende Konzeption der analogia proportionis wird abgelehnt, weil sie fälschlich gleichgesetzt wird mit der Analogie zwischen zwei Akzidentien, die derselben Substanz anhaften. 13

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denn die Substanz ist Träger des Akzidenz und wird zuerst erfasst. In der zweiten Variante dagegen ist das der Sache nach frühere Analogat der Erkenntnis nach später. Dies ist der Fall im Verhältnis Gottes zur Welt. Denn Gott ist zwar im primären Sinn »seiend«, weil er die Ursache alles weltlichen Seienden ist, aber – so meint Thomas – die Wirkungen dieser Ursache, also die Welt, sind der primäre Gegen­ stand unseres Erkennens, so dass wir von der Welt her Gott als deren Ursache erfassen. In der Analogie zwischen Gott und Welt verhalten sich Seinsordnung und Erkenntnisordnung somit gegenläufig.14

2.2 Analoge Verursachung Thomas’ Theorie der Verursachung steht unter dem Grundsatz: omne agens agit sibi simile – jedes Wirkende bringt eine ihm ähnliche Wirkung hervor. Typisches Beispiel ist das Feuer, das in etwas ande­ rem ebenfalls Feuer bewirkt, indem es dieses zum Brennen bringt. Ein weiteres Beispiel ist der Mensch, der einen anderen Menschen zeugt. Das Feuer und der Mensch wirken gemäß ihrer Form, d. h. sie geben ihre Natur und ihr »Was« weiter: Feuer bewirkt Feuer, Mensch bewirkt Mensch. Im erweiterten Sinne gilt dies auch für den arithmetischen Bereich, wo etwa das Einfache durch Multiplikation das Doppelte bewirkt. Ursache und Wirkung gehören auch hier der gleichen species an, nämlich den Zahlen. In allen genannten Fällen handelt es sich um Univokursachen, denn sie bewirken das, was sie selbst sind, oder anders gesagt: Wirkendes und Empfangendes haben die gleiche ratio. Allerdings gibt es nach Thomas auch andere, und sogar über­ geordnete Verursachungsverhältnisse. Sie liegen dann vor, wenn Bewirkendes und Empfangendes nicht die gleiche ratio besitzen bzw. nicht der gleichen species angehören. Sein Beispiel aus dem Bereich der Physik ist die Sonne im Verhältnis zu den niederen Körpern, die sie erwärmt. Zwar besteht eine Ähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung – Sonne und Körper sind warm -, aber sie ist entfernter als bei der univoken Verursachung, weil die Wärme der Sonne und den Körpern eben aus einem je anderen Grund zukommt. Denn nach Thomas‘ physikalischem Weltbild ist die Sonne der warme Körper schlechthin als unerschöpfliche Quelle der Wärme, aus der alle andere 14

Vgl. ScG I 34.

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Wärme im Kosmos stammt. Diese Ursache überragt ihre Wirkungen, weil sie aus sich heraus warm ist. Die irdischen Körper können die Wärme zwar von der Sonne aufnehmen, aber nicht univok, d. h. nicht in vollem Umfang, weil sie als erwärmte eben nicht per se warm sind, sondern durch ein anderes warm werden, und daher auch wieder abkühlen können. Die Sonne ist somit nicht einfach eine Wärmequelle unter anderen, die, wie z. B. ein irdisches Feuer, als Einzelursachen (causae particulares) ihre Wärme weitergeben, sondern sie ist die übergeordnete, allgemeine Ursache (causa universalis) der gesamten Gattung temperierter Gegenstände. In diesem Sinne ist die Sonne Analogursache. Die Analogursache ist nach Thomas die causa uni­ versalis eines ganzen Wirklichkeitsbereiches und somit den univok wirkenden causae particulares vorgeordnet, die nur innerhalb eines Bereiches agieren. Gott ist nach Thomas Analogursache der Welt. Seine Wirkung, das Sein der Dinge, ist ihm, nämlich seinem Sein ähnlich. Dennoch gehören sie nicht der gleichen Gattung an, sondern Gott überragt sie. Gott ist keine innerweltliche causa particularis wie das Feuer oder der Mensch, sondern er begründet als causa universalis den ganzen Bereich der weltlichen Dinge. Diese vermögen aber nicht die gesamte Kraft der Ursache in sich aufzunehmen, sondern bleiben hinter ihr zurück. Sichtbar wird dies unter anderem darin, dass Gott sein Sein aus sich heraus besitzt (a se), weil es mit seinem Wesen identisch ist, während den Dingen das Sein von außen (ab alio) vermittelt wird, so dass sie es auch wieder verlieren können. Endliche Dinge entstehen und vergehen; sie sind kontingent, weil ihr Was und ihr Dass, also ihre Form und ihr esse proprium nicht zusammenfallen, während Gottes Sein notwendig ist.Thomas beschreibt die Analogverursachung näher mithilfe des platonischen Partizipationsgedankens. Während er die vier aristotelischen Ursachenarten (Formursache, Materialursache, Wirkursache, Zweckursache) vor allem der innerweltlichen, univo­ ken Verursachung zurechnet, erfolgt die Analogverursachung durch Teilgabe und Teilnahme.15 Gott verleiht den Dingen ihr endliches Sein, indem er sie an seinem eigenen unendlichen Sein teilhaben »Ein jedes Ding ist dadurch, dass es Sein hat. Also ist kein Ding, dessen Wesen nicht sein Sein ist, durch sein Wesen, vielmehr ist es durch Teilhabe an etwas, nämlich dem Sein.« (ScG I 22) »Das, was auf Grund seines Wesens [als etwas] ausgesagt wird, ist die Ursache von allem, was durch Teilhabe [als etwas] ausgesagt wird, wie das Feuer die Ursache alles Feurigen als solchem ist. Gott aber ist auf Grund seines Wesens seiend, da er das Sein selbst ist. Alles andere Seiende aber ist Seiendes durch Teilhabe; denn 15

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lässt. Die Verursachung durch Teilgabe findet gerade dort statt, wo die Ursache nicht der gleichen Gattung angehört wie die Wirkung, sondern diese überragt. Sie konstituiert ein komplexes Verhältnis zwischen Gott und Welt. Gott verursacht das Sein der Dinge, indem er ihnen Sein verleiht. Dieses Sein ist dann das eigene Sein der Dinge, wenn auch als verliehenes, und nicht mehr das Sein Gottes. Die Dinge haben also einen gewissen Selbststand gegenüber ihrer Ursache. Zugleich impliziert die Analogverursachung durch Teilgabe metaphorisch gesprochen eine dauernde Präsenz der Ursache in der Wirkung. Während der Mensch, der einen Menschen zeugt, oder das Feuer, das etwas zum Brennen bringt, nach der Verursachung weggehen und die Wirkung sich selbst überlassen kann, stellen Teilgabe und Teilnahme eine bleibende Beziehung dar. Das kontin­ gente Seiende existiert nur, weil und solange die Teilhabebeziehung fortbesteht. Dies ist der Kern der klassischen Lehre von der Gegenwart Gottes in allen Dingen. In dem Satz: ›Weil das Zufällige ist, ist das Notwendige‹, bezeichnet das zweite »ist« das notwendige Sein der teilgebenden Analogursache, das erste »ist« hingegen auf analoge Weise das teilnehmende, kontingente Sein der Wirkung. Thomas‘ Lehre von der Analogverursachung der Welt durch Gott beinhaltet erstens eine radikale Unterscheidung Gottes von der Welt – Gott ist transzendent, denn er hat sein Sein nicht empfangen, sondern besitzt es aus sich heraus und existiert somit notwendig. Zweitens behauptet sie eine Ähnlichkeit des Seins zwischen Gott und Welt. Drittens impliziert sie eine relative Selbstständigkeit des Verursachten gegenüber der Ursache. Und viertens besagt sie eine besondere Nähe der Ursache zum Verursachten aufgrund der nicht bloß punktuellen, sondern kontinuierlichen Verursachung durch Teil­ gabe.

3. Hegel – das »ideelle« Sein der Welt und seine Aufhebung im »wahren« Sein Gottes Hegel hat seine »Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes« 1827 parallel und ergänzend zu seiner Vorlesung über die »Wissen­ schaft der Logik« gehalten, die den Anfang und den Kern seines das Seiende, das sein Sein ist, kann nur eines sein, wie im ersten Buch dargelegt wurde. Gott ist also die Ursache des Seins für alles andere Seiende.« (ScG II 15).

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philosophischen Systems darstellt. Durch zahlreiche Querverweise macht er deutlich, dass die Gottesbeweisproblematik als Ausfaltung der in der Logik vorgetragenen abstrakten Gedanken dient, und dass umgekehrt die Logik die tiefste Begründung des Gottesbeweises liefert. Seine Diskussion des kosmologischen Gottesbeweises hängt also direkt mit seiner Lehre vom Sein, von der absoluten Idee und von der dialektischen Bewegung des Begriffs zusammen. Hegel geht aus von dem zu seiner Zeit aktuellen Streit um das Wesen der Religion. Er selbst bestimmt Religion als »Erhebung des Geistes zu Gott« 16. In Abgrenzung gegen Jacobi und Schleiermacher setzt er diese Erhebung aber nicht in das Gefühl des Unendlichen oder der schlechthinnigen Abhängigkeit, sondern in das Denken. Religion vollzieht sich ihm zufolge auf dem Boden des Denkens. Deshalb hat Hegel grundsätzlich einige Sympathie für das Anliegen der Gottesbe­ weise. In seinen »Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes« befasst sich Hegel fast ausschließlich mit dem kosmologischen Got­ tesbeweis. Allerdings sieht er in der klassischen Formulierung des kosmologischen Argumentes, wie sie ihm vor allem von Leibniz her bekannt ist, beträchtliche Defizite. Generell hält Hegel sowohl den Gottesbegriff, der sich in diesem Argument niederschlägt, für unzureichend als auch den Begriff der Welt. Natürlich geht Hegel ausführlich auf Kants Kritik am kosmologischen Gottesbeweis ein. Er analysiert und verwirft sie, einerseits weil sie das Argument falsch rekonstruiere, und andererseits weil der gesamte Kritizismus Kants auf Vorurteilen beruhe.17 Hegel selbst beabsichtigt nun keine nega­ tive, sondern eine positive Kritik des kosmologischen Argumentes. Er will es auf dem Boden seines eigenen Gottesbegriffes neu formulie­ ren, was aber eine tiefgehende Transformation des Argumentes mit sich bringt. Die Grundthese des Argumentes a contingentia mundi lautet in Hegels Darstellung: Weil Zufälliges (die Welt) ist, deshalb muss auch Notwendiges (Gott) sein. Hegel denkt ebenso wie Thomas über die Bedeutung des zweimal verwendeten Wortes »sein« nach, konstruiert aber nicht wie dieser ein Analogieverhältnis zwischen ihnen, sondern ein Verhältnis dialektischer Aufhebung. Dazu stellt er drei Behauptungen auf. Erstens: Der Seinsbegriff ist in Anwendung 16 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, 1. Vorlesung, in: Ders., Werke in 20 Bänden, Theorie Werkausgabe (Hg. Moldenhauer/Michel) 17 (= Vorlesungen), Frankfurt a. M. 1969, 354356. 17 Vgl. Hegel, Vorlesungen, 10. Vorlesung (Einschaltung), 421–436.

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auf das Zufällige, also die Welt, selbstwidersprüchlich. Zweitens: Das Zufällige hebt sich recht betrachtet von selbst auf. Drittens: Am Ende dieses Aufhebungsprozesses wird das Sein Gottes als das einzige, allumfassende Sein sichtbar. Hegel zufolge kann Sein in Wahrheit nur vom Notwendigen, d. h. von Gott ausgesagt werden; das vermeintliche Sein des Zufälligen ist ein bloßes Nichtsein oder ein aufgehobenes Sein. Im Folgenden soll Hegels These vom Selbstwiderspruch des end­ lichen Seins und von der Selbstaufhebung des Zufälligen in das Not­ wendige dargestellt werden, wie er sie in seinen »Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes« erklärt. Der Seinsbegriff wird nach Hegel in Anwendung auf das endliche Seiende selbstwidersprüchlich. Hegel will dies zeigen durch eine Analyse der Begriffe des Zufälligen und des Notwendigen.18 Schon dem traditionellen philosophischen Verständnis zufolge ist das Zufällige nicht etwa das Grundlose, son­ dern solches, das eines Grundes bedarf, diesen Grund aber nicht in sich selbst trägt. Das Zufällige ist demnach das Unselbständige. Das Notwendige hat dagegen diesen Grund durchaus in sich selbst und ist somit selbstständig. Hegel erweitert diese traditionelle Auffassung durch folgende Überlegungen, die auf den Zusammenhang eines Seienden mit anderem abstellen. Zufällig sei ein Ding demnach dann, wenn es gegenüber anderen Dingen vereinzelt ist, wenn also dadurch, dass dieses Ding ist oder nicht ist, für die anderen Dinge keine Störung eintritt. Demgemäß sei ein Ding zufällig, wenn die anderen Dinge ihm gegenüber gleichgültig sind. Somit bedeutet Zufälligkeit nicht nur Unselbständigkeit, sondern nach Hegel auch Vereinzelung durch das Fehlen eines vollständigen Zusammenhangs mit anderem. Notwendig sei ein Seiendes dagegen dann, wenn es in einem festen Zusammenhang mit anderem Seienden steht, durch den es vollständig bestimmt ist, wenn es also nicht fehlen kann, ohne dass der gesamte Zusammenhang der Dinge gestört würde. Daraus ergibt sich nach Hegel folgende Situation. Notwendigkeit erfordert einerseits die Selbständigkeit eines Seienden und anderer­ seits dessen vollständigen Zusammenhang mit anderem. Doch diese beiden Bestimmungen stehen in einer Spannung zueinander, denn die Selbständigkeit läuft auf Vereinzelung hinaus, nicht auf einen Zusam­ menhang; und der Zusammenhang mit anderem führt zur Unselb­ ständigkeit, nicht zur Selbständigkeit. Hegels Analyse zufolge ist der 18

Hegel, Vorlesungen, 11. Vorlesung, 448–455.

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Begriff der Notwendigkeit inkonsistent, weil die beiden Begriffsmerk­ male einander widersprechen. Mehr noch, das Selbständigkeitsmo­ ment des Notwendigen tendiert zur Vereinzelung, die nach Hegel aber ein Merkmal des Zufälligen ist, und das Zusammenhangsmo­ ment tendiert zur Unselbständigkeit, die ebenfalls ein Merkmal des Zufälligen ist. So ist der Begriff des Notwendigen Hegel zufolge nicht nur inkonsistent, sondern jedes seiner Merkmale schlägt um in das Gegenteil des Notwendigen, nämlich in das Zufällige. So verlangt nach Hegel das Zufällige zwar eine Begründung im Notwendigen, doch das Notwendige tendiert bei Licht besehen dazu, sich wiederum in Zufälliges zu verwandeln: »das Zufällige ist verschieden von dem Notwendigen und weist auf ein Notwendiges hinaus, welches aber, wenn wir es näher betrachten, selbst unter die Zufälligkeit zurückfällt, weil es, als durch Anderes gesetzt, unselbständig ist.«19 Fasst man den Begriff des Zufälligen ins Auge, so ergibt sich Hegel zufolge eine genau entsprechende Situation. Erstens ist der Begriff des Zufälligen inkonsistent, weil sich die beiden Begriffsmerk­ male – Vereinzelung und Unselbständigkeit – widersprechen. Denn Vereinzelung impliziert Selbständigkeit gegenüber anderem, nicht aber Unselbständigkeit; und Unselbständigkeit impliziert Einbettung in einen Zusammenhang, nicht aber Vereinzelung. Zweitens verwan­ delt sich der Begriff des Zufälligen in sein Gegenteil, nämlich den Begriff des Notwendigen, weil die Selbständigkeit und der Zusam­ menhang genau die Begriffsmerkmale des Notwendigen sind. Die Begriffe des Notwendigen und des Zufälligen erweisen sich nach Hegel also nicht nur als inkonsistent, sondern auch als instabil, insofern sie in ihr jeweiliges Gegenteil umschlagen. Wenn nun der Begriff des Notwendigen nicht einfach verabschiedet, sondern aufrechterhalten werden soll, muss es Hegel zufolge möglich sein, den Aspekt der Selbständigkeit mit dem der Vermittlung mit Anderem zur Einheit zu verbinden. Er schreibt: »In dieser Einheit muß also die Vermittlung mit Anderem in die Selbständigkeit selbst fallen und diese als Beziehung auf sich selbst die Vermittlung mit Anderem innerhalb ihrer selbst haben. In dieser Bestimmung aber kann beides nur so vereinigt sein, dass die Vermittlung mit Anderem zugleich als Vermittlung mit sich ist, d.i. nur so, dass die Vermittlung mit Anderem sich aufhebt und zur Vermittlung mit sich wird.«20 »Die absolute Not­ 19 20

Hegel, Vorlesungen, 11. Vorlesung, 453. Hegel, Vorlesungen, 11. Vorlesung, 454.

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wendigkeit biegt solches Verhalten zu Anderem in ein Verhalten zu sich selbst um und bringt damit eben die innere Übereinstimmung mit sich hervor.«21 Hegel will also Selbstständigkeit und Vermitteltheit so im Begriff des Notwendigen zusammen denken, dass die Vermittlung mit anderem als Beziehung auf sich selbst deutbar wird, denn als solche stünde sie der Komponente der Selbstständigkeit nicht mehr entgegen. Die Selbständigkeit des Notwendigen liegt nach Hegel gerade darin, dass es sich mit dem anderen seiner zusammenschließt. Damit wäre die Inkonsistenz im Begriff des Notwendigen aufgehoben. Gleichzeitig soll damit auch das Problem der Instabilität, also des Umschlagens des Begriffs des Notwendigen in den des Zufälligen gelöst sein, denn die Vereinzelung und die Unselbständigkeit, in die die Begriffsmerkmale des Notwendigen übergehen, erweisen sich nun ebenfalls als »in der spekulativen Einheit« aufgehobene Momente. Zufällig erscheinen sie nur für eine abstrakte Betrachtung, die das Notwendige und das Zufällige gegeneinander isoliert, statt ihren Zusammenhang in der »Wahrheit« zu beachten. Vergegenwärtigen wir uns kurz die metaphysische Bedeutung dieser Überlegungen im Blick auf das Verhältnis von Gott und Welt. Der kosmologische Gottesbeweis behauptet, dass die Welt als zufällig Seiendes einer Begründung in Gott als dem notwendig Seienden bedarf. Die Welt existiert unselbständig, Gott dagegen selbständig. Die Selbständigkeit Gottes droht Hegels Analyse zufolge aber in eine Vereinzelung, d. h. in eine Loslösung von der Welt zu führen, und sein Zusammenhang mit der Welt impliziert eine Unselbständigkeit Gottes. Vereinzelung und Unselbständigkeit sind jedoch Merkmale des Zufälligen, so dass die Notwendigkeit Gottes insgesamt in eine Zufälligkeit Gottes umschlägt. Um dies zu verhindern, so meint Hegel, muss Gottes Verhältnis zur Welt nicht als Verhältnis zu anderem, sondern als Selbstverhältnis Gottes verstanden werden. Die Welt ist nicht Gott, aber dieses Nichtsein ist wiederum zu negieren und damit nach Hegel in eine höhere Einheit hinein aufzuheben. Diese höhere Einheit, zu der die Welt als aufgehobene, d. h. als Moment hinzugehört, ist der wahrhafte Gott. Während die klassische Metaphysik (und damit auch Thomas) Gott nur eine abstrakte Not­ wendigkeit zugeschrieben habe, durch die er im Gegenüber zur zufäl­ ligen Welt verharre, führe Hegels eigene Philosophie zur wahren, spekulativ verstandenen Notwendigkeit Gottes. Hegel schreibt: »Die 21

Hegel, Vorlesungen, 12. Vorlesung, 457.

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Notwendigkeit ist nur dadurch nicht die abstrakte, sondern wahrhaft absolute, dass sie den Zusammenhang mit Anderem in ihr selbst enthält, das Unterscheiden in sich ist, aber als ein aufgehobenes, ideelles.«22 Der Unterschied zwischen Gott und Welt, zwischen dem abstrakt Notwendigen und dem Zufälligen, ist somit aufgehoben im Konzept der absoluten Notwendigkeit, demzufolge Gott kein äußeres Gegenüber besitzt, sondern nur innere Differenzierungen. Ein Bedenken gegen Hegels Auffassung liegt auf der Hand. Seine These, der Begriff des Notwendigen sei erstens inkonsistent und schlage zweitens um in den des Zufälligen, beruht auf dem Gedanken, dass sowohl Selbständigkeit als auch der Zusammenhang mit ande­ rem Merkmale der Notwendigkeit seien. Diese Merkmale verhalten sich in der Tat gegenläufig zueinander. Von einem klassischen, etwa dem thomistischen, Standpunkt gesehen ist Hegels Deutung der Notwendigkeit aber fragwürdig, insbesondere die Ansetzung des Zusammenhangs mit anderem. Die Notwendigkeit Gottes beruht nach Thomas darauf, dass Gott aus sich heraus existiert. Gott ist selbständig im Sinne des Seins a se. Ein Zusammenhang mit anderem, insbesondere der Welt, kommt hier gar nicht vor. Der Begriff der Notwendigkeit enthält nach Thomas nur das Merkmal der Selbstän­ digkeit, nicht aber auch dasjenige des Zusammenhangs mit anderem. Ihm zufolge besitzt dieser Begriff keine gegenläufigen Komponenten und ist daher nicht inkonsistent. Auch ist nach Thomas nicht zu sehen, warum die Selbständigkeit Gottes im Sinne des a se in eine Zufälligkeit umschlagen sollte. In der Tat impliziert Selbständigkeit Vereinzelung, insofern Notwendigkeit das Fehlen eines äußeren Grundes besagt. Das Notwendige hat seinen Grund eben in sich selbst und ist dadurch selbständig. Von einem anderen, demgegenüber der in sich selbst stehende Gott vereinzelt sein könnte, ist hier noch gar keine Rede. Hegel scheint vorauszusetzen, dass der notwendig existierende Gott sozusagen notwendigerweise auf die zufällig existierende Welt bezogen ist. Nur dann enthielte seine Notwendigkeit außer der Selbständigkeit auch noch den Zusammenhang (mit der Welt), und nur dann könnte die Selbständigkeit Gottes zu seiner Vereinzelung gegenüber der Welt und zur Zufälligkeit im Sinne Hegels führen. Thomas würde die Notwendigkeit des Zusammenhangs von Gott und Welt aber leugnen. Ihm zufolge existiert Gott a se, aber er ist nicht notwendigerweise Grund einer Welt. Hegels spekulativer 22

Hegel, Vorlesungen, 12. Vorlesung, 456.

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Begriff der Notwendigkeit Gottes beruht nach Thomas auf einer falschen Voraussetzung. Selbst wenn man Hegels These akzeptiert, dass die Begriffe des Zufälligen und des Notwendigen konsequent zu Ende gedacht selbstwidersprüchlich und instabil werden, möchte man doch ein Argument dafür haben, dass die Vermittlung mit anderem in eine Vermittlung mit sich selbst umgedeutet werden darf, wie der spekula­ tive Begriff der Notwendigkeit es erfordert. Hegel liefert tatsächlich ein entsprechendes Argument, das sich anhand seiner Analyse der Begriffe von Endlichkeit und Unendlichkeit rekonstruieren lässt. Er schreibt: »Das Endliche ist kein wahrhaftes Sein; es ist an ihm selbst die Dialektik, sich aufzuheben, sich zu negieren, und seine Negation ist die Affirmation als Unendliches.«23 Das Sein des Endlichen ist nach Hegel durch Negativität geprägt.24 Die Negativität des Endlichen zeigt sich demnach zunächst in dessen Wandelbarkeit und Vergänglichkeit; dann aber auch noch in einer weiteren, und für Hegels Theorie des Absoluten entscheidenden Hinsicht, nämlich im Verhältnis der endlichen Dinge zueinander. Endliches ist gegenüber anderem Endli­ chen ein anderes. Ein Ding ist im Verhältnis zu einem zweiten Ding nicht dieses, sondern ein anderes, und umgekehrt, und beide sind gegenüber einem dritten Ding jeweils nicht dieses, sondern andere. Die negative Relation der Andersheit ist für Hegel ein Hauptmerkmal des endlichen Seienden. Das Absolute verhält sich aber nicht so. Das Absolute steht keinem anderen gegenüber, denn sonst würde es durch dieses eingeschränkt und wäre nicht absolut, sondern relativ. Daher steht es zu nichts im Verhältnis der Andersheit. Anders formuliert: Das Unendliche kann kein Gegenüber haben, weil es dadurch ein Endliches würde. In welchem Verhältnis stehen aber dann Relatives und Abso­ lutes, oder Endliches und Unendliches zueinander? Zunächst befin­ det sich ein Endliches zusammen mit allem anderen Endlichen in einer potentiell unendlich langen Reihe: eines, ein anderes, noch ein anderes usw. Dies ist nach Hegel aber eine schlechte Unendlich­ keit. Für ihn ist folgender Gedankengang zentral: Das Eine ist ein anderes gegenüber einem Zweiten, und dieses Zweite ist ein anderes Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, Einleitung. Der Begriff der Religion, (Hg. Jaeschke), Hamburg 1983, 322. 24 Er meint, der Satz »das Endliche ist« sei falsch, denn das Endliche habe die Bestimmung zu vergehen, nicht zu sein (vgl. Hegel, Vorlesungen, 14. Vorlesung, 478). 23

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gegenüber dem Ersten. So sind also beide das Gleiche, nämlich ein anderes, und sie sind dadurch – wie Hegel meint – nicht nur gleich, sondern sogar dasselbe: »Ein Anderes wird zu einem Anderen; beide sind also dasselbe.«25 Über den verneinten Gegensatz zum anderen schließt sich das Eine mit sich selbst zusammen. Die Negation, die das Eine vom anderen trennt, wird ihrerseits negiert, d. h. aufgehoben. Aufgehoben bedeutet hier: internalisiert. Die Negation bestimmt nicht das Außenverhältnis des Einen – das Eine als absolutes hat gar kein Außenverhältnis – sondern das Innenverhältnis, in dem das Eine im anderen seiner sich selbst erkennt und sich so zur spekulativen Identität erhebt. Auf diese Weise geht das Endliche nach Hegel über in das affirmativ Unendliche und das Zufällige in das absolut Notwendige. Hegel verwendet hier gern das Wort »Wahrheit«: Das Unendliche ist die »Wahrheit« des Endlichen, und das Notwendige ist die »Wahrheit« des Zufälligen. Demnach macht das Unendliche nicht bloß eine Seite im Ver­ hältnis zum Endlichen aus – dann wäre es ja in Wahrheit gar nicht unendlich; vielmehr ist das Endliche selbst das Unendliche. Das Endliche hat kein eigenes Sein, sondern bei richtiger (»spekulativer«) Betrachtung zeigt sich nach Hegel, dass das Endliche übergeht ins Unendliche und das Zufällige ins Notwendige. Doch das Unendliche und Notwendige ist dabei Hegel zufolge nicht zu denken als abstrakte Identität, sondern als selbstreferentielle Einheit, die jedes Verhältnis zu anderem in ein Selbstverhältnis umbiegt und somit alles umfasst. Diese absolute Einheit hat kein Außerhalb und kein Gegenüber. Der unendliche, absolut notwendige Gott ist somit das einzige, das »wahrhaft« ist. Aus dieser Bestimmung des Verhältnisses von Unendlichem zu Endlichem und von Notwendigem zu Zufälligem ergibt sich Hegels Kritik am kosmologischen Gottesbeweis. Er sieht dessen Mangel bereits in der Form des syllogistischen Schließens, die von Prämissen ausgeht und zu einer Konklusion führt. Die erste Prämisse lautet: Wenn Zufälliges ist, dann ist auch das Absolut-Notwendige. Die zweite: Es ist eine zufällige Welt. Ergo: Das Absolut-Notwendige, nämlich Gott, existiert. In den Prämissen wird zweimal das Sein des Zufälligen ausgesprochen, und zwar als »stehendes Unmittelbares«,

25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, Einleitung. Der Begriff der Religion (Hg. Jaeschke), Hamburg 1983, 315.

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als »seiendes, bleibendes Erstes«.26 Es wird somit Hegel zufolge gegen das Notwendige fixiert, und dieses gerät in ein äußerliches Verhältnis zum Zufälligen. Nach Hegel »[…] sind aber in der Art des Schlusses auch außerhalb voneinander die zwei Seiten der Beziehung als Seiende aufbehalten.«27 Von beiden Seiten wird Sein behauptet. Das richtige Verfahren des Gottesbeweises ist nach Hegel jedoch nicht dasjenige einer Ableitung Gottes aus Prämissen, sondern einer »Erhebung« zu Gott durch Mitvollzug der Selbstaufhebung des Zufäl­ ligen: »Wenn also von dem Zufälligen angefangen wird, so ist von demselben nicht als von einem, das festbleiben soll, auszugehen, so dass es im Fortgange als seiend belassen wird […], sondern es ist mit seiner vollständigen Bestimmung zu setzen, dass ihm ebensosehr das Nichtsein zukomme und dass es somit als verschwindend in das Resultat eintrete.«28 Und weiter heißt es: »Nicht weil das Zufällige ist, sondern vielmehr weil es ein Nichtsein, nur Erscheinung, sein Sein nicht wahrhafte Wirklichkeit ist, ist die absolute Notwendigkeit; diese ist sein Sein und seine Wahrheit.«29 Zugespitzt könnte man den Gegensatz zwischen dem klassischen Argument a contingentia mundi und Hegels Neufassung so formulieren: Nach Thomas, Leibniz und anderen gilt: Weil das Zufällige ist, ist auch das Notwendige. Nach Hegel gilt jedoch: Weil das Zufällige sich aufhebt und in diesem Sinne nicht ist, ist das Notwendige. Den Mangel des kosmologischen Gottesbeweises sieht Hegel also nicht etwa darin, dass er fehlschlüssig wäre und die Existenz Gottes so nicht bewiesen werden könne. Vielmehr liege sein Defizit darin, dass er den Übergang des Zufälligen zum Notwendigen nicht richtig expliziert und daher bei einem defizienten Begriff vom Sein Gottes endet. Dem kosmologischen Argument zufolge behält nämlich das Endliche und Zufällige ein eigenes Sein; es ist keineswegs ein Nichtsein, wie Hegel es fordert. In Hegels Sicht entsteht dadurch das Problem, dass Gott in ein Gegenüber zur Welt gerät, wodurch die wahre Bedeutung der Unendlichkeit Gottes verloren gehe. Für Hegel ist die Welt (das Zufällige) bloß ein Moment Gottes als des zu sich kommenden absoluten Geistes. Ihre Realität ist eine aufgehobene, oder, wie Hegel sagt, eine bloß »ideelle«. Das Sein der Welt ist in 26 27 28 29

Vgl. Hegel, Vorlesungen, 13. Vorlesung, 463. Hegel, Vorlesungen, 13. Vorlesung, 464. Hegel, ebd. Hegel, ebd.

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Wahrheit das Sein Gottes, denn letztlich gibt es überhaupt nur eines, nämlich Gott.

4. Analoges oder dialektisches Sein der Welt? – Thomas und Hegel im Gespräch Die Frage mag gestellt werden, ob das Analogiedenken des Thomas und die Dialektik Hegels überhaupt vergleichbar sind, steht Thomas‘ Denken doch auf dem Boden des natürlichen Bewusstseins, dasje­ nige Hegels aber auf dem Standpunkt der Spekulation. Doch der Standpunkt der Spekulation muss seine Berechtigung auch vor dem natürlichen Bewusstsein ausweisen können. Wie dies Hegel zufolge geschieht, kann hier nicht nachverfolgt werden, denn letztlich ist das gesamte System Hegels nichts anderes als der Versuch eines solchen Ausweises. Es muss aber doch möglich sein, Hegels These, dass das Aufgehobensein der Welt in Gott die »Wahrheit« des kosmologischen Gottesbeweises sei, auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Zweifellos stimmen Hegel und Thomas überein in der These, dass das Endliche aus sich heraus nicht verständlich sei, sondern einer Begründung in Gott bedürfe.30 Das endliche Seiende verweist auf Gott als Grund allen Seins. Gleichwohl weist Hegels Idee der Aufhebung des Endlichen in das Unendliche und des Zufälligen in das wahrhaft Notwendige erhebliche Unterschiede auf zu Thomas‘ Konzept eines analogen Verhältnisses zwischen dem notwendigen Sein Gottes und dessen Wirkung, dem zufälligen Sein der Welt. Hegel befasst sich zwar niemals explizit mit Thomas von Aquin. Doch ginge er auf dessen Denken ein, dann würde er folgenden Vorwurf erheben: Thomas schreibt sowohl Gott als auch der Welt Sein zu – beide sind. Dies zeigt sich schon darin, dass Thomas gegen die syllogistische Form des kosmologischen Argumentes nichts ein­ zuwenden hätte: »Weil Zufälliges ist, ist auch das Notwendige.« Hegel wirft den Verfechtern dieses Satzes vor, durch das Festhalten beider Verwendungen von »ist« Gott und die Welt in ein Nebeneinander und in ein äußerliches Verhältnis zu bringen, das die Unendlichkeit und Absolutheit Gottes gefährdet. In Hegels Sicht verfehlt Thomas also die Unendlichkeit und absolute Notwendigkeit Gottes, indem er der Welt ein eigenes Sein zuerkennt. Dadurch stehe Gott letztlich 30

Vgl. auch Möller (1953), 149; 155.

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in einem Verhältnis der Abhängigkeit zur Welt. Thomas bleibt nach Hegel der Verstandesmetaphysik verhaftet. Hätte er den spekulativen Standpunkt erklommen, dann hätte er – so meint Hegel – die Selbst­ widersprüchlichkeit und die Selbstaufhebung des endlichen Seins erkannt. Thomas würde dem aber entgegenhalten, dass in seiner Auf­ fassung kein Nebeneinander von Gott und Welt zu befürchten sei, weil das Wort »ist« hier nicht univok, sondern analog verwendet werde. Die analoge Sprechweise trägt der Transzendenz Gottes gegenüber der Welt Rechnung. Umgekehrt hätte Thomas gegen Hegel folgende Einwände erho­ ben. Erstens sei Hegels Lehre von der Inkonsistenz und der Instabilität der Begriffe des Zufälligen und des Notwendigen nicht zu akzeptieren, weil sie voraussetzt, dass es Notwendiges nicht ohne Zufälliges (und daher Gott nicht ohne Welt) geben könne. Hegels Kritik an der klassischen Metaphysik sowie am kosmologischen Gottesbeweis in seinem metaphysischen Verständnis beruht auf jener nicht plausiblen Voraussetzung. Zweitens, so könnte Thomas einwenden, basiert Hegels Lehre von der Selbstaufhebung des endlichen Seins auf einer Verwechslung von Gleichheit und Selbigkeit. Denn die Tatsache, dass alle Dinge strukturell gleich sind, insofern jedes gegenüber jedem anderem ein anderes ist, zeigt nicht, dass die Wahrheit jedes Fremdverhältnisses das Selbstverhältnis Gottes ist. Der Satz »Das Endliche ist«, ist Thomas zufolge keineswegs selbstwidersprüchlich. Es liegt keine Kontradiktion darin, von etwas, das ein verliehenes Sein besitzt, zu sagen, dass es ist. Drittens ist die Welt bei Hegel in thomistischer Sicht unterbewertet. Hegel zufolge unterscheidet sie sich von Gott in seinem Ansichsein nur durch die Negation – sie ist nicht Gott. Durch das angebliche Umschlagen des Begriffes des Zufälligen in den des Notwendigen wird diese Negation ihrerseits negiert. Die daraus sich ergebende doppelte Negation deutet Hegel als Zusichkommen Gottes im Durchgang durch das andere seiner. Damit ist die Welt in Wahrheit nur noch ideell, als ein Moment Gottes. Nach Thomas ist Gott der Welt zwar nahe, ja er ist präsent in allen Dingen, weil er sie durch Teilgabe verursacht. Aber er ist nicht selbst die Welt in dem Sinne, dass er sich in ihr als im Anderen seiner selbst erkennt, ergreift und zur absoluten Identität vermittelt. Thomas‘ Analogielehre deutet die Welt nicht als Moment, son­ dern als Geschöpf Gottes. Sie versucht so, eine relative Eigenständig­ keit der Welt gegenüber Gott zu sichern. Das Endliche, Zufällige hat sein eigenes Sein – freilich ist dies ein verursachtes, verliehenes,

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Johannes Brachtendorf

gegebenes Sein, aber als solches doch das Sein des Endlichen. Der Aufstieg zu Gott ist nicht wie in Hegels »Erhebung« ein Mitvollzug der Selbstaufhebung des Endlichen in das Absolute, sondern der Weg vom verursachten Seienden zu seiner Seinsursache. Um das Verhält­ nis Gottes zur Welt zu explizieren, nimmt Thomas die Lehre von der Analogie in Verbindung mit der platonischen Partizipationslehre in Anspruch. Analoge Verursachung wirkt über Seinsstufen hinweg und verbindet das Teilgebende mit dem Teilnehmenden. Sie sichert sowohl die Transzendenz der Ursache als auch die relative Eigenständigkeit des Verursachten, und behauptet zugleich die bleibende Präsenz Gottes in der Welt. Hegel behauptet dagegen, dass die klassischen Gottesbeweise äußerliche und als solche noch nicht voll verstandene Beschreibungen des Ganges des Geistes in sich seien. Ihm zufolge liegt die Wahrheit des kosmologischen Argumentes darin, dass Gott sich durch die Aufhebung seines Gegensatzes zur Welt mit sich selbst vermittelt. Hegels Anspruch, dass das Zusichkommen Gottes die wahre, dialektische Tiefenstruktur des kosmologischen Argumentes darstelle, muss man mit Thomas jedoch zurückweisen. Denn das Verständnis vom Sein der Welt und ihrem Verhältnis zum Sein Gottes, wie es für die vermeintliche Tiefenstruktur kennzeichnend ist, widerspricht dem analogen Seinsbegriff, auf dem das kosmologische Argument bei Thomas beruht.

Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, in: Ders., Werke in 20 Bänden, Theorie Werkausgabe (Hg. Molden­ hauer/Michel) Bd. 17, Frankfurt a.M. 1969. (Zitiert als Hegel, Vorlesungen) ----, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, (Hg. Jaeschke), Ham­ burg 1983. Lakebrink, Bernhard, Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Ana­ lektik, Köln 1955. Möller, Joseph, Thomistische Analogie und Hegelsche Dialektik, in: ThQ 137 (1957), 129–159. Wagner, Hans, Existenz, Analogie und Dialektik. Religio pura seu transcenden­ talis (Religionsphilosophie Band I, 1. Halbband), München 1953.

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Dalia Nassar

Kant, Herder und der Streit um die Analogie

In seiner 1785 veröffentlichen Rezension von Herders Ideen zur Phi­ losophie der Geschichte der Menschheit (1784) kritisiert Kant Herders Methodik aufs Schärfste, im Besonderen seinen Gebrauch von Analo­ gien. Kant argumentiert, dass Herder durch Analogie unbegründete Verbindungen zwischen der Entwicklung der Natur und der des Menschen herstellt, und darum fälschlicherweise die menschliche Geschichte als Teil der Naturgeschichte begreift. Wie Kant schreibt »[Der] Recensent muss gestehen: daß er diese Schlußfolge aus der Analogie der Natur, wenn er gleich jene continuirliche Gradation ihrer Geschöpfe sammt der Regel derselben, nämlich der Annäherung zum Menschen, einräumen wollte, doch nicht einsehe. Denn,“ so fügt Kant hinzu, »es sind da verschiedene Wesen, welche die mancherlei Stufen der immer vollkommneren Organisation besetzen« (AA 8:52–3).1 Mit anderen Worten, Herders Gebrauch von Analogien übersieht grundlegende Unterschiede zwischen verschiedenen Naturwesen und zwischen Naturwesen und Menschen – Unterschiede, die nicht mit dem übergangen werden können und dürfen, was Novalis den »Zau­ berstab der Analogie« nannte. Kant argumentiert, dass diese Unter­ schiede Herders Gebrauch von Analogien in Frage stellen. Und sogar schärfer: diese Unterschiede, behauptet Kant, unterhöhlen Herders Versuch, tiefliegende Ähnlichkeiten wahrzunehmen oder auf eine originäre Einheit hinzuweisen. Kant sieht in Herders Auslassung von Differenzen ein funda­ mentales Missverständnis der Ziele und Bedeutung von Wissen­ schaft. In seinem Aufsatz über den Gebrauch teleologischer Prinzipien drei Jahre nach der Recension schreibt Kant, er sei »völlig überzeugt worden … daß durch die bloße Scheidung des Ungleichartigen, wel­ 1 Alle Zitate aus dem Werk Kants sind der Akademie-Ausgabe entnommen, die hier mit AA gekennzeichnet ist, mit Ausnahme der Hechsel-Vorlesungen (siehe unten Nummer 4) und der Kritik der reinen Vernunft, die der Seitennummerierung A/B folgt.

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Dalia Nassar

ches man vorher im Gemenge genommen hatte, den Wissenschaften oft ein ganz neues Licht aufgehe, wobei […] viele ächte Quellen der Erkenntniß eröffnet werden, wo man sie gar nicht hätte vermuthen sollen« (AA 8:162). Das Ziel des Wissenschaftlers müsse es sein, fährt er fort, »die Sorglosigkeit, die Grenzen der Wissenschaften in einander laufen zu lassen«, in Frage zu stellen. Im Lichte seiner frühe­ ren Recension betrachtet, erscheint es als wäre diese Herausforderung direkt auf die Art des Gebrauchs von Analogie als Argumentations­ mittel durch seinen früheren Schüler gemünzt. Tatsächlich betont Herder seine Verwendung der Analogie über­ all in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Anstatt mit »süßen Worten« herumzuspielen, argumentiert Herder, müsse man tiefer in die »Analogie der Natur« um natürliche Entwicklung zu verstehen. Er führt aus, dass dies die Bestimmung der »Wirkungen und Formen ihrer Kräfte,” und »deren Vergleich« beinhalte. Nur durch die Untersuchung der »gesamten herrschenden Ähnlichkeit« der Natur, fährt er fort, könne man »Hoffnungen sammeln« (HW 6, 165).2 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass viele Untersuchungen über Kants Verhältnis zu Herder bei deren unter­ schiedlichen Auffassungen der Analogie ansetzen. Obwohl die meis­ ten dieser Studien eindeutig Kants Kritik zustimmen, fordern einige wichtige Arbeiten Kants Interpretation heraus. In einer der umfas­ sendsten Darstellungen von Herders Verständnis der Analogie argu­ mentiert Hans Dietrich Irmscher, dass Herders Begriff der Analogie keinen konstituierenden Anspruch erhebt (wie Kant annahm), son­ dern einen rein heuristischen, der Forschung anleiten und neue wissenschaftliche Horizonte eröffnen soll. Vor einigen Jahren machte John Zammito, der Herders Methodologie im historischen Kontext betrachtet, suggestive Anmerkungen über die Signifikanz von Her­ ders Gebrauch der Analogie für die Entwicklung der Biologie, was die Relevanz von Herders Ideen für seine Zeit illustriert.3 Mein Ziel hier unterscheidet sich von diesen beiden Ansätzen, so interessant ich sie für sich genommen finde. Anstatt mich auf eine Alle Herder Zitate sind aus der Herder Werke, die hier mit HW gekennzeichnet sind. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, hg. Jürgen Brummack and Martin Bollacher. Frankfurt am Main: Deutsche Klassiker Verlag, 1985–2000. 3 John Zammito, Kant, Herder and the Birth of Anthropology (Chicago: University of Chicago Press, 2002), S. 328.

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etwaige Rechtfertigung von Herders Verwendung der Analogie zu konzentrieren, möchte ich Kants Kritik an Herder problematisieren. Im Grunde lehnte Kant die Analogie nämlich nicht vollkommen ab, sondern betonte ihre Bedeutung häufig. Nicht nur in seiner vorkritischen Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), sondern auch in seinen Vorlesungen zur Logik (1770–1800) und seinen drei Kritiken, gebraucht Kant Analogien und beschreibt dies als notwendig für die »Erweiterung« der Erkenntnis. Daher war Kant, obwohl er Bedenken gegenüber der Analogie ausdrückte, sich auch ihrer Nützlichkeit, sogar ihrer Notwendigkeit, bewusst. Wie er es in der Hechsel-Logik ausdrückt: »ohne Analogie wie sollen wir uns helfen?«4 Wenn man diese Äußerungen in Betracht zieht, scheint Kants Kritik an Herder übertrieben, sogar unbegründet. Angenom­ men Herder befasste sich mit der Entfaltung empirischen Wissens, ein Bereich, in dem Kant die Notwendigkeit der Analogie anerkennt, welche Gründe hätte er für seine Tirade gegen Herder haben können? Ich möchte zeigen, dass Herders Verwendung der Analogie eine formidable methodologische Herausforderung für Kant war; eine Herausforderung, der er sich in den Jahren nach seiner Rezension zu stellen suchte, indem er, auf der einen Seite, zugestand, dass die Analogie wichtiger ist, als er zuvor angenommen hatte, und, auf der anderen Seite, ihre wissenschaftliche Funktion stark beschnitt. Das zeigt sich in den Veränderungen in Kants Ansichten zur Analogie von den späten 1770ern und frühen 1780ern zu 1790 und 1800. Besonders in der Kritik der Urteilskraft kommt Kant Herders Ansicht, dass die Objekte der Reflexion mittels der Analogie konstituiert werden, sehr nahe. Jedoch lehnte Kant im gleichen Zusammenhang ausdrücklich die Ansicht ab, dass analogische Reflexion einen klaren wissenschaftlichen Wert oder Funktion haben könnte. Das bringt Kant in eine Situation, in der er unfähig ist, zu erklären, wofür die Analogie letztendlich gut sei. Wenn Analogieschlüsse unmöglich sind, wie Kant in seiner dritten Kritik mit Nachdruck argumentiert, warum beschäftigt er sich überhaupt mit der Analogie? Diese Frage möchte ich beantworten, indem ich die Veränderun­ gen in Kants Verständnis der Analogie in Hinsicht auf seine Kritik an Herder und Herders eigene Darstellung von Wissen als inhärent ana­ Immanuel Kant, Logik-Vorlesung, Unveröffentlichte Nachschriften II. Logik Hechsel, Warschauer Logik, bearbeitet von Tillmann Pinder (Hamburg: Felix Meiner Verlag), S. 478. (=Kant-Forschungen, hg. Reinhard Brandt and Werner Stark, Bd. 9.) 4

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logisch nachvollziehe. Und weiterhin möchte ich auf dieser Grundlage die Schwierigkeiten untersuchen, zu denen diese Frage führt.

1. Kant zur Analogie (1770er-1785) In seinen Schriften und Vorlesungen aus den 1770ern und 1780ern entwickelt Kant zwei unterschiedliche, jedoch verwandte, Begriffe der Analogie. In der Kritik der reinen Vernunft (1781) und den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783), spricht Kant von der Ana­ logie als auf der mathematischen Analogie der Proportion basierend, in der drei Glieder gegeben sind und ein viertes unbekanntes Glied, wie Kant es ausdrückt, »konstruiert« wird (A179/B222). Demzufolge wird in der Formel 2:4::4:X X konstruiert, indem das Verhältnis zwischen 2 und 4 bestimmt und auf das Verhältnis zwischen 4 und X übertragen wird, sodass X = 8. Kant betont, dass, während die mathematische Analogie zur Konstruktion eines unbekannten Gliedes führt, dies für die philoso­ phische Analogie nicht der Fall ist. Obwohl in beiden Fällen das Verhältnis zwischen den Gliedern gleich ist – d. h. auf Proportion basierend – ist das Wissen, welches aus der Analogie resultiert, ein anderes. Wie er ausführt, sind mathematische Analogien »Formeln« »welche die Gleichheit zweier Grössenverhältnisse aussagen, und jederzeit constitutiv, so dass, wenn drei Glieder der Proportion gege­ ben sind, auch das vierte dadurch gegeben wird, d. i. constituirt werden kann.« Dies ist nicht der Fall in der Philosophie, wo »Analogie nicht die Gleichheit zweier quantitativen sondern qualitativen Verhältnisse [sei], wo ich aus drei gegebenen Gliedern nur das Verhältniss zu einem vierten, nicht aber dieses vierte Glied selbst erkennen und a priori geben kann, wohl aber eine Regel habe, es in der Erfahrung zu suchen, und ein Merkmal, es in derselben aufzufinden« (A179/B222).5 Diese unterschiedlichen Ergebnisse haben mit der Tatsache zu tun, dass in mathematischer Analogie das Verhältnis quantitativ ist, das heißt, es basiert auf mathematischer Proportion (ratio). Daher beruht die Analogie darauf, das Verhältnis zwischen zwei Gliedern Warum Kant in Falle der mathematischen Analogie von drei bekannten und einem dritten unbekannten Element spricht, während er in Falle der philosophischen Ana­ logie von drei Elementen, mit einem vierten unbekannten spricht, siehe John H. Callanan, »Kant on Analogy,” British Journal for the History of Philosophy 16:4 (2008): 747–772, besonders S. 760–761. 5

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festzustellen und auf zwei andere Glieder zu übertragen. Dadurch wird die Bestimmung des unbekannten Glieds möglich. Das impli­ ziert, dass die verschiedenen Glieder letztendlich homogen und ihre Unterschiede nur in ihrer Quantität begründet sind. In der Philoso­ phie sind die Glieder jedoch heterogen, daher ist ihr Verhältnis nicht rein quantitativ. Aus diesem Grund behauptet Kant, dass es unmög­ lich sei, das unbekannte vierte Glied zu konstruieren. Stattdessen kann die Analogie, wie er es in den Prolegomena ausdrückt, nur »einen Verhältnisbegriff von Dingen« liefern, das heißt, eine Regel, mit der man das vierte Glied »entdecken« kann (AA 4:358). In den Prolegomena gibt er folgendes Beispiel einer philosophi­ schen Analogie: Vermitteltst einer solchen Analogie kann ich daher einen Verhält­ nißbegriff von Dingen, die mir absolut unbekannt sind, geben. Z. B. wie sich verhält die Beförderung des Glücks der Kinder = a zu der Liebe der Eltern = b, so die Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts = c zu dem Unbekannten in Gott = x, welches wir Liebe nennen; nicht als wenn es die mindeste Ähnlichkeit mit irgend einer menschlichen Neigung hätte, sondern weil wir das Verhältniß desselben zur Welt demjenigen ähnlich setzen können, was Dinge der Welt unter einander haben. (AA 4:358)

Obwohl die Analogie die Form a:b::c:d hat, ist es daher unmöglich, d zu konstruieren, das heißt z. B. Gott a priori zu bestimmen. Stattdes­ sen zeigt die Analogie nur, dass die Beziehung zwischen a und b mit der zwischen c und d vergleichbar ist. Wie Kant schreibt, »wenn dabei das Unbekannte auch nicht im Mindesten bekannter werden sollte wie denn das in der That auch nicht zu hoffen ist, so muß doch der Begriff von dieser Verknüpfung bestimmt und zur Deutlichkeit gebracht wer­ den können« (AA 4:354). Was die philosophische Analogie demnach leisten kann, ist, verschiedene Entitäten einer Regel zu unterwerfen und damit eine Handhabe zu liefern, mit der diese Entitäten weiter untersucht werden können. Daraus zieht Kant in der ersten Kritik den Schluss, dass [e]ine Analogie der Erfahrung […] also nur eine Regel sein [wird], nach welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung (nicht wie Wahr­ nehmung selbst als empirische Anschauung überhaupt) entspringen soll, und als Grundsatz von den Gegenständen (den Erscheinungen) nicht constitutiv, sondern bloß regulativ gelten. (ebd.)

