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German Pages 392
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1235
Alle Macht den Kammern? Die Kompetenzverteilung zwischen Senaten und Kammern im Annahmeverfahren und ihre praktische Handhabung am Bundesverfassungsgericht
Von Karsten Adler
Duncker & Humblot · Berlin
KARSTEN ADLER
Alle Macht den Kammern?
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1235
Alle Macht den Kammern? Die Kompetenzverteilung zwischen Senaten und Kammern im Annahmeverfahren und ihre praktische Handhabung am Bundesverfassungsgericht
Von Karsten Adler
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Sommersemester 2012 als Dissertation angenommen. An erster Stelle möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Uwe Volkmann ganz herzlich für die Betreuung und die äußerst schnelle Erstellung des Erstgutachtens bedanken. Darüber hinaus möchte ich ihm für die Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl, das gute Arbeitsklima und den Freiraum danken, den ich dort haben durfte. Ohne diese Rahmenbedingungen hätte ich die Dissertation nicht verfassen können. Ebenso gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Dieter Dörr für die sehr zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Zudem möchte ich mich bei meinen beiden Kollegen am Lehrstuhl, Herrn Tobias Schweitzer und Herrn Thorsten Wörner, für die gute Zusammenarbeit und die menschlich angenehme Atmosphäre bedanken. Mein besonderer Dank gilt unserer Sekretärin, Frau Stephanie Averbeck-Rauch, die während meiner Zeit am Lehrstuhl in allen Lebenslagen ein offenes Ohr für mich hatte und mich unermüdlich beim Korrekturlesen der Manuskripte unterstützte. Danken möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen am Fachbereich bzw. im Dekanat sowie allen anderen, die mich auf vielfältige Weise unterstützt und so zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken – für alles. Ihnen ist die Dissertation gewidmet. Hervorheben möchte ich meine Mutter, die mich über die Jahre des Studiums, Referendariats und der Promotion immer in jeglicher Hinsicht unterstützt hat, wofür ich tiefe Dankbarkeit empfinde. Lahnstein, im Januar 2013
Karsten Adler
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 20
B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 1. Das erste Änderungsgesetz zum BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das zweite Änderungsgesetz zum BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das dritte Änderungsgesetz zum BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das vierte Änderungsgesetz zum BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Gesetz zur Änderung des BVerfGG und des deutschen Richtergesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das fünfte Änderungsgesetz zum BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Stellungnahme zur historischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens . . . . 1. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfassungspolitische Kritik am Annahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . 5. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die aktuelle gesetzliche Konzeption des Annahmeverfahrens im BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren in der Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren im Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schwachstellen des Annahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kammer und dem Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Präsidialräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der fehlende Begründungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die verkappten Annahmebeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidung durch die Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23 24 26 26 27 28 30 31 33 34 35 38 38 40 42 47 50 51 53 53 55 58 60 62 66 67 67
8
Inhaltsverzeichnis
VI.
b) Die offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung . . . . . . . . . bb) Existentielle Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Besonders schwerer Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung durch die Senate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 71 73 75 76 78 81
C. Die Untersuchungsprämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 I. Einteilung in thematisch zusammenpassende Grundrechtsbereiche . . . 83 II. Die Erledigungen im Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Untersuchungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Die Bewertungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Die Mahrenholzsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Regeln und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Eine Frage der Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren . . . . . . . I. Feststellungen zur Einleitung der rechtlichen Ausführungen in den Kammerbeschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtannahmebeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonders schwerer Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . (1) BVerfGK 3, 319 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . (3) BVerfGK 10, 374 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . (5) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Inhaltliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Spannungsverhältnis zur Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) BVerfGK 2, 102 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . .
102 102 103 105 107 108 109 109 110 110 111 111 113 113 116 116 118 119 119 120
Inhaltsverzeichnis
III.
(3) BVerfGK 8, 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . (5) BVerfGK 9, 231 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . (7) BVerfGK 12, 378 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . (9) BVerfGK 13, 472 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (10) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . (11) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 7, 168 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 9, 353 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ee) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonders schwerer Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zwischen praktischer Handhabung und dogmatischen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 6, 242 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unverletzlichkeit der Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 9, 287 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Elternrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 2, 185 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 6, 61 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGK 7, 65 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 121 123 123 125 126 128 129 131 132 132 132 135 136 139 140 140 142 143 144 145 145 147 148 149 150 152 153 156 157 158 159 161 162 164 165 167 167 169 169
10
Inhaltsverzeichnis IV.
V.
Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Religionsfreiheit und Schulpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 1, 141 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 8, 151 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ee) BVerfGK 9, 371 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) BVerfGK 10, 423 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ii) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Inhaltliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 2, 29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 12, 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGK 12, 440 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . gg) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage a) Die Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bedeutung der §§ 93a ff. BVerfGG im einstweiligen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) BVerfGK 2, 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) BVerfGK 4, 154 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) BVerfGK 11, 102 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Inhaltliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 1, 289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 8, 159 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 171 171 172 172 174 175 177 178 180 181 184 184 185 186 186 188 188 190 191 193 194 195 196 198 198 198 202 204 205 206 207 210 210 214 217 217 220 221
Inhaltsverzeichnis
VI.
dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGK 9, 442 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) BVerfGK 11, 29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Justizgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 1, 107 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war nicht entschieden . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 1, 201 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGK 2, 196 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) BVerfGK 6, 344 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Inhaltliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGE 5, 189 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 11, 235 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 3, 274 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 6, 380 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGE 7, 485 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) BVerfGK 10, 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) BVerfGK 11, 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . kk) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 223 224 226 226 227 228 229 230 230 232 233 233 234 235 236 238 239 240 241 242 243 243 244 245 246 248 249 249 250 252 254 256 256 258 259 261 261 263 263
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Inhaltsverzeichnis VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonders schwerer Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage a) Die Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 1, 240 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 3, 234 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ee) BVerfGK 4, 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . gg) BVerfGK 6, 156 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ii) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Schutz des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 4, 333 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 5, 50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BVerfGK 5, 217 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . gg) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Grundrechte der Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 1, 292 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 5, 250 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonders schwerer Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Existentielle Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage a) Der allgemeine Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGK 2, 275 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 265 266 268 270 271 271 274 275 277 277 279 280 282 282 284 284 286 287 289 290 292 293 294 295 297 298 299 300 306 306 307 308 308 309 309 310 310
Inhaltsverzeichnis
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bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . cc) BVerfGK 12, 298 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die besonderen Gleichheitssätze und Differenzierungsverbote aa) BVerfGK 9, 218 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BVerfGK 2, 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . ee) BVerfGK 7, 269 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden . . . . . . . . gg) Bewertende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Inhaltliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertende Zusammenfassung zur Entscheidungspraxis . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage a) Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . . . d) Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unverletzlichkeit der Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Elternrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . l) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Der Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Die Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . o) Der Schutz des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . p) Die Grundrechte der Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . q) Der allgemeine Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . r) Die besonderen Gleichheitssätze und Differenzierungsverbote
330 331 331 332 332 332 333 333 334 334 335 336 336 336 337 337 338 338 339 339
E. Die Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entlastungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konsequenzen der Entlastungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
340 342 349 350
IX.
311 313 314 315 318 318 321 321 324 325 327 328 328 330
F. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 G. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
14
Inhaltsverzeichnis
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn . . . . . . . . . . . . . . 3. Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Justizgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gleichheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369 371 371 372 373 373 374 375
Anhang II: Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . .
377
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Abkürzungsverzeichnis Abs. a. F. AöR Art. Aufl. Az BayVBl. BBG Bd. Beschl. BGB BGBl. BGH BNotO BR-Drucks. bspw. BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwG BVerwGE ders. DÖD DÖV DRiZ DVBl. ebd. Einl. EMRK EuGRZ f.; ff. FGO Fn. GG GOBVerfG
Absatz alte Fassung Archiv für öffentliches Recht Artikel Auflage Aktenzeichen Bayerische Verwaltungsblätter Bundesbeamtengesetz Band Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesnotarordnung Bundesratsdrucksachen beispielsweise Bundestagsdrucksachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts derselbe Der öffentliche Dienst Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende; fortfolgende Finanzgerichtsordnung Fußnote Grundgesetz Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts
16 HG NRW HRG Hrsg. i. S. d. i. V. m. JA JZ Kap. LBG MDR m. w. N. N.F. NJW Nr. NStZ NVwZ OVG RBerG Rn. S. SDÜ SGB StaatsR StGB StPO StVollzG TKG u. a. UWG v. VerfProzR VerfR VersG VG vgl. VwGO WEG z. B. ZBR ZPO ZRP
Abkürzungsverzeichnis Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen Hochschulrahmengesetz Herausgeber im Sinn des in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristenzeitung Kapitel Landesbeamtengesetz Monatsschrift für Deutsches Recht mit weiteren Nachweisen Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberverwaltungsgericht Rechtsberatungsgesetz Randnummer Seite Schengener Durchführungsübereinkommen Sozialgesetzbuch Staatsrecht Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafvollzugsgesetz Telekommunikationsgesetz unter anderem; und andere Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von; vom Verfassungsprozessrecht Verfassungsrecht Versammlungsgesetz Verwaltungsgericht vergleiche Verwaltungsgerichtsordnung Wohnungseigentumsgesetz zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik
A. Einleitung I. Gegenstand der Arbeit „Auf dem weiten Weg von der abstrakten Norm zur Entscheidung des Einzelfalls lässt sich abstrakt keine Grenze markieren, an der die alleinige Befugnis der Senate zur Konkretisierung des Verfassungsrechts endet und die Möglichkeit der Kammern beginnt, diese Konkretisierung nachvollziehend auf Einzelfälle, anzuwenden.“1
Alle Macht den Kammern? Zumindest die Zahlen aus der Statistik des Bundesverfassungsgerichts legen diesen Schluss nahe. Allein im Jahr 2011 wurden insgesamt 6.208 Verfahren am Gericht anhängig gemacht, davon waren 6.036 Verfassungsbeschwerden (97,22%). Die Kammern erledigten davon 5.718, die Senate hingegen nur 26. Die Erfolgsquote war jedoch verschwindend gering. Entschieden wurde über insgesamt 5.744 Verfassungsbeschwerden, wobei nur 93 erfolgreich waren. Das entspricht einer Quote von 1,62% und liegt im Durchschnitt der vorherigen Jahre2. Angesichts der hohen Eingangszahlen wird zweierlei offenbar: Zum einen stellen Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden den Löwenanteil der am Bundesverfassungsgericht zu bearbeitenden Verfahren dar und sorgen damit für die vielfach beklagte Überlastung des Gerichts3. Zum anderen zeigt sich die Beliebtheit der Verfassungsbeschwerde beim Bürger. Dies wirft die Frage auf, wie über sie entschieden wird, und lenkt den Fokus auf das Verfahren. Der Verfassungsgeber organisierte das Bundesverfassungsgericht als Gericht und somit als Teil der rechtsprechenden Gewalt4. Es reklamierte bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Status als Verfassungsorgan und bekleidet seitdem eine Doppelrolle5. Zudem sieht es sich selbst 1
Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 724, 732. Im Jahr 2010 waren es 1,71%, 2009: 1,88%, 2008: 1,90%, 2007: 2,45% und 2006: 2,31%. Auffallend ist die Quote im Jahr 1990 von 17,09% und im Jahr 1991 von 7,13%. Siehe zu den genannten Zahlen insgesamt die Jahresstatistiken unter http://www.Bundesverfassungsgericht.de/Organisation.html. 3 Böckenförde, ZRP 1996, 281, 282. 4 BVerfGE 40, 356, 360; 65, 152, 154. 5 Siehe Leibholz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. 6, S. 109, 144 f.; zu den Problemen, die mit dieser Doppelrolle einhergehen, siehe Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 9, 50 ff. 2
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A. Einleitung
als „Hüter der Verfassung“6, wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und ist letzte Instanz seiner Interpretation und Auslegung7. Die Ausgestaltung als Zwillingsgericht8 mit zwei Senaten brachte es mit sich, dass ursprünglich nur der erste der beiden Senate für die Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden zuständig war9. Trotz Einbeziehung des Zweiten Senats wurde das Gericht der steigenden Zahlen von Verfassungsbeschwerden nicht Herr10. Um die Arbeitsfähigkeit des Gerichts insgesamt zu erhalten, war der Gesetzgeber schon früh zum Handeln gezwungen. Bereits 1956 wurde mit der Einführung von § 91a BVerfGG ein Ausschuss, bestehend aus drei Richtern, zur Vorprüfung der Verfassungsbeschwerden geschaffen11. Das Vorprüfungsverfahren war geboren. Der Gesetzgeber reformierte dieses Verfahren über die Jahre hinweg immer wieder12. Aus dem Vorprü6 BVerfGE 1, 184, 195 ff.; 1, 396, 408 f.; 2, 124, 129; 6, 300, 304; 40, 88, 93; Regierungsbegründung BT-Drucks. 12/3628, S. 7; Leibholz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. 6, S. 109, 145. Kritisch zu dem Begriff des „Hüters der Verfassung“ Großfeld, NJW 1995, 1719, 1721. Das Grundgesetz kenne diesen Ausdruck nicht und gebe auch zu erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht bei den Grundrechten nicht unbedingt letzte Instanz sein soll. Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG enthalte den Hinweis, dass bei der Verletzung von Rechten durch die öffentliche Gewalt, soweit keine andere Zuständigkeit begründet ist, der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist. 7 Die wesentliche Funktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, für die Verwaltung, die Rechtsprechung und den Gesetzgeber, das Grundgesetz verbindlich auszulegen und Leitlinien für die künftige Verfahrensweise herauszubilden, BT-Drucks. 12/3628, S. 13; ähnlich Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/ Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 77, 84, der das BVerfG als Sprachrohr des Grundgesetzes bezeichnet. Einschränkend zur Auslegung des Grundgesetzes durch das BVerfG Isensee, JZ 1996, 1085, 1091. Demnach finde die Auslegung des Letztinterpreten nicht tabula rasa statt, sondern müsse auch die Vorabinterpretation und Zugaben durch Legislative und Exekutive beachten, die aufgrund ihrer stärkeren personalen demokratischen Legitimation besser zu diesen Zugaben berufen seien. 8 Schönberger, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 9, 17 ff., spricht von einem System von zwei Zwillingssenaten und weist darauf hin, dass diese Konstruktion im Vergleich zu anderen Ländern zwar unüblich ist, aber dafür im Einklang mit der deutschen Tradition steht. Kritisch zu dem Zwillingscharakter des Bundesverfassungsgerichts und der damit einhergehenden Möglichkeit der Manipulation der Zuständigkeit durch den Antragsteller die Begründung des Regierungsentwurfs für das erste Änderungsgesetz zum BVerfG, BT-Drucks. II/1662, S. 4 f. 9 So die Erstfassung des BVerfGG vom 12.03.1951, BGBl. I, S. 243. 10 Siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. I. 11 § 91a BVerfGG wurde durch das 1. Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21.07.1956, BGBl. I, S. 662, 663 f., eingeführt. 12 2. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfG vom 26.06.1959, BGBl. I, S. 297; 3. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfG vom 03.08.1963, BGBl. I, S. 589 f.; 4. Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21.12.1970, BGBl. I, S. 1765 ff.; Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
I. Gegenstand der Arbeit
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fungsverfahren wurde das Annahmeverfahren und aus den Vorprüfungsausschüssen gingen die Kammern hervor. Seine jetzige Ausgestaltung erhielt das Annahmeverfahren am 02.08.199313. Es hat die Aufgabe, zwischen der Bearbeitungskapazität des Bundesverfassungsgerichts und der Vielzahl der eingereichten Verfassungsbeschwerden einen Ausgleich zu finden14. Einige Bezeichnungen, die seine Funktion im Positiven und im Negativen bildlich verdeutlichen, lauten: „Schleusensystem“15, „Zugangshürden im Verfassungsbeschwerdeverfahren“16, „Selektion der Verfassungsbeschwerden“17, „Ventil gegen die Überflutung des BVerfG“18. Jede Verfassungsbeschwerde muss angenommen werden, bevor über sie in der Sache entschieden werden kann, § 93a Abs. 1 BVerfGG. Mit anderen Worten regelt das Annahmeverfahren den Zugang zum Bundesverfassungsgericht in Verfassungsbeschwerdeverfahren. Vor diesem Hintergrund ist seine konkrete Ausgestaltung für die Praxis von besonderer Bedeutung, während es in der universitären Ausbildung eher ein Schattendasein fristet19. Die oben genannten Zahlen offenbaren zudem die Rolle der Kammern. Sie erledigen den weit überwiegenden Teil der Verfassungsbeschwerden, um die Senate zu entlasten und die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu erhalten. Nach der gesetzlichen Konzeption der §§ 93a ff. BVerfGG sind sie bei ihren Entscheidungen auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung beschränkt20. Es besteht eine Senatsakzessorietät21 der Kammern. Denn die Maßstäbe ihrer Entscheidungen werden von beiden Senaten aufgestellt. Ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG noch nicht entschieden, sind nicht die Kammern, sondern die Senate zur Entscheidung berufen. Die Prüfung, ob dies der Fall ist, obliegt jedoch den Kammern, da sie den ersten Zugriff auf die Verfassungsbeschwerde haben. Es besteht somit die Gefahr einer Verselbstständigung der Kammern. Hermes fasst die und zur Änderung des deutschen Richtergesetzes vom 12.12.1985, BGBl. I, S. 2226 ff. 13 5. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfG vom 02.08.1993, BGBl. I, S. 1442 ff. 14 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 297. In diesem Zusammenhang weist Zuck, NVwZ 2011, 795 darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfassungsprozessrecht als Mittel zur Arbeitsentlastung nutzt. 15 Pestalozza, VerfProzR, 2. Aufl., S. 91. 16 Schlink, NJW 1984, 89. 17 Zacher, in: Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, S. 396. 18 Rupp-v. Brünneck, Sondervotum in: BVerfGE 42, 143, 154. 19 Siehe etwa den Hinweis zur Fallbearbeitung in Epping, Grundrechte, Rn. 205. 20 Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1364. 21 Der Begriff wurde übernommen von Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 431.
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A. Einleitung
zentralen Bedenken gegen die Spruchpraxis der Kammern unter dem Begriff der Verkammerung zusammen22. Es existiert somit ein Spannungsverhältnis zwischen der gesetzlichen Konzeption der §§ 93a ff. BVerfGG, die die Kammern auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung beschränkt, und der Praxis, nach der die Kammern den weit überwiegenden Teil der Verfassungsbeschwerden erledigen. Genau an dieser Stelle setzt die folgende Arbeit an. Beide Pole des Spannungsfeldes sollen untersucht werden. Zunächst wird der Frage nachgegangen, wie das Annahmeverfahren nach den §§ 93a ff. BVerfGG ausgestaltet ist, wobei die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen im Fokus stehen. Danach geht es, auf der Grundlage von ausgewählten Kammerbeschlüssen aus verschiedenen Bereichen, um die Frage, wie die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen durch die Kammern praktisch gehandhabt werden. Von besonderem Interesse ist hierbei der Umgang der Kammern mit dem Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Denn dahinter steht die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Senaten und Kammern. Es soll untersucht werden, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage tatsächlich bereits entschieden war. Dreh- und Angelpunkt sind die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe. In diesem Zusammenhang stellen sich mehrere Fragen: Verwendet die Kammer überhaupt Senatsmaßstäbe? Tragen die verwendeten Senatsmaßstäbe die konkrete Entscheidung? Gibt es Bereiche, in denen das Netz der Maßstäbe enger oder weiter ist?
II. Gang der Untersuchung Im ersten Teil (B.) der Arbeit werden die geschichtliche Entwicklung, die verfassungsrechtlichen Grundlagen, die jetzige gesetzliche Konzeption und die Schwächen des Annahmeverfahrens behandelt. Auf diese Weise werden das Annahmeverfahren und damit gleichzeitig der Ausgangspunkt der Untersuchung dargestellt. Im zweiten Teil (C.) werden die Untersuchungsprämissen vorgestellt, anhand derer die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren analysiert werden soll. Von besonderem Interesse ist hierbei das Annahmebzw. Stattgabeverhalten der Kammern in jeweils thematisch zusammenpassenden Grundrechtsbereichen, genauer gesagt im Bereich des Schutzes der Persönlichkeit des Menschen, der Religions-, Gewissensfreiheit- und Wissenschaftsfreiheit, der Kommunikationsgrundrechte, der Justizgrundrechte, der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung, der Gleichheitsrechte und 22
Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 724, 733.
II. Gang der Untersuchung
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schließlich im Bereich der politischen Beteiligungsrechte23. Eine umfassende Untersuchung der Kammerrechtsprechung kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Angesichts der Vielzahl der veröffentlichten und unveröffentlichten Entscheidungen wäre dies ein kaum zu bewältigendes Vorhaben, wie Hermes bereits zutreffend festgestellt hat24. Es wird daher nur anhand der Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgegangen, die in den Bänden 1 bis 13 von dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts herausgegeben wurden25. Erfasst wird damit der Zeitraum von Januar 2003 bis Mai 200826. Um dennoch einen Gesamtüberblick zu erhalten und mögliche Verzerrungen auszuschließen, wird kurz auf die Gesamtzahl der Verfassungsbeschwerden und Kammerbeschlüsse im Zeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 sowie auf die Erfolgsquote eingegangen. Zwar sind zwischenzeitlich weitere Bände mit Kammerentscheidungen erschienen, aufgrund der detaillierten Untersuchung kann aber davon ausgegangen werden, dass sich keine signifikanten Abweichungen zu den festgestellten Ergebnissen in dieser Arbeit zeigen dürften. In diesem Zusammenhang ist jedoch explizit darauf hinzuweisen, dass die von dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts herausgegebenen Bände wiederum selbst nur eine Auswahl und somit keinesfalls alle Entscheidungen enthalten. Es handelt sich um Annahmebeschlüsse oder begründete Nichtannahmebeschlüsse. Diese Kammerbeschlüsse wurden für eine Veröffentlichung ausgewählt, weil sie weiterführende, über den Einzelfall hinaus bedeutsame verfassungsrechtliche Aussagen und Entscheidungen enthalten27. Nicht erfasst werden jedoch die Beschlüsse, in denen die Annahme ohne Begründung abgelehnt wird. Vor diesem Hintergrund sind die gefundenen Ergebnisse nur teilweise repräsentativ. Es schließt sich das Untersuchungsprogramm an, in dem die Kriterien für die Analyse der praktischen Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen erläutert werden. Im dritten Teil (D.) der Arbeit liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung der praktischen Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraus23 Die Einteilung der Grundrechte in die genannten Bereiche orientiert sich grob an Hufen, StaatsR II, S. XI ff. 24 Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 733. 25 BVerfGK, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Eine Auswahl, herausgegeben vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Heidelberg. 26 Eine Übersicht der zwischen 1986 und 1998 publizierten stattgebenden Kammerbeschlüsse findet sich bei Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428 ff., 613 ff. 27 BVerfGK, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Eine Auswahl, herausgegeben vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Heidelberg, Bd. 1, S. V.
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A. Einleitung
setzungen der §§ 93a ff. BVerfGG. Genauer gesagt der Tatbestandsmerkmale angezeigt, der offensichtlichen Begründetheit und der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage. Untersuchungsgegenstand sind vor allem die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse der Kammern in den jeweiligen Grundrechtsbereichen. Die praktische Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen durch die Kammern wird nach den im Untersuchungsprogramm vorgestellten Kriterien bewertet. Entsprechendes gilt für die Analyse des Tatbestandsmerkmals der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage28. Schließlich werden sich aus den Kammerentscheidungen ergebende inhaltliche Tendenzen, die über den konkreten Einzelfall, im Hinblick auf die aufgeworfene Rechtsfrage, hinausgehen, ebenfalls aufgezeigt und eingeordnet. Im vierten Teil (E.) wird die Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes behandelt. Von besonderem Interesse sind hier die Vorschläge der sog. Entlastungskommission, die der damalige Bundesminister der Justiz Schmidt-Jortzig im Sommer 1996 einsetzte. Vor diesem Hintergrund und den Ergebnissen der Untersuchung im dritten Teil (D.) wird ein eigener Vorschlag zur Ausgestaltung des Annahmeverfahrens präsentiert. Schließlich werden im letzten Teil (G.) die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und bewertet.
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Siehe die Ausführungen unter C. III. 2.
B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden Der folgende erste Teil befasst sich mit den Grundlagen des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht. Zunächst wird die historische Entwicklung nachgezeichnet, die maßgeblich von fünf Änderungsgesetzen zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz sowie dem Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und des deutschen Richtergesetzes geprägt wurde. Danach geht es um die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens im Allgemeinen und um das Spannungsverhältnis zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG im Besonderen. Weiterhin werden die aktuelle gesetzliche Konzeption des Annahmeverfahrens im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und der praktische Ablauf erläutert. In diesem Zusammenhang wird zwischen dem Verfahren in der Kammer und im Senat differenziert. Einige Schwachstellen des Verfahrens werden ebenfalls thematisiert, namentlich die Zuständigkeitsverteilung zwischen Kammern und Senaten, die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Präsidialräte, der fehlende Begründungszwang bei Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG sowie die verkappten Annahmebeschlüsse. Schließlich werden die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen der §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG untersucht.