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Zusätzlich zum Konzept der Analogie basierend auf mathematischer Proportionalität beschreibt Kant in seinen Vorlesungen zur Logik die Analogie als eine Form der Erkenntnis a posteriori, welche der Induktion nicht unähnlich ist. Das nähert ihn dem frühmodernen Analogiebegriff an, wo die Analogie als ein Mittel des Schlusses vom Beobachteten auf nicht Beobachtbares verstanden wurde. Kant argumentiert, dass die Induktion so verfährt, dasssie uni­ verselle Charakteristika bestimmt und Einzelfälle unter diese univer­ sellen Begriffe kategorisiert. Analogische Inferenz dagegen folgert von partikularer auf totale Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen. Wäh­ rend daher induktive Inferenz auf dem Prinzip der Universalisierung beruht, wo was zu vielen Dingen des gleichen Genus gehört auch zu den Übrigen gehört, beruht analogische Inferenz auf dem Prinzip der Spezifizierung. Sie betrifft daher die Prädikate oder Eigenschaften zweier Dinge. So schreibt Kant »Dinge von einer Gattung, von denen man vieles Übereinstimmende kennt, stimmen auch in dem Übrigen überein, was wir in einigen dieser Gattung kennen, an andern aber nicht wahrnehmen« (AA 9, 133). Während die proportionale Analogie eine ähnliche Beziehung zwischen zwei unähnlichen Entitäten betrifft, vergleicht diejenige Analogie, wie sie in den Vorlesungen beschrieben wird, die Eigen­ schaften verschiedener Entitäten und stellt auf der Basis geteilter Eigenschaften eine Inferenz zu unbekannten Eigenschaften her. So schreibt Kant in der Dohnau-Logik (1780er), »Wenn 2 Dinge unter so vielen Bestimmungen, als ich habe kennen lernen, übereinkom­ men, so schließe ich, daß sie in den andern Bestimmungen auch übereinkommen. Ich schließe also von einigen Bestimmungen, die ich erkenne, daß dem Ding die andern auch zukommen« (AA 24, 772). Diese Art der Analogie kann als Analogie der Zuordnung beschrieben werden, da sie auf der ontologischen Beziehung zwischen verschiedenen Attributen basiert.6 Trotz dieses Unterschieds ist beiden Begriffen der Analogie gemeinsam, dass sie Behauptungen über ein unbekanntes Objekt oder eine unbekannte Eigenschaft aufstellen, indem sie eine Regel festlegen (eine »bestimmte« »Idee der Verbindung« wie Kant es in den Prolegomena ausdrückt) und diese anwenden um das unbekannte Objekt zu entdecken und zu untersuchen. 6 Siehe Daniel Whistler, »Post-Established Harmony: Kant and Analogy Reconside­ red,” Sophia 52:2 (2013), S. 8.

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Trotz ihrer Nützlichkeit besteht Kant jedoch darauf, dass Ana­ logie und Inferenz lediglich »Krücken der menschlichen Vernunft« sind (AA 24, 777).7 Das ist der Fall, weil, wie er erklärt, »in allgemei­ nen Sätzen der Wahrheit wir immer zwar nach logischer Strenge ver­ fahren können; allein in dem Gebrauch unserer Erkenntniß (a poste­ riori) da müßen wir uns auch oft mit der Wahrscheinlichen helfen« (AA 24, 287). Obwohl diese »Krücken« kein apodiktisches Wissen liefern können, sind sie doch unverzichtbar für die empirische Erkenntnis. Wie Kant es in der Hechsel-Logik ausdrückt: »Nach der Analogie müßen wir empirisch verfahren, sonst werden wir keine ausgebreitete Erkenntnis bekommen, und ohne allgemeine Regeln können wir keinen allgemeinen Schluß machen. […] Kommen also zwei Dingen in so vielen Dingen überein, als man komt so schlüßt man; sie werden auch in den übrigen Stükken überein kommen. Das geht wohl eigentlich nicht anders an, aber, wie sollen wir uns denn anders helfen?«8

2. Herder zur Analogie H. B. Nisbet ist bekannt für seine Kritik an Herders multivalentem Gebrauch des Begriffs der Analogie. Er behauptet, dass Herders sogenannte Analogie in verschiedener Hinsicht nicht exakt also solche bestimmt werden kann.9 Nisbet lehnt besonders Herders Ansicht ab, dass das Verhältnis der Erkenntnis von Subjekt und Objekt analogisch ist. Stattdessen argumentiert er, dass das Verhältnis entweder kausal (wo das Subjekt Erkenntnisobjekte hervorbringt) oder identisch (wo das Subjekt Erkenntnis über das Objekt gewinnt, weil sie ursprünglich vereint waren) ist; keine dieser beiden Beziehungen ist echt analo­ gisch. Trotz dieser Kritik fährt Nisbet fort, Herders »echte« analoge Methode und deren Bedeutung für die Wissenschaft herauszuarbei­ 7 Das führt natürlich zu großer Verwirrung, wenn man in Betracht zieht, dass Kant in der ersten Kritik der Analogie einen wichtigen Platz einräumt – in den Analogien der Erfahrung. Zur Bedeutung der Analogie für die Transzendentale Analyse siehe Callanan, »Kant on Analogy.« 8 Kant, Logik-Vorlesung, S. 477–478. 9 H. B. Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science (Cambridge: Modern Humanities Research Association, 1970), S. 26–27.

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ten, indem er anmerkt, dass für Herder »die analoge Methode ein Mittel zur Entdeckung neuer Fakten in der Natur« sei.10 Hans Dietrich Irmscher hob auf ähnliche Weise Herders Gebrauch der Analogie für, wie er es ausdrückt, »die Entdeckung neuer Erkenntnisfelder« hervor.11 Im Gegensatz zu Nisbet, der sich auf die Bedeutung der Analogie für die Naturwissenschaften konzen­ triert, untersucht Irmscher Herders Anwendung der Analogie zur Etablierung einer Reihe anderer Disziplinen, wie der Hermeneutik und der Anthropologie. Obwohl ich Nisbets und Irmschers Betonung der Analogie als eines Mittels der Entdeckung zustimme und darüber hinaus diesen Aspekt als relevant für Kants Kritik an Herders Anwendung der Analogie sehe, bin ich mit deren Geringschätzung von Herders Dar­ stellung des generellen analogischen Charakters von Erkenntnis nicht einverstanden. Wie oben angemerkt lehnt Nisbet dies als verworren ab. Irmscher, auf der anderen Seite, bestreitet, dass Herder die Ana­ logie in dieser Weise gebraucht. Die eigentliche Funktion der Analogie wird, so Irmscher, missverstanden, »wenn sie als gegenstandskonsti­ tuierende Kategorien aufgefaßt werden, anstatt sie als Gleichnisse zu nehmen, in denen neue Perspektiven eröffnet werden.«12 Mit anderen Worten, Analogie betrifft nicht die fundamentalste Stufe der Erkenntnis – die Stufe auf der Objekte erst Objekte für das erkennende Subjekt werden. Herder stellt jedoch wiederholt fest, dass die Struktur der Erkenntnis essentiell analogisch ist. Wie er es in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele ausdrückt, »was wir wissen wissen wir nur aus Analogie« (HW 4, 330). Das impliziert offensichtlich nicht, dass die Analogie nur zur Etablierung neuer Disziplinen anzu­ wenden ist; stattdessen stellt die Analogie die Grundlage und Quelle von Erkenntnis als solcher dar. Dies bedeutet, dass Herders Gebrauch der Analogie für die wissenschaftliche Entdeckung nicht von einer fundamentaleren epistemologischen Behauptung getrennt werden kann. Wenn man Herders Erkenntnisbegriff als analogisch begreift, Nisbet, Herder, S. 36. Hans Dietrich Irmscher, »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders,” in »Weitstrahlsinniges« Denken: Studien zu Johann Gottfried Herder, hg. Marion Heinz und Violetta Stolz, 2009, S. 65. [Original: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1981]. 12 Irmscher, »Beobachtungen,“ S. 73. 10

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erhellt das zudem Kants Kritik an Herder und erklärt, warum Herders Position Kant zu dieser Kritik herausfordert. Was meint Herder mit seiner Behauptung, dass all unser Wissen auf der Analogie beruht? Zunächst ist es wichtig festzustellen, dass Herders Epistemologie nicht, wie bei Kant, mit formellen und univer­ sellen Strukturen der Wahrnehmung beginnt – wie sie die Formen der Intuition und die Kategorien liefern – sondern bei dem, was Herder den »Abgrund dunkler Empfindungen« (HW 4, 340) nennt. Herder argumentiert, dass Philosophen viel zu lange diese grundlegendste Ebene der Erkenntnis vernachlässigt hätten. Wie er fortfährt, ist Erkenntnis ohne Empfindung nicht nur leer, sondern wird auch – radikaler betrachtet – grundlegend durch die Arbeit der Empfindung bestimmt (HW 4, 355–356). Daher stellt Herder die philosophische Bevorzugung der Vernunft in Frage und besteht stattdessen darauf, dass Vernunft aus ihren »geheimen Bänden« mit der Empfindung erst »geboren« wird (HW 4, 358). Herder verortet den Ursprung der Wahrnehmung in den »dun­ keln Kräfte[n] und Reize[n]« (HW 4, 345) des Körpers, welche durch die »geheime Mitwirkung« unserer Sinne zunächst wirkliche Wahrnehmungen und dann sinnvolle Bilder werden. Herder stellt daher fest, dass bereits auf der tiefsten Grundlage der Erkenntnis eine unifizierende Fähigkeit oder Medium existiert, durch welches das »Chaos« der Irritation und das »Meer von Eindrücken« etwas Wahrgenommenes werden (HW 4, 633). Daher schreibt er: Zu eben derselben Zeit, da er siehet, höret er auch und genießt unver­ merkt durch alle Organe seiner vielartigen Maschine Einflüsse von außen, die zwar größtenteils dunkle Empfindungen bleiben, jederzeit aber auf die Summe seines ganzen Zustandes ingeheim mitwirken. (HW 4, 633)

Die Fähigkeit, das »zusammen geflochtner Knäuel dunkler Reize« zu analysieren und in sinnvolle Phänomene, in eine »Weltstruktur,” wie Herder es ausdrückt, zu transformieren, ist kreativ (HW 4, 348). Er schreibt: »Wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder […] Denn das Bild, das sich auf der Netzhaut deines Auges zeichnet, ist der Gedanke nicht, den du von seinem Gegenstande dir zueignest; dieser ist blos ein Werke deines Sinnes, ein Kunstgemälde der Bemerkungs­ kraft deiner Seele« (HW 4, 635). Damit wird nicht ausgedrückt, dass die Sinne eine Welt erschaffen; stattdessen erklärt Herder: »Eigentlich und absolute kann der Mensch weder dichten, noch erfinden; er

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würde damit der Schöpfer einer neuen Welt« (HW 4, 645). Was die Sinne tatsächlich tun, führt er fort, ist »Gegenstände von andern […] trenne[n],” was »ihnen Umriss, Dimension und Form« inmitten des »Chaos« des »Walde[s] sinnlicher Gegenstände« verleiht (HW 4, 635). Aus diesem Grund betont Herder, dass Wahrnehmung nie »neutral« sei. Was wahrgenommen wird, ist immer schon durch die kreative Arbeit der Sinne transformiert (oder, wie Herder es nennt, »gestempelt«). Er identifiziert diese unifizierende und kreative Fähigkeit mit der Seele und vergleicht sie mit der Sprache, welche »beständig« alles, was sie begreift, »allegorisiert.« »Indem sie nämlich Gegenstände als Bilder sieht oder vielmehr nach Regeln, die ihr ein­ geprägt sind, solche Gedankenbilder verwandelt; was tut sie anders, als übersetzen, als metaschematisieren?« (HW 4, 635). Wiederum, fährt er fort, »wenn sie [d. h., die Seele] diese Gedankenbilder, die bloß ihr Werk sind, jetzt durch Worte, durch Zeichen fürs Gehör sich aufzuhellen und andern auszudrücken strebet; was tut sie abermals anders, als übersetzen, als alläosieren?« (HW 4, 636). In der ersten, von Herder als metaschematisch bezeichneten Transformation erschafft die Seele ein Bild, indem sie Eindrücke ord­ net oder ihnen Form verleiht (das griechische Wort Schema bedeutet Form oder Bild). In der zweiten Transformation wird dieses Bild in ein Wort oder Zeichen umgewandelt, wodurch es erst kommunizierbar wird. Auf jeder Stufe der Erkenntnis ereignet sich eine Transformation – von chaotischer Empfindung zum Bild, vom Bild zum Zeichen oder Wort. Diese geistigen Transformationen sind ihrerseits von der Transformation, oder wie Herder es in den Ideen ausdrückt, von der »Metamorphose,“ der Seele abhängig -vom irritierten zum fühlenden Körper, vom vorstellenden zum rationalen Geist (HW 6, 252). Auf jeder Ebene übersetzt die Seele daher etwas in etwas anderes als sich selbst, wodurch sie sich transformiert. Die Erkenntnis besteht dem­ nach aus sich immer weiter entwickelnden und komplex werdenden Ebenen, die nicht als heterogene Vermögen (wie bei Kant), sondern eher durch die Struktur und Komplexität ihrer jeweiligen Objekte bestimmt werden. Jede solche Stufe hat ihr eigenes, ihr entsprechen­ des Objekt der Erkenntnis, aber die Unterschiede zwischen ihnen sind nur Gradunterschiede in welchen der Erkenntnisgegenstand nur mehr oder weniger komplex ist. Diese Transformationen sind nur möglich, da die Seele fähig ist, zwischen zwei heterogenen Elementen zu vermitteln und eine

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gewisse Vereinbarkeit trotz ihrer Differenzen zu erkennen: Sie sieht das Objekt als Bild und erschafft so ein Bild. Was sie tun kann, erklärt Herder, ist »Bilder und Gedanken paaren« und so bringt sie das Bild in die Sprache. Die Seele verweist dabei immer auf beide Elemente – das Objekt und das Bild, das Bild und die Welt, sodass jede Phase der Erkenntnis den »Stempel der Analogie« trägt (HW 4, 645). Herder entwickelt so eine Darstellung der Erkenntnis als in erster Linie auf Empfindung basierend, wo die bloße Fähigkeit wahrzuneh­ men (im weitesten Sinne des Wortes) grundlegend metaphorisch ist. Es muss betont werden, dass Herder diese metaphorische Struktur nicht im Denken als unabhängig von Empfindung und Wahrnehmung verortet, sondern in der Empfindung, die immer schon Erkenntnis ist. Da, wie Herder in den Ideen schreibt, »Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte [ist] […]« (HW 6, 144). Sie ist untrennbar mit der Arbeit der Übersetzung der verschiedenen und multivalenten Empfindungen in Bilder verbunden und schafft daher eine »Einheit« aus dem »Mannig­ faltigen« (HW 4, 635). Würde man nicht die Fähigkeit besitzen, Erkenntnis zu unifizie­ ren, so betont Herder, würden die einzelnen Elemente in diesen Phasen vollkommen unverbunden bleiben. Denn, wie er schreibt: »Der Gegenstand hat mit dem Bilde, das Bild mit dem Gedanken, der Gedanke mit dem Ausdruck, das Gesicht mit dem Namen so wenig gemein, daß sie gleichsam nur durch unsre Wahrnehmung, durch die Empfindung eines viel-organisierten Geschöpfs, das durch mehrere Sinne Mehreres auf Einmal empfindet« (HW 4, 363). Herders Darstellung der Analogie teilt wichtige Elemente mit der Kants. Beide sind sich einig, dass wir mit der Analogie ein Ding durch oder als ein anderes sehen, sodass analogische Inferenz auf zwei heterogenen, doch vergleichbaren, Elementen beruht. Obwohl die Analogie Ähnlichkeiten feststellt, löst sie nicht die zwei Elemente ineinander auf; stattdessen erhält die Als-Struktur die Unterschiede zwischen den beiden Elementen, während sie auf das Potenzial oder Ideal der Identität hinweist. Wie Herder es in der Metakritik (1800) ausdrückt, beinhaltet die Analogie eine »Ähnlichkeit der Verhält­ nisse,“ sodass angenommen wird, dass das, was für ein Objekt zutrifft, auch für ein zweites Objekt gilt (HW 8, 436). Für Herder ist die Analogie jedoch auch eine bildende Fähigkeit, das heißt, die Analogie bringt etwas zur Darstellung, das sonst nicht da wäre. Durch analogisches Denken entsteht aus Empfindungen

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ein Bild und daraufhin aus dem Bild ein Gedanke. Daraus folgt, dass die philosophische Analogie für sein Objekt konstituierend sein muss. Daher widerspricht Herder Kants Unterscheidung zwischen philosophischer und mathematischer Analogie. Er schreibt: »In der Mathematik ist Analogie, was sie in der Philosophie ist, Ähnlichkeit der Verhältnisse« (HW 8, 436). Das heißt: die »Handlung des Ver­ standes, die Verhältnisse setzt, ist dort und hier dieselbe. Dort wie hier muß das zufindende Glied die Natur und Art der gegebenen Glieder haben; dort wie hier soll der Verstand das Einerlei in mehreren gegebnen Fällen erkennen […]« (HW 8, 437). Obwohl Kant in der dritten Kritik weiterhin die Differenz zwi­ schen mathematischer und philosophischer Erkenntnis betont, ändert sich sein Verständnis der Analogie solcherart, dass Analogie dort zur Möglichkeit der Erzeugung von Objekten der Reflexion wird.

3. Die Analogie in der Kritik der Urteilskraft und in der Jäsche-Logik In den Jäsche-Vorlesungen (1800) identifiziert Kant die Analogie mit »ästhetischer Deutlichkeit.« Anders als bei logischer Deutlichkeit basiert ästhetische Deutlichkeit nicht auf »Merkmalen«, die »als Theile zum Begriffe« »gehören« und durch welche der Begriff im empirischen Bereich schematisiert werden kann (AA 9:62). Stattdes­ sen bezieht sich ästhetische Deutlichkeit auf Beispiele, die suggestiv auf einen Begriff verweisen können, ohne ihn zu schematisieren. Daher schreibt Kant, dass in ästhetischer Deutlichkeit »durch Bei­ spiele ein abstract gedachter Begriff in concreto dargestellt oder erläutert wird« (AA 9:39). Kant argumentiert, dass die Darstellung analogisch sei, da Intuition und Begriff »nicht genau passen« (ibid.). Das ist die Kernaussage von Kants Erläuterung der Analogie in der dritten Kritik. Im Abschnitt 59 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft mit dem Titel »Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit« beschreibt Kant das Symbol als »Darstellung« »vermittelst einer Analogie« (AA 5:352). Die Analogie, führt er aus, ist eine Darstellung »in welcher die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet,“ indem sie zuerst »den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens,“ wie er fortfährt »die bloße Regel der Reflexion über jene

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Anschauung auf einem ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist« anwendet (AA 5: 352). Genau wie in seinen anderen Darstellungen der Analogie begreift Kant Analogie hier als eine Regel die, von einem Objekt abgeleitet, auf ein zweites übertragen wird. In diesem Fall jedoch bezieht die Analogie sich nicht auf ein Verhältnis der Ähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Objekten oder eine Inferenz auf der Basis geteilter Eigenschaften. Stattdessen ist sie ein Mittel der Darstellung oder Zurschaustellung und betrifft als solches vor allem das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff. Daher schreibt Kant, dass die Analogie eine »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direct correspondiren kann,“ ist (AA 5:352–3). Durch die Analogie wird also das, was sonst undarstellbar wäre, zur Darstellung gebracht. Um zu verstehen, wie Kant zu seinem Begriff der Analogie und des Symbols kommt, ist es notwendig, eine andere Form der Darstellung zu untersuchen, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft ausführt, nämlich die Schemata. Im ersten Kapitel der Analytik der Grundsätze erklärt Kant, dass die Kategorien »ganz ungleichartig« von empirischen Anschauungen sind. Daher können sie »niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden« (A137/B176). Anders ausgedrückt unterscheiden sich Kategorien grundsätzlich von sinn­ licher Anschauung, sodass es unmöglich erscheint, dass sinnliche Anschauungen sie darstellen könnten. Kant löst dieses Problem jedoch schnell, indem er zwischen dem Inhalt und der Form der beiden unterscheidet. Während Kategorien und Anschauungen tatsächlich heterogen in Bezug auf ihren Inhalt sind, sind sie in Bezug auf ihre Form homogen. Beide teilen die Form der Zeit. Mit anderen Worten, Anschauungen sind implizit zeitlich, und durch ihre Zeitlichkeit entsprechen sie den Kategorien. Die Schemata machen die implizite zeitliche Form explizit und erlauben so die Subsumtion einer Intuition unter einen Begriff. So bringen die Schemata die Kategorien zur Darstellung in der Anschauung. In der dritten Kritik merkt Kant an, dass es Ideen gibt, für die »schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben wer­ den kann« (AA 5:351). Das heißt, dass es Ideen gibt, die nicht schematisiert werden können – Ideen, die als außerhalb zeitlicher Bedingungen gedacht werden. Aus diesem Grund können, wie er fortfährt, diese Ideen nur in einer Weise zur Darstellung gebracht

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werden »mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisiren beobachtet, bloß analogisch ist« (ebd.). Um es anders auszudrücken, durch Analogie mit der Arbeit der Schematisierung werden Ideen, für die es keine adäquate Anschauung gibt, zur Darstellung gebracht. Analogische Reflexion ist dann die »Übertragung« einer Regel zur Reflexion über ein Objekt auf die Reflexion über ein anderes Objekt, das selbst in der Anschauung nicht dargestellt ist. Die teleologische Urteilskraft, erklärt Kant, ist eine Art der ana­ logischen Reflexion insofern, als dass die Idee der Absicht in der Natur auf Analogie zwischen der (von Zwecken geführten) menschlichen Aktivität und der Aktivität von Organismen beruht. Daher wird die Idee der Absicht – die Kant im zielgesteuerten Charakter der menschlichen Vernunft verortet – auf die Natur übertragen, sodass die Aktivität der Vernunft ein Symbol für die organisierte Aktivität der Natur wird.13 Auf den ersten Blick scheint die Analogie zwischen Natur und Vernunft der proportionalen Analogie zu entsprechen, sodass das Verhältnis zwischen (a) zielorientierter menschlicher Aktivität und (b) deren Ergebnis in einem Kunstwerk als analogisch verstanden werden kann zu (c) dem zielorientierten rationalem Verstehen in der Natur und (d) dem Organismus als dessen Ergebnis.14 Eine nähere 13 Das ist nicht vollkommen korrekt, insofern als Kant die Analogie des Organismus benützt, um seinen Begriff der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft zu erklären. Von dieser Perspektive erscheint es daher, als ob der Organismus eine Regel liefert, die dann auf den Bereich der menschlichen Aktivität übertragen wird. Siehe Angela Breitenbach, Die Analogie von Vernunft und Natur (Berlin: de Gruyter, 2009), S. 96– 106. Breitenbach argumentiert interessanterweise, dass »die Analogie zwischen Orga­ nismus und Vernunft daher vielmehr eine gewisse Wechselseitigkeit auf[weist], die nicht nur eine Erläuterung unseres Verständnisses von Organismen, sondern auch unserer eigenen Vernunft bieten soll« (105). Das betont, dass für Kant die Analogie viel gegenwärtiger und wichtiger ist, als er anderweitig andeutet – sie hilft uns nicht nur die Ordnung der Natur zu begreifen, sondern auch die Vernunft, so dass Kants gesamtes philosophisches Werk auf der ursprünglichen Analogie zwischen Natur und Vernunft beruht. Ich verfolge diesen Punkt hier nicht weiter, sondern konzentriere mich stattdessen auf die Bedeutung der Analogie für die Naturwissenschaften. 14 Siehe Breitenbach, Die Analogie von Vernunft und Natur, S. 102. Breitenbach argu­ mentiert überzeugend, dass die Analogie nicht, wie normalerweise angenommen, zwischen der Vernunft als einer zielorientierten Aktivität und der Natur besteht. Son­ dern zwischen Vernunft als einer komplexen Vereinigung (»der wechselseitigen Abhängigkeit seiner Glieder auf den Zweck der Selbstbestimmung und Erhaltung des gesamten Vernunftsvermögens gerichtet ist«) und einem »Organismusganzen, das

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Untersuchung dieser vier Elemente enthüllt jedoch, dass hier mehr vor sich geht. Schließlich hebt Kant hervor, dass der Organismus nicht erkannt, d. h. nicht schematisiert werden kann. Um überhaupt darge­ stellt werden zu können, muss der Organismus daher durch etwas anderes als sich selbst, durch ein Symbol, dargestellt werden. Das Symbol ist das Kunstwerk, ein Produkt der menschlichen Vernunft. Als Symbol liefert die Analogie zwischen Vernunft und natürlicher Organisation eine Regel, mit der das Verhältnis zwischen den unbe­ kannten Gliedern gedacht werden kann – aber in diesem Fall ist es nicht ein Glied, das unbekannt ist, sondern zwei: der Organismus und dessen Ursache. Es ist schließlich nur durch die Arbeit der Analogie (Symbol), dass der Organismus als ein Objekt der Reflexion konstituiert wird. Mit anderen Worten, es ist nur durch Analogie mit einem zielorien­ tierten, vernünftigen Wesen, dass wir fähig sind den Organismus als Objekt wahrzunehmen. Tatsächlich drückt Kant genau das aus, wenn er schreibt, dass »selbst der Gedanke von ihnen als organisirten Dingen, ohne den Gedanken einer Erzeugung mit Absicht damit zu verbinden, unmöglich ist« (AA 5:398). Der springende Punkt ist hier, dass analogische Reflexion kreativ ist, da sie die Darstellung eines Lebewesens ermöglicht. Wie Kant erklärt, hat die reflektierende Urteilskraft »die Obliegenheit« »von dem Besondern in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen« und, indem sie dies tut, neue Begriffe hervorzubringen (AA 5:180). Refle­ xion, schreibt Kant, ist »der Zustand des Gemüths, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjectiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unse­ ren verschiedenen Erkenntnißquellen […]« (A260/B316). Anders ausgedrückt wird der Gedanke und die Erfahrung der Organismen durch die analogische Reflexion der Natur – durch den »doppelten Akt« des Urteilens, wo ein Objekt für ein anderes einsteht – möglich. Angesichts der Bedeutung dieser Aufgabe der Naturerkenntnis ist es bemerkenswert, dass Kant an zwei entscheidenden Einschrän­ kungen festhält: weder gesteht er der Analogie eine wohldefinierte Rolle in der Wissenschaft zu noch der Biologie verstanden als Erfor­ seinerseits in der wechselseitigen Abhängigkeit seiner Organe auf das Ziel der Exis­ tenz und Erhaltung des Ganzen ausgerichtet ist.« Ich nehme an, dass Breitenbach mit ihrer Korrektur dieser lange angenommenen Ansicht, was Analogie ist, richtig liegt; für mein Anliegen ist diese Unterscheidung jedoch unnötig.

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schung von Organismen den Rang einer Wissenschaft. Stattdessen betont er, dass nur die Physik eine wirkliche Wissenschaft sein könne, und weist der reflektierenden Urteilskraft über Organismen (d. h. der teleologischen Urteilskraft) die Stellung eines »auswärtigen fremden Princips«, das »keinen eigenen Teil der theoretischen Naturwissen­ schaften« ausmacht, zu (AA 5:381). Warum besteht Kant auf diesem Standpunkt gegenüber der ana­ logischen Reflexion, sogar nachdem er ihre Rolle in der Konstitution von Objekten der Reflexion erklärt? Angesichts der Tatsache, dass Objekte der reflektierenden Urteilskraft Erfahrungsobjekte sind – auch wenn nicht von a priori synthetischer Erkenntnis – müssten sie nicht Teil der empirischen Wissenschaften sein?

4. Analogie und Wissenschaft Wie des Öfteren angemerkt wird, war für Herder die Analogie ein bedeutendes Mittel der wissenschaftlichen Entdeckung und für die Entwicklung neuer Disziplinen, darunter die Anthropologie. Herders »innere Physik der Seele« verortet den Menschen emphatisch in der Natur, indem sie menschliche Entwicklung in Begriffen natürlicher Entwicklung begreift. Vernunft und Sprache werden als komplexere Ausdrücke der »obskuren Irritationen« des Körpers distinguiert, sodass sie letztendlich nicht von der körperlichen Realität und den verschiedenen natürlichen und Umweltkräften oder Elementen, die sie bestimmen, getrennt werden können. Die Transformationen des menschlichen Bewusstseins ermöglichen wiederum die Transforma­ tionen in den Wissensobjekten; auf jeder Stufe der Entwicklung, vom irritierten zum empfindenden Körper, vom vorstellenden zum den­ kenden Geist, entsteht ein paralleles Erkenntnisobjekt. Die Analogie bringt daher Wissensobjekte nicht nur hervor, sondern ermöglicht es, die Kontinuität zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Formen der Natur und den Stufen der menschlichen Entwicklung zu erkennen. Indem eine Form durch eine andere betrachtet wird, erklärt Herder, beginne man Zusammenhänge zwischen verschiedenen For­ men zu sehen und zu erkennen, wie sie durch ihre Umgebungen geformt und transformiert werden (HW 6, 73). Er schreibt, dass die Untersuchung eines Vogels in Betracht ziehen müsse, dass dieser in den Lüften fliegt. Denn, wie Herder fortfährt, »jede Abweichung

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seiner Form vom Bau der Landtiere läßt sich aus seinem Element erklären« (HW 6, 75). Aus diesem Grund betont Herder, dass nur durch das »Studieren des Einen durch das Andere« Erkenntnis über natürliche Wesen und deren Umgebung erlangt werden kann (HW 6, 74). Bezeichnenderweise hebt Herder hervor, dass sein Projekt nicht auf metaphysischen Gründen basiert ist. Stattdessen betont er sein Ziel als ein anders gerichtetes: »die Metaphysik bleibe bei Seite; wir wollen Analogien der Natur betrachten« (HW 6, 176; meine Hervorhebung). Ob diese Selbstbeschreibung von Herders Projekt zutreffend ist, bleibt eine umstrittene Frage. Für Kant war jedoch sicherlich das Gegenteil der Fall: Die metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaft bestimmen nicht nur das Objekt der wissen­ schaftlichen Forschung, sondern auch die Legitimität und Illegitimi­ tät der Prinzipien und Herangehensweisen der Beobachtung. Wenn jedoch ein Objekt der empirischen Reflexion entsteht, ein Objekt, das nicht durch die mathematisch-mechanische Konstruktion von Materie bestimmt werden kann, entsteht ein Problem oder, in Kants Worten, eine Antinomie. Das intendierte Ziel der Antinomie der teleologischen Urteils­ kraft ist es, das Paradox zu lösen, das der Möglichkeit organischer Wesen zugrunde liegt. Ihre bloße Existenz widerspricht nämlich den universellen Naturgesetzen, wie sie in der ersten Kritik und in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) einge­ führt wurden. Wie Kant es in den Metaphysischen Anfangsgründen ausdrückt, »Materie als bloßer Gegenstand äußerer Sinne hat keine anderen Bestimmungen, als die der äußeren Verhältnisse im Raume und erleidet also auch keine Veränderungen, als durch Bewegung« (AA 4: 543). Daher folgert er, dass Materie »leblos« sei (AA 4: 544). Leben ist nur eine Eigenschaft von Substanzen, die es vermögen, sich selbst zu bestimmen oder aus einem inneren Prinzip heraus zu handeln (ebd.). Dennoch scheint es, als würden Organismen nach internen Prinzipien handeln. Das führt zum Konflikt zwischen der Maxime, dass »alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen … als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden,“ muss, auf der einen Seite, und der entgegengesetzten Maxime oder Antithese, dass »einige Producte der materiellen Natur […] nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden« können, auf der anderen Seite; sodass »ihre Berurtheilung […] ein ganz

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anderes Gesetz der Causalität, nämlich das der Endursache« erfordert (AA 5:387). Es ist wichtig, dass die zwei Maximen reflexiv sind und daher Objekte nicht a priori determinieren. Stattdessen gelten sie nur für empirische Forschung, sodass der Konflikt nur die Direktive für wis­ senschaftliches Arbeiten betrifft. Daher versteht Kant die Maximen als »Befugnis« oder »Beruf« des Wissenschaftlers, Forschung in einer bestimmten Weise zu betreiben (AA 5:415). Wiederum behandelt Kant teleologische Urteilskraft immer im Hinblick auf ihre Signifi­ kanz für wissenschaftliche Forschung. Er schreibt daher: »Wir haben nämlich unentbehrlich nöthig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisirten Producten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen« (AA 5:398). Trotzdem stellt Kant auch fest, dass ohne das Prinzip des Mechanismus der Natur »keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann« (AA 5:410). Zudem bietet die Antinomie keine klare Lösung des Konflikts. Gleich nachdem er anmerkt, dass wir »jene« mechanischen »Gründe insgesammt einem teleologischen Princip unterordnen müssen«, folgert Kant: »Hierauf gründet sich nun die Befugniß und … auch der Beruf: alle Producte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten … mechanisch zu erklären« (AA 5:415). An diesem Punkt ist es nötig, den analogischen Charakter der teleologischen Urteilskraft zu betonen. Wie Kant es ausdrückt, »wird die teleologische Beurtheilung, wenigstens problematisch, mit Recht zur Naturforschung gezogen; aber nur um sie nach der Analogie mit der Causalität nach Zwecken unter Principien der Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzumaßen sie darnach zu erklären« (AA 5:360). Mit anderen Worten, die teleologische Urteilskraft kann etwas zu einem Objekt der Forschung machen, ohne es jedoch zu erklären. Gegen Ende der Dialektik der teleologischen Urteilskraft betont Kant nochmals die beschränkte Erklärungskraft teleologischen Urteilens, wenn er schreibt, es sei »eben sowohl nothwendige Maxime der Vernunft, das Princip der Zwecke an den Producten der Natur nicht vorbei zu gehen: weil es, wenn es gleich die Entstehungsart derselben uns eben nicht begreiflicher macht, doch ein heuristisches Princip ist, den besonderen Gesetzen der Natur nachzuforschen« (AA 5:411; Hervorhebung des Autors). »Denn«, fährt er fort, »erklären heißt von einem Prinzip ableiten« (AA 5:417). Was bedeutet das?

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Kant erläutert, dass analogische Reflexion, als eine Handlung, die zwei ungleiche Dinge vergleicht, das Borgen eines »auswärtigen Prinzips« beinhaltet. Das heißt, dass ein Prinzip, dass einem Objekt oder einer Gruppe von Objekten zugrunde liegt, benützt wird, um ein anderes Objekt zu verstehen (AA 5:381). Die Analogie impliziert daher, dass ein Prinzip oder eine Idee in eine Domäne gebracht wird, in der es oder sie nicht, wie Kant es ausdrückt, »einheimisch« ist. In der Naturwissenschaft ist das teleologische Urteilen ein solches nicht ein­ heimisches Prinzip, da es aus der Theologie eingeführt wurde (5:381). Die Idee der Absicht ist, anders gesagt, in der Naturwissenschaft nicht heimisch, sondern basiert auf theologischen Ideen. Hingegen betrach­ tet Kant den Mechanismus als in der Naturwissenschaft heimisch. In den Metaphysischen Anfangsgründen argumentiert er, dass »richtige Wissenschaft« die Domäne ist, in welcher »Gewissheit apodiktisch« ist und vergleicht sie mit »Erkenntniß, die blos empi­ rische Gewißheit enthalten kann« (AA 4:468). Das heißt, »daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« (AA 4:470; Hervorhebung des Autors). Das heißt, dass empirische Gesetze der Wissenschaft nur zwingend werden, insofern sie auf mathematischen Grundlagen basieren und von diesen ableitbar sind. Diese Grundlagen ergeben, wie Kant in den Metaphysischen Anfangs­ gründen demonstriert, drei Gesetze der Mechanik und ein Konzept der mechanisch-materiellen Einheit, die im Gegensatz zur organischen Einheit steht. Der Mechanismus ist in der Naturwissenschaft hei­ misch, weil er auf einer a priori mathematischen Konstruktion basiert. Kants letztendliche Rechtfertigung der Priorisierung des Mecha­ nismus und seine Feststellung, dass nur mechanische Prinzipien Erklärungen bieten können, beruhen also auf der Unterscheidung zwischen auswärtigen und einheimischen Prinzipien. Eben weil die reflektierende Urteilskraft nach mechanischen Prinzipien mit der Konstruktion a priori von Materie übereinstimmt, ist sie nicht analo­ gisch – und kann daher empirische Prinzipien aus Feststellungen a priori folgern. Anders als die teleologische Urteilskraft beinhaltet das Urteil nach dem Mechanismus nicht, dass Prinzipien aus unterschied­ lichen Bereichen vermischt und ontologische und Disziplingrenzen ignoriert werden. Herders Fehler war es daher, analogische Reflexion zu nutzen, um natürliche Phänomene zu erklären, das heißt, um diese Phänomene von Prinzipien a priori herzuleiten. Kant besteht darauf, dass als analogische Reflexion teleologisches Urteilen keine

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Erklärungen, sondern nur »Beschreibung« und »Erörterung« liefern kann (AA 5:417). Das beantwortet jedoch immer noch nicht die Frage, wie analo­ gische Reflexion zur wissenschaftlichen Forschung beitragen kann. Welchen Wert hätte eine »Beschreibung der Natur,“ wenn sie nicht in die weitere wissenschaftliche Sicht der Natur – wie sie durch die transzendentalen Prinzipien der Erfahrung und der Konstruktion a priori der Materie etabliert ist – passte? Was könnte eine »Erörterung« erwirken, wenn sie nichts weiter als eine anomale Erklärung ohne den notwendigen Kontext wäre? Außerdem scheint die teleologische Urteilskraft, da sie nur analogisch ist, in einer »No-Win«-Situation zu sein, wenn sie mit einem konstitutiven Prinzip (Mechanismus) kon­ kurriert. Anders ausgedrückt, wie kann ein auf Analogie basierendes regulatives Prinzip wissenschaftliche Einsicht liefern, wenn es mit den fundamentalen Gesetzen der Natur im Konflikt steht? Das ist die Frage, die in der Antinomie der teleologischen Urteilskraft gestellt, aber nicht beantwortet wird. Sie zeigt jedoch die Unvereinbarkeit von Kants Begriff der wirklichen Wissenschaft und der Idee der, von der reflektierenden Urteilskraft Urteil ange­ leiteten, empirischen Forschung. Denn, obwohl sowohl These als auch Antithese reflektierend sind, und daher nur als Richtlinien für empirische Arbeit dienen können, sind sie nicht vollkommen von der weiteren Wissenschaft a priori, wie in der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen beschrieben, unabhängig. Allerdings sind ihre Erkenntnisse nur in diesem größeren Kontext bedeutungsvoll. Sobald jedoch die teleologische Urteilskraft diesem Kontext widerspricht, befinden wir uns wieder in einer Aporie. Diese Aporie zeigt die Spannung, oder sogar Lücke, die in Kants Projekt zwischen Wissenschaft a priori auf der einen Seite und empirischer Forschung auf der anderen Seite besteht. Tatsächlich scheint Kant genau das in einem Brief an Christian Garve, den er acht Jahre nach der Veröffentlichung der dritten Kritik schrieb, anzudeuten: Kant beschreibt einen »Tantalischen Schmertz,“ dessen Ursache »den völligen Abschlus meiner Rechnung« des »immer nicht vollendet[en]« »Ganze der Philosophie« (AA 22, 256, Brief 820). Im Moment, fährt Kant fort, arbeite er an »den Übergang von den metaphys. Anf. Gr. d. N. W. zur Physik,” eine Arbeit die »auf­ gelöst sein« muss, »weil sonst im System der crit. Philos. eine Lücke seyn würde« (ebd.). Die Arbeit, auf die er sich bezieht, die Arbeit

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in der er versucht, den notwendigen Übergang von metaphysischen Grundlagen zur Physik zu vollziehen, ist das Opus Postumum. Eine der entscheidenden Fragen des OP betrifft die Natur der Wissenschaft und, genauer, ihre mathematischen Grundlagen. Wie gezeigt argumentiert Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, dass Mathematik ein entscheidender Teil der »wahren Wissenschaft« ist, und man daher nur durch Mathematik zu einem Begriff a priori der Materie gelangen kann. Kant erreicht seine Auffassung von Materie als »leblos« durch mathematische Konstruktion (AA 4:544). Im Opus Postumum stellt Kant jedoch die fundamentale Rolle der Mathematik für die Naturwissenschaft in Frage und argumentiert, dass »die mathematische Anfangsgründe der Naturwissenschaft […] kein Theil der Naturphilosophie« sind (zitiert in Förster, 549).15 Da, schreibt er, »wenn noch überdem von mathematischen Anfangs­ gründen der Naturwissenschaft […] geredet wird so werden da die bewegende Kräfte als zur Physik gehörend z.B. Gravitation, Licht// Schall// und Wasser bewegend vorausgesetzt und es wird nicht die Bewegung aus den bewegenden Kräften sondern wie gewisse Kräfte aus der Bewegung entspringen […] gelehrt “ (AA 21: 286–7; Hervorhebung des Autors). Mit anderen Worten, weil mathematische Grundlagen nicht die Kräfte selbst bestimmen, können sie nicht als Grundlage der Wissenschaft, die sich mit materiellen Kräften beschäftigt – oder beschäftigen sollte – dienen. Wenn weiterhin diese Kräfte unbestimmt bleiben, kann eine Wissenschaft, die auf Mathematik basiert, keine »Erklärung« für sie liefern. Genau wie die teleologische Urteilskraft keine Schlüsse über die Ursachen organisierter Körper ziehen darf, können mathematische Prinzipien nicht dazu dienen, die Ursachen materieller Kräfte abzuleiten. Obwohl das Opus Postumum keinen Ausweg aus der Aporie zwi­ schen a priori und empirischer Wissenschaft aufzeigt oder eine Phi­ losophie der Natur basierend auf nicht-mathematischen Grundlagen anbietet, rechtfertigt Kants veränderte Sichtweise Herders Gebrauch der Analogie. Denn Herder behauptet nicht, dass die Analogie eine metaphysische Erklärung für natürliche Objekte bietet. Stattdessen stellt Herder fest: »Ich sage nicht, dass ich hiemit was erkläre; ich habe 15 Für eine umfassende Darstellung von Kants Kritik der mathematischen Grundla­ gen in den Metaphysischen Anfangsgründe siehe Eckart Förster, »Is there ›A Gap‹ in Kant’s Critical System?« Journal of the History of Philosophy 25:4 (1987), S. 533–555.

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noch keine Philosophie gekannt, die, was Kraft sei, erkläre, es rege sich Kraft in Einem oder in zween Wesen. Was Philosophie tut, ist bemerken, unter einander ordnen, erläutern, nachdem sie Kraft, Reiz, Würkung schon immer voraussetzt (HW 4, 337–38). Beziehen wir also Kants Position im Opus Postumum in unsere Überlegungen mit ein, so würde die Naturphilosophie zugestehen, dass sowohl das mathematisch-mechanische Modell als auch das teleologische Modell analogisch sind. Und obwohl beide in der wis­ senschaftlichen Forschung nützlich sind, kann keines der beiden die Natur der Realität von Prinzipien a priori ableiten. Die Wissenschaft würde den wesentlich analogischen Charakter der Erkenntnis aner­ kennen und ein nicht-reduktives Erklärungsmodell, das weder dem mathematisch-mechanischen noch dem teleologischen Erklärungs­ ansatz Priorität zugesteht, beibehalten. Und daher schließlich würde Kant mit Herder dahingehend übereinstimmen, dass Erkenntnis wesentlich analogisch ist und akzeptieren, dass wissenschaftliche Einsichten und Entdeckungen nur durch die von Herder beschriebene Tätigkeit der Analogiebildung erreicht werden können. Um zusam­ menfassend mit Herders eigenen Worten zu sprechen, bestünde der Weg der Wissenschaft also notwendig darin »das Eine durch das Andere [zu] studieren.«

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Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie1

1. Philosophischer und physikalischer Hintergrund für Maxwells Analogiedenken Um Maxwells Auffassung der Analogie verstehen zu können, muss man zunächst die philosophischen Einflüsse auf Maxwell näher in den Blick nehmen.2 Seine Ausbildung war einesteils stark durch die sogenannte »schottische Metaphysik« geprägt, deren herausragende Vertreter William Hamilton und Dugald Stewart waren. Für diese Schule ist die Auffassung kennzeichnend, dass Erkenntnis in einem Vergleich von Erfahrungen besteht. Schon John Locke hatte in seinem Essay Concerning Human Understanding von 1690 den Erkenntnisbe­ griff mit der Beziehung von Ideen zueinander in Zusammenhang gebracht. Jedes Wissen entstammt demnach einem Vergleich von zwei Ideen: »Knowledge is the perception of the agreement or disagreement of two ideas. […] [T]here could be no room for any positive knowledge at all, if we could not perceive any relation between our ideas, and find out the agreement or disagreement they have one with another, in several ways the mind takes of comparing them« (1690, IV, i, 2–5).

Wir werden sehen, dass sich auch für Maxwell das Wissen aus einem Vergleich ergibt – dem Vergleich der naturgesetzlichen Relationen, von denen unsere systems of ideas geprägt sind. Dieser Beitrag erschien erstmals in: Analogien in Naturwissenschaften, Medizin und Technik. (Acta Historica Leopoldina 56), hrsg. von Klaus Hentschel, Stuttgart: Wis­ senschaftliche Verlagsgesellschaft 2010, 255–277. Mit freundlicher Genehmigung der Leopoldina, des Herausgebers und des Verlags. 2 Vgl. hierzu Davie 1961, 191–197, Harman 1985, 202 ff., 212 ff., Hendry 1986, 27– 31, 47–50, Harman 1998, 27–36. 1

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Einen weiteren wichtigen Einfluss übte William Whewells Philo­ sophie aus. Whewell war überzeugt davon, dass unser Denken durch »fundamentale Ideen« geformt wird, die der Erfahrung vorausgehen: »These [fundamental] ideas entirely shape and circumscribe our know­ ledge; they regulate the active operations of our minds without which our passive sensations do not become knowledge.« [...] »Thoughts [ideas] and things are so intimately combined in our Knowledge, that we do not look upon them as distinct« (Whewell 1847, I, 16, 18; vgl. auch 59, 66, 80, 90).

Demgemäß wird auch Maxwell betonen, dass wir durch den Vergleich von Ideensystemen zu fundamentalen Ideen vorstoßen können, die sich sowohl auf den Geist als auch die objektive Wirklichkeit bezie­ hen. An einer Stelle verwies Whewell darauf, dass Ørsted durch die Analogie zwischen der Polarität von Elektrizität und Magnetismus dazu geführt worden sei, eine tiefer gehende Verwandtschaft zwischen beiden anzunehmen: »The polar phenomena of electricity and magnetism are clearly analog­ ous in their laws: and obvious facts showed at an early period that there was some connexion between the two agencies« (1847, I, 345).

Es ist zu vermuten, dass Maxwell auch (direkt oder indirekt) von dem einflussreichen Mathematikprofessor Colin Maclaurin in Edinburgh beeinflusst war. Maclaurin schrieb in sehr modern anmutender Weise zu Anfang des ersten Kapitels seines Treatise on Fluxions von 1742: »The mathematical sciences treat of the relations of quantities to each other, and of all their affections that can be subjected to rule or measure. […] We enquire into the relations of things, rather than their inward essences, in these sciences. Because we may have a clear conception of that which is the foundation of a relation, without having a perfect or adequate idea of the thing it is attributed to,3 our ideas of relations are often clearer and more distinct than of the things to which they belong; and to this we may ascribe in some measure the peculiar evidence of the mathematics. It is not necessary that the objects of the speculative parts should be actually described, or exist without the mind; but it is An genau dieser Stelle fügte Maclaurin eine Fußnote ein, in der er sich auf Lockes Essay Concerning Human Understanding (II, xxv, 8) bezog. Das Kapitel 25 ist überschrieben »Of Relation« und § 8 handelt von: »Our Ideas of Relations often clearer than of the Subjects related«. Es heißt u. a. darin: »The ideas, then, of relations, are capable at least of being more perfect and distinct in our minds than of substances.« Zu Maclaurins Einfluss auf Maxwell siehe Harman 1985, 213 f., Davie 1961, ch. 2. 3

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Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie

essential, that their relations should be clearly conceived, and evidently deduced.« (Maclaurin 1742, 1: 51 f.)

Zu dem philosophischen Einfluss der Maxwells Denken in Bezug auf die Analogie formte, kam bald ein physikalischer. Er stammt von dem sieben Jahre älteren Freund Maxwells, dem Physiker William Thom­ son (1824–1907) und späteren Lord Kelvin. Thomson hatte schon im Jahre 1842 als 17-Jähriger eine Analogie zwischen der elektrostati­ schen Anziehung und der Wärmeleitung festgestellt, in der sich die punktförmig gedachte positive elektrische Ladung und punktförmige Wärmequelle entsprechen (Thomson 1842; vgl. Knudsen 1985, 150 ff.).4 In einem Brief von 1855 drückte Maxwell seine Bewunde­ rung für Thomsons Gebrauch der Analogie aus und kündigte an, den Begriff zu übernehmen: »Have you patented that notion with all its applications? For I intend to borrow it for a season« (Larmor 1937, 705, zit. von Siegel 1985, 181). Noch 1873 nannte Maxwell Thomsons Analogie eine der wertvollsten »science-forming ideas« (Maxwell 1873, 302). An diesem Ausdruck kann man übrigens noch den genannten Einfluss von Whewell bemerken: Unser Erfahrungsden­ ken, vor allem in den Naturwissenschaften, wird von fundamentalen Ideen geformt. Schon Joseph Fourier, von dessen Theorie der Wärmeleitung Thomson ausging, spricht im Discours préliminaire seiner Théorie analytique de la chaleur von den »geheimen Analogien«, die man mit der mathematischen Analyse (gemeint wahrscheinlich in der Art von Lagrange) zwischen unterschiedlichen Phänomenbereichen entdecken kann: « [L’]attribu principal [de l’analyse mathématique] est la clarté; elle n’a point de signes pour exprimer les notions confuses. Elle rapproche les phénomènes les plus divers, et découvre les analogies secrètes qui les unissent » (Fourier 1822, xiv).