I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens von den Vorprüfungsausschüssen1 zu den Kammern ist schon vielfach ausführlich beschrieben worden2. Sie soll an dieser Stelle zum Verständnis kurz chronologisch zusammengefasst werden. 1
Anstelle der Bezeichnung Vorprüfungsausschüsse ist auch der Begriff DreierAusschuss geläufig, da immer drei Richter einen Ausschuss bildeten, Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 40. 2 Eine sehr ausführliche Darstellung der historischen Entwicklung des Annahmeverfahrens findet sich bei v. Bally, § 1, S. 3 ff. und Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 9 ff. Siehe ebenfalls Faller, in: Festschrift für Benda, S. 43, 56 ff.; Graf Vitzthum, in: Festschrift für Bachof, S. 293, 294 ff.; Graßhof, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 3 ff.; Gehle, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 2 ff.; Heyde, in: Festschrift für Kutscher, S. 229, 230 ff.; Pestalozza, VerfProzR, 3. Aufl., § 12 Rn. 1 ff.; Zacher, in: Festgabe
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
In seiner ursprünglichen Fassung vom 12.03.19513 enthielt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine ausschließliche Zuständigkeit des Ersten Senats für Verfassungsbeschwerden und normierte sie auch mit § 14 BVerfGG direkt im Gesetz. Änderungen in der Geschäftsverteilung bedurften somit eines Eingreifens des Gesetzgebers4. Zudem bestand nur die Möglichkeit, eindeutig unzulässige oder offensichtlich unbegründete Verfassungsbeschwerden durch einstimmigen Senatsbeschluss zu verwerfen (§ 24 BVerfGG). Die beiden Senate waren damals mit je zwölf Richtern besetzt. Insgesamt bewirkten die aufgeführten Regelungen und die Größe der Senate eine Schwerfälligkeit des Gerichts, die seine Funktionsfähigkeit gefährdete5. Die Ausgestaltung hatte außerdem zur Folge, dass der Erste Senat mit 2893 Verfahren völlig überlastet war, während der Zweite Senat nur 29 Verfahren zu bearbeiten hatte6. Die beschriebenen Zustände zwangen den Gesetzgeber zum Handeln, sollte das Bundesverfassungsgericht funktionsfähig bleiben. Die nachfolgende Darstellung der Entwicklung des Annahmeverfahrens beschränkt sich auf die Änderungsgesetze zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz und deren maßgebliche Neuerungen für das Verfahren7. 1. Das erste Änderungsgesetz zum BVerfGG Das erste Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 21.07.19568 führte mit § 91a BVerfGG9 ein Vorprüfungsverfahren ein. aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, S. 396, 410 ff. und den Bericht der Entlastungskommission, S. 33 ff. 3 BGBl. I, S. 243. 4 Kritisch zu dieser Konstruktion siehe BT-Drucks. II/1662, S. 4 f. Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht darauf gedrungen, seine Geschäftsverteilung selbst regeln zu können, BT-Drucks. II/1662, S. 6. 5 Siehe Faller, in: Festschrift für Benda, S. 56. 6 Gerechnet von der Errichtung des Gerichts im September 1951 bis zum 28.02.1955, BT-Drucks. II/1662, S. 5. 7 Zu den ebenfalls in diesen Kontext gehörenden Plenarbeschlüssen des Bundesverfassungsgerichts, die auf der Grundlage von § 14 Abs. 4 BVerfGG ergangen sind und die Zuständigkeit der Senate abweichend von § 14 Abs. 1 bis 3 BVerfGG regeln können, siehe die ausführliche Darstellung bei Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 9 ff. Die Plenarbeschlüsse überlagern mittlerweile die gesetzlich vorgesehene Zuständigkeitsverteilung des § 14 Abs. 1 bis 3 BVerfGG aufgrund der großen Überlastung des Gerichts mit Grundrechtssachen, so Herzog, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 899. 8 BGBl. I, S. 662. Im Hinblick auf die Anzahl der Änderungsgesetze ist auf Folgendes hinzuweisen: Es gab fünf Gesetze, die ausschließlich Änderungsgesetze zum BVerfGG waren und diesen Titel trugen. Das Gesetz vom 12.12.1985, BGBl. I, S. 2226, trug den Titel: Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfG und zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes. Das nachfolgende Änderungsgesetz vom
I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens
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Die Senate bildeten Vorprüfungsausschüsse, die unter den gleichen Voraussetzungen wie sie selbst die Verfassungsbeschwerde verwerfen konnten10. Eine Verwerfung setzte nach § 91a Abs. 2 BVerfGG a. F. voraus, dass weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten war, noch dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstand. Es handelte sich somit um ein vereinfachtes Verwerfungsverfahren vor den Vorprüfungsausschüssen, da die Ausgestaltung des Verfahrens nur der Verwerfung und nicht der Annahme der Verfassungsbeschwerde diente11. Zusätzlich wurde § 14 BVerfGG, der die Geschäftsverteilung der Senate regelte, um einen vierten Absatz erweitert. Dem Gericht wurde selbst die Möglichkeit eingeräumt, von der gesetzlich geregelten Geschäftsverteilung abzuweichen, wenn dies aufgrund einer nicht nur vorübergehenden Überlastung eines Senats unabweislich notwendig geworden war12. Schließlich sah das Gesetz eine Reduzierung der Richter in beiden Senaten von zwölf auf acht vor. Aufgrund der großen Rückstände des Ersten Senats erfolgte die Reduzierung jedoch gestaffelt. Bis zum 31.08.1956 sollte die Anzahl der Richter pro Senat bei zwölf und bis zum 31.08.1959 bei zehn Richtern bleiben13. 02.08.1993, BGBl. I, S. 1442, trug den Titel: 5. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das BVerfGG. Es ist daher auch möglich, wie Faller, in: Festschrift für Benda, S. 44, bereits vom sechsten Änderungsgesetz zu sprechen, siehe Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 9. 9 Der Wortlaut des § 91a BVerfGG lautete: (1) Ein aus drei Richtern bestehender Ausschuss, der von dem zuständigen Senat für die Dauer eines Geschäftsjahres berufen wird, prüft die Verfassungsbeschwerde vor. Jeder Senat kann mehrere Ausschüsse berufen. (2) Der Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss die Verfassungsbeschwerde verwerfen, wenn weder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist noch dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht. Einigt sich der Ausschuss nicht, so kann der Senat die Verfassungsbeschwerde aus diesen Gründen mit einfacher Mehrheit verwerfen. (3) § 24 Satz 2 findet entsprechende Anwendung. 10 Nach der Regierungsbegründung BT-Drucks. II/1662, S. 14, stand das writ of certiorari-Verfahren vor dem U.S. Supreme Court Pate für das Vorprüfungsverfahren. Siehe dazu die Ausführungen unter B. I. 7. 11 Siehe Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 21. Es handele sich im Grunde um ein „Ablehnungsverfahren“, so Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 260. Die Regierungsbegründung BT-Drucks. II/1662, S. 15, spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Entscheidung im Zulassungsverfahren nur auf Zulassung oder Nichtzulassung lauten kann. 12 BGBl. I, S. 662. 13 Siehe Art. 2 Abs. 1 des 1. Gesetzes zur Änderung des BVerfGG vom 21.07.1956, BGBl. I, S. 662, 665. Ebenso die Regierungsbegründung BT-Drucks. II/1662, S. 7.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
2. Das zweite Änderungsgesetz zum BVerfGG Nur drei Jahre später, am 26.06.195914, folgte das zweite Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Die Anzahl der Richter von zehn pro Senat wurde bis zum 31.08.1963 beibehalten und nicht, wie eigentlich durch Art. 2 Abs. 1 des ersten Änderungsgesetzes ab dem 01.09.1959 vorgesehen, reduziert15. § 14 Abs. 4 BVerfGG wurde dahingehend erweitert, dass die Abweichungsbefugnis der Senate von der gesetzlich geregelten Geschäftsverteilung auch für Verfahren gelten sollte, bei denen noch keine mündliche Verhandlung oder Beratung der Entscheidung stattgefunden hatte16. 3. Das dritte Änderungsgesetz zum BVerfGG Das dritte Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 03.08.196317 führte zur Streichung des bisherigen § 91a BVerfGG und fügte § 93a BVerfGG18 neu in das Gesetz ein. Im ersten Absatz des § 93a BVerfGG wurde nun ausdrücklich geregelt, dass die Verfassungsbeschwerde der Annahme bedarf. Der Übergang von einem vereinfachten Verwerfungsverfahren zu einem positiven Annahmeverfahren war vollzogen19. Die Vor14
BGBl. I, S. 297. Art. 2 Nr. 1 des 2. Gesetzes zur Änderung des BVerfGG vom 26.06.1959, BGBl. I, S. 297. 16 Art. 1 des 2. Gesetzes zur Änderung des BVerfGG vom 26.06.1959, BGBl. I, S. 297. 17 BGBl. I, S. 589 ff. 18 Der Wortlaut des § 93a BVerfGG lautete: (1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung. (2) Ein aus drei Richtern bestehender Ausschuss, der von dem zuständigen Senat für die Dauer eines Geschäftsjahres berufen wird, prüft die Verfassungsbeschwerde vor. Jeder Senat kann mehrere Ausschüsse berufen. (3) Der Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen, wenn sie formwidrig, unzulässig, verspätet oder offensichtlich unbegründet oder von einem offensichtlich Nichtberechtigten erhoben ist. (4) Hat der Ausschuss die Annahme nicht abgelehnt, so entscheidet der Senat über die Annahme. Er nimmt sie an, wenn mindestens zwei Richter der Auffassung sind, dass von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist oder dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht. (5) Die Entscheidungen des Ausschusses oder des Senats ergehen ohne mündliche Verhandlung und brauchen nicht begründet zu werden. Der Beschluss, durch den die Annahme der Verfassungsbeschwerde abgelehnt wird, wird dem Beschwerdeführer vom Ausschuss oder vom Vorsitzenden des Senats unter Hinweis auf den für die Ablehnung nach Absatz 3 oder 4 maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt mitgeteilt. 15
I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens
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prüfungsausschüsse hatten jedoch weiterhin keine Kompetenz zur Annahme der Verfassungsbeschwerden. Ziel des Gesetzes war vielmehr die Einschränkung der Prüfungskompetenz der Ausschüsse auf unzulässige oder offensichtlich unbegründete Verfassungsbeschwerden. Diese Einschränkung wurde als notwendig erachtet, weil die Praxis der Vorprüfungsausschüsse dazu geführt hatte, dass über 95% aller Verfassungsbeschwerden verworfen wurden. Die Senate sollten wieder mehr einbezogen werden20. Es ergingen jedoch nur 0,3% der Nichtannahmebeschlüsse durch die Senate, sodass die Neuregelung ihr Ziel verfehlte21. 4. Das vierte Änderungsgesetz zum BVerfGG Bereits sieben Jahre später, am 21.12.197022, wurde der Reformgesetzgeber mit dem vierten Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes erneut aktiv. § 93a BVerfGG enthielt in seinem dritten Absatz eine Aufzählung von Ablehnungsgründen23. Diese wurden im Zuge der Reform gestrichen24. Insbesondere die Formulierung in § 93a Abs. 3 BVerfGG a. F., dass der Ausschuss durch einstimmigen Beschluss die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen kann, wenn sie offensichtlich unbegründet ist, wurde durch die Formulierung „aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ ersetzt. Hintergrund war, dass viele Beschwerdeführer und ihre Anwälte die Ablehnung wegen offensichtlicher Unbegründetheit „als Herabsetzung ihrer mit großem Aufwand an Zeit, Arbeit und Mühe gefertigten Beschwerdebegründung“25 empfanden26. Hinzu kam, dass verfassungsrechtlich einfach zu beantwortende Fragen mit sehr schwierigen Fragen des einfachen Rechts oft eine untrennbare Gemengelage bilden können, die aus der Formulierung selbst nicht erkennbar war. Die gerichtliche Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit stieß bei den Betroffenen daher auf Unverständnis27. 19
Siehe Anzenberger, 1. Teil, 2. Kapitel, S. 21; v. Bally, § 1, S. 13 f. Siehe BR-Drucks. 116/63, S. 6. 21 Rupprecht, JZ 1970, 210, Fn. 58. 22 BGBl. I, S. 1765 ff. 23 Siehe Teil B., Fn. 18. 24 § 93a Abs. 3 BVerfG erhielt folgende Fassung: Der Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen, wenn sie unzulässig ist oder aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. 25 BT-Drucks. VI/388, S. 12. 26 Die empfundene Herabsetzung wird angesichts des damals verwendeten Tenors verständlich. Er lautete: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da sie offensichtlich unbegründet ist“, v. Bally, § 1, S. 19, Fn. 63. 27 So die Regierungsbegründung BT-Drucks. VI/388, S. 12. 20
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
5. Das Gesetz zur Änderung des BVerfGG und des deutschen Richtergesetzes Weitreichende Änderungen des Annahmeverfahrens erfolgten im Zuge des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht und zur Änderung des deutschen Richtergesetzes vom 12.12.198528. Die Änderungen waren infolge der sehr hohen Geschäftsbelastung des Gerichts notwendig geworden29. Die Regelung, dass Verfassungsbeschwerden der Annahme bedürfen, wurde alleiniger Inhalt des § 93a BVerfGG. Die früher in Absatz 2 des § 93a BVerfGG enthaltene Regelung über die Bildung der Ausschüsse wurde in Form von § 15a BVerfGG in den ersten Teil des Gesetzes eingefügt30. Die Ausschüsse wurden in Kammern umbenannt31. Die Regelungen der Absätze 3 bis 5 des § 93a BVerfGG bilden mit Erweiterungen die §§ 93b32 und 93c33 BVerfGG34. Die Kammern bekamen zum ersten 28
BGBl. I, S. 2226 ff. Im Zeitraum von 1966 bis 1975 gingen jährlich durchschnittlich 1520 Verfassungsbeschwerden ein, während im Jahr 1983 die durchschnittliche Eingangszahl 3828 betrug, so die Regierungsbegründung 10/2951, S. 6. 30 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 11. 31 Die Bezeichnung als „Kammer“ werde der Funktion des Gremiums besser gerecht. Die bisherigen Richterausschüsse seien keine „akzessorischen Hilfseinrichtungen“ der Senate, sondern selbstständige gerichtliche Spruchkörper, insbesondere weil ihnen die Kompetenz eingeräumt werde, selbst Verfassungsbeschwerden stattzugeben, so die Regierungsbegründung BT-Drucks. 10/2951, S. 9. Trotzdem wird die Stellung der Kammern im organisatorischen Gefüge des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich beurteilt. Während die einen der Regierungsbegründung zustimmen und die Kammern als eigenständige Spruchkörper des Gerichts einstufen, so Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 15a Rn. 6 ff.; Spieß, BayVBl. 1996, 294, 297; Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 15a Rn. 2 ff., lehnen andere gewichtige Gegenstimmen dies ab. So sieht Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 726 f., die Kammern im strikten organisatorischen Sinne nicht als Teil des Bundesverfassungsgerichts an und begründet dies u. a. mit der fehlenden Erwähnung der Kammern in § 2 Abs. 1 BVerfGG. Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 40, argumentieren in die gleiche Richtung und stützen sich neben der fehlenden Erwähnung in § 2 Abs. 1 BVerfGG noch auf die Berufung der Kammern durch die Senate nach § 15a BVerfGG. Kritisch zur Eigenständigkeit der Kammern mit ähnlicher Begründung auch Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 15a Rn. 3. Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1364, beruft sich in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die fehlende Erwähnung in § 2 Abs. 1 BVerfGG, bringt jedoch zusätzlich noch § 93b Abs. 2 BVerfGG (jetzt § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) ins Spiel. Da die Kammern der Verfassungsbeschwerde nur stattgeben könnten, wenn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht, gemeint sind die Senate, schon entschieden sei, seien die Kammern auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung zu verfassungsrechtlich gleichgelagerten Fällen beschränkt. Vor diesem Hintergrund stuft er die Tätigkeit der Kammern als „abgeleitete, in diesem Sinne unselbständige Rechtsprechung“ ein. 29
I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens
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Mal die Kompetenz eingeräumt, Verfassungsbeschwerden stattzugeben, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere die des § 93b Abs. 2 BVerfGG, erfüllt waren35. Schließlich wurde nach § 34 Abs. 2 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht die Option eröffnet, eine Gebühr bis zu 1000 DM für nicht angenommene oder nach § 24 BVerfGG verworfene Verfassungsbeschwerden oder Beschwerden nach Art. 41 Abs. 2 GG aufzuerlegen. Dem Gericht wurde über § 34 Abs. 4 BVerfGG die Möglichkeit gegeben, im Fall einer missbräuchlichen Einlegung einer Verfassungsbeschwerde, einer Beschwerde nach Art. 41 Abs. 2 GG oder der Stellung eines Antrages auf einstweilige Anordnung eine Gebühr von bis zu 5000 DM zu verhängen. Das Gericht bekam nach § 34 Abs. 6 BVerfGG auch die Befugnis, einen Vorschuss anzufordern36. Die Bundesregierung versprach sich infolge der Gebührenregelung eine Entlastung des Gerichts, da durch 32
Der Wortlaut des § 93b BVerfGG lautete: (1) Die Kammer kann durch einstimmigen Beschluss die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen, wenn 1. der Beschwerdeführer den ihm aufgegebenen Vorschuss (§ 34 Abs. 6) nicht oder nicht rechtzeitig gezahlt hat, 2. die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist oder aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder 3. zu erwarten ist, dass der Senat die Verfassungsbeschwerde nach § 93c Satz 2 nicht annehmen wird. Der Beschluss ist unanfechtbar. (2) Die Kammer kann durch einstimmigen Beschluss der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist, weil das Bundesverfassungsgericht die hierfür maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden hat. Der Beschluss steht einer Entscheidung des Senats gleich. Eine Entscheidung, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 ausspricht, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar ist, bleibt dem Senat vorbehalten. (3) Die Entscheidungen der Kammer ergehen ohne mündliche Verhandlung. Zur Begründung des Beschlusses, durch den die Verfassungsbeschwerde abgelehnt wird, genügt ein Hinweis auf den für die Ablehnung maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt. 33 Der Wortlaut des § 93c BVerfGG lautete: Hat die Kammer weder die Annahme der Verfassungsbeschwerde abgelehnt noch der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so entscheidet der Senat über die Annahme. Er nimmt die Verfassungsbeschwerde an, wenn mindestens zwei Richter der Auffassung sind, dass von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist oder dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht. § 93b Abs. 3 gilt entsprechend. 34 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 11. 35 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 11. Zum Wortlaut von § 93b BVerfGG siehe Teil B., Fn. 32. 36 Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht und zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 12.12.1985, BGBl. I, S. 2226.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
sie der Beschwerdeführer gezwungen werde, die Erfolgsaussichten sorgfältig zu prüfen37. 6. Das fünfte Änderungsgesetz zum BVerfGG Das aktuelle Annahmeverfahren38 geht zurück auf das fünfte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 02.08.199339. Zum einen wurden die materiellen Anforderungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde verschärft40. Bisher war für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde durch den Senat erforderlich, dass mindestens zwei Richter der Auffassung waren, von der Entscheidung sei die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten oder dem Beschwerdeführer entstehe durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil, § 93c Satz 2 BVerfGG a. F. Die Kammer durfte der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet war, weil das Bundesverfassungsgericht die hierfür maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden hat, § 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG a. F. Mit Einführung des aktuellen § 93a Abs. 2 BVerfGG wurden die Annahmevoraussetzungen für Senate und Kammern vereinheitlicht. Nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist, was auch der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Die Formulierung „besonders schwerer Nachteil“ stellt gegenüber der ursprünglichen Formulierung „schwerer und unabwendbarer Nachteil“ eine Verschärfung dar41. In ihrer Begründung umschreibt die Bundesregierung den Begriff des besonders schweren Nachteils mit der Notwendigkeit existentieller Bedeutung für den Beschwerdeführer42. Zum anderen wurde die Gesetzestechnik geändert. 37
Regierungsbegründung BT-Drucks. 10/2951, S. 7. In der Praxis handle es sich um ein Nichtannahmeverfahren, Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 633. 39 BGBl. I, S. 1442 ff. 40 So Spieß, BayVBl. 1996, 294, 298. 41 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 299. Das Bundesverfassungsgericht regte die Formulierung „besonders schwerer Nachteil“ an, um für eine Entlastung zu sorgen. Es setzte sich damit gegen Bedenken des Bundesrates und des Rechtsausschusses durch. Sowohl der Bundesrat als auch der Rechtsausschuss des Bundestages hielten die Zugangsschwelle für zu hoch, BT-Drucks. 12/3628, S. 16; BT.-Drucks. 12/ 4842, S. 12. 42 BT-Drucks. 12/3628, S. 14. 38
I. Die historische Entwicklung des Annahmeverfahrens
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§ 93b Abs. 1 BVerfGG a. F. zählte die Ablehnungsgründe einer Verfassungsbeschwerde auf. Lag keiner der Ablehnungsgründe vor, musste die Verfassungsbeschwerde angenommen werden. Nun listet der neue § 93a Abs. 2 BVerfGG positiv die Annahmevoraussetzungen auf. Die Änderung der Gesetzestechnik hat eine Verschärfung der Annahmeanforderungen zur Folge, da es einfacher ist, Gründe für die Nichtannahme zu finden, als Kriterien zu haben, die eine Ablehnung gestatten43. Gestrichen wurden die erst im Rahmen der vorherigen Novelle eingeführte Unterliegensgebühr und die Möglichkeit, einen Vorschuss anzufordern. Die neue Ausgestaltung des Annahmeverfahrens machte diese Instrumente überflüssig44. 7. Stellungnahme zur historischen Entwicklung Die beschriebene historische Entwicklung ist vor dem folgenden Hintergrund zu sehen. Das Annahmeverfahren diente seit seiner Entstehung drei Zielen. Es sollte die Funktionsfähigkeit des Gerichts, auch bei einem hohen Geschäftsanfall, sichern und den Individualrechtsschutz des Beschwerdeführers gewährleisten45. Zudem wurde in der Anfangszeit des Gerichts versucht, das Bundesverfassungsgericht – als Verfassungsorgan – von einem Zwillingsgericht mit zwei Senaten in ein Einheitsgericht mit einem Senat umzuwandeln46. Diese Ziele waren und sind so gegenläufig, dass ihre Erreichung einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Die Schaffung eines Einheitsgerichts mit einem Senat wäre nur möglich, wenn entweder die Verfassungsbeschwerde abgeschafft oder ein völlig anderes Annahmeverfahren, etwa das writ of certiorari-Verfahren (nachfolgend certiorari-Verfahren) am U.S. Supreme Court, eingeführt würde. Der U.S. Supreme Court steht an der Spitze der amerikanischen Gerichte und erfüllt eine Doppelfunktion als Revisions- und Verfassungsgericht. Während er auf der einen Seite für förmliche Berufungen („appeal“) zuständig ist, besteht auf der anderen die Möglichkeit, dass er sich auf Antrag die Akten eines Verfahrens von der Vorinstanz zwecks Überprüfung vorlegen lässt („writ of certiorari“)47. Ein Rechtsanspruch auf die Gewährung eines „writ of certiorari“ existiert jedoch nicht, sondern sie steht – im Gegensatz zur förmlichen Berufung – im 43
Spieß, BayVBl. 1996, 294, 298. Faller, in: Festschrift für Benda, S. 64 f. 45 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 2; ähnlich Spieß, BayVBl. 1996, 294, 297. 46 Siehe auch Teil A., Fn. 8. 47 v. Bally, § 2, S. 25 f.; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 26 f.; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 24 f.; Spies, JA 1987, 124, 125 ff.; Bericht der Entlastungskommission, S. 37 f. 44
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
richterlichen Ermessen und erfolgt in einem freien Annahmeverfahren48. Das Gericht hat Voraussetzungen aufgestellt, bei deren Vorliegen es von seinem „writ of certiorari“ Gebrauch macht. Neben der Einhaltung von Formalien, wie zum Beispiel des Papierformats, des Schrifttyps, der Begrenzung auf 30 Seiten oder der Pflicht zur gedrängten Darstellung des Begehrens49, müssen Voraussetzungen erfüllt sein, die man hierzulande der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs zuordnen würde, wie die direkte Betroffenheit des Antragsstellers von der angegriffenen Entscheidung der unteren Instanz, die rechtzeitige Stellung des Antrags oder die Entscheidungsreife. Zudem darf es sich nicht um eine politische Streitfrage („political question“) handeln50. Inhaltlich kommt es etwa darauf an, ob wichtige Rechtsfragen aufgeworfen werden, über die das Gericht noch nicht entschieden hat, wie die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, oder ob Gerichte zu einer Rechtsfrage gegensätzliche Positionen vertreten und somit die einheitliche Rechtsanwendung gefährdet ist51. Das certiorari-Verfahren dient somit primär öffentlichen Interessen, während das Parteiinteresse keine52 oder nur eine untergeordnete Rolle spielt53. Die Einführung eines solchen Verfahrens für die Annahme von Verfassungsbeschwerden am Bundesverfassungsgericht müsste demzufolge mit dem völligen oder teilweisen Verzicht auf den Individualrechtsschutz des Bürgers erkauft werden. Umgekehrt schließt die Gewährung des Individualrechtsschutzes im Wege der Verfassungsbeschwerde die Schaffung eines Einheitsgerichts aus; denn bereits zwei Senate stießen an die Grenzen der Belastbarkeit. Da dieser gordische Knoten nicht zu entwirren ist, müssen Kompromisse auf der einen oder anderen Seite gemacht werden54. Soweit ersichtlich, hat der Gesetzgeber das Ziel der Schaffung eines Einheitsgerichts mittlerweile aufgegeben. Folglich kann er nur noch versuchen, die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu sichern und gleichzeitig den Individualrechtsschutz des Bürgers zu erhalten. Es wird jedoch zunehmend schwerer, dieser Aufgabe vor dem Hintergrund stetig steigender Verfahrenszahlen nachzukommen. Früher oder später wird der Gesetzgeber wiederum in die eine oder andere Richtung Kompromisse machen müssen. Denn sonst verfehlt er beide Ziele. Die steigenden Verfahrenszahlen werden 48
v. Bally, § 2, S. 28; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 27; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 25. 49 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 29. 50 Spies, JA 1987, 124, 127 f. 51 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 25; ähnlich v. Bally, § 2, S. 27. 52 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 24. 53 v. Bally, § 2, S. 27. 54 So auch v. Bally, § 1, S. 21 f., zu dem Gegensatz von Einheitsgericht und Erhaltung des Rechtsprechungsorgans.
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens
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irgendwann die Funktionsfähigkeit des Gerichts so massiv beeinträchtigen, dass es nicht mehr in der Lage ist, über die Verfassungsbeschwerden zu entscheiden. Konsequenz daraus wäre, dass dem Bürger auch kein Individualrechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht mehr gewährt würde.
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens Die verfassungsrechtliche Lage war zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die Verfassungsbeschwerde als auch das Annahmeverfahren nicht im Grundgesetz verankert waren. Die Möglichkeit zur Einführung einer Verfassungsbeschwerde und der Ausgestaltung des Verfahrens war dem einfachrechtlichen Gesetzgeber jedoch über Art. 93 Abs. 2 GG a. F. – heute findet sich diese Regelung in Art. 93 Abs. 3 GG – gegeben55. Die Vorschrift erlaubt dem Bundesgesetzgeber, dem Gericht neue Zuständigkeiten durch Gesetz zuzuweisen. Von dieser Möglichkeit machte er Gebrauch, indem er das Bundesverfassungsgerichtsgesetz verabschiedete, sodass die Verfassungsbeschwerde zusammen mit diesem Gesetz am 12.03.1951 geltendes Recht wurde. Im Rahmen des ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 21.07.1956 führte der Gesetzgeber das Annahmeverfahren als Vorprüfungsverfahren ein. Im Zuge einer Grundgesetzänderung wurde die Verfassungsbeschwerde am 29.01.1969 auf verfassungsrechtlicher Ebene normiert56. Gleichzeitig wurde die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Einschränkung bzw. Einführung eines Annahmeverfahrens in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG geschaffen57. Die Grundgesetzänderung vollzog somit nur die schon bestehende einfachgesetzliche Rechtslage auf verfassungsrechtlicher Ebene nach58. Bei der Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens stehen zwei Normen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, nämlich Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG.
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v. Bally, § 3, S. 31. Die SPD, die mit der CDU/CSU damals die Regierung bildete machte ihre Zustimmung zur Notstandsverfassung von der Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz abhängig, siehe Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 365; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 198, sprechen in diesem Zusammenhang von der Verfassungsbeschwerde als einem der Gegengewichte zur Notstandsverfassung. 57 Siehe das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29.01.1969 (BGBl. I, S. 97). 58 Wieland, in: Dreier, GG, Art. 94 Rn. 31; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 38. 56
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
1. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Das grundrechtsähnliche Recht auf Prüfung und Entscheidung einer Verfassungsbeschwerde wird durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gewährleistet59. Es steht insoweit neben der allgemeinen Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG. Beide sind nicht deckungsgleich. Während Art. 19 Abs. 4 GG nur den allgemeinen Anspruch auf einen Rechtsweg garantiert, der aber nicht notwendigerweise mehrere Instanzen aufweisen muss, gewährleistet die Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit, rechtskräftige Entscheidungen anderer Gerichte zu überprüfen und sogar gegen die Normsetzung vorzugehen60. Der Begriff der öffentlichen Gewalt in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG ist demnach weiter als der in Art. 19 Abs. 4 GG61, denn er erfasst neben den Akten der Exekutive auch solche der Gesetzgebung und der Rechtsprechung62. Die Verfassungsbeschwerde will nicht den fachgerichtlichen Rechtsschutz verdoppeln63, sondern ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf64 des Bürgers zur Verteidigung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte65. Im Wesentlichen erfüllt die Verfassungsbeschwerde zwei Funktio59 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40. Zu der Frage, inwiefern das grundrechtsähnliche Recht auf Prüfung und Entscheidung der Verfassungsbeschwerde in Bagatellsachen eingeschränkt ist, siehe Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 374 ff. (m. w. N.). 60 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 368; ähnlich Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 202. 61 Die Reichweite des Begriffs der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG ist umstritten. Das BVerfG hält in seiner Rechtsprechung daran fest, dass weder Legislativakte der gesetzgebenden Körperschaften von Bund und Ländern (z. B. BVerfGE 24, 33, 49 ff.; 24, 367, 401; 31, 364, 367 f.) noch die Rechtsprechung selbst (z. B. BVerfGE 11, 263, 265; 15, 275, 280; 22, 106, 110; 25, 352, 365; 49, 329, 340; 76, 93, 98) unter den Begriff der öffentlichen Gewalt fallen; ebenso Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 44 f.; Kloepfer, VerfR, § 74 Rn. 6 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 1098 ff. Die Gegenmeinung vertritt u. a. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a Rn. 166 (m. w. N.), der Legislativ- und Rechtsprechungsakte unter bestimmten Voraussetzungen vom Begriff der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG erfasst sieht. Ebenfalls in diese Richtung gehend Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 433 ff.; Hufen, StaatsR II, § 44 Rn. 6 und Maurer, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 467, 478 ff. 62 Ipsen, StaatsR I, Rn. 952. Ebenso Kloepfer, VerfR, § 19 Rn. 260 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 69; Pestalozza, VerfProzR, 3. Aufl., § 12 Rn. 23 ff.; Volkmann, StaatsR II, 1. Kap. § 1 Rn. 13; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a Rn. 175. 63 Uerpmann, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 674, 691. 64 Die Formulierung stammt vom BVerfG selbst, siehe BVerfGE 18, 315, 325. Es spricht in diesem Zusammenhang auch von einem zusätzlichen Rechtsschutzmittel zur prozessualen Durchsetzung der Grundrechte oder der diesen gleichstehenden Rechte, siehe BVerfGE 1, 5, 6 f.; 18, 315, 325; 33, 247, 258 f.
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens
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nen: Zum einen dient sie als „spezifisches Rechtsschutzmittel des objektiven Verfassungsrechts“66 der Wahrung eben dieses objektiven Verfassungsrechts (objektive Funktion), zum anderen stellt sie dem Bürger einen außerordentlichen Rechtsbehelf zur Wahrung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte zur Verfügung (subjektive Funktion)67. Insbesondere die subjektive Funktion ist schon im Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG angelegt, wenn dem Bürger die Verfassungsbeschwerde dort zur Abwehr von Verletzungen „seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte“ eingeräumt wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Wirkungsweise der Verfassungsbeschwerde von Bedeutung. Zum einen kommt ihr ein „kasuistischer Kassationseffekt“ zum anderen ein „genereller Edukationseffekt“ zu, wobei auf Letzterem mehr Gewicht liegt68. Während sich der Begriff des „kasuistischen Kassationseffekts“ auf die Beseitigung von Grundrechtsverletzungen im Einzelfall bezieht, stellt die Formulierung vom „generellen Edukationseffekt“ darauf ab, dass die öffentliche Gewalt stärker als in der Zeit vor dem Grundgesetz bestrebt sein werde, ihre Akte „grundrechtssicher“ zu machen und den Grundrechten mehr Beachtung zu schenken69. Wie es der Begriff schon nahelegt, geht es um eine Belehrung der Rechtsanwender im Allgemeinen und der öffentlichen Gewalt im Besonderen. Der „kasuistische Kassationseffekt“ knüpft an die subjektive Funktion und der „generelle Edukationseffekt“ an die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde an. 2. Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG ermächtigt den Bundesgesetzgeber zum Erlass eines Gesetzes, das unter anderem das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts regelt. Zum einen enthält das Grundgesetz in seinen Art. 97, 101, 103 Abs. 1 selbst Regelungen zum Verfahren, zum anderen finden sich Normierungen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Die Regelungen sind fragmentarisch und auf Konkretisierung angewiesen, insbesondere durch die 65
Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 30. So die Formulierung in BVerfGE 33, 247, 259. 67 BT-Drucks, 12/3628, S. 8; BVerfGE 33, 247, 258 f.; 45, 63, 74; 51, 130, 139; zu den Funktionen der Verfassungsbeschwerde siehe auch Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 391 ff.; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 203 ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 73 ff. Für Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, S. 644 ff., dient die Verfassungsbeschwerde, der Rechtsschutzfunktion, der Fortbildung des Verfassungsrechts und der Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Verfassungsrechts. 68 BVerfGE 33, 247, 259; im Anschluss an Zweigert, JZ 1952, 321. Siehe zum „generellen Edukationseffekt“ auch Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 392. 69 Zweigert, JZ 1952, 321. 66
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts selbst70. Die grundgesetzliche Ermächtigung für die Schaffung eines Annahmeverfahrens findet sich in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG71. Das Verhältnis von Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG zu Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gestaltet sich wie folgt: Während Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG nur zur Regelung des Verfahrens ermächtigt, in dem über die Verfassungsbeschwerde entschieden wird, berechtigt Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG auch zur Einrichtung eines Verfahrens, in dem nicht über die Verfassungsbeschwerde, sondern über deren Annahme oder Nichtannahme entschieden wird72. Der Gesetzgeber ist durch Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG legitimiert, einen Modus des Verfassungsbeschwerdeverfahrens einzurichten, der über den Rahmen der allgemeinen Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG hinausgeht. Die Legitimation geht aber nicht so weit, dass er das Recht aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in der Sache einschränken oder klarstellen kann73. Die Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG gewährt dem Gesetzgeber einen gewissen Spielraum bei der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens. Naturgemäß gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wie weit dieser Spielraum reicht. Die inhaltliche Reichweite lässt sich positiv oder negativ bestimmen. Die nachfolgenden positiven Ansätze zur Bestimmung orientieren sich im Wesentlichen an den Funktionen der Verfassungsbeschwerde. In der Gesetzesbegründung zum fünften Änderungsgesetz über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz heißt es, dem Gesetzgeber komme zwar bei der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens ein Spielraum zu, er müsse aber zwingend die objektive und die subjektive Funktion berücksichtigen, wenn die Regelung verfassungskonform sein solle74. Während in der Gesetzesbegründung davon ausgegangen wird, dass beide Funktionen der Verfas70
Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 25. Wieland, in: Dreier, GG, Art. 94 Rn. 31; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 94 Rn. 35 sieht in Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG die verfassungsrechtliche Fundierung von § 93a BVerfGG. 72 Schlink, NJW 1984, 89, 93. 73 v. Bally, § 4 S. 131 f. Siehe hierzu insgesamt v. Bally, § 4 S. 128 ff., der die Reichweite der Ermächtigung von Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG durch Auslegung ermittelt. 74 BT-Drucks. 12/3628, S 8; ähnlich Albers, ZRP 1997, 198, 200, die die verbindliche Klärung verfassungsrechtlicher Fragen, die Edukation und den Individualrechtsschutz als Funktionen der Verfassungsbeschwerde benennt. Die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens müsse diese Funktionen zumindest im Kern gewährleisten. Graf Vitzthum, in: Festschrift für Bachof, S. 293, 314, geht davon aus, dass die besondere Stellung der Verfassungsbeschwerde im Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes dem Gesetzgeber einen besonders weiten Spielraum für die Ausgestaltung des Verfahrens gibt. 71
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens
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sungsbeschwerde im Annahmeverfahren zur Geltung kommen müssen, wird ebenfalls vertreten, dass in bestimmen Konstellationen die eine Funktion zugunsten der anderen zurücktreten kann. So erlaube es Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG, den subjektiven Rechtsschutzgehalt in bestimmten Konstellationen gegenüber dem objektiven Gehalt zurücktreten zu lassen. Es könnten Schranken errichtet werden, die den absoluten Anspruch auf Entscheidung der Verfassungsbeschwerde ausschlössen, auch wenn eine generelle Einlegung statthaft sei75. Trotz des eingeräumten Ermessens, das dem Gesetzgeber eine gewisse Ausgestaltungsfreiheit gebe, müsse das Annahmeverfahren effektiven Rechtsschutz im Sinn des Art. 19 Abs. 4 GG gewähren, wobei dieser Rechtsschutz den dahinter stehenden Rechten angemessen, das heißt funktionsadäquat, sein müsse76. Diese Einschränkung soll verhindern, dass die Verfassungsbeschwerde aufgrund der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens zu einer leeren Hülle wird. Neben diesen allgemeinen Ausführungen zum Spielraum gibt es konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung, die Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG erlaubt. So würden erhebliche Vereinfachungen des Verfahrens, die Verlagerung der Annahmeentscheidung auf kleinere Spruchkörper und die a-limine-Abweisung von Bagatellsachen von der Ermächtigung gedeckt77. Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Ermächtigung für die Schaffung eines Annahmeverfahrens ist nicht zuletzt die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichts. Es hat selbst die Gefahr des Missbrauchs oder übermäßigen Gebrauchs der Verfassungsbeschwerde erkannt und als Konsequenz die Voraussetzungen einschränkend ausgelegt, um seine Funktionsfähigkeit zu wahren78. Die Bestimmung des Spielraums nach dem Ausschlussprinzip orientiert sich ebenfalls an den Funktionen der Verfassungsbeschwerde. Der Spielraum werde überschritten, wenn es in das Ermessen des Bundesverfassungsgerichts gestellt werde, ob über die Verfassungsbeschwerde in der Sache entschieden werden soll oder nicht. Ebenso erlaube es die Ermächtigung in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG nicht, wenn die subjektive Schutzfunktion der Verfassungsbeschwerde auf Kosten der objektiven Funktion relativiert79 75 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 33. Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 34, geht noch weiter, denn er hält die Einschränkung der subjektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde durch das Annahmeverfahren für geeignet, um ihren Zweck zu fördern, der in der Gewährleistung von individuellem Rechtsschutz bestehe, da die Verfassungsrechtsprechung ein knappes Gut sei. 76 Graf Vitzthum, in: Festschrift für Bachof, S. 293, 315. 77 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 390; zustimmend im Hinblick auf die Übertragung der Entscheidung auf die Kammern Roth, AöR 121 (1996), S. 544, 556 f. 78 BVerfGE 33, 247, 258. 79 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 396.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
oder beseitigt80 werde. Nicht möglich sei es, die Arbeitslast des Bundesverfassungsgerichts durch eine pauschale Aussonderung minder bedeutsamer Fälle ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussicht zu verringern oder sogar erfolgsversprechende Verfassungsbeschwerden auszuscheiden81. 3. Zusammenfassung Im Ergebnis bleibt zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens Folgendes festzuhalten: Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gewährleistet ein grundrechtsähnliches Recht auf Prüfung und Entscheidung einer Verfassungsbeschwerde82. Die grundgesetzliche Ermächtigung für die Schaffung eines Annahmeverfahrens in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG gewährt einen Ausgestaltungsspielraum. Die Grenzen dieses Spielraums werden naturgemäß unterschiedlich eng gezogen. Bei der Grenzziehung dürfte es entscheidend sein, ob man eher die objektive oder die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde betonen möchte. Anders gewendet, führt die Betonung der objektiven Funktion zu einem größeren Spielraum bei der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens und die Betonung der subjektiven zu einem kleineren. Die Übereinstimmung dürfte soweit gehen, dass bei Ausnutzung des Spielraums sowohl die objektive als auch die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens zu berücksichtigen sind. Es wäre nicht möglich, eine Funktion völlig außer Acht zu lassen, ohne eine Verfassungsänderung ins Auge zu fassen. 4. Verfassungspolitische Kritik am Annahmeverfahren Die Existenz und Ausgestaltung des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden wurden seit jeher auch verfassungspolitisch kritisch beurteilt83. Im Zusammenhang mit der Ausgestaltung wurde die Arbeit der damaligen Vorprüfungsausschüsse im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters, die Wesensgehaltsgarantie der Verfassungsbeschwerde, die Verletzung rechtlichen Gehörs durch den Ausschluss der mündlichen Verhandlung und den fehlenden Begründungszwang kritisiert84. Die Kritik nach der letzten 80 Spieß, BayVBl. 1996, 294 (298); ähnlich Klein, NJW 1993, 2073, 2074; Benda, NJW 1980, 2097, 2100 (m. w. N.) und Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40; inwiefern Voßkuhle davon ausgeht, dass die Verfassungsbeschwerde als Mittel des Individualrechtsschutzes als solches nicht grundsätzlich in Frage gestellt ist, sagt er nicht explizit. 81 Roth, AöR 121 (1996), S. 544, 556. 82 Siehe Teil B., Fn. 59. 83 Siehe hierzu auch die Schwachstellen des Annahmeverfahrens unter B. IV. 3. 84 Benda, NJW 1980, 2097, 2100 (m. w. N.).
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens
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Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes im Jahre 1993 setzt zum einen an der Existenz des Annahmeverfahrens und zum anderen an seiner Ausgestaltung an85. Auf der einen Seite wurde die Abschaffung des aktuellen Annahmeverfahrens zugunsten eines freien Annahmeverfahrens nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court gefordert, um die Überlastung des Gerichts aufzulösen86. Ein solches freies Annahmeverfahren entspräche dem sogenannten certiorari-Verfahren87 oder dem Modell der Entlastungskommission88 einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen89. Ob die Einführung eine Verfassungsänderung erfordert, ist umstritten90. Auf der anderen Seite wurde bereits gegen das derzeitige Annahmeverfahren eingewandt, es dürfe nicht dazu führen, dass die Verfassungsbeschwerde praktisch nicht mehr gewährleistet oder in ihrer Funktion ausgehöhlt werde. Vielmehr beanspruchten die allgemeinen rechtsstaatlichen Regeln Geltung, wonach Maßstab für die richterliche Entscheidung Recht und Gesetz seien und nicht die Arbeitsbelastung. Die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens als Entlastungsverfahren sei mit den genannten Vorgaben unvereinbar. Die Verfassungsbeschwerde sei als Jedermannrecht ausgestaltet, deshalb müsse auch jedermann sie erheben können und das Gericht sich mit ihr befassen. Das Annahmeverfahren führe aber dazu, dass die eingereichte Verfassungsbeschwerde nur noch ein vom Bürger eingeleitetes Verfassungsrechtsverfahren zur Auslegung und Fortentwicklung des Grundgesetzes sei91. In dieselbe Richtung geht die Kritik, dass die weitgehende Befreiung des Bundesverfassungsgerichts von rechtlichen Bindungen zwar nicht zu einem freien Annahmeverfahren nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court führe, da immer noch gesetzliche Annahmevoraussetzungen existierten. Doch wiesen die unbestimmten Rechtsbegriffe bei den Tatbestandsmerkmalen und der damit verbundene Beurteilungsspielraum eindeutig in diese Richtung92. Neben den beiden Positionen, die sich diametral gegenüberstehen, gibt es natürlich ebenso Stimmen, die die derzeitige Ausgestaltung des Annahmeverfahrens für sachgerecht halten und es gegen die dargestellte Kritik vertei85 Zu den Änderungsvorschlägen der Entlastungskommission und des Schrifttums nach der letzten Novelle des BVerfGG siehe die Ausführungen unter E. I. 86 Böckenförde, ZRP 1996, 281, 281. 87 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 382. 88 Siehe hierzu die Ausführungen unter E. 89 Siehe zur Entlastungskommission und dem Modell einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen ausführlich die Ausführungen unter E. 90 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. II. 5. 91 Zuck, NJW 1993, 2641, 2646; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1011 ff. 92 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 300. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40, spricht in diesem Zusammenhang von einem halbherzigen Kompromiss, da dem Gericht ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt werde ohne die Gesetzesakzessorietät völlig aufzugeben.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
digen. So stehe dem Jedermannrecht auf Zugang zum Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit gegenüber, in einem vereinfachten Verfahren aussichtslose Anträge auszusondern. Daher verbiete es sich, den Anspruch auf Zugang zum Gericht zu verabsolutieren und die verfassungsrechtlichen Schranken zu übersehen93. Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG trägt der Einschätzung Rechnung, dass es dem Bundesverfassungsgericht nicht möglich sei, jede Verfassungsbeschwerde in gleicher Weise zu behandeln. Über die Entscheidungskriterien des Gerichts bei Verfassungsbeschwerden und die Annahmepraxis lasse sich streiten, aber Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG legitimiere die gesetzgeberischen Problemlösungsversuche94. Die Verfassungsbeschwerde als Mittel des Individualrechtsschutzes werde grundsätzlich nicht in Frage gestellt, weil die einschränkenden Voraussetzungen der Annahme den Anspruch des Bürgers auf Prüfung seiner Verfassungsbeschwerde nicht aufgeben würden. Vielmehr bewirkten sie eine Konzentration auf die Zwecke der Verfassungsbeschwerde95. Schließlich gibt es auch Stimmen, die sich für eine effizientere Umsetzung des Verfahrens einsetzen96. Das certiorari-Verfahren stellt das eine Extrem der möglichen Ausgestaltung des Annahmeverfahrens dar. Das andere Extrem wäre ein Annahmeverfahren, das dem Beschwerdeführer nahezu freien Zugang zum Gericht gewährt. Im Kern geht es um eine Standortbestimmung innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auf der einen und Art. 94 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 GG auf der anderen Seite. 5. Stellungnahme Zu der dargestellten Kritik am Annahmeverfahren sei angemerkt: Sowohl die Kritik, die Annahme der Verfassungsbeschwerde dürfe nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt werden, als auch die Kritik, die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde dürfe die subjektive nicht relativieren oder beseitigen, sind zwei Seiten einer Medaille. Sie stellen auf denselben 93
Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 366. Ebenso Graßhof, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 33. 94 So Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 373 in Erwiderung auf die von Zuck geäußerte Kritik, dass wenn das Grundgesetz jedermann die Verfassungsbeschwerde gebe, es sicherstellen müsse, dass auch jedermann die Verfassungsbeschwerde erheben könne und sich das BVerfG und nicht eine Kammer oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Anliegen befasse. 95 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 2. 96 Albers, ZRP 1997, 198 ff.; Schneider, NJW 1996, 2630 ff. Für die Beibehaltung des bestehenden Systems bei gezielter Anwendung der Verfahrensvorschriften wohl auch Jeager, EuGRZ 2003, 149, 151 ff., die die Vorzüge des Berichterstatterund Kammersystems beschreibt. Siehe hierzu ebenfalls die ausführliche Darstellung unter E. I.
II. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens
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Gesichtspunkt ab. Wenn die Annahme der Verfassungsbeschwerde in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, ein certiorari-Verfahren nach U.S.amerikanischem Vorbild eingeführt wird, führt dies zwangsläufig zu einer Relativierung oder Beseitigung der subjektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde. Umgekehrt führt die Hervorhebung oder Betonung der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde auf Kosten ihrer subjektiven Schutzfunktion zu einer Annahme nach Ermessen durch das Gericht und damit in letzter Konsequenz auch zu einem freien Annahmeverfahren nach dem Vorbild des certiorari-Verfahrens. In jedem Fall wird der subjektive Anspruch des Bürgers auf Entscheidung seiner Verfassungsbeschwerde durch das Verfassungsgericht grundsätzlich nicht erfüllt. Im ersten Fall verhindert die Annahme nach Ermessen eine Entscheidung, im zweiten Fall die Relativierung oder Beseitigung der subjektiven zugunsten der objektiven Funktion. Nur wenn das Gericht aufgrund bestimmter Umstände, sei es zum Beispiel wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung, eine Entscheidung für geboten hält, läuft das subjektive Recht des Bürgers auf Entscheidung nicht leer. Während die oben erläuterte Vorstellung von Zuck, dass jeder Bürger Verfassungsbeschwerde erheben könne und das Gericht sich mit dieser auch befasse, sich nach derzeitiger Verfassungslage umsetzen lässt, müsste in Bezug auf den Vorschlag Böckenfördes, der eine Abschaffung des aktuellen Annahmeverfahrens zugunsten eines freien Annahmeverfahrens nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court vorsieht, die Erforderlichkeit einer Verfassungsänderung geklärt werden. Nach teilweise vertretener Auffassung ist sie nicht zwingend notwendig. Die knappe und allgemein gehaltene Formulierung in Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach ein besonderes Annahmeverfahren vorgesehen werden kann, lasse genug Spielraum und erlaube auch die Einführung des certiorari-Verfahrens97. Die Entstehungsgeschichte des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG spreche ebenfalls gegen die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung. Während der ursprüngliche Gesetzesentwurf noch eine vereinfachte Prüfung durch einen zuständigen Richterausschuss vorsah, wurde auf Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts die jetzige Fassung geltendes Recht98. Die Vertreter der Gegenauffassung, die die Einfüh97
Rupprecht, JZ 1970, 207, 212. Heyde, in: Festschrift für Kutscher, S. 229, 244; Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 93d Rn. 23; ebenso mit Bezugnahme auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG Wieland, in: Der Staat 29 (1990), S. 333, 351; ähnlich Kau, ZRP 1999, 319, 322, der zudem in der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kein grundrechtsgleiches, subjektives öffentliches Recht sieht und daher die Einführung eines freien Annahmeverfahrens ohne Verfassungsänderung für möglich hält, sie aber in Anlehnung an den Bericht der Entlastungskommission für einen politisch sicheren und rechtlich nicht zu 98
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
rung des certiorari-Verfahrens von einer Verfassungsänderung abhängig macht, argumentieren aus systematischer bzw. teleologischer Sicht, wobei es im Kern um die Wechselwirkung zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und Art. 94 Abs. 2 GG sowie um den Charakter der Verfassungsbeschwerde als Instrument des Individualrechtschutzes geht. Die subjektiv-rechtliche Funktion der Verfassungsbeschwerde werde durch die Einführung eines freien Annahmeverfahrens vollständig oder teilweise aufgehoben99. Diese Argumentation verdient den Vorzug. Hinzu kommt, dass die Änderung des Grundgesetzes der Einführung eines solchen Annahmeverfahrens eine größere Legitimität verleihen und für mehr Transparenz sorgen würde. Denn nach der bestehenden Gesetzeslage kann jeder Bürger Verfassungsbeschwerde erheben, wenn er sich in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt sieht. Faktisch bestehen jedoch hohe Zugangshürden, die das Bundesverfassungsgericht zu seiner Entlastung errichtet hat. Die Einführung des certiorari-Verfahrens würde zu einer weiteren Relativierung dieser Zugangsmöglichkeit führen. Im Rahmen einer Verfassungsänderung könnte dies offen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens diskutiert und der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden100. Auf eine Verfassungsänderung sollte wegen der erheblichen Meinungsunterschiede nicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber könnte mit dem berühmten Federstrich die Diskussion beenden.
III. Die aktuelle gesetzliche Konzeption des Annahmeverfahrens im BVerfGG Das gegenwärtige Annahmeverfahren ist im Wesentlichen in den §§ 93a bis d BVerfGG geregelt. Das Gericht ist bei seiner Annahmeentscheidung an die §§ 93a ff. BVerfGG gebunden, mit anderen Worten ist das Annahmeverfahren gesetzesakzessorisch101. Jeder Senat bildet üblicherweise drei Kammern102 für die Dauer eines Geschäftsjahres. Die Kammern ihrerseits beanstandenden Weg hält, auch um eine Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden. 99 Albers, ZRP 1997, 198, 200; Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 150; ähnlich Klein, NJW 1993, 2073, 2074; Umbach, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 44 ff.; wohl auch Zuck, NJW 1993, 2641, 2646; der Bericht der Entlastungskommission, S. 54 ff., wobei sich die Kommission mit neun gegen zwei Stimmen für die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung ausgesprochen hat. 100 Ähnliche Argumentation bei Zuck, NJW 1993, 2641, 2646. 101 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 919; siehe ebenfalls Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 40 und die Ausführungen unter B. V. 102 Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 15a Rn. 12; Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein, BVerfGG, § 15a Rn. 5; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 917a.
III. Aktuelle gesetzliche Konzeption des Annahmeverfahrens im BVerfGG
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bestehen aus je drei Richtern. In organisationsrechtlicher Hinsicht wird durch die Teilidentität der Richter im Senat und in den Kammern die Anbindung der Kammern an den Senat gewährleistet103. Die Zusammensetzung der Kammer in derselben Weise soll nicht länger als drei Jahre bestehen104. Maßgebliche Vorschrift für die genannten Aspekte der Kammerorganisation ist § 15a BVerfGG. Das Annahmeverfahren ist dem Wesen nach ein Gerichtszugangsverfahren sui generis. Es macht den Zugang zum Gericht innerhalb des gegebenen Rechtswegs, unabhängig von der Zulässigkeit und oder Begründetheit des Rechtsbehelfs, von einer Entscheidung des angerufenen Gerichts selbst abhängig105. Erst wenn das Gericht die Verfassungsbeschwerde angenommen hat, kann es in der Sache entscheiden106. Es handelt sich bei der Annahme und bei der Entscheidung in der Sache um zwei verschiedene Entscheidungsvorgänge, die voneinander zu trennen sind107. Demzufolge wird jede Verfassungsbeschwerde zunächst darauf überprüft, ob sie angenommen wird. Die Annahme stellt keine Zulässigkeitsvoraussetzung dar. Im Rahmen der vorangestellten Annahmeentscheidung können aber Zulässigkeits- und Begründetheitsfragen eine Rolle spielen108. In diesem Zusammenhang verdient besondere Erwähnung, dass sowohl die Kammer als auch der Senat im Rahmen dieses Zugangsverfahrens nicht an die sonst übliche Prüfungsreihenfolge von Zulässigkeit und Begründetheit eines Rechtsbehelfs gebunden sind, wenn sie diese Fragen bei ihrer Annahmeentscheidung berücksichtigen. Beispielsweise können schwierige Fragen der Zulässigkeit offen gelassen werden, wenn die Verfassungsbeschwerde bereits offensichtlich unbegründet und somit ein Fall der a-limine-Abweisung nach § 24 BVerfGG gegeben ist109. Folglich stellt die Ablehnung der Annahme auch keine Entscheidung in der Sache dar110. 103
Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 726. Die Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks 10/2951, S. 9, nennt als Grund eine Versteinerung der Meinungsbildung in den Kammern zu verhindern. Ferner soll die Vorschrift Tendenzen einer eigenen Rechtsprechung der Kammern entgegenwirken, Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 636. 105 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 919, und Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 5; zustimmend Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 39. 106 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 37. Da die Kammer zur Ablehnung befugt sei, wenn die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen und zur Annahme nur unter den Voraussetzungen des 93c BVerfGG, könne sie keine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen, ohne ihr selbst stattzugeben, Klein, NJW 1993, 2073, 2075. 107 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 926. 108 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Strack, GG, Art. 94 Abs. 2 Rn. 39. 109 Siehe hierzu die Ausführungen von Zacher, in: Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, S. 396, 423, zu den ehemali104
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
Die Voraussetzungen der Annahme finden sich in § 93a Abs. 2 Buchstaben a und b BVerfGG. Das Gesetz unterscheidet hier zwischen der sogenannten Grundsatzannahme, für die ausnahmslos die Senate zuständig sind und der Durchsetzungsannahme, für die sowohl die Senate als auch die Kammern zuständig sein können. Die erste Weichenstellung nimmt § 93b BVerfGG vor. Demnach kann die Kammer die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen oder sie im Fall des § 93c BVerfGG zur Entscheidung annehmen. Die gesetzliche Formulierung bedarf einer kurzen Erläuterung. Die Kammer kann die Verfassungsbeschwerde nur unter den Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG annehmen und ihr bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG stattgeben. Sie ist damit nur für die sogenannte Durchsetzungsannahme zuständig. Dies folgt aus dem Verweis des § 93b Satz 1 BVerfGG auf § 93c BVerfGG, der wiederum in Absatz 1 Satz 1 auf § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG verweist. In allen übrigen Fällen entscheidet der Senat sowohl über die Annahme als auch über die Stattgabe. Wenn die Kammer die Verfassungsbeschwerde angenommen hat, entscheidet sie in der Sache, das heißt über die Stattgabe. Die Reichweite der Kammerzuständigkeit und damit auch ihrer Sachentscheidungskompetenz wird maßgeblich von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bestimmt111. Die Kammer ist zur Stattgabe einer Verfassungsbeschwerde unter den drei Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG berufen, die kumulativ vorliegen müssen. Zunächst muss der Tatbestand des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG erfüllt sein. Demnach ist die Verfassungsbeschwerde anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist, was auch der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sagen Dreierauschüssen. Kritisch zu dieser Vorgehensweise Voßkuhle, in: v. Mangoldt/ Klein/Strack, GG, Art. 93 Rn. 21 Fn. 91 (m. w. N.) und Zuck, NVwZ 2011, 795. 110 BVerfGE 23, 191, 207; Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 18; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 268; Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 635; Graßhof, in: v. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 17, spricht von „Nichtentscheidungen“; ebenso Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1364. 111 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 923, hält § 93c BVerfGG für einen Fremdkörper innerhalb der §§ 93a ff. BVerfGG. Diese normierten Zuständigkeitsregeln für Spruchkörper, während § 93c BVerfGG eine Zuständigkeit in der Sache, das heißt eine Sachkompetenz, regele. Die Vorschrift hätte nach seiner Auffassung systematisch besser dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zugeordnet und nicht mit dem Annahmeverfahren vermischt werden sollen. Er geht davon aus, dass es sich bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 93c BVerfGG in der Sache nicht um ein Annahmeverfahren, sondern um ein Vorprüfverfahren und bei Annahme zur Entscheidung sogar um ein Prüfverfahren handelt, da in diesem Fall Annahme und Stattgabe zusammenfielen.