Bei Fourier hat diese Sprechweise einen handfesten positivistischen Hintergrund: Es sind, wie er betont, nicht ein Wärmestoff oder die Atome (oder eine andere verborgene Ontologie), die die Einheit Georg Simon Ohm machte von derselben Analogie schon 1827 in seiner Galvani­ schen Kette Gebrauch (Ohm 1827). William Thomson scheint Ohms Arbeit weder 1842 noch später gekannt zu haben, obwohl sie seit 1841 in englischer Übersetzung vorlag (Ohm 1841). Erst mit der Verleihung der Copley-Medaille an Ohm 1841 kam es zu einer nennenswerten Rezeption Ohms in Großbritannien. 4

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zwischen den unterschiedlichen Bereichen stiften, sondern es sind mathematische Analogien. Man muss sich also nicht auf notions confuses (konfuse Begriffe), sprich: unzugängliche zugrundeliegende Realitäten, beziehen. Für Auguste Comte, den Begründer des Positi­ vismus, ist ein Bezug von Begriffen und Theorien auf verborgene Ursachen metaphysisch und daher abzulehnen. Da Fouriers Theorie der Wärme keine Existenzaussagen über solche im Verborgenen wirksame Gegenstände macht, war sie für Comte (wie übrigens auch für Ernst Mach), eine physikalische Mustertheorie. (Zu Comte und Fourier vgl. Kargon 1969, 427–429, Hendry 1986, 34–40, 43–45.)5 1847 machte Thomson auf eine weitere Analogie in der Physik aufmerksam, die vielleicht sogar noch stärkeren Einfluss auf Maxwell hatte als die von 1842 (Thomson 1847; vgl. Knudsen 1985, 157 ff.). Es handelt sich um eine Analogie zwischen Kräften in einem elastischen, festen, nicht komprimierbaren Körper und Kräften elektrostatischer, magnetischer und elektromagnetischer Art im Äther. Wie schon oft beschrieben wurde diese Analogie wegweisend für Maxwells Ent­ wicklung des Feldbegriffs. Schließlich konstatierte Thomson im Jahre 1867 nochmals eine Analogie, diesmal zwischen Wirbelbewegungen und Atomen (Thom­ son 1867; vgl. Kragh 2002). Diese Theorie kann nun natürlich nicht mehr als Jugendeinfluss auf Maxwell gewertet werden, aber sie ist ein wichtiger Beleg dafür, dass der Analogiebegriff das Denken der Phy­ siker sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland beschäftigte und sie sich darüber austauschten. Thomsons Überlegungen gehen nämlich auf einen Aufsatz von Helmholtz aus dem Jahre 1858 zurück, in dem dieser nachgewiesen hatte, dass sich Wirbelbewegungen in idealen Flüssigkeiten erhalten. Thomsons Aufsatz beginnt mit folgenden Worten: »After noticing Helmholtz’s admirable discovery [von 1858] of the law of vortex motion in a perfect liquid—that is, in a fluid perfectly destitute of viscosity (or fluid friction)—the author said that this discovery inevitably suggests the idea that Helmholtz’s rings are the only true atoms« (Thomson 1867, 1). 5 Auch Ohm war sich bewusst, dass dieses Vorgehen im Gegensatz zur Molekular­ physik steht. George Green propagierte 1828 und 1838 Fouriers Analyse ebenfalls als Alternative zur Laplaceschen Molekularphysik. (Vgl. Kargon 1969, 429 f.) Thomson erkannte zwar die Leistung Greens in einem Zusatz von 1854 zu seinem 1842er Auf­ satz an, ignorierte aber weiterhin Ohm. (Turner 1955, 229, fn. 2).

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Ich werde auf diesen Zusammenhang später noch zurückkommen. Mit dem weiteren Einfluss schließlich, den ich hier noch anführen möchte, begebe ich mich fast schon mitten in Maxwells eigenes Ana­ logie-Denken hinein. Wie bei allen Physikern des 19. Jahrhunderts bewegten sich auch Maxwells Vorstellungen im Rahmen des »mecha­ nistischen Weltbilds«. Es entstanden aber im Laufe der Zeit doch unterschiedliche Traditionen und Ansätze in der Physik, so dass man auch verschiedene Spielarten dieses Weltbilds voneinander unter­ scheiden kann. (Vgl. Schiemann 1997, 281 ff., Hendry 1986, Kap. 2.) Kargon sieht in der britischen Physik vor Maxwell, z. B. beim frühen William Rankine und bei George Green, das Bemühen, einerseits die Laplace‘sche Molekularphysik mit ihren Atomen zu überwinden, dies aber andererseits nicht zu einer übermäßigen Mathematisierung der Physik führen zu lassen. Es wird also auch eine Physik à la Lagrange und Fourier abgelehnt, die in ihren Theorien ohne physikalische Kon­ zeptionen, also konkreten physischen Gehalt, auszukommen glaub­ ten und vielleicht deshalb auch nicht im strengen Sinne »mechanis­ tisch« genannt werden können. Dieser angestrebte Mittelweg zwischen zwei Extrempositionen sei, so Kargon, durch die Vorherr­ schaft des Ingenieurdenkens in Großbritannien zustande gekommen (Kargon 1969, 430). Unabhängig davon, ob dies wirklich zutrifft, hat sich jedenfalls, wie wir noch sehen werden, Maxwell diesen Mittelweg zu Eigen gemacht und ihn mit der Methode der Analogie verknüpft. Man kann in diesem Mittelweg auch den Versuch sehen, die Newton‘sche Maxime der »Deduktion der Theorie aus den Phänome­ nen« – und das schließt die Deduktion der Kräfte mit ein – in eine zeitgemäße Form zu übersetzen. Die französische Molekularphysik (Laplace, Poisson, Cauchy, Navier usw.) und ihr Pendant bei Wilhelm Weber u.a. auf dem Kontinent deduzierte die Erscheinungen aus Hypothesen über Kräfte und Moleküle, deren Verbindung mit der und Begründung durch die Erfahrung in britischen Augen zweifelhaft war, während die rein symbolisch-mathematisch vorgehenden Franzosen (und später auf dem Kontinent z. B. Robert Kirchhoff) sich ganz von der Annahme physischer Kräfte befreien wollten, die die Erscheinun­ gen verursachen. Die britische Vorgehensweise hat also im Gegensatz sowohl zur ›molekularen‹ als auch zur ›positivistischen‹ Methode etwas Induktiv-Konstruktives an sich. Sie lehnt Hypothesen über ein ver­ borgenes physikalisches Agens nicht ab, aber sie möchte den Wert solcher Annahmen nicht erst später an ihren Früchten, also durch

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indirekte Bestätigungen, erkennen können, wie dies die kontinentalen Theorien propagierten, sondern schon von Anfang an aus möglichst direkter Erfahrung wenigstens annähernd gerechtfertigt wissen, um sie dann bei fortschreitender Erfahrung, wenn nötig, sukzessive zu verbessern.

2. Maxwells Methode der Analogie Maxwell beginnt ab ca. 1855 den britisch-konstruktiven Weg mit Thomsons Methode der Analogie zu verknüpfen und dies gleichzeitig in seine naturphilosophische Denkweise einzubetten. Bezeichnender­ weise tut er dies auf dem Gebiet, das am stärksten in der damaligen Zeit im Fluss ist und für das er sich am meisten interessiert, für den Elektromagnetismus. In seinem abstract zu On Faraday’s Lines of Force konstatiert Maxwell, dass Faraday nicht den üblichen Weg gehe, die elektrischen und magnetischen Erscheinungen auf abstoßende und anziehende Zentralkräfte zurückzuführen, sondern die »Verteilung der Kräfte im Raum als das primäre Phänomen« zu betrachten. Obwohl nun Thomson und andere gezeigt hätten, dass der mathe­ matische Ausdruck dieser Vorstellung mit traditionell verstandenen Gesetzen der Elektrizitätslehre mathematisch äquivalent sei, wäre es nicht angebracht, sich nun vollständig der Mathematik anzuver­ trauen. Die vom mathematischen Ausdruck unterschiedene physische Theorie, die Faraday für sein Gebiet so gut beherrscht und die offen­ sichtlich seinen Geist bei der Theoriebildung leitet, würde nämlich dabei verloren gehen. »If we would abandon physical theory, and use only mathematical formulæ the methods [von Faraday und die der Molekular- bzw. Zen­ tralkraft-Physiker, die auf unterschiedlichen physischen Vorstellungen beruhen] would be identical. But though we might gain in generality of expression by this method we should loose distinct conceptions which a physical theory presents to the mind and the general laws of the science would be put out of the reach of any but professed mathematicians« (Maxwell 1855, 355).

Andererseits könnten aber Faradays eigenartige physikalische Kon­ zeptionen vorschnelle Hypothesen sein, die man, einmal der Theorie zugrunde gelegt, nicht mehr korrigieren kann, ohne die ganze Theorie auch mit ihren guten Seiten wieder aufzugeben.

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Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie

In dem fast zeitgleich erschienenen Aufsatz On Faraday’s Lines of Force greift Maxwell dasselbe Dilemma in eleganterer Formulierung wieder auf. Dies zeigt, dass seine Überlegungen keine oberflächlichen Augenblickseingebungen waren, sondern ihn stark und ausdauernd beschäftigten. In der Einleitung zu diesem Aufsatz forderte er für die Elektrizitätslehre der Zeit eine vereinfachte Formulierung, die es erlaubt, die verschiedenen zu berücksichtigenden Gesetze und die aufwendige und schwierige Mathematik im Gedächtnis präsent zu halten. Dies kann in zweierlei Weise, entweder mathematisch oder physikalisch, geschehen: »The results of this simplification may take the form of a purely mathematical formula or of a physical hypothesis. In the first case we entirely loose sight of the phenomena to be explained; and though we may trace out the consequence of given laws, we can never obtain more extended views of the connections of the subject. If, on the other hand, we adopt a physical hypothesis, we see the phenomena only through a medium, and are liable to the blindness of facts and rashness in assumption which a partial explanation encourages.«

Um diese Gefahren zu umgehen, muss man eine Methode entwickeln, die es erlaubt, einen Mittelweg zu steuern: »We must therefore discover some method of investigation which allows the mind at every step to lay hold of a clear physical conception, without being committed to any theory founded on the physical science from which the conception is borrowed, so that it is neither drawn aside from the subject in pursuit of analytical subtleties, nor carried beyond the truth by a favourite hypothesis.« (Maxwell 1855/56, 155 f.)

Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht Maxwell in der »Methode der Physischen Analogie«: »There is, however, one method which combines the advantages, while it gets rid of the disadvantages both of premature physical theories and technical mathematical formulæ. I mean the method of Physical Analogy« (Maxwell 1855, 353–55).

Entsprechend heißt es im anderen Aufsatz: »In order to obtain physical ideas without adopting a physical theory we must make ourselves familiar with the existence of physical analogies. By a physical analogy I mean that partial similarity between the laws of

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one science and those of another which makes each of them illustrate the other« (Maxwell 1855/56, 156).6

Maxwell gibt gleich eine Liste von Beispielen für seine Methode: »Of this [method of physical analogy] we have instances in the substitution of numbers for quantities in all calculations, in the use of lines in mechanics to represent forces and velocities, in the partial analogy between the motion of light and that of a particle, and the more complete analogy between the motion of light and that of vibration in an elastic medium« (Maxwell 1855, 355).

Bezeichnenderweise führt er dann gleich noch Thomsons Analogie von 1842 an, die er (im Gegensatz zu den anderen Analogien) ausführlich behandelt und erklärt. Er macht außerdem klar, dass seine Arbeiten zum Elektromagnetismus gerade von dieser (mathemati­ schen) Analogie geleitet werden. Allerdings müsse diese Analogie modifiziert werden: Anstatt eine physische Konzeption von Wärme in Analogie zur elektrostatischen Anziehungskraft zu nehmen, ist es besser, schlägt Maxwell vor, sich erst einmal einer »purely imaginary fluid as the vehicle of mathematical reasoning« zu bedienen, da ja die Substanztheorie der Wärme ausgedient und er selbst noch keine Experimente zur Feststellung einer Alternative gemacht habe. In der Bewegung dieser fiktiven Flüssigkeit könne man alle Vorstellungen und Methoden von Faraday einzeln repräsentieren (Maxwell 1855, 356–357). Zu den anderen Beispielen Maxwells sollte für den Fort­ gang meiner Überlegungen nur so viel festgehalten werden, dass für Maxwell auch die Beziehung zwischen physikalischen Quantitäten und Zahlen eine Anwendung der Methode der Analogie darstellt. Zwei Monate nachdem Maxwell 1855 diese Ideen in der Cam­ bridge Philosophical Society vorgetragen hatte, hielt er vor dem Apost­ les Club in Cambridge einen Vortrag über Analogies in Nature, der die mehr physikalischen Themen der ersten Abhandlung ins Philo­ sophische wendet. Er macht sich nun Gedanken darüber, was in naturwissenschaftlicher Hinsicht eigentlich Erkenntnis (knowledge) ist und wie man sie vermehren kann. Er kommt, in deutlicher Über­ 6 Maxwell gebraucht den Begriff der physical analogy auch explizit im Zusammen­ hang der kinetischen Gastheorie: »If the properties of such a system of bodies [i.e. of an indefinite number of small, hard and perfectly elastic spheres acting on one another only during impact] are found to correspond to those of gases, an important physical analogy will be established, which may lead to more accurate knowledge of the properties of matter.« (Maxwell 1860, 378.).

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einstimmung mit seinen Philosophielehrern, zum Schluss, dass das Wissen von Beziehungen zwischen Gegenständen entscheidend ist. Es kann erweitert und vervollständigt werden, indem man Beziehungen in unterschiedlichen Bereichen miteinander vergleicht und zwischen ihnen eine Analogie herzustellen versucht, die einen Schluss von der strukturellen Beschaffenheit des Ausgangsbereichs auf einen noch wenig erfassten Zielbereich erlaubt: »Whenever they [d. h. die Menschen] see a relation between two things they know well, and think they see there must be a similar relation between things less known, they reason from the one to the other. This supposes that although pairs of things may differ widely from each other, the relation in the one pair may be the same as that in the other. Now, as in a scientific point of view the relation is the most important thing to know, a knowledge of the one thing leads us a long way towards a knowledge of the other« (Maxwell 1856, 381 f.).

Turner hat schön herausgearbeitet, dass nach Maxwell die Methode der physischen Analogie auf zweierlei Weise naturwissenschaftliches Wissen generiert: Einerseits durch Übertragung der in einem physi­ kalischen Bereich bekannten Lösung eines mathematischen Problems auf einen anderen Bereich, andererseits aber auch, indem sie für den relativ unbekannten Bereich von beiden eine physische Hypothese nahelegt (Turner 1955, 234 f.). Maxwell war sich übrigens durchaus bewusst, dass der Gebrauch von Analogien in der Physik zu einer uneigentlichen Redeweise führt: »[A]ll parables, fables, similes, metaphors, tropes, and figures of speech are analogies, natural or revealed, artificial or concealed« (1856, 376).

An anderer Stelle verschärft Maxwell nun diese Auffassung des Ver­ hältnisses von Theorien untereinander und wendet sie ins Erkennt­ nistheoretisch-Grundsätzliche. Er stellt die Frage, ob wir von der constitution of the intellect, die sich in fundamentalen Ideen, z. B. von Raum und Zeit, zu erkennen gibt, auf die tatsächlichen gesetzli­ chen Beziehungen der Natur schließen können oder ob uns unsere »geistige Maschinerie« nur etwas vorgaukelt und ihre eigene Struk­ tur ungerechtfertigterweise auf die wirklichen Gegenstände der Natur projiziert: »[A]re we to conclude that these various departments of nature in which analogous laws exist, have a real interdependence; or that their relation is only apparent and owing to the necessary conditions of human thought? […] [T]o determine whether there is anything in

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Nature corresponding to them [i.e. the fundamental ideas of space and time], or whether they are mere projections of our mental machinery on the surface of things, is absolutely necessary to appease the cravings of intelligence« (Maxwell 1856, 377 f.).

In diesem Zusammenhang führt Maxwell nun den philosophisch hochbrisanten Begriff der »real analogy« ein und kontrastiert sie mit dem der ›Analogie im eigentlichen Sinn‹, wie man sagen könnte, die bloß metaphorisch ist. Weil Wärme und Elektrizität unterschiedlich konstituiert sind, besteht zwischen Wärmeleitung und elektrischer Anziehung und Abstoßung keine »reale« Analogie, sondern nur eine Analogie (im eigentlichen Sinn), die sich nicht auf alle Züge der Phänomene beziehen kann. Wenn also Maxwell in der Überschrift seines Vortrags wissen will Are There Real Analogies in Nature? (376), so stellt er damit keine rhetorische Frage nach der Existenz von Analogien, wie sie z.B. Thomson aufgefunden hat, sondern geht ein philosophisches Problem an: Gesetzt den Fall, wir hätten eine tiefe Beziehungsähnlichkeit zweier Bereiche der Natur untereinander gefunden, die sich in allgemeinen Prinzipien ausdrückt und durch ein grundlegendes Gesetz »of the right action of the intellect« begründet scheint. Hätten wir dann das Recht zu sagen, dass wir nun mit unseren Vermutungen bei der wirklichen Beschaffenheit der Natur angekommen sind und nicht mehr bloß metaphorisch über die Dinge reden, oder dass sich zumindest der metaphorische Charakter unserer Deutungen vermindert hat? Oder sitzen wir damit nur einer Illusion auf? Maxwell will also wissen, ob (und wenn ja wann) wir die Vorläufigkeit der Analogie – ihren metaphorischen Charakter und ihre Modellhaftigkeit – abstreifen und legitimerweise zu wörtlich zu verstehenden Einsichten in die Natur übergehen können. An einer anderen Stelle schreibt Maxwell auch, dass die tiefen Ähnlich­ keiten der verschiedenen naturwissenschaftlichen Bereiche in Bezug auf die fundamentalen Bewegungsgesetze, die auf reale Analogien hinweisen, eigentlich keine »Analogien« mehr seien, sondern »trans­ formierte Identitäten« (ibid., 380). Maxwells Unterscheidung zwischen »analogy« und »real ana­ logy« bereitete den Interpreten seiner Ausführungen zur Analogie bisher immer große Schwierigkeiten. Hendry z.B. interpretiert im Zusammenhang der Einführung des Ausdrucks »real analogy« durch Maxwell »analogy« (ohne ein Beiwort) als »scheinbare Analogie« (vgl. Hendry 1986, 146 f.). Hätte Maxwell dies im Sinn gehabt, hätte er ohne weiteres diesen Ausdruck benützen können, aber man sucht

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nach »apparent« oder dergleichen vergeblich. Hendry interpretiert nun eine »scheinbare Analogie« als etwas, das nicht real in der Natur existiert, sondern nur im Geist, und vom Geist der Natur aufgeprägt wird. Wenn aber Analogien Metaphern sind, wie Maxwell es ja sagt, dann hat die Sprechweise von einer Metapher, die nicht Resultat des Geistes ist, keinen Sinn. Stattdessen halte ich es für angebrachter, die »real analogy« als ›auf eine zugrundeliegende physische Realität ver­ weisend‹ zu interpretieren. Eine Analogie zwischen zwei Bereichen im eigentlichen Sinn stellt eine bloße mathematische Strukturähn­ lichkeit fest; eine reale Analogie geht aber darüber hinaus und glaubt Gründe dafür zu haben, dass nicht nur diese formale Ähnlichkeit besteht, sondern noch eine tiefer gehende Übereinstimmung in der zugrundeliegenden »physical conception« (s.o. die Stelle aus Maxwell 1855/56, 155 f.). Maxwell versucht nun tatsächlich zu zeigen, dass es fundamen­ tale Ideen in der Physik gibt, die als reale Analogien zu den funda­ mentalen Ideen des Geistes zu verstehen sind. An diesem Punkt geht Maxwell über seinen philosophischen Lehrer Whewell hinaus; ein Umstand, der den bisherigen Maxwell-Interpreten entgangen zu sein scheint. Raum und Zeit sind für ihn nämlich nicht »bloß Modifikationen unseres eigenen Geistes«, wie man – so Maxwell – gemeinhin annehme, sondern es besteht eine reale Analogie zwischen ihnen und dem objektiven Raum und der objektiven Zeit selbst.7 Maxwells Argument für die Zeit verläuft etwa so: Wäre die Ordnung, in der unsere Empfindungen (sensations) nacheinander auftauchen, nicht die wirkliche objektive Ordnung der Gegenstände, wovon sie Erscheinungen sind, müsste Position und Ordnung ihrer Ursachen verschieden von denen der Empfindungen sein. Wir haben aber keinen Grund anzunehmen, dass solche Unterschiede zur Posi­ tion der Empfindungen bestehen. Da die Identität eines Gegenstandes sowohl unabhängig von der Reihenfolge ist, in der er zusammen mit anderen Gegenständen auftritt, als auch von der Abfolge unterschied­ licher Empfindungen, folgt, dass unsere Vorstellung der Zeit, die sich Es besteht allerdings eine Ähnlichkeit zu William Hamiltons (etwas eigenartiger) Sicht von Kant: In einem nachgelassenen Fragment zu »Kant’s Doctrine of Space and Time« aus der Zeit vor 1836 kritisiert dieser Kants »conviction that we live in a world of unreality and illusion« und hält dagegen: »[M]y doctrine holds […] that Space and Time, as given, are real forms of thought and conditions of things« (Hamilton 1859, 647). 7

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an der Abfolge der Empfindungen festmacht, der wirklichen zeitlichen Abfolge der Ursachen der Empfindungen entspricht. »Now if we admit that we can think of difference independent of sequence, and of sequence without difference, we have admitted enough on which to found the possibility of the ideas of space and time« (Maxwell 1856, 377).

Allerdings liegt keine Identität der empfundenen Zeit mit der wirkli­ chen Zeit vor, da trotz gleicher Reihenfolge der Ereignisse das Auftre­ ten der Ursache und das Auftreten der Empfindung zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden können. Es besteht also nur eine Analogie zwischen »den beiden Ordnungen von Gedanken und Dingen« (ibid., 378). Modern könnte man das so ausdrücken, dass die Ordnung der Zeit auf einer Ordinalskala für Gedanken mit der von Dingen identisch ist, aber nicht auf einer Intervallskala, geschweige denn einer Rationalskala (Stevens 1946). An einer etwas späteren Stelle sagt Maxwell, dass wir keinen Gedanken hegen können, ohne ihn als abhängig von einem Grund, warum er auftritt, aufzufassen. Wenn wir von (materiellen) Objekten sprechen, sind die Gründe unserer Gedanken und Vorstellungen Ursachen, also Gründe, die sich auf (analog dazu geordnete) Gegen­ stände beziehen. »Sind die Objekte mechanischer Natur oder werden sie mechanisch aufgefasst, dann sind die Ursachen noch stärker definiert und heißen Kräfte« (ibid.). In einer mechanisch verfassten Physik sind wir also gezwungen, die Erscheinungen als durch Kräfte verursacht zu begreifen. Dies ist wohl die weitere Prämisse, die Max­ well bei der Begründung der Möglichkeit realer Analogien zwischen fundamentalen Ideen und Natur voraussetzt. Wenn wir Ereignisse in der Natur kennen, also wissen, was zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort der Fall ist, und zusätzlich noch die Kräfte kennen, die in der Natur wirken, dann können wir Voraussagen auf bisher unbekannte Ereignisse machen. Maxwell gibt für die fundamentale Idee des Raumes eine ähn­ liche Begründung, die aber knapper und daher weniger überzeu­ gend ausfällt: »Now it appears to me that when we say that space has three dimen­ sions, we not only express the impossibility of conceiving a fourth dimension, co-ordinate with the three known ones, but assert the objective truth that points may differ in position by the independent variation of three variables.«

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Er kommt hier ebenfalls zum Schluss, dass es eine reale Analogie zwischen unseren Ideen und der Außenwelt gibt: »Here, therefore, we have a real analogy between the constitution of the intellect and that of the external world« (Maxwell 1856, 378). Maxwell fasst nun auch hier das Verhältnis zwischen dem Bereich der Zahlen und dem Bereich der Gegenstände als Analogie auf. Allerdings bleibt es offen, ob er dieses Verhältnis als eine reale Analogie verstanden wissen will oder ob es, was nach dem Text wahrscheinlicher ist, nicht eher durch erfahrungsunabhängige Vor­ entscheidungen, durch Definitionen, vorstrukturiert ist. Eine solche Vorentscheidung fällen wir nämlich beim Zählen von Gegenständen. Da die Natur einen horror davor hat, in einzelne Gegenstände auf­ geteilt zu werden, müssen wir per fiat den Gegenständen »durch Definition eine fiktive Einheit« geben. »The dimmed outlines of phenomenal things all merge into another unless we put on the focussing glass of theory and screw it up some­ times to one pitch of definition, and sometimes to another, so as to see down into different depths through the great millstone of the world« (ibid. 377).

Hier schimmert schon ein konventionalistischer Standpunkt durch! Maxwell greift die Methode der Analogie nochmals explizit im Jahre 1870 in einer Ansprache vor der mathematischen und physika­ lischen Sektion der British Association auf. Er nennt die Analogie (oder die ›Analogie im eigentlichen Sinn‹, wie ich es nannte) nun eine »formale« Analogie zwischen systems of ideas (219). Eine formale Analogie verhilft zu einer scientific illustration eines Wissenschaftsge­ biets durch ein anderes; sie ist eine »Scientific Metaphor«, mit der wir die »Sprache und Ideen« der einen Wissenschaft auf eine andere übertragen können. »The characteristic of a truly scientific system of metaphors is that each term in its metaphorical use retains all the formal relations to the other terms of the system which it had in its original use. The method is then truly scientific—that is, not only a legitimate product of science, but capable of generating science in its turn« (227).

Auch wenn die »mathematischen Formen der Beziehungen in beiden Systemen dieselben sind,« kann jedoch die »physische Natur der Quantitäten völlig verschieden« sein (218). Auch in diesem Aufsatz stellt Maxwell die »philosophische Frage«, ob das Bestehen einer formalen Analogie darauf hinweisen

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kann, dass sich darunter eine physische Ähnlichkeit oder gar Identi­ tät verbirgt: »Suppose, then, we have successfully introduced certain ideas belong­ ing to an elementary science by applying them metaphorically to some new class of phenomena. It becomes an important philosophical question to determine to what degree the applicability of the old ideas to the new subject may be taken as evidence that the new phenomena are physically similar to the old« (Maxwell 1870, 227).

Soweit ich sehe, hat Maxwell diese Frage – wenigstens im Druck – nicht weiter verfolgt.

3. Physikalische Analogien bei Helmholtz Es ist nun interessant zu sehen, dass der Begriff der Analogie nicht nur von den britischen Physikern verwendet wird, sondern auch bei Helmholtz auftaucht, oder, besser gesagt, dass sich Helmholtz und die britischen Physiker gegenseitig die Bälle in Bezug auf Analogien in der Physik zuspielen. Es ist bekannt, dass Helmholtz enge Verbin­ dungen zu den Physikern in Großbritannien pflegte. Seine erste Reise nach England fand schon 1853 statt; zwei Jahre später lernte er den drei Jahre jüngeren William Thomson kennen, mit dem ihn dann eine feste Freundschaft verband. Auf einer der vielen weiteren Reisen nach Großbritannien lernte er 1864 auch Maxwell persönlich kennen. Noch während Helmholtz 1870 über seinen Ruf von Heidelberg nach Berlin verhandelte, erreichte ihn ein weiterer Ruf nach Cambridge. Der Aufstieg zum ›Reichskanzler der Physik‹ übte dann aber doch die größere Anziehungskraft aus als die Liebe zu Großbritannien. 1873 erhielt er, vielleicht als Trost für die entgangene Stelle in Cambridge, die Copley Medal der Royal Society. Ich habe schon oben auf Helmholtz‘ wichtigen Aufsatz von 1858 zur Hydrodynamik hingewiesen (den sich Thomson zum Vorbild genommen hatte), in dem er zeigt, dass Wirbelbewegungen in einer reibungsfreien inkompressiblen Flüssigkeit erhalten bleiben. Dort spricht Helmholtz auch von einer »merkwürdige[n] Analogie der Wirbelbewegungen des Wassers mit den electromagnetischen Wir­ kungen electrischer Ströme« und zwar einer »Analogie zwischen Fernwirkungen der Wirbelfäden und den electro­ magnetischen Fernwirkungen stromleitender Drähte, welche ein sehr

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gutes Mittel abgiebt, um die Form der Wirbelbewegungen anschaulich zu machen« (Helmholtz 1858, 27 & 40; WA 1: 103 & 117).

Helmholtz illustriert also mechanische Wirbelbewegungen durch Analogie mit elektromagnetischen Erscheinungen. Maxwell griff diese Stellen in seinem Aufsatz von 1861/62 über Physical Lines of Force auf und schrieb: »Since the first part of this paper was written, I have seen […] a paper by Prof. Helmholtz on Fluid Motion, in which he has pointed out that the lines of fluid motion are arranged according to the same laws as the lines of magnetic force, the path of an electric current corresponding to a line of axes of those particles of the fluid which are in a state of rotation. This is an additional instance of a physical analogy, the investigation of which may illustrate both electro-magnetism and hydrodynamics« (Maxwell 1861/62, 348, dt. 53).

Hier haben wir ein echtes Beispiel für den Fall, dass, wie Maxwell es später ausdrückte, die »recognition of the formal analogy between the two systems of ideas leads to a knowledge of both, more profound than could be obtained by studying each system separately« (Maxwell 1870, 219). In einer Arbeit von 1870 (und weiteren folgenden) verteidigte Helmholtz als Alternative zu Maxwell eine eigene elektromagneti­ sche Theorie, die noch zu einem wesentlichen Teil den Fernkrafttheo­ rien der kontinentalen Physik verhaftet ist. Er konnte zeigen, wie er schreibt, dass »die merkwürdige Analogie zwischen Bewegungen der Elektricität in einem Dielektricum und denen des Lichtäthers nicht von der besonde­ ren Form von Herrn Maxwell’s Hypothesen abhängt, sondern sich in wesentlicher Weise auch ergiebt, wenn wir die ältere Ansicht über die elektrischen Fernwirkungen beibehalten« (Helmholtz 1870, 558).

Damit war für Helmholtz der Modellcharakter der Maxwell‘schen Theorie nochmals bekräftigt und der Weg abgeschnitten, sie als »reale Analogie« zu nehmen. Im Jahre 1884 veröffentlichte Helmholtz einen Aufsatz über die Principien der Statik monocyklischer Systeme, in der er eine Analogie konstatierte zwischen monozyklischer Wirbelbewegung (Systeme von Wirbelbewegungen, die nur von einem Parameter abhängen) und der Wärmebewegung gemäß der kinetischen Gastheorie. Es ergab sich daraus auch eine monozyklische Analogie für den zweiten Haupt­ satz der Thermodynamik. (Siehe Schiemann 1997, 391 ff.) Helmholtz

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verglich ein solches System mit einem Kreisel: Auch an ihm sind zwei Arten von Bewegungen zu unterscheiden, eine schnelle verborgene zyklische, die der Wärmebewegung des Gases entspricht, und die langsame nichtzyklische Präzession der Kreiselachse, der die Glei­ chungen der Umwandlung der Wärme des Gases in Arbeit entspre­ chen. Diese Analogie machte besonders auf Boltzmann und Helm­ holtz‘ Schüler Hertz einen nachhaltigen Eindruck. (Siehe Klein 1973, Bierhalter 1981 & 1992, Jungnickel 1990, 129–134.) Die Theorie der »verborgenen Bewegungen«, die in Hertz‘ Mechanik so eine heraus­ ragende Rolle spielt, ist als der Versuch anzusehen, den Begriff der monozyklischen Bewegung zu verallgemeinern (Lützen 1995, 208ff.; Heidelberger 1998). Helmholtz war sich übrigens der methodischen Bedeutung von William Thomsons Analogien (und damit wohl auch der von Max­ well) wohl bewusst, wie aus seiner Besprechung der Mathematical and Physical Papers von Thomson aus dem Jahre 1885 hervorgeht: »One great merit in the scientific method of Sir William Thomson consists in the fact that, following the example set by Faraday, he avoids as far as possible hypotheses on unknown subjects, and by his mathematical treatment of problems endeavours to express the law simply of observable processes. By this circumscription of his field the analogy between the different processes of nature is brought out much more distinctly than would be the case were it complicated by widely-diverging ideas respecting the unknown interior mechanism of the phenomena« (Helmholtz 1885, 25).

Unter »hypotheses« sind hier natürlich Annahmen über theoretische, der Erfahrung nicht direkt zugängliche Gegenstände oder Prozesse zu verstehen (und nicht nur allgemein irgendwelche Vermutungen). Kurz vor seinem Tod kam Helmholtz übrigens zu einer anderen Einschätzung und ließ die wissenschaftsmethodische Bedeutung sei­ ner von ihm vorgeschlagenen Monozyklen in einem anderen Licht erscheinen. Im Vorwort zu Hertz’ Prinzipien der Mechanik schildert er zuerst, welche »hypothetischen Zwischenglieder« Hertz sich mit den »unwahrnehmbare[n] Massen und unsichtbare[n] Bewegungen derselben« für seine Mechanik ausgedacht habe, um die Existenz von Kräften, die nicht Kontaktkräfte sind, zu erklären. »Er [Hertz] scheint hierbei hauptsächlich auf die Zwischenschaltung cyklischer Systeme mit unsichtbaren Bewegungen Hoffnung gesetzt zu haben.« Helmholtz fährt dann fort:

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»Englische Physiker, wie Lord Kelvin in seiner Theorie der Wirbela­ tome, und Maxwell in seiner Annahme eines Systems von Zellen mit rotirendem Inhalt, die er seinem Versuch einer mechanischen Erklä­ rung der elektromagnetischen Vorgänge zu Grunde gelegt hat, haben sich offenbar durch ähnliche Erklärungen besser befriedigt gefühlt, als durch die blosse allgemeinste Darstellung der Thatsachen und ihrer Gesetze, wie sie durch die Systeme der Differentialgleichungen der Physik gegeben wird. Ich muss gestehen, dass ich selbst bisher an die­ ser letzteren Art der Darstellung festgehalten, und mich dadurch am besten gesichert fühlte; doch möchte ich gegen den Weg, den so her­ vorragende Physiker, wie die drei genannten, eingeschlagen haben, keine principiellen Einwendungen erheben« (Helmholtz 1894, xxi f.).

Hier werden Hertz’ »unsichtbare Bewegungen« mit Maxwell und Thomson in Verbindung gebracht und so getan, als hätte Helmholtz selbst mit solchen – angeblich »hypothetischen Zwischengliedern« – nichts zu tun und stünde ganz auf der Seite Kirchhoffs – obwohl es ja seine (damals nicht realistisch verstandene, sondern als Analogien gedeutete) Monozykeln waren, auf denen Hertz aufbaute!

4. Die Analogie zwischen Quantitäten und Zahlen Im oben schon gebrachten Zitat aus Faraday’s Lines of Force, das die Analogie zweier Gebiete als teilweise Ähnlichkeit ihrer Gesetze bestimmt, die sich gegenseitig illustrieren, schreibt Maxwell weiter: »Thus all the mathematical sciences are founded on relations between physical laws and laws of numbers, so that the aim of exact science is to reduce the problems of nature to the determination of quantities by operations with numbers« (Maxwell 1855/56, 156).

Er nennt das Verhältnis der physikalischen Gesetze zu den Zahlenge­ setzen »the most universal of all analogies«. Hier wird nun also der Begriff der Analogie allgemein auf das Verhältnis zwischen Mathe­ matik und Erfahrungswissenschaft ausgeweitet: Maxwell konstatiert eine Korrespondenz zwischen der Operation mit Zahlen und der Operation mit physischen Quantitäten. Auch in der Kurzfassung von Faraday’s Lines of Force« vertrat Maxwell, wie schon ausgeführt, eine ähnliche Ansicht. Er schrieb dort, dass wir für die Methode der physikalischen Analogie ein Beispiel in der »substitution of numbers for quantities in all calculations« hätten. (Maxwell 1855/56, 355). Und auch in der Rede von 1870 wurde die

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Beziehung zwischen der »physischen Aktivität der Moleküle« und der »geistigen Operation des Mathematikers« angesprochen: »But who will lead me into that still more hidden and dimmer region where Thought weds Fact, where the mental operation of the mathem­ atician and the physical action of the molecules are seen in their true relation?« (Maxwell 1870, 216)

Die Aussicht, diesen Zusammenhang zu erkennen, wird dort aber wesentlich skeptischer als früher eingeschätzt. Der Weg zur wahren Beziehung führt nämlich »durch die Behausung des Metaphysikers«, die jeder Mann der Naturwissenschaft »verabscheut«. Man benötige ja schon »Tausende von Jahren«, um metaphysische Spekulationen überhaupt verständlich formulieren zu können (Maxwell 1870, 216). Im Jahre 1895 gab Boltzmann seine Übersetzung von Maxwells On Faraday’s Lines of Force für die Reihe Ostwald’s Klassiker der exak­ ten Wissenschaften (Bd. 69) heraus. Zu der eben (am Anfang von Kap. 4) zitierten Stelle, dass alle mathematischen Wissenschaften auf den Relationen zwischen physikalischen Gesetzen und Zahlengesetzen beruhen, gab er folgenden Kommentar ab: »Der Standpunkt, dass die Messung der Raum- und Zeitgrössen durch Zahlen auf einer blossen Analogie derselben mit den zwischen ganzen Zahlen bestehenden Relationen beruhe, ist, soviel ich weiss, niemals wieder aufgenommen worden« (Boltzmann 1895, 100).

Hier irrte Boltzmann, denn es war eben Hermann von Helmholtz, der diesen »Standpunkt« wieder aufgenommen hat, und zwar 1887 in seinem Aufsatz Zählen und Messen, erkenntnnisstheoretisch betrach­ tet. Entweder hat sich Boltzmann nicht mehr an diesen Aufsatz von Helmholtz erinnert oder ihn bis zur Fertigstellung der Übersetzung nicht gekannt. Er erschien auch zuerst in einer (für Physiker wohl ent­ legenen) Festschrift für Helmholtz‘ Freund, den Philosophen Eduard Zeller, der Helmholtz‘ Kollege an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin war (und ihm 1878 im Rektoramt nachfolgte). Der Abdruck des Aufsatzes von Helmholtz in seinen Wissenschaftlichen Abhand­ lungen erfolgte erst im 3. Band von 1895, so dass Boltzmann ihn bei Anfertigung der Übersetzung in dieser Fassung nicht hat zur Kenntnis nehmen können. Es gibt noch einen zweiten Autor, der dies – wohl unabhängig von Boltzmann – so gesehen hat, nämlich der dänische Philosoph Harald Høffding, und zwar in seinen Vorlesungen über Moderne Filosoffer von 1902 (1904 gedruckt, 1905 ins Deutsche übersetzt).

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Maxwells Gedanke in Faraday’s Lines of Force, schrieb Høffding in einer Fußnote, »dass die Anwendung der Zahlenlehre auf Naturerscheinungen auf Analogie beruhe, wurde später ausgeführt von Helmholtz in dessen Abhandlung in der Festschrift an Zeller (1887), ›Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch betrachtet‹, und von Ernst Mach in dessen Schrift ›Die Prinzipien der Wärmelehre, historisch-kritisch erläutert‹ (1896)« (1905, 211).8

Die hier dargelegten bisher bekannten Fakten reichen sicher nicht zu einem Beweis aus, dass Helmholtz den Gedanken, das Messen beruhe auf der Analogie zwischen physischen und numerischen Gesetzen, tatsächlich von Maxwell übernommen hat. Es ist aber jedenfalls bezeichnend, dass Boltzmann, ohne bewusste Kenntnis von Helmholtz‘ Aufsatz, die Stelle bei Maxwell genauso auffasst, wie Høffding es später tat. Ich sehe hierin doch ein starkes Indiz dafür, dass Helmholtz‘ Messtheorie aus einer – durch Maxwell angestoßenen – Verallgemeinerung des Analogiedenkens in der Physik erwachsen ist. Um Helmholtz‘ Auffassungen näher darzustellen, möchte ich ihn zuerst in einem längeren Zitat selbst zu Wort kommen lassen. Er führt darin aus, dass eine Eigenschaft physischer Objekte genau dann messbar ist (d.h. als extensive Größe darstellbar ist), wenn festgelegt ist, was Gleichheit und additive Verbindung für diese Eigen­ schaft bedeuten: »[M]ittels dieses Zeichensystems der Zahlen geben wir Beschreibun­ gen der Verhältnisse reeller Objecte, die, wo sie anwendbar sind, jeden geforderten Grad der Genauigkeit erreichen können, und mittels desselben werden in einer grossen Anzahl von Fällen, wo Naturkörper unter der Herrschaft bekannter Naturgesetze zusammentreffen oder zusammenwirken, die den Erfolg messenden Zahlenwerthe durch Rechnung vorausgefunden. Dann muss aber gefragt werden: Was ist der objective Sinn davon, dass wir Verhältnisse reeller Objecte durch benannte Zahlen als Grössen ausdrücken, und unter welchen Bedingungen können wir dies thun? Diese Frage löst sich, wie wir finden werden, in zwei einfachere auf, nämlich:

8 Zu Helmholtz’ und vor allem zu Machs Messtheorien vgl. Heidelberger 1993, Kap. 5.

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1. Was ist der objective Sinn davon, dass wir zwei Objecte in gewisser Beziehung für gleich erklären? 2. Welchen Charakter muss die physische Verknüpfung zweier Objecte haben, damit wir vergleichbare Attribute derselben als additiv verbun­ den, und diese Attribute demzufolge als Grössen, die durch benannte Zahlen ausgedrückt werden können, ansehen dürfen? Benannte Zah­ len nämlich betrachten wir aus ihren Theilen, beziehlich Einheiten, durch Addition zusammengesetzt« (Helmholtz 1887, 359 f.).

Im Jargon der gegenwärtigen Messtheorie ausgedrückt ist Messung also für Helmholtz die Repräsentation der Beziehung von empiri­ schen Objekten einer Art im Zeichensystem der Zahlen bzw. durch benannte Zahlen als Größen. Eine solche Darstellung ist sinnvoll – d.h. sie erlaubt einen Schluss von den Zahlen auf die Gegenstände –, sobald für die Menge der empirischen Objekte Gleichheit und Additi­ vität und für die Zahlen die üblichen arithmetischen Rechnungsope­ rationen definiert sind. Es wird also ein Ausdruck der Verhältnisse der zu messenden Objekte im Zeichensystem der Zahlen gesucht, so dass 1. 2.

die physische Gleichheit (∼) der Objekte der Zahlengleichheit (=) und die physische Verknüpfung (⊕ ) der Objekte der Addition der Zahlen (+) entspricht.

Wenn wir unter einer Struktur, wie üblich, eine Menge verstehen, auf der eine oder mehrere Operationen definiert sind, dann können wir dies noch kürzer ausdrücken: Messung ist eine Analogie zwischen der numerischen Struktur mit Gleichheit und Addition und einer empiri­ schen Struktur mit physischer Gleichheit und physischer Additivität. Physische Gleichheit und physische Verknüpfung sind also bei der Messung mit numerischer Gleichheit und numerischer Verknüpfung (Addition) im Zahlensystem analog. Ist ein Bereich empirischer Gegenstände zu messen, dann muss also dementsprechend im Bereich der zu messenden Gegenstände eine physische »Methode der Vergleichung« und eine physische »Verknüpfungsmethode« gefunden werden, um die gewünschte Ana­ logie herstellen zu können. Helmholtz untersucht daher näher die Bedingungen, unter denen man von »physischer Vergleichung« und additiver »Methode der Verknüpfung« sprechen kann. Die physische Vergleichung hat reflexiv, symmetrisch und transitiv zu sein und die Verknüpfung muss additiv und kommutativ sein. Dies wird von

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Analogie und Quantifizierung Von Maxwell über Helmholtz zur Messtheorie

Helmholtz durch Angabe der Axiome der Messung bestimmt, wobei er auf Vorarbeiten von Hermann und Robert Grassmann zurückgreift: 1. Gleichartigkeit der Summe und der Summanden: »[Ü]ber das Gleichbleiben des Ergebnisses der Verknüpfung bei Ver­ tauschung der Theile muss durch dieselbe Methode der Vergleichung entschieden werden, mit der wir die Gleichheit der zu vertauschenden Theile festgestellt haben« (381).

[Modern: Monotonie: (a ∼ b) ↔ (a ⊕  c) ∼ (b ⊕  c), für beliebiges c ∈  S] 2. »Commutationsgesetz. Das Resultat der Addition ist unabhängig von der Reihenfolge, in der die Summanden verknüpft werden. Das­ selbe muss gelten von physischen Verknüpfungen, die als Additionen zu betrachten sein sollen« (382). [Modern: Kommutativität von ⊕  (bzgl. ∼): (a ⊕  b) ∼ (b ⊕  a)] 3. »Associationsgesetz. Die Verbindung zweier gleichartiger Grös­ sen kann auch physisch geschehen, indem statt beider eine unge­ theilte Grösse derselben Art eingesetzt wird, die ihrer Summe gleich ist. Dadurch sind jene beiden dann vor allen andern additiv verei­ nigt« (382). (Dies ergibt sich schon aus 1. und 2., wie Helmholtz selbst bemerkt.) [Modern: Wenn (a ⊕  b) ∼ c, dann ist ((a ⊕  b) ⊕  d) ∼ (c ⊕  d)] Die folgenden vier Axiome werden von Helmholtz nur angedeutet bzw. als Folgerungen aus 1.-3. angesehen: 4. Ordnungsrelation. a •> b   es gibt ein c ∈  S: (a ⊕  c) ∼ b (»•>« ist dabei die physische »größer als«-Relation.) 5. Positivität. (a ⊕  b) •> a und (a ⊕  b) •> b 6. Archimedisches Axiom. Wenn a •> b, dann gibt es ein n ∈  ℕ , so dass (n b •≥ a) Am einfachsten lassen sich die Axiome am Beispiel einer Balken­ waage illustrieren, wie es auch Helmholtz andeutet. Man kann dies modern so formulieren: Sei S  = < G; ∼, ⊕  > eine empirische Struktur mit G für Gewichtsstücke. Dann ist die Methode der Vergleichung das Ausbalancieren auf einer Balkenwaage. „∼“ steht für »gleich schwer wie«. Die Verknüpfungsmethode ist das Zusammenlegen von Gewichtsstücken in eine Waagschale, so dass also »⊕ « für diese physische Verknüpfungsoperation steht. Sei ℛ  = < ℜ ; =, + > eine numerische Struktur mit ℜ  als Teilmenge der reellen Zahlen und „=“ für »gleich« und „+“ für die numerische Operation der Addition, wie sie in der Arithmetik definiert ist.

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Dann kann man folgendes Repräsentationstheorem formulieren: Es gibt eine Abbildung φ : S  → ℛ , so dass für alle a, b ∈  S : 1. a ∼ b   φ (a) = φ (b) Sind zwei Gewichte gleichschwer, sind auch ihre Zahlenwerte gleich. 2. φ (a ⊕  b) = φ (a) + φ (b) Der Zahlenwert zweier verknüpfter Gewichte ist gleich dem Zahlen­ wert des einen plus dem Wert des anderen Gewichts. Es kommt hier nicht so sehr darauf an, die Details der Entwick­ lung der Messtheorie weiter zu verfolgen. Festgehalten sei nur noch, dass Helmholtz’ Ansatz von seinem Schüler Johannes von Kries (1882) und in formaler Hinsicht von Otto Hölder (1901) weiterge­ führt wurde. In der Gegenwart haben Scott und Suppes (1958), Suppes und Zinnes (1962) sowie Krantz et al. (1971) Helmholtz’ Ansatz wieder aufgegriffen. Die heutige, recht technische und formale Diskussion der Messtheorie wird hauptsächlich im Journal of Mathe­ matical Psychology geführt.9 Es ist noch wichtig zu zeigen, dass und wie Helmholtz’ Anwen­ dung der Methode der Analogie auf das Verhältnis von Mathematik und Erfahrung bereits in seinen früheren philosophischen Überlegun­ gen angelegt ist. Schon in seinem wegweisenden Aufsatz »Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome« von 1870 kommt die Grundidee des Ansatzes von 1887 zum Ausdruck: »Schliesslich möchte ich nun noch hervorheben, dass die geometri­ schen Axiome gar nicht Sätze sind, die nur der reinen Raumlehre angehörten. Sie sprechen, wie ich schon erwähnt habe, von Grössen. Von Grössen kann man nur reden, wenn man irgend welches Verfahren kennt und im Sinne hat, nach dem man diese Grössen vergleichen, in Theile zerlegen und messen kann« (Helmholtz 1870a, 28f.).

Letztlich dürfte aber die Idee nicht aus der Philosophie der Geometrie, sondern aus seiner Sinnesphysiologie stammen, in der er sich das Problem ähnlich wie Maxwell zurechtgelegt hatte. Bekanntermaßen hat Helmholtz, im Anschluss an Johannes Müller und dessen Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, auf »die auffallenden und groben Incongruenzen zwischen den Empfindungen und Objecten, sowohl in Bezug auf die Qualität, wie auf die Localisation« (Helmholtz 1868, 330) hingewiesen und damit sowohl die naive Sehtheorie des Alltags als auch den Nativismus der Schule von Ewald Hering u.a. 9 Eine Erklärung dafür, warum die Diskussion ausgerechnet in der Psychologie und kaum anderswo stattfindet, findet man in Heidelberger (1993), Kap. 5.

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zu kritisieren versucht – also jene Positionen, die eine Spielart des »direkten Realismus« vertreten (wie man in der Philosophie der Wahrnehmung heute sagen würde). Helmholtz geht sogar so weit zu schreiben, »daß die Art und Weise, wie wir die Vorgänge in unserem Seelenleben wahrnehmen, gänzlich verschieden ist von allen Wahrnehmungen, die sich auf äußere Objecte beziehen, und die Qualitäten der darauf bezüglichen Empfindungen gar keine Ähnlichkeit mit denen der äuße­ ren Sinne haben, mit diesen also gar keine Art der Vergleichung, keine Beziehung der Ähnlichkeit zulassen. Dadurch ist jede Art von Analogie10 zwischen beiderlei Klassen von Wahrnehmungen ausge­ schlossen« (Helmholtz 1896, 577).

Helmholtz versucht die Gefahr eines umfassenden Skeptizismus, die sich durch diese Betonung der Nichtübereinstimmung von Wahrneh­ mung und Erfahrung in seiner repräsentationalen Wahrnehmungs­ theorie ergibt, durch den Verweis auf die Erfahrung der willentlichen Körperbewegung aufzufangen: »Die Uebereinstimmung zwischen den Gesichtswahrnehmungen und der Aussenwelt beruht also ganz oder wenigstens der Hauptsache nach auf demselben Grunde, auf dem alle unsere Kenntniss der wirklichen Welt beruht, nämlich auf der Erfahrung und der fortdauernden Prüfung ihrer Richtigkeit mittelst des Experiments, wie wir es bei jeder Bewe­ gung unseres Körpers vollziehen« (Helmholtz 1868, 330).

Aber diese Methode stößt an Grenzen: »Natürlich sind wir jener Uebereinstimmung nur in so weit versichert, als dieses Mittel der Prüfung reicht; es reicht aber gerade so weit, als wir ihrer für praktische Zwecke bedürfen. Jenseits dieser Grenzen, zum Beispiel im Gebiete der Qualitäten, können wir zum Theil die Nichtübereinstimmung bestimmt nachweisen.«

Das Ergebnis ist nun ähnlich wie bei Maxwell, dass die Wahrnehmung oder die innere Welt mit den Gegenständen der Natur oder der Aussenwelt wenigstens in relationaler Hinsicht übereinstimmt und diese Beziehungsähnlichkeit ausreicht: »Nur die Beziehungen der Zeit, des Raumes, der Gleichheit, und die davon abgeleiteten Beziehungen der Zahl, der Grösse, der Gesetz­ Helmholtz gebraucht hier »Analogie« offensichtlich in einem anderen Sinn als Maxwell.

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lichkeit, kurz das Mathematische, sind der äusseren und inneren Welt gemeinsam, und in diesen kann in der That eine volle Ueberein­ stimmung der Vorstellungen mit den abgebildeten Dingen erstrebt werden« (Helmholtz 1868, 330).

Dieses ›Kongruenzproblem‹, wie man es nennen könnte, wird 1878 in den »Thatsachen in der Wahrnehmung« zum »Grundproblem« der Erkenntnistheorie erklärt, das »Philosophie und Naturwissen­ schaft von zwei entgegengesetzten Seiten« bearbeiten. Die Aufgabe der Naturwissenschaft ist es dabei, »abzuscheiden, was Definition, Bezeichnung, Vorstellungsform, Hypothese ist, um rein übrig zu behalten, was der Welt der Wirklichkeit angehört, deren Gesetze sie sucht« (Helmholtz 1878, 222). Der »Rest von Aehnlichkeit« mag »geringfügig erscheinen«, schreibt Helmholtz und fährt fort: »In Wahrheit ist er es nicht; denn mit ihm kann noch eine Sache von der allergrössesten Tragweite geleistet werden, nämlich die Abbildung der Gesetzmässigkeit in den Vorgängen der wirklichen Welt. […] Da Gleiches in unserer Empfindungswelt durch gleiche Zeichen angezeigt wird, so wird der naturgesetzlichen Folge gleicher Wirkungen auf gleiche Ursachen, auch eine ebenso regelmässige Folge im Gebiete unserer Empfindungen entsprechen« (Helmholtz 1878, 226).