III. Aktuelle gesetzliche Konzeption des Annahmeverfahrens im BVerfGG
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che ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Ferner muss die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sein. Schließlich muss die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sein. Daraus folgt, dass aufgrund der teilweise identischen Voraussetzungen der Kammerzuständigkeit und Sachentscheidungskompetenz – § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG verweist auf § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG – die Annahme und die Stattgabe durch die Kammer zusammenfallen. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, ist die Kammer gesetzlicher Richter im Sinn des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG112. Die Kammern entscheiden somit als Bundesverfassungsgericht, ihre Entscheidungen stehen nach § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG denen der Senate gleich und sie ergehen gemäß § 93d Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung im Umlaufverfahren. Solange und soweit der Senat nicht über die Annahme entschieden hat, stehen der Kammer nach § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG alle das Verfahren betreffenden Entscheidungen zu. Insbesondere entscheidet sie über den Erlass von einstweiligen Anordnungen nach § 32 BVerfGG, die Ausschließung bzw. Ablehnung eines Richters nach §§ 18, 19 BVerfGG oder die Kosten- und Auslagen nach §§ 34, 34a BVerfGG. Zudem sind die Entscheidungen unanfechtbar113 nach § 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG und binden die Verfassungsorgane des Bundes und 112 Das Gebot des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gilt auch in Verfassungsbeschwerdeverfahren vor den Kammern, BVerfGE 19, 88, 92; 40, 356, 360 ff.; ebenso die Bundesregierung in ihrer Regierungsbegründung zum Entwurf eines 5. Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, BT-Drucks. 10/2951, S. 9; ebenso Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 5, und Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 4. Eine Verletzung hat jedoch keine Folgen, weil eine Anrufung des Senats ausgeschlossen ist, Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 225 Fn. 73. Die Anrufung europäischer Verfassungsgerichte scheitere daran, dass weder die EMRK noch das europäische Gemeinschaftsrecht eine Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vergleichbare Norm als subjektives Recht kennen. Möglich sei nur die Anbringung einer Gegenvorstellung an die Kammer mit dem Ziel der Aufhebung des Beschlusses, Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 15a Rn. 32. Die Anbringung einer Gegenvorstellung oder Besetzungsrüge ist nicht unumstritten. So lehnt Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 15a Rn. 3, diese Möglichkeit ab. Zu der Frage, ob der einzelne Verfassungsrichter, angesichts der hohen Arbeitsbelastung bei Verfassungsbeschwerden, überhaupt seinem Auftrag nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nachkommen kann, siehe Lamprecht, NJW 2001, 419 ff. 113 Eine Anrufung des Senats wegen Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde scheidet aus, Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93d Rn. 5; Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 21; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93d Rn. 3; Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 327. Der Nichtannahmebeschluss erwachse aufgrund seiner Unanfechtbarkeit in formelle Rechtskraft, das heißt, er sei nicht mehr mit Rechtsmitteln angreifbar. Die Menschenrechtsbeschwerde nach Art. 25 EMRK habe keinen Einfluss auf die formelle Rechtskraft. Der Nichtannahmebeschluss sei der materiellen
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
der Länder sowie alle Gerichte und Behörden nach § 31 Abs. 1 BVerfGG114. Die Bindungswirkung erfasst auch die Kammer selbst115. Bei Nichtannahmebeschlüssen ist gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG keine Begründung erforderlich. Das Gesetz schränkt die Kompetenzen der Kammern gegenüber den Senaten jedoch ein. Entscheidungen, die mit Wirkung des § 31 Abs. 2 BVerfGG aussprechen, dass Gesetze mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar sind, bleiben nach § 93c Abs. 1 Satz 3 BVerfGG den Senaten vorbehalten. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Kammern für befugt halten, über die Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit von Satzungen und Rechtsverordnungen zu entscheiden116. Begründet wird diese Kompetenz mit der Entlastung der Senate als Ziel des Kammerverfahrens und der geringeren Bedeutung von Normen der Exekutive gegenüber Parlamentsgesetzen117. Ebenso dürfen die Kammern nach § 93d Abs. 2 Rechtskraft aufgrund der fehlenden Sachentscheidung nicht fähig, Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 27 f. und 30. 114 Im Hinblick auf die Bindungswirkung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ist im Allgemeinen umstritten, ob sie sich nur auf den Tenor oder auch auf die tragenden Gründe der Entscheidung bezieht – so jedenfalls das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 40, 88, 93 f.; 112, 268, 277 – und wie diese Gründe zu ermitteln sind, siehe hierzu Hensel, in: Der Staat 50 (2011), S. 581, 592 (m. w. N.). Nach seiner Auffassung kann die Bindungswirkung nicht hinreichend durch § 31 BVerfGG erklärt werden, da eine Verletzung dieser Norm noch keinen Verfassungsverstoß darstelle, weshalb das Gericht auch einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG annehme, um die Verletzung auf die Ebene der Verfassung zu heben und die Entscheidung aufheben zu können. Die letztverbindliche Durchsetzung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts erfolge über die Ausgestaltung der Urteilsverfassungsbeschwerde zu einem Verfahren, mit welchem ein uneingeschränkter Zugriff auf die Fachgerichtsbarkeit erfolgen könne, Hensel, in: Der Staat 50 (2011), S. 581, 593 f. Zur faktischen Bindungswirkung aufgrund der Begründungstechnik der Maßstäbe in den Entscheidungen siehe Lepsius, in: Scholz/Lorenz/Pestalozza u. a., Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, 103, 111 ff. Im Besonderen ist die Bindungswirkung von stattgebenden Kammerentscheidungen umstritten. Zu dieser Frage siehe Rixen, NVwZ 2000, 1364 ff. (m. w. N.) und Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 24 ff. (m. w. N.). Nichtannahmebeschlüsse sind keine Sachentscheidungen und daher der materiellen Rechtskraft nicht fähig. Folglich hat ein Nichtannahmebeschluss auch keine Bindungswirkung, Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 32 f.; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 17; Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 18. 115 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 6; Graßhof, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 19; Sperlich, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 21. 116 Ebenso Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 338. 117 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 19.06.2007 – 1 BvR 1290/95, BVerfGK 11, 337, 341 (m. w. N.). Aus BT-Drucks. 10/2951, S. 7, ergibt sich die von den Kammern angenommene Befugnis jedoch nicht unmittelbar, trotz
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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Satz 2 BVerfGG keine einstweiligen Anordnungen erlassen, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird. Diese Befugnis bleibt wiederum den Senaten vorbehalten. Die Senate sind an die Rechtsprechung der Kammern nicht gebunden, das heißt eine Anrufung des Plenums nach § 16 BVerfGG ist nicht erforderlich, wenn ein Senat von der Entscheidung einer Kammer in einer Rechtsfrage abweichen will. Schließlich müssen die Entscheidungen in den Kammern gemäß § 93d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG einstimmig getroffen werden118.
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens119 Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden gestaltet sich wie folgt120: Der eingehende Schriftsatz des Beschwerdeführers wird zunächst von einem der beiden sogenannten Präsidialräte121 geprüft, um ihn in eins der beiden Register des Gerichts eintragen zu können. Am Bundesverfassungsgericht werden zwei Register geführt, das Verfahrensregister (Registerzeichen BvR) und das Allgemeine Register (Registerzeichen AR). Schriftsätze, die Verfassungsbeschwerden beinhalten, werden im Verfahrensregister eingetragen. Eingaben an das Gericht, die eine Verwaltungsangelegenheit darstellen oder nach den Vorschriften über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht statthaft sind, werden in das Allgemeine Register eingetragen Zitierung in der genannten Kammerentscheidung. Die Begründung spricht lediglich davon, dass sich die vorgeschlagene Regelung auf die Aufhebung von gerichtlichen Entscheidungen und Akte der Exekutive beschränke. Aussagen über die Unvereinbarkeit oder Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz sollen den Senaten vorbehalten bleiben. 118 Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 325, geht davon aus, dass sich die Einstimmigkeit nur auf das Ergebnis und nicht auf die Einzelheiten der Begründung erstrecken müsse, die das Gericht dem Beschwerdeführer nach § 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht mitteilen müsse. Dem ist insoweit zuzustimmen, als das Gericht tatsächlich von einer Begründung des Nichtabnahmebeschlusses absieht. Wenn es jedoch den Nichtannahmebeschluss mit einer Begründung versieht, was nicht selten der Fall ist, müssen sich die beteiligten Richter auch im Hinblick auf die Begründung einig sein. Sollte die Kammer für eine Annahme votieren, müssen sich die beteiligten Richter auf eine Begründung verständigen, da der Annahme- bzw. Stattgabebeschluss zu begründen ist. Dies folgt aus einem Umkehrschluss aus § 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. 119 Ähnlicher Aufbau der folgenden Darstellung Anzenberger, 1. Teil, 3. Kapitel, S. 54 ff. Ausführlich zum praktischen Ablauf siehe Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 633 ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 902 ff. 120 Siehe ebenso die Übersicht in Anhang II. 121 Präsidialräte sind Beamte mit der Befähigung zum Richteramt. Es wird jedem Senat ein Präsidialrat zugeteilt, der den Vorsitzenden des Senats unterstützt und an seine Weisungen gebunden ist, § 12 GOBVerfG.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
und als Justizverwaltungsangelegenheit behandelt, § 60 Abs. 1 GOBVerfG. Im Allgemeinen Register können auch die Verfassungsbeschwerden registriert werden, bei denen eine Annahme zur Entscheidung nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht in Betracht kommt, weil sie offensichtlich unzulässig sind oder nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich keinen Erfolg haben können oder bei denen sich die Senatszuständigkeit nicht alsbald klären lässt, § 60 Abs. 2 GOBVerfG. Vorgänge, die sich im Allgemeinen Register befinden, werden keiner richterlichen Entscheidung zugeführt. Die Entscheidung, ob ein Vorgang in das Allgemeine Register einzutragen ist, trifft eigentlich der Präsident oder der Vizepräsident. Der Präsident kann diese Entscheidung wiederum auf die Präsidialräte delegieren, die im gegenseitigen Einvernehmen entscheiden und sich wechselseitig vertreten, § 61 Abs. 1 GOBVerfG. Kommt der Präsidialrat nach seiner Prüfung zu dem Ergebnis, dass der Schriftsatz in das Allgemeine Register einzutragen ist, unterrichtet er den Beschwerdeführer schriftlich über die Gründe122. Dieser hat nun im Ergebnis zwei Möglichkeiten, entweder er lässt die Sache auf sich beruhen oder er besteht auf einer Übertragung in das Verfahrensregister. Die Präsidialräte müssen die Sache auf Wunsch des Beschwerdeführers übertragen, § 61 Abs. 2 GOBVerfG. Das beschriebene Vorverfahren nach der Geschäftsordnung123, gebräuchlich ist ebenfalls der Begriff des Belehrungsverfahrens124, hat den Zweck, den Beschwerdeführer in die Lage zu versetzen, in Kenntnis der rechtlichen Situation die Fortführung des Verfahrens in eigener Verantwortung zu überdenken und ist Ausdruck eines gewissen Fürsorgegedankens125. Es dient aber auch als Filter und hat die Aufgabe, bei den eingehenden Schriftsätzen die Spreu vom Weizen zu trennen126. Wurde der Schriftsatz als Verfassungsbeschwerde eingestuft und somit im Verfahrensregister eingetragen, wird er dem nach der Geschäftsverteilung127 zuständigen Richter zur Berichterstattung128 zugeleitet. Der jewei122
Der Beschwerdeführer bekommt ein sogenanntes Belehrungsschreiben, Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 261, und Spieß, BayVBl. 1996, 294, 295. 123 Zur Kritik an dieser Vorgehensweise siehe die Ausführungen unter B. IV. 3. b). 124 Anzenberger, 1. Teil, 3. Kapitel, S. 55; Pestalozza, VerfProzR, 3. Aufl., § 12 Rn. 9. 125 Wand, NJW 1984, 950, 951 f. 126 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 295. 127 Die Geschäftsverteilung folgt aus § 14 BVerfGG i. V. m. dem Plenumsbeschluss vom 15.11.1993 (BGBl. I, S. 2492) i. V. m. der senatsinternen Geschäftsverteilung nach § 20 GOBVerfG. Zur Bestimmung der Zuständigkeit nach der Geschäftsverteilung siehe auch Herzog, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 899 f. Kritisch zu der Geschäftsverteilung nach Rechtsgebieten und Verfassungsnormen äußert sich Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 894 ff. Es bestehe die Gefahr,
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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lige Senatsvorsitzende stellt den zuständigen Berichterstatter gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 GOBVerfG aufgrund der beschlossenen Geschäftsverteilung fest129. Der Berichterstatter ist für die Erstellung eines Votums mit Entscheidungsvorschlag130 verantwortlich131. Es ist zu beachten, dass die Prüfung zunächst allein auf der Grundlage der eingereichten Verfassungsbeschwerdeschrift erfolgt und keine Gerichtsakten oder Stellungnahmen der in dem Ausgangsverfahren Beteiligten herangezogen werden. Wenn eine rechtliche Beurteilung auf dieser Grundlage nicht möglich ist, führt allein diese Tatsache zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, weil die Begründung in der Beschwerdeschrift bereits unzureichend ist132. Die Unzulässigkeit hat in diesen Fällen die Nichtannahme nach § 93a Abs. 2 Buchdass ein Richter des Gerichts für Rechtsgebiete zuständig werde, mit denen er in seinem vorherigen Berufsfeld befasst war und daher vorgeprägt sei. Insbesondere bestehe die Versuchung, dass der Richter das ihm dogmatisch richtig Erscheinende mit Hilfe des Verfassungsrechts einfachrechtlich durchzusetzen bestrebt sei. Zudem habe der Berichterstatter aufgrund der jahrelangen Befassung mit dem jeweiligen Rechtsgebiet, der Ausarbeitung des Votums und der Unterstützung seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter, die ihrerseits über vertiefte Kenntnisse in dem jeweiligen Rechtsgebiet verfügen, einen großen Wissensvorsprung gegenüber den anderen Richtern, der eine gleichgewichtige Mitwirkung zumindest nicht fördere. Es biete sich daher eine Geschäftsverteilung im Umlaufverfahren an. 128 Die Aufgaben des Berichterstatters für die Kammerarbeit folgen aus den §§ 40, 41 GOBVerfG. 129 Nach § 20 Abs. 1 GOBVerfG beschließt der Senat zu Beginn des Geschäftsjahres die Grundsätze, nach denen der Berichterstatter bestimmt wird. 130 Ein Votum mit Entscheidungsvorschlag besteht üblicherweise aus einer Sachverhaltszusammenfassung und aufbereiteter Rechtslage und wird in jedem Verfahren erstellt, § 23 GOBVerfG. Das Votum ist nur für die internen Akten bestimmt, ebenso wie die weiteren in § 34 GOBVerfG aufgezählten Schriftstücke. Herzog, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 899, 901, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Umfang des Votums davon abhängt, ob es sich um eine Vorlage für den Senat oder die Kammer handele. Senatsvoten seien umfangreicher als Kammervoten, da sie aus dem Bericht, Gutachten, Hilfsgutachten und dem Entscheidungsvorschlag bestünden sowie den Stellungnahmen der Anhörungs- und Äußerungsberechtigten. 131 Jeder Verfassungsrichter besitzt ein eigenes Dezernat mit derzeit vier wissenschaftlichen Mitarbeitern, § 13 GOBVerfG. Eine ausführliche Beschreibung des Wirkens der wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie der historischen und gesetzlichen Grundlagen findet sich bei Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 19 ff. Siehe hierzu ebenfalls Faller, in: Festschrift für Benda, S. 44 ff. (m. w. N.) und Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 917. 132 Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945, 946; so auch Graßhof, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 10, die feststellt, dass die meisten Nichtannahmebeschlüsse allein auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers ergehen. Ebenso äußert sich Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 12, in Bezug auf die Prüfung allein aufgrund des Vortrags des Beschwerdeführers.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
stabe b BVerfGG zur Folge, da eine unzulässige Verfassungsbeschwerde nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte geeignet ist133. Bestehen jedoch Erfolgsaussichten, werden die Verfahrensakten bei dem Ausgangsgericht angefordert. Bei sich anbahnenden Senatsentscheidungen oder Weiterbestehen der Erfolgsaussichten nach Auswertung der angeforderten Gerichtsakten erfolgt eine Zustellung der Verfassungsbeschwerde an äußerungsberechtigte Dritte134. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Verfassungsbeschwerde auch erfolgreich sein wird, da die endgültige Entscheidung nicht vorweggenommen wird135. Nach Prüfung des Berichterstatters gibt es zwei Möglichkeiten der weiteren Behandlung: Entweder gelangt die Verfassungsbeschwerde in die Kammer oder sie wird dem Senat vorgelegt. Es handelt sich um eine selbstständige, verfahrensgestaltende Entscheidung des Berichterstatters136. Ihm kommt somit eine entscheidende Rolle als „Filter“ oder „Weiche“ zu137. Beide Wege sollen nachfolgend beschrieben werden. 1. Verfahren in der Kammer Kommt der zuständige Berichterstatter zu dem Ergebnis, es handele sich bei der eingereichten Verfassungsbeschwerde um eine Kammersache, schlägt er der Kammer entweder die Nichtannahme oder die Annahme nach §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vor. Die Kammer prüft sodann selbst die ihr vorgelegte Verfassungsbeschwerde. Wenn nach Ansicht der Kammer die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen der §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht vorliegen, 133
Klein, NJW 1993, 2073, 2074. §§ 23 Abs. 2, 94 BVerfGG und §§ 22, 41 GOBVerfG. 135 Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945, 946. 136 Anzenberger, 1. Teil, 3. Kapitel, S. 56, spricht von einer weitreichenden Kompetenz des Berichterstatters. Zur Bedeutung des zuständigen Berichterstatters für das weitere Schicksal der Verfassungsbeschwerde siehe auch Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 913; Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 633. Ebenso Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 889 ff.: Der Berichterstatter sei Herr des Verfahrens. Er habe es ein Stück weit in der Hand, ob er durch ein Votum auf Ablehnung der Annahme in der Kammer eine Verfassungsbeschwerde als verfassungsrechtlich nicht relevant ansehe oder ob er sie umgekehrt für entscheidungswürdig halte und dies durch ein Senatsvotum untermauere. In beiden Fällen räumten seine Kollegen ihm eine gewisse Einschätzungsprärogative ein. Im Rahmen seiner Einschätzung werde der Berichterstatter die bisherige Entscheidungspraxis in der Kammer und im Senat, die Arbeitsbelastung des Senats und die tatsächlichen Umstände des Falles, das heißt, ob er für eine Senatsentscheidung geeignet ist, berücksichtigen. Wann sein Verfahren dem Senat und der Kammer vorgelegt werde, obliege ebenfalls der Entscheidung des Berichterstatters. 137 Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 726. 134
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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lehnt sie die Annahme nach § 93b Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ab138. Allerdings prüfen die Kammern die Verfassungsbeschwerde auch darauf, ob ihr keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zukommt139. Sollte die Verfassungsbeschwerde doch einmal grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung haben, muss sie dem Senat zugeleitet werden. Die Kammern sind in diesem Fall nicht zur Entscheidung befugt, wie sich aus § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ergibt140. Die Prüfung des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG durch die Kammern ist notwendig, um die Senatszuständigkeit zu wahren bzw. sie nicht zu unterlaufen. Dies wäre der Fall, wenn die Kammern das Vorliegen der Voraussetzungen nicht prüfen, sondern die Frage offen lassen würden141. Die Mitglieder der Kammer müssen sich bei der Nichtannahme oder der Annahme gemäß § 93d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG einig sein. Der Nichtannahmebeschluss wird wirksam, wenn er dem Beschwerdeführer zugeht, wobei es sich im Allgemeinen um eine formlose Bekanntgabe nach § 30 Abs. 3 BVerfGG handelt142. Wenn sich die Mitglieder der Kammer nicht einig in Bezug auf die zu treffende Entscheidung sind, entscheidet nach § 93b Satz 2 BVerfGG der Senat. Jedes Kammermitglied kann die Senatszuständigkeit auslösen, indem es entgegen den beiden anderen Mitgliedern entscheidet143. 2. Verfahren im Senat Gelangt der zuständige Berichterstatter nach Prüfung der Verfassungsbeschwerde zu der Ansicht, es handele sich um eine Senatssache, legt er sie diesem zur Entscheidung vor. Genauer gesagt erfolgt die Vorlage zunächst an den jeweiligen Senatsvorsitzenden. Dieser stellt sie unter Fristsetzung 138
Die Entscheidungsformel lautet: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“, gelegentlich enthält sie einen Hinweis zur Zulässigkeit oder Begründetheit: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig (unbegründet) ist“, Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 980. 139 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 265. 140 Siehe die Ausführungen unter B. III. 141 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 963. 142 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 26. 143 In der Praxis verweigert das Kammermitglied, das eine Sache „anhalten“ will, mit einer kurzen Begründung die Unterschrift unter der Kammerentscheidung und begründe so die Zuständigkeit des Senats. Der Grund, der das Kammermitglied dazu bewogen habe, spiele keine Rolle, da es am Bundesverfassungsgericht kein missbräuchliches oder schikanöses „Anhalten“ gebe. Typischerweise sei das Kammermitglied entweder mit der vorgeschlagenen Entscheidung nicht einverstanden oder es trage das Ergebnis zwar mit, sei aber der Auffassung, die zugrunde liegende verfassungsrechtliche Frage bedürfe der Klärung durch den Senat, Herzog, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 899, 900.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
zur Einholung von Stellungnahmen den nach § 23 Abs. 2 i. V. m. § 27a und § 94 BVerfGG Äußerungsberechtigten zu. Die Zuständigkeit des Senats wird ebenfalls begründet, wenn die Kammer keine einstimmige Entscheidung trifft, das heißt, die Verfassungsbeschwerde weder annimmt bzw. ihr stattgibt noch die Annahme ablehnt. Denn zu mehr ist sie nach § 93b Satz 1 BVerfGG nicht befugt. So ist es der Kammer verwehrt, eine förmliche Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zu treffen, die den Senat bindet. Dieser soll nicht durch die Kammer präjudiziert werden144. Zunächst muss der Senat über die Annahme der Verfassungsbeschwerde entscheiden, wobei für ihn die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG maßgeblich sind. Stimmen drei Richter zu, ist die Verfassungsbeschwerde angenommen, § 93d Abs. 3 Satz 2 BVerfGG145. Anders gewendet setzt die Nichtannahme sechs Richterstimmen bei Anwesenheit aller acht Richter des Senats voraus146. Die Annahme erfolgt wiederum nicht förmlich, sondern grundsätzlich konkludent mit der Durchführung der Beratung147. Die positive Annahmeentscheidung ist zu begründen, die Nichtannahme bedarf dagegen keiner Begründung, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG148. Nach § 22 Abs. 3 GOBVerfG obliegt die weitere Förderung des Verfahrens, insbesondere durch sachleitende Verfügungen, dem Berichterstatter im Benehmen mit dem Vorsitzenden des Senats. Ferner legt der Berichterstatter dem Senat sein Votum149 sowie die Hand144 So die Regierungsbegründung BT-Drucks. 12/3628, S. 14; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 267; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 4; Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 24. 145 Es genüge die Übereinstimmung im Ergebnis, nicht in der Begründung, da es sich nicht um eine Entscheidung in der Sache, sondern um eine Annahmeentscheidung handele, Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1025. 146 Bis zur letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes waren für die Annahme der Verfassungsbeschwerde im Senat nur zwei Richterstimmen erforderlich. Es zeigt sich auch an dieser Stelle die schon erwähnte Verschärfung. Siehe ebenfalls die Ausführungen unter B. I. 6. 147 Der früheste Zeitpunkt für die Annahmeentscheidung ist die Aufnahme der Senatsberatungen, wohingegen der späteste Zeitpunkt der Beschluss des Senats darstellt, über die Verfassungsbeschwerde mündlich zu verhandeln, Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 24; ähnlich Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 35. 148 Für die Nichtannahmebeschlüsse des Senats gilt das für die Nichtannahmebeschlüsse der Kammer Gesagte entsprechend, siehe die Ausführungen unter B. III. und B. IV. 1. 149 Der Einfluss des Berichterstatters auf das jeweilige Verfahren sei beträchtlich, da er mit Hilfe seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter das Votum erstelle und daher mit dem Verfahren in einer Weise vertraut sei, wie es die anderen Senatsmitglieder nicht sein könnten, Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 891. Der Informationsvorsprung des Berichterstatters schaffe leicht Spannungen, wenn es andere Meinungen gebe. Dies könne durch sorgfältige Vorbereitung der anderen Richter,
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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akten mit allen verfahrens- und entscheidungserheblichen Schriftstücken vor. Zwischen Erhalt des Votums und der Beratung oder mündlichen Verhandlung sollen mindestens zehn Tage liegen, § 23 Abs. 1 und 2 GOBVerfG. Unter den Voraussetzungen des § 95 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG kann das Gericht von einer mündlichen Verhandlung absehen, was auch häufig geschieht. Wenn der Senat der Verfassungsbeschwerde stattgeben will, muss die Mehrheit der Richter des Senats zustimmen, § 15 Abs. 4 Satz 2 BVerfGG. Der Senat ist gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG beschlussfähig, wenn mindestens sechs Richter anwesend sind. Für die Mehrheitsverhältnisse bei der Stattgabe bedeutet das, dass vier von sechs, vier von sieben oder fünf von acht Richtern ihre Zustimmung erklären müssen150. Kommt diese Mehrheit nicht zustande, ist die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Schließlich hat der Senat nach § 24 Satz 1 BVerfGG noch die Möglichkeit der a-limine-Abweisung. Unzulässige oder offensichtlich unbegründete Anträge können durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen werden. Eine weitere Begründung kann nach Satz 2 der genannten Norm entfallen, wenn der Antragsteller auf die Bedenken der Zulässigkeit oder Begründetheit hingewiesen wurde. 3. Die Schwachstellen des Annahmeverfahrens Die praktische Ausgestaltung offenbart einige weitere Schwachstellen. Dies zeigt ebenso die kritische Begleitung im Schrifttum151. Einige besonders markante Punkte werden im Folgenden herausgegriffen. a) Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kammer und dem Senat Die Zuständigkeitsverteilung und damit die Sachentscheidungskompetenz zwischen den Senaten und den Kammern wird, neben § 93b BVerfGG, maßgeblich von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG beeinflusst. Aufgrund der weiten Formulierung ist es nicht in jedem Fall einfach zu bestimmen, ob die Kammerzuständigkeit gegeben ist. Entscheidet die Kammer, obwohl sie unzuständig war, ist die Entscheidung wegen Vorstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 insbesondere des Vorsitzenden, und durch gegenseitigen Respekt ausgeglichen werden, Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 642. Siehe zum Einfluss des Berichterstatters auch Teil B., Fn. 136. 150 Der Berichterstatter habe den ersten Zugriff auf die Entscheidungsgründe, da er den Entwurf bearbeite. Hier setze sich der schon beschriebene starke Einfluss des Berichterstatters auf das Verfahren fort, Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 889. 151 Zu den Schwächen des Annahmeverfahrens siehe Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1010 (m. w. N.).
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
Satz 2 GG verfassungswidrig152. Neben der Verfassungswidrigkeit der getroffenen Entscheidung gibt es noch eine etwas verstecktere Problematik. Liegen die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nach Auffassung der Kammer vor, gibt diese der Verfassungsbeschwerde statt und entscheidet den Fall abschließend. Der Senat bleibt außen vor. Dies stellt kein Problem dar, wenn die Rechtsprechung des Senats zu der im Fall aufgeworfenen Rechtsfrage aktuell und gefestigt ist. Handelt es sich aber um ältere Rechtsprechung oder haben sich die Mehrheiten im Senat verändert, sodass eine Änderung der Rechtsprechung in Frage käme, tritt das Problem offen zu Tage. Indem die Kammer den Fall abschließend entscheidet, entzieht sie dem Senat die Möglichkeit, sich seiner Rechtsprechung zu vergewissern oder sie zu ändern153. Auf die Spitze getrieben hätten es drei Richter in der Hand, eine Senatsentscheidung zu verhindern. Der Senat hat keine verfahrenstechnische Möglichkeit, die Entscheidung an sich zu ziehen. Weiterhin ist zu beachten, dass es üblicherweise sechs Kammern gibt. Es besteht somit die naheliegende Möglichkeit, dass jede Kammer die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen anders auslegt154. Dies wiederum kann zur Folge haben, dass sich Kammerentscheidungen in einer Rechtsfrage widersprechen155. Ein solcher Zustand ist unter rechtspolitischen Gesichtspunkten problematisch156. Fatale Folgen hätte er, wenn die stattgebenden Entscheidungen der Kammer an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teilnehmen würden157. Denn es existiert keine dem § 16 BVerfGG entsprechende Vorschrift, wenn eine Kammer in einer Rechtsfrage von der Entscheidung der anderen abweichen will158. Zudem haben die Kammern keine Möglichkeit, ihrerseits den Senat oder gar das Plenum anzurufen. Die Senate können jedoch anlässlich der Entscheidung in einem anderen Verfahren die Entscheidungen der Kammern korrigieren oder ändern159. 152 Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 15a Rn. 10; siehe auch Sendler, NJW 1995, 3291 ff., der sich sehr kritisch – zu der aus seiner Sicht – zu großzügigen Annahme der Kammerzuständigkeit zulasten der Senate äußert. 153 Benda, NJW 1995, 429, 430. 154 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn 917b, führt die fehlende Konstanz der Kammerrechtsprechung auch auf die vorgeschriebenen Wechsel der Richter nach § 15a Abs. 1 Satz 3 BVerfGG zurück. 155 So auch Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 431. 156 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 296. 157 Siehe Teil B., Fn. 114. 158 Kritisch zu der Frage, ob § 16 BVerfG überhaupt geeignet ist, eine divergierende Rechtsprechung der beiden Senate zu verhindern, Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1150 f. Nach seiner Auffassung nimmt die Rechtsprechung der Senate seit langem einen unterschiedlichen Weg.
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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Die Gefahr der Verselbstständigung der Kammern und der unterschiedlichen Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wird innerhalb des Gerichts als nicht akut angesehen. Die einzelnen Mitglieder des Senats bemühten sich, einen einheitlichen Entscheidungsmodus zu finden. Es sei für jedes Senatsmitglied wichtig, dass nicht von den Richtern, die nicht der Kammer angehören, Kritik laut werde. Dies sei jedoch der Fall, wenn sich die Ansichten zu weit voneinander entfernten. Die Wertschätzung der Kollegen stelle ein genügend starkes Kontrollmittel dar, solange die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Senat als Ganzes gewährleistet sei und sämtliche Entscheidungen der Kammern in vollem Wortlaut über die Tische aller Kollegen gingen160. b) Die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Präsidialräte Die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht im Besonderen und an den obersten Gerichten im Allgemeinen ist seit jeher kritisch beurteilt worden161. Im Fokus steht eine mögliche Verletzung der Art. 92, Art. 97, Art. 101 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG sowie der Prozessmaximen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit durch den Einsatz von wissenschaftlichen Mitarbeitern zur Unterstützung der Verfassungsrichter162. Um diese Problematik zu verstehen, muss zunächst auf die Tätigkeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter und ihre rechtlichen Grundlagen eingegangen werden. Eine gesetzliche Regelung, etwa im BVerfGG, existiert bis heute nicht. Lediglich § 13 GOBVerfG enthält Aussagen zur Stellung und Funktion163. Demnach sind die wissenschaftlichen Mitarbeiter bei ihrer Tätigkeit an die Weisungen ihres Richters gebunden, werden von ihm selbst ausgewählt und beurteilt. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, bei denen es sich um Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, teilweise auch Rechtsanwälte und Mitarbeiter von Hochschulen handelt, werden üblicherweise im 159 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93c Rn. 18. Ein Senat des Bundesverfassungsgerichts kann in einer Rechtsfrage von der Entscheidung einer Kammer des anderen Senats zu derselben Rechtsfrage abweichen, ohne das Plenum anrufen zu müssen. § 16 Abs. 1 BVerfGG gilt nur für die Abweichung von Senaten untereinander, BVerfGE 23, 191, 206 f. 160 Jaeger, EuGRZ 2003, 149, 150. 161 Siehe etwa Buchholz, DRiZ 1959, 46; Bichelmeir, Der juristische Hilfsarbeiter an den obersten deutschen Gerichten, S. 37 ff. und 116 f.; Kohl, in: Gedächtnisschrift für Nagelmann, S. 387 ff.; Zuck, DÖV 1974, 305 ff. 162 Bichelmeir, Der juristische Hilfsarbeiter an den obersten deutschen Gerichten, S. 116; Zuck, DÖV 1974, 305. 163 Kritisch hierzu Zuck, NJW 1996, 1656 f.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
Wege der Abordnung oder eines Arbeitsvertrages beschäftigt164. Die konkrete Tätigkeit der Mitarbeiter hängt vom Willen des Richters ab. Er kann sie nach Arbeitsanfall, nach Beschwerdeführernamen oder nach Sachgebieten einsetzen sowie zur Vorbereitung einer Einzelfrage oder eines ganzen Falles heranziehen. Der Mitarbeiter kann große Freiheiten bei der Abfassung der Voten haben oder sogar nach außen tätig werden165. Besonders kritisch wird die Zuarbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter für den jeweiligen Richter gesehen. Es wird als widersprüchlich empfunden, wenn einerseits von Seiten des Gerichts der Eindruck erweckt werde, die Richter begründeten ihre Entscheidung selbst oder kontrollierten die Begründung wenigstens sorgfältig und andererseits seien die Mitarbeiter unerlässlich zur Bewältigung der Antragsflut. Daraus wird geschlossen, dass die Richter nicht über alle Anträge entscheiden können, selbst wenn sie sich noch so gut organisierten166. Überwiegend wird eine Verletzung der oben genannten Normen des Grundgesetzes und Prozessmaximen verneint, solange der jeweilige Verfassungsrichter seine Entscheidungs- und Verantwortungskompetenz uneingeschränkt wahrt167, die Verantwortlichkeiten klar festgestellt und damit Publizität sowie öffentliche Kontrolle möglich werden168, der Status bzw. die Funktion gesetzlich geregelt werden169. Ähnlich gelagert ist die Problematik der Arbeit der Präsidialräte. Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Über Verfassungsbeschwerden entscheidet nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG das Bundesverfassungsgericht, genauer gesagt, die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Die bereits erläuterte Praxis der Belehrungsschreiben170 durch Präsidialräte im Verfahren des Allgemeinen Registers stößt daher auf Kritik171. Während die einen davon ausgehen, dass die Präsidialräte nicht über die Verfassungsbeschwerde entscheiden, sondern über die Frage, ob 164 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 21; ähnlich Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 77, 108 f. 165 Zuck, NJW 1996, 1656, 1656; ähnlich Faller, in: Festschrift für Benda, S. 44, 47; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 22; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93b Rn. 11. 166 Roellecke, NJW 2001, 946, 947; Lamprecht, NJW 2001, 419 ff; siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. IV. 3. e). 167 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Vor §§ 93a ff. Rn. 24; Faller, in: Festschrift für Benda, S. 44, 48. 168 Zuck, DÖV 1974, 305, 307. 169 Ebd. 170 Siehe die Ausführungen unter B. IV. 171 Siehe insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Schlink, NJW 1984, 89 ff., 2195 f., und Wand, NJW 1984, 950 ff., 2196 f. Jüngst Selder, ZRP 2011, 164 f.
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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dem Beschwerdeführer von Amts wegen ein Hinweis zu erteilen ist, es mit anderen Worten sich um keine Vorentscheidung durch nichtrichterliche Beamte handelt, sondern um einen Hinweis auf die Rechtslage172, gehen andere davon aus, dass diese Verfahrensweise aufgrund der (fehlenden) Voraussetzungen und der unkalkulierbaren rechtlichen Auswirkungen rechtlich bedenklich ist, insbesondere, weil es sich bei der Verfassungsbeschwerde um eine Bürgerbeschwerde handelt173. Zudem könne dem Bürger eine richterliche Entscheidung vorenthalten werden, wenn er nicht auf eine Übertragung in das Verfahrensregister bestehe174. In diesem Kontext wird ebenfalls die fehlende gesetzliche Verankerung des Allgemeinen Registerverfahrens im BVerfGG bemängelt175. Zudem handele es sich bei der Entscheidung der Präsidialräte um Entscheidungen der Verwaltung und nicht des Gerichts. Verfassungsrechtlich befriedigend könne die Sache nur über eine „gewisse richterliche Beteiligung“ gelöst werden176. Vorgetragen wird auch, dass angesichts der Vielzahl der durch die Präsidialräte zu bearbeitenden Verfahren deren rechtliche Ausführungen in den Belehrungsschreiben nur summarisch und an der Oberfläche bleiben könnten. Wenn aufgrund des Belehrungsschreibens dann Verfassungsbeschwerden zurückgenommen würden, sei 172 So Wand, NJW 1984, 950, 952, und Anzenberger, 1. Teil, 3. Kapitel, S. 55. Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 261, stimmen dem zu, weisen aber darauf hin, dass die Geschäftsordnung von Entscheidung spricht und sich die Praxis so auswirken dürfte. Ferner sei nicht auszuschließen, dass Beschwerdeführer das Belehrungsschreiben für eine Entscheidung des Gerichts hielten. Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 316 f., geht davon aus, dass sich die Bedenken gegen eine „nichtrichterliche“ Behandlung der Verfassungsbeschwerde angesichts der Folgenlosigkeit der Eintragung in das Allgemeine Register relativieren. Der Beschwerdeführer könne auf Übertragung in das Verfahrensregister nach § 61 Abs. 2 GOBVerfG bestehen. 173 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 8. 174 Selder, ZRP 2011, 164, 165. 175 Schlink, NJW 1984, 89, 90 ff. Zudem geht es ihm in diesem Kontext um die Praxis, Verfassungsbeschwerden als erledigt anzusehen, ohne dass der Beschwerdeführer diese ausdrücklich zurückgenommen hat, sondern nur untätig bleibt; ebenso Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 886, hält die Regelung des § 60 Abs. 2 GOBVerfG in der Geschäftsordnung für fehlplatziert, da Regelungen, die Rechtsbeziehungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten enthielten, in die Prozessordnung gehörten; kritisch zu dieser Erledigungspraxis und der Verankerung der Rechtsgrundlage auch Selder, ZRP 2011, 164, 165. 176 Schlink, NJW 1984, 89, 90 ff. Auch Spieß, BayVBl. 1996, 294, 295, sieht in dem Vorgehen der Präsidialräte eine sachliche Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde. Die Entscheidung über die Eintragung in das Allgemeine oder Verfahrensregister komme einer Vorprüfung der Verfassungsbeschwerde gleich. Ähnlich äußert sich Wieland, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 885, 886, der es wegen des Vorrangs des Gesetzes nicht für möglich hält, die Prüfung der Zulässigkeit oder der Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde vorläufig, das heißt bis zu einem Insistieren des Beschwerdeführers, auf die Präsidialräte zu übertragen.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
dies, im Hinblick auf die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde, keine befriedigende Lösung. Aus praktischen Gründen könne auf das Verfahren jedoch nicht verzichtet werden177. c) Der fehlende Begründungszwang Schon im Gesetzgebungsverfahren wurde die Regelung des § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG kritisch beurteilt, wonach die Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde keiner Begründung bedarf178. Sinn und Zweck des Fehlens eines Begründungszwangs bei einer Ablehnung der Verfassungsbeschwerde ist die Entlastung des Gerichts179. Über die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift und die dahinter stehende Frage der Existenz einer Begründungspflicht für letztinstanzliche Entscheidungen herrscht Streit. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass sich dem Grundgesetz keine Verpflichtung dahingehend entnehmen lasse, dass jede gerichtliche Entscheidung, auch eine mit ordentlichen Rechtmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche, zu begründen sei180. Es lässt jedoch zwei Ausnahmen zu, zum einen, wenn vom eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und sich der Grund hierfür nicht hinreichend aus den dem Betroffenen bekannten Gründen oder für ihn ohne weiteres erkennbaren Be177 Spieß, BayVBl. 1996, 294, 295 f.; zustimmend Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93b Rn. 10; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor § 93a Rn. 9. 178 So die Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf (BT-Drucks. 12/3628, S. 16), die zumindest einen Hinweis auf den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt für erforderlich gehalten hatte. In ihrer Gegenäußerung (BT-Drucks. 12/3628, S. 18) lehnte die Bundesregierung dies ab. In der Nichtannahme komme konkludent zum Ausdruck, dass nach Auffassung des Gerichts ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliege. Es sei dem Bürger daher zumutbar, die Entscheidung eines obersten Verfassungsorgans in einem außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren auch ohne Begründung zu akzeptieren. 179 BT-Drucks. 12/3628, S. 14; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93d Rn. 7, bezweifelt den Entlastungseffekt, da ein Votum zu jeder Verfassungsbeschwerde erstellt werde, auch bei einer Ablehnung. Ebenso Klein, NJW 1993, 2073, 2075. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93d Rn. 9, sieht, entgegen den Zweifeln im Schrifttum, einen Entlastungseffekt als gegeben an. Der zuständige Berichterstatter müsse trotz des vorliegenden Votums die Gründe in Beschlussform abfassen. Dabei müsse die Formulierung so gewählt sein, dass auch im Fall einer Veröffentlichung Missverständnisse oder Missdeutungen ausgeschlossen seien. Zudem sei zu beachten, dass die beiden anderen Kammermitglieder zwar im Ergebnis die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde befürworten, aber in der Begründung abweichen können. Dies würde zusätzlichen Abstimmungsbedarf erfordern. Ähnlich äußert sich Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93d Rn. 6. 180 BVerfGE 50, 287, 289 f.
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sonderheiten des Falles bestimmen lässt181. Zum anderen, wenn ein Gericht von der bisherigen höchstrichterlichen Auslegung einer Norm des einfachen Rechts abweicht und sich eine Rechtfertigung hierfür nicht aus den Umständen des Falles entnehmen lässt182. Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt die Entbehrlichkeit einer Begründung bei letztinstanzlichen Entscheidungen mit folgendem Argument: Die Begründung diene aus rechtsstaatlichen Gründen dazu, dem Bürger eine sachgemäße Verteidigung seiner Rechte zu ermöglichen. Bei letztinstanzlichen Entscheidungen könne dieser Zweck nicht mehr erfüllt werden183. Es hält das fehlende Begründungserfordernis auch mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG für unbedenklich. Der Anspruch auf rechtliches Gehör beinhalte kein Recht auf eine Gegenerklärung des Gerichts, sondern gewährleiste dem Beschwerdeführer nur, sein Anliegen dem Senat oder der Kammer vorzutragen184. Das Gericht hält § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG somit für nicht verfassungswidrig. Nach Kischel folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip die Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlicher Machtausübung, die Ablehnung staatlicher Heimlichkeit, die Emanzipation vom Untertan zum Bürger, die Notwendigkeit der Konstituierung des Staates durch das Recht, die Messbarkeit staatlichen Handelns im Sinne von Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit, die Verlässlichkeit staatlichen Handelns im Sinne von Klarheit und Verständlichkeit, die Rechtssicherheit und die Kontrolle im Rahmen der Gewaltenteilung. Das Demokratieprinzip verlange Transparenz und Offenheit staatlicher Tätigkeit. Nichts anderes folge aus dem Fairnessgebot, das als Sammelbegriff für rechtsstaatlich geforderte Aspekte der Verfahrensgerechtigkeit stehe185. Daraus ergibt sich nach Kischel sowohl für das Urteil als auch für den Beschluss ein Begründungszwang186. Eine Begründungspflicht besteht nach seiner Auffassung ebenfalls für letztinstanzliche Entscheidungen, die er mit den bereits genannten Aspekten der Begründungspflicht rechtfertigt. Er wendet sich besonders gegen die Argumentation, wonach der Wegfall der Begründungspflicht bei letztinstanzlichen Entscheidungen der Entlastung der Gerichte bzw. der Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit dienen soll187, die nicht zuletzt bei den Nichtannahmebeschlüssen vorgebracht 181 BVerfGE 71, 122, 135 f.; BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 6.9.1996 – 1 BvR 1485/89, NJW 1997, 1693, 1693; BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 4.4.1998 – 1 BvR 968/97, NJW 1998, 3484, 3485. 182 BVerfGE 81, 97, 106; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 8.12.1992 – 1 BvR 326/89, NJW 1994, 574, 574. 183 BVerfGE 50, 287, 290. 184 BVerfGE 19, 88, 92; zustimmend Anzenberger, 1. Teil, 3. Kapitel, S. 50. 185 Kischel, Begründung, S. 178. 186 Kischel, Begründung, S. 178 f. 187 Kischel, Begründung, S. 187 ff.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
wurde188. Gemessen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit könne man dem Gesetzgeber, aufgrund seines weiten Einschätzungsspielraums, zwar nicht vorschreiben, als milderes Mittel der Justiz mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die Streichung einer Gerichtsinstanz sei jedoch gegenüber dem Wegfall der Begründungspflicht ein milderes Mittel. Denn die Begründungspflicht habe Verfassungsrang, während ein Instanzenzug nach Art. 19 Abs. 4 GG gerade nicht garantiert werde189. Weiter führt er an, dass der entscheidende Richter den Fall sowieso durchdenken muss. Dann mache es keinen Mehraufwand, eine kurze Begründung abzufassen190. Vor dem Hintergrund der überragenden Bedeutung und Verantwortung der Verfassungsgerichtsbarkeit stuft er den fehlenden Begründungszwang der Nichtannahmebeschlüsse als verfassungswidrig ein191. d) Die verkappten Annahmebeschlüsse Zwar bedarf die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde nach der gesetzlichen Regelung in § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG keiner Begründung. Trotzdem weichen die Kammern häufig davon ab und fügen ihren Nichtannahmebeschlüssen umfangreiche Ausführungen hinzu. Rechtlich gesehen handelt es sich bei begründeten Nichtannahmebeschlüssen um keine Sachentscheidungen. Sie haben daher keinerlei Bindungswirkung192. Sie als rechtliches Nullum abzutun, wäre jedoch voreilig. Denn hinter diesen Nichtannahmebeschlüssen der Kammern steht die Autorität des Bundesverfassungsgerichts mit der unausgesprochenen Ankündigung, bei nächster Gelegenheit eine Entscheidung mit der Bindungswirkung des § 31 BVerfGG herbeiführen zu können. Obwohl es sich um ein rechtliches Nullum handelt, kann einem begründeten Nichtannahmebeschluss faktisch die Wirkung einer Annahme- bzw. Stattgabe zukommen, sodass man sie in diesem Fall als verkappte Annahme bezeichnen kann. Zur Verdeutlichung dieser faktischen Wirkung dient folgender Fall: In einem richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren um die Stelle des Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz nahm die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde nach der erfolglosen Inanspruchnahme des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zur Entscheidung an. Dennoch versah sie ihren Nichtannahmebeschluss mit einer Begründung, in der dem Beschwerdeführer nahe gelegt wurde, zunächst fachgerichtlichen Rechtsschutz in der 188 189 190 191 192
BT-Drucks. 12/3628, S. 14. Kischel, Begründung, S. 193 ff. Kischel, Begründung, S. 199 ff. Kischel, Begründung, S. 399. Siehe die Ausführungen unter B. III. und B. IV. 1.
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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Hauptsache vor den Verwaltungsgerichten zu suchen, dessen Inanspruchnahme nicht offensichtlich aussichtlos erscheine. Zudem attestierte die Kammer ihm eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 33 Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG193. Zwar hatte der Beschwerdeführer in der Sache vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Erfolg, dennoch nahm das Bundesverwaltungsgericht, das der Klage des Beschwerdeführers im Wesentlichen stattgab, auf diesen Nichtannahmebeschluss Bezug. So führte es in seinem Urteil aus, dass der Justizminister die sich aus Art. 33 Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG ergebende Wartepflicht missachtet habe und dieser Verfassungsverstoß bereits durch den Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts festgestellt sei194. Dem Bundesverwaltungsgericht – und den Vorinstanzen – blieb aufgrund des Nichtannahmebeschlusses keine andere Wahl mehr, als der Klage zu entsprechen. Anderenfalls hätte das Urteil vor dem Bundesverfassungsgericht wohl keinen Bestand gehabt. Vor diesem Hintergrund darf die Wirkung eines Nichtannahmebeschlusses nicht unterschätzt werden. Dies wissend, werden die Begründungen in den Nichtannahmebeschlüssen von den Kammern zu verschiedenen Zwecken eingesetzt195. Die verfolgten Zwecke sind von dem konkreten Adressaten abhängig. Als Adressat kommen zum einen der Beschwerdeführer und zum anderen die Fachgerichtsbarkeit oder noch weitgehender die Allgemeinheit in Frage. Nimmt man die Perspektive des Beschwerdeführers ein, dient ein begründeter Nichtannahmebeschluss der Herstellung von Akzeptanz196. Er kann auch als Mittel genutzt werden, um den Beschwerdeführer auf eigene oder Versäumnisse seines Bevollmächtigten hinzuweisen oder ihm zu erklären, wie er sein Begehren vor den Fachgerichten verfolgen kann, wenn die Verfassungsbeschwerde am Grundsatz der Subsidiarität scheitert197 bzw. der Rechtsweg nicht erschöpft wurde198. Schließlich wird der Nichtannahmebeschluss begründet, wenn dem Beschwerdeführer eine Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG auferlegt wird199. Aus der Perspektive der Fachgerichte dienen begründete Nichtannahmebeschlüsse nicht selten als 193
BVerfGK 12, 206, 208. BVerwG NVwZ 2011, 358, 362. 195 Pestalozza, VerfProzR, 3. Aufl., § 20 Rn. 31 ff., teilt die Rechtsgründe als Teil der Gründe in nebensächliche, tragende und bindende ein, wobei er die nebensächlichen nochmals in beratende, warnende, dokumentierende und bevorratende Nebengründe unterteilt. 196 Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 613, 641; Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93d Rn. 7; Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1147, spricht in diesem Zusammenhang von dem Befriedungseffekt. 197 Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1147. 198 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93d Rn. 12. 199 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93d Rn. 11; Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93d Rn. 7. 194
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
Steuerungsinstrument, um – aus Sicht der Kammer – auf Fehlentwicklungen hinzuweisen oder diese zu korrigieren200. Gerade die Verwendung des Nichtannahmebeschlusses in der zuletzt beschriebenen Weise stößt auf Ablehnung. Die moderate Kritik hält die Nichtannahmebeschlüsse für rechtlich ungeeignet, dem Gesetzgeber, den Fachgerichten und dem Rechtsverkehr rechtliche Vorgaben zu machen, erkennt aber die faktische Klärung von Rechtsfragen an201. Die schärfere Kritik sieht in den begründeten Nichtannahmebeschlüssen einen Tummelplatz für das rechtspolitische Engagement der Richter, den es zu schließen gelte202. Wenn evident unzulässige, unbegründete oder sonst nicht annahmefähige Verfassungsbeschwerden im Wege von obiter dicta auf diese Weise genutzt würden, solle die Begründung ganz unterbleiben203. e) Stellungnahme Die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen der Kammer und dem Senat in Bezug auf die Zuständigkeit bzw. die Sachentscheidungskompetenz sind systemimmanent. Sie lassen sich nur durch eine völlige Umgestaltung des aktuellen Annahmeverfahrens beseitigen. Hauptursächlich ist die Verwendung zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe in den §§ 93a Abs. 2 und 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG204. Unbestimmte Rechtsbegriffe werden zum einem verwendet, weil es unmöglich ist, alle regelungsbedürftigen Vorgänge zu erfassen, zum anderen, um dem Normanwender einen weiteren Spielraum zu lassen205. Bei dem Tatbestandsmerkmal angezeigt in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG verfolgte der Gesetzgeber den zweiten Zweck206. Heck hat solche Normen als Delegationsnormen eingestuft207, weil sie dem Richter normsetzende Aufgaben zuweisen208. Diese Gesetzestechnik macht es fast unmöglich, eine abstrakte Definition zu entwickeln, die alle Fälle erfasst. Es kann daher nur von Fall zu Fall untersucht werden, ob die Zuständigkeitsvorschriften eingehalten worden sind. Ein möglicher Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bleibt folgenlos, zumindest auf innerstaatli200 Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 613, 641. Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1147. Beispiele, die diese Praxis verdeutlichen, finden sich bei Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 739. 201 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 50. 202 Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1147. 203 Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 15a Rn. 28. 204 Ebenso Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 36. 205 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn 836. 206 Siehe Teil B., Fn. 252. 207 Heck, Grundriss des Schuldrechts, § 4, 1. 208 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn 836.