Sowohl Helmholtz als auch Maxwell sind also überzeugt, dass wir durch Analogien die Kluft zwischen der Welt der Empfindungen und der Außenwelt überwinden können.

5. Schluss Der Aufsatz hat sich mit zwei Entwicklungen näher auseinanderge­ setzt, der Herausbildung der Methode der physischen Analogie in der Physik und der Herausbildung des Gedankens, dass auch die Messung und damit die Mathematisierung unserer physikalischen Theorien als Anwendung der Methode der Analogie aufzufassen ist. Ich möchte zum Schluss fragen, welche Bedeutung wir aus heutiger Sicht diesen Entwicklungen zumessen können. Ist die Methode der Analogie nur eine historisch kontingente, lokal gebundene Variante physikalischer Methode, oder drückt sich in ihr nicht vielmehr eine langfristige Tendenz aus, die allgemein etwas über die Natur der modernen Naturwissenschaft aussagt? Ist die Analogietheorie der Messung – oder, wie wir heute sagen: ihre Repräsentationstheorie

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– ebenfalls nur eine zeitgebundene Fassung des Problems vom Ver­ hältnis zwischen Mathematik und Naturwissenschaft, die ansonsten keine übergreifende Bedeutung besitzt oder nicht doch eine bedeuten­ dere Angelegenheit? Was die erste Frage angeht, so wurden schon kurz nach der Zeit­ periode, die wir hier betrachtet haben, weitergehende Überlegungen über die genannte Entwicklung angestellt. Ludwig Boltzmann hielt 1892 eine höchst scharfsinnige, prägnante und aufschlussreiche Rück­ schau auf die Entwicklung der »Methoden der theoretischen Physik«. Er schildert die von den »Pariser Mathematikern« um die Wende des 18. Jahrhunderts geschaffene »Methode der theoretischen Physik«, die »Kraftzentren und Fernkräfte« als »Hypothesen« voraussetzte, und stellt sie zwei weiteren Entwicklungen gegenüber: Einerseits der Abwendung von den Hypothesen, die sich mit Kirchhoff und Hertz (und, wie wir vielleicht hinzufügen können: auch schon mit Fourier) im Lauf des 19. Jahrhunderts manifestiert habe, andererseits der Entwicklung des Elektromagnetismus mit Faraday, Thomson und Maxwell, die, obwohl ihre Methode anfänglich als »Hypothese im alten Sinne des Wortes« verspottet wurde, den alten Hypothesen »von einer anderen Seite noch empfindlicher zu Leibe gegangen« sei als Kirchhoff und Konsorten mit der ihren. Mit Maxwells Arbeit von 1865 (»A dynamical theory of the electromagnetic field«) »schälen sich die Formeln mehr von dem [mechanischen] Modelle los« und es musste auch dem Letzten klar werden, dass Maxwell seinen Modellen keine Realität zugeschrieben hat. Boltzmann schreibt weiter: »Allmählich jedoch fanden die neuen Ideen in allen Gebieten Eingang. Aus dem Gebiete der Wärmetheorie erwähne ich hier nur Helmholtz’ berühmte Abhandlungen über die mechanischen Analogien des zwei­ ten Hauptsatzes der Wärmetheorie. Ja, es zeigte sich, daß sie dem Geiste der Wissenschaft besser entsprachen, als die alten Hypothesen und auch für den Forscher selbst bequemer waren. Denn die alten Hypothesen konnten nur aufrecht erhalten werden, so lange alles klappte: jetzt aber schadeten einzelne Nichtübereinstimmungen nicht mehr, denn einer bloßen Analogie kann man es nicht übel nehmen, wenn sie in einzelnen Punkten hinkt. Daher wurden bald auch die alten Theorien, so die elastische Theorie des Lichtes, die Gastheorie, die Schemata der Chemiker für die Benzolringe usw., nur mehr als mechanische Analogien aufgefasst, und endlich generalisierte die Phi­ losophie Maxwells Ideen bis zur Lehre, daß die Erkenntnis überhaupt nichts anderes sei, als die Auffindung von Analogien. Damit war die alte wissenschaftliche Methode [u. a. der Pariser Physiker mit ihren

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Hypothesen] wieder hinwegdefiniert und die Wissenschaft sprach nur mehr in Gleichnissen« (Boltzmann 1892, 9).

Wenn man die Methode der mechanischen Analogien mit dem Vor­ gehen der Gegenwartsphysik vergleicht, sieht man – im Lichte von Boltzmanns Deutung – tatsächlich in der heutigen Modellbildung der Physik eigentlich nur eine Ausweitung und Steigerung dessen, was bei Maxwell schon angelegt ist. (Boltzmann verwendet ja auch schon den Ausdruck ›Modell‹ für ›Analogie‹.) Diese Auffassung wird auch von Hendry geteilt, der in seinem Maxwell-Buch schreibt: »It would also be fair to say that Maxwell’s method of analogy, though not known by that name, is the practical methodology characteristic of modern physics« (Hendry 1986, 268). An einer früheren Stelle seines Aufsatzes betont Boltzmann nochmals den Doppelcharakter der Modellbildung der theoretischen Physik: Ihr Ursprung liegt einer­ seits in den Erfordernissen der physikalischen Praxis, gewinnt damit andererseits auch eine tiefe philosophische Bedeutung: »Ich glaube, daß dies [die Art der physikalischen Modellbildung] mehr dem praktisch physikalischen Bedürfnisse als erkenntnis-theoretischen Spekulationen zu verdanken ist. Trotzdem aber hat diese Methode vielfach ein eminent philosophisches Gepräge, und wir müssen daher […] den Boden der Erkenntnistheorie betreten.« (Ibid., 3) Philosophisch gesehen wird durch diese Methode der symbolische Charakter der Theorienbildung herausgestellt: Die symbolische Form einer Theorie besitzt ein Eigenleben und lässt sich unter Umstän­ den von ihr ablösen und auf eine andere Theorie übertragen, ohne damit die inhaltliche Vorstellung der anderen Theorie aufzuzwin­ gen. Symbolische Form heißt hier aber nicht (oder wenigstens: nicht nur) Darstellung durch ein mathematisches Symbol, sondern strukturelle Form, Relationsgefüge. Wie der Wissenschaftsphilosoph und -historiker Howard Stein schreibt: »[O]ur science comes closest to comprehending ›the real‹, not in its account of ›substances‹ and their kinds, but in its account of the ›Forms‹ which phenomena ›imi­ tate‹ (for ›Forms‹ read ›theoretical structures‹, for ›imitate‹, ›are rep­ resented by‹)« (Stein 1989, 57).11 Was nun die zweite Frage angeht nach dem Stellenwert der Repräsentationstheorie der Messung, so ist auch hier der Schritt 11 Diese Einsicht hatte schon F. A. Lange im Jahre 1875: »So werden wir mit dem Fortschritt der Wissenschaft immer sicherer in der Kenntnis der Beziehungen der Dinge und immer unsicherer über das Subjekt dieser Beziehungen« (Lange 1875, 653).

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zur Struktur entscheidend. Vor Helmholtz hat man sich bei der Analyse der Messung ausschließlich auf den operationalen Aspekt konzentriert und Messen als bestimmte Handhabung eines Maßge­ räts aufgefasst. Durch die Repräsentationstheorie wird klar, dass Messen mehr ist, nämlich auch die Einbettung in ein symbolisches strukturelles System. Wie bei der Methode der Analogie in der Physik wurde durch die Repräsentationstheorie an Flexibilität gewonnen: Obwohl Helmholtz selbst diesen Schritt noch nicht gegangen ist, stellte man später fest, dass es neben der extensiven Messung (bei der sich, wie oben, die physische Verknüpfung additiv verhält) auch noch andere fundamentale Arten der Messung gibt, die man für die Wissenschaften ausbeuten kann. Es besteht hier auch ein Zusammen­ hang mit der Entwicklung der Kognitionswissenschaft in unserer Zeit. Es verdichten sich dort immer mehr die Anzeichen, dass der entscheidende Schritt zur Mathematik der Aufbau der Arithmetik als potentiell unendliches symbolisches System war, in Analogie zum System der Sprache. (Vgl. Heidelberger 2008)

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Die Funktion der Analogie in der phänomenologischen Konstitutionsproblematik

Zeit seines Lebens kam Husserl wiederholt auf den Begriff der Ana­ logie zurück. In vielen Fällen hat der Begriff eine schwache Bedeutung und dient nur dazu, eine Unterscheidung zu unterstreichen oder einen Abstand zwischen verschiedenen Ebenen oder Domänen der Analyse einzuführen. Zum Beispiel in einem der Anhänge zur Phänomenolo­ gischen Psychologie1, genauer der Beilage 4 zu §§ 14 und 15, schreibt Husserl, dass, wenn die passive Motivation eine »analoge, wenn auch nur eine analoge«, mechanische Kraft und Kausalität hat, so bestehe diese Kraft nicht für die egoistische Motivation (Hua IX, S. 442– 443)2. Doch im Rahmen von phänomenologischen Analysen könnte die Analogie eine paradoxe Wirkung haben, da sie Unterscheidungen macht, die sie noch deutlicher klären sollte. Im Folgenden werde ich versuchen, mehr Klarheit in die phänomenologische Beschreibung der subjektiven Prozesse, besonders in der Husserl’schen Phänome­ nologie, zu bringen, indem ich einige Anwendungsmöglichkeiten der Analogie aufdecke, in der sie eine besonders bedeutende Rolle ein­ nimmt. Wenn man Patočkas Lesart von Husserls konstitutiver Phäno­ menologie als Ausgangspunkt nimmt, so wird der erste Teil des Aufsatzes die besondere Funktion hervorheben, die die Analogie in immanenten Konstitutionsprozessen hat, um den dynamisch-trans­ versalen Übergang von der Immanenz zur Transzendenz zu sichern. Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Edited by Walter Biemel. (The Hague, Netherlands, 1968). 2 Auf die Schriften von Edmund Husserl wird im Text durch Verweise auf sein Gesamtwerk, Husserliana, Bezug genommen (siehe http://www.husserl­ page.com/hus_iana.html). 1

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Der zweite Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit der Analogie in übergeordneten Konstitutionsthemen, genauer die Konstitution von Willen und Handeln. Auch hier spielt Analogie eine besondere Rolle.

1. Analogie als dynamisch-transversale Funktion Seit der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen (1900– 1901)3 zielt Husserl darauf ab, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt hin zur Objektivität des Wissens durch einen methodischen Übergang von dem, was er »Erlebnisse« nennt, zu füllen. Dazu bedarf es indes einer systematischen Theorie der subjektiven Prozesse, für die die intentionale Apprehension ein Schlüsselelement ist. Dafür bildet die fungierende oder operative Intentionalität die Basis der Husserl’schen Konstitutionstheorie, die Schritt für Schritt und Schicht für Schicht zeigt, wie die Objektivität allmählich und sinnvoll durch die konstitu­ tive Leistung des Subjekts entsteht. Das intentionale Objekt ist nicht als bereits gegeben anzusehen, und es hat folglich konsequenterweise keine leitende Kraft in der Manifestation des Objekts. Im Gegenteil, die Kraft der Synthese liegt in der Subjektivität4. Die intentionalen Handlungen sind im Wesentlichen synthe­ tisch. Ihre Objektorientierung wird konkret und effektiv in und durch verschiedene Grade der Erfüllung realisiert. Es ist dennoch wichtig zu bemerken, dass sie generell einen pragmatischen Charakter haben und dass sie ihr Ziel, das konstituierte Objekt als Objekt (oder in anderen Worten: die Objektivität des Objekts) erreichen können (oder auch nicht!). Das Bewusstsein erscheint dann als dynamisch-pragmatische Funktion, die innerhalb eines Horizontes des Scheiterns operiert. Husserl betont z. B. in den Vorlesungen zur Phänomenologischen Psychologie (Hua IX), dass die (äußere) Wahrnehmung zu einer pragmatischen, optimalen Erfüllungsstufe 3 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Teil. Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und der 2. Auflage. Halle: 1900, rev. ed. 1913. Hrsg. Elmar Holenstein. The Hague, Netherlands, 1975 (Husserliana 18) und Logische Untersu­ chungen. Zweiter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. Ursula Panzer. Halle, 1901, 1922 (Husserliana 19, The Hague, 1984.). 4 Für einen Überblick über die Auffassung Husserls über die Subjektivität, in der sowohl die Passivität als auch die Intersubjektivität einen bedeutenden Platz einneh­ men, siehe: I. Yamaguchi, Passive Synthese und Intersubjektivität bei Edmund Husserl (The Hague, 1982).

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vordringt, die dem wesentlichen Überschuss der Bedeutung über dem, was in den Erscheinungen des Gegenstandes gegeben ist, gewachsen sein kann. Weil Husserl die Theorie der subjektiven Prozesse in einen transzendentalen Rahmen überführt hat, ohne den die Objektivität nicht erreichbar wäre, können die Momente oder Aspekte, die mit Wirkung und Kontingenz zusammenhängen, weil sie als Hilfskräfte funktionieren, nicht hinreichend enthüllt werden. Wie Jan Patočka zeigt, ist Intentionalität eine einheitliche Ver­ knüpfung, die die Vielfalt der Eindrücke in einen einheitlichen, ziel­ orientierten, sinngebenden Prozess transformiert. In dieser Tätigkeit werden ferne zeitliche Phasen zusammengefügt, Beziehungen der Analogie oder Differenz herbeigeführt, die Einheit gebildet und Sinn­ einheiten in der Sprache ausgedrückt und als identisch identifiziert5. Bedeutungsformen werden mit intuitivem Inhalt erfüllt oder nicht. (Wir müssen uns immer bewusst sein, dass Enttäuschung strukturell für das Reich des Bewusstseins ist.) Die Transzendenz ist relativ zur Immanenz, die letztere als unlöslicher Teil der ersteren. Obwohl es das endgültige Ergebnis eines Prozesses ist, erscheint die Transzendenz nicht als ein Prozess, sondern ist auf einmal gege­ ben. Es ist die Auflösung des Prozesses der Konstitution, aber nicht das Ergebnis jeder Deduktion. Trotz des synthetischen Charakters des subjektiven Prozesses verschwindet die Markierung des entstan­ denen Objekts. In Husserls konstitutiver Phänomenologie werden die intentionalen Objekte analog zu den mathematischen und logischen Objekten interpretiert, für die der Wahrheitswert nicht von ihrer spontanen Schöpfung abhängig ist.6

Jan Patočka, Introduction à la phénoménologie de Husserl. Traduit du tchèque par Erika Abrams (Grenoble: Editions Jerome Millon, 2002), S. 77–96. Für eine Diskus­ sion des Verhältnisses zwischen Patočka und Husserl aus Patočkas Sicht, vergleiche: William S. Wilkerson, »Objectivity from Subjectivity: A Review of Jan Patocka’s Intro­ duction to Husserl’s Phenomenology«, In: Human Studies, Vol. 23, S. 91–97, 2000 (Kluwer Academic Publishers, Netherlands). Wilkerson schlussfolgert: »the difficulty lies in Husserl’s simultaneous and exclu­ sive conceptions of objectivity and subjectivity. Husserl sought an immanent subjectivity which could be wholly immanent, and was therefore unable to recognize that there is always an element of existence which might resist full, transparent reflec­ tion. Rather than seeing meaning as the result of the encounter between world and consciousness and other, Husserl always assumed it could be fully reduced and explained« (S. 96). 6 Ebd, S. 129. 5

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Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, hat die Transzendenz der Selbstgegebenheit ihre verborgene Quelle innerhalb der wirk­ samen (realen) Immanenz7 des Wesens der gelebten Erfahrungen und kann als eine Art Immanenz erklärt werden: Transzendenz in der Immanenz.8 An dieser Stelle können wir sagen, dass die Analogie selbst immanent wurde. In der deskriptiven Phänomenologie transzendiert Husserl jede Form von realer, äußerer, transzendenter Analogie als Analogie im Reich der Immanenz, oder genauer als eine Analogie, die in dem immanenten Feld des Vielfachen erzeugt wird. Als solche geht sie jeder assoziativen Funktion des Bewusstseins voraus, ebenso wie jede Form der Potentialität (in ihrer doppelten Bedeutung: als Möglichkeit und als Handlung).9 Das Bewusstsein ist nicht in dieser unzähligen Reihe von singu­ lären Ereignissen beheimatet. Es belebt sie und durchquert sie, um ihr Objekt zu erreichen. Wir erleben also nicht unsere Wahrnehmungen oder Gefühle, sondern wir erleben das Objekt selbst oder zumindest einige seiner Eigenschaften oder Aspekte. Die Tatsache, dass das Objekt, individuell oder ideal, uns erscheint, ist aus einer solchen dynamischen transversalen Analogie ableitbar. Auf der einen Seite haben wir einen effektiven Prozess der auftauchenden Erlebnisse, während wir auf der anderen Seite ein Objekt als ihr intentionales Gegenstück haben. Die dynamisch-transversale Funktion der Analogie wird in Hus­ serls Theorie der intersubjektiven Konstitution evident. Das Bewusst­ sein des Anderen ist kein Schluss oder eine andere logische Operation, sondern kann nur als eine Folgerung ausgedrückt werden, will es da noch zur Verdeutlichung ein »nur« oder »lediglich« nach dem kann einfügen. Es zeigt sich auf dem Niveau der Ausdrucksfähigkeit und der rationalen Rechtfertigung. In dieser besonderen Art des Bewusstseins erleben wir das Andere als ein lebendes Wesen, nicht 7 Nicht in jedem Erlebnis, aber in deren Essenz (bzw. Typ). Die Typologie der gelebten Erfahrungen ist infolgedessen von größter Bedeutung für die Konstitutionstheorie (der objektiven Einheit). 8 Ebd. Für eine Übersicht über das Thema der Transzendenz in der Immanenz vgl. Dermot Moran, Immanence, Self-Experience, and Transcendence in Edmund Husserl, Edith Stein, and Karl Jaspers, In: American Catholic Philosophical Quarterly, Volume 82, Issue 2, Spring 2008, S. 265–291. 9 Alfred Schutz,William James's Concept of the Stream of Thought Phenomenologically Interpreted. In: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 1, 1941, S. 442–451.

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nur als bloßes Äußeres. Einfühlung ist keineswegs nur eine Analogie, die unsere eigenen Erfahrungen als Ausgangspunkt nimmt. Das andere Ego ist im Gegenteil eine ursprünglich lebendige Gegenwart, ebenso wie meine eigene ursprüngliche lebendige Gegenwart (unter der Bedingung, dass ich mich daran erinnern kann). Das/der Andere ist in Appräsentation gegeben, die eine Form der passiven automatischen selbstverständlichen Assoziation ist. Diese wird in dieser Konsequenz als eine Art körperliche Analogie gesehen. Jedoch ist dies ist eine doppelte Analogie; die Bedeutung des »Du« (die zweite Person) ist analog zu der Bedeutung der ersten und der dritten Person. Wir können von einem »transzendenten Parallelismus«10 von mir und den anderen (als einem anderen Ich) sprechen, welches die Parallelität von Immanenz und Transzendenz widerspiegelt und sie einigermaßen zur Geltung bringt. Durch das Andere verwandelt sich das (subjektive) Ich in der Welt und liefert sich selbst der »Weltmacht« aus, wie Patočka zu Recht sagt.11 Seit ich das transzendentale Ich in mir entdecke, bin ich gezwun­ gen, den Primat des Ich zu erkennen und es jedem Menschen, jedem lebendigen Körper zuzuschreiben. Das Andere ist kein Objekt, das schrittweise erlebt werden kann, es bedarf der Interferenz der transzendentalen Subjektivität. Das transzendentale Ich bringt dem (empirischen) Ich keinen neuen Inhalt. Es formuliert oder interpre­ tiert ihn lediglich nach der inneren Logik der phänomenologischen Konstitution. Das Ego re-interpretiert sich also als eine Macht, die sich auf die Macht der anderen Egos und auf die Macht der Welt bezieht. Die intersubjektive Reduktion schränkt die Sphäre des Ich nicht ein, sondern sie vergrößert sie. Sie verstärkt und verwandelt das Ich in eine Monade, als autonome Quelle der Macht in der Welt. Die Egos sind also miteinander verbunden und offen für gegenseitiges Verständnis und gegenseitiges Handeln. So zeigt das analoge Phänomen eines anderen Wesens das dynamische Feld des Potenzials als Übergang von der Immanenz zur Transzendenz.

2. Analogie und Indirektheit Sobald die dynamisch-transversale Funktion der Analogie in den grundlegenden konstitutiv-phänomenologischen Prozessen geklärt 10 11

Ebd, S. 201. Ebd.

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ist, ist es leichter zu begreifen, wie die Analogie in den oberen Sphären der phänomenologischen Konstitution operiert, beispielsweise im Falle des Willens und der Handlung. Dann zeigt sich die Analogie als ein entscheidendes Werkzeug für die Konstitution von neuen Arten von Objekten und für die Konsolidierung ihrer Eigenheiten. Eines der Husserl’schen Hauptanliegen war die Ausarbeitung einer auf Selbstverantwortung basierenden Ethik. Dafür war es ent­ scheidend, den modernen Willensbegriff neu zu definieren, der als Werkzeug für eine radikale ethische Umgestaltung der Menschheit verstanden wird. Ausgangspunkt der ethisch motivierten Diskussion des Willens­ begriffs ist die Vorstellung von Kant, dass das moralische Gesetz allein den Willen motiviert. Der kategorische Imperativ wird so zum Prinzip der moralischen Bewertung von Handlungen. Max Scheler kritisierte Kant in dem Sinne, dass der moralische Wert einer Handlung von ihren Kosten abhängig sei oder von der Bereitschaft des Handelnden, sich aufzuopfern12. Scheler behauptet, dass Handlungen, die aus Pflicht erfolgen und Handlungen, die aus Neigung erfolgen, koexistie­ ren können und dieses einem solchen Zusammentreffen einen noch höheren Wert verleiht. Für Husserl werden Handlungen durch die Aktivität des Willens gewählt, und diese Handlungen müssen durch die Präsentation von etwas Wertvollem motiviert sein. Nach dieser Auffassung wünscht man sich Dinge, die positiv bewertet werden. Die positive Beurtei­ lung von etwas ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es Gegenstand des Wollens ist. Und unter dieser Bedingung ist diese Bewertung die Grundlage für jede Willenshandlung. Wie Henning Peucker bemerkte: »ist also aus phänomenologischer Sicht die Vorstellung eines rein formalen Willens nicht sinnvoll. Husserl behauptet folglich, dass Kants Begriff eines rein formalen Willens letztmalig widersinnig, d.h. »gegensinnig« sei.«13

Husserl lehnte daher den Gedanken einer radikalen Trennung zwi­ schen den Fähigkeiten der Sensibilität und der Vernunft ab. Es müsste 12 Max Scheler, Formalism in Ethics and Non-Formal Ethics of Values. A new Attempt toward the Foundation of an Ethical Personalism, Evanston: Northwestern University Press, 1973, S. 228. 13 Henning Peucker, Husserl’s Critique of Kant’s Ethics, In: Journal of the History of Philosophy, Volume 45, No. 2 (April 2007), S. 317.

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das Verhältnis von Emotionen und Vernunft im Rahmen von absicht­ lichen Analysen überdacht werden. Fühlen und Wollen müssten also als ursprüngliche Sphären der Intentionalität anerkannt werden.14 Aber nach derselben Argumentation sollten wir auch das spezifische Bewusstsein der praktischen Möglichkeiten anerkennen. Die Schwierigkeiten der Konstitution des Willens stammen aus der allgemeinen Theorie der Konstitution15. Der Akt der Bewertung ist ein wertfühlender Akt und hat somit einen anderen Status als theoretische Handlungen. Wertgefühlshandlungen setzen objektivie­ rende Handlungen voraus, aber Wertgefühl ist keine Repräsentation oder Objektivierung.16 Husserl muss auf eine doppelte Schwierigkeit antworten: auf der einen Seite sind alle Handlungen beabsichtigt, auf der anderen Seite sind einige von ihnen spezifisch und einer anderen Logik unterworfen. Während die gesamte absichtliche Analyse auf der Struktur des prädikativen Urteils, d. h. auf der prädikativen (theoreti­ schen) Logik basiert, scheint es, dass in bestimmten Bereichen, wie der Ethik, eine andere Art von Logik möglich oder sogar erforderlich wäre. Wie Ulrich Melle mit Bezug auf die Unterscheidung (die er niemals in Zweifel ziehen wollte) zwischen objektivierenden und nicht objektivierenden Handlungen hervorgehoben hat, hat Husserl einige der brentanischen Annahmen bzw. seiner theoretischen Werk­ zeuge übernommen. Von seinem Meister erbte Husserl die Methode der Analogie bei der Beschreibung und Klassifizierung der Akte des Bewusstseins. Aus dieser Perspektive gesehen, scheint die Analogie 14 Husserl dachte, seine Theorie treffe auf Skepsis und auf den Vorwurf des Relativis­ mus. Allerdings blieb auch Husserls eigene Argumentation ganz formell, da er sein Material nicht genügend erklärte. 15 Für das Problem der Definition des Willens in einer phänomenologischen Weise gibt es mehrere große Lösungen. Die erste Lösung ist eine vulgär-schopenhauerische, die die Existenz eines Reiches des Willens anerkennt und diesem volle Autonomie zuschreiben würde. Dies wäre aber dahingehend vulgär, weil es zu einem objektivier­ ten Willen führt und es von jeglicher Form des Wissens trennt. Die zweite Lösung wäre mit Husserl, die Architektur der Handlungen beizubehalten und das Wollen in das Netz der theoretischen, mit dem Formalismus verbundenen Handlungen zu integrieren. Bei der dritten Möglichkeit handelt es sich um eine anspruchsvolle, wiederum Schopenhauer’sche Lösung, die weit mehr vorzuziehen ist. Basierend auf dem 4. Buch des Die Welt als Wille und Vorstellung käme es auf die Idee der Selbständerung des Willens an. Dazu gehören einige Husserl’sche Überlegungen zur Modalisierung des Willens. 16 Emmanuel Levinas, The Theory of Intuition in Husserl’s Phenomenology, tr. André Orianne, Evanston: Northwestern University Press, 1995 (Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris: Librarie Philosophique J. Vrin, 1963).

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die Quelle einer Aporie des rationalen Charakters der Gemüts- und Willensakte zu sein17 und auch als theoretisches Instrument erscheint sie als unvermeidlich. Zum Beispiel, wenn man die Wertapperzep­ tion beschreiben muss, gilt diese als analog zu der wahrnehmenden Apperzeption.18 Mit der Beantwortung der Problemstellung, die die Definition höherer Handlungen erhoben hat, hat Husserl den Fundie­ rungszusammenhang zwischen empfindenden/fühlenden und wahr­ nehmendem Akten genetisch umgestaltet.19 Diese Überlappung eines genetischen Ansatzes auf dem vorherigen ist wahrscheinlich verant­ wortlich für die dynamische Funktion der Analogie. Eine Frage, die sich an dieser Stelle anbietet, lautet: Wie können wir es im Kontext der Diskussion über die Rollen der Analogie in Husserls Idee verstehen, dass Werte und Wollen einander verneinen? (Hua XXVIII, S. 205). Beide Arten von Handlungen könnten gültig oder ungültig, richtig oder falsch sein; sie sind alle von einer intrin­ sischen Normativität durchzogen, die sie schließlich und im Grunde rational macht: »Apriorisch eidetisch also ein beliebiges Für-schön-und-gut-Halten von einem solchen, das eben richtiges, das sein ideales Ziel erreicht, das so wertet, wie gewertet werden soll. Und dabei können wir in apriorischer Erwägung allgemeinste ideale Gesetze für dieses Sollen aufstellen und korrelativ ideale Gesetze für mögliche Werte als solche ihrer Form nach in Analogie zu den logischen Gesetzen« (Hua XXVIII, S. 61, meine Hervorhebung IC)

Auf der einen Seite muss Husserl die Spezifizität jeder Art von Logik erkennen. Das umfasst die erkennende Vernunft so wie die wertende und die wollende Vernunft (Hua XXVIII, S. 58)20. Auf der anderen Seite ist er gezwungen, auch eine strukturelle Verflechtung zwischen den Gebieten der Vernunft zu erkennen, obwohl er schlussendlich die 17 Ulrich Melle, Zu Brentanos und Husserls Ethikansatz: Die Analogie zwischen den Vernunftarten, In Brentano-Studien, Vol. 1, 1988, S. 109–120; ders.: Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, in Samuel Ijsseling (hrsg.): Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Phaenomenologica Bd. 115, Dordrecht: MartinusNijhoff, 1990, S. 35–49. 18 Wei Zhang, The Foundation of Phenomenological Ethics, In: Frontiers of Philosophy in China, Vol. 4, No. 1, 2009, S. 138. 19 Ebd., S. 140. 20 Die theoretisch-objektivierende Vernunft bietet analogische Leitfaden für die axio­ logische und praktische Vernunft auf der Basis des Parallelismus zwischen den beiden Domänen (vgl. ebd. S. 207).

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theoretische Vernunft als die alles Umfassende sieht. Die Methode der Analogie führt, wenn sie wörtlich genommen wird, zu einer Grundschwierigkeit (s. Hua XXVIII, S. 64), weil die wertende und die praktische Vernunft letztlich Gefahr laufen, ihre Autonomie zu ver­ lieren, während die Erfahrung, die ihnen entspricht und sie darstellt, nicht mehr als spezifisch erscheint. Obwohl sie den königlichen Weg der klassischen transzendentalen Philosophie darstellt, ist die Ana­ logie im Kontext der Erfordernisse der phänomenologischen Analy­ sen nicht frei von Schwierigkeiten und sollte vermutlich überdacht und vollständig in die konstitutive Phänomenologie integriert wer­ den. Aus diesem Grund muss die Analogie, wenn sie in den phä­ nomenologischen Analysen angewendet wird, mehr als ein Werk­ zeug gesehen werden, das Bedeutungen von einer Domäne zu einer anderen trägt und weniger als eine Form von Parallelismen. Wir könnten also sagen, dass in einem allgemeineren Ansatz im Rahmen der konstitutiven Phänomenologie die Analogie eine Funktion des Übergangs von einer (Grund-)Ebene der Verfassung zu einer anderen durchführt. Wie Paul Ricœur bemerkte, ist Analogie, zumindest im hier besprochenen Kontext, stark mit Allegorie verwandt. Sie liefert »ein vorübergehend stabiles Bild«, welches auseinanderfällt, wenn das Bild nicht durch eine gewisse Macht in Bewegung gesetzt wird. Dafür wählt er den Bergson’schen Begriff von élan.21

3. Abschließende Bemerkungen Die Rolle der Analogie wurde hier in dem spezifischen Umfeld der phänomenologisch-konstitutiven Analysen infrage gestellt. Zudem wurde analysiert, wie sie mit verschiedenen Kontexten mit anderen Ansätzen zusammenwirkt. Es ist anzumerken, dass die Analogie, obwohl ihre Rolle von einem Bereich zu einem anderen wechselt, dabei aber ein wirksames Instrument der phänomenologischen Kon­ stitutionserklärung bei Husserl bleibt und sich wahrscheinlich aus der dynamisch-transversalen Auffassung des Willens ableiten lässt. Während das analoge Phänomen ein anderes Wesen, nämlich das dynamische Feld der Potentialität als Übergang von der Imma­ 21

Paul Ricœur, The Fallible Man. New York: Fordham Univ Press, 1986, S. 7.

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nenz zur Transzendenz, offenbart, hat die Analyse der Methode der Analogie auch eine dynamische Funktion hervorgebracht. Allgemein gesagt bezeugt die Art und Weise, wie Husserl von dem Instrument der Analogie Gebrauch macht, seinen Kampf, die metaphysische Unterscheidung zwischen Repräsentation und Handeln zu überwin­ den22. Die Analogie ist in der Tat ein autonomer Prozess, der auf dem Gebiet der Passivität abläuft. Das Ego kann seine Aufmerksamkeit auf sie lenken, aber es bleibt im Wesentlichen ein nicht-egoistischer Prozess, der entweder eine Form der Übertragung (von der Immanenz zur Transzendenz) oder eine Form der Modalisierung darstellt. Seine Analyse beschreibt konstitutive (Subjekt-)Prozesse als solche und befreit sie von jeder Form von objektiver Erstarrung. Die Analogie zeigt sich in ihrer Indirektheit als einer jener gangbaren Wege, die einerseits die Einführung einer subjektiven Macht in das Reich der konstitutiven Erfahrungen und andererseits die Aufklärung des Rätsels des Selbstbewusstseins, nämlich des Auftauchens neuer Felder von Möglichkeiten, erlauben. Die Offenheit des Subjekts gegenüber anderen und der Welt, die die primäre Quelle ethisch-existenzieller Bedeutung darstellt, scheint in dem dynamischtransversalen Charakter der Analogie (unter der Bedingung, dass sie in phänomenologischen Analysen integriert ist) begründet zu sein. Darüber hinaus macht die Analogie die dynamisch-transversale Funktion, die es uns erlaubt, zu denken, sichtbar und ermöglicht es schließlich, die (subjektiven) konstitutiven Prozesse als solche zu durchleuchten, frei von jeglicher objektiven Form, die ihnen beigefügt werden könnte.

Diese Aufgabe wird mit mehr Erfolg durch das Konzept der Leiblichkeit behandelt, aber dieses liegt für den Augenblick außerhalb meiner Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, dass gesagt wird, dass Patočka die Leiblichkeit auf zwei Arten definiert, einerseits als ein Zentrum der Orientierung und als Ursprung einer Kraft, die durch ihren Fortschritt zur Welt gekennzeichnet ist und ihr erlaubt, den subjektiven Prozess als Bewegung und als ein originales Phänomen zu beschreiben (siehe Dragoş Duicu, Jan Patočka et la dynamisation de la corporéité. In : Studia Universitatis Babes-Bolyai, Philosophia, Aug. 2016, Vol. 61, Issue 2, S. 37–54). 22

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Von der Analogie zur Tautologie Anmerkungen zu einer späten Auseinandersetzung Martin Heideggers mit der Phänomenologie Edmund Husserls

Die eigentliche Maxime der Phänomenologie ist nicht das »Prinzip aller Prinzipien«, sondern die Maxime »Zur Sache selbst!« (Heidegger, GA 14, S. 147)

1. Vorbetrachtung: Entsprechung, Parallelismus und Analogie in der »kategorialen Anschauung« Edmund Husserl nimmt in seiner VI. Logischen Untersuchung eine für die Erkenntnistheorie seit dem platonischen Theaitetos zentrale Frage auf. Es handelt sich um das Verhältnis zwischen Wahrnehmen, Meinen und Wissen und um Weisen von Begründbarkeit sogenannter Elementarteile, derjenigen Partikel nämlich, die der Erfahrung ihre fundamentale Struktur verleihen.1 In Husserls Formulierung geht es darum zu bestimmen, was genau den »Bedeutungsmomenten, welche 1 Vgl. dazu Josef König, Probleme der Erkenntnistheorie, Göttinger Kolleg im WS 1958/1959, redigiert und herausgegeben von Günter Dahms, 2004, S. 53: »Die den­ kerische Situation, in der man sich eben in dem Augenblick befindet, in dem man sich dem Gedanken öffnet, zwischen dem Etwas-Erkennen …und dem Etwas-Meinen… scheine ein innerer Zusammenhang zu bestehen, ist, so wenig Mühe es macht, sich in sie hineinzubringen, ungemein schwer zu durchschauen. Es drängt mich, hier noch einmal auszusprechen, dass wir Muße haben; und der Hinweis darauf ist wahrlich alles andere als eine sentimentale Redensart. Und es drängt mich, noch ein anderes wunderschönes und wunderbar richtiges Wort Platos gleichfalls aus dem Theätet (Stephanus 184c) zu zitieren (…) Er lässt den Sokrates sagen: »Leichte Gewandheit in Worten und Wendungen unter Vermeiden allzu peinlicher Genauigkeit macht meistens nicht den Eindruck des Unedlen, eher hat das Gegenteil etwas Unfreies an sich. Doch gibt es Fälle, wo dies Gegenteil notwendig ist.« Gewiss, Plato hat uns keinen Unterscheidungsgrund hinterlassen, der uns ermöglichte, in jedem vorgelegten Falle

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die Satzform als solche ausmachen und wozu beispielsweise die Kopula gehört – den Momenten der ›kategorialen Form‹ – Erfüllung verschaffen« könnten2. Dabei spricht der husserlsche Begriff der Erfüllung – lies: »Erkennung (im engeren Sinn)«3 – zunächst die für die verschiedenen Grade der Erkenntnis nicht unwesentliche Unter­ scheidung zwischen »bloßer Identifizierung« und den speziellen For­ men der Identifizierung, »welche uns nämlich dem Erkenntnisziel näher bringen« (ebd.) aus. Das sechste Kapitel des zweiten Abschnitts thematisiert das klassische Problemverhältnis von »Sinnlichkeit und Verstand« zunächst unter dem Titel »Sinnliche und kategoriale Anschauungen«4. Dabei geht Husserl von einigen Betrachtungen aus, die im Grunde nichts anderes als Feststellungen »paralleler« oder »analoger« Verhältnisse sind. Untersucht werden die Entsprechungs­ verhältnisse von »Bedeutungen« und »Wahrnehmungen« und ihr Niederschlag in Name und Satz (›gegliederter Ausdruck‹). Anders als Kant, der die Kategorien über die Betrachtung der Verknüpfungen im Urteil deduziert, findet Husserl seine Formworte oder Kategorien in dem grammatischen Gliederungsverfahren: Wie die Aussage, so besitzt der Name schon in der grammatischen Erscheinung seine »Materie« und seine »Form«. Zerfällt er in Worte, so liegt die Form teils in der Weise der Aneinanderreihung, teils in eigenen Formworten, teils in der Bildungsweise des einzelnen Wortes, das dann in sich selbst noch Momente der »Materie« und Momente der »Form« unterscheiden läßt.5

Hierzu sei vermerkt: Auch wenn Husserl an der Unterscheidung von »Form« und »Stoff« oder »Materie« als unaufhebbare festhält6, erfährt diese im kategorialen Gegensatz einen anderen, spezifischen die Frage zu entscheiden, ob er zu denen gehört, bei denen jene peinliche Genauigkeit in Worten und Wendungen notwendig ist oder nicht…«. 2 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana (von nun an Hua) Band XIX/2 Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Hrsg. Ursula Panzer, The Hague, 1984, S. 658. 3 Vgl. Hua XIX/2 §. 16 Bloße Identifizierung und Erfüllung, S. 596–597. 4 Ebd. S. 657. 5 Ebd. S. 658. 6 § 42, S. 664 spricht Husserl über den »kategorialen, und zwar absoluten Unterschied zwischen Form und Stoff des Vorstellens« und gleichzeitig über einen »relativen oder funktionellen Unterschied«. Letzteren nimmt er erneut im § 60 auf, im Zusammen­ hang des Einbaus kategorialer Anschauungen in auf diese zurückzuführenden neuen Akte kategorialer Anschauungen.

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Von der Analogie zur Tautologie

Sinn: »so z.B. wenn wir in den Bedeutungen von der setzenden oder bloß dahinstellenden Qualität die Materie unterscheiden, welche uns sagt, als was, als wie bestimmte und gefaßte, die Gegenständlichkeit in der Bedeutung gemeint ist«.7 Zur weiteren Unterscheidung zwischen der »Aktqualität« und dem neuen Begriff der ›intentionalen Materie‹ (qua sinnhafter Inhalt des Aktes, oder Auffassungssinn) wird termi­ nologisch in den Ideen I8 das intentionale Paar Noesis-Noema eintre­ ten. Die Strukturen der Grammatik in ihrem Vermögen, Satzinhalte zu trennen, zu gliedern und die des bedeutungsverleihenden Aktes haben ihre Eigenständigkeit in Bezug auf einen zu formenden Inhalt; dabei verfahren sie aber in analoger Weise: »mindestens im Rohen drücken die grammatischen Gliederungen und Formen die im Wesen der Bedeutung gründenden Gliederungen und Formen aus«9. Dies darf angesichts des gemeinsamen Ursprungs in dem ›erkenntnis­ mäßigen Wesen‹10 der Intention, die das Vermeinen und Bedeuten trägt und richtet, nicht wundern. Auch die sprachliche Aussage muss, logischerweise, dem »Gedanken« entsprechen, auf den sie sich stützt.11 Dabei scheint beides der einen Seite des intentionalen Bezugs verhaftet zu bleiben, die der formenden Bewusstseinsaktivität eines Subjektes entspricht. Um der ›gegenständlichen Seite der Akte‹ willen fragt Husserl wiederum gleich an dieser Stelle12 weiter, und zwar nach der angemessenen ›Erfüllung‹ der Bedeutungen durch die Wahrneh­ mung, die Einzige, die für ein »Selbst-da« der Gegenstände Gewähr

Ebd. S. 665. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso­ phie, Hua III, S. 216 ff. 9 Hua XIX/2, S. 658. 10 Hua XIX/2, S. 652. 11 Auf das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung, dem Husserl seine erste logische Untersuchung widmet, kann hier nicht näher eingegangen werden. Zu diesen ›idealen Einheiten‹, die sich in der Erkenntnis decken, macht Husserl folgende Beobachtung: »Sicher aber ist, dass jede Aussage, ob sie nun in Erkenntnisfunktion steht (d. h. ob sie ihre Intention in korrespondierenden Anschauungen und in den sie formenden kategorialen Akte erfüllt und überhaupt erfüllen kann) oder nicht, ihre Meinung hat und daß sich in dieser Meinung, als ihr einheitlicher spezifischer Charakter, die Bedeutung konstituiert.« S. Logische Untersuchungen, Hua XIX/I, S. 50. 12 Kurz davor, im dem V. Kapitel (Das Ideal der Adäquation, Evidenz und Wahrheit) hatte Husserl über das »letzte Vollkommenheitsideal« gesprochen als »dem der adäquaten Wahrnehmung, der vollen Selbsterscheinung des Gegenstandes – soweit er irgend in der zu erfüllenden Intention gemeint war.« S. Hua XIX/2, S. 651. 7

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leisten kann. Das Problem stellt sich, zugespitzt formuliert, folgender­ maßen: Entsprechen allen Teilen und Formen der Bedeutung auch Teile und Formen der Wahrnehmung?13 Es stellt sich heraus, dass diese Frage für Husserl eine eher rhetorische ist, denn (auf der Ebene des ›Erlebens‹ von Wahrheit) ist der erfüllte Akt, die Selbstgebung des Gegenstandes im bedeutenden Meinen – und in der Wiederholung dessen – nicht weiter zu hinterfragen, wie die Evidenz einer Wahrnehmung. Anders ausgedrückt: Es besteht eine Analogie zwischen der ›vollständig angemessenen‹ Erfüllung einer Urteilsintention und der Fülle des Gegenstandes selbst, die als »Akt der vollkommensten Erfüllungssynthesis«14 eingeführt wor­ den war. Diesenfalls bestände also zwischen dem bedeutenden Meinen und dem erfüllenden Anschauen jener Parallelismus, den die Rede vom Ausdrücken nahelegt. Der Ausdruck wäre ein bildartiges Gegenstück der Wahrnehmung (sc. nach all ihren Teilen oder Formen, die eben ausgedrückt sein sollen), obschon hergestellt aus einem neuen Stoff – ein ›Aus-druck in dem Stoffe des Bedeutens‹.15

Dass das sprachliche Geschehen einer Abbildung oder Spiegelung des anschaulich Gegebenen gemäß verfahre, scheint in die Tradi­ tion einer metaphorischen Ausdrucksweise zurückzufallen, die das somit angesprochene Problem eher verdunkelt. Husserl spricht hier aber zunächst von einem »Parallelismus« zwischen den Akten des Anschauens und Meinens (nicht zwischen dem Inhalt einer Wahrneh­ mung und der Bedeutung!), einer, der, vorsichtig gesagt, ›formeller‹ Natur ist: Der Umriss, könnte man sagen, das ›bildartige Gegenstück‹ der Wahrnehmung wird in ›Bedeutungsstoff‹ nachgebildet.16 Dieser Stoff aber – um jede psychologistische Missdeutung zu vermeiden – ist selber keine Empfindung. Es ist die Sache selbst, die sich analog der Empfindungen für ein Bewusstsein als bedeutsamer Inhalt darstellen 13 Ebd. S. 658. Das im Originaltext gesperrt Gedruckte wurde hier und in den nächs­ ten Zitaten für eine Erleichterung der Lektüre kursiv wiedergegeben. 14 Ebd. S. 651. 15 Ebd. S. 659. 16 Vgl. dazu Hua XIX/2, Beilage Äußere und innere Wahrnehmung. Physische und psychische Phänomene, S. 751 ff.

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lässt. Was den so entstehenden Hiatus zwischen Bewusstsein und ›Wirklichkeit‹ gewissermaßen überbrücken kann, ist der analoge (oder ›parallele‹) Bau des Aus-drucks, der ›Form‹ des Bildes – und dem ›Stoff‹ des Bedeutens (sprich, dessen, was wir im Ausdruck ver­ meinen und dem ›Sinn‹ des Wahrnehmungsaktes entspricht): Man mag allenfalls sagen, daß die erscheinenden Dinge als solche, die bloßen Sinnendinge, aus analogem Stoff konstituiert sind, als welchen wir als Empfindungen zum Bewußtseinsinhalt rechnen. Aber das ändert nichts daran, daß die erscheinenden Eigenschaften der Dinge nicht selbst Empfindungen sind, sondern nur als den Empfindungen analog erscheinen.17

Um diese Analogie in der Erscheinung zu rechtfertigen, gibt es, so schlussfolgert Husserl am Ende des § 40, einen immer wieder herzu­ stellenden Parallelismus. Dennoch, wie schon angedeutet: »… kein Parallelismus zwischen den Bedeutungsintentionen der Aus­ drücke und ihnen entsprechenden bloßen Wahrnehmungen, sondern zwischen den Bedeutungsintentionen und jenen in Wahrnehmungen fundierten Akten.«18

2. »Köln« und »weißes Papier«. Wahrnehmung, Bildund Selbst-Sein Entscheidend für die Annäherung an das ›Erkenntnisziel‹ ist also das Entsprechungs-Verhältnis von bedeutendem Meinen und erleb­ ter Evidenz qua Selbst-da des Dinges in der Wahrnehmung. Zwei später durchaus berühmt gewordene Beispiele führt Husserl in den Logischen Untersuchungen an, um den Sachverhalt zu verdeutlichen. Im Falle des Bezuges von Eigennamen zu der ›entsprechenden Wahr­ nehmung‹ verhält es sich folgendermaßen: Wer Köln selbst kennt und demgemäß die wahre Eigenbedeutung des Wortes Köln hat, besitzt in dem jeweiligen aktuellen Bedeutungs­ erlebnis ein der künftig bestätigenden Wahrnehmung genau Entspre­ chendes. Es ist nicht eigentliches Gegenbild der Wahrnehmung, wie etwa die entsprechende Phantasie; aber wie in der Wahrnehmung die Stadt (vermeintlich) selbst gegenwärtig ist, so meint, nach dem früher 17 18

Hua XIX/2 Beilage: Äußere und innere Wahrnehmung, S. 764. Hua XIX/2, S. 661.

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Erörterten, der Eigenname – in seiner Eigenbedeutung dieselbe Stadt »direkt«, sie selbst, so wie sie ist.19

Es ist klar, dass mit der Rede von der »wahren Eigenbedeutung« keine absolute Wahrheit im Sinne einer vollkommenen Adäquation einer ›Realität‹ der Proportionen oder der Architektur der Stadt Köln an ein ideales Bewusstsein gemeint ist. Was als Bedeutungserlebnis fixiert wird, ist auch selbstverständlich nicht ein ›Köln an sich‹, son­ dern jeweils Köln »selbst«, als Köln vermeint. Dasjenige, was ›Köln‹ genannt wird (und zwar in dem Sinne, wie es als Köln vernommen, wahrgenommen wurde), meint, auf der Ebene des Erlebens, das Glei­ che, was als Wahrnehmungsgegenstand das erste Bedeutungserlebnis veranlasst hat. Dabei geht es hier nicht um mehr oder weniger adäquate Bilder der Stadt (wie sie von ›den entsprechenden Phanta­ sien‹ transportiert wären), sondern um analoge Verhältnisse inner­ halb des Vernehmens durch ein Bewusstsein, des Repräsentierens und jeweils Bedeutens in der (jetzigen und auch zukünftigen) Wahrneh­ mung eines Gegenstandes, und zwar unter dem allen gemeinsamen Gesichtspunkt der,Selbstgebung‘.

2.1. Zwischenbetrachtung: Vorstellung, Analogische Repräsentation und der ›Überschuss‹ in der Satzgliederung Für den ›vorgestellten Gegenstand‹ gilt bezüglich der Verhältnisse von erfüllten Merkmalen in der analogischen Repräsentation ein Bezug direkter Proportionalität: je mehr dieser Merkmale an der analogischen Repräsentation beteiligt sind – und für jedes einzelne: je größer die Steigerung der Ähnlichkeit ist, mit welcher die Vorstellung dieses Merkmal in ihrem eigenen Inhalt repräsentiert – umso größer ist die Fülle der Vorstellung.20

Es wird noch nicht klar, inwiefern an dieser Stelle die Analogie in der Funktion eines Denk- oder Vorstellungsaktes die jeweils unterschied­ lich ausfallende ›Verbildlichung‹ der Merkmale des Gegenstandes gewährleistet (ebd). Gerade liefere die »Ausscheidung alles Bildli­ chen« den Gehalt an reiner Wahrnehmung, jedoch nicht so, dass der 19 20

Ebd. S. 659. Hua XIX/2, S. 608.

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Inhalt der Wahrnehmung mit dem Gegenstande selbst identisch wäre. Gegenüber diesem ›Trugschluss‹21 erklärt Husserl: Die Wahrnehmung, als Präsentation, faßt den darstellenden Inhalt so, daß mit ihm und in ihm der Gegenstand als selbst gegeben erscheint. Rein ist die Präsentation dann, wenn jeder Teil des Gegenstandes im Inhalte wirklich präsentiert und keiner bloß imaginiert oder symboli­ siert wird (…).

Demgegenüber: Die reine Bildvorstellung, die ihren Gegenstand vermöge ihrer Rein­ heit von allen signitiven Zutaten vollständig verbildlicht, besitzt in ihrem darstellenden Inhalt ein vollständiges Analogon des Gegenstan­ des. Dieses Analogon kann sich dem Gegenstand mehr oder minder annähern, bis zur Grenze der vollen Gleichheit.22

Überraschenderweise führt Husserl aber weiter aus, dasselbe gelte von der reinen Wahrnehmung, mit dem Unterschied, dass, während die Bildvorstellung um ihren Gegenstand als Analogon wisse, die Wahrnehmung ihren Gegenstand als Selbsterscheinung auffasse23. Es ist also ein ›Wissen‹, das über diese ›bis zur Grenze der vollen Gleichheit‹ reichenden Nicht-Identität entscheidet (nämlich, ob der Gegenstand als bloßes Analogon oder als Selbsterscheinung auftritt) und nicht die Fülle selber, die die Inhalte der Imagination und der Wahrnehmung mehr oder weniger adäquat erscheinen lässt. Wir kommen auf dieses Wissen der Wahrnehmung zurück, verweisen aber auf die drei Merkmale, auf die es für Husserl mit Bezug auf die Fülle der adäquaten Wahrnehmung (die ›das Ideal‹ darstellt) ankommt: Es sind »das Maximum des Umfangs, der Lebendigkeit und der Realität, eben als Selbsterfassung des vollen und ganzen Objekts«24, drei Parameter, die sich als Parellelismus zwischen intuiti­ vem und repräsentierendem Inhalt, als ›Gradation der Fülle‹ erfahren lassen. Anders die Selbstgebung im Ausdruck, beziehungsweise im Satz, wo keine Gradationen der Fülle eine Rolle spielen. Das Beispiel ›Köln‹ hatte allein Selbstgebung angekündigt, ganzheitliches, direktes Erfassen und kein Auftreten eines ›Bildes‹. Was geschieht aber ange­

21 22 23 24

Vgl. ebd., S. 613 ff. Hua XIX/2, S. 614. Ebd. Ebd.