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cher Ebene. Dies verpflichtet insbesondere die Kammern, die in der Regel zuerst mit einer Verfassungsbeschwerde konfrontiert sind, zu einer sorgfältigen Prüfung. Ob die Wertschätzung der anderen Senatsmitglieder zur „Disziplinierung“ einer Kammer ausreicht und so der Verselbstständigung der Kammer sowie ihrer Rechtsprechung vorgebeugt werden kann, lässt sich von außen schwer beurteilen. Es existieren jedenfalls keine ausreichenden gesetzlichen Sicherungen. Sowohl die Tätigkeit der Präsidialräte als auch die der wissenschaftlichen Mitarbeiter könnte man als Filterarbeit bezeichnen209. Die Kritik an der Filterarbeit der Präsidialräte ist unbegründet. Die von ihnen verfassten Schreiben an Beschwerdeführer können nicht als Vorentscheidung durch nichtrichterliche Beamte eingestuft werden, was einen Verstoß gegen Art. 92 GG zur Folge hätte210. Solange die Schreiben so abgefasst sind, dass daraus hervorgeht, von wem sie stammen, nämlich einem Präsidialrat, und welchem Zweck sie dienen, einem Hinweis an den Beschwerdeführer über die Aussichten seiner Verfassungsbeschwerde, ist für den Adressaten erkennbar, dass es sich gerade nicht um eine Vorentscheidung eines Richters handelt. Zusätzlich wird der Beschwerdeführer auf sein Recht der Übertragung in das Verfahrensregister nach § 61 Abs. 2 GOBVerfG im Rahmen des Schreibens hingewiesen. Zwar kann der juristische Laie Schwierigkeiten mit der Einordnung der Funktion eines Präsidialrates am Bundesverfassungsgericht haben, selbst für manchen Juristen dürfte dies zutreffen, aber man sollte ihm zubilligen, dass er aufgrund des Schreibens die Situation erfassen kann. Im Schriftverkehr mit den Gerichten allgemein wird dem Bürger ebenfalls zugetraut, dass er erkennen kann, ob es sich um ein richterliches Schreiben oder eines der Gerichtsverwaltung handelt und was von ihm verlangt wird. Die fehlende Verankerung des Allgemeinen Registerverfahrens im Bundesverfassungsgerichtsgesetz sollte durch den Gesetzgeber jedoch behoben werden, um die Legitimation des Verfahrens zu erhöhen. Denn dem Allgemeinen Register kommt ebenso eine Filterfunktion zu wie dem Annahmeverfahren und Letzteres ist im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt. Die Kritik an der Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter trifft demgegenüber einen wunden Punkt im Annahmeverfahren. Zunächst ist die Forderung zu unterstützen, dass die Arbeit und Funktion der wissenschaftlichen Mitarbeiter einer Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz bedarf. Mehr noch als die Tätigkeit der Präsidialräte stellt die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter einen Filter dar. Sie bereiten die Fälle auf und 209 So auch Spieß, BayVBl. 1996, 294, 295 in Bezug auf das Allgemeine Register. 210 Rupprecht, JZ 1970, 207, 212.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
verfassen die Votenvorschläge für den Richter. Man könnte sagen, sie sind „näher dran“ an der richterlichen Entscheidung als die Präsidialräte. Vor diesem Hintergrund reicht § 13 GOBVerfG erst recht nicht als normative Grundlage aus211. Es ist in der Tat widersprüchlich, wenn das Gericht auf der einen Seite den Eindruck erweckt, die Richter erstellten ihre Voten selbst oder kontrollierten diese sorgfältig und auf der anderen Seite jeder Richter aktuell vier Mitarbeiter beschäftigt. Die Zuarbeit hat ihre natürlichen Grenzen in der Arbeitskapazität desjenigen, dem zugearbeitet wird, also dem Richter. So stellte Zuck schon 1974 fest, „wenn richterliche Aufgaben ein solches Ausmaß angenommen haben, dass sie nur mit zwei Mitarbeitern bewältigt werden können, dann handelt es sich um eine Fiktion, wenn anschließend festgestellt wird, alle Entscheidungen treffe der Richter selbst“212. Benda konstatierte 1980, dass die zeitliche Auslastung der Richter mittlerweile so groß ist, dass sie kaum noch die Zeit finden würden, um die Voten eines dritten Mitarbeiters gründlich für den Senat aufzuarbeiten213. Ähnlich äußerte sich Böckenförde bei seiner Abschiedsrede 1996 zu dem Problem der Arbeitsüberlastung der Richter und ihrer Arbeitskapazität214, und auch Faller stellt vor dem Hintergrund der richterlichen Auslastung die Zuarbeit von drei Mitarbeitern in Frage215. Die aktuelle Mitarbeiterzahl beträgt vier pro Richter. Wenn man nicht davon ausgehen will, dass die Arbeitskapazität der jetzigen Richter – bei gestiegenen Eingangszahlen – höher ist als die der damaligen, muss man den folgenden Schluss ziehen: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter leisten mehr als nur einfache Zuarbeit und Aufbereitung der Fälle. Wenn der Richter aufgrund seiner enormen Arbeitsbelastung nur noch dazu kommt, das Votum zu überfliegen und dann unterschreibt, entscheidet tatsächlich der Mitarbeiter den Fall. Dies ist natürlich, im Hinblick auf Art. 92 GG, bedenklich, denn die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern und nicht ihren Mitarbeitern anvertraut. Es gibt keine abstrakte Grenze, an der die Zuarbeit aufhört und die richterliche Arbeit beginnt. Sie dürfte jedoch überschritten sein, wenn der einzelne Richter aufgrund des Zeitmangels die Voten nur noch überfliegt oder weitergehend sogar zu einer Blindunterschrift gezwungen ist216. Die aktuelle Situation kann jedoch nicht dem Bundesverfassungsgericht angelastet werden. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, für Abhilfe zu sorgen. 211 Zuck, NJW 1996, 1656, 1656, nennt sie pointiert „die Gesetzlosen“, weil die gesetzliche Grundlage fehlt. 212 Zuck, DÖV 1974, 305, 307. 213 Benda, NJW 1980, 2097, 2103. 214 Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 282. 215 Faller, in: Festschrift für Benda, S. 44, 49. 216 Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 282, hält eine Blindunterschrift für unzulässig und für eine nicht unerhebliche Verletzung richterlicher Amtspflichten.
IV. Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
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Die Frage der Verfassungswidrigkeit von § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG hängt unter anderem davon ab, ob man Kischel folgt und einen verfassungsrechtlich verankerten Begründungszwang für letztinstanzliche Urteile bzw. Beschlüsse annimmt. Teilt man diese Auffassung, ist die Regelung des § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG verfassungswidrig. Überwiegend wird die Norm jedoch als verfassungskonform angesehen, da die Existenz eines grundgesetzlichen Begründungszwangs verneint wird217. Die besseren Argumente sprechen für Kischel. Die von ihm aufgezählten Aspekte, die hinter der Begründungspflicht stehen, rechtfertigen den Begründungszwang für Nichtannahmebeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts. Hinzu kommt, dass in jedem Fall zu der eingehenden Verfassungsbeschwerde ein Kurzvotum angefertigt wird. Es stellt in der Tat keinen Mehraufwand dar, die maßgeblichen Passagen daraus in den Ablehnungsbeschluss zu übernehmen218. Ein Urteil oder Beschluss dient immer auch der Herstellung von Rechtsfrieden. Ein letztinstanzliches Urteil schafft Rechtsfrieden, indem ein weiteres Prozessieren mangels höherer Instanz ausgeschlossen ist. So wird der Rechtsfrieden aber nur erzwungen, insbesondere, wenn jegliche Begründung fehlt. Eine wirkliche Befriedung im Sinne von Akzeptanz der Entscheidung dürfte nur eintreten, wenn der Betroffene zumindest anhand einer Begründung nachvollziehen kann, warum in der einen und nicht in der anderen Weise entschieden wurde. Im Hinblick auf die Problematik der verkappten Annahmebeschlüsse ist zwischen der Perspektive des Beschwerdeführers und der Perspektive der Fachgerichtsbarkeit oder der Allgemeinheit zu differenzieren. Nichts einzuwenden ist gegen die Begründung eines Nichtannahmebeschlusses, wenn sie dazu dient, den Beschwerdeführer auf eigene oder Versäumnisse seines Bevollmächtigten hinzuweisen oder ihm zu erklären, wie er sein Begehren vor den Fachgerichten verfolgen kann, wenn die Verfassungsbeschwerde am Grundsatz der Subsidiarität scheitert bzw. der Rechtsweg nicht erschöpft wurde. Das in diesem Zusammenhang genannte Argument der Herstellung 217 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93d Rn. 8; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93d Rn. 7, der sich mit der von Kischel hergeleiteten verfassungsrechtlichen Begründungspflicht argumentativ beschäftigt, sie im Ergebnis aber ablehnt. Dennoch äußert er sich kritisch zur fehlenden Begründungspflicht. Er sieht wegen der fehlenden Begründung den Zugang zum EGMR in unzumutbarer Weise beschränkt, denn die Verfassungsbeschwerde bliebe Zulässigkeitsvoraussetzung für die Menschenrechtsbeschwerde nach Art. 35 Abs. 1 EMRK. In den Fällen, in denen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufgrund von zivil- oder strafrechtlichen Verfahren ergingen, werde aufgrund der fehlenden Begründung des Beschlusses Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. 218 So auch Spieß, BayVBl. 1996, 294, 300; Klein, NJW 1993, 2073, 2075, sieht ebenfalls keinen Mehraufwand darin, einige Sätze aus dem Votum in den Nichtannahmebeschluss zu übernehmen.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
von Akzeptanz kann nur unterstrichen werden. Ebenso kann auf die Argumente zur Begründung von letztinstanzlichen Entscheidungen Bezug genommen werden. Es ist abzulehnen, wenn die Kammern die Begründung in den Nichtannahmebeschlüssen als Steuerungsinstrument einsetzen. Die Kammern sind nach der gesetzlichen Konzeption des Annahmeverfahrens in den §§ 93a ff. BVerfGG auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung beschränkt. Dieser nachgeordneten Stellung entspricht es nicht, wenn die Richter der jeweiligen Kammer den Rahmen der Begründung nutzen, um ihre rechtspolitischen Ansichten zu äußern. Im Übrigen werden sich die drei Richter in einer Kammer schneller einig als die acht im Senat. Vor diesem Hintergrund muss die von einer Kammer geäußerte Auffassung nicht der Mehrheitsmeinung im Senat entsprechen. Dennoch sprechen sie mit der Autorität des Bundesverfassungsgerichts. Umgekehrt ist eine Verwendung in dem beschriebenen Sinn durch die Senate hinnehmbar. Es ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, in Gestalt seiner Senate das Grundgesetz letztverbindlich auszulegen. Im Wege der Begründung eines Nichtannahmebeschlusses hat der Senat die Möglichkeit, eine breitere Öffentlichkeit über den Tag hinaus zu beraten, zu warnen, die Rechtsfindungsabläufe im Kollegium zu dokumentieren oder Argumentationsvorräte anzulegen219. Zudem steht hinter einem solchen obiter dictum die Mehrheit der Mitglieder des Senats.
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen Ihre gesetzliche Regelung finden die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen in § 93a Abs. 2 Buchstabe a und b sowie in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, ist der Senat oder die Kammer zur Annahme verpflichtet, das heißt, es existiert kein Ermessen des Gerichts220. Dennoch hat das Gericht aufgrund der Formulierung der einzelnen Annahmevoraussetzungen erhebliche Entscheidungsspielräume221.
219
Pestalozza, VerfProzR, 3. Aufl., § 20 Rn. 31. Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 322; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 7, 9 f. 221 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 262; Klein, NJW 1993, 2073, 2074, spricht angesichts der Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen von erheblichen Abstrichen, die an der Konzeption der rechtsgebundenen Annahmeentscheidung zu machen seien. Pointiert Volkmann, StaatsR II, 1. Kap. § 1 Rn. 64: „Die Wahrheit könnte aber sein, dass für den Außenstehenden nicht zu durchschauen ist, aus welchen Gründen Verfassungsbeschwerden nun angenommen werden oder nicht; am Ende entscheidet das BVerfG doch immer nur selbst, worüber es entscheiden will.“ 220
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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1. Entscheidung durch die Kammer Die Kammer ist zur Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde unter den Voraussetzungen der §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG berufen. Eine Annahme der Verfassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung – Grundsatzannahme – nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG ist der Kammer, wie oben bereits dargelegt, versagt222. Die sogenannte Durchsetzungsannahme nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG knüpft an die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde an, nämlich ein außerordentlicher Rechtsbehelf des Bürgers zur Wahrung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte zu sein223. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, zu verhindern, dass sich neben der Rechtsprechung der Senate noch eine Kammerrechtsprechung, eine Verfassungsjudikatur minderen Ranges, entwickelt, die weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen ist224. Die nachfolgend dargestellten Tatbestandsmerkmale erscheinen bei oberflächlicher Betrachtung zunächst eindeutig, erweisen sich bei genauerem Hinsehen jedoch als sehr unbestimmt225. a) Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Erste Voraussetzung ist, dass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Wann das der Fall ist, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Betrachtet man jedoch das inhaltliche Destillat, stellt man nur minimale Abweichungen fest. Zudem handelt es sich um Ansätze, die positiv umschreiben, wann die Frage schon beantwortet ist. So soll es bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals auf den verfassungsrechtlichen Maßstab ankommen, wobei es keine Rolle spiele, ob der zugrunde liegende Sachverhalt schon einmal Gegenstand einer Entscheidung gewesen sei. Wenn der verfassungsrechtliche Maßstab keiner näheren Spezifikation bedürfe, sei die Frage schon entschieden. Sei aber eine Spezifizierung erforderlich, müsse diese auch bereits durch den Senat vorgezeichnet sein226. Existierten nur prinzipienhafte Maßstäbe und seien daher ver222
Siehe die Ausführungen unter B. III. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 101; Klein, NJW 1993, 2073, 2074. 224 Herzog, in: Festschrift für Mahrenholz, S. 899, 903. 225 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. IV. 3. e). 226 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 12 ff.; Schemmer, in: Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93c Rn. 6 ff. 223
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
fassungsrechtliche Zwischenschritte erforderlich, dürfe die Kammer diese Zwischenschritte nur machen, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sei227. Die Auslegung stelle lediglich einen Subsumtionsvorgang unter verfassungsrechtliche Obersätze dar, die von der Senatsrechtsprechung bereits aufgestellt sein müssten228. Viel zitiert wird die Definition von Mahrenholz229, die zwar noch zu § 93b Abs. 2 BVerfGG a. F. entwickelt wurde. Dies wirkt sich aber nicht aus, da der Wortlaut in der aktuellen Fassung des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gleich geblieben ist230. Die Formel lautet: „Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist aber erst dann erschöpfend beantwortet, wenn der Sachverhalt sich ohne weitere Zwischenschritte abstrakter Art unter Sätze aus der Rechtsprechung des Gerichts subsumieren lässt. Ein aus einer Kammerentscheidung zu gewinnender Leitsatz muss durch die Rechtsprechung des Gerichts seinem konkreten verfassungsrechtlichen Gehalt nach vorgebildet worden sein.“231
Diese Formel stellt den Schlusspunkt folgender Vorüberlegungen von Mahrenholz dar: Mit dem Tatbestandsmerkmal der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage meint das Gesetz die für die Lösung des Falles erforderlichen Obersätze, die aus einer Senatsentscheidung stammen müssen. Der Sachverhalt der Senatsentscheidung und der von der Kammer zu entscheidende Fall müssen nicht identisch im Sinne von Parallelität oder Vergleichbarkeit sein232. Dem ist zuzustimmen, denn wären die Fälle identisch, wäre eine Kammerentscheidung wegen der Bindung der Verfassungsorgane von Bund und Ländern sowie aller Gerichte und Behörden an die Senatsentscheidung durch § 31 Abs. 1 BVerfGG an sich nicht erforderlich. Vielmehr hätten die Fachgerichte im Rahmen ihrer Entscheidung den bereits aufgestellten Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts, genauer gesagt des Senats, beachten müssen. Wann die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage noch nicht entschieden ist, führt Sendler aus, wobei er einen negativen Ansatz zur Bestimmung wählt. Demnach reiche es nicht aus, dass das Bundesverfassungsgericht zu dem für die Verfassungsbeschwerde einschlägigen Grundrecht schon einmal irgendetwas entschieden habe – gleichgültig, in welchem Zusammenhang und was im Einzelnen –, aus dem dann mit Hilfe weiterer mehr oder weniger überzeugender Überlegungen das Ergebnis der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde hergeleitet werden könne233. 227 228 229 230 231 232
Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93c Rn. 17. BT-Drucks 10/2951, S. 12. Im Folgenden die Mahrenholzsche Formel. Siehe Teil B., Fn. 32. Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1365. Ebd.
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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Die vorgestellten Ansätze zur Auslegung sind vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelungen in den §§ 93a bis c BVerfGG und der sich daraus ergebenden Senatsakzessorietät234 der Kammern zu sehen. Die herausgehobene Stellung der Senate, die in den §§ 2 Abs. 1, 93b Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommt, bleibt unangetastet. Die Kammern sind auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung zu verfassungsrechtlich gleichgelagerten Fällen beschränkt235. Demnach sollen die inhaltlichen Anforderungen an die Senatsmaßstäbe hoch anzusetzen sein, um so den Vorrang der Senate vor den Kammern zu sichern236. Zuck hingegen weist darauf hin, dass § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht von der Entscheidung zu einem Rechtssatz spreche, sondern von der Entscheidung über eine Rechtsfrage. Daher sei die Kammer bei ihrer Entscheidung nicht gezwungen, die Rechtsfrage auszuformulieren, im Gegensatz zur Instanzrechtsprechung bei Nichtannahmebeschwerden, die dies vom Revisionsführer verlange. Ausformulieren meine nicht nur die Darstellung des verfassungsrechtlichen Obersatzes, sondern auch die Bedeutung der Auswirkungen des Obersatzes auf einen bestimmten Sachverhalt. Der Begriff der verfassungsrechtlichen Frage sei weit zu verstehen, um den Arbeitsaufwand der Kammern zu reduzieren und den Anwendungsbereich des § 93c BVerfGG nicht zu weit einzuschränken237. In der Praxis entscheiden die Kammern selbst, ob der Senat die verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden hat. Diese Entscheidungskompetenz ist nicht zu unterschätzen. Denn die Kammern neigen dazu, diese Frage in ihrem Sinne weit auszulegen238. Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht unbedenklich vor dem Hintergrund der Senatsakzessorietät239 der Kammern. b) Die offensichtliche Begründetheit Für die Auslegung des zweiten Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit kommt es auf folgenden Hintergrund an: Es wird vertreten, das Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit oder negativ gewendet die Feststellung, dass eine Verfassungsbeschwerde keine hinrei233
Sendler, NJW 1995, 3291, 3291. Siehe Teil A., Fn. 21. 235 Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1364. 236 Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 732. 237 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 20a. 238 Sehr kritisch dazu Sendler, NJW 1995, 3291 ff.; Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1146 f., stellt fest, dass die Kammer die Senatsrechtsprechung gelegentlich „weiterdenkt“ und mahnt in diesem Bereich zur Zurückhaltung. Er hält es für dringend geboten zu überprüfen, inwiefern die stattgebende Kammerrechtsprechung dem Gesetz entspricht. 239 Siehe Teil A., Fn. 21. 234
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
chende Aussicht auf Erfolg hat, beinhalte eine Prognose. Sie beziehe sich darauf, wie der Fall entschieden werden würde, wenn nicht die Kammer, sondern der Senat über den Fall entscheiden würde. Den Kammermitgliedern werde somit ein Spielraum für ein abschätzendes Ermessen eröffnet240. Die nachfolgenden Auslegungsansätze orientieren sich, trotz unterschiedlicher Formulierungen und Begrifflichkeiten, an diesem Prognosecharakter. Das Tatbestandsmerkmal soll – positiv umschrieben – vorliegen, wenn sich die Konkretisierung oder verfassungsrechtliche Entfaltung der weiteren verfassungsrechtlichen Maßstäbe oder auch die Abwägung zwischen mehreren betroffenen grundrechtlichen Schutzgütern in der gegebenen Fallkonstellation geradezu aufdränge und das Ergebnis so eindeutig sei, dass ernsthafte Zweifel daran, dass der Senat die Beschwerde anders entscheiden würde, nicht denkbar seien241. Nach ähnlicher Auffassung soll die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sein, wenn die Vorentscheidung der maßgeblichen Rechtsfrage eindeutig242 oder der Sachverhalt eindeutig sei243. Von der offensichtlichen Begründetheit der Verfassungsbeschwerde könne trotz vorliegender Senatsentscheidung nicht mehr ausgegangen werden, wenn in Rechtsprechung oder Lehre erhebliche Einwände gegen die zugrunde liegende Verfassungsrechtsfrage erhoben würden. Das gleiche gelte bei längerem Zeitablauf und bei Änderung der Umstände244. Der Begriff der offensichtlichen Begründetheit in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist rechtspolitisch unglücklich gewählt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet vorbehaltlich der Ausnahme in § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nach Erschöpfung des Rechtswegs über eine Verfassungsbeschwerde. Nimmt man beispielsweise eine typische öffentlich-rechtliche Streitigkeit nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, haben sich in der Hauptsache nach Vollendung des Instanzenzuges ein Verwaltungsgericht, ein Oberverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht, das heißt bis zu elf Berufsrichter, mit dem Fall befasst. Wenn nun eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde wegen offensichtlicher Begründetheit stattgibt, könnte man auf den Gedanken kommen, dass drei Richter am Bundesverfassungsgericht den Fall besser beurteilen können als bis zu elf Berufsrichter in drei Instanzen zusammen245. Dies ginge jedoch an der Sache vorbei. Denn der Begriff der offen240
Benda, NJW 1995, 429, 430. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93c Rn. 17. 242 Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93c Rn. 10; ebenso Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 14. 243 Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93c Rn. 10. 244 Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1367. 241
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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sichtlichen Begründetheit bezieht sich auf die Prognose, ob der Senat anstelle der Kammer über die Verfassungsbeschwerde anders entscheiden würde. Wenn der Fall für die Richter der Kammer so eindeutig liegt, dass der Senat auf keinen Fall anders entscheiden würde, ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Es geht gerade nicht um die Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers, die so schwer ist, dass der Erfolg der Verfassungsbeschwerde ihr quasi auf der Stirn geschrieben steht. Dennoch vermeiden die Kammern nähere Ausführungen zu diesem Tatbestandsmerkmal in den Stattgabebeschlüssen, da die Fachgerichte dies als Affront empfinden246. Ähnlich problematisch war der Begriff der offensichtlichen Unbegründetheit in § 93a Abs. 3 BVerfGG a. F.247, der im Rahmen des vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 21.12.1970248 wieder gestrichen und durch die Formulierung „aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ ersetzt wurde249. Der Ausschuss durfte die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen, wenn sie offensichtlich unbegründet war. Der Gesetzgeber sollte den Begriff der offensichtlichen Begründetheit durch eine passendere ersetzen. In Frage käme, in Anlehnung an das vierte Änderungsgesetz, nur diesmal positiv gewendet, der Begriff der hinreichenden Aussicht auf Erfolg. c) § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG Die dritte Voraussetzung enthält § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG, auf den § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG Bezug nimmt. Demnach ist die Verfassungsbeschwerde anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist, was auch der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Die Auslegung der Norm ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und das Schrifttum weitestgehend geklärt. Dennoch wird der Tatbestand, im Vergleich zu § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG, als noch unbestimmter und zu allgemein kritisiert250. Das Tatbestandsmerkmal angezeigt bedeute inhaltlich mehr als „berücksichtigen“ und weniger als „erforderlich“, wobei dies kaum bei der praktischen Anwendung hilft, wie Zuck feststellt251. Die Bun245 246 247 248 249 250 251
Honi soit qui mal y pense oder ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93c Rn. 10. BGBl. I, S. 589, 590. BGBl. I, S. 1765, 1766 f. Siehe die Ausführungen unter B. I. 4. Spieß, BayVBl. 1996, 294, 299. Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 22.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
desregierung wählte die Formulierung angezeigt, um dem Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde einen Spielraum zu eröffnen252. Der Regierungsentwurf sah folgende Fallgruppen zur Konkretisierung vor: Die Entscheidung hat existentielle Bedeutung für den Beschwerdeführer; die angegriffene Maßnahme beruht auf einer grundrechtswidrigen Praxis der Fachgerichte; die Grundrechtsverletzung beruht auf extremer richterlicher Nachlässigkeit oder unverständlichem richterlichem Verhalten; der Grundrechtsverstoß geht auf fehlende Erfahrung der Gerichte im Umgang mit den Grundrechten und grundrechtsgleichen Gewährleistungen zurück253. Während die erste Fallgruppe dem Individualrechtsschutz dient, zielen die anderen auf ein Eingreifen des Gerichts zur Wahrung des objektiven Grundrechtsstandards ab254. Der Erste Senat hat die Voraussetzungen der Durchsetzungsannahme 1994 dann näher bestimmt. Die Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt, „wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. Eine geltend gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt. Eine existentielle Betroffenheit des Beschwerdeführers kann sich vor allem aus dem Gegenstand der angegriffenen Entscheidung oder seiner aus ihr folgenden Belastung ergeben. Ein besonders schwerer Nachteil ist jedoch dann nicht anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde.“255
Der Zweite Senat hat sich dieser Auslegung 1997 angeschlossen und für den Bereich des Strafrechts festgestellt, dass ein Schuldspruch den Verurteilten wegen des in ihm enthaltenen sozial-ethischen Unwerturteils im 252 BT-Drucks 12/3628, S. 13; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 102. Der Rechtsauschuss des Bundestages stand der Formulierung angezeigt zunächst skeptisch gegenüber. Erst nach einem Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der von den Beratungen des Gerichts berichtete, in denen dieser Formulierung eine bürgerfreundliche Tendenz beigemessen wurde, lies der Ausschuss seine Bedenken mehrheitlich fallen, BTDrucks. 12/4842, S. 12. 253 BT-Drucks 12/3628, S. 13 f. 254 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 104. 255 BVerfGE 90, 22, 25 f.
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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Grundsatz existentiell betrifft, während es bei den Rechtsfolgen auf die Belastung im Einzelfall ankommt256. Systematisiert man die Auslegung des Gerichts zum Tatbestandsmerkmal angezeigt, ergibt sich folgendes Bild: Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Die Kriterien des besonderen Gewichts und der existentiellen Betroffenheit stehen jeweils für eine Fallgruppe. Die Fallgruppe des besonderen Gewichts knüpft an die Verletzung objektiven Rechts an, während das Kriterium der existentiellen Betroffenheit das subjektive Recht widerspiegelt257. aa) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung Zur Fallgruppe des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung gehören die Unterfallgruppen der generellen Vernachlässigung von Grundrechten, der Abschreckung von der Grundrechtsausübung und des besonders krassen Verstoßes, wobei sich diese Gruppe nochmals in drei Varianten untergliedert258. Bei den aufgezählten Unterfallgruppen handelt es sich nur um eine nicht abschließende Aufzählung von Fallgruppen, die eine Annahme rechtfertigen259. Eine generelle Vernachlässigung wurde von den Kammern angenommen, wenn ein Gericht in ständiger Rechtsprechung Normen verfassungswidrig anwendet260 oder die Begründung der angegriffenen Entscheidung auf künftige Missachtung von Grundrechten hindeutet261 oder die rechtswidrige Rechtsprechung eines Gerichts sich in der Rechtsprechung anderer Gerichte 256
BVerfGE 96, 245, 248 ff. Spieß, BayVBl. 1996, 294, 299. 258 Zu der Frage, ob auch die Anzahl der Betroffenen ein Indiz für das Gewicht der Grundrechtsverletzung ist, siehe zustimmend Graßhof, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 120; bedingt zustimmend Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 951, und ablehnend Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 43. 259 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 39. 260 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 110. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 9.12.1999 – 1 BvR 1297/99, NJW 2000, 944 f. Die Kammer spricht dort von einer besonders gewichtigen Grundrechtsverletzung und weist auf eine ständige Praxis des Fachgerichts hin. Ähnlich Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 42. 261 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 110, mit Verweis auf BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 22.9.2000 – 1 BvR 1059/00, NJW 2001, 744 f. 257
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
durchsetzt und eine Korrektur nicht zu erwarten ist262. Es liegt hingegen keine generelle Vernachlässigung vor, wenn das Gericht die Grundrechtskollision erkannt, aber im konkreten Fall anders bewertet hat263. Wann eine Abschreckung von der Grundrechtsausübung vorliegt, ist bislang noch kaum geklärt. Es seien schwierige Prognosen erforderlich, da es auf die Auswirkung einer Entscheidung auf den jedermann i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG ankomme264. Als Anhaltspunkte sollen das öffentliche Interesse an dem streitigen Vorgang und die persönliche oder zum Beispiel berufliche Situation des Beschwerdeführers oder der betroffenen Kreise dienen265. Es existieren vereinzelt Kammerentscheidungen, in denen eine Abschreckung von der Grundrechtsausübung angenommen wurde266. An der abschreckenden Wirkung soll es fehlen, wenn dem angegriffenen Urteil eine dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung über denselben Gegenstand in einem Parallelverfahren gegenübersteht oder sich die Rechtsprechung des Fachgerichts oder eines ihm übergeordneten Fachgerichts zugunsten der grundrechtlich geschützten Position verändert hat267. Schließlich gibt es noch die Unterfallgruppe des besonders krassen Verstoßes, die wiederum drei Varianten enthält. Demnach liegt eine besonders gewichtige Grundrechtsverletzung vor, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt werden. Eine grobe Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes wird angenommen, 262
Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 110 mit Verweis auf BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 8.9.1999 – 1 BvR 301/89, NJW-RR 2000, 842, 844. 263 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 110. 264 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 950; ähnlich Gehle, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 41, der die Schwierigkeit der Prognosestellung auf die Anknüpfung an interne Vorgänge der betroffenen Kreise zurückführt. Einige Hinweise gibt Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 111 ff. Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 43, bescheinigt dieser Fallgruppe keine große Bedeutung in der Kammerpraxis, da das Kriterium nicht auf alle Grundrechte anwendbar sei. Ein partieller Verzicht auf die Freiheiten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 oder Art. 3 GG komme nicht in Frage. 265 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 41. 266 In BVerfGK 1, 343, ging es um zivilgerichtliche Verurteilungen zum Widerruf von Äußerungen gegenüber einer Landesärztekammer. Die zuständige Kammer ging im konkreten Fall zwar von einer Verletzung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers aus, nahm die Verfassungsbeschwerde aber wegen Fehlens eines besonders schweren Nachteils nicht an. Die Verletzung der Meinungsfreiheit sei hier nicht geeignet, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. 267 Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 43 (m. w. N.).
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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wenn der angegriffene Hoheitsakt auf Erwägungen beruht, die besonders nahe liegende Auswirkungen auf die verletzte Grundrechtsnorm übergehen268. Neben dieser positiven Bestimmung des Inhalts existieren auch Annäherungsversuche nach dem Ausschlussprinzip269. Einfache Versehen270, organisatorische Fehler im Gerichtsbetrieb271 und unzureichende Abwägungen272 stellen keine grobe Verkennung der Grundrechtslage dar273. Bei der Variante des leichtfertigen Umgangs mit grundrechtlich geschützten Positionen stehe die Art und Weise des angegriffenen Vorgehens im Fokus274. Dennoch ist die Bedeutung der beiden anderen Varianten eher gering. So wird darauf hingewiesen, dass die Variante des leichtfertigen Umgangs mit grundrechtlich geschützten Positionen nahe mit der ersten verwandt sei und daher nach den gleichen Kriterien zu behandeln sei. Ähnliches gelte für die dritte Variante275. Für die geringe Bedeutung spricht ebenfalls, dass die Kammerpraxis nicht immer zwischen den einzelnen Varianten trennt. Ursächlich hierfür seien die enge Verwandtschaft untereinander und die Tatsache, dass die Varianten auch kumulativ vorliegen könnten276. bb) Existentielle Betroffenheit Zur Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit haben sich folgende Unterfallgruppen herausgebildet, bei denen von einer existentiellen Betroffenheit ausgegangen werden kann: die strafrechtliche Verurteilung des Betroffenen, wobei es auf den Schuldspruch ankommt277; die Verletzung des El268 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 45; ähnlich Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 28, der zusätzlich auf die willkürliche Fehlbehandlung abstellt. 269 Nach dem Ausschlussprinzip gehen vor Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 45; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 115; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 28. 270 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 11.9.1998 – 2 BvR 1929/97, NJW-RR 1999, 137. 271 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 25.11.1998 – 2 BvR 898/98, NJW 1999, 1176, 1177. 272 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 23.2.2000 – 1 BvR 1582/94, NJW 2000, 2413, 2416. 273 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 28; zur Kasuistik siehe auch Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 45; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 115, und Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 45. 274 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 46. 275 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 46 f.; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 28. 276 Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 45.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
ternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG278; die Versagung des Asylrechts279 und die Beendigung von Wohnraummietverhältnissen280. Letztlich handelt es sich um Kasuistik aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. cc) Besonders schwerer Nachteil Das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG – nicht zu verwechseln mit der ähnlichen Formulierung des besonderen Gewichts – stellt keine eigenständige Fallgruppe dar, sondern geht insoweit in der schon erläuterten Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit auf. In der einschlägigen Kommentarliteratur wird zur Ausfüllung auf die Fälle der existentiellen Betroffenheit verwiesen281. Dennoch kommt dem Tatbestandsmerkmal als Gradmesser eigenständige Bedeutung zu. Es stellt auf die Schwere der eintretenden Folgen auf Seiten des Beschwerdeführers ab, wenn ihm die Entscheidung zur Sache versagt wird282. In diesem Kontext repräsentiert es ebenfalls die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde283. Die Formulierung besonders schwerer Nachteil stellt gegenüber der ursprünglichen schwerer und unabwendbarer Nachteil eine Verschärfung dar284. Die nachfolgenden Beispiele sind Versuche, das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils positiv zu bestimmen285. Anerkannt ist, dass die Verurteilung zu einer Geldleistung im Besonderen und das Erleiden eines wirtschaftlichen Nachteils im Allgemeinen einen besonders schweren Nachteil darstellen können286. 277 BVerfGE 96, 245, 249 f.; einschränkend Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 46, der im Bereich von Bagatellstraftaten (Ehrdelikten, Beförderungserschleichungen oder Ladendiebstählen) die existentielle Betroffenheit für fraglich hält. 278 BVerfGK 7, 65 ff. 279 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 128 (m. w. N.). 280 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 129 (m. w. N.); Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 959. 281 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 122 ff.; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 48 ff.; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30 f. 282 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 48. 283 Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 954. 284 Siehe die Ausführungen unter B. I. 6. 285 Siehe die Beispiele bei Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 132 ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 955, und Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 48. 286 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 132; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 53; Zuck, in: Lechner/ Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30.
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Abstrakte Grenzen in Form von Euro-Beträgen lassen sich hier nicht angeben, da es auf den konkreten Einzelfall ankommt287. 10.000 e haben für den Sozialhilfeempfänger einen anderen Stellenwert als für den Großkonzern, wie Zuck pointiert feststellt288. Als grober Richtwert sollen ca. 5.000 e gelten289. Im Bereich der Persönlichkeitsrechte soll die Rufvernichtung, nicht schon die Rufschädigung290, und im Bereich des Strafrechts die Verurteilung mit der Verhängung einer Sanktion, also der Schuldspruch und das Strafmaß291, erfasst sein. Angesichts der Vielzahl denkbarer Fallgestaltungen fällt es naturgemäß leichter, negative Kriterien zur Abgrenzung zu entwickeln. So liegt nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts292 ein besonders schwerer Nachteil nicht vor, wenn die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde293. Insbesondere eine Verfassungsbeschwerde, die keine Aussicht auf Erfolg hat, das heißt unzulässig oder unbegründet ist, kann nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt sein294. Wenn allerdings die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist, trägt diese Begründung nicht mehr, um einen besonders schweren Nachteil zu verneinen. Anderenfalls erläge man einem Zirkelschluss. Im Fall der Erledigung des Ausgangsverfahrens soll, mit Ausnahme von versammlungsrechtlichen Fällen, regelmäßig der besonders schwere Nachteil entfallen295. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils auf Seiten des Beschwerdeführers nicht abstrakt generell, sondern nur im konkreten Einzelfall bestimmt werden kann296. 287 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 53; Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 47, weist darauf hin, dass es einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeute, die existentielle Betroffenheit des Beschwerdeführers aufgrund seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu ermitteln. 288 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30. 289 Siehe Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 53 (m. w. N.). 290 Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30. 291 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 48. 292 Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c). 293 Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 48 ff., sieht in der Nutzlosigkeit einer Zurückverweisung einen Sonderfall im Rahmen der existentiellen Betroffenheit und vergleicht ihn mit dem Fall, in dem es am Beruhen der Entscheidung auf dem Verfassungsverstoß fehlt. 294 Klein, NJW 1993, 2073, 2074. 295 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 54; kritisch hierzu Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 136, die Gehles Auslegung für zu eng hält und noch weitere gewichtige, aber in tatsächlicher Hinsicht überholte Grundrechtseingriffe erfassen möchte.
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B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
2. Entscheidung durch die Senate Der Senat kann die Verfassungsbeschwerde sowohl wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung als auch zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte annehmen. Er ist im Gegensatz zur Kammer nicht auf den Annahmegrund des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG beschränkt. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG wurden bereits eingehend erläutert297, sodass an dieser Stelle nur noch auf den Annahmegrund der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung eingegangen werden soll. Der Erste Senat hat in einer Entscheidung 1994298 diesen Tatbestand näher konkretisiert. Eine Verfassungsbeschwerde hat grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung, „wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist. Über die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. Anhaltspunkt für eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinn kann sein, dass die Frage in der Fachliteratur kontrovers diskutiert oder in der Rechtsprechung der Fachgerichte unterschiedlich beantwortet wird. An ihrer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse bestehen. (. . .) Kommt es auf sie [die Verfassungsbeschwerde] hingegen nicht entscheidungserheblich an, ist eine Annahme nach § 93a Abs. 2 Buchstube a BVerfGG nicht geboten.“299
Mit dieser Auslegung des Ersten Senats ist dem Rechtsanwender nur bedingt geholfen. Um die Anwendung des Tatbestandsmerkmals handhabbar zu machen, wurden im Schrifttum Fallgruppen entwickelt, die sich aber an der oben zitierten Auslegung orientieren. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es keine absolute Übereinstimmung in der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Gruppen gibt. Es lässt sich vereinfachend folgendes Destillat herausfiltern: Erstens ist eine Verfassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung anzunehmen, wenn sich das Gericht bis zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht mit dieser verfassungsrechtlichen Frage beschäftigt hat und auch keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe existieren300. Hierfür spricht in systematischer Hinsicht § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Denn die Kammern dürfen unter anderem eine Verfassungsbeschwerde nur annehmen, wenn die maßgeblichen verfas296 Ebenso Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 50, und Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30. 297 Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. 298 BVerfGE 90, 22, 24 f. 299 BVerfGE 90, 22, 24 f. 300 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 91; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 11.
V. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen
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sungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht – gemeint sind die Senate – bereits entschieden sind. Die Kammern orientieren sich an den Maßstäben der Senate, die diese bei der Entscheidung über Verfassungsbeschwerden von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung schon aufgestellt haben. Fehlen sie, sind die Kammern nicht zur Entscheidung befugt. Es bleibt nur die Annahme wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung durch die Senate. Dieser Mechanismus würde nicht funktionieren, wenn die Senate die Verfassungsbeschwerde nicht wegen Fehlens der verfassungsrechtlichen Vorklärung, das heißt wegen Fehlens der Maßstäbe, annehmen würden. Zweitens kommt eine Annahme in Betracht, wenn die bisherige Rechtsprechung zu einer verfassungsrechtlichen Frage fortentwickelt oder abgegrenzt werden soll und dies wegen veränderter Verhältnisse301. Was unter veränderten Verhältnissen zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beurteilt. Konsens besteht zunächst darüber, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder gesellschaftliche Entwicklungen zu veränderten Verhältnissen führen302. Verschiedene Auffassungen werden über die Zuordnung der folgenden Umstände vertreten: Änderung der Gesetzeslage303, Änderung in der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts304 und Änderung der maßgeblichen instanzgerichtlichen Rechtsprechung305. Drittens ist an eine Annahme zu denken, wenn eine verfassungsrechtliche Frage in der Öffentlichkeit oder der Fachöffentlichkeit, das heißt 301 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 92; ähnlich Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 21, und Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 10. 302 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 92; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 21; Zuck, in: Lechner/ Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 11. 303 Für eine Zuordnung der geänderten Gesetzeslage zu den veränderten Verhältnissen Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 11; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 21, sieht darin keine Veränderung der Verhältnisse, sondern will diese Konstellation seiner Fallgruppe der ernsthaften Zweifel an der Beantwortung einer verfassungsrechtlichen Frage zuordnen. Er nimmt nur eine Zweiteilung vor. Nach seiner Auffassung ist eine Verfassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung nur anzunehmen, wenn ernsthafte Zweifel an der Beantwortung einer verfassungsrechtlichen Frage bestehen, die sich nicht ohne weiteres ausräumen lassen. Sie sei zudem anzunehmen, wenn sich die Verhältnisse geändert hätten. 304 Für eine Zuordnung der Änderung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts zu den veränderten Verhältnissen Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 92. Gegen eine Zuordnung zu den geänderten Verhältnissen, aber dennoch für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung Gehle, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 22. 305 Soweit ersichtlich vertritt eine solche Zuordnung nur Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 11.
80
B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
im Schrifttum oder der Rechtsprechung, kontrovers diskutiert wird306. Über die genannten drei Fallgruppen hinaus besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass von der Entscheidung eine Bedeutung über den Einzelfall hinaus ausgehen muss307. An dieser Voraussetzung fehlt es zum Beispiel, wenn die Verfassungsbeschwerde sich auf nicht mehr geltendes Recht bezieht308. Ferner muss es sich um eine verfassungsrechtliche Frage handeln. Anders gewendet scheiden einfachrechtliche oder tatsächliche Fragen aus, auch wenn sie von grundsätzlicher Bedeutung sind309. Schließlich wird verlangt, dass es bei der Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Grundsatzfrage ankommt, das bedeutet, sie muss entscheidungserheblich sein310. Die Annahmevoraussetzung der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung knüpft an die schon beschriebene objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde an, nämlich objektiver Rechtsbehelf zur Auslegung und Weiterentwicklung des objektiven Verfassungsrechts zu sein311. Der Senat prüft die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, nachdem er die Annahmevoraussetzungen bejaht hat. Der Verfassungsbe306 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 93; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 23; Zuck, in: Lechner/ Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 11. 307 Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 24; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 12. 308 Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 331; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 25; ähnlich Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 87, die in diesem Fall die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung verneint. 309 Dörr, Verfassungsbeschwerde, Rn. 331; Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 12; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 83; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 8. An dieser Stelle ist von Bedeutung, dass Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 84, auch die Auslegung von einfachrechtlichem Verfassungsprozessrecht vom Zulassungsgrund der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung erfasst sieht. Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 10, lehnt dies ab. 310 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 86, spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Verfassungsbeschwerde nicht schon aus einem anderen Grund unbegründet oder offensichtlich begründet sein darf. Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 26, geht davon aus, dass die Verfassungsbeschwerde zumindest zulässig sein muss, wobei eine Prognose auf die Begründetheit nicht erforderlich sein soll, da die Klärung der Grundsatzfrage ebenfalls in einer zurückweisenden Entscheidung vorgenommen werden könne. 311 BT-Drucks. 12/3628, S. 13; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, § 93a Rn. 81; Klein, NJW 1993, 2073, 2074; Zuck, NJW 1993, 2641, 2643.
VI. Zusammenfassung
81
schwerde wird stattgegeben, wenn sie zulässig und begründet ist. Der Senat unterliegt naturgemäß nicht den Stattgabevoraussetzungen der Kammer nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
VI. Zusammenfassung Die Verfassungsbeschwerde trat ihren Siegeszug mit der Einführung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes am 12.03.1951 an und ist seitdem nicht mehr aus dem rechtlichen System der Bundesrepublik wegzudenken. Kehrseite dieses Erfolges war schon immer die sehr hohe Zahl von eingereichten Verfassungsbeschwerden sowie die damit einhergehende Belastung, die die Funktionsfähigkeit des Gerichts bedroht. Denn die Verfassungsbeschwerde erfüllt zwei Funktionen. Zum einen ist sie Instrument zur Wahrung des objektiven Verfassungsrechts (objektive Funktion), zum anderen außerordentlicher Rechtsbehelf des Bürgers zur Verteidigung seiner Grundrechte sowie grundrechtsgleichen Rechte und dient somit dem Individualrechtsschutz (subjektive Funktion). Gerade der durch die Verfassungsbeschwerde vermittelte Individualrechtsschutz ist häufig der „letzte Strohhalm“ nach dem der Bürger greift, wenn er vor den Fachgerichten mit seinem Begehren keinen Erfolg hatte. Die Einführung des Vorprüfungsverfahrens, aus dem später das Annahmeverfahren hervorging, stellt vor diesem Hintergrund den Versuch dar, zum einen die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu gewährleisten und zum anderen die Verfassungsbeschwerde mit beiden Funktionen zu erhalten. Dieses Ansinnen spiegelt sich auch in den Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG wider. Während nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG die Grundsatzannahme, die die objektive Funktion repräsentiert, möglich ist, erlaubt § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG die Durchsetzungsannahme und verwirklicht die subjektive Funktion. Das Annahmeverfahren wurde insgesamt sechs Mal novelliert, was stets zu einer inhaltlichen Verschärfung der Annahmevoraussetzungen führte. Die aktuell geltenden Annahmevoraussetzungen stellen den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Auf den ersten Blick sind die in den §§ 93a ff. BVerfGG normierten Annahme- und Stattgabevoraussetzungen Ausdruck eines gesetzesakzessorischen Annahmeverfahrens. Mit anderen Worten: Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, muss das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und es besteht kein Ermessen. Entscheidet die Kammer, fällt mit der Annahme die Stattgabe zusammen. Auf den zweiten Blick trügt dieser Eindruck. Die Annahme- und Stattgabevoraussetzungen sind inhaltlich sehr unbestimmt und eröffnen dem Gericht somit große Auslegungsspielräume. Allein das Tatbestandsmerkmal angezeigt in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ist Ausgangspunkt weitläufiger Differenzierungen in Fallgruppen und Unter-
82
B. Das Annahmeverfahren bei Verfassungsbeschwerden
fallgruppen. Die Fallgruppenbildung ist letztlich nur der Versuch, die kasuistisch geprägte Rechtsprechung der Kammer zu systematisieren. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage ist Dreh- und Angelpunkt für die Kompetenzverteilung zwischen Kammern und Senaten. Inhaltlich ist es schwer fassbar. Die hierzu existierenden Auslegungsansätze vermögen nur etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Die Frage der Zuständigkeit stellt sich nicht nur zwischen Kammern und Senaten, sondern auch zwischen verschiedenen Gerichtsbarkeiten. Jedem Juristen sind die Abgrenzungsschwierigkeiten geläufig, die sich im Zusammenhang mit der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs ergeben. Anknüpfungspunkt für die Abgrenzung sind vielfach die Tatbestandsmerkmale des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, einer einfachrechtlichen Norm. Als Anknüpfungspunkt für die Kompetenzverteilung zwischen den Kammern und den Senaten dient letztlich die Verfassung. Sie ist jedoch eine Rahmenordnung, deren Normen fragmentarisch und oft nur skizzenhaft bleiben312. Verfassungsrechtliche Normen sind somit in einem größeren Maße unbestimmt als einfachrechtliche Normen, was die Abgrenzung schwerer macht. Dieses Dilemma lässt sich nicht beheben. Denn es liegt in der Natur der Verfassungsgerichtsbarkeit begründet. Nach der grundgesetzlichen Konzeption entscheidet das Bundesverfassungsgericht eben nur verfassungsrechtliche Fragen. Wenn das Gericht aus mehreren Spruchkörpern besteht, kann für die Zuständigkeitsverteilung inhaltlich nur an die Verfassungs angeknüpft werden. Das Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit der Verfassungsbeschwerde beinhaltet eine Prognose. Sie bezieht sich darauf, wie der Fall entschieden werden würde, wenn nicht die Kammer, sondern der Senat über den Fall entscheiden würde. Entscheidend ist die Einschätzung der Kammermitglieder, denen ein Prognosespielraum zugestanden wird. Es ist inkonsequent, wenn auf der einen Seite der Eindruck vermittelt wird, dass es sich bei dem Annahmeverfahren um ein gesetzesakzessorisches Verfahren handelt und auf der anderen Seite die Tatbestandsmerkmale aufgrund ihrer Unbestimmtheit dem Gericht einen so großen Entscheidungsspielraum eröffnen, dass es faktisch zu einem Annahmeverfahren nach Ermessen mutiert.
312
Volkmann, StaatsR II, 1. Kap. § 1 Rn. 39.
C. Die Untersuchungsprämissen Im nun folgenden zweiten Teil geht es darum, die Untersuchungsprämissen für die Überprüfung der Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren zu entwickeln. Die Verfassungsbeschwerden werden daher zunächst sieben Grundrechtsbereichen zugeordnet. Aufgrund der Vielzahl von Kammerentscheidungen können nicht alle in die Untersuchung einbezogen werden. Vielmehr wird eine Auswahl getroffen. Diese orientiert sich an den Kammerentscheidungen, die in den Bänden 1 bis 13 publiziert worden sind. Die genannten Bände decken den Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Dezember 2008 ab. Natürlich enthalten auch diese Bände nur einen Bruchteil der von den Kammern tatsächlich getroffenen Entscheidungen. Es wird daher kurz auf die Gesamtzahl der Entscheidungen und die Erfolgsquote im Untersuchungszeitraum eingegangen. Den Untersuchungsgegenstand bilden die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die praktische Handhabung der Annahme- und Stattgabevoraussetzungen der §§ 93a Abs. 2, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG durch die Kammern. Die Handhabung der genannten Voraussetzungen wird auf der Grundlage von drei Bewertungskriterien untersucht: Der Mahrenholzschen Formel sowie der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien. Das dritte Bewertungskriterium knüpft daran an, ob es im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde inhaltlich um die Auslegung von Verfassungsrecht geht oder um Direktiven für die Überprüfung der Anwendung des einfachen Rechts am Maßstab der Verfassung. Schließlich bilden diese Kriterien zusammen das Prüfungsschema für die sich im dritten Teil (D.) der Arbeit anschließende Untersuchung.
I. Einteilung in thematisch zusammenpassende Grundrechtsbereiche Die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgezählten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte wurden sieben Grundrechtsbereichen zugeordnet1, um auf diese Weise die Darstellung zu straffen und sich nicht zu sehr in Detailfragen zu verlieren2. Die Einteilung erfolgt aufgrund der inhaltlich re1
Siehe Teil A., Fn. 23. Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 433, differenzierten in ihrer Übersicht der stattgebenden Kammerentscheidungen nach „Eingriff-Begrenzungs-Judikatur“ 2
84
C. Die Untersuchungsprämissen
levanten Grundrechte. Auf der einen Seite spielen die von dem Beschwerdeführer gerügten Grundrechte eine Rolle und auf der anderen Seite die von dem Bundesverfassungsgericht für verletzt erachteten Grundrechte, insbesondere bei Stattgabeentscheidungen. Es werden ausschließliche Zuordnungen getroffen und Mehrfachzuordnungen vermieden, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen3. Zunächst wäre der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit zu nennen. In diesen Bereich fallen die Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Ein zweiter Bereich umfasst den Schutz des Menschen im weiteren Sinn. Er beinhaltet die folgenden Grundrechte: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG, den Schutz der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG, die Gewährleistungen des Art. 6 GG (Schutz von Ehe und Familie, Elternrecht, Mutterschutz, Gleichstellung ehelicher bzw. unehelicher Kinder), das Brief-, Post-, und Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 1 GG, die Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG, der Schutz vor Ausbürgerung bzw. Auslieferung gemäß Art. 16 GG sowie das Asylrecht nach Art. 16a GG und der Schutz der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 104 GG. Ein dritter Bereich beschäftigt sich mit Fragen der Religion, dem Gewissen, dem Verhältnis von Staat und Kirche sowie der Kultur und Wissenschaft. Thematisch gehören hierzu die Religions- und Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 Alt. 2 GG, das Recht auf Wehrdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG sowie die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Alt. 1 und 2 GG. Die Kommunikationsgrundrechte und die politischen Beteiligungsrechte lassen sich ebenfalls zu einem vierten Bereich zusammenfassen. Er beinhaltet die Gewährleistungen aus Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk-, und Filmfreiheit), die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG, die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 und 3 GG sowie die Parteienfreiheit bzw. Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 und Art. 3 Abs. 1 GG, das aktive und passive Wahlrecht aus Art. 38 GG und schließlich das Petitionsrecht aus Art. 17 GG. Ferner betrifft ein fünfter Bereich die Justizgrundrechte und den Schutz gegen Akte der öffentund „Rechtsschutz-Effektuierungs-Judikatur“. Letztere bezog sich auf die gerichtsverfahrensbezogenen Rechtspositionen aus Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 103 Abs. 1 GG und stellte auf die Rechtsschutzeffektuierung in den Teilrechtsgebieten ab. Erstere hatte die verschiedensten Grundrechte zum Gegenstand und wurde am einzelnen Grundrecht dargestellt. 3 Ähnliche Vorgehensweise Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 434 f.
II. Die Erledigungen im Untersuchungszeitraum
85
lichen Gewalt. Thematisch einschlägig sind das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, die Gewährleistungen des Art. 103 GG (rechtliches Gehör, keine Strafe ohne Gesetz und das Verbot der Doppelbestrafung), das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 GG, der allgemeine Justizgewährungsanspruch und das Recht auf ein faires Verfahren. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung bilden zusammen den sechsten Bereich. Hierzu zählen die Freiheit von Beruf und Ausbildung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, die Grundrechte der Beamten aus Art. 33 Abs. 2 bzw. 5 GG und der Schutz des Eigentums sowie des Erbrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG. Der siebte und letzte Bereich beschäftigt sich mit Fragen der Gleichheit. Er umfasst den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die besonderen Gleichheitssätze bzw. Differenzierungsverbote aus Art. 3 Abs. 2 bzw. 3, Art. 33 Abs. 1 bis 3 und Art. 38 Abs. 1 GG.