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sichts dieser besonderen Art der Selbstgebung im Eigennamen, wenn das Verhältnis der Prädikation auftritt? Das zweite Beispiel Husserls in der VI. Logischen Untersuchung (»Ich sehe weißes Papier«25) formuliert im Kontext der Einführung der Form der Satzgliederung ein neues Problem. Es geht, jenseits der Fülle oder Adäquation, um die bewusste Entscheidung bezüglich eines Verhältnisses, das sich von dem der schlichten Wahrnehmung dahingehend unterscheidet, als hier ein Sein – oder Nichtsein – zusätzlich zum Wahrnehmungssinn, nämlich als Urteil, zu- oder abgesprochen wird. Trotz dessen, dass es zunächst so aussieht, als ob dieser ›geformte Ausdruck‹ ein Satz wäre, in dem ein einzelnes Urteil ausgedrückt wird (»dies Papier ist weiß«), liegt für Husserl jenseits des Farbenmomentes »ein Überschuß in der Bedeutung, eine Form, die in der Erscheinung selbst nichts findet, sich darin zu bestätigen«.26 Sowohl bei dem Adjektiv »weiß« wie auch bei dem Hauptwort »Papier« (dennoch ›verborgener‹, fügt hier Husserl hinzu) erscheint zusätzlich zu der ›schlichten‹ Wahrnehmung eine neue Form, welche die Empfindungsmomente zu einem Begriff ver­ sammelt. »Weißes, d.h. weiß seiendes Papier«.27 Anders ausgedrückt: Damit ein Gegenstand als so oder anders Gegebenes erscheint, muss ein stillschweigender Seinszuspruch vorausgegangen sein, der in der Bestimmung dieses Gegenstandes als so oder so Benennbares mündete. In diesem Fall läuft der Begriff der Wahrnehmung vor: Als eine mit und in der Prädikation Entstandene ist sie dem schlichten Vorgang des Wahrnehmens überlegen: Nur die in seinem »Begriff« vereinten Merkmalbedeutungen terminie­ ren in der Wahrnehmung; auch hier ist der ganze Gegenstand als Papier erkannt, auch hier eine ergänzende Form, die das Sein, obschon nicht als einzige Form, enthält. Die Erfüllungsleistung der schlichten Wahrnehmung kann an solche Formen offenbar nicht hinanreichen.28

Mehr als nur die Anwesenheit des Gegenstandes qua Selbstgebung in der schlichten Wahrnehmung, gibt sich im ›Urteilen‹ (sprich, in der Satzaussage) für Husserl das Sein (oder das Selbst-Sein einer Sache und zwar als solches Vernommenes), das nur und genau da, in der prädikativen Verknüpfung erfassbar wird: 25 26 27 28

Ebd., S. 659 ff. Ebd. S. 660. Ebd. Ebd.

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Gilt uns Sein als prädikatives Sein, so muß uns also irgendein Sach­ verhalt gegeben werden und dies natürlich durch einen ihn gebenden Akt – das Analogon der gemeinen sinnlichen Anschauung. Dasselbe gilt von allen kategorialen Formen bzw. von allen Katego­ rien.29

Sein als unmittelbare Einsicht in den sich gebenden Sachverhalt, die prädikative Verknüpfung als Analogon der sinnlichen Anschauung: Es ist eben dieser Seinsbegriff Husserls, an dem Heidegger anzuknüpfen vermag, aber auch Kritik ausübt.

3. »Für Husserl war da nicht der Schatten einer möglichen Frage …« Ein Kritikpunkt Heideggers (Zähringen, 1973) In dem drei Jahre vor seinem Tod stattfindenden Seminar in Zäh­ ringen (1973), das die Serie der Begegnungen in Le Thor (1966, 1968, 1969) abschließt30, kommt Martin Heidegger erneut auf die Phänomenologie Husserls und insbesondere auf die VI. Logi­ sche Untersuchung zu sprechen. Ausgangspunkt sind zwei Fragen Jean Beaufrets. Da im Verlauf des Seminars verschiedene Zugänge (Heidegger bezieht sich hauptsächlich auf Parmenides, Heraklit, Kant und Hegel) als Kontrastfolie zur eigenen Entfaltung der Problematik um die Seinsfrage gedient hatten, mutet die mit Bezug auf Husserl gestellte Frage Beaufrets vielleicht weniger befremdlich an, als es die zugespitzte Formulierung vermuten ließe: Inwiefern läßt sich sagen, daß es bei Husserl keine Seinsfrage gibt?31

Die Frage scheint den gesamten Programmentwurf Husserls im Blick zu haben, jenseits der noch auf ›realistischem‹ Boden fußenden Logischen Untersuchungen. Angesichts dessen, dass Husserl die trans­ zendentale Phänomenologie von den Ideen bis hin zum Projekt einer Ontologie der Lebenswelt als reine Erfahrungswelt in der

Hua XIX/2, S. 670. Martin Heidegger, GA 15, Seminare, Hrsg. Curd Ochwadt, Franfurt a. M. 1986 zit. nach der Einzelausgabe Vier Seminare, Frankfurt a. M. 1977 (im Folgenden zit. als Vier Seminare). 31 Vier Seminare, S. 110. 29

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Krisisschrift32 als ›wahrhaft universale‹ Ontologie33 verteidigt und dabei auch von formalen, materialen und regionalen Ontologien gesprochen hatte (letztere verknüpft mit der zentralen Problematik der Konstitution)34, kann die These vom Ausbleiben der Seinsfrage nur vor dem Hintergrund des heideggerschen Seinsverständnisses plausibel gemacht werden. Die Metaphysik forscht in der Tat nach dem Sein des Seienden. Das Eigene der Frage Heideggers ist es, wenn es erlaubt ist, so zu sprechen, nach dem Sein des Seins auszublicken; besser: nach der Wahrheit des Seins, wobei Wahrheit vom Bewahren her zu verstehen ist, in dem das Sein als Sein gewahrt wird. In diesem strengen Sinn gibt es bei Husserl keine Frage nach dem Sein.35

Die Radikalisierung der Seinsfrage markiert jenseits der Kehre der dreißiger Jahre einen Wesenswandel des Blicks, den Heidegger als Schritt zu einer »Topologie des Seins« bezeichnet.36 Dazu sei später mehr gesagt. Nichtsdestotrotz sei es Husserl gewesen, der als erster überhaupt die Seinsfrage ermöglicht habe, indem er das Sein »aus seiner Festlegung auf das Urteil befreit« habe.37 Die Überlegung, dass das Sein tatsächlich mehr als nur die Kopula im Satz darstelle (auch wenn es sich gerade an der Stelle zeigt), lässt sich in der Tat bei Husserl zum ersten Mal in seinen Logischen Untersuchungen und in dieser gegen die klassische Logik gewählten Formulierung des »Überschusses« lesen. Wir erinnern: Das Sein ergab sich »obschon nicht als einzige Form« in dem Bestreben, einen Begriff zu bilden, der in der Wahrnehmung ›terminiert‹. Dieser Begriff als Sammelstätte verschiedener Bedeutungsmerkmale ist für Husserl das Resultat eines gebenden Aktes, eines rätselhaften ›Wahrnehmungsurteils‹, an das

32 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä­ nomenologie, Hua VI, S. 176. 33 Husserl, Encyclopedia Britannica Artikel, Hua IX, S. 297. 34 Husserl, Ideen I, Hua III, S. 362 ff. 35 Vier Seminare, S. 111. 36 Vier Seminare, S. 82. Siehe zu der Problematik der Ortschaft Martin Nitsche, Die Ortschaft des Seins- Martin Heideggers phänomenologische Topologie Würzburg 2013, Jeff Malpas, Heideggerr’s Topology: Being, Place, World Cambridge, 2006 und Didier Franck, Heidegger et le probleme de l’espace, Paris, 1986. 37 Ebd. S. 115.

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die schlichte Wahrnehmung nicht heranreiche.38 »Sein« und für ein bedeutendes Vermeinen »Gegenstand-Sein« sind für Husserl untrennbar, weil analog gedacht: und zwar von einem Bewusstsein, dem die kategoriale Evidenz genauso »sinnlich« erscheint, wie umge­ kehrt das Sinnliche qua Evidenz immer die Abhängigkeit von einem sinnstiftenden Bewusstsein behält. Noch einmal Heidegger: Für Husserl ist das Kategoriale (das heißt die Kantischen Formen) ebenso sehr gegeben wie das Sinnliche. Daher gibt es durchaus KATE­ GORIALE ANSCHAUUNG. Hier tritt die anfängliche Frage auf: auf welchem Wege kommt Husserl zur kategorialen Anschauung? Die Antwort ist unmissverständlich: Da die kategoriale Anschauung auf dieselbe Weise ist wie die sinnliche Anschauung (da sie nämlich gebend ist), kommt Husserl auf dem Weg der Analogie zur kategorialen Anschauung. In einer Analogie gibt etwas den Maßstab für die Entsprechung. Was entspricht wem in der Analogie der beiden Arten von Anschauung? Antwort: die sinnlichen Gegebenheiten geben den Maßstab, und das Kategoriale ist das, was den sinnlichen Daten entspricht. Die kategoriale Anschauung wird der sinnlichen Anschauung »analog gemacht«.«39

Das durchaus Revolutionäre des husserlschen Ansatzes, das Sein der Kategorien als Anschauung festzuhalten als selbst erscheinende ›Gegenständlichkeit‹ jenseits des Urteils, ist unbestreitbar. Sein selbst kann kein metaphysisches Konstrukt darstellen, das Denken wird an das Erleben von Wahrheit (Evidenz) angesichts einer Selbstgebung gebunden, einem »leibhaft da«, das gemäß dem Prinzip aller Prinzi­ pien nicht an Vorgaben und Theorien irre gemacht werden darf.40 Und trotzdem haben wir es spätestens seit den Ideen I nicht (mehr) mit einem »Realismus«41 zu tun. Alle Gegenständlichkeit bedarf einer permanenten Ausweisung durch das Bewusstsein. Allein Sinn­ stiftung vermag den ›Abgrund‹ zwischen Bewusstsein und Realität zu schließen, die alte Kluft zwischen den zwei inkommensurablen

38 Die schlichte Wahrnehmung ist für Husserl aber keine ›reine‹. Die ›reine‹ Wahr­ nehmung oder Präsentation gibt es für Husserl, s. o., nur nach der Eliminierung aller Symbolik und Bildlichkeit. 39 Vier Seminare, S. 114. Hervorhebungen im Original. 40 Husserl, Hua III, § 24. 41 Vgl. dazu R. Ingarden, On the motives that led Husserl to Transcendental Idealism, Den Haag, 1975.

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und dennoch in Korrelation stehenden Momenten, von denen nur im ersten die Stätte aller Apodiktizität sein kann.42 So wie Husserl in seinen Meditationen…43 Descartes den Vor­ wurf gemacht hatte, dass er die Schwelle zum Reich des reinen Bewusstseins nicht betreten habe, findet Heidegger das Seinsver­ ständnis seines Lehrers gerade an der Stelle, wo er die kategoriale ›Gegenständlichkeit‹ als primären Ort der Ausweisung von Sein bestimmt, nicht radikal genug angesetzt: Husserls Leistung bestand in eben dieser Vergegenwärtigung des Seins, das in der Kategorie phänomenal anwesend ist. Durch diese Leistung«, fährt Heidegger fort, »hatte ich endlich einen Boden: »Sein« ist kein bloßer Begriff, ist keine reine Abstraktion, die sich auf dem Weg der Ableitung ergeben hat. Der Punkt dennoch, über den Husserl nicht hinauskommt, ist der folgende: nachdem er das Sein gleichsam als Gegebenes gewonnen hat, fragt er ihm doch nicht weiter nach. Die Frage: »Was besagt Sein?« entfaltet er nicht. Für Husserl war da nicht der Schatten einer möglichen Frage, weil es sich für ihn von selbst verstand, dass »Sein« Gegenstand-Sein bedeutet.44

Husserls »Sein«, als ›Überschuss‹ einer gegenständlichen Evidenz erscheint im Urteil des Wahrnehmens, der späteren ›Appräsentation‹ oder analogischen Apperzeption.45 Der Name selbst oder die schlichte Wahrnehmung kann diesen ›Überschuss‹ nicht herbeiführen. Eben­ falls sind Analogie, Entsprechung und Parallelismus zuletzt einem Bewusstsein verpflichtet, das das Sein als ›absolutes und notwendi­ ges‹ setzt. So hatten auch die Beispiele Köln und weißes Papier gezeigt, dass das Vorhandensein, die Selbstgebung des Gegenstandes ein wahr­ nehmendes Bewusstsein voraussetzt. Der Ausdruck wiederum, als bildliches Gegenstück der Wahrnehmung, ›eingestanzt‹ im Bedeu­ Vgl. den berühmten § 43 der Ideen: »Zwischen Bewußtsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes. Hier ein sich abschattendes, nie absolut zu gebendes bloß zufälliges und relatives Sein; dort ein notwendiges und absolutes Sein, prinzipiell nicht durch Abschattung und Erscheinung zu geben.« Hua III, S. 93 (105) Das Bewusstsein »als ein Zusammenhang absoluten Seins« hat die Welt als ihr Korrelat aber so, dass: »die ganze raum-zeitliche Welt … ihrem Sinne nach bloß intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat.« (ebd.). 43 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 2012, § 10 Descartes Verfehlen der transzendentalen Wendung, S. 25 ff. 44 Vier Seminare, S. 116. 45 Vgl. den § 50 der Cartesianischen Meditationen. 42

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tungsstoff, ist, wie die Wahrnehmung, von der Fülle der Evidenz des als so und so Vermeinten getragen. Das ›Sein‹ eines Gegenstandes ergibt sich (folgerichtig, zumindest für den Husserl der Logischen Untersuchungen) in der Prädikation als dem Ort, wo – analog der Evi­ denz des sich präsentierenden Gegenstandes in der Wahrnehmung – für das Bewusstsein eine neue Evidenz: der ›Überschuss‹ entsteht, als Sprung von der reinen Form zur Fülle der Anschauung. Mit Husserl würde einsichtig werden, »daß die Kategorie mehr als Form sei«.46 Nichtsdestotrotz, die Abhängigkeit des Seins vom Vernehmen des Gegenstand-Seins erlaubt immer noch (fatalerweise) eine Rückkopp­ lung an das Bewusstsein. So kann Heidegger behaupten: »So bleibt Husserl der Intentionalität entgegen doch in der Immanenz eingeschlossen, – und die »Méditations cartésiennes« sind eine Folge dieser Grundstellung. Ganz sicher ist Husserls Grundstellung ein Schritt voraus in bezug auf den Neokantianismus, bei dem das Objekt nur mehr eine von Verstandesbegriffen gegliederte Vielheit sinnlicher Daten ist. Mit Hus­ serl bekommt der Gegenstand seine eigene Bestandhaftigkeit zurück; Husserl rettet den Gegenstand, – aber indem er ihn in die Immanenz des Bewußtseins einfügt.«47

Vier Seminare, S. 113. Ebd., S. 120. Zugunsten der husserlschen Position könnte hier eingewendet wer­ den, dass gerade die von Heidegger erwähnten Cartesianischen Meditationen, präziser, die V. Meditation den Versuch darstellen, den Vorwurf des Solipsismus oder der ›Bewusstseinsimmanenz‹ über die ›Fremderfahrung‹ außer Kraft zu setzen. Ob der Andere, in der Form eines ›Analogon‹ des Ego als eigenständige Alterität in der Sphäre einer sich selbst konstituierenden ›Monade‹ zu rechtfertigen ist, wird sich anhand der Befragung dessen entscheiden dürfen, was die genetische Struktur des transzenden­ talen Ego kennzeichnet. Die analogische Apperzeption (§ 50) Assoziation (§ 39), als Prinzip der passiven Genesis, welche auch innerhalb der »Paarung« (§ 51) tätig ist, stellen die konstitutiven Bewegungen dar, die ihrem Verständnis als reine Bewusst­ seinsakte vielfach widersprechen, und zwar im Kontext der ständigen Rücksicht auf die Funktionen des Leibes bzw. der Leiblichkeit der Wahrnehmung. 46

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4. Rene Char, der Mond und der Louvre. ›Lichtung‹ versus Vorstellung und Wahrnehmung »Wenn ich in der Erinnerung an Rene Char in Les Busclats denke, wer oder was ist mir dabei gegeben? Rene Char selbst! Nicht Gott weiß welches »Bild«, durch das ich mittelbar auf ihn bezogen wäre«.48

Betrachten wir nun Heideggers Weg aus dem Bewusstsein heraus, so wie er in seinem Seminar in Zähringen beschrieben wird. In einer noch radikaleren Fassung des husserlschen Gedankens der Intentionalität (die, in die »Sein und Zeit«-Terminologie übersetzt, bereits Sommer 1927 in die Grundfigur des In-der-Welt-seins ein­ gegangen war49) denkt Heidegger hier die Ek-statik des Daseins als Ortsverlegung, vergleichbar einer ›Revolution der Ortschaft des Denkens‹.50 Diese wird beschrieben als Übergang vom Bewusstsein zum Da-sein. Die ›derart einfache‹ Änderung der Einstellung vom Bewusstsein über das Da-sein bis hinein in die ›Inständigkeit in der Lichtung‹51 soll eine unverstellte Begegnung des vom Da-sein her bestimmten Menschen mit dem ›Sein‹ dessen, was etwas ›selber‹ ist, möglich machen. Die Bezeichnung ›Inständigkeit in der Lichtung‹ markiert die letzte Wende des heideggerschen Denkweges von einer phänomenologisch-hermeneutischen Fundamentalontologie (›Sinn von Sein‹) zu einer reinen Ontologie der Sprache, die sich als Wechsel der ›Ortschaft‹ des Denkens beim späten Heidegger auch unter der Bezeichnung Topologie des Seins52 wiederfindet. Von nun an steht der Mensch ek-statisch dem, was etwas selber ist, von Angesicht zu Angesicht und nicht mehr vermittels einer Vorstellung gegenüber (die ihrer Definition gemäß die Vergegenwärtigung eines Schattenbildes von dem darstellt, was ist).53

Vier Seminare, S. 122. Vgl. dazu GA 24. Heidegger geht zunächst auf den Charakter der Intentionalität als Sichverhalten ein (so S. 85: »Diese Beziehung, die wir mit Intentionalität meinen, ist der apriorische Verhältnischarakter dessen, was wir mit Sichverhalten bezeichnen«.) um 229 ff. aufgrund der »radikaleren Interpretation der Intentionalität« das »In-derWelt-sein als Fundament der Intentionalität« aufzuweisen. 50 Vier Seminare, S. 123. 51 Vier Seminare, S. 122. 52 Vier Seminare, S. 82. 53 Vier Seminare, S. 122. 48

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Die Formel ›von Angesicht zu Angesicht‹ setzt gleichzeitiges Anbli­ cken und Angeblickt-werden voraus, aber ohne dass dabei die Spal­ tung zwischen einem wahrnehmenden Subjekt und seinem Objekt mitzuvollziehen wäre. Heidegger denkt dies (hier und an anderen Stellen) als eine besondere Form des Gegenüberstehens, als ein Verhältnis von Nähe und Ferne54, das jeweils ausgetragen werden muss. Ein offener Raum also, einer des wechselseitigen wahrneh­ menden Vernehmens, aber einer, der jenseits der Forderung einer Permanenz des Gegenstandes (wie es die Wahrnehmung voraussetzt) eine Synchronizität im Spiel der ›Blicke‹ verlangt. Eine Räumlichkeit (›Lichtung‹) also, der kein Vorstellungsbild unterschoben werden könnte, denn selbst im Verschwinden des Wahrnehmungs-Gegen­ standes bliebe der Bezug zu diesem trotzdem erhalten. Der ›Träger‹ dieses Bezugs sei, so Heidegger, ein besonders verfasster ›Leib‹: Reiche ich etwa in meinem Leib (als Fleisch) bis an den Louvre? Nein, und eben deshalb ist der Louvre nun schlechthin Gegenstand einer einfachen Vergegenwärtigung (die übrigens stets die jedoch nicht vollzogene Möglichkeit leibhafter Wahrnehmung einschließt). Es ist also durchaus der Leib, der die Wahrnehmung auszeichnet. Dieser Leib ist etwas wie die Reichweite des menschlichen Körpers (gestern Abend war der Mond näher als der Louvre).55

Als ›Reichweite‹, als offenes Vernehmensvermögen des Körpers kann für Heidegger ›dieser Leib‹ als der ek-statische Ursprung und Ort der Wahrnehmung fungieren und markiert eine von dem faktischen Körper und seine Grenze zu unterscheidenden Instanz. Es ist dieser ›Leib‹, dem es zusteht, das Urteil über die ›Leibhaftigkeit‹ einer Sache zu fällen. Dennoch: Anders als für Husserl56, der die Analogie zwischen der kategorialen und der sinnlichen Anschauung festgestellt und 54 Dass es sich immer noch um ein ›Gegenüber‹, also um eine gewisse ›Distanz‹ in der Nähe handelt bezeugt die schöne Formel die Heidegger vor allem bei Goethe und Mörike findet, das ›Gegen-einander-über‹. Vgl. Unterwegs zur Sprache, UzS, S. 211. Die Thematik der Nähe bildet auch den Leitfaden der Bremer Vorträge 1949, GA 79, vgl. Hinweis, S. 3 ff. 55 Vier Seminare, S. 60. 56 Vgl. Husserl zur Leiblichkeit und weiter der Engführung Sinnlichkeit-Kategorialiät Logische Untersuchungen, S. 183: »Es liegt in der Natur der Sache, daß letztlich alles Kategoriale auf sinnlicher Anschauung beruht, ja, daß eine kategoriale Anschauung, also eine Verstandeseinsicht, ein Denken im höchsten Sinne ohne fundierende Sinn­ lichkeit ein Widersinn ist. Die Idee eines »reinen Intellekts«, interpretiert als ein Ver­

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damit eine Art wissende Wahrnehmung von Seinsverhältnissen legi­ timiert hat, stellt für Heidegger die Frage nach dem ›ek-statischen‹ Ursprung des Umgangs mit Gegenständlichkeit den Anlass dar, eine besondere Erfahrung mit und in der Sprache zu beschreiben. Heidegger zeigt, wie die Erfahrung einer Sache ›selbst‹ zu denken wäre, indem er das Unvermittelte der Begegnung eines auf objektiver Distanz (dennoch nicht außerhalb einer ontologischen ›Nähe‹) gehal­ tene Phänomen in der Form einer ›Leibhaftigkeit‹ ohne konkreten Leib festhält. Diese Erfahrung hatte Heidegger im dritten Seminar in Le Thor als ›Nennung‹ beschrieben: In der einfachen Nennung lasse ich das Anwesende sein, was es ist. Zweifellos schließt die Nennung den ein, der nennt, – aber das Eigentümliche der Nennung ist gerade, daß der Nennende in sie nur eingeht, um selbst vor dem Seienden in den Hintergrund zu treten. Dann ist das Seiende reines Phänomen.57

Der – bei Husserl von der Analogie eröffnete – Begegnungs-Raum des (transzendentalen) Subjektes mit seiner Welt wird bei Heidegger zur ›Lichtung‹: Als In-ständiges wird das Dasein nach Außen versetzt und seine Ek-stasis als Bewegung in der Sprache betrachtet. Dabei ist der Ausgang dieser Bewegung (der Nennung) nicht vom Bewusstsein her zu denken, da ein ›Subjekt‹ geradezu angesichts der Sache ver­ schwinden muss. Es ist der Zuspruch der Sache, nicht eine Vorstellung oder ein Bild-Verhältnis, der in ein Sichvorstellen, Sichpräsentieren der Sache mündet und zur Nennung einlädt, ein Phänomen, das Heidegger auch Schicken nennt: Den Bereich des Bewußtseins verlassen und den des Daseins erreichen: um damit recht zu sehen, daß, als Da-sein verstanden (das heißt, von der Ek-statik aus), der Mensch nur ist, indem er von sich bis zu jenem ganz anderen als er selbst kommt, das die Lichtung des Seins ist. Diese Lichtung, (…) dieses Freie hat der Mensch nicht geschaffen, es ist nicht der Mensch. Es ist im Gegenteil Jenes, was ihm zugewiesen ist, da es sich ihm zuspricht: es ist das ihm Zugeschickte.58 mögen reinen Denkens (hier: kategorialer Aktion) und völlig abgelöst von jedem »Vermögen der Sinnlichkeit«, konnte nur konzipiert werden vor der Elementaranalyse der Erkenntnis nach ihrem evident unaufhebbaren Bestande« …. 57 Vier Seminare, S. 66. 58 Vier Seminare, S. 125. Vgl. zum Verhältnis von Denken und Sprache beim späten Heidegger Damir Barbaric, Hörendes Denken, in Figal, Gander (Hrsg.) Dimensionen des Hermeneutischen, Frankfurt a. M, 2005 und Igor Mikecin Sage und Laut. Zur

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Von der Analogie zur Tautologie

So lange diese genannt (d. h. sprachlich vergegenwärtigt) wird, ist die Sache selbst da. Im Sprach-Raum gibt es deshalb keinen Unterschied zwischen Vergegenwärtigung und faktischer Präsenz, Erinnerung und Wahrnehmung: Gerade im An-denken, das sich als An-sprechen voll­ zieht, sind es nicht primär die Bilder, sondern die direkte Bezugnahme über die Sprache, das Benennen, das den Sprechenden ganz ›bei‹ der Sache sein lässt, und nicht seine Vorstellungen. Wo aber ›ist‹ eine Vorstellung? Repraesentatio, d. i. Vorstellung. Zum Beispiel der Louvre in Paris. Für uns ist er im jetzigen Augenblick eine »Vorstellung«. Wo befindet sie sich? Im Kopf? Wie ist es dann zu umgehen, noch wissenschaftlicher zu sagen: im Gehirn? Aber ein Sezieren des Gehirns legt keine »Vorstell­ ungen« frei. – Es wird dann gesagt, dass es sich um ein Bild handelt. Darauf ergibt sich die Frage: wenn wir uns den Louvre vorstellen, ist das, was wir uns vergegenwärtigen, ein Bild? Nein, vielmehr der Louvre. Immer, sogar in der »Vergegenwärtigung«, selbst wenn man bloß an etwas denkt und es so auf sich bezieht, stehe ich im Bezug zu den Dingen selbst, wie ich jetzt in Beziehung mit dem Buch hier bin, das ich ansehe und mit dem ich umgehe.59

Die Vorstellung als Vergegenwärtigung eines sachlichen Zusammen­ hanges meint eine Form der Präsenz der Sache selbst als Vermeinte, die sich nicht von dem als solchem registrierten Resultat einer Wahrnehmung unterscheiden darf. Hier wird dennoch keine Auflö­ sung einer grundlegenden Differenz unternommen. Heidegger weiß durchaus, ›trotz dieser Unmittelbarkeit‹, dass sich der in Erinnerung gerufene Louvre nicht in gleicher Weise betreten lässt, wie das wahrgenommene Buch aufgeschlagen werden kann (ebd.). Trotzdem, wenn die Vorstellung die Sache selbst (und nicht ihr Bild) meint, so ist es nicht minder wahr, dass die Wahrnehmung Momente des Vorstellens zulässt. Selbst da, wo der Gegenstand Resultat der kon­ kreten, sinnlichen Begegnung ist, ist die Form seiner Präsentation ›vorstellungshaft‹, denn das Ding selbst, so Heideggers Deutung der Vorstellung, »stellt sich mir vor«.60 Den Unterschied der vorstellen­ den Wahrnehmung zur vergegenwärtigenden Vorstellung bietet eine Wesensbestimmung der Sprache im Spätwerk Heideggers in Barbaric (Hrsg.) Das Spät­ werk Heideggers Ereignis-Sage-Geviert, Würzburg 2007. 59 Vier Seminare, S. 59. 60 Ebd. S. 59.

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zunächst trivial anmutende ›Eigentümlichkeit‹, die aber unerwartete Schwierigkeiten bei ihrer näheren Betrachtung bereitet: Was ist das Eigentümliche der Wahrnehmung? Ein Teilnehmer sagt, die Aisthesis, und bekommt zur Antwort, daß die Hölle schon bei den Griechen angefangen hat, eben mit der Unterscheidung von aisthesis und noesis. Das Eigentümliche ist der Begriff »Leibhaftigkeit«: in der Wahrnehmung ist das Anwesende »leibhaftig« da.61

Die denkende Vergegenwärtigung meint zwar die Sache selbst, sie kann dennoch nicht ihre leibhafte Präsenz ausweisen. Die Sinnesor­ gane allein oder die Haut als Körpergrenze können ebenso wenig verantwortlich sein für sinnstiftendes Vernehmen. (Eine Sache als sie selbst wahrnehmen, setzt das Verstehen als schon in Sein und Zeit beschriebenes Existential voraus.) Es muss sich also um eine andere Form des Vernehmens handeln, und zwar um eine, die vor der Spaltung von aisthesis und noesis stattfinden könnte. Ähnlich wie Husserl innerhalb der schwierigen Argumentationsgänge seiner V. Cartesianischen Meditation auf die Erfahrung des Eigenleibes zurück­ greift, ist es hier ein bestimmtes Verständnis von Leiblichkeit, das ins Spiel gebracht wird: In einem dem objektivierenden Blick eines wissenschaftlichen Betrachtens vorauslaufenden Moment scheint der als ›Reichweite‹ bestimmte ›Leib‹ auf die ›Dinge‹, die ihm bei seinem ›Hinausreichen‹ begegnen, aufmerksam zu werden. Diese merkfähige Leiblichkeit ist Teil eines Bereiches, einer Art von ›Welt‹ die noch keine ausgelegte sein kann und die das Denken nach und nach erkundet, insofern sein Erfassen von Sinnhaftem es erlaubt. Dem aufmerkenden ›Denken‹ gemäß wäre der Mond tatsächlich dem leiblich Vernehmenden ›näher‹ als der Louvre. Wo genau die Grenzen dieses Vernehmens liegen, erfahren wir aber an dieser Stelle nicht: Die Grenze des Leibs ist schwieriger zu bestimmen. Sie ist nicht die »Welt« aber vielleicht ebensowenig die »Umwelt«. Welt gibt es nur, wo es Sprache gibt, das heißt Seinsverständnis.62

Wir wollen an dieser Stelle noch einmal auf die Eingangsbetrach­ tungen Rücksicht nehmen und zusammenfassen: Für den Phänome­ nologen Husserl war es die Wahrnehmung, in der die leibhafte Präsenz und somit das Selbst-da des Gegenstandes terminierte. Das 61 62

Ebd. Vier Seminare, S. 60.

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an der Wahrnehmung orientierte ›Erleben‹ (von Wahrheit) kann, so Husserls Gedanke, von einem Bewusstsein dem Sinnlichen analog ›gemacht‹ und als Überschuss, als ›Sein‹ in der Prädikation ausgesagt werden. Für den Sprachontologen Heidegger stellt demgegenüber eine bestimmte Art von Umkehrung des Denkens (›Ortsverlegung‹) im Zusammenhang einer umfassend gedachten Sprachlichkeit die Weise dar, wie die Sache selbst für den Angesprochenen in Anwe­ senheit treten könnte. Dies geschieht in Form des Rücktritts des ›Sub­ jektes‹ angesichts der einfachen ›Nennung‹. Der Bereich dieses Geschehens ist die ›Lichtung‹. Heidegger kritisiert das Seinsverständ­ nis Husserls und setzt dem Gegenständlich-Sein des durch die Wahr­ nehmung ausgewiesenen Urteils das ›Sein selbst‹ entgegen. Damit soll an der Stelle der Analogie, die den Zwischenbereich oder den ›Abgrund‹ zwischen Bewusstsein und Realität sinnstiftend zu durch­ wandern vermag, ein anderer Bereich erschlossen werden. Im Gespräch mit dem vorsokratischen Denken entdeckt Heidegger das phänomenologische Potential der Tautologie.

5. Schlussbetrachtung. Der Schritt zurück. Die Tautologie. Was die phänomenologischen Untersuchungen als die tragende Hal­ tung des Denkens neu gefunden haben erweist sich als der Grundzug des griechischen Denkens, wenn nicht gar der Philosophie als solcher. Je entscheidender sich mir diese Einsicht klärte, um so bedrängender wurde die Frage: Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als »die Sache selbst« erfahren werden muß? Ist es das Bewußtsein und seine Gegenständlichkeit oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit und Verbergung?63

Die phänomenologische Haltung ist von ihrem Ansatz her von dem Vertrauen in die Möglichkeit getragen, eine Grunderfahrung der Sache selbst zu machen, und zwar vor jeder Bezugnahme auf Kate­ gorien des Bewusstseins. Wenn sich Heidegger in den Beiträgen64 gegen eine transzendentale Philosophie ausspricht und insgesamt das Vokabular des Idealismus verwirft, dann ist dies nicht nur eine Entscheidung gegen die Phänomenologie Husserls, sondern eine 63 64

Heidegger, GA 14, S. 98–99. Siehe beispielsweise GA 65 Beiträge, »Das Apriori«, S. 222 f.

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grundsätzliche Änderung der Einstellung zur Seinsfrage, sprich, den Erfahrensweisen von ›Sein‹. Das kategoriale Formen ist bereits ein Verlassen des ›Ortes‹, wo die Sache selbst in Erscheinung tritt, ein ›Sich-Hinabbeugen‹ zu den Gegenständen, von der Position eines Bewusstseins herab. Der heideggersche Gegenentwurf zur transzen­ dentalen Wende Husserls besteht in erster Linie darin, den Schritt aus dem Bewusstsein heraus und zurück zu den Sachen selbst zu verteidigen und in einem zweiten Anlauf, eine den Sachen selbst angemessene Sprechweise zu entwickeln, die ihrer kategorialen Ver­ fehlung und Fixierung Widerstand leisten könnte. Bevor es sich also entscheiden sollte, wie die ›Wesenswissenschaft‹ bei der Herausar­ beitung des eidetischen Kerns einer Sache verfahren sollte, müsste, so Heidegger, die Frage nach dem Sein selbst (als der Sache schlecht­ hin) schärfer gestellt werden. Mit den Worten des Manuskriptes Vermächtnis der Seinsfrage: »Ohne vorgängige Klärung der Seinsfrage und der Sache des Denkens lässt sich auch über Phänomenologie nichts ausmachen.«65 Ein wichtiger, man könnte sagen, anti-methodologischer Schritt, mit dem Heidegger noch vor dem Logos der ›Wissenschaft‹ ansetzen möchte, ist der Versuch, das Denken allein der Sache (und der Spra­ che) zu überlassen. Was bleibt, wenn die Anwendung von Kategorien des Bewusstseins und somit sach-fremder Bestimmungen verweigert wird? Diese ›Selbigkeit‹ oder ›Identität‹ bespricht Heidegger in dem dritten Freiburger Vortrag von 1957, Der Satz der Identität66. Als Grundsatz des abendländischen Philosophierens ist die Identitäts­ voraussetzung auch die Grundlage des wissenschaftlichen Denkens, nur dass dieses Denken es gewohnt ist, den Moment der Selbigkeit zu überspringen: Was der Satz der Identität, aus seinem Grundton gehört, aussagt, ist genau das, was das gesamte abendländisch-europäische Denken denkt, nämlich: Die Einheit der Identität bildet einen Grundzug im Sein des Seienden. Demgemäß steht all unser Verhalten zum Seienden jeder Art unter dem Anspruch der Identität. Spräche dieser Anspruch nicht, dann könnte das Seiende niemals in seinem Sein erscheinen. Demzufolge gäbe es auch keine Wissenschaft. … (Die Wissenschaften müssen dem Anspruch der Identität des Gegenstandes von ihrem ersten bis zu

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MH 2011/2012, S. 55. GA 79, S. 115 ff.

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ihrem letzten Schritt entsprechen, gleichviel ob sie diesen Anspruch eigens hören oder nicht.)67

Die Wissenschaft beruht selbst auf »Sätzen«, die ihr als Grundsätze den transzendenten, nicht mehr innerhalb ihres Logos zu begründen­ den Grund bilden.68 Die Auseinandersetzung Heideggers mit der technisch-funktionalen Welt betrifft das Vergessen dieses wesentli­ chen Aspektes. Dieses führe zum verkürzten, ›rechnerischen‹ Verfah­ ren innerhalb einer ›nicht denkenden‹ Wissenschaft, der die Grund­ lagen ihres Handelns nicht mehr zugänglich sind.69 Die Schritte zurück zu den Grundsätzen des Denkens und die Entschiedenheit, mit der das Denken in Kategorien zugunsten des Denkens der Sprache abgewiesen wird, gehen im Spätwerk Heideggers und exemplarisch in den Seminaren von Le Thor mit einer Rückkehr zu den Vorsokratikern einher.70 Und wenn im Vortrag Der Satz der Identität in der Entfaltung des Gedankens der Selbigkeit auf die ursprüngliche parmenideische Tautologie von Denken und Sein verwiesen wurde, so bietet zum Abschluss der Gespräche von Le Thor und Zähringen wieder Parmen­ ides den Leitfaden von der Rückkehr zu den Sachen selbst, bis zu einer Wiederaufnahme des ursprünglichen Logos der Phänomenologie: Wir sind hier zwar in der Lage, uns dem Sein anzunähern, ganz wie Husserl mit dem Begriff der kategorialen Anschauung, – jetzt aber im Echo des Parmenides und nicht in einer Analyse der Sinnlichkeit und des Verstehens, getrieben von der Erkenntnistheorie. Es geht um »dass es ist«.71 GA 79, S. 117–118. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts markiert einen bedeutenden Wen­ depunkt im Selbstverständnis der Wissenschaften. Die erste bedeutende Arbeit Gödels erscheint 1931 und trägt den Titel »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme«. Aber nicht nur die Unvollständig­ keitssätze Kurt Gödels bieten der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Wissenschaft einen neuen Boden, sondern auch die um die Jahrhun­ dertwende erschienenen bahnbrechenden Werke Husserls und Freuds. Heideggers bleibende Auseinandersetzung mit dem Mathematischen und der Naturwissenschaft begleitet bekanntlich in Form der ›Frage nach der Technik‹ das gesamte Spätwerk. 69 Vgl. insbesondere den Zyklus der Bremer und der Freiburger Vorträge GA 79, sowie Vorträge und Aufsätze GA 7. 70 Die Verweise auf Heraklit und Parmenides bilden einen Leitfaden im Spätwerk Heideggers, wobei der Gedanke der Selbigkeit und die Engführung Denken-SeinSprache an Parmenides und die Auslegungen des Logos an Heraklit orientiert sind. Vgl. GA 7 aber auch die Vorlesungen GA 15, GA 54. 71 Vgl. Vier Seminare, S. 134–135. 67

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Die Tatsache, dass die Formel des Parmenides einer »echten Tautolo­ gie« (ebd.) entstammt, öffnet den Bereich des ›Nichterscheinenden‹. Den Weg dahin bereitet für Heidegger das tautologische Denken: Das ist der ursprüngliche Sinn der Phänomenologie. Diese Art Denken hält sich noch diesseits von aller möglichen Unterscheidung von Theorie und Praxis. Um das zu verstehen, müssen wir zwischen Weg und Methode unterscheiden lernen. In der Philosophie gibt es nur Wege; dagegen in den Wissenschaften einzig Methoden, das heißt Ver­ fahrensweisen. So verstanden ist die Phänomenologie ein Weg, der hinführt vor … und sich das zeigen lässt, wovor er geführt wird. Diese Philosophie ist eine Phänomenologie des Unscheinbaren. (…)«72

›Unscheinbar‹ aber nicht selbstverständlich ist für Heidegger das Sein. Dass etwas sei, d. h. erscheine (und nicht vielmehr nicht), bedarf einer phänomenologischen Anstrengung, die durch alle Verstellun­ gen hindurchgehen muss, die in der Begegnung mit der Sache hinein­ getragen werden. Durch diese hindurch muss der Blick auf dasjenige, was sie ›selbst‹ darstellt, gerichtet bleiben. Dieses kann für Heidegger im reinen Nennen gelingen, nicht aber im Wahrnehmungsurteil, das bestenfalls das Sein als Analogon produzieren kann. Für Heidegger heißt dies aber auch, die Tautologie ertragen zu können. Die Weise des Sprechens, die dem Logos der Tautologie vorausgeht und das Unscheinbare nennt oder ›sagt‹ ist die Tautophasis, die »(φάσις–) Sage-als Name«73, die Heidegger auch anspricht als »Weise des Den­ kens, die den Schritt zurück durchwaltet.«74 Dass die Tautophasis der Wesensschau vorausgehe, dass somit ›die Seinssage‹ ursprünglicher sei als das Seinserblicken, ist die Folge der Einkehr in die Phänomeno­ logie des Unscheinbaren, die allem Sichzeigen der Sache vorausgeht. Was Husserl als einen Vorgang des Einübens in eine radikal neue Lebenseinstellung beschreibt, wird an einer Stelle seiner Krisisschrift besonders eindrucksvoll dargestellt: Demnach mußte der phänomenologisch sich Einstellende erst sehen lernen, Übung gewinnen und in der Übung zunächst eine rohe und

Vgl. Vier Seminare, S. 137. Die Passagen zur Tautologie und Tautophasie s. Martin Heidegger, Auszüge zur Phänomenologie aus dem Manuskript »Vermächtnis der Seinsfrage«, unveröffent­ licht, Jahresgabe Martin Heidegger Gesellschaft 2011/2012 (zit. als MH 2011/2012). 74 MH 2011/2012, S. 70. 72

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schwankende, dann immer bestimmtere Begrifflichkeit von seinem und Anderer Eigenwesentlichen erwerben.75

Zur spezifischen Begrifflichkeit des ›Spätdenkens‹ Heideggers gibt vielleicht ein Wort Hans Georg Gadamers den entscheidenden Wink: »Erst Hölderlin hat ihm die Zunge gelöst«76. Doch jenseits des phänomenologischen Sehen-Lernens in der Schule Husserls war für Heidegger das Gespräch mit den Vorsokratikern und mit den Dichtern entscheidend für die Einsicht in die »Notwendigkeit (…), zur wesentlichen Einfachheit der Sprache zurückzukehren«.77 Als tautologisches Sagen, bleibt der heideggersche Denkweg nach wie vor eine Phänomenologie, ein Befragen der Sache selbst, ein Nennen und somit der Versuch, dem ontologischen Anspruch der Dinge zu entsprechen. Es geht Heidegger aber nicht um Gegenstände der Phänomenologie, sondern, wie er es nennt, um die Phänomenolo­ gie in ihrer Möglichkeit.78 Das transzendentale Subjekt der Phänome­ nologie verschwindet als ein Korrelat solcher Gegenständlichkeit im Sprachgeschehen, besser gesagt, es wird entlassen in den Bereich, wo es sich immer schon aufgehalten hatte. Was von ihm erhalten blieb, zeigt sich, vermutlich, von selbst, in Momenten eines sich immer wieder ereignenden Geschehens der Wahrheit: So hat denn Husserl großzügig, aber im Grunde ablehnend, beobach­ tet, wie ich neben meinen Vorlesungen und Übungen in besonderen Arbeitsgemeinschaften wöchentlich die »Logischen Untersuchungen« mit älteren Schülern durcharbeitete. Für mich selbst wurde vor allem die Vorbereitung dieser Arbeit fruchtbar. Dabei erfuhr ich – zuerst mehr durch ein Ahnen geführt, als von begründeter Einsicht geleitet – das eine: Was sich für die Phänomenologie der Bewußtseinsakte als das sich-selbst-Bekunden der Phänomene vollzieht, wird ursprünglicher noch von Aristoteles und im ganzen griechischen Denken und Dasein als Άλήθεια gedacht, als die Unverborgenheit des Anwesenden, dessen Entbergung, sein sich-Zeigen.79

75 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, in der Ausgabe Hrsg. Eli­ sabeth Ströker, Hamburg 2012, S. 268, nach dem Text der Husserliana, Hua VI (Hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1956). 76 Vier Seminare, S. 89. 77 Ebd. 78 Heidegger, GA 14, S. 147. 79 Heidegger, GA 14, S. 98–99.

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Analogie als Ereignis: Heideggers Rezeption und Transformation der Analogie bei Aristoteles und Brentano

Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass die Denkfigur und Proble­ matik der Analogie am Beginn von Heideggers Denkweg steht und ihn durch dessen ›Kehre‹ hindurch auch im späten Ereignis-Denken weiterhin begleitet. Das Leit- bzw. Wegmotiv der Analogie verspricht somit, ein neues Licht auf die bei aller Wandlung konstanten philoso­ phischen Anliegen des heideggerschen Denkens zu werfen. Wenn es einen Fixpunkt auf dem Denkweg Heideggers gibt, so ist dies die Seinsfrage. Wie Heidegger im Brief über den Humanismus klarstellt, bleibt die Seinsfrage auch in der vieldiskutierten »Kehre« seines Denkens bestimmend.1 Wie ich in einem ersten Abschnitt zeigen möchte, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Genese der Seinsfrage und Heideggers Rezeption der Analogie bei Aristoteles und Brentano. Im zweiten Abschnitt werde ich skizzieren, wie Heidegger die Analogieproblematik in Sein und Zeit aufgreift und durch die Temporalitätskonzeption zu lösen versucht. Der dritte Abschnitt widmet sich der Transformation des Analogiemotivs im Rahmen des späten Ereignis-Denkens, jeweils mit Rücksicht auf das Ereignis im ›Ge-Stell‹ und im ›Geviert‹.

1 Bezüglich des Denkens »der Kehre von ›Sein und Zeit‹ zu ›Zeit und Sein‹“ bemerkt Heidegger dort: »Diese Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von ›Sein und Zeit‹, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der ›Sein und Zeit‹ erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunderfahrung des Seinsvergessenheit.« (Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus«, in: ders. Wegmarken (GA 9), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 313–364, hier 328) Zur Behauptung eines konstanten Standpunkts notiert Heidegger in seinem Handexemplar: »d.h. der Seinsfrage« (a. a. O., Fn. c).

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1. Analogie und Seinsfrage: Heidegger rezipiert Brentano Welche Rolle spielt die Analogie für die Seinsfrage, wie sie Heidegger erstmals in Sein und Zeit stellt? Die Rolle der Analogie ist zumindest hinreichend gewichtig, dass sie in der Exposition der Seinsfrage auf­ taucht. Den entscheidenden Hinweis auf die Analogie gibt uns § 1 von Sein und Zeit, in dem die Seinsfrage überhaupt als fragwürdige Frage ausgewiesen werden soll: Die ›Allgemeinheit‹ des Seins ›übersteigt‹ alle gattungsmäßige All­ gemeinheit. ›Sein‹ ist nach der Bezeichnung der mittelalterlichen Ontologie ein ›transcendens‹. Die Einheit dieses transzendental ›All­ gemeinen‹ gegenüber der Mannigfaltigkeit der sachhaltigen obersten Gattungsbegriffe hat schon Aristoteles als die Einheit der Analogie erkannt. Mit dieser Entdeckung hat Aristoteles […] das Problem des Seins auf eine grundsätzlich neue Basis gestellt. Gelichtet hat das Dunkel dieser kategorialen Zusammenhänge freilich auch er nicht.2

Heideggers Hinweis auf Aristoteles bezieht sich auf das Problem der Einheit von ›Sein‹ angesichts der mannigfaltigen Weisen, wie ›Sein‹ bestimmt und verstanden wird; ein Problem, welches Aristoteles mit dem Satz ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹, d. h. das Seiende wird auf vielfache Weise ausgesagt, benennt.3 Bekanntlich löst Aristoteles dieses Problem, indem er die Bedeutungen von ›seiend‹ in einem analogischen Sinn vereint, worauf noch ausführlicher einzugehen sein wird. Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Problematik des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ bei Aristoteles. Nach Aristoteles Definition der Metaphysik bzw. der ersten Philosophie4 setzt die Möglichkeit einer Wissenschaft vom ›Seienden als Seienden‹ voraus, dass sie es mit einem einheitlichen Gegenstand zu tun hat: dem Seienden als solchen. Damit stößt Aristoteles jedoch auf ein Problem: ›seiend‹ wird in vielen Bedeutungen gebraucht – ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹. Demnach hat ›seiend‹ keine univoke Bedeutung, sodass es stets in derselben Weise ausgesagt würde, wie etwa der Gattungsbegriff ›ist Martin Heidegger, Sein und Zeit [= SuZ], Tübingen 192006, S. 3. Met. 1003a33. 4 Sie lautet: »eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet und was diesem an sich zukommt«. (Met. 1003a21, diese und alle folgenden Übersetzungen stammen aus: Aristoteles, Metaphysik, übersetzt und eingeleitet von Thomas A. Szlezák, Berlin 2003). 2

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ein Lebewesen‹ von allen Organismen in der gleichen Weise gilt. Dennoch darf ›seiend‹ nicht äquivok im Sinn einer bloß zufälligen Homonymie5 ausgesagt werden, wie etwa ›Bank‹ sowohl eine Sitzge­ legenheit als auch ein Kreditinstitut bezeichnen kann. Sonst fände die Metaphysik jenseits des Wortgebrauchs gar keinen einheitlichen Gegenstand vor, geschweige denn etwas Allgemeines. Es muss daher eine andere Gestalt von Einheit geben, welche die verschiedenen Bedeutungen von ›seiend‹ so verbindet, dass sie in der Sache einen gemeinsamen Kern haben, d. i. das ›Seiende als Seiendes‹. Was sind die verschiedenen Bedeutungen von ›seiend‹? Bei Aristoteles wird ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ jeweils in einem engeren und einem weiteren Sinne verstanden. Im weiteren Sinn wird ›seiend‹ bzw. die Formen von ›sein‹ in vier verschiedenen Weisen gebraucht:6 1. 2. 3. 4.

im akzidentellen Sinne (z. B. ›der Gerechte ist gebildet‹), nach den Kategorien (›der Mensch ist ein Lebewesen‹), im Sinne des Wahrseins und Falschseins (›a ist F‹ als gleichbe­ deutend mit ‚›a ist F‹ ist wahr‘), im Sinne von Möglichsein und Wirklichsein (›das Liniensegment ist in der Linie‹).

Aristoteles geht jedoch nicht näher auf den Ursprung und die Zusammengehörigkeit dieser unterschiedlichen Bedeutungen von ›seiend‹ ein.7 Der engere Sinn des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ betrifft eine innere Vielfalt der zweiten Bedeutung: ›seiend‹, wie es nach den Kategorien ausgesagt wird. Nach Aristoteles gibt es acht bzw. zehn verschiedene Grundformen, nach denen ›seiend‹ ausgesagt wird. Diese Formen sind sehr heterogen: ist etwa Sokrates in derselben Weise ein Mensch, wie er 1,60 m groß ist? Oder ist er in derselben Weise in Athen, wie er von weißer Farbe ist? Das Problem des engeren Sinns der Mannig­ faltigkeit von ›seiend‹ betrifft also die Einheit der Kategorien. Auch in Zur Unterscheidung des zufällig und der Analogie nach Homonymen, siehe Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg i. Br. 1862, S. 91. 6 Vgl. Met. 1017a8–b9 und 1026a34–b2. 7 Vgl. Met. 1017a8–b9 und 1026a34–b2. Vielmehr nutzt Aristoteles diese vierfältige Unterscheidung, um den Gegenstand der ersten Wissenschaft einzugrenzen: sie behandelt nur das nicht-akzidentelle und extramentale Seiende, also das Seiende nach der 2. und 4. Bedeutung, wobei schließlich letztere auf erstere bezogen werden muss (vgl. Met. 1028a29–32 u. Brentano, a. a. O., S. 219). 5

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diesem Fall ist fraglich, inwiefern die Kategorien als Bedeutungen von ›seiend‹ zusammengehören und was der Ursprung ihrer Verschie­ denheit ist. Es ist dieses Problem, das Heidegger in § 1 von SuZ aus­ drücklich aufgreift. Doch weshalb kann die Einheit des Seins nach den Kategorien keine gattungsmäßige Einheit sein, wie auch Heidegger in § 1 SuZ feststellt? Weshalb kann ›seiend‹ nicht als die höchste Gattung ver­ standen werden, zu der dann artbildende Unterschiede hinzutreten, um etwa die Art ›als Substanz seiend‹ von der Art ›als Qualität seiend‹ usw. abzugrenzen? Der schon bei Aristoteles skizzierte Hauptgrund, weshalb ›seiend‹ keine Gattung ist, lautet: Gattungen können nicht von ihren artbildenden Unterschieden ausgesagt werden; z. B. unter­ scheidet das Merkmal Vernünftigkeit innerhalb der Gattung der Lebe­ wesen die Menschen von den Tieren, es ist aber selbst kein Lebewesen. Dies ist nicht anders möglich, da Arten weitere Bestimmungen ent­ halten, die nicht bereits in ihrer Gattung enthalten sind. Wäre ›seiend‹ demnach ein Gattungsbegriff, so könnte er nicht von den artbildenden Unterschieden seiner Unterarten ausgesagt werden – mit anderen Worten: die Arten bzw. artbildenden Unterschiede könnten gar nicht existieren.8 Aus diesem Grund rekurriert Aristoteles auf die »Einheit der Analogie«9, um den äquivoken Gebrauch von ›seiend‹ von einer nur zufälligen Homonymie zu unterscheiden. Dieses Modell illustriert Aristoteles am Beispiel der Gesundheit, die eine Analogie zum glei­ chen Terminus darstellt: ›gesund‹ wird im eigentlichen Sinne der Leib genannt, doch im abgeleiteten Sinne z. B. auch das Heilmittel und die Gesichtsfarbe.10 Dies erklärt sich daraus, dass letztere in einer bestimmten, nachgeordneten Beziehung zum Leib stehen: das Heilmittel beeinflusst den Leib und macht ihn gesund, während die Gesichtsfarbe den Zustand des Leibes widerspiegelt und so dessen Gesundheit anzeigt. Ebenso sei nun auch die Zusammengehörigkeit der Bedeutungen von ›seiend‹ mit Rekurs auf die Grundbedeutung des ὂν als Substanz zu verstehen; alle anderen Bedeutungen von ›sei­ end‹ nach den Kategorien stünden demnach in einer nachgeordneten 8 Vgl. Met. 998b22–27; Thomas Buchheim, Aristoteles. Freiburg/Basel/Wien 2004, 81; Martin Heidegger, Grundbegriffe der antiken Philosophie (GA 22), hg. v. Franz-Karl Blust, Frankfurt a. M. 1993, S. 151. 9 SuZ, S. 3. 10 Vgl. Met. 1003a35 ff.

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Analogie als Ereignis

Beziehung zu dieser Grundbedeutung.11 Die Grundlage der Einheit der Analogie ist demnach, dass ›seiend‹ »zwar in vielen Bedeutungen verwendet [wird], jedoch mit Beziehung auf Eines und auf eine bestimmte Wesenheit [πρὸς ἓν καὶ μίαν τινὰ φύσιν]«12. In seinem Brief an William J. Richardson (1962) beschreibt Heidegger im Rückblick, auf welchem Wege die doppelte Problematik des Aristoteles den Anstoß zum Stellen der Seinsfrage gegeben hat: Sie denken daran, daß die erste philosophische Schrift, die ich seit 1907 immer wieder durcharbeitete, Franz Brentanos Dissertation war […] Brentano setzte auf das Titelblatt seiner Schrift den Satz des Aristoteles: τὸ ὂν λέγεται πολλαχως. Ich übersetze: ›Das Seiende wird (nämlich hinsichtlich seines Seins) in vielfacher Weise offenkundig.‹ In diesem Satz verbirgt sich die meinen Denkweg bestimmende Frage: Welches ist die alle mannigfachen Bedeutungen durchherrschende einfache, einheitliche Bestimmung von Sein? Diese Frage weckt die folgenden: Was heißt denn Sein? Inwiefern (wes­ halb und wie) entfaltet sich das Sein des Seienden in die von Aristoteles stets nur festgestellten, in ihrer gemeinsamen Herkunft unbestimmt gelassenen vier Weisen? […] Welcher Sinn von Sein spricht in diesen vier Titeln? Wie lassen sie sich in einen verstehbaren Einklang bringen? […] Diesen Einklang können wir erst dann vernehmen, wenn zuvor gefragt und geklärt wird: Woher empfängt das Sein als solches (nicht nur das Seiende des Seienden) seine Bestimmung?13

Heideggers Selbstzeugnis stellt Folgendes klar: (i) die Heideggers Denkweg bestimmende Frage, d. i. die Seinsfrage, ist in der aristo­ telischen Problematik des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ enthalten; (ii) die Seinsfrage fragt nach dem »verstehbaren Einklang«, der die mannigfachen Bedeutungen von ›seiend‹ verbindet. Vor dem von Heidegger angeführten aristotelischen Hintergrund her gelesen, fragt die Seinsfrage somit nach der Einheit der Analogie, insofern diese einen »Einklang« bzw. eine »einfache, einheitliche Bestimmung von Sein« in die mannigfachen Bedeutungen von ›seiend‹ einbringt, ohne diese Mannigfaltigkeit zu nivellieren. Ferner ist aus dem Obigen Vgl. Met. 1028a33ff und 1028a10. Met. 1003a33 f. 13 Martin Heidegger, Brief an William J. Richardson (April 1962), in: William J. Richardson, Heidegger: Through Phenomenology to Thought, Den Haag ³1974, VIII– XXIII, hier XI (wiederabgedruckt in: Martin Heidegger, Identität und Differenz (GA 11), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2006, S. 143–52). 11

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klar: (iii) Heidegger orientiert sich insbesondere an der Bedeutungs­ vielfalt von ›seiend‹ im weiteren Sinne, d. h. an den »vier Titeln« des Aristoteles; (iv) Franz Brentanos Schrift Von der mannigfachen Bedeu­ tung des Seienden nach Aristoteles diente Heidegger als maßgeblicher Wegweiser hinsichtlich von (i)–(iii).14 Beginnend mit Brentano als dem Bezugspunkt, werde ich diese wegweisenden Bemerkungen Heideggers im Folgenden aufgreifen und erläutern.

1.1 Brentanos ›Deduktion‹ der Analogie In Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (1862) greift Brentano das aristotelische Problem des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ auf. Brentano verfolgt zwei Ziele: erstens die von Aristote­ les nur skizzierte Lösung – ›seiend‹ wird der Analogie nach ausgesagt –, zu systematisieren und zweitens einen »gewissen a priorischen Beweis […] für die Vollständigkeit der Kategorieneintheilung«15 zu liefern. Wie nach einer kurzen Darstellung Brentanos gezeigt werden soll, hat Heidegger diese beiden Zielsetzungen im Rahmen seiner Fundamentalontologie übernommen.16 Hinsichtlich des ersten Ziels vertritt Brentano folgende These: Die Kategorien sind verschiedene Deutungen des ὂν, das κατ’ ἀναλογίαν von ihnen ausgesagt wird, und zwar in doppelter Weise, nach der

Hinsichtlich von (i)–(iv) stimme ich mit der Analyse Aaron Shoichets überein (ders., »From Brentano to Heidegger: locating the ›question of the meaning of being‹“, in: Tobias Keiling (Hg.), Heideggers Marburger Zeit: Themen, Argumente, Konstellationen (Heidegger Forum). Frankfurt a. M. 2013, 163–175). Wie ich im Folgenden darlegen werde, halte ich jedoch Shoichets weitergehende Thesen für falsch, dass Heidegger sich ausschließlich für die Bedeutungsvielfalt im weiteren Sinne interessiere (ebd., 172), Brentanos Ansatz die Seinsfrage deshalb verfehle, weil er nur die Bedeutungsvielfalt im engeren Sinn betrachte (ebd., 174), und Heidegger mit Brentanos Ansatz hinsichtlich des engeren Sinns durchaus einverstanden sein könne (ebd., 173). Vielmehr werde ich jeweils für das Gegenteil argumentieren. 15 Brentano, a. a. O., S. 147. 16 Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die Übereinstimmung zwischen Brentano und Heidegger noch weiter reicht. Hier wäre insbesondere Brentanos ontologisches Verständnis der Kategorien zu nennen, nach welchem die Kategorien höchste Gat­ tungsbegriffe sind, die zugleich als »Fachwerk« für niedere Begriffe dienen (vgl. Bren­ tano, a. a. O., S. 85). 14

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Analogie als Ereignis

Analogie der Proportionalität und nach der Analogie zum gleichen Ter­ minus.17

Zunächst ist anzumerken, dass Brentano hier nur von ›seiend‹ nach den Kategorien, d. h. im engeren Sinn spricht, weil für ihn die anderen Bedeutungen von ›seiend‹ im weiteren Sinn entweder nicht Gegen­ stand der Metaphysik sind oder anhand von ›seiend‹ im engeren Sinn expliziert werden müssen.18 Die erste in Brentanos These genannte Analogie, die Analogie der qualitativen Proportion zwischen den Kategorien, betrifft das jeweilige Verhältnis einer Kategorie zu dem, was unter sie fällt. Dieses Verhältnis sei bei allen Kategorien dasselbe: »Denn wie der Mensch zu seinem substantiellen Sein, zur οὐσια, so verhält sich z.B. das Weiße zum ποιόν, als dem ihm entsprechenden ὂν, und die Zahl sieben zum ποσόν u.s.w.«19 Doch die Analogie der Proportionalität ist laut Brentano nicht hinreichend, um die innere Einheit der Aussageweisen von ›seiend‹ zu begründen, denn unterein­ ander teilen die Kategorien gerade nicht eine invariante Relation zu dem in erster Bedeutung ›seiend‹ genannten, der Substanz.20 Für Brentano besteht diese substantiellere Einheit des ὂν deshalb überdies in einer analogia attributionis, d. h. einer Analogie zum gleichen Terminus:21 Es gibt demnach eine Grundbedeutung des ὂν nach den Kategorien, von der alle anderen abhängen, nämlich das ὂν in der Bedeutung der Substanz.22 Diese Anwendung des Paradigmas von ›gesund‹ auf ›seiend‹ wurde oben bereits bei Aristoteles aufgezeigt. Brentano expliziert diesen Ansatz: die Substanz ist die Grundbedeu­ tung von ›seiend‹, weil alle anderen Kategorien von den (ersten) Substanzen prädiziert werden. Es ist z. B. Sokrates als Substanz, dem die Qualität weiß, die Größe 1,60 m oder die Relation begleitet von Alkibiades zukommen.23 In diesem Sinn ist die Kategorie der Substanz ein den anderen Kategorien Vorgeordnetes und deshalb kann sie als ihnen gemeinsames Analogon fungieren. Wie eingangs bemerkt wurde, bleibt Brentano bei dieser Expli­ kation der analogen Verwendung von ›seiend‹ jedoch nicht stehen. 17 18 19 20 21 22 23

Ebd. Siehe Fn. 7 und Shoichet, a. a. O., S. 167 ff. Brentano, a. a. O., S. 93. Vgl. Brentano, a. a. O., S. 95. Vgl. Brentano, a. a. O., S. 95 f. Brentano, a. a. O., S. 97. Vgl. ebd. u. Met. 1028a18.

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Er erinnert an das Ausgangsproblem, dass die Metaphysik fähig sein muss, das ›Seiende als solches‹ zu untersuchen, wenn sie eine Wissen­ schaft mit einem realen Gegenstand und allgemeinen Erkenntnissen sein soll.24 Dass zwischen den Bedeutungen von ›seiend‹ nach den Kategorien eine Analogie besteht, scheint dafür nicht ganz hinrei­ chend, denn diese Erläuterung bleibt uns Folgendes schuldig: was sichert, dass diese und nur diese Kategorien die höchsten Gattungen des Seienden bilden? Bildete das Sein eine Gattung, so bestünde die Aufgabe darin, die spezifischen Differenzen zwischen den Kategorien erschöpfend anzugeben. Wie Brentano anmerkt, hält Aristoteles an dieser Anforderung an die Metaphysik fest, obwohl ›seiend‹ nicht synonym verwendet wird.25 Um als Basis der Metaphysik zu fungieren, erfordert die gefundene Analogie somit eine Deduktion, welche die Vollständigkeit und Irreduzibilität der in ihr enthaltenen Analogate begründet.26 Da von Aristoteles keine solche Deduktion überliefert ist, ver­ sucht sie Brentano auf eigene Faust zu liefern, indem er sich an der Struktur der Analogie zum gleichen Terminus orientiert.27 Er geht von der Substanz bzw. dem substantiellen Wesen als Grund­ bedeutung von ›seiend‹ aus und versucht die Kategorien als die »verschiedenen Möglichkeiten in Bezug auf die Existenzweise des Prädicats im Subjecte«28 zu explizieren. Demnach ist die ontologi­ sche Grundunterscheidung, von der Brentanos Deduktion ausgeht, die zwischen Substanz und Akzidenz,29 welche jedoch nicht für Siehe Brentano, a. a. O., S. 146 f. Brentano, a. a. O., S. 147. 26 Zum Schritt Brentanos über Aristoteles hinaus, vgl. Jean-François Courtine, »Zwi­ schen Wiederholung und Destruktion – die Frage nach der analogia entis«, in: Alfred Denker et al. (Hg.), Heidegger und Aristoteles (Heidegger-Jahrbuch 3), Freiburg/ München 2007, S. 109–129. 27 Vgl. die Rekonstruktionen von Shoichet (a. a. O., 170f) und Volpi (Franco Volpi, »Brentanos Interpretation der aristotelischen Seinslehre und ihr Einfluss auf Heidegger«, in: Alfred Denker et al. (Hg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens (Heidegger-Jahrbuch 1), Freiburg/München 2004, S. 226–242, hier 238f.), die jedoch beide zu bemerken versäumen, dass Brentanos Deduktion sich wesentlich der Unter­ scheidung von Synonymie und Analogie bedienen muss, um ein Kriterium für die ›Erschöpfung‹ einer Klasse der Prädikation zu haben. 28 Brentano, a. a. O., S. 147. 29 »Den ersten Ansatz zu einer Deduction der Kategorien macht Aristoteles mit jener bekannten, tiefgreifenden, ontologischen Scheidung, die selbst Spinoza noch respek­ tierte, da er sagte: Omne quod est, aut in se aut in alio est. Die Eintheilung in οὐσια und συμβεβηκός ist eine Eintheilung, die in diesen zwei Gliedern alles Seiende umfaßt, 24 25

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die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat, sondern für zwei Wei­ sen der Prädikation steht: »essenzielle« und »nichtessenzielle« Prä­ dikation.30 In der ersten wird das Wesen (οὐσια) einer Substanz ange­ geben, sodass zwischen Subjekt und Prädikat eine »essentielle Gemeinschaft« oder »Wesensidentität« stattfinde.31 Aufgrund dieser Wesensidentität werden nach Brentano die weiteren Einteilungen innerhalb des Wesens von Substanzen deshalb in synonymer Weise ausgesagt und bilden somit Arten einer Gattung; damit ist die erste Kategorie des Wesens bzw. der Substanz abgeleitet.32 Die nichtes­ sentielle Prädikationsform hingegen wird selbst nur analog verwen­ det und enthält sowohl absolute Akzidenzien als auch Relationen (relative Akzidenzien). Relationen werden, insofern sie nur eine generische ›Beziehung zu etwas‹ aussagen, synonym verwendet und ergeben somit die zweite Gattung bzw. Kategorie. Die absoluten Akzi­ denzien werden wiederum auf verschiedene Weise ausgesagt und von Brentano entsprechend bis zu ihren univoken Formen zergliedert. Schlussendlich leitet Brentano sechs weitere Kategorien neben der Substanz- und Relationskategorie ab, aufgeteilt in drei Klassen der absoluten Prädikation: 1. die »Inhärenzen« (Qualität, Quantität), wel­ che rein innerliche Prädikate sind, 2. die »Umstände der Substanz« (Ort, Zeit), welche rein äußerliche Prädikate sind, und 3. die Klasse der »Operation oder κίνησις« (Tun und Leiden), deren Prädikate jeweils teils äußerlich, teils innerlich sind.33 Damit hat Brentano dem eigenen Anspruch nach gezeigt, dass sich aus der Substanz als dem primären Sinn von ›seiend‹ die Kategorien als die höchsten Gattungen des Seienden ableiten und in ihrer analogischen Einheit begreifen las­ sen. Offen bleibt freilich noch die analoge Einheit von ›seiend‹ im weiteren Sinne, die Brentano beiseitegelegt hatte.

das zu den Kategorien gehört« (Brentano, a. a. O., 148). In auffälliger Weise bezieht sich Brentano in § 13 seiner Dissertation wiederholt auf die aristotelische Kategori­ enschrift, welche die zehn Kategorien in einer ähnlichen Ordnung entwickelt. Zur Verteidigung dieser Unterscheidung gegen Missverständnisse, siehe Volpi, a.a.O., S. 240. 30 Brentano, a. a. O., S. 150. 31 Brentano, a. a. O., S. 149. 32 Ebd. 33 Brentano, a. a. O., S. 154; vgl. ebd., S. 174 f.

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1.2 Die Aporie der Analogie Brentanos Deduktion bringt uns somit zu Heideggers Frage im Brief an Richardson zurück: »Welches ist die alle mannigfachen Bedeutungen durchherrschende einfache, einheitliche Bestimmung von Sein?«34 Wie Heidegger in Beantwortung dieser Frage Brenta­ nos Programm einer Deduktion aufgegriffen haben könnte, zeigt Heideggers im Umfeld der Abfassung von Sein und Zeit gehaltene Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie (1926). Dort greift Heidegger die Aristoteles-Interpretation Brentanos unter der Hand auf. Heidegger geht von der aristotelischen Problemstellung des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ aus, die er wie folgt formuliert: »Sein hat keine Arten und Differenzen. Wie ist es also artikuliert?«35 Zunächst folgen Heideggers Erläuterungen dem Paradigma der Gesundheit36 und halten sich eng an die aristotelischen Quellen. Schließlich geht Heideggers Erläuterung jedoch zur Frage nach dem »Sitz« der Ana­ logie und deren Begründung der mannigfaltigen Artikulation von Sein fort, welche Frage er mit der Seinsfrage zu identifizieren scheint: Das analoge Bedeuten von Sein = Frage nach Sein überhaupt. Das Problem dieser Analogie ist das Zentralproblem, um zum Sein über­ haupt vorzudringen. Wo hat sie ihren Sitz? Wo ist die Möglichkeit einer Beziehung von Seiendem zu Seiendem und verschiedener sol­ cher Beziehungen?37

In seinen Vorlesungsnotizen skizziert Heidegger die Herangehens­ weise an dieses »Zentralproblem« nur andeutungsweise, jedoch orientiert er sich wie Brentanos Deduktion an der Analogie zum gleichen Terminus, nach welcher die Analogate aus ihrer Nähe zur Grundbedeutung von ›seiend‹ abgeleitet werden: »Seiendes ist seiend in verschiedenem Sinne und die Verschiedenheit ergibt sich aus der verschiedenen Beziehung von Seiendem zu dem, was eigentlich ›ist‹, ›sei­ end‹ genannt wird.«38 In jedem Fall befindet sich Heidegger mit der Frage, woraus sich die festgestellte »Verschiedenheit ergibt«, eindeu­ Brief an Richardson, a. a. O., XI. GA 22, S. 152. 36 »[D]er Ausdruck ›gesund‹ hat seine Bedeutung […] sofern [etwas] Beziehung zur Gesundheit hat. Diese Beziehung aber kann verschieden sein, obzwar sie immer Beziehung zur Gesundheit bleibt […] So bedeutet ›seiend‹ jeweils in Beziehung auf ›Sein‹ […] von ihm her je ausgehend und dahin zurück.« (GA 22, S. 153). 37 GA 22, S. 154 f. 38 GA 22, S. 153, H. v. m. 34

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tig näher bei Brentanos Deduktion als bei Aristoteles selbst. Wie wir bei Brentano sahen, ist die Feststellung der analogen Bedeutung von ›seiend‹ nämlich nicht mit einer solchen Deduktion zu verwechseln. Dementsprechend benennt Heidegger in seiner Vorlesung Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3 (1931) die Analogie des Seins nicht als Lösung der Seinsfrage, sondern vielmehr als deren Aporie innerhalb der antiken Ontologie: Die Analogie des Seins – diese Bestimmung ist keine Lösung der Seins­ frage, ja nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, sondern der Titel für die härteste Aporie […] in der das antike Philoso­ phieren und damit alles Nachfolgende bis heute eingemauert ist.39

Mit dieser Bemerkung sind wir wieder bei der Diagnose von § 1 Sein und Zeit angelangt, nach welcher die Einsicht des Aristoteles in die Einheit der Analogie trotz ihrer wegweisenden Funktion es nicht ver­ mochte, »das Dunkel dieser kategorialen Zusammenhänge«40 zu lich­ ten. Im folgenden Abschnitt soll nachvollzogen werden, inwiefern Heidegger im Projekt von Sein und Zeit die Aporie der Analogie nach dem Vorbild Brentanos zu lösen versucht.

2 Analogie, Seinsverständnis und Temporalität Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Problematik der Ana­ logie des Seins eng mit der Seinsfrage verbunden ist, Heidegger zunächst aber nur als Problemanzeige dient. Die Seinsfrage wurde von Heidegger zuerst in Sein und Zeit gestellt und sollte im Rahmen einer ›Fundamentalontologie‹ beantwortet werden, die von einer Analytik des ›Daseins‹ ausgeht, d. h. jenes Seienden, welches sich in seinem Sein versteht und immer schon ein durchschnittliches Verständnis der Bedeutung von ›Sein‹ mitbringt. Wie die in denselben Kontext gehörende Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927) verdeutlicht, bleibt die Seinsfrage auch in ihrer Durchführung an der Analogieproblematik orientiert, denn die Fundamentalontologie Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3: Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (GA 33), hg. v. Heinrich Huni, Frankfurt a. M. 1981, 46. Diese Vorlesung wird hinsichtlich Heideggers positiver Rezeption der Analogie des Seins ausführlich von Courtine kommentiert (a. a. O., S. 119–27). 40 SuZ, S. 3. 39

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verfolgt »das leitende Problem der Frage nach der Mannigfaltigkeit der Seinsweisen und der Einheit des Seinsbegriffes.«41

2.1 Die ›Deduktion‹ aus dem Seinsverständnis Die Grundprobleme der Phänomenologie zeigen ferner, dass sich Heideggers Ansatz an Brentanos Programm einer Deduktion der analogen Einheit von ›Sein‹ orientiert. Dabei wird das Deduktions­ problem im Rahmen der Daseinsanalytik rezentriert und auf das Seinsverständnis des Daseins übertragen: Dieses Seinsverständnis, das alles Seiende in gewisser Weise umgreift, ist zunächst indifferent; wir nennen gemeinhin alles, was irgendwie als Seiendes begegnet, seiend, ohne hinsichtlich bestimmter Weisen des Seins zu differenzieren. Das Seinsverständnis ist indifferent, aber jederzeit differenzierbar.42

Die Indifferenz und Differenzierbarkeit des Seinsverständnisses ver­ weisen demnach auf die Einheit und Vielfalt im Seinsbegriff selbst. Das Seinsverständnis bildet dabei ein ebenso indifferent Allgemei­ nes wie Sein, das traditionell als der ›leerste‹ und ›allgemeinste‹ Begriff gilt. Die Ausdifferenzierung von Kategorien des Seienden ließe sich demnach aus der Vor-Struktur des Verstehens erklären: das Seinsverständnis des Daseins geht laut Sein und Zeit je von einer »vorgängigen Hinblicknahme auf Sein« aus, sodass »aus dem Hinblick darauf das vorgegebene Seiende in seinem Sein vorläufig artikuliert wird. Diese leitende Hinblicknahme auf das Sein entwächst dem durchschnittlichen Seinsverständnis, in dem wir uns immer schon bewegen«.43 Die Kategorien im aristotelischen Sinn sind solche ›vorläufigen‹, d. h. apriorischen Hinblicknahmen auf das Sein des (nicht daseinsmäßigen) Seienden, welche »dem Seienden gleichsam auf den Kopf zusagen, was es je schon als Seiendes ist […]. Das in solchem Sehen Gesichtete und Sichtbare sind die κατηγορίαι. Sie

Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), hg. v. Fried­ rich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. ²1989, S. 247. 42 Ebd., S. 250. 43 SuZ, S. 8, meine Hervorhebung.

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umfassen die apriorischen Bestimmungen des im λόγος in verschiede­ ner Weise an- und besprechbaren Seienden.«44 Um die analoge Einheit in der Vielfalt des Seins zu begreifen, muss demnach die ontologische Bedingung der Möglichkeit des diffe­ renzierbaren Seinsverständnisses freigelegt werden. Die Daseinsana­ lytik von Sein und Zeit findet diese Bedingung in der Struktur der Zeitlichkeit, welche die Vor-Struktur des Verstehens fundiert: Die Seinsverfassung des Daseins gründet in der Zeitlichkeit. […] Dann aber muß, wenn anders das Seinsverständnis zur Existenz des Daseins gehört, auch dieses in der Zeitlichkeit gründen. […] Die Zeitlichkeit übernimmt die Ermöglichung des Seinsverständnisses und damit die Ermöglichung der thematischen Auslegung des Seins und seiner Artikulation und vielfältigen Weisen, d. h. die Ermöglichung der Ontologie.45

Die Zeitlichkeit ermöglicht demnach die »Artikulation« des Seins in seinen verschiedenen Bedeutungen. Eine Weise der kategorialen Artikulation des Seins ist die von Heidegger angesprochene »thema­ tische[] Auslegung des Seins«, die z. B. Descartes vornimmt, wenn er das Sein als Substanzialität versteht und diese so ausgelegt, dass es drei Kategorien von Substanzen gibt: res cogitantes, res extensae und die göttliche Substanz. Diese Auslegung verweist laut Heidegger zurück auf einen gemeinsamen, analogen Sinn von Sein, der bei Des­ cartes aber nicht ausdrücklich bestimmt und sogar nivelliert wird.46 Um diesen analogen Sinn von Sein und seinen Ursprung zu bestim­ men, rekurriert Heidegger auf das Seinsverständnis des Daseins. Hinsichtlich der cartesischen Auslegung des Seins der Substanzen ist demnach zu fragen: »Innerhalb welchen Seinsverständnisses hat dieser [Descartes] das Sein dieser Seienden bestimmt?«47 Aus dem Obigen wird erstens deutlich: die in Sein und Zeit gestellte Seinsfrage zielt unter anderem darauf, am Leitfaden der Zeitlichkeit eine analoge Einheit in den Bedeutungen von ›Sein‹ SuZ, S. 44 f. GA 24, S. 323. Kursivierungen entfernt. 46 »Die Scholastik faßt den positiven Sinn des Bedeutens von ›Sein‹ als ›analoges‹ Bedeuten im Unterschied zum einsinnigen oder nur gleichnamigen. […] Descartes bleibt hinsichtlich der ontologischen Durcharbeitung des Problems weit hinter der Scholastik zurück, ja er weicht der Frage aus. […] Dieses Ausweichen besagt, Descartes läßt den in der Idee der Substanzialität beschlossenen Sinn von Sein und den Charakter der ›Allgemeinheit‹ dieser Bedeutung unerörtert.« (SuZ, S. 93). 47 SuZ, S. 89. 44

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zu finden.48 Zweitens wurde deutlich, dass der in der Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie angesprochene ›Sitz‹ der Analogie des Seins im Seinsverständnis des Daseins liegen soll. Drittens zeigt sich Heideggers Anschluss an Brentanos Programm einer Deduktion darin, dass die verschiedenen analogen Bedeutungen von ›Sein‹ aus dem ›indifferent-differenzierbaren‹ Seinsverständnis hergeleitet bzw. genetisch erklärbar werden sollen.49 Die diese Her­ leitung orientierende Grundbedeutung bildet die Struktur der Zeit­ lichkeit als Sinn des Daseins, welche an die Stelle der von Brentano verwendeten Substanz-Akzidenz-Unterscheidung tritt. In der Durch­ führung weicht Heidegger somit wenig überraschend von Brentanos Vorgehen ab, aber er folgt dessen Programm insofern, als die Arti­ kulation von ›Sein‹ nach dem Vorbild der Analogie zum gleichen Terminus herzuleiten und als ontologischer Strukturzusammenhang herauszustellen ist.50 Doch wo finden wir Heideggers entsprechende ›Deduktion‹ in Sein und Zeit? Im gegebenen Rahmen kann davon nur eine grobe Skizze versucht werden. Zunächst muss beachtet werden, dass Heidegger zwei oberste ›Kategorien‹ bzw. Seinsweisen unterscheidet: Existenzialien als ›Kategorien‹ des daseinsmäßigen Seienden (Dasein und Mitsein) und Kategorien im engeren Sinne, welche das nichtdaseinsmäßige Seiende charakterisieren (Vorhandenes und Zuhan­ denes).51 Die grundlegenden Existenzialien des Daseins sind (i) Ver­ stehen, (ii) Befindlichkeit und (iii) Verfallenheit. In § 65 von Sein und Zeit erfahren diese Existenzialien eine Herleitung aus der Zeitlichkeit Vgl. die damit übereinstimmende Lesart von Herrmanns: »Die Seinsfrage in ihrer ursprünglicheren Wiederholung sucht […] die einigende Einheit aller möglichen Weisen und Charaktere des Seins im ›Sinn‹ von Sein, und das heißt in der ursprüng­ lichen, eigentlichen Zeit.« (Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hermeneutische Phä­ nomenologie des Daseins: Eine Erläuterung von ›Sein und Zeit‹, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 41). 49 Vgl. Courtine, a. a. O., 119: »Heidegger versucht […] den Entstehungsakt der Kate­ gorien, die Quelle, aus der sie geschöpft wurden in einer originellen Vorgehensweise freizulegen, die Brentanos Versuch einer ›Genealogie‹ oder einer ›Destruktion‹ der Kategorien ablöst.« 50 Deshalb teile ich das Fazit Volpis, Heideggers Ansatz gehe in eine Brentano ent­ gegengesetzte Richtung, nur hinsichtlich der Durchführung, aber nicht hinsichtlich des Programms einer ›Deduktion‹ (siehe Volpi, a. a. O., S. 241). Zu den möglichen Kritikpunkten Heideggers an Brentano, siehe Fn. 71. 51 Vgl. SuZ, S. 45: »Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglich­ keiten von Seinscharakteren.« 48

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des Daseins:52 (i) das Verstehen in seiner entwerfenden Vor-Struktur ergibt sich aus dem Seinsinn der »Existenzialität«, der im »Vor« der Zukunft gründet.53 (ii) Die Befindlichkeit ergibt sich aus der »Fakti­ zität« des Daseins, die im »Schon« der Gewesenheit gründet, welches »den existenzialen zeitlichen Seinssinn des Seienden [meint], das, sofern es ist, je schon Geworfenes ist.«54 (iii) Das »verfallende Seinbei…« Seiendem ist schließlich ein Moment des »Gegenwärtigen[s]«, das zwischen die beiden anderen Zeitekstasen eingeschlossen ist.55 Die Struktur der Zeitlichkeit beinhaltet somit sowohl die dreifältige Artikulation der Existenzialien als auch deren analoge Einheit: »Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Ver­ fallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruk­ tur.«56 Wie steht es nun um die ›Deduktion‹ der Kategorien des nichtdaseinsmäßigen Seienden, also (i) Zuhandenheit und (ii) Vorhanden­ heit? Sie geht nach demselben Schema vor, indem sie die zeitliche Struktur des Seinsverständnisses weiter expliziert. Dabei schlägt das Moment des Gegenwärtigens eine Brücke zur ersten ›Deduktion‹, da in ihm »das Verfallen an das besorgte Zuhandene und Vorhandene primär gründet,“57 indem es jede Form des ›Seins bei…‹ Seiendem fundiert. Die Kategorie der (i) Zuhandenheit bzw. des Zeugs ergibt sich dabei aus dem spezifischen Modus des Gegenwärtigens von etwas, der die Verhaltung des ›umsichtigen Besorgens‹ ausmacht. Das »Wobei« dieses umsichtigen Besorgens hat den »Charakter des ›Wozu‹“58, durch den so etwas wie Zuhandenes erschlossen ist, denn »im Hinblick darauf ist das Zeug verwendbar bzw. in Verwendung.«59 Die Kategorie der Zuhandenheit ist somit aus einem spezifischen zeitlichen Modus des Seinsverständnisses herleitbar: »Das Verstehen des Wozu, das heißt des Wobei der Bewandtnis hat somit die zeitliche Struktur des Gewärtigens.«60 Das Gleiche gilt für die Kategorie der Ausgehend von § 65 wird diese zeitliche Herleitung in §§ 68–71 detaillierter und mit Rücksicht auf das ganze Spektrum der Existenzialien durchgeführt. 53 SuZ, S. 327. 54 SuZ, S. 328. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 SuZ, S. 353. 59 Ebd. 60 Ebd. 52

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(ii) Vorhandenheit, die nur eine weitere Modifikation des umsichtigen Besorgens darstellt, das sich zum »theoretischen Entdecken des inner­ weltlich Vorhandenen«61 abwandelt bzw. darin umschlägt. Dieser ›Umschlag‹ im Seinsverständnis hat den zeitlichen Sinn einer »aus­ gezeichneten Gegenwärtigung«62, die sich dazu entschlossen hat, »ein­ zig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig«63 zu sein.

2.2 Die ›Deduktion‹ aus der Temporalität des Seins Im vorigen Abschnitt wurde skizziert, wie Heidegger die Zeitlichkeit zum Leitfaden einer ›Deduktion‹ der unterschiedlichen kategorialen Bedeutungen von ›Sein‹ als Da-Sein, Zuhanden-Sein, usw. nimmt. Die Zeitlichkeit fungiert dabei als Analogie zum gleichen Terminus, indem die ›Existenzialien‹ bzw. ›Kategorien‹ ihre jeweilige zeitliche Sinnbestimmtheit primär einer der Zeitekstasen entlehnen. Gleich­ wohl bleibt etwas Wesentliches noch unausgemacht: Weshalb besteht überhaupt ein Zusammenhang zwischen Sein und Zeit? Mit den Schlussworten von Sein und Zeit gesprochen: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins?«64 Nur unter Voraussetzung eines solchen Zusammenhangs vermag die Struktur der Zeitlichkeit die analogischen Beziehungen zwischen jenen Seinsweisen zu ver­ mitteln. Der einfache Sinn von Sein überhaupt muss noch in einen Zusammenhang mit den zeitlich bestimmten Artikulationen dieses Sinns gebracht werden. Mit dieser Frage nach dem ursprünglichen Zusammenhang von Sein und Zeit haben wir die Blickrichtung umgekehrt von der Zeit­ lichkeit des Daseins und seines Seinsverständnisses zur »ursprüngli­ che[n] Sinnbestimmtheit des Seins und seiner Charaktere und Modi aus der Zeit«65, welche Heidegger die »temporale Bestimmtheit«66 des Seins nennt. Die Temporalität des Seins sollte im dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit ausgeführt werden (mit dem Titel

61 62 63 64 65 66

SuZ, S. 356. SuZ, S. 363. Ebd. SuZ, S. 437. SuZ, S. 19. Ebd.

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»Zeit und Sein«), der jedoch nie vollendet wurde.67 Bei aller Dunkel­ heit der Thematik lässt sich der Unterschied von Temporalität und Zeitlichkeit anhand der ontologischen Differenz von Sein und Seien­ dem kurz umreißen. Nach Heidegger ist die »Abhebung des Seins vom Seienden […] Aufgabe der Ontologie«68, so wie z. B. die Abhe­ bung der Zuhandenheit es erlaubt, eine kategoriale Bestimmung des ›Zeugs‹ zu geben. Solche kategorialen Bestimmungen betreffen die Seinsweise von Seiendem und haben, wie wir sahen, eine zugrunde liegende zeitliche Sinnbestimmtheit. Die Fundamentalontologie hin­ gegen geht im hermeneutischen Zirkel der Abhebung des Seins vom Seienden einen Schritt weiter und fragt nach der ›ursprünglichen Sinnbestimmtheit des Seins als solchem‹, die nicht von Seiendem einer bestimmten Kategorie abgelesen wurde, d. h. sie fragt nach der temporalen Bestimmtheit von Sein. Mit dieser Unterscheidung kehren wir abermals zum Brief an Richardson zurück, dem zufolge wir den ›Einklang‹ in den Bedeutungen von ›Sein‹ »erst dann vernehmen, wenn zuvor gefragt und geklärt wird: Woher empfängt das Sein als solches (nicht nur das Seiende des Seienden) seine Bestimmung?«69 Der Brief an Richardson erhellt ferner, wie sich Zeitlichkeit und Temporalität im Kontext des Analogieproblems zueinander verhalten. Heideggers Frage nach dem ›Woher‹ der Bestimmung des ›Seins als solchem‹ geht dort von dem aristotelischen ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ im weiteren Sinn aus: »Inwiefern (weshalb und wie) entfaltet sich das Sein des Seienden in die von Aristoteles stets nur festgestellten, in ihrer gemeinsamen Herkunft unbestimmt gelassenen vier Weisen? […] Welcher Sinn von Sein spricht in diesen vier Titeln? Wie lassen sie sich in einen verstehbaren Einklang bringen?«70 Es liegt daher nahe, die Exposition der Temporalität des Seins mit der ›Deduktion‹ Vgl. SuZ, S. 39. SuZ, S. 27. 69 Brief an Richardson, a. a. O., XI, H. v. m. Ferner macht Heidegger im Verlauf des Briefs sehr deutlich, dass die Analyse der Zeitlichkeit nicht hinreichend ist, um das Analogieproblem im Kern zu lösen, und dass ein tiefergehender Rekurs auf die Bestimmungen der Unverborgenheit und Anwesenheit erforderlich ist: »Dabei zeigte sich alsbald, daß der überlieferte Zeitbegriff nach keiner Hinsicht zureicht, auch nur die Frage nach dem Zeitcharakter der Anwesenheit sachgerecht zu stellen […]. Die Zeit wurde in derselben Weise fragwürdig wie das Sein. Die in ›Sein und Zeit‹ gekenn­ zeichnete ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit ist keineswegs schon das der Seinsfrage entsprechende gesuchte Eigenste der Zeit.« (a.a. O., XIII) Zu diesem Desiderat im Kontext von Sein und Zeit vgl. von Herrmann, a. a. O., S. 44. 70 Brief an Richardson, a. a. O., XI. 67

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der weiteren Vielfalt in der Bedeutung von ›Sein‹ gleichzusetzen. Die im vorigen Abschnitt offen gebliebene Frage, was Zeitlichkeit und Sein überhaupt miteinander verbindet, wäre damit beantwortet und die ›Deduktion‹ der Bedeutungsvielfalt von Sein im engeren Sinn der Kategorien gerechtfertigt. Dieser Zuordnung entspricht auch, dass die kategoriale Bedeutung von ›Sein‹ als ›seiend gemäß den Kategorien‹ einer der vier ›Titel‹ des Aristoteles ist. Heidegger hätte somit den bei Brentano beiseitegelassenen Zusammenhang hergestellt zwischen der Analogie des ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ im engeren und im weite­ ren Sinn.71 Der Charakter der ›Anwesenheit‹ gehört zu den wenigen Erläu­ terungen der Temporalität, die sich in Sein und Zeit finden lassen.72 In der Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1930)73 finden sich in der Tat Hinweise, dass Heidegger versucht hat, die vier aristotelischen Titel des Seins aus der temporalen Bestimmt­ heit Anwesenheit herzuleiten und damit Brentanos Programm einer ›Deduktion‹ weiter zu folgen.74 Was ist an ›Anwesenheit‹ temporal? Daraus ergibt sich ferner, weshalb Shoichets Vermutungen nicht zutreffen können, dass sich Heidegger ausschließlich für die Bedeutungsvielfalt im weiteren Sinne inter­ essiere und mit Brentanos ›Deduktion‹ des engeren Sinns durchaus einverstanden sein könne (siehe Fn. 14). Denn wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, unternimmt Heidegger in der Tat eine eigene Art der ›Deduktion‹ des engeren, kategorialen Sinns von ›seiend‹ bzw. ›Sein‹. Doch diese Deduktion geht erstens von der Zeitlichkeit des Daseins aus und ist zweitens, wie wir oben sahen, in der Temporalität des Seins bzw. in der weiteren Bedeutungsvielfalt von ›Sein‹ zu fundieren. Brentanos Deduktion leistet beides nicht, sondern setzt bereits einiges über Sein, Substanzialität und die Form der Prädikation und Aussage voraus. Heideggers Ansatz bewegt sich demnach auf einer gänzlich anderen Ebene, insofern er den daseinsanalytischen Zusammen­ hang von Sein und Seinsverständnis einbezieht, die Genese des Substanzbegriffs aus der Vorhandenheit nachvollzieht und schließlich zeigt, dass die Form der Aussage nur einen abgeleiteten Modus der Rede darstellt. Mit anderen Worten dürfte Brentanos Deduktion für Heidegger in jeder Hinsicht als nicht ›ursprünglich‹ genug angesetzt gelten – es ist daher auch nicht überraschend, dass beide nicht dieselben ›Kategorien‹ aufstellen. Vgl. Courtine, a. a. O., S. 112, der ähnliche Kritikpunkte gegenüber Bren­ tano geltend macht. 72 In Heideggers Skizze der Interpretation der antiken Ontologie im Lichte der Tem­ poralitätsproblematik, vgl. SuZ, S. 25. 73 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit (GA 31), hg. v. Hartmut Tietjen, Frankfurt a. M. 1982. 74 Der konkrete Bezug zu Aristoteles wird auf GA 31, 77 ff. hergestellt. Yfantis weist auf die enge Beziehung zwischen Heideggers und Brentanos Aristoteles-Interpreta­ tion in dieser Vorlesung hin (vgl. Dimitrios Yfantis, Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles: Ihre Entstehung und Entfaltung sowie ihre Bedeutung für die 71

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Heideggers Übersetzung von παρουσία bzw. οὐσία soll verdeutlichen, dass Sein im Sinne von Präsenz und Vorhandensein mit dem zeitli­ chen Präsens und seiner unbestimmten Dauer verknüpft ist, wie es auch das homonym verwendbare Wort ›Gegenwart‹ anzeigt. Daraus entwickelt Heidegger zunächst den 2. und 4. Titel, ›Sein‹ als 2. substantiellem Was-Sein und 4. als Wirklichkeit. Der Charakter der Substanzialität liegt demnach in der Ständigkeit und Gegenwärtig­ keit des Anwesens, der das Was-Sein dadurch einschließt, dass die Anwesenheit stets den Anblick eines ›Aussehens‹ mitführt.75 Aus der Ständigkeit des Aussehens ergibt sich ferner der 1. Titel, ›Sein‹ im akzidentellen Sinne, da sich so zeigt, inwiefern das Aussehen in ein veränderliches »Soundso-sein« oder ein wesentliches, ständi­ ges Was-Sein zerfällt.76 Der 3. Titel, ›Sein‹ als Wahrsein, erscheint Heidegger als der zugleich problematischste und fundamentalste.77 Heidegger führt die »Unverborgenheit«78 als ursprünglichen Wahr­ heitsbegriff an, der gleichsam als Verbindungsglied zwischen ständi­ ger Anwesenheit und Wahrsein fungieren soll. Wahrsein ist demnach Entborgenheit des Anwesenden im Kontrast von Anwesenheit und Abwesenheit. Umgekehrt bedeutet ›Sein‹ also wesentlich Entborgen­ heit: »So ergibt sich, je eigentlicher das Seiende ist und dessen Sein, je reiner und beständiger Anwesenheit, umso beständiger gehört die entsprechende Entborgenheit bzw. Verstelltheit zum Seienden als solchem, […] umso mehr gehört zum Sein des betreffenden Seienden die Entborgenheit.«79 Trotz seiner ausführlichen Behandlung der vier aristotelischen Titel führt Heidegger diese Skizze nicht wesentlich weiter aus und betont überdies, dass sie einer Rekonstruktion der aristotelischen

Entwicklung der frühen Philosophie Martin Heideggers (1919–1927), Berlin 2009, 501). Vgl. auch Heideggers frühere Bemühungen um die Einheit in der Vierfalt der aristo­ telischen Titel in GA 22, die Yfantis detailliert nachzeichnet (Yfantis, a. a. O., S. 376– 384). 75 Vgl. GA 31, S. 71: »Die οὐσία, das Vorhandensein des Seienden als eines wirklich Vorhandenen liegt in der παρουσία des εἶδος: in der Anwesenheit seines Aussehens. Wirklichkeit besagt Hergestelltheit, Dastehendheit im Sinne der Anwesenheit des Aussehens.« 76 Vgl. GA 31, S. 75. 77 GA 31, S. 76. 78 GA 31, S. 90. 79 GA 31, S. 99 f.

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Bestimmungen ähnlich ist, aber nicht mit ihr identisch.80 Wir finden darin zumindest einen Beleg für den Versuch, ›Anwesenheit‹ als Grundbedeutung von ›Sein‹ in eine vierfältige Analogie auszufalten.

3. Analogie als Ereignis Das Motiv der Temporalität wandelt sich auf Heideggers Denkweg später zu dem, was Heidegger das »Ereignis« nennt.81 Trotz der in Heideggers Vortrag »Zeit und Sein«82 gegebenen Hinweise ist dieser komplexe Transformationsprozess in vielen Aspekten noch dunkel und kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Mit dem Vorigen haben wir jedoch eine Zurüstung, wie das Motiv der Analogie eine nachhaltige Aufnahme in das heideggersche Denken gefunden hat. Im Folgenden sollen zwei Schlaglichter darauf geworfen werden, wie die Problematik der Analogie des Seins in Heideggers ›Ereignis-Denken‹ aufgegriffen wird. Mit dem Grundwort »Ereignis« wird jene Dimension angespro­ chen, die Heidegger Brief an Richardson erfragt: »Woher empfängt das Sein als solches […] seine Bestimmung?«83 An diese Dimension rührt, wie skizziert wurde, bereits der frühe Temporalitätsbegriff.84 Der Lesart Ketterings folgend, kann das Ereignis als die in Sein und Zeit noch gesuchte Junktim von Sein und Zeit verstanden werden: »Das Ereignis ist dasjenige, was Zeit und Sein in ihr Eigenes bringt und zusammengehören läßt.«85 Wenn wir also das Ereignis hinsicht­ lich des Motivs der Analogie betrachten, so müssen wir beachten, dass das Ereignis in einer dem Bisherigen vorgelagerten Dimension zu verorten ist. Genauer gesagt: Seiendes und Sein werden zwar 80 »Aristoteles kennt vier Weisen, in denen wir das Seiende als solches nennen, vier Weisen, die sich nicht ohne weiteres decken mit der vierfachen Gegliedertheit des Seins, die wir vorführten – was jetzt belanglos ist.« (GA 31, S. 77). 81 GA 9, S. 326, Fn. a. 82 Martin Heidegger, »Zeit und Sein«, in: ders., Zur Sache des Denkens (GA 14), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 3–30. 83 Brief an Richardson, a. a. O., XI. 84 Vgl. die im Kontext der Temporalitätskonzeption stehende Charakterisierung in GA 24, S. 399: »Wir stehen vor der Aufgabe, nicht nur vom Seienden aus zu dessen Sein fort- und zurückzugehen, sondern […] noch über das Sein hinaus nach dem zu fragen, woraufhin es selbst als Sein entworfen ist.« 85 Emil Kettering, NÄHE: Das Denken Martin Heideggers. Pfullingen 1987, S. 318.

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erschlossen bzw. ›ereignet‹, aber das Ereignis selbst betrifft nicht sie selbst, sondern eher die Weise ihrer Erschlossenheit.86 Wie die folgenden Beispiele veranschaulichen sollen, ist es dementsprechend schwer, hier noch das Programm einer ›Deduktion‹ der Analogie wiederzufinden. Was aber bleibt und eher in den Vordergrund zu rücken scheint, ist die ebenfalls im Brief an Richardson genannte Suche nach dem »Einklang«87 der verschiedenen Bedeutungen von ›Sein‹ in einem Grundwort, wie z. B. ›Ereignis‹, aber auch ›Ge-Stell‹ und ›Geviert‹.88 Innerhalb von Heideggers später ›seynsgeschichtlicher‹ Konzep­ tion gibt es verschiedene Weisen des Ereignens, unter denen ›GeStell‹ und ›Geviert‹ gleichsam zwei Extremformen darstellen. Im Ge-Stell geschieht eine Verweigerung des Ereignisses, die jedoch wesentlich zum Ereignis als solchen gehört und seine Dimension nicht verlässt; diese Verweigerung nennt Heidegger daher auch »Enteig­ nis«89. Im folgenden Unterabschnitt möchte ich untersuchen, welche Gestalt die Welt innerhalb des Ge-Stells erhält, und zeigen, dass sich in ihr eine Form der Analogie zum gleichen Terminus ereignet, die der Bedeutungsvielfalt von ›seiend‹ im engeren, kategorialen Sinn entspricht. Im zweiten Unterabschnitt wende ich mich dem ›Geviert‹ zu, das gleichsam Heideggers Gegenentwurf zum ›Ge-Stell‹ darstellt, weil in ihm das Sein selbst zu einem höchsten Grad der Offenbarkeit (statt der Entzogenheit) gelangt. Anhand von Heideggers Geviert-Konzeption möchte ich zeigen, dass auch das Ereignis selbst als ein analogischer Zusammenhang gedacht wird. Diesen Zusammenhang innerhalb des Gevierts, das ›Spiegel-Spiel‹, versuche ich approximativ als eine Vgl. Kettering, a. a. O., S. 319 ff. Brief an Richardson, a. a. O., XI. 88 Insofern möchte ich nicht nur im Blick auf Sein und Zeit, sondern auch hinsichtlich des Spätwerks der Einschätzung Courtines widersprechen, dass Heidegger »sorgsam darauf bedacht ist, deutlich zu machen, daß die neue Einheit oder Vereinheitlichung [der Bedeutungsvielfalt von Sein, meine Ergänzung], nach der er sucht, von ihrer Form her nicht mehr analogisch ist« (a. a. O., S. 128). Courtines Einschätzung beruft sich vornehmlich auf die Aristoteles-Vorlesung von 1931 (GA 33) und ist daher für das Spätwerk nach den Beiträgen zur Philosophie nur begrenzt aussagekräftig. Ferner hat Courtine Schwierigkeiten, eine klare Abgrenzung Heideggers von der Analogie zu artikulieren. So konzediert Courtine zu Heideggers angeblich nicht mehr analogischer Einheit nichtsdestotrotz: »[sie] gewinnt […] dennoch ihre Form aus dem heraus – analog, wenn man so sagen kann –, was die Tradition ›Analogie‹ nennt.« (Ebd.). 89 GA 14, S. 28. 86 87

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Form der Analogie der Proportionalität (analogia proportionalitatis) zu beschreiben, da er auf der Gleichursprünglichkeit einer Relation mit ihren Relata beruht. Im Spiegel-Spiel finden wir zu Heideggers womöglich konzentriertester Fassung der Weise, wie das Sein als sol­ ches sich ereignet, d. h. ›zuschickt‹ und ›zuspielt‹.90 Insofern ent­ spricht die Vierfalt im Spiegel-Spiel auf gewisse Weise der Vierfalt der höchsten Bedeutungen für ›Sein‹, die Aristoteles benennt, obwohl sie in keiner direkten Beziehung zueinander zu stehen scheinen.

3.1 Das ›Ge-Stell‹ als Analogie zum gleichen Terminus Die Technik stellt für Heidegger eine besondere Weise, das Seiende im Ganzen zu entbergen, die er ›Ge-Stell‹ nennt. Im Ge-Stell entbirgt sich das Seiende als ›Bestand‹, d. h. jedes Seiende ist qua Seiendes Bestand. Anhand von Heideggers zweitem Bremer Vortrag, »Das GeStell«,91 möchte ich aufzeigen, dass das Motiv der Analogie auch im Kontext des Ge-Stells präsent ist und einen ontologischen Status hat. Zum ›Bestand‹ in der Welt der Technik zählt für Heidegger nicht nur eine besondere Gattung des technischen Seienden, zu der etwa Autos, Flugzeuge und allerlei Maschinen gehörten, sondern alle Gattungen des Seienden als Seienden: Das Bestellen betrifft […] alles was ist, und nach allen Weisen, wie das Anwesende ist […] Darum läßt sich auch das Bestellen niemals aus irgendeinem vereinzelten Bestand erklären; es läßt sich ebensowenig aus der Summe der vorfindlichen Bestände als deren nur darüber schwebendes Allgemeines vorstellen.92

Mit diesen Bemerkungen verweist Heidegger auf die höhere, analoge Allgemeinheit des Bestandes, die im »Bestellen« liegt. Das Seiende wird also zum Bestand und gehört in die Einheit des Bestandes, weil das Sein dieses Seienden sich im Lichte des technischen ›Bestellens‹ zeigt. In der Welt des Ge-Stells ereignet sich somit eine bestimmte Gestalt der Analogie zum gleichen Terminus. Denn ›Bestand‹ ist ein jeweiliges Seiendes auf verschiedene Weisen, in denen es als Vgl. Kettering, a. a. O., S. 312. Martin Heidegger, »Das Ge-Stell«, in: ders., Bremer und Freiburger Vorträge (GA 79), hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1994, S. 24–45. 92 GA 79, S. 32, meine Hervorhebung. 90

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»Bestand-Stück«93 in das Ganze des Bestellens gehört. Dennoch wird alles Seiende gleichermaßen vom Bestellen und seiner Logik beherrscht. Im mannigfachen und doch gleichförmigen ›Stellen‹ des Bestellens liegt also die Grundbedeutung, auf der die analoge Einheit des Bestandes gründet. Als ausdrückliche Aufstellung einer solchen Grundbedeutung möchte ich folgende Passage Heideggers lesen: »Auf diese Bedeutung des Wortes ›stellen‹ lassen wir uns jetzt ein, um zu erfahren, was in jenem Bestellen sich begibt, wodurch der Bestand steht und so ein Bestand ist.«94 Die Weise, wie alle Formen des Stellens dem einen, selben Bestellen zugehören, bezeichnet Heidegger mit den Worten »Gestel­ lung«95, »Betrieb«96 und »Getriebe«97. Diese Begriffe sollen aufzei­ gen, wie verschiedene Weisen des Stellens auf analoge Weise den Bestand in eine Einheit versammeln. Schon die etymologischen Familienähnlichkeiten, mit denen Heidegger hier spielt, sollen einen analogischen Gebrauch anzeigen.98 Heidegger gibt eine wortgewal­ tige Illustration dieser Versammlung des Seienden in den ›Einklang‹ des Stellens: Ein Landstrich wird gestellt, auf Kohle nämlich und Erze […] Das Erd­ reich ist in ein solches Stellen einbezogen und von ihm befallen. Es ist be-stellt, betroffen mit Gestellung. […] Durch solches Bestellen wird das Land zu einem Kohlenrevier, der Boden zu einer Erzlagerstätte. […] Wohin wird nun aber z. B. die im Kohlenrevier gestellte Kohle gestellt? […] Die Kohle wird […] ihrerseits gestellt, d. h. herausgefordert auf Hitze; diese ist schon daraufhin gestellt, Dampf zu stellen, dessen Druck das Getriebe treibt, das eine Fabrik im Betrieb hält, die daraufhin gestellt ist, Maschinen zu stellen, die Werkzeuge herstellen, durch die wiederum Maschinen in Stand gestellt und gehalten werden. Ein Stellen fordert das andere heraus.99

Trotz der wesentlichen Einförmigkeit des Seienden als Bestand zeigt sich hier, dass die Bestand-Stücke zueinander in verschiedenen Relationen des ›Stellens‹ stehen. Ob Landstrich, Kohle, Hitze oder GA 79, S. 36. GA 79, S. 27. 95 GA 79, S. 27. 96 GA 79, S. 33. 97 GA 79, S. 34. 98 Auch bei Brentano findet sich interessanterweise eine ausdrückliche Anerkennung der Etymologie als Wegweiser für analogische Verhältnisse (vgl. a. a. O., S. 96). 99 GA 79, S. 28. 93

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Maschine, jedes Seiende wird auf analoge Weise in eine Verkettung von ›Bestellungen‹ eingegliedert, d. h. jedes auf eine ähnliche Weise, aber in verschiedenen Zweck-Mittel-Relationen: die Kohle wird für die Hitze gestellt, während die Hitze dem Erzeugen von Dampf dient, der seinerseits als Antrieb für die Turbine fungiert. Hinsicht­ lich ihrer Beherrschung durch das ›Bestellen‹ bzw. ihrer Relationen zum ›Betrieb‹ sind diese Bestand-Stücke jedoch zusammengehörig. Das Bestellen versammelt somit alles Stellen in eine immer weiter ausgreifende Kette von Zweck-Mittel-Relationen. Doch man fragt sich: Worauf läuft diese Verkettung des Bestel­ lens zuletzt hinaus? Heideggers Antwort lautet: »Sie läuft auf nichts hinaus […] Die Kette des Bestellens läuft auf nichts hinaus; sie geht vielmehr nur in ihrem Kreisgang hinein.«100 Aufgrund dieser ins Nichts einer endlosen Spirale fortgerissenen Verkettung von Weisen des Bestellens spricht Heidegger an anderer Stelle von der »Raserei der entfesselten Technik«,101 denn das im weitesten Sinne technische nutzbar und bestellbar Machen des Seienden rast auf ein Ende zu, das es nicht gibt. Diese Eigentümlichkeit des Bestellens lässt uns den ›Terminus‹ in der hier veranschaulichten Analogie zum gleichen Terminus im Sinne eines Endpunkts verstehen. Nur ist hier dieser Endpunkt ein unerreichbares Ende, nämlich das ins Endlose weitergetriebene Bestellen. Die analoge Einheit des Bestandes bzw. aller Weisen des Stellens liegt also in ihrer Zuordnung auf denselben im Bestellen verfolgten ›Terminus‹: die totale Bestellbarkeit und Vernutzung des Seienden als Bestand, die nichts anderes als das immer weiter getriebene Bestellen selbst ist. Indem das Bestellen sowohl über alle Gattungen des Seienden ausgreift als auch in sich selbst kreist, fungiert es somit als der ›Grundton‹, in dem wir den analogen ›Einklang‹ der verschiedenen Weisen des Stellens und des Bestandes hören können. Doch wo soll die kategoriale Vielfalt des Seienden bzw. der mannigfache Sinn von ›seiend‹ seinen Ort haben? Streng genommen scheint es im Ge-Stell keinen vielfältigen Sinn von ›seiend‹, sondern nur die Einförmigkeit 100 GA 79, 28 f. In diesem letztlich sinnlosen, in sich kreisenden Prozess scheint einer der wesentlichen Unterschiede des technischen ›Betriebs‹ zur Bewandtnisganzheit des Zeugs in Sein und Zeit markiert zu sein: es fehlt der Sinn eines ›Worum-willen‹, an dem eine abgeschlossene und an einem letzten Ziel orientierte Bewandtnisganzheit gleichsam ihre Aufhängung hat (vgl. SuZ, 84). 101 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik (GA 40), hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1983, 40 f.

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des Bestands zu geben. Gleichwohl stellt Heidegger im Vortrag »Das Ge-Stell« erstens deutlich heraus, dass das Seiende auf eine je analoge Weise vom Bestellen der Technik befallen ist, und zweitens, dass die Allgemeinheit des Bestellens keine gattungsmäßige, sondern eine analoge ist. Der analoge Charakter des Ge-Stells scheint vielmehr dazu zu dienen, es als Sinn von Sein überhaupt zu begreifen und vor dem Missverständnis zu schützen, dass der Seinscharakter des Bestands von der Gattung des im geläufigen Sinn technischen Seien­ den bloß abgezogen und verallgemeinert wurde.102 Was hingegen im Ge-Stell gänzlich nivelliert zu sein scheint, ist die Vielfalt von ›Sein‹ im weiteren Sinn, insbesondere Sein als Wahrsein bzw. ›Unverbor­ genheit‹.

3.2 Das ›Geviert‹ als Analogie der Proportionalität Im Rahmen der Bremer Vorträge, insbesondere im Vortrag »Das Ding«,103 entwickelt Heidegger auch den Gegenbegriff zum Ge-Stell, das ›Geviert‹. Das Geviert ist ebenfalls eine Weise, wie das Sein entborgen bzw. ereignet wird; jedoch wird das Sein dabei gerade nicht verweigert und entzogen, sondern eigens gelichtet.104 Dieses Ereignis des Gevierts geschieht nach Heidegger im ›Dingen des Dinges‹, das als neue Ansicht des ›Seins des Seienden‹ zu verstehen ist.105 Dieses Geschehen werde ich nun auf seine analoge Struktur hin befragen. Heideggers berühmtes Beispiel für das ›Dingen des Dinges‹ gibt der Krug. Schematisch lässt sich die tautologische Formel ›Dingen des Dinges‹ dahingehend erläutern, dass die bloß generische Eigenschaft des Krugs, ein Seiendes unter anderen zu sein, mit der spezifischen Seinsweise des Krugs als eines Krugs zusammenfällt. Im ›Dingen des Dinges‹ werden demnach die Vielfalt und Einheit der Bedeutung von ›Sein‹ nicht in ein Abstraktes oder möglichst Allgemeines gesetzt, sondern umgekehrt in ein absolut Konkretes und Einzelnes: den Krug. Vgl. die oben besprochene Bemerkung in GA 79, S. 32. Martin Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Bremer und Freiburger Vorträge (GA 79), a. a. O., S. 5–21. 104 Vgl. Heideggers Beschreibung der »Kehre« von der Vergessenheit des Seins im Ge-Stell dazu, dass die »die Wahrheit des Wesens des Seyns in das Seiende eigens einkehrt« (GA 79, 71). Diese ›Einkehr‹ der Wahrheit des Seins in das Seiende versucht Heidegger im ›Dingen des Dinges‹ bzw. im Geviert zu begreifen (vgl. GA 79, S. 74). 105 Vgl. GA 79, S. 16. 102

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Statt einen allgemeinen Sinn von Sein, z. B. Anwesenheit, nur in analogischer Weise zu instanziieren, gibt der Krug als ›dingendes Ding‹ der Anwesenheit erst sein eigenes Gepräge: Der Krug ist ein Ding, weder im Sinne der römisch gemeinten res, noch im Sinne des mittelalterlich vorgestellten ens […]. Der Krug ist Ding, insofern er dingt. Aus dem Dingen des Dinges ereignet sich und bestimmt sich auch erst das Anwesen des Anwesenden von der Art des Kruges.106

Wenn der Krug dergestalt als Krug erscheint, hat er jedoch nicht nur eine Seinsweise sui generis, sondern diese gibt zugleich dem allge­ meinen Sinn von Sein als Anwesenheit ein besonderes Gepräge. Die Seinsweise des Krugs greift dementsprechend auch auf das Seiende im Ganzen aus und versammelt im Krug eine Welt. Den Zusammenhang von Welt und Ding bildet das Geviert. Diese durch den Krug als Ding stattfindende Versammlungsbewegung des Gevierts beschreibt Heidegger wie folgt: Das Krughafte des Kruges west im Geschenk des Gusses. […] Das Geschenk des Gusses kann ein Trunk sein. Es gibt Wasser, es gibt Wein zu trinken. Im Wasser des Geschenkes weilt die Quelle. In der Quelle weilt das Gestein und aller dunkle Schlummer der Erde, die Regen und Tau des Himmels empfängt. Im Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde. […] Das Geschenk des Gusses ist der Trunk für die Sterblichen. Er labt ihren Durst. […] Aber das Geschenk des Kruges wird bisweilen auch zur Weihe geschenkt. […] Der Guß ist der den unsterblichen Göttern gespendete Trank.107

Das Geviert ist also die im ›Dingen des Dinges‹ geschehende Ver­ sammlung einer Welt, deren Gefüge einen wechselseitigen, innigen Bezug von Göttlichen und Sterblichen, Erde und Himmel beinhaltet. Für uns ist hier entscheidend, auf welche Weise der Krug das Geviert versammelt. Heidegger resümiert seine Phänomenologie des Kruges wie folgt: Im Geschenk des Gusses weilen je verschieden die Sterblichen und die Göttlichen. Im Geschenk des Gusses weilen Erde und Himmel. […] Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. Sie sind, allen Anwesenden zuvorkommend, in ein einziges Geviert eingefaltet.108 106 107 108

Ebd. GA 79, S. 11 f. GA 79, S. 12.

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Der analoge Charakter des im Krug versammelten Gevierts wird bereits in der Formulierung »weilen je verschieden« angezeigt, wobei »weilen« als gleichbedeutend mit ›sein‹ zu lesen ist. Jedes Glied des Gevierts hat eine andere Weise, wie es im Ding versammelt ist, trotzdem versammelt das Ding das Geviert als Ganzes. Eine ähnliche Struktur der analogen Einheit verschiedener Verhältnisse sahen wir im aristotelischen Beispiel ›gesund‹, bei dem Gesichtsfarbe und Heilmittel je verschiedene Beziehungen zum Gesunden zu eigen sind und sie trotzdem untereinander zusammengehören. Die vier Glieder des Gevierts sind alle im Krug versammelt, sie sind jedoch auf eine je verschiedene Weise. Der Krug fungiert demnach als Träger einer analogen Einheit des Seins bzw. der ›Weile‹: »Dieses vielfältig einfache Versammeln ist das Wesende des Kruges. […] Unsere Sprache nennt, was Versammlung ist, in einem alten Wort. Dies lautet: thing. Das Wesen des Kruges ist als die reine schenkende Versammlung des einfältigen Gevierts in eine Weile.«109 Doch woran ist dieses Versammeln des ›einfältigen Gevierts‹ orientiert? Inwiefern kann das ›Dingen des Dinges‹ als gemeinsamer Terminus fungieren und dazu dienen, die Vierfalt des Gevierts zu artikulieren? Es scheint naheliegender, die Blickrichtung vom Ding auf das Geviert umzukehren und vielmehr das Ding als eine Stätte oder einen Ort zu verstehen, in welchem sich das Geviert ereignet. Dann wäre die Frage nach der analogen Einheit und ihrer Artikulation an das Geviert selbst zu richten: wodurch erhalten sich die Einheit und Differenz seiner vier Glieder Himmel, Erde, Göttliche und Sterbliche? Ich möchte vorschlagen, dass das Geviert als Form der Analogie der Proportionalität zu verstehen ist. In der traditionellen Fassung besteht die analogia proportionalitatis in der Identität eines Verhält­ nisses bei der qualitativen Differenz ihrer Glieder, z. B. verhält sich der Arzt in derselben Weise zur Medizin wie der Handwerker zu seinem Werkzeug.110 Heidegger übersteigert diese Form analoger Zusammengehörigkeit im Fall der Glieder des Gevierts sogar, indem er deren qualitative Differenz der Identität ihres gemeinsamen Ver­ hältnisses einschreibt: Sagen wir Erde, dann denken wir schon […] die anderen Drei mit aus der Einfalt des Gevierts. […] Sagen wir Himmel, dann denken 109 110

GA 79, S. 13. Vgl. Brentanos Rekurs auf die Analogie der Proportionalität in Abschnitt 1.2.

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wir schon […] die anderen Drei mit aus der Einfalt des Gevierts. […] Nennen wir die Göttlichen, dann denken wir […] die anderen Drei mit aus der Einfalt der Vier.111

Wenn von irgendeiner Gegend bzw. einem Glied des Gevierts gespro­ chen wird, dann müssen laut Heidegger eigentlich alle anderen Glie­ der mitgedacht werden. Der Himmel z. B. tritt erst insofern in eine qualitative Differenz zu Erde, Sterblichen und Göttlichen als er und die anderen Glieder Teile ein und desselben Verhältnisses ›Geviert‹ sind – und umgekehrt. Das Geviert ist somit gar nicht univok sagbar, sondern es als Ganzes sowie jedes seiner Glieder kann nur analog gesagt werden, d. h. im ›mitsagen‹ der jeweils anderen drei Glieder. Diese eigentümliche analoge Struktur des Gevierts – als Ein­ heit nur vierfältig sagbar und in jedem seiner vier Aspekte nur als Einheit sagbar zu sein – beschreibt Heidegger als »Spiegel-Spiel des Gevierts«: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen gehören, von sich her einig, in die Einfalt des einigen Gevierts zusammen. Jedes der Vier spiegelt in seiner Weise das Wesen der übrigen wieder. Jedes spiegelt sich dabei nach seiner Weise in sein Eigenes innerhalb der Einfalt der Vier zurück. […] Keines der Vier versteift sich auf sein gesondertes Besonderes. Jedes der Vier ist innerhalb ihrer Vereignung vielmehr zu einem Eigenen enteignet. Dieses enteignende Vereignen ist SpiegelSpiel des Gevierts. Aus ihm ist die Einfalt der Vier getraut.112

Offensichtlich ist die Figur des ›Spiegel-Spiels‹ äußerst dunkel und komplex.113 Es kann jedoch festgehalten werden: Das Spiegel-Spiel bezeichnet die Einheit und Zusammengehörigkeit der vier Elemente des Gevierts, »die Einfalt der Vier«.114 Heideggers obige Erläuterung des Spiegel-Spiels erhellt die besondere Art analoger Einheit, die wir im Geviert feststellen konnte. Denn es gibt nichts »gesondertes Besonderes«,115 das jeweils nur einem Glied des Gevierts zukommt und außerhalb seines Verhältnisses zu den anderen steht. Statt unab­ hängig voneinander gedacht werden zu können, »spiegelt« vielmehr jedes »in seiner Weise das Wesen der übrigen wieder.«116 111 112 113 114 115 116

GA 79, S. 17. GA 79, S. 18. Siehe Kettering, a. a. O., S. 311 f. GA 79, S. 18. Ebd. Ebd.

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Dies unterscheidet das Geviert erstens von der klassischen Ana­ logie der Attribution: Es gibt kein einendes Fundament, zu dem die vier Glieder des Gevierts unterschiedliche Relationen unterhielten – wie etwa der Leib, das Heilmittel und die Gesichtsfarbe jeweils zur Gesundheit. Vielmehr scheint das Geviert mit seinen Gliedern gleichursprünglich zu sein. Es findet hier also keine bloße Umkehrung der klassischen Relationsmetaphysik statt, indem der Relation ein Primat vor ihren Relata eingeräumt würde, sondern Heidegger zielt darüber hinaus auf die Gleichursprünglichkeit von Relation und Relata. Relativ zum Ganzen des Gevierts ist jedes Element daher nur scheinbar nicht bei sich selbst, d. h. »enteignet«,117 vielmehr ist jedes nur in den anderen es selbst, d. h. jedes empfängt erst aus dem Verhältnis als Ganzen sein »Eigenes«, darum auch die Rede von »Vereignung«.118 Zweitens unterscheidet sich das Geviert auch von der klassischen Analogie der qualitativen Proportion, insofern seine Einheit nicht in der Identität eines von allen Gliedern in der gleichen Weise geteilten Verhältnisses gründet. Vielmehr sind die Relationen jedes Glieds des Gevierts zu den jeweils anderen drei irreduzibel und höchst individuell: »Jedes der Vier spiegelt in seiner Weise das Wesen der übrigen wieder«.119

4. Schluss Es wurde versucht, dem Motiv der Analogie auf Heideggers Denkweg nachzugehen. Ausgangspunkt bildeten Heideggers eigene Hinweise, dass die seinen Weg durchgängig bestimmende Seinsfrage aufs engste mit dem Problem der Analogie des Seins und dem aristotelischen Diktum ›τὸ ὂν λέγεται πολλαχως‹ verknüpft ist. In Abschnitt 1 wurde nachgezeichnet, wie Heidegger die Einsicht in die analoge Bedeutungsvielfalt von ›Sein‹ über Brentano vermittelt rezipiert. Anhand einer Rekonstruktion Brentanos und einiger früher Schriften Heideggers wurde dafür argumentiert, dass Heidegger auch Brentanos Programm einer ›Deduktion‹ der Kategorien am Leitfaden der Analogie zum gleichen Terminus übernommen hat. Wie Abschnitt 2 zeigen sollte, führt das Anliegen einer solchen Deduktion, d. h. die Herleitung der vielfältigen Artikulationen des 117 118 119

Ebd. Ebd. GA 79, S. 18.

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Seins aus seiner analogen Einheit gemäß einem ontologischen Prin­ zip, bis in Sein und Zeit hinein. Es wurde gezeigt, dass Heidegger die analoge Einheit von ›Sein‹ zunächst im ›indifferent-differenzierba­ ren‹ Seinsverständnis des Daseins verortet. Davon ausgehend wurde Heideggers ›Deduktion‹ der Kategorien von ›seiend‹ am Leitfaden der Zeitlichkeit skizziert. In einem zweiten Schritt wurde die Rolle der Temporalität für die Herleitung der noch grundlegenderen vier aristotelischen Titel für ›Sein‹ aufgezeigt. In Abschnitt 3 wurde anhand der Bremer Vorträge »Das GeStell« und »Das Ding« beleuchtet, welche Rolle die Analogie in Heideggers spätem Ereignis-Denken spielt. Erstens wurde unter­ sucht, wie Welt innerhalb des ›Ge-Stells‹ ereignet wird. Dabei fand sich, dass der Seinscharakter des ›Bestandes‹ nicht als Gattung, sondern nach der Analogie gedacht wird. Die Einheit der verschiede­ nen ›Bestand-Stücke‹ wurde dabei als Variante der Analogie zum gleichen ›Terminus‹ charakterisiert. Zweitens wurde das Ereignis des ›Gevierts‹ im ›Dingen des Dinges‹ untersucht, welches als eine auf Einzelheit und Jeweiligkeit gebaute Neukonzeption der Bedeutung des ›Seins des Seienden‹ gelesen wurde. Das Geviert selbst wurde in seiner Struktur als ›Spiegel-Spiel‹ analysiert und als besondere Form der Analogie der Proportionalität herausgestellt.

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Synonymie und Analogie Eine analytische Perspektive auf eine mathematische Fallstudie

»Die Möglichkeit aller Gleichnisse, der ganzen Bildhaftigkeit unserer Ausdrucksweise, ruht in der Logik der Abbildung.« (Wittgenstein – Tractatus logico-philosophicus1 P 4.015) »[…] Wo man aber Symbole nach einem System bilden kann, dort ist dieses System das logisch wichtige und nicht die einzelnen Symbole. Und wie wäre es auch möglich, dass ich es in der Logik mit Formen zu tun hätte, die ich erfinden kann; sondern mit dem muss ich es zu tun haben, was es mir möglich macht, sie zu erfinden.« (Wittgenstein – Tractatus P 5.5552)

1. Synonymie und Analogie – einführende Präsentation der analytischen Intentionen der Fallstudie Wir werden in der vorliegenden Untersuchung nicht Synonymie und die Analogie als Inspirationsquellen oder Verfahren literarischer oder anderer künstlerischer Ausdrucksformen traktieren. Ebenfalls soll hier keine mathematische Rekonstruktion oder Ummodellierung des Vokabulars, der Morphologie, der Syntax oder anderer sprachbezogener Aspekte, nicht einmal als Suggestion, statt­ finden. Der Vorschlag dieser Analyse stellt lediglich den Versuch dar, einen Fall der Mathematik vom Standpunkt der Semiotik aus zu 1 Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main 1986, S. 27 (von nun an Tractatus). 2 Tractatus, S. 66.

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Marcel Bodea

interpretieren, wobei das Hauptinteresse einer begrifflichen Klärung von Synonymie und Analogie gilt. Die Sprache der Mathematik ist eine sehr präzise. In dieser Studie gilt ebenfalls als Grundvoraussetzung, dass die natürliche Sprache ihrerseits präzise genug ist, um sich von gewissen Aspekten der mathematischen Sprache aus, die für sie in bestimmten Fällen relevant sein können, neu begreifen zu lassen. Die vorliegende Fallstudie hat einen algebraischen Inhalt. Die Interpretation der Fallstudie bedarf ihrerseits eines semiotischen Rahmens. Über Textbeispiele und Erläuterungen wird der Versuch unternommen, diesen Rahmen auch indirekt, auf einer formellen und terminologischen Ebene zu umreißen. Wir sind es gewohnt, ohne eine vorbereitende theoretische Annäherung und ohne eine besondere Berücksichtigung der Aspekte logischer Repräsentation zu vergleichen und Ähnlichkeiten aufzuzei­ gen und demzufolge Synonymien zu formulieren oder Analogien herzustellen. Wir registrieren Anklänge und sind verführt, von Über­ einstimmungen ausgehend, das, was »sichtbar« ist, auch anders aus­ zudrücken, jenseits dessen, was das »Sichtbare« für jeden Einzelfall festlegt, nämlich indem wir über die verglichenen Termini Relations­ urteile formulieren. Eine solche Einstellung wird von dem Erfolg und der Konsistenz bestimmter Ergebnisse solcher Urteile bekräftigt, insbesondere was spezifische Objektklassen angeht, der Aufweis von Strukturen, Verhältnisse, Methoden usw. Unsere Absicht ist hier, mit Hilfe der Fallstudie gewisse Gegenstände und mathematische Relationsgruppen semiotisch zu interpretieren, so dass sich in analy­ tischer Hinsicht und mit Bezug auf unser insgesamt philosophisches Interesse an das Verhältnis von Synonymie und Analogie, Klärendes ergeben kann. In einem engeren mathematischen Sinne haben wir es hier lediglich mit der (einfachen) Formulierung eines Vergleichs zu tun und dessen gewisserweise für uns ungewöhnliche Lösung, da wir dazu einen mathematisch-abstrakten Kontext gewählt haben. Die mathematische Studie betrifft ihrerseits einen algebraischen Fall. Die Grundvoraussetzungen sind, in einer noch etwas abstrakten Formulierung, die durch die Fallstudie ergänzt und erklärt werden soll, die folgenden: –

Die Grundlage des Begriffs Synonymie ist eine relationale. Sie besteht in Alternativen des Ausdrucks zu einer einzigen Objekt­ referenz im Verhältnis zum relationalen Support.« (Eine der Möglichkeiten philosophischer Abbildung dieses Verhältnisses

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Synonymie und Analogie



ist die Unterscheidung zwischen ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ bei Frege.) In einer etwas allgemeineren philosophischen Formulie­ rung, die Synonymie bestehe zwischen »Wesen« oder Einheiten gleicher Bedeutung. Die Grundlage des Begriffs Analogie ist eine relationale. Sie besteht auf der Ebene des Vergleichs distinkter Elemente mit – anders als die Synonymie – unterschiedlichen Objektreferenzen. Diese Objekte sind nichtsdestotrotz auch ähnlich, sie lassen eine in dem Sinne berechtigte Analogie zu, dass sie von der gleichen relationalen Grundlage ausgehen.3 In einer allgemeinen philosophischen Formulierung, die Analogie bestehe zwischen »Wesen« oder Einheiten unterschiedlicher Bedeutung.

Die Synonymie und die Analogie sind in dieser Untersuchung Gegen­ stand der begrifflichen Analyse eines abstrakten Verhältnisses mathe­ matisch-algebraischer Herkunft, nämlich der Äquivalenzrelation. In diesem Sinn sind die Synonymie und die Analogie rela­ tionale Konsequenzen dieser Verhältnisse. Formell vorgreifend: algebraische Äquivalenzklassen sind, beispielsweise eine direkte Konsequenz der algebraischen Äquivalenzrelation. Und – auch als vorgreifendes Beispiel – kann die Gleichheit von Fraktio­ nen wie 15 = 13 65   in einem strikt operationalen Sinn ebenfalls 1 1 13 als 5 = 5 ∙ 1 = 15 ∙ 13 13 = 65   dargestellt werden, was, mit Sicher­ heit eine korrekte Schreibweise ist. Diese Gleichheit kann den­ noch, auf einer anderen Ebene algebraischer Abstraktion, auch als Zugehörigkeit zu ein und derselben Äquivalenzklasse inter­ pretiert werden, und zwar als direkte Konsequenz einer bestimm­

2 207 , …, 13 ten Äquivalenzrelation:C 1 = … 15 , 10 65 , …, 1035 …  . Detailliert 5 zu präzisieren wäre die Tatsache, dass jeder Repräsentant dieser Äquivalenzklasse ein unterschiedliches Element darstellt; eine unter­ schiedliche Fraktion (als Fraktion) kann dennoch in einer alternati­ ven dezimalen Repräsentation denselben numerischen Wert ange­ 2 207 = 13 ben: 15 = 10 65 = 1035 = 0,2 . (In einer philosophischen – oder »semiotischen« – Ausdrucksweise können wir mit Freges Begriffen

3 Klar werden diese Sachverhalte in der Berücksichtigung der mathematischen Aspekte der Fallstudie, nämlich der Strukturierung in Äquivalenzklassen und der Hervorhebung der Menge der Quotienten innerhalb der Menge der rationalen Zahlen. Die Strukturierung erfolgt über Gleichheitsverhältnisse zwischen Fraktionen.

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2 13 207 , 65 , 1035   verschiedene von Sinn und Bedeutung sagen, dass 15 , 10 Ausdrücke darstellen, einen unterschiedlichen Sinn mit derselben Bedeutung 0,2  haben (anders gesagt: verschiedene Fraktionen, welche die gleiche dezimale Referenz haben, sprich, die gleiche rationale Zahl ›bedeuten‹).) In der Korrelation der mathematischen Fallstudie mit der Sprache werden diese als »Wörter«, nämlich als Synonyme

2 13 207 , 65 , 1035   sind Synonyme im Kontext einer bestimm­ betrachtet: 15 , 10 ten Äquivalenzrelation. Dies korrespondiert mit der Weise, in der wir die Alltagssprache benutzen und die es uns erlaubt, ohne einer theoretischen Erwägung zu behaupten: ›Wir sprechen über dieselbe Sache, aber mit anderen Worten‹, oder, ›Wir meinen das Gleiche, drücken es aber anders aus‹, usw. Komplementär dazu und im Verhältnis zur gleichen Äquivalenz­ relation, die diesen Typus von Synonymien hervorbringt, sind es

Fraktionen wie 15  und  36  , die unterschiedliche Bedeutungen haben: 0,2  bzw .  0,5  (anders gesagt, unterschiedliche Fraktionen haben unterschiedliche dezimale Referenzen, ›bedeuten‹ also eine andere rationale Zahl) und die wir mit Bezug auf die Analogie interpretieren werden. In diesem komplementären Kontext stellen wir die Hypo­ these auf, dass die Analogie nur unter der Bedingung möglich ist, dass Vergleiche gemacht werden können; anders ausgedrückt: Die Möglichkeit von Vergleichen zwischen zwei Wesen ist eine notwen­ dige Bedingung für die Möglichkeit (Legitimität) einer Analogie. Ebenfalls in diesem Kontext und mit Bezug auf die Fallstudie wird vorausgesetzt, dass es um eine andere Art von ›Vergleich‹ geht, einem, der andere Differenzierungen vornimmt als die Differenzie­ rung über die Äquivalenzrelation. Mathematisch ausgedrückt hieße dies beispielsweise, die Unterscheidung zwischen Äquivalenzrelation und Ordnungsrelation vorzunehmen. Bezüglich der rationalen Zah­ len und ihrem ›mathematischen Vergleich‹: vom Standpunkt der Ordnungsrelation kann man die Aussage manchen, dass zwischen rationalen Zahlen eine Analogie möglich ist. Wir müssen aber dazu die Bemerkung machen: Der Wechsel des Referenzpunktes, des Universums des Diskurses, kann die Möglichkeit von Analogien aufheben. Dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, den wir weiter unten versuchen werden zu illustrieren. Diese Exemplifizierungen suggerieren eine Beschränkung der Mathematik auf das Teilgebiet der Algebra ja sogar eine zusätzliche

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Synonymie und Analogie

Limitierung innerhalb der Algebra, und zwar auf die Menge der rationalen Zahlen ℚ ; in einer etwas präziseren Ausdrucksweise die

Menge der Fraktionen rationaler Zahlen: ℚ = m n m, n ∈ ℤ,  n ≠ 0  . Für die Einfachheit der Darstellung (ohne den Grad der Allgemein­

heit zu verringern) werden wir lediglich positive Zahlen aus ℚ∗ in Betracht ziehen. Ohne sich hier kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, werden für den analytischen Rahmen dieser Untersuchung folgende Aussa­ gen Wittgensteins ebenfalls vorausgesetzt: »[…] Die Logik ist transzendental.«4 »Die Mathematik ist eine logische Methode. […]«5 »Die Mathematik ist eine Methode der Logik.«6

Diese Korrelation von Mathematik und Logik berechtigt zur folgen­ den Substitution in der Analyse: Statt über Synonymie und Analogie aus einer logischen Perspektive zu sprechen (bzw. aus der Perspektive zugrundeliegender logischer Beziehungen), kann man den Versuch unternehmen, über Synonymie und Analogie aus einer mathemati­ schen Perspektive zu ›sprechen‹, insbesondere aus der Sicht grundle­ gender algebraischer Beziehungen: nämlich die Äquivalenzrelation und die Ordnungsrelation. Eine nicht auf abstrakter Ebene operierende Charakterisierung, die dem ›Gemeinsinn‹ entspricht, erlaubt die einfache Rede von Ähnlichkeit und Entsprechung oder Korrespondenz. Die Ähnlichkeit erlaubt die Herausstellung von Übereinstimmungen auf der Ebene der Bedeutung (Frege) und von Differenzierungen auf der Ebene des Sin­ nes (Frege). Die Korrespondenz entsteht auf der Ebene der Relation und drückt die Identität von Verhältnissen zwischen Elementen aus, die unterschiedlichen Klassen angehören. (Eine Beziehung von Syn­ onymie existiert zwischen allen Repräsentanten einer bestimmten Äquivalenzklasse ρ x   im Verhältnis zu einer gegebenen Äquivalenz­ beziehung ρ = M, M, R  , eine Beziehung der Analogie kennzeichnet 4 5 6

Wittgenstein – Tractatus P 6.13, S. 76. Wittgenstein – Tractatus P 6.2, S. 76. Wittgenstein – Tractatus P 6.234, S. 77.

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wiederum die Repräsentanten unterschiedlicher Äquivalenzklassen, die Elemente der Faktormenge (Quotientenmenge) M/ρ , die Faktor­ menge der Menge M im Verhältnis zur Aquivalenzrelation ρ . )7 Unsere mathematisch-philosophische Fallstudie versucht anzu­ deuten, unter welchen restriktiven Bedingungen auf der Ebene der Relationen und für ein gegebenes Diskursuniversum lediglich bestimmte Synonymien und bestimmte Vergleiche über die Analogie möglich sein könnten. Prinzipiell ist die Frage der Legitimität von Synonymie und Ana­ logie der Hauptunkt dieser Diskussion. Wir wollen in diesem Kontext eine »starke« (zureichende) philosophische Bedingung formulieren, die eine Perspektive über Synonymie und Analogie jenseits ihrer rein ästhetischen Funktion erlaubt. Diese Bedingung ist eine für ihre Legi­ timität notwendige: nämlich die Existenz einer logisch-relationalen Grundlage für diskursive und argumentative (inferenziale) Verfahren (in unserem Fall handelt es sich um eine mathematisch-rationale Grundlage). Diese notwendige Bedingung ist aber nicht gleichzeitig eine zureichende.8 Allzu oft werden die logischen Prinzipien und die logische Korrektheit stillschweigend überschritten. Insbesondere gilt es für die künstlerische Schöpfung, dass diese Aspekte nicht zu den notwendigen Bedingungen ihres Entstehens gehören. Komple­ mentär dazu soll auch eine ›Bedingung der Möglichkeit‹ formuliert werden: die Möglichkeit formeller Repräsentation von Einheiten oder ›Wesen‹, die in Beziehungen von Synonymie und Analogie auftreten können. Eine philosophische Arbeitshypothese bezüglich der Syn­ onymie und der Analogie ist die, dass sich diese Beziehungen über mehr oder weniger explizite, manchmal lediglich implizite Präsuppo­ sitionen formulieren lassen; das sind stillschweigende Voraussetzun­ gen, die Ähnlichkeiten und Entsprechungen zu legitimieren scheinen. Eine Diskussion dieser hypothetischen Aspekte, die auf jeden Fall interessant und wichtig wäre, soll in der vorliegenden Untersuchung nicht unternommen werden, aufgrund der vereinfachenden Annahme Die mathematische Terminologie wird im Vorfeld der Analyse der Fallstudie detailliert angegeben. 8 Deutlicher: eine notwendige Bedingung meint die logisch-mathematische Bedeu­ tung derselben: Es sei die logische Implikationp q , »gelesen«: »Wenn eine Zahl teilbar ist durch die Zahl Vier, dann ist diese Zahl auch teilbar durch die Zahl Zwei.«. Somit wäre »die Teilbarkeit durch Zwei« (q) eine notwendige Bedingung für die Teilbarkeit durch Vier (p), beziehungsweise, »die Teilbarkeit durch Vier ” (p) wäre eine zureichende Bedingung für die Teilbarkeit durch Zwei (q). 7

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Synonymie und Analogie

der Tatsache, dass solche Hypothesen bereits in jedem gegebenen Dis­ kursuniversum bereits vorhanden sind. Das, was hier mit Bezug auf ein solches Universum von Interesse ist, ist einerseits auf relationaler Ebene als Bestandteil dieses Diskurses vorhanden und andererseits strukturell präsent (als Folge der relationalen Ebene). Diese Struktu­ rierung des Diskurses bildet letztlich den Rahmen für jede Ansprache von Synonymien und Analogien. Die Grundidee dieser Ansprache setzt ihrerseits voraus: ● ●

dass gewisse »Äquivalenzen«, vorhanden sind, beziehungs­ weise, eine »Äquivalenzrelation« zwischen den Einheiten oder ʹWesenʹ, die Teil des Diskurses sind; dass die Möglichkeit von »Vergleichen/Zuordnungen« besteht zwischen diesen Einheiten, dass eine Ordnungsrelation existiert.

Die Synonymien und Analogien, die wir in der Fallstudie abstrakt ansprechen, haben gewiss ein intuitiv-natürliches Fundament in Form von Ähnlichkeiten und Vergleiche, in diesem speziellen Falle aber sind diese von der Äquivalenz- und von der Ordnungsrelation selbst her­ vorgebrachte. Das Diskursuniversum ist aufs äußerste vereinfacht: Es geht um eine Menge. Die Bezüge sind ihrerseits einfach: Es handelt sich um die algebraische Äquivalenzrelation und um die algebraische Ordnungsrelation. Die Struktur der Gegenstände des Diskursuniver­ sums, welche die Äquivalenzrelation als Ausgangspunkt haben, ist die von algebraischen Gegenständen: Teilungen, Äquivalenzklassen, Faktorenmengen. Die Vergleiche sind ihrerseits äußerst vereinfacht. Es geht um Größenverhältnisse, nämlich um »größer« oder »kleiner«. Die Synonymien und Analogien werden in diesem vereinfachten mathematischen Rahmen besprochen.

2. Synonymie und Analogie – die Formulierung einiger Voraussetzungen der analytischen Vorgehensweise mit Bezug auf die mathematische Fallstudie Sei gegeben das Diskursuniversum M . Sei, qua Einheit (›Wesen‹) innerhalb des Diskursuniversum M , Ei  als Einheit/Element die­ ses Diskursuniversums. Es besteht die Forderung zur Konservierung der kontextuellreferentiellen Bedeutung der Wesenseinheiten Ei  unabhängig von der

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jeweiligen subkontextuellen Platzierung. Demnach wird eine Einheit Ei  im Verhältnis zur Äquivalenzrelation die gleiche Bedeutung haben, sowohl im generellen Kontext des Diskursuniversums M  wie auch beispielsweise im partikulären Kontext einer Äquivalenzklassse, in der das Interesse der Synonymie und den Sinndifferenzen gilt. Im Falle der Analogie liegt der Akzent auf die Bedeutung der Einhei­ ten Ei  und auch auf die Möglichkeit ihres Vergleiches durch das Vorhandensein einer Ordnungsrelation, die den Vergleich bzw. die Unterordnung erlaubt. Die Möglichkeit besteht sicherlich, dass die gleiche Einheit Ei  auch in anderen Kontexten angenommen wird, aber diese Rekontextualisierung muss ›als etwas anderes‹ auf relationaler Ebene antreten. Unterschiedliche Äquivalenzrelationen verursachen im Verhältnis zum gleichen Diskursuniversum unterschiedliche Sub­ kontexte, auf der Ebene der Äquivalenzklassen und auf die der Struk­ turierung der Partition des Diskursuniversums. Algebraisch ausgedrückt: Eine Äquivalenzrelation ist eine Bezie­ hung zwischen den Elementen einer Menge, die Äquivalenzklassen verursacht. Eine bestimmte Äquivalenzrelation ruft bestimmte Äqui­ valenzklassen hervor. Ein einfaches Beispiel wäre das folgende: M  – ist die Menge der Dreiecke; ρ= – ist die Gleichheitsbeziehung (Kongruenz) zwischen Dreiecken; ρ  – ist die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Dreiecken. »Die Ähnlichkeit der Dreiecke«, als Äquivalenz­ relation, verursacht bestimmte Äquivalenzklassen in der Menge der Dreiecke, wogegen die Kongruenz der Dreiecke als Äquivalenzrela­ tion andere Äquivalenzklassen in der gleichen Menge bestimmt. Die Strukturierung der Menge der Dreiecke durch Partition, als Faktormenge (Quotientenmenge) im Verhältnis zur Ähnlichkeit oder Gleichheit, ist eine jeweils unterschiedliche. Komplementär ein ande­ res Beispiel: »die Ähnlichkeit der Dreiecke«, als Äquivalenzbezie­ hung, bestimmt besondere Äquivalenzklassen in der Menge der Dreiecke, während die »Gleichheit der Flächen«, als Äquivalenzrela­ tion, andere Äquivalenzklassen innerhalb der gleichen Menge hervor­ bringt. Auch in diesem Fall ist die Strukturierung der Menge der Drei­ ecke durch eine Teilung als Faktorenmenge (Quotientenmenge) im Verhältnis zur Ähnlichkeit oder Flächengleichheit eine unterschiedli­ che. Wir gehen in dieser Untersuchung nicht weiter darauf ein. Bemerkung: Es gibt gleichfalls die Möglichkeit, dass eine selbe Einheit Ei  in verschiedenen Universen des Diskurses auftritt. Das Problem des Diskursuniversums und seiner kontextuellen Bedeutung (näm­

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Synonymie und Analogie

lich die, einem bestimmten Kontext zuzugehören) ist ein durch seine vielfachen Konsequenzen wichtiges Problem. Demzufolge kann es von nicht geringer Wichtigkeit sein ob, zum Beispiel die Zahl 2  dem Diskursuniversum der rationalen Zahlen: 2 ∈ ℚ  zugeschrieben wird, oder aber dem Diskursuniversum der realen Zahlen:2 ∈ ℝ . Das folgende Beispiel mag in dieser Hinsicht für uns aufschlussreich sein: Wenn wir einen Körper K, + , ∙   annehmen, dann sprechen wir von einer TeilmengeKʹ ⊆ K , als Teilkörper von K  ist, wenn Kʹ, + , ∙   gilt; anders gesagt, wenn die Teilmenge Kʹ  zusammen mit den Verfahren Summe und Multiplikation innerhalb von K  ihrerseits ein Körper ist. Wir notieren K ≤ Kʹ :  die Aussage Kʹ  sei ein Teilkörper von K . Ein Körper K  ist eine Extension (von Körpern) eines Körpers Kʹ , wenn der Körper K  eine mit Kʹ  isomorphe Teilmenge enthält. Abstrakt algebraisch ist der Zerfällungskörper des Polynoms P X   über ein Feld Kʹ  eine Körpererweiterung K  über Kʹ,  wobei P X   in Linearfaktoren X − αi  faktorisiert (o. zerfällt), so dass αi  den Körper K  über Kʹ generiert. Die Körpererweiterung K  stellt die minimale Erweiterung des Grades des Polynoms über Kʹ , in welcher P X   zerfällt. Man kann zeigen, dass ein solcher Zerfällungskörper existiert und dass dieses ein einziger ist, mit Ausnahme eines Isomorphismus.

a)

b)

Es sei beispielsweise P X = X2 − 2 .

Wenn Kʹ  der Körper der rationalen Zahlen ℚ  ist, dann ist der Zerfällungskörper des Polynoms “ P X = 1 ∙ X2 − 2  ”:ℚ 2 = a + b 2 a, b ∈ ℚ  . ∈ℚ ʹ

∈ℚ

Zerfällungskörper des Polynoms “ P X = 1 ∙ X2 − 2  ]

Wenn K   der Körper reeller Zahlen ℝ,  dann ist ℝ  auch der ∈ℝ

∈ℝ

Aus der Perspektive des Diskursuniversums und wenn wir das eben genannte Beispiel betrachten, dann verorten 1 ∈ ℚ  und 1 ∈ ℝ  den »mathematischen Diskurs« in unterschiedlichen Diskursuniver­ sen. (Anders ausgedrückt: 1  ∈ ℚ   und 1  ∈ ℝ   haben verschie­ dene Bedeutungen.) Wir schließen unsere Betrachtung mit der Veranschaulichung der Art und Weise, wie ein Diskursuniversum die Möglichkeit der Analogie aufheben kann. Die Änderung des Diskursuniversums von

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  in

Körper rationaler Zahlen



Körper reeller Zahlen

  wird die Möglichkeit einer

Analogie zwischen den Zahlen (der Einheiten) 1 und 2  im Sinne eines Vergleichs dieser auf der Ebene einer Ordnungsrelation: 2 ≥ 1   beibehalten. Im Fall eines Wechsels des Diskursuniversums von   wird die Möglichkeit einer Analogie zwi­ ℝ  in  ℂ Körper komplexer Zahlen

schen den Zahlen (Einheiten) 1 und 2  im Sinne eines Vergleiches auf der Ebene einer Ordnungsrelation nicht mehr beibehalten, da eine solche in ℂ  (zwischen komplexen Zahlen) nicht existiert.9 Die Diskussion der Äquivalenz- und Ordnungsrelationen ange­ sichts der verschiedenen Möglichkeiten des Diskursuniversums und der Konsequenzen hinsichtlich der Synonymie und Analogie sollen hier weiter ausgeklammert werden. Wir wollen uns indessen mit der Darstellung der philosophi­ schen Grundlage beschäftigen, die es uns erlauben kann, auf der Ebene von Wesen (oder ›Einheiten‹) Synonymien und Analogien mithilfe algebraischer Relationen zu verstehen. Es ist natürlich, anzunehmen, dass in einem Diskursuniversum, angesichts festgestellter Synonymien und Analogien, eine Einheit (Wesen) Ei  in ihrer Bedeutung invariant bleibt, und zwar unabhängig von ihrer Beziehung zu anderen Einheiten und unabhängig von der jeweiligen Kontextualisierung. Diese Annahme stellt mit Sicherheit eine vereinfachende Hypothese jeder Analyse dar. Im Allgemeinen wird dieser Sachverhalt so ausgedrückt, dass »Ei  in Relation zu Ei  steht«, aufgrund der gleichen Bedeutung, oder im Sinne der Synonymie und der Analogie, »Ei  ist ähnlich und vergleichbar mit sich selbst.«10

9 Eine Ordnungsrelation kann mathematisch auf ℂ  definiert werden, aber dieser Aspekt ist für die hier angesprochene Problematik irrelevant. Es ist, selbst auf der intuitiven Ebene, verwunderlich, dass die aufeinanderfolgenden Verallgemeinerun­ ℤ ℚ  zusammen mit den irrationalen Zahlen ℝ  die Ordnungsrelation gen ℕ ›aufbewahren‹, während in der Verallgemeinerung ℝ ℂ  die Relation nicht mehr besteht: für jede reale Zahl können wir die kleinere bzw. die größere Zahl angeben, aber nicht für komplexe Zahlen! 10 In diesem Kontext der Präsentation sind die Ausdrücke: »Ähnlichkeit«, »Ver­ gleich«, »Relation« nicht mathematisch konnotiert, sondern verweisen auf ihr natür­ liches Verständnis in der Umgangssprache.

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Synonymie und Analogie

Die nächste Annahme hat, auch aus der Perspektive der Legiti­ mität (der Möglichkeit) von Synonymien und Analogien, ihre Natür­ lichkeit, ihre Selbstverständlichkeit. Wenn eine Einheit Ei  auch ver­ gleichbar ist (allgemeiner: in Relation) mit einer Einheit E j,  werden wir akzeptieren, dass auch umgekehrt, die Einheit E j  vergleichbar ist (in Relation steht) mit der Einheit Ei , im Verhältnis mit der allererst ausgedrückten Beziehung.11 Auch hier stellt die Annahme eine vereinfachende Hypothese der Analyse dar. Die dritte Annahme ist für unser Anliegen die interessanteste. Sollte eine Einheit Ei  in einer Beziehung (Ähnlichkeit, Vergleich) mit einer Einheit E j  stehen und E j  ihrerseits mit der Einheit Ek , dann stehen auch Ei  und Ek  in gleicher Relation. Eine wichtige Bemerkung soll hier festgehalten werden: in Abwesenheit dieser Annahmen oder Hypothesen wäre die Anwen­ dungssphäre der Synonymie und der Analogie in ihrer gewöhnlichen (ursprünglichen) Bedeutung wenngleich nicht unmöglich, auf jeden Fall problematisch, schwierig und letztlich sehr begrenzt. Die somit simplifizierte Herangehensweise macht eine konsistente Diskussion zur Problematik der Legitimität und der Grenzen von Synonymie und Analogie allererst in der hier ausgeführten Form möglich. Wenn die erste Annahme relativ wenig Gegenbeispiele zulässt, sind diese im Falle der zweiten und dritten Annahme in großer Zahl vorhanden. Nichtsdestotrotz, wenn diese Gegenbeispiele die Gültigkeit der drei Thesen im Ganzen infrage stellen, entfernt sich unsere Analyse auf unfruchtbare Weise, wie es sich zeigen wird, zumindest von einem wichtigen Typus der begrifflichen Klärung von Synonymie und Analogie. Ihre Geltung hat eine zweifache Wirkung: einerseits sinkt mit ihnen das Risiko forcierter Synonymien und Analogien und andererseits werden berechtigte Wege freigelegt für die Analysis von Legitimität und Grenzen in der Formulierung von Synonymien und in der Feststellung von Analogien. 11 Die vorherige Bemerkung wird hier wieder aufgenommen, diesmal mit Bezug auf die mathematische Ordnungsrelation und den Begriff der »geordneten Menge«, in welcher die Elemente paarweise »vergleichbar« sind, aus der Perspektive der Ord­ nungsrelation. Im Kontext der Fallstudie stellt das Diskursuniversum der rationalen Zahlen eine solche total geordnete Menge dar. Wie werden auf diese mathematischen Aspekte hier verzichten müssen, sie verdienen dennoch der analytischen Rigorosität halber Erwähnung.

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3. Synonymie und Analogie – eine synthetische Darlegung des hierzu anzuwendenden mathematischen Formalismus Das Diskursuniversum bildet die Menge M . Definition: Es seien M und N  zwei Mengen. Als binäre Relation zwischen den Elementen der Mengen M und N  wird ein geordne­ tes System (Tripel)ρ =

M ,

Co − domäne

N

, R

 , wo R  eine Teil­

menge des kartesischen ProduktesM × N : R ⊆ M × N . Wenn N = M  dann ist ρ = M, M, R   eine homogäne binäre Relation. Domäne

Graph

Formelle Darstellung

Es sei ρ = M, N, R   eine binäre relation und x ∈ M, y ∈ N : x, y ∈ R .  xρy Definition: Es sei ρ = M, N, R   eine binäre Relation und es seiX ⊆ M . Es sei der Schnitt der Relation ρ  nach der Teilmenge X  des Definitions­ bereiches M  und ρ X   die folgende Teilmenge der Co-Domäne: ρ X = y ∈ N ∃x ∈ X  ∧ xρy ⊆ N .  Es seiX = x ⊆ M . Partikulär wird definiert, der Schnitt der Relation ρ  nach dem Element x ∈ M  des Definitionsbereiches M : ρ x = ρ x = y ∈ N xρy ⊆ N .  Definition: Eine binäre homogene Relation ρ = M, M, R   ist abhän­ gig von den folgenden Eigenschaften der logischen Implikation: ●

reflexiv: [in Worten:] »Wenn für jedesx ∈ M , x  ist in Rela­ tionρ mit x .«

Formal (wenn für jedes x ∈ M  die Implikation stattfindet): ∀x x ∈ M xρx .  ●

transitiv: [in Worten:] »Wenn für jedes x, y, z ∈ M  [(!) die in Relation ρ  stehen die Implikation gilt:

Formal:

xρy ∧ yρz

xρz . « 

∀x ∀y ∀z xρy ∧ yρz

xρz . 

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Synonymie und Analogie



symmetrisch [in Worten:] »Wenn für jedes x, y ∈ M  die Implika­ tion stattfindet:

xρy



yρx . « 

∀x ∀y xρy

Formal:

yρx . 

antisymmetrisch [in Worten:] »Wenn für jedes x, y ∈ M  die Implikation stattfindet:

xρy ∧ yρx

x = y . « 

∀x ∀y xρy ∧ yρx x = y .  Definition: Es sei eine Äquivalenzrelation eine binäre homogene Relation ρ = M, M, R   reflexiv, transitiv und symmetrisch. Es sei M  eine Menge und ρ = M, M, R   eine Äquivalenzrelation auf M . Definition: Es seix ∈ M . ρ x = y ∈ M xρy ⊆ M,  ist die Äquivalenzklasse des Elements x  im Verhältnis zur Äquiva­ lenzrelation ρ . Ein jedes Element aus ρ x   ist ein Repräsentant der Äquivalenz­ klasseρ x  . Definition: Es seiρ ∈ E M  . Es sei die Quotientenmenge (oder Faktormenge) der Menge M  im Verhältnis zur Äquivalenzrelation ρ  die Menge (M/ρ ): M/ρ = ρ x x ∈ M .  Definition: Es sei M ≠ ∅ . Wir definieren als Partition der Menge M  die Familie φ = Mi i ∈ I  der nichtleeren Teilmengen vonM , Teil­ mengen, die folgende Bedingungen verifizieren: Formal:

i  M =

i∈I

Mi ,   I − Indexmenge ; 

ii  Mi ≠ M j Mi ∩ M j = ∅ ; sau Mi ∩ M j ≠ ∅ Sprachkonventionen: ● ●

Mi = M j . 

für die Bedingung M = ⋃i ∈ I Mi  : »φ  ›deckt‹ die Menge M . « ; für die Bedingung Mi ≠ M j Mi ∩ M j = ∅ : »Die Teilmengen der Familie φ = Mi i ∈ I  sind paarweise disjunkt.«.

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4. Vorbemerkungen zur Fallstudie mellen Repräsentierung: ℚ = m n m, n ∈ ℤ,  n ≠ 0 ,  als Fraktions­ körper der Fraktionen ›rationale Zahlen‹ definiert. Als Relation zwischen den Fraktionen ›rationale Zahlen‹ (ab jetzt: Fraktionen) sei die »Gleichheitsrelation " = "  ”. Die Relation: »Gleichheit der/ zwischen Fraktionen« ist eine »algebraische Äquivalenzrelation«. Wir skizzieren im Folgenden den abstrakten algebraischen Teil bezüg­ lich der Einführung der rationalen Zahlen. Sei ℤ  die Menge gan­ In der Fallstudie wird die Menge der rationalen Zahlen, in der for­

zer Zahlen und sei ℤ × ℤ∗ das kartesische Produkt. Sei auf ℤ × ℤ∗  die Relation " "  definiert, so: a, b c, d a ∙ d = c ∙ b . a b

c d

Produkt aus ℤ

Die Relation " "  ist eine Äquivalenzrelation. Die Einführung der Fraktionen stellt eigentlich eine algebraische Konstruktion neuer ›mathematischer Gegenstände‹ dar. Ohne einen mathematischen Kommentar in einem strikt algebraischen Sinn zu formulieren, kann man sich hier so ausdrücken, dass es dabei um die Konstruktion unterschiedlicher mathematischer Gegenstände geht, die aber einen einzigen mathematischen Gegenstand vermeinen, in einer anderen Repräsentierung; zum Beispiel: 12 1 wo 2 Repräsentation als Fraktion

0,5;   24

0,5

0,5;   13 26

0,5  usw.,

 . In einer semioti­

dezimale Repräsentation

schen Sprachauffassung hieße dies eine Einführung oder die ›Kon­ struktion‹ unterschiedlicher Ausdrucksweisen, allerdings mit der gleichen Bedeutung. Die philosophisch nuancierten Ausdrucksweisen können weiter fortgesetzt werden: »unterschiedliche Formen für den gleichen Gegenstand« usw. Was uns hier interessiert, ist lediglich der linguistisch-semiotische Aspekt. Ohne die mathematische Rigorosität aufzugeben, aber ohne hier eine eigentliche algebraische Demonstration vorzuführen, ist es einer rein natürlichen Betrachtungsweise offensichtlich, dass die Gleich­ heitsrelation zwischen Fraktionen (generell abstrakt die Relation " ) eine Äquivalenzrelation darstellt, angesichts ihrer:

294

c • Reflexivität: ba = ba  ; • Symmetrie: ba = dc = ba  ; d a • Transitivität: ba = dc   ∧ dc = ef = ef  . b

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Synonymie und Analogie

Im Verhältnis zu dieser Äquivalenzrelation 23  und  10 15  , beziehungs­

9 weise 35  und  15   sind Teil der gleichen Äquivalenzklassen: 2 = C 2 = …, 2 , 4 , 6 , 10 , …, 12 , …, 202 , … ,  3 3 6 9 15 303 18 3 beziehungsweise 3 = C 3 = …, 3 , 6 , 9 , …, 45 , … ,  5 5 10 15 75 5 Wir bemerken, dass jedwelches Glied einer Äquivalenzklasse konventionell gewählt werden kann, zur Abkürzung als Reprä­

=

=

2 3

sentant derselben Äquivalenzklasse. Demzufolge sei:

C2 3

C4 6

C 202   usw. 303

=

4 6



Zur Präzisierung der Faktormenge (Quotientenmenge) notieren wir im Folgenden einige Äquivalenzklassen: ................................................................, C 1 = …, 1 , 2 , …, n n , … ,  1 2 1 ................................................................., C 1 = …, 1 , 2 , …, 13 , …, 207 , … ,  5 10 1035 65 5 2 4 6 12 C 2 = …, , , , …, , …, 202 , … ,  3 6 9 303 18 3 3 6 9 45 300 , … ,  3 C = …, , , , …, , …, 5 10 15 75 500 5 ................................................................., Oder, in einer anderen Symbolsprache für die oben abgebildeten Äquivalenzklassen: 11 , 15 , 46 , 300 500  . Die Faktormenge (Quotientenmenge) im Verhältnis zu dieser Äquivalenzrelation sei ℤ × ℤ∗ " = "  wo:

ℤ × ℤ∗ /"=" = …, C 1 , …, C 1 , …, C 2 , …, C 3 , … , 

ℤ × ℤ∗ /"=" = …, Sei folgende Partition:

1

Oder anders symbolisiert:

1 1

i  ℤ × ℤ∗ /"=" =

ii  C a ≠ C c b

d

, …,

5

1 5

, …,

3

4 6

, …,

5

300 500

, …  .

C m  ;   m ∈ ℤ,  n ∈ ℤ∗ , 

C a ∩ C c = ∅ ; a, c ∈ ℤ,  b, d ∈ ℤ∗ .  b

n

d

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295

Marcel Bodea

● ●

  deckt die Mengeℤ × ℤ∗ /"=" ;

∗ n m ∈ ℤ,  n ∈ ℤ m die Äquivalenzklassen C   sind paarweise disjunkt. n

die Familie C m

Alle Elemente einer Äquivalenzklasse haben die gleiche Bedeutung auf der Ebene der rationalen Zahlen (in dezimaler Repräsentation). (In diesem Sinn wird der »rational«-quantitative Aspekt verwahrt, beibehalten und die Lesart wird eine einzige sein in dezimaler Repräsentation: »die rationale Zahl 0,6 ” für jeden der Repräsentan­ ten der ÄquivalenzklasseC 3  , beispielsweise.) Wir bemerken, dass: 2 4 6 3, 6, 9



C 2  und   23 3

=

4 6

5 = 69   eine Relation zwischen Fraktionen dar­

stellt. Wir bestimmen für diesen Fall die sprachliche Konvention: Fraktionen „=” Worte. So besehen, wenn wir aus dem Wortschatz einer Sprache einen gewissen Vorrat an Worte schöpfen und diesen nach Synonymien gruppieren, gewinnen wir Gruppen synonymer Worte ›lexikale Äquivalenzklassen‹, und, im Wesen, ein Synonymwörter­ buch, das aus diesen ganzen Gruppen synonymer Ausdrücke besteht, wobei das Buch selbst »die Faktormenge, Quotientenmenge)« reprä­ sentiert. Auf dieser linguistischen Ebene kann einem Synonymwör­ terbuch eine algebraische Struktur nachgewiesen werden: es ist »eine Faktormenge des Wortschatzes im Verhältnis zu einer (möglichen) Äquivalenz (in einem algebraischen Sinn), zwischen Wörtern.«!12 Im Rahmen einer Sprache ist die Synonymie als abstrakte, dennoch spe­ zifische sprachliche Relation bestimmend für eine gewisse Weise der Strukturierung des Wortschatzes, nämlich als Synonymwörterbuch. Soweit die Konvention bezüglich der Limitierung der Synonymie auf die gleiche Bedeutung von Worten besteht bzw. die Einschrän­ kung der lexikalen und algebraischen Analysis nur auf diesen einen Aspekt, kann man die Behauptung aufstellen, dass der Ausdruck: »die 12 Wir meinen hier lediglich eine suggestive, alternative Ausdrucksweise im Kontext des ›Natürlichen‹ und des ›Algebraischen‹ und nicht eine Begründung für das Vor­ handensein einer eventuellen Äquivalenzrelation in einem algebraischen Sinn, was den Wortschatz oder das explikative Wörterbuch einer Sprache nicht erschöpft. Mehr als dies: Korrespondenzen im Sinne des »Synonymwörterbuches«–»Faktormenge« müssen nicht in allen Details übereinstimmen; nicht alle Wörter besitzen die gleiche Anzahl an Synonymen usw. Wie bereits erwähnt, Ziel dieser Untersuchung ist nicht die mathematische Rekonstruktion oder Ummodellierung des Wortschatzes (oder des Synonymwörterbuches), sondern der Versuch, einen Fall der Mathematik semiotisch zu interpretieren, um so zu einer begrifflichen Klärung innerhalb der Beziehungen von Synonymie und Analogie vorzuschreiten.

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Synonymie und Analogie

Beziehung der Synonymie als lexikale Äquivalenz« einen formalen Korrespondenten hat in dem der »algebraischen Beziehung der Äqui­ valenz«. »Die algebraische Äquivalenzrelation« soll hier eine Hypothese (oder Bedingung) darstellen, die Hypothese der Konkordanz von Sinn, aufgrund derer die Elemente einer Äquivalenzklasse mit identi­ scher Bedeutung als ›Synonyme‹ bezeichnet werden können. Wenn die Philosophie eine Tätigkeit der begrifflichen Klärung darstellen soll,13 so sind die deskriptiven Veränderungen sprachlicher Ausdrü­ cke, wie beispielsweise die algebraische Beschreibung der Synonymie, für dieses Unternehmen durchaus ergiebig. Innerhalb einer Menge von Synonymen kann der eine Ausdruck dem anderen vorzuziehen sein, je nach Bereich der Anwendung (es ist hier von Bedeutung, ob wir einen stilistisch-literarischen oder einen technisch-mathematischen Kontext wählen). Eine Äquivalenzklasse ist eine Menge mit mehreren Elementen, die untereinander distinkt, bzw. unterschiedlich sind. In einer Äquivalenzklasse kann jede Frak­ tion eine andere Fraktion ersetzen (mathematisch ausgedrückt, sie gilt als Repräsentant derselben Äquivalenzklasse). Wir können in diesem Falle von Synonymie sprechen: so sind beispielsweise 23   und 4 6 

synonyme ›Termini‹. Aus einem linguistischen Standpunkt sind Fraktionen einer Äquivalenzklasse eine Form lexikaler Äquivalenz, da sie verschiedene Modi (der Sinn eines Ausdrucks) für die gleiche Bedeutung anbieten: eine rationale Zahl in dezimaler Repräsentation. Diese Fraktionen sind untereinander in einem gegebenen formellen Kontext (Rahmen) substituierbar, ohne dass sich auf mathematischer Ebene Änderungen ergeben würden. Dass in der mathematischen Sprache der Terminus »Synonymie« zwischen den Elementen einer Äquivalenzklasse eingeführt wird, stellt keineswegs eine mathematische Notwendigkeit dar, da die Eigenschaft dieser Elemente, der gleichen Äquivalenzklasse anzuge­ hören und untereinander substituierbar zu sein, bereits als ein rein mathematischer Aspekt besteht. In unserem Fall ist jeder rationa­ len Zahl, dezimal ausgedrückt, eine Menge Fraktionen (Äquivalenz­ klasse) zugeordnet, die sie repräsentiert. Es verbleibt dem Beschrei­ 13 ”[…] Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und ver­ schwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.« (Wittgenstein – Tractatus P 4.112, S. 32). .

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benden der rationalen Zahl (in dezimaler Form) diese durch die eine oder andere Fraktion zu repräsentieren und sich für die eine oder andere Repräsentation zu entscheiden, eine Wahl die, wie es sich zei­ gen wird, durchaus nicht indifferent ist.

5. Fallbeispiel Wir stellen in dem, was folgt, eine Aufgabe vor, die ein sprachliches Problem, eine Frage der ›Lesart‹, illustriert. Sei »das Wort« (die Fraktion) 15  . Wie ʹlesenʹ wir »das Wort« (die Fraktion) 15  ? Eine mögliche

Lesart für 15   ist »eins durch fünf«; eine andere mögliche Lesart, in einer alternativen mathematischen symbolischen Repräsentation, die

explizit unterschiedlich ist, wäre: 1 ∙ 15 = 15   »ein Fünftel«. Sei »das Wort« (die Fraktion) 35  . Wie ʹlesenʹ wir »das Wort« (die Fraktion) 53  ?

Eine mögliche Lesart für 35   ist »drei durch fünf«; und wiederum, die andere mögliche Lesart in einer alternativen mathematischen symbolischen Repräsentation wäre: 3 ∙ 15 = 35   bzw. »drei Fünftel«.

ʹDie Worteʹ (die Fraktionen) 15  und  35   haben unterschiedliche Bedeu­ tungen: 15 = 0,2 beziehungsweise   35 = 0,6 .

2 Sei jetzt ʹdas Wortʹ (die Fraktion) 10  . Wie ʹlesenʹ wir »das Wort«

2 2  ? Eine mögliche Lesart für 10   ist »zwei durch zehn«; (die Fraktion) 10 die andere mögliche Lesart, in einer alternativen mathematischen

1 2 symbolischen Repräsentation: 2 ∙ 10 = 10   ist »zwei Zehntel«. Es sei jetzt die folgende mathematische Beobachtung auf der Ebene expli­ zit unterschiedlicher, alternativer symbolischer Möglichkeiten von

2 1 Repräsentation angestellt: 15 = 1 ∙ 15 = 22 ∙ 15 = 10 = 2 ∙ 10 = 0,2 . Somit hätten die Ausdrucksweisen: »eins durch fünf«; »ein Fünftel«; »zwei durch zehn«; »zwei Zehntel« die gleiche Bedeutung. Es gibt Kontexte, in denen stillschweigend gewisse Regeln des Umgangssprachlichen ihre Geltung erhalten. Zum Bespiel nehmen wir die logische Äquivalenz: p q ¬p ∨ q . 

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Synonymie und Analogie

Sei p: »Zwei Menschen lieben einander. ” und q: »(Zwei Menschen) heiraten«. Es gibt einen sprachlichen Geltungshintergrund für die Lesart p q : »Wenn zwei Menschen einander lieben, dann heiraten sie.« Die alternative Lesart ¬p ∨ q : »Zwei Menschen lieben einander nicht, aber (oder) sie heiraten« entspricht keiner Lesart, die einem umgangssprachlichen Geltungshintergrund geläufig wäre.14 Genauso gilt innerhalb von quantitativ-qualitativen Ausdrucksweisen eine natürliche Orientierung in Richtung der Qualität eher als in die der Quantität. Zum Beispiel, in Ausdrücken wie »drei Birnen«, »drei verdächtige Typen« wird das Interesse eher auf »Birnen« oder »verdächtige Typen« gerichtet als auf die »drei«.15 Diese Richtung der Analyse hat mit Sicherheit klärende Funktionen, wir werden sie dennoch hier nicht weiterverfolgen. Wir erwähnten sie nur, um den Kontrast zu markieren zu einer relationalen Angehensweise der Sprache im Falle der Synonymie und der Analogie. Hinsichtlich des bisher Ausgeführten wollen wir ein weiteres Beispiel betrachten, das die angesprochenen Aspekte nochmals abbil­

6 1 1 1 det: 32 = 15 10 = 4 = 3 ∙ 2 = 15 ∙ 10 = 6 ∙ 4  . Die verschiedenen Lesar­

ten: »drei Hälften«; »fünfzehn Zehntel«; »sechs Viertel« können mathematischen Lesarten entsprechen, die auf verwirrender Weise auf Differenzen der Signifikanz hin orientieren: über »Hälften 12

1  ”, »Zehntel 10  ”, »Viertel 14  ”) werden wir von der mathemati­ schen faktischen Situation abgelenkt, nämlich die einer einheitli­ chen Bedeutung, die notwendigerweise auf den quantitativen Aspekt Bezüglich dieses klassischen Beispieles muss präzisiert werden, dass es sich dabei um eine kulturelle Situation handelt, die Wertvorstellungen enthält (bz. Liebe, Familie, usw.). Wenn aber eine gewisse Wertneutralität eintritt, kann man trotzdem im Kontext der Lesart die logische Bedeutsamkeit des Ausdrucks als erhalten erfahren; die Alternativen gibt es nur auf der Ebene des Sinns, des Ausdrucks. Wenn wir ein anderes Beispiel wiederaufnehmen, dann entspricht die Lesart: »Wenn eine Zahl durch vier teilbar ist, dann ist diese auch durch zwei teilbar«.«" " »Eine Zahl ist nicht durch vier teilbar, aber ist teilbar durch zwei.« einer neutralen und gar nicht ungewöhnlichen mathematischen Lesart. Die logisch-semantischen Aspekte werden hier nicht in Betracht gezogen, sie müssen aber genannt werden als eine zum relationalen Verständnis alternative Möglichkeit der Annäherung an die Synonymie und an die Analogie. 15 Im Interesse der Analyse werden diese problematischen Aspekte im definierten logisch-semantischen Horizont einfach als wahr angenommen und stellen ebenfalls vereinfachende Bedingungen dar für die hier vorgeschlagene Diskussion. 14

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Marcel Bodea

1 Bezug nimmt 3 ∙ 12 ;  15 ∙ 10 ; 6 ∙ 14 etc .  ʹ. Die Differenzen betreffen hier nur den Sinn, den Ausdruck einer bestimmten Lesart. Trotzdem ist es leicht festzustellen, dass die Behauptung einer Synonimie zwischen den Ausdrücken »drei Hälften«, »fünfzehn Zehntel«, »sechs Viertel« auf den ersten Blick eher unnatürlich erscheint. Wenn wir die mathematische Perspektive über eine relationale Lesart verändern und indem wir mithilfe der Äquivalenzrelation das Diskursuniversum entsprechend strukturieren, dann werden die Interpretationen auf der sprachlichen Ebene entlastet und aus der mathematischen Perspektive adäquater, was unser analytisches Inter­ esse betrifft. Dieses versuchen wir in dem, was folgt, zu zeigen. Sei die Äquivalenzklasse:

1 2 13 207 , … = 0,2  C 1 = …, , , …, , …, 5 10 1035 65 5 0,2 0,2

0,2

0,2

2 13 Die Fraktionen der Äquivalenzklasse C 1     : …, 15 , 10 , 65 , …  haben ins­ 5

gesamt die gleiche »gegenständlich-mathematische Referenz«, die gleiche Bedeutung:0,2 . Dieser Aspekt wird nochmal unterstrichen, wobei auch die Aspekte wichtig werden, die den Sinn betreffen, die unterschiedlichen Modi der Bezeichnung der Referenz, der Bedeu­ tung: • die rationale Zahl in dezimaler Bezeichnung 0, 2  (»die Bedeu­ tung«) kann durch unterschiedliche Fraktionen (»Sinn«) repräsentiert 2 207 werden; • die Äquivalenzklasse C 1 = …, 15 , 10 , …, 13 65 , …, 1035 , …   5 (semiotisch ausgedrückt) enthält eine Menge distinkter Sinneinhei­ ten für die gleiche Bedeutung (Referenz).

300 https://doi.org/10.5771/9783495998199 .

Synonymie und Analogie

Beispiele.

2 ▫ Wir formulieren folgende Sätze: »Sei die rationale Zahl 10  .« und »Sei

207 die rationale Zahl 1035 . « Der zweite Satz kann aus dem ersten durch eine Substitution der Fraktionen gewonnen werden. Die substituier­ ten »Worte« haben die gleiche Bedeutung (gegenständlich-mathema­ tische Referenz), aber die Modalität des Ausdrucks ist unterschiedlich und in dieser Hinsicht ist auch der Sinn dieser Sätze ein anderer. Wenn wir die Menge der rationalen Zahlen konstruieren (als Diskursuni­ versum), sind innerhalb dieser die genannten Fraktionen (›Wörter) auch unterschiedlich. ▫ Wir formulieren folgende Sätze: »Die Lösung der Gleichung 7 ,  x = 35x − 7 = 0  ist die rationale Zahl 35

7 35

Ausdrucksweise ändern, »Die Lösung der Gleichung 35x − 7 = 0  ist

 .« und, indem wir die

1491 die rationale Zahl 1491 7455 ,   x = 7455  .«. Die Sätze haben die gleiche mathematische Bedeutung hinsichtlich der angebotenen Lösung, der Ausdruck bedient sich dennoch verschiedener ›Wortlaute‹. Zusammengefasst: die bedeutsamste Charakteristik des Satzes »Die Lösung der Gleichung 35x − 7 = 0  ist die rationale Zahl q  .« = 0,2

ist die Tatsache, dass dieser nicht nur mathematisch wahr für q  an sich ist, und zwar auf der Ebene der mathematischen Bedeutung des Wortes »Lösung«, sondern der Satz bleibt mathematisch wahr im Verhältnis zu allen Ausdrucksmöglichkeiten, die in einem Verhältnis von Synonymie mit den Elementen einer Äquivalenzklasse stehen (nämlich die, welche q  aus ℚ  assoziiert wird). Auf diese Weise berechtigen uns die angegebenen Beispiele, die Wörter für die Fraktionen einer bestimmten Äquivalenzklasse als Synonyme zu behandeln, in dem Sinne, wie Synonymie in der Umgangssprache oder im Wörterbuch verstanden wird. Unsere mathematische Fallstudie hingegen macht eine spezielle Sicht auf die Synonymie deutlich, nämlich die Betrachtung dieses Verhältnisses als »relationale und strukturelle Konsequenz«: die Konsequenz einer algebraischen Äquivalenzrelation und, implizit, der entsprechenden Strukturierung des Diskursuniversums durch Äquivalenzklassen und Partition (Teilmenge, Faktormengen). Demzufolge sind alle Repräsentanten einer bestimmten Äquiva­ lenzklasse, linguistisch gesprochen, in dem semantischen Verhältnis der Synonymie.

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C 1 = …, 1 , 2 , …, n n , … ,  1 2 1 Synonyme

C 1 = …, 1 , 2 , …, 13 , …, 207 , … ,  5 10 1035 65 5 Synonyme

C 2 = …, 2 , 4 , 6 , …, 12 , …, 202 , … ,  3 6 9 303 18 3 Synonyme

C 3 = …, 3 , 6 , 9 , …, 45 , …, 300 , … ,  5 10 15 75 500 5 Synonyme

Zusammengefasst: Die Fraktionen einer Äquivalenzklasse haben die gleiche gegenständlich-mathematische Referenz, die gleiche ›Bedeu­ tung‹; sie sind distinkte, unterschiedliche ʹWörterʹ: distinkt, weil sie in unterschiedlicher Weise (qua unterschiedlichem ›Sinn‹) die Referenz/Bedeutung ausdrücken können und sie sind synonym in solchen Sätzen, in denen aus einem mathematischen Standpunkt die Bedeutung diejenige ist, auf die es im Wesen ankommt. Um über Synonyme sprechen zu dürfen, müssen Wörter von gleicher Bedeutung vorhanden sein. Dieses ist eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Synonymien. Im Folgenden wollen wir für die Exemplifizierung von Analogien im Kontext mathematischer Fallstudien16 das Beispiel einer Doppe­ 16 Das im Test genannte Beispiel versucht die mit Bezug auf die Analogie bereits formulierten Aspekte zu illustrieren und den Rahmen dessen zu umgrenzen, was innerhalb der Analyse zusätzlich zum Begriff der Analogie gedacht werden kann.

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Synonymie und Analogie

lung der relational-mathematischen Grundlage anführen: Die Ana­ logie zeigt sich einerseits als Konsequenz einer Äquivalenzrelation, welche die »Ähnlichkeit« gewährleistet, und andererseits als eine der Ordnungsrelation, welche die »Differenz« verantwortet. Die Analogie stellt hier den Vergleich dar zwischen Elementen eines bestimmten Diskursuniversums, die als zusammengehörig betrachtet werden im Kontext (›Horizont‹) einer Äquivalenzrelation; die Elemente werden differenziert als eine Konsequenz der Äquivalenzrelation bzw. der Zugehörigkeit zu verschiedenen Äquivalenzklassen. So wurde hier ein Beispiel gewählt, das die Analogie zwischen zwei rationalen Zahlen betrachtet qi und q j : • der erste Aspekt zielt auf die Möglichkeit (die Legitimität) der Analogie: Ist die Möglichkeit eines Vergleichs gegeben?; und, im Falle einer Beja­ hung: •• sind es die gleichen – bzw. die eine und selbe ratio­ nale Zahl qi =  q j  , aber als Form unterschiedlich (qua Fraktionen-

aj a Ausdrucksformen qi = bi ,  oder qi = b ; oder ai ≠ a j,  bi ≠ b j    [mit i

j

unterschiedlichem Zähler oder bzw. Nenner], die derselben Äquiva­ lenzklasse angehören)?; ••• wenn, schließlich, die Zahlen als ratio­ nale Zahlen distinkt sind qi ≠  q j   worin besteht der Unterschied

qi >  q j oder qi <  q j  ? Im Kontext der Analogie wird dieser letzte Aspekt vervollständigt durch den komplementären Bezug zur Syn­ onymie, bzw. durch die Substitution durch ein Synonym. ●

Der erste Aspekt.

Ist es möglich, die rationalen Zahlen qi und  q j  zu vergleichen? Die Menge der rationalen Zahlen ℚ  ist eine total geordnete Menge, was heißt, dass jedwelche zwei ihrer Elemente paarweise vergleich­ bar sind, beziehungsweise, sie befinden sich in der angenomme­ nen Ordnungsrelation für  ∀ qi,  q j ∈ ℚ gilt qi ≥ q j oder qi ≤  q j  . In einer allgemeinen Ausdrucksweise gilt für diesen Fall, dass die Ele­ mente paarweise in einem Verhältnis der Analogie stehen können. (Es existieren Diskursuniversen, in welchen einige Elemente in ein Ver­ hältnis der Analogie treten können und andere nicht. Zum Beispiel ist in der Menge der natürlichen Zahlen ℕ  das Verhältnis der Teilbarkeit gleichzeitig eine Ordnungsrelation, aber die Menge ℕ  ist selbst keine total geordnete, d. h. es befinden sich nicht alle natürlichen Zahlen im Verhältnis einer ›Vergleichbarkeit durch die Teilbarkeit‹, sie treten nicht innerhalb dieser Ordnungsrelation auf.)

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Der zweite Aspekt (••) bezieht sich in Fortsetzung der Analyse auf Synonymien innerhalb gleicher Äquivalenzklassen. ••• Die Situation qi ≠  q j 

Seien zwei rationale Zahlen qi und q j,  deren Repräsentation als 38 Fraktionen: 29 13   für qi , bzw. 17   für q j . (Bemerkung. Wenn die Divi­ sion ausgeführt wird, so ist das Ergebnis – die Referenz oder die dezimale ›Bedeutung‹– mit einer Annäherung von zwei Dezimalstel­ lenqi = 2,23 , bzw.q j = 2,23 .) Welche Ordnungsrelation besteht zwi­ schen qi und q j , oder anders ausgedrückt, welche Zahl ist ›größer‹ und welche ›kleiner‹? Wenn auch andere synonyme Ausdrucksweisen der­ selben Äquivalenzklassen arbiträr hinzugezogen werden (d. h., wenn ein anderer ›Repräsentationssinn‹ vermittelt wird durch synonyme 29 29 4 29 ∙ 4 Wörter/Ausdrücke), beispielsweise: 116 52 = 13 ∙ 1 = 13 ∙ 4 = 13 ∙ 4   38 38 5 38 ∙ 5 fürqi , bzw. 190 85 = 17 ∙ 1 = 17 ∙ 5 = 17 ∙ 5   für q j , wird es im Anschluss unmöglich, die Zahlen zu vergleichen. Es können hingegen bestimmte synonyme Ausdrucksweisen bzw. Fraktionen der gleichen Äquivalenzklasse gewählt werden. Wir suchen daher eine bestimmte Ähnlichkeit, d. h., wir bewe­ gen uns auf der Ebene von synonymen Ausdrucksweisen hinsicht­ lich des Sinngehaltes, indem wir Fraktionen auswählen, die beiden Äquivalenzklassen angehören. Beispielsweise können wir eine Annä­ herung der Sinngehalte bewirken, indem wir Fraktionen auswäh­ len, die den zwei Äquivalenzklassen mit der Bestimmung ›gleicher Nenner‹ gehören (dies geschieht klassischerweise, indem wir den Nenner einer Fraktion mit dem Nenner der anderen multiplizie­

29 17 29 ∙ 17 493 ren). Wir erhalten also: 29 13 ∙ 1 = 13 ∙ 17 = 13 ∙ 17 = 221   für qi , bzw. 38 13 38 ∙ 13 494 38 17 ∙ 1 = 17 ∙ 13 = 17 ∙ 13 = 221   für q j . ʹ Die Annäherung der Sinn­ gehalteʹ will hier bedeuten, dass wir Ähnlichkeiten im Ausdruck erhalten, indem wir entsprechende Synonyme aus beiden Äquiva­ lenzklassen auswählen, in unserem Falle Fraktionen, die den gleichen a Nenner haben:qi = bi ,  bi = 221;  qi = i

aj ,  b j bj

= 221 . In dieser Weise

494 rationalen Zahlen qi und q j  statt, wobei qi = 493 221  und q j = 221  . Beim

findet der Vergleich (ʹdie Konsistenzʹ der Analogie) zwischen den

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Synonymie und Analogie

Vergleich wird sofort einsichtig: q j > qi . Diese Vergleichsmöglichkeit war dennoch am Anfang nicht gleich gegeben.17 Wir bemerken den für die hiesige Analyse von Synonymie und Analogie interessanten Aspekt: die Substitution (die Umformulie­

38 rung) durch Synonyme der Ausdrücke/Wörter 29 13  bzw .   17   gab der Analogie (in der vereinfachten Bedeutung des gesamten analytischen Kontextes) zwischen den Elementen qi und q j  einen Inhalt, eine Kon­ sistenz. Eine letzte allgemeine Bemerkung sei an dieser Stelle noch gestattet bezüglich der Möglichkeit von Vergleichen zwischen unter­ schiedlichen Synonymen und, komplementär, deren Nutzen für den Bau und die Konsistenz von Analogien.18 Wir können nur in solchen Fällen vergleichen, wenn es eine sprachliche Ebene gibt, die den Vergleich überhaupt zulässt. Die Bedingungen der Existenz und die Grenzen dieser sprachlichen Ebenen stellen Ergebnisse einer Analyse dar, die tiefgreifende philosophisch-analytische Konsequenzen trägt. In dem hier angeführten Fallbeispiel wurden die mathematischen Darstellungen möglich dank der algebraischen Struktur der ›Körper‹ mathematischer Gegenstände (»rationaler Zahlen«). Zu beachten sind beide, die Gegenstände und die Struktur. In anderen Fällen, wenn wir beispielsweise die gleiche algebraische Struktur, aber andere mathematische Gegenstände vergleichen wollen, kann dies unmög­ lich sein, wie im Falle des Körpers komplexer Zahlen. Analogien zu behaupten, macht Sinn nur aufgrund von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die auf die eine oder andere Weise miteinander in Kor­ Ein ähnliches linguistisches Phänomen findet statt in der Alltagssprache, wenn wir Wörter mit verwandtem oder ähnlichem Sinn verwenden, als funktionale Äquivalen­ zen in der Argumentation oder im Ausdruck. Der literarische Nutzen von Synonymen, beispielsweise die stilistische Vermeidung von Wiederholungen und der formale Nutzen können unterschiedlich ausfallen. Wir sind im Text nicht auf den stilistischen Nutzen der Beziehung der Synonymie eingegangen, die für die Konstruktion von Analogien auf verschiedenen Sprachebenen Konsequenzen hat, sondern es wurde der demonstrative Nutzen hervorgehoben, innerhalb eines formellen Sprachgebrauches in der Mathematik. 18 Für die mathematische Fallstudie bedeutet diese Möglichkeit, dass Synonyme ›aufgestellt‹ und verglichen werden können: einerseits, da die Möglichkeit besteht, Fraktionen, neue ›Wörter‹ zu bilden, dass also eine Äquivalenzrelation zwischen Fraktionen existiert und andererseits, dass diese verglichen werden können, dass also auch eine Ordnungsrelation zwischen Fraktionen besteht (all dies bezüglich der ›Worte‹ des Diskursuniversumsℚ ). 17

305

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relation gebracht werden können, d. h. aufgrund von Äquivalenzen und Ordnungen, die real existieren und somit Wahrheit beanspru­ chen können.

6. Schlussfolgerung Synonymie und Analogie wurden im vorliegenden Text einer begriff­ lichen Klärung aus der Perspektive der algebraischen Äquivalenz- und Ordnungsrelation unterzogen. Die Grundhypothese der Fallstudie lautet: ›Die Begriffe Synonymie und Analogie haben eine relationale und eine strukturelle Grundlage, letztere als Konsequenz der ers­ ten.‹ Die Fallstudie versucht nahezulegen, unter welchen restriktiven Bedingungen auf der Ebene der Relationen und Strukturen für ein gegebenes Diskursuniversum allein bestimmte Synonymien möglich und allein bestimmte Vergleiche durch Analogie legitim sind.

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Zu den Autoren

Damir Barbarić ist emeritierter Professor am Institut für Philoso­ phie in Zagreb. Er war Gastprofessor an den Universitäten Wien, Frei­ burg i. Br. und Berlin sowie Gastforscher u. a. an den Universitäten Oxford, Padua, Tübingen und an der Bayerischen Akademie der Wis­ senschaften in München. Autor zahlreicher Monographien und Arti­ kel sowie Herausgeber vieler Sammelbände in Kroatien und im Aus­ land. – Zur Philosophie Platons auf Deutsch: (Hrsg.) Plato. Das Gute und die Gerechtigkeit, 2005; Annäherungen an Platon, 2009; Chora. Über das zweite Prinzip Platons, 2015. Auf Kroatisch: Die Politik der Platonischen »Gesetze«, 1986 (2., überarb. Aufl. 2009); Platons »Politeia«. Buch VI. und VII. Einl., Übers. u. Komm., 1991 (2., erw. Auflage 1995); Skladba svijeta. Platonov »Timej« [Die Weltgefüge. Pla­ tons »Timäus«].Kroat. Übers., Einl. u. philologisch-philosophischer Komm., 2017. – Auswahl neuerer Veröffentlichungen auf Deutsch: Im Angesicht des Unendlichen. Zur Metaphysikkritik Nietzsches, 2011; Die Sprache der Philosophie, 2011; Wiederholungen, 2015; Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers, 2016; »Die große Disso­ nanz, mit der alles Anfängt«. Zur Philosophie Schellings, 2021. Marcel Bodea ist Dozent an der Fakultät für Geschichte und Philo­ sophie der »Babeș-Bolyai«-Universität Cluj, Abteilung für Philoso­ phie. Studium der Mathematik, Physik, Theologie und Philosophie mit Schwerpunkt Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie. Er ist der Verfasser mehrerer interdisziplinärer Studien, darunter: Eine ana­ lytische Perspektive auf das Verhältnis wissenschaftliches Wissen/reli­ giöses Wissen (orig. O perspectivă analitică asupra raportului cunoaştere ştiinţifică / cunoaştere religioasă«, in: Filosofie şi Religie, Cluj, 2001, S. 55–73, Chaos und Determinismus aus der Perspektive der Empfindlichkeit gegenüber den Anfangsbedingungen. Ein erkennt­ nistheoretischer Ansatz (orig. Haos şi determinism din perspectiva sensibilităţii la condiţii iniţiale. O abordare epistemologică – in Studia universitatis Babeș-Bolyai, Philosophia, XLVII, 2 / 2002, S. 33– 49, »Mathematical Time in Classical Mechanics. An Epistemological

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Perspective« in: PHILOBIBLON – Journal of the Lucian Blaga Central University Library, Band XV-2010, Cluj University Press, 2010, S. 119–138; »Some Operations in the Class Algebra of NBG to Make Different Mathematical Objects«, in LOGOS ARCHITEKTON -Jour­ nal of Logic and Philosophy of Science, Vol. 7. 2013, (ed. V. Drăghici), Cluj University Press, 2013; »The explication of religious Knowledge From religious Language to secular Language«, pp. 531–544 in vol. Lintner M. Martin (Ed.), God in Question -Religious Language and Secular Languages [Proceedings of the ESCT Congress 2013 Brixen/ Bressanone], Verlang A. Weger, Brixen/Bressanone, 2014; »Theo­ logical and Scientific Metaphors. A Philosophical Critique: The Dif­ ficulties of a Dialogue Based on Metaphors«, in Studia universitatis Babeș-Bolyai, Philosophia, XLVII, 2 / 2002,L XI 2016 (vol. 61), 1 April / 2016, pp. 111–127. Johannes Brachtendorf, geb. 1958. Studium der Philosophie, Katholischen Theologie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Bochum, Berlin, Regensburg, Wien und Tübingen. Dissertation über »Fichtes Lehre vom Sein«, Habilitationsschrift: »Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate.« Seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für philoso­ phische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Herausgeber der lateinisch-deut­ schen Gesamtausgabe der Werke Augustins: »Augustinus. OperaWerke«. Gastprofessuren in Villanova (USA), Innsbruck (Österreich), Santiago de Chile (Chile), Kyoto (Japan) und Peking (VR China). Elenio Cicchini ist Postdoc-Fellow bei der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut in Rom. Er hat seine Promotion an der Universi­ tät Cagliari 2018 absolviert und war 2019–20 Stipendiat beim Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel. Er ist Autor von Essays über die Sprache der Poesie, den Begriff von Maske und Person sowie über das theologische Paradigma der Nachahmung. Von W. Benjamin hat er das mit A. Lacis verfasste Essay Neapel, die Briefe aus Capri (Goethe Grant 2021) und den Brief­ wechsel mit E. Auerbach ins Italienische übersetzt und herausgege­ ben. Er ist Autor von Der mimische Charakter. Mimus und Mimesis in der Philosophie Platons (in »Platonic Mimesis Revisited«, Acade­ mia 2021).

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Zu den Autoren

Virgil Ciomoș war Philosophieprofessor und Direktor des Fach­ bereichs Philosophie an der »Babeș-Bolyai«-Universität in ClujNapoca, Gastprofessor an den Universitäten Paris I, Panthéon-Sor­ bonne, Paris Est-Créteil, Poitiers, Lyon III Jean Monnet, assoziierter Forscher des CRHIA (Zentrum für Hegel-Forschung und deutschen Idealismus der Universität in Poitiers) und des MCHA (Zentrum für metaphysische Forschung: Begriffe, Geschichte, Gegenwart des Katholischen Instituts in Toulouse), internationaler Experte und Mit­ glied des Ausschusses »Grundrechte« der AUF, Paris (Hochschula­ gentur der Francophonie) und Mitglied der EPFCL, Paris (Psychoana­ lytische Schule des Lacanianischen Forums). Er war Mitbegründer und Präsident der Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie und des Europäischen Kollegs. Forschungsgebiete: Aristotelianismus, Transzendentalphilosophie, Phänomenologie und Psychoanalyse. Bücher: Timp și eternitate Aristotel, Fizica IV, 10–14. Interpretare fenomenologică (1998), Conștiință și schimbare în Critica rațiunii pure. O perspectivă arhitectonică asupra kantianismului (2006), De la experiența sublimului la starea de excepție (2006), Être(s) de pas­ sage (2008). Ion Copoeru (PhD, habil.) ist Professor für moderne Philosophie, Phänomenologie und angewandte Ethik an der »Babeş-Bolyai«-Uni­ versität in Cluj-Napoca. Seine Forschungsinteressen liegen vor allem in den Bereichen Phänomenologie (Intersubjektivität, Alltäglichkeit, Recht und Normativität, Süchte und Gewalt) und Berufsethik mit Schwerpunkt auf den Berufen des Rechts und des Gesundheitswesens. Er ist Autor von Aparenţă şi sens [Übers. Erscheinung und Bedeutung] (2000) und Structuri ale constituirii [Übers. Strukturen der phänome­ nologischen Konstitution] (2001), Herausgeber oder Mitherausgeber mehrerer Sammelbände, wie Phänomenologie 2005, Bd. III (mit Hans Rainer Sepp) (Bukarest, 2007), Phänomenologie 2010, Bd. III (mit P. Kontos und A. Serrano) (Zeta Books, 2011), Recherches phénoménologiques actuelles en Roumanie et France (mit Alexander Schnell) (Olms, 2006) und Autor oder Mitautor einer Reihe von Artikeln und Buchkapiteln zu den oben genannten Themen. Karen Gloy ist emeritierte Professorin für Philosophie und Geistes­ geschichte an der Universität Luzern. Seit 2002 war sie zudem stän­ dige Gastprofessorin an der Universität Wien und hat Lehrtätigkeiten

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an der LMU München und der Universität Ulm wahrgenommen. Stu­ dium der Philosophie, Germanistik, Physik, Psychologie und Kunst­ geschichte an den Universitäten Hamburg und Heidelberg. For­ schungsgebiete: antike Philosophie, Kant, Idealismus, moderne Philosophie, Rationalitätstheorien, Zeittheorien, Naturphilosophie. Buchpublikationen: Bewusstseinstheorien (1998, 3. Aufl. 2004); Rationalitätstypen (1999), Das Analogiedenken (zusammen mit Manuel Bachmann, 2000); Vernunft und das Andere der Vernunft (2001); Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft (2002); Wahrheitstheorien (2004); Grundlagen der Gegenwartsphilosophie. Eine Einführung (2006), Zeit. Eine Morphologie (2006), Wahrneh­ mungswelten (2011); Was ist die Wirklichkeit? (2015); Philosophie zwischen Dichtung und Wissenschaft anhand von Rainer Maria Ril­ kes ›Duineser Elegien‹ (2020); Das Projekt interkultureller Philoso­ phie aus interkultureller Sicht (2021) u. v. a. Michael Heidelberger ist pensionierter Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Logik und Wissenschaftsphilosophie der Natur­ wissenschaften an der Universität Tübingen. Vor 2001 war er Pro­ fessor für Naturwissenschaften und Naturphilosophie an der Hum­ boldt-Universität zu Berlin. Gastprofessuren in Genf (1988), Ulm (1991), Forschungsaufenthalt an der Princeton University (1976), Visiting Fellow am Center for Philosophy of Science der Univer­ sity of Pittsburgh (1998/99). Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsphilosophie (Kausalität und Wahrscheinlichkeit, Philo­ sophie des Experiments, Messung, Modellbegriff), Geschichte der Wissenschaftsphilosophie (Physik, Sinnesphysiologie und Psycholo­ gie im 19./20. Jhdt.), Logischer Empirismus, Philosophische Logik, Philosophie und Geschichte des Leib-Seele-Problems, Kognitions­ wissenschaft und Erkenntnistheorie. Wichtige Veröffentlichungen: Die innere Seite der Natur: Gustav Theodor Fechners wissenschaft­ lich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt, 1993 (Nature from Within: Gustav Theodor Fechner's Psychophysical Worldview, über­ setzt von Cynthia Klohr, University of Pittsburgh Press, 2004), Cau­ sal and Symbolic Understanding in Historical Epistemology, Erkennt­ nis 75 (3), 2011, From Mill via von Kries to Max Weber: Causality, Explanation, and Understanding« (in: Historical Perspectives on Erklären and Verstehen, hrsg. von Uljana Feest, Heidelberg/ London: Springer 2010), Applying Models in Fluid Dynamics, (in: International Studies in Philosophy of Science 20 (1), 2006), Origins of the Logical

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Zu den Autoren

Theory of Probability: von Kries, Wittgenstein, Waismann, (in: Interna­ tional Studies in the Philosophy of Science 15 (2), 2001). Dietmar Koch hat Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Tübingen studiert und ist seit 1990 Wissenschaftlicher Angestell­ ter am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, dort zugleich seit 1990 Lehrtätigkeit als Dozent, Vorsitzender der »Tübin­ ger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie« ebenfalls seit 1990. Herausgeber zahlreicher Publikationsreihen im Morphé-Ver­ lag Tübingen (vormals Attempto Verlag). Arbeits- und eigene Publi­ kationsgebiete: Antike Philosophie, Deutscher Idealismus, Herme­ neutik, Phänomenologie, Geschichte der Philosophie, Philosophie der Kunst. Dalia Nassar ist Professorin für Philosophie an der Universität von Sydney. Ihre Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle zwischen der Geschichte der deutschen Philosophie und der Umweltphilosophie und -ethik. Ihre Monographie, Romantic Empiricism: Nature, Art, and Ecology from Herder to Humboldt (2022) untersucht die Tradition des romantischen Empirismus, hebt seine Bedeutung für die Entwicklung der Ökologie hervor und argumentiert für seine zeitgenössische Rele­ vanz bei der Behandlung von Umweltfragen. Gemeinsam mit Kristin Gjesdal hat sie zwei Bände über Philosophinnen herausgegeben, darunter eine Anthologie von Primärwerken mit dem Titel Women Philosophers in the Nineteenth Century: The German Tradition (2021). Alina Noveanu ist Dozentin an der Fakultät für Geschichte und Philosophie der »Babeș-Bolyai«-Universität Cluj, Abteilung für Phi­ losophie. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Phänomenologie, deutsche Philosophie der Neuzeit und Gegenwart, Poststrukturalis­ mus. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel und Studien in rumänischer und deutscher Sprache. Monographien schrieb sie zu Platon, Platon, triumful intrebarii (2008), Hans Georg Gadamer Arta interpretarii – dialogurile hermeneutice ale lui Hans Georg Gadamer (2010), Martin Heidegger Vernehmen, Wahrnehmen, Sinngeschehen, Heideggers Her­ meneutik der Gelassenheit (2021) und Hörenkönnen. Zum Verhältnis von Geschichtlichkeit und Leiblichkeit bei Martin Heidegger. (2021) Mit Dietmar Koch ist sie Mitherausgeberin der Reihe Poiesis – Philosophie-Dichtung-Bild. Sie ist Mitglied der Redaktion der Studia universitatis Babeș-Bolyai, Philosophia.

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Manuel Schölles hat in Tübingen Philosophie, Allgemeine Rhetorik und Griechische Philologie studiert. In seiner Heidelberger Disserta­ tion bei Anton Friedrich Koch »Harmonie – Zahl – Mimesis. Archytas und die Frage nach der Vielheit« widmete er sich der Frage, wie der Pythagoreer Archytas aus Tarent, der bereits an der Schwelle zu einem neuen von Platon begründeten Denken steht, mit dem Rätsel der Pluralität umgegangen ist. Die Forschungsschwerpunkte von Manuel Schölles sind die klassische antike Philosophie und die Phänomenologie Heideggers sowie zeitdiagnostische Grenzthemen wie Pessimismus und ökologisches Denken. Heute arbeitet er als freier Autor und als Referent im Bereich Klimaschutz und Energiepo­ litik in München. Simon Schüz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau), bald: Rheinland-Pfälzische Technische Universität (RPTU). Studium an den Universitäten Mainz, Tübingen und Yale. Forschungsschwer­ punkte: Klassische deutsche Philosophie, Transzendentalphilosophie und das Denken Heideggers. Jüngste Publikationen: Transzendentale Argumente bei Hegel und Fichte: Das Problem objektiver Geltung und seine Auflösung im nachkantischen Idealismus, Berlin/Boston: De Gruyter 2023; „Wie auf die Seinsfrage antworten? Heideggers Preisgabe der ontologischen Differenz“, in: Koch et al. (Hrsg.), Zur Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, Tübingen: Morphé (in Vor­ bereitung). Nicoletta Di Vita ist Postdoc-Stipendiatin beim Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel. Sie wirkt einer Forschung über Klage und Klagelied aus philosophischer Perspektive mit. Nach dem Studium der Philosophie in Bologna, Freiburg i. Br. und Berlin ist sie in Padua und an der École Normale Supérieure in Paris mit einer Dis­ sertation über Hymnen und Philosophie promoviert worden. Sie ist Autorin von Essays über Poesie, antike Philosophie, zeitgenoßische Ästhetik, Sprachphilosophie und Übersetzerin aus dem Deutschen (M. Kommerell, Gedanken über Gedichte) und dem Französischen (É. Benveniste, Dernieres Leçons). Veröffentlichungen: Hostis, hospes. Lo straniero e le ragioni del conflitto (Neapel: IISF Press, 2020, Hrsg.); Il nome e la voce. Per una filosofia dell’inno (Vicenza: Neri Pozza, 2022).

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Zu den Autoren

Niels Weidtmann hat Philosophie, Politik und Biologie an der Universität Würzburg und der Duke University in den USA studiert. Promotion mit einer Arbeit zur Philosophie der Interkulturalität bei Heinrich Rombach. Anschließend war er einige Jahre Mitarbeiter der Studienstiftung des deutschen Volkes und Wissenschaftlicher Refe­ rent im Bundespräsidialamt. Im Jahr 2006 hat er die wissenschaftliche Leitung des Center for Interdisciplinary and Intercultural Studies (vor­ mals Forum Scientiarum) der Universität Tübingen übernommen und ist ebendort seit 2020 Direktor des College of Fellows. Im Jahr 2016 hatte Weidtmann eine Gastprofessur an der Universität Wien inne, seit dem Jahr 2019 ist er Präsident der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Philosophie, Phänomenologie und Hermeneutik, Strukturphilosophie und Philo­ sophische Anthropologie. Autor des Buches Interkulturelle Philoso­ phie. Aufgaben – Wege – Dimensionen (Tübingen 2016). Zahlreiche Publikationen in den Gebieten der Interkulturellen Philosophie und der Phänomenologie. Herausgeber mehrerer Publikationsreihen.

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