II. Die Erledigungen im Untersuchungszeitraum In den nachfolgenden sieben thematisch zusammenpassenden Grundrechtsbereichen können nicht alle Kammerentscheidungen untersucht werden. Aufgrund der Vielzahl muss eine Auswahl getroffen werden. Die Auswahl erfolgt anhand der Kammerentscheidungen, die in den Bänden 1 bis 13 veröffentlicht worden sind. In diesem Zusammenhang ist jedoch explizit darauf hinzuweisen, dass die von dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts herausgegebenen Bände wiederum selbst nur eine Auswahl und somit keinesfalls alle Entscheidungen enthalten. Die Kammerbeschlüsse wurden für eine Veröffentlichung ausgewählt, weil sie weiterführende, über den Einzelfall hinaus bedeutsame verfassungsrechtliche Aussagen und Entscheidungen enthalten4. Um einen Gesamtüberblick zu erhalten und mögliche Verzerrungen auszuschließen, soll kurz auf die Gesamtzahl der Verfassungsbeschwerden und Kammerbeschlüsse im Zeitraum von Januar 2003 bis Dezember 2008 sowie auf die Erfolgsquote eingegangen werden5. Die Auswertung der Jahresstatistiken des Bundesverfassungsgerichts für den genannten Zeitraum ergab einen starken Kontrast in allen Bereichen zwischen den Kammern und den Senaten: Die Anzahl der eingegangenen Verfassungsbeschwerden schwankte zwischen 4.967 und 6.245. Bei den Nichtannahmen durch die Kammer variierte 4
BVerfGK, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Eine Auswahl, herausgegeben vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, Heidelberg, Bd. 1, S. V. 5 Die Zahlen stammen aus den Jahresstatistiken des Bundesverfassungsgerichts für die Jahre 2003 bis 2008 unter http://www.Bundesverfassungsgericht.de/Organi sation.html.
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C. Die Untersuchungsprämissen
die Anzahl zwischen 4.406 und 5.884. Im Bereich der Stattgaben durch die Kammern lag die geringste Anzahl bei 65 und die höchste bei 132. Die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden in den Kammern lag zwischen 1,45% und 2,26%. Bei den Nichtannahmen durch die Senate schwankte die Anzahl zwischen 0 und 17. Im Bereich der Stattgaben durch die Senate lag die geringste Anzahl bei 9 und die höchste bei 25. Die Erfolgsquote in den Senaten lag zwischen 48,78% und 73,52%. Die Veröffentlichungsquote in den Bänden zu den Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, variiert zwischen 2,22% und 3,33%. Diese Quoten ergeben sich aus folgenden Rechnungen: In den Bänden 13 und 14, die das Jahr 2008 abdecken, wurden insgesamt 130 Entscheidungen veröffentlicht. Ausgehend von den 5.852 Verfassungsbeschwerden, die in diesem Jahr durch eine Entscheidung erledigt wurden, entspricht dies einer Veröffentlichungsquote von 2,22%. In den Bänden 7, 8, 9 und 10, die das Jahr 2006 abdecken, wurden insgesamt 196 Entscheidungen veröffentlicht. Ausgehend von den 5.876 Verfassungsbeschwerden, die in diesem Jahr durch eine Entscheidung erledigt wurden, entspricht dies einer Veröffentlichungsquote von 3,33%.
III. Untersuchungsprogramm In den zuvor genannten sieben thematisch zusammenpassenden Grundrechtsbereichen wird die Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen, nämlich die Tatbestandsmerkmale angezeigt, offensichtliche Begründetheit und die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage, durch die Kammern untersucht. Die Kammerbeschlüsse liefern das Material der Untersuchung. Insbesondere die Analyse des Tatbestandsmerkmals der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage orientiert sich an folgendem Muster: Es werden Kammerbeschlüsse, die sich mit einer speziellen rechtlichen Problematik befassen, etwa der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG6, ausgewählt und komprimiert inhaltlich vorgestellt. Genauer gesagt, wird zunächst der Sachverhalt beschrieben, dann die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe wörtlich wiedergegeben und die auf diese Maßstäbe gestützte konkrete Kammerentscheidung in ihren wesentlichen Punkten skizziert. Grundlage der wörtlichen Zitierung ist die in dem Kammerbeschluss angegebene Stelle aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE). Die konkret verwendeten Maßstäbe – und nur diese – sollen im Hinblick auf die Frage analysiert werden, ob sie inhaltlich geeignet sind, 6
Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. b).
III. Untersuchungsprogramm
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die Kammerentscheidungen zu tragen und damit das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllen. Entscheidend ist somit das formale Kriterium, ob die in dem Kammerbeschluss verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Maßstab der Bewertung sind die unten noch vorzustellenden Kriterien. Die beschriebene, sehr ins Detail gehende Darstellungsweise soll zum einen den Untersuchungsgegenstand und zum anderen die daran anknüpfende Bewertung transparent und nachprüfbar machen. Kennt der Leser sowohl den Fall als auch die verwendeten Senatsmaßstäbe, kann er sich selbst ein Bild machen und zu abweichenden Ergebnissen kommen. 1. Der Untersuchungsgegenstand Gegenstand der Untersuchung sind nur die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse der Kammern; die Nichtannahmebeschlüsse spielen nur am Rande eine Rolle. Dies rechtfertigt sich zum einen aus der Bindungswirkung stattgebender Kammerbeschlüsse nach §§ 93c Abs. 1 Satz 2, 31 Abs. 1 BVerfGG. Demnach steht der stattgebende Kammerbeschluss einer Senatsentscheidung gleich. Nichtannahmebeschlüsse sind hingegen keine Sachentscheidungen. Selbst wenn die Kammern, entgegen § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG, den Nichtannahmebeschluss begründen und dort ihre Rechtsauffassung darlegen, hat dies, rein rechtlich gesehen, keine Auswirkungen. Zum anderen sind Nichtannahmebeschlüsse, die, der gesetzlichen Anordnung entsprechend, nicht begründet sind, ungeeignet, um die Handhabung der Annahmevoraussetzungen zu überprüfen. Ein solcher Beschluss besteht nur aus dem Tenor, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird. Die Gründe lassen sich nicht nachvollziehen oder überprüfen, weil das angefertigte Gutachten, das hier Aufschluss geben könnte, nur für den gerichtsinternen Gebrauch bestimmt ist7. Aufgrund der Vielzahl von Kammerentscheidungen, die trotz der Beschränkung auf Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse im Wesentlichen bestand, musste eine Auswahl erfolgen. Im Hinblick auf die beiden ersten Tatbestandmerkmale ist Kriterium für die Auswahl der Kammerentscheidung die Tatsache, dass sich die Kammern in dem jeweiligen Beschluss überhaupt zur Frage des Angezeigtseins oder der offensichtlichen Begründetheit äußern. Denn diese Tatbestandsmerkmale können nur überprüft werden, wenn sich die Kammern dazu in ihren Entscheidungen äußern, will man sich nicht in Spekulationen ergehen. Insbesondere das Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit verlangt im Kern eine Prog7
§ 34 GOBVerfG.
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C. Die Untersuchungsprämissen
noseentscheidung, wie der Senat anstelle der Kammer den Fall entscheiden würde. Den Richtern wird hier ein Spielraum eröffnet. Diese Prognoseentscheidung kann nur überprüft werden, wenn die Richter ihre Erwägungen in der Entscheidung mitgeteilt haben. Anders gestaltet sich die Situation beim Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage, da jeder Beschluss hierzu Ausführungen enthält. Daher wurden Kammerbeschlüsse zu einer speziellen rechtlichen Problematik ausgewählt. Schließlich konnte nicht jedes der Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte, die einem der sieben Bereiche zugeordnet wurden, untersucht werden; anderenfalls wäre der Rahmen der Arbeit gesprengt worden. 2. Die Bewertungskriterien Die praktische Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen durch die Kammern wird auf der Grundlage der nun zu erläuternden Bewertungskriterien untersucht. Äußern sich die Kammern in ihren Beschlüssen zu den Tatbestandsmerkmalen des Angezeigtseins oder der offensichtlichen Begründetheit, wird überprüft, inwiefern sich die Handhabung der Kammern mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung zu diesen Tatbestandsmerkmalen deckt. Die Untersuchung des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage im Hinblick auf den Umstand, ob diese tatsächlich bereits entschieden ist, erfolgt anhand der von der Kammer konkret verwendeten Senatsmaßstäbe. Bewertungskriterium hierfür ist zunächst die Mahrenholzsche Formel. Zusätzlich werden noch zwei weitere Kriterien verwendet: Zum einen die Unterscheidung zwischen Regeln bzw. Prinzipien sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Bearbeitung eines Sachverhalts. Zum anderen die Unterscheidung der Senatsmaßstäbe dahingehend, ob es im Rahmen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde inhaltlich um die Auslegung von Verfassungsrecht geht oder um Direktiven für die Überprüfung der Anwendung des einfachen Rechts am Maßstab der Verfassung. a) Die Mahrenholzsche Formel Die Mahrenholzsche Formel stellt das erste Bewertungskriterium für die aufgeworfene Frage dar, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden war. Sinn und Zweck dieses Tatbestandsmerkmals ist die Sicherung der Senatsakzessorietät8 der Kammern. Sie sollen auf den 8
Siehe Teil A., Fn. 21.
III. Untersuchungsprogramm
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Nachvollzug der Senatsrechtsprechung beschränkt bleiben9, weshalb die inhaltlichen Anforderungen an die Senatsmaßstäbe hoch anzusetzen sind10. Die Formel beinhaltet eine prägnante Zusammenfassung der wesentlichen Auslegungsansätze zu dieser Fragestellung. Danach kommt es darauf an, dass sich der Sachverhalt des zu entscheidenden Falles ohne weitere Zwischenschritte abstrakter Art unter die Senatsmaßstäbe subsumieren lässt11. Es stellt sich in diesem Zusammenhang jedoch unweigerlich die Frage, ob sich die Mahrenholzsche Formel zur Überprüfung dieser Problematik tatsächlich eignet. Fraglich ist, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit sich der Fall ohne abstrakte Zwischenschritte unter die Senatsmaßstäbe subsumieren lässt. Es geht mit anderen Worten um den Konkretisierungsgrad der Senatsmaßstäbe. Hinter dieser Fragestellung steckt im Grunde die Problematik, dass es keine abstrakte Grenze gibt, an der die alleinige Befugnis der Senate zur Konkretisierung des Verfassungsrechts endet und die Befugnis der Kammern beginnt12. Zur Illustration eines Lösungsansatzes dient der nachfolgende Fall: Die Beschwerdeführerin, die mit dem Vater ihres Kindes nicht verheiratet war, begehrte von diesem Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Abs. 2 BGB. Zwar hatte sich der Vater außergerichtlich bereit erklärt, monatlich einen Betrag in Höhe von 107 e zu zahlen, dennoch erhob die Beschwerdeführerin Klage vor dem Amtsgericht, die mangels Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Vaters abgewiesen wurde13. Das Amtsgericht ging davon aus, dass sich sein angemessener Eigenbedarf auf 1000 e (sogenannter großer Eigenbedarf) beziffere und habe so auch Eingang in die Düsseldorfer Tabelle gefunden. Die Berufung wies das Oberlandesgericht Düsseldorf mit gleicher Begründung zurück. Keinen Verfassungsverstoß stelle es dar, wenn dem Unterhaltsschuldner im Rahmen des § 1615 l BGB der sogenannte große Selbstbehalt verbleibe, wohingegen ihm im Rahmen des Ehegattenunterhalts nur der sogenannte kleine Selbstbehalt gelassen werde. Das Oberlandesgericht ließ jedoch die Revision zu, da die Bemessung des Eigenbedarfs im Rahmen der Unterhaltsverpflichtung aus § 1615 l BGB grundsätzliche Bedeutung habe und noch nicht höchstrichterlich geklärt sei. Dennoch lehnte es den für das Berufungsverfahren gestellten Prozesskostenhilfeantrag mangels hinreichender Erfolgsaussichten ab, da nach seiner Ansicht die Entscheidung eindeutig und zweifelsfrei zu treffen sei14. Die zuständige Kammer des Bundesverfas9
Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1364. Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 725, 732. 11 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. V. 1. a). 12 Hermes, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. I, S. 724, 732. 13 BVerfGK 2, 279. 14 BVerfGK 2, 279, 280. 10
90
C. Die Untersuchungsprämissen
sungsgerichts nahm die erhobene Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG statt. Die Ausgangssituation stellt sich so dar, dass auf der einen Seite der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip stehen und auf der anderen Seite der beschriebene Fall. Um aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG eine Entscheidung für den Fall ableiten zu können, waren Zwischenschritte erforderlich, die nun näher untersucht werden. Nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Art. 20 Abs. 3 GG normiert, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Der Gesetzeswortlaut hilft bei der Falllösung nicht weiter, sodass eine weitere Konkretisierung bzw. ein weiterer Zwischenschritt erforderlich ist. Eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG wird angenommen, wenn eine Person, Personengruppe oder Situation in einer bestimmten Weise, durch Eingriff oder Leistung, in Teilhabe oder Verfahren, rechtlich behandelt wird, eine andere Person, Personengruppe oder Situation in einer bestimmten anderen Weise rechtlich behandelt wird und beide Personen, Personengruppen oder Situationen unter einen gemeinsamen, weitere Personen, Personengruppen oder Situationen ausschließenden Oberbegriff gefasst werden können15. Es existiert keine allgemeingültige Definition des Rechtsstaatsprinzips, es wird daher aus einer Reihe von Einzelbestimmungen abgeleitet16. Zu seinen wesentlichen Elementen zählen die Verfassungs- und Grundrechtsbindung der Staatsorgane, die Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Gesetzesbindung der Rechtsprechung, die Rechtsklarheit, die Bestimmtheit, die Rechtssicherheit, das Übermaßverbot, die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Rechtsschutzes, die Staatshaftung, die Entschädigung und die Verwirklichung von Gerechtigkeit17. Dieser Zwischenschritt ist etwas konkreter als der Wortlaut der Normen, er ermöglicht aber keine Entscheidung des konkreten Falles. Erforderlich ist ein weiterer Konkretisierungsbzw. Zwischenschritt. In einem Beschluss vom 13.03.1990 stellte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts folgenden Maßstab im Hinblick auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe auf: „Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtschutzes (. . .). Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, 15
Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 467. Ähnlich BVerfGE 55, 72, 88; 82, 60, 86. Kloepfer, VerfR, § 10 Rn. 19 ff. 17 Kloepfer, VerfR, § 10 Rn. 33. Siehe hierzu auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 46 ff.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Strack, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 239. 16
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der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet.“18
Dieser Maßstab ist wiederum konkreter als die vorherigen Zwischenschritte. Dennoch ist er zu unbestimmt, um eine Entscheidung des Falles zu ermöglichen. Es bleibt offen, unter welchen Bedingungen die Angleichung zu erfolgen hat. In dem genannten Beschluss wird ein weiterer Maßstab aufgestellt: „Der Unbemittelte braucht nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (. . .). Es ist demnach verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.“19
Der zitierte Maßstab konkretisiert den vorherigen dergestalt, dass er die Bedingungen der Gleichstellung von Unbemittelten mit Bemittelten erläutert. Es bleibt jedoch offen, wann die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Hierzu existiert ein weiterer Maßstab in dem Beschluss: „Nach der in Rechtsprechung und Literatur zu § 114 Satz 1 ZPO weit überwiegenden Meinung hat ein Rechtsschutzbegehren in aller Regel dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. (. . .) Daher braucht Prozesskostenhilfe nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als ‚schwierig‘ erscheint. Liegt diese Voraussetzung dagegen vor, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten.“20
Der letzte Senatsmaßstab erlaubt eine Subsumtion ohne weitere Zwischenschritte. Wie die Kammer in ihrem Annahme- bzw. Stattgabebeschluss selbst ausführt, war die maßgebliche Frage des Falles, ob die Recht- und Verfassungsmäßigkeit des unterschiedlich hohen Selbstbehalt bei Unterhaltsansprüchen nach § 1615 l BGB und § 1570 BGB als bislang höchstrichterlich nicht geklärt und als nicht „schwierig“ anzusehen sei. Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts stufte die Kammer diese Frage als „schwierig“ ein21. Es handelt sich bei dem aufgezeigten Lösungsansatz zu18 19 20
BVerfGE 81, 347, 356; ähnlich BVerfGE 9, 124; 10, 264, 270. BVerfGE 81, 347, 357. BVerfGE 81, 347, 358.
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nächst nur um ein Fallbeispiel, anhand dessen der erforderliche Konkretisierungsgrad der Senatsmaßstäbe verdeutlicht werden sollte22. Generalisierend lassen sich aus dem Beispiel folgende Schlüsse ziehen: Es gibt mehrere Abstraktionsebenen, bis eine Subsumtion des Sachverhalts möglich ist. Die höchste Ebene und gleichsam den Ausgangspunkt stellt der Wortlaut der einschlägigen Grundgesetznorm dar, im Beispielsfall war dies Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG. Es folgen mehrere Zwischenebenen, deren Anzahl variieren kann. Im Beispielsfall gab es vier solcher Zwischenebenen, nämlich die Definition der Ungleichbehandlung bzw. die Erläuterung der wesentlichen Elemente des Rechtsstaatsprinzips und die drei Senatsmaßstäbe, die sich jeweils konkretisierten. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist beantwortet, wenn es zwischen der höchsten Abstraktionsebene und dem konkreten Sachverhalt eine ununterbrochene Kette von Zwischenebenen gibt, wobei die letzte einen deduktiven Schluss ermöglichen muss. Der letzte Maßstab muss so sachverhaltsnah wie möglich sein und alle relevanten Aspekte des zu entscheidenden Falles abdecken. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass es sich bei den Zwischenebenen um Senatsmaßstäbe handeln muss. Anderenfalls würde die Senatsakzessorietät der Kammern unterlaufen. Nichts anderes sagt die Mahrenholzsche Formel aus, wenn sie davon ausgeht, dass sich der Sachverhalt ohne abstrakte Zwischenschritte unter Sätze aus der Rechtsprechung des Gerichts subsumieren lassen müsse. Die Mahrenholzsche Formel eignet sich somit zur Überprüfung der Frage, ob das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllt ist. b) Regeln und Prinzipien Als zweites Bewertungskriterium dient die im Folgenden dargestellte Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien. Zunächst eine Anmerkung zu den vorkommenden Begrifflichkeiten: Senatsmaßstäbe, Sätze aus der Rechtsprechung des Gerichts und Obersätze aus der Senatsrechtsprechung. Die Kammern selbst sprechen in ihren Entscheidungen von Maßstäben23. Sie entstehen durch eine besondere Begründungstechnik des Bundesverfassungsgerichts, nämlich der Differenzierung zwischen einem Maßstäbeteil und einem Subsumtionsteil in den rechtlichen Ausführungen der Entschei21
BVerfGK 2, 279, 281 f. Vgl. hierzu auch den Ansatz von Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1365, der sich auf die Überlegungen von Koch, EuGRZ 1986, 345, 346 f., stützt. 23 Statt vieler BVerfGK 4, 305, 311. 22
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dungen24. Diese Trennung führt zur Entstehung einer abstrakten Verfassungsschicht, nämlich dem Maßstab, der wie eine Norm losgelöst vom konkreten Sachverhalt behandelt wird25. Man könnte die Maßstäbe auch als Scharnier zwischen der Verfassungsnorm und dem Sachverhalt bezeichnen. Methodisch betrachtet sind die Senatsmaßstäbe Teil des Konkretisierungsvorgangs bei der Rechtsanwendung. Am Anfang dieses Vorgangs stehen der Gesetzeswortlaut des Grundgesetzes als Normtext und der zu entscheidende Sachverhalt. Die Auslegung des Normtextes liefert das Normprogramm, mit dessen Hilfe der entscheidende Jurist die Tatsachen aus dem Sachverhalt auswählt, die die Grundlage der Entscheidung bilden. Diese Tatsachen lassen sich als Normbereich bezeichnen. Sowohl das Normprogramm als auch der Normbereich ergeben zusammen die Rechtsnorm, die der Jurist zur Entscheidungsnorm herausarbeitet und unter die letztendlich subsumiert wird26. Vor diesem Hintergrund sind die Senatsmaßstäbe als Normprogramm zu klassifizieren. In eine vergleichbare Richtung geht ein Ansatz, der die Maßstäbe als Zwischennormen einstuft, die auf der einen Seite die generellabstrakten Verfassungsnormen konkretisieren, auf der anderen Seite für eine Generalisierung der individuell-konkreten Anwendungsbereiche sorgen und auf die nur das Bundesverfassungsgericht Zugriff hat27. Die lateinische Übersetzung für Maßstab lautet „norma“. Die Grundrechte sind durch den Verfassungsgeber geschaffene Normen, die das Bundesverfassungsgericht, genauer gesagt die Senate, letztverbindlich auslegen28. Bleibt man in dem Bild sind die Senatsmaßstäbe Normen, die den Kammern von den Senaten gegeben wurden. Wie der Verfassungsgeber gegenüber den Senaten, rücken diese gegenüber den Kammern in die Rolle des Normsetzers, während den Kammern die Rolle des Normanwenders zugedacht ist. Der Normanwender wiederum hat die Aufgabe, einen konkreten Sachverhalt aufgrund der einschlägigen Normen zu entscheiden. Mit dem Begriff der Norm ist jedoch noch nicht viel gewonnen. Gemeint ist an dieser Stelle die Rechtsnorm. Innerhalb der Rechtsnormen kann wei24 Zu diesen Begriffen und der damit zusammenhängenden Begründungstechnik siehe Lepsius, in: Scholz/Lorenz/Pestalozza u. a., Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, S. 103, 111 f.; ders. in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159, 168 ff.; ebenso Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/ Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 77, 147 f., der den Maßstäbeteil als dogmatisches Herzstück der Entscheidung bezeichnet. 25 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159, 171 f. 26 Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 34 f. 27 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159, 176 ff. 28 Siehe Teil A., Fn. 7.
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ter zwischen Rechtsnormen im weiteren und im engeren Sinn differenziert werden. Zu den Rechtsnormen im engeren Sinn zählen jene, die Gebote oder Verbote enthalten29. Den rechtstheoretischen Hintergrund bildet die sogenannte Imperativentheorie, die davon ausgeht, dass jeder vollständige Rechtssatz entweder ein Gebot oder Verbot beinhaltet, das mit einer Sanktionsdrohung durchgesetzt werden kann30. Eine vollständige Rechtsnorm setzt sich wie folgt zusammen: Sie ist generell adressiert, ist ein bedingter Normsatz, der in seinem Tatbestand Bedingungen beschreibt, bei deren Vorliegen er angewendet werden soll, enthält eine Sollensanordnung und schreibt ein bestimmtes menschliches Verhalten vor, nämlich die Rechtsfolge31. Dieser Aufbau wird auch Konditionalschema32 oder Konditionalprogramm33 genannt. Während vollständige Rechtsnormen alle aufgezählten Elemente aufweisen, enthalten unvollständige hingegen nur einen Teil34 und sind daher Rechtsnormen im weiteren Sinn35. Die vollständige Rechtsnorm muss im Rahmen der Rechtsanwendung wieder zusammengefügt werden. Im Zivilrecht geschieht dies etwa mit der Anspruchsmethode, da die unvollständigen Rechtnormen in Anspruchsgrundlagen, Hilfsnormen und einschränkende Rechtsnormen eingeteilt werden können36. Eine weitergehende Differenzierung teilt die unvollständigen Rechtssätze ein in Organisations-, Kompetenz-, Ermächtigungs- und Verfahrensnormen; erläuternde Rechtsnormen (Legaldefinitionen); ausfüllende Rechtsnormen; einschränkende Rechtsnormen; verweisende Rechtsnormen; Fiktionen und Obliegenheiten37. 29
Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 190. Zur Imperativentheorie siehe Muthorst, Grundlagen, § 5 Rn. 40, § 12 Rn. 5; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 230; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 148 ff. Kritisch zur Imperativentheorie und deren These, dass alle vollständigen Rechtsätze entweder ein Gebot oder Verbot enthalten Larenz, Methodenlehre, S. 253 ff. Larenz verweist auf Adolf Reinach, der neben Aussagesätzen und Imperativen noch eine dritte Kategorie von Sätzen herausgearbeitet hat, nämlich die sogenannten Bestimmungssätze. Diese Sätze seien darauf ausgerichtet, dass irgendetwas sein solle bzw. durch sie etwas als sein sollend gesetzt werde, während Imperative als Befehl direkt auf die Befolgung abzielten. Die Imperativentheorie ordnet die Bestimmungssätze jedoch ebenfalls als Imperative ein, was ein verbreiteter Fehler sei, Larenz, Methodenlehre, S. 256 f. 31 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 120. 32 Vesting, Rechtstheorie, Rn. 34. 33 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 28 (m. w. N.). 34 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 129. 35 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 190. 36 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 129 ff. 37 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 231; ähnlich Larenz, Methodenlehre, S. 258 ff., der zwischen erläuternden, einschränkenden und verweisenden Rechtssätzen sowie gesetzlichen Fiktionen als Verweisungen unterscheidet. Rüthers/Fischer/ 30
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Die beschriebene zivilrechtliche Anspruchsmethode lässt sich jedoch nur schwer auf das Grundgesetz übertragen. Ein anderer rechtstheoretischer Ansatz unterscheidet zwischen Regeln und Prinzipien38. Hinter dem Begriff der Regel verbirgt sich nichts anderes, als eine Norm mit Tatbestand und Rechtsfolge, unter die der Fall subsumiert werden kann39. Ein Prinzip ist demgegenüber nicht konkret formuliert, sondern gibt nur eine Zielrichtung für die Falllösung vor40. Prinzipien gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird, weshalb sie auch als Optimierungsgebote bezeichnet werden können41. Die Differenzierung zwischen Regeln und Prinzipien wirkt sich auf deren Anwendung auf den Sachverhalt aus. Regeln besagen, dass die Rechtsfolge eintritt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Es wird demzufolge bei der Anwendung auch eine Entscheidung darüber getroffen, ob die Rechtsfolge in dem konkret zu beurteilenden Sachverhalt eintritt oder nicht42. Bei Prinzipien stellt sich die Anwendung auf den Sachverhalt so dar, dass die durch das Prinzip vorgegebenen Werte und Ziele im Rahmen der Rechtsanwendung berücksichtigt werden. Keine Lösung gibt das Prinzip jedoch in dem Fall vor, in dem jede Alternative, die sich aus der Anwendung des Rechts ergibt, die durch das Prinzip vorgegebenen Werte gleichermaßen beachtet43. Bei der Kollision einer Regel mit einem Prinzip wird Letzteres eingeschränkt und die Regel geht vor. Kollidieren zwei Regeln miteinander, ohne dass eine Ausnahmeklausel existiert, hat die stärkere Geltungsvorrang, wobei sich das Stärkeverhältnis nach Kollisionsregeln – etwa Art. 31 GG – bestimmt. Schließlich findet eine Abwägung statt, wenn zwei Prinzipien miteinander kollidieren. Das stärkere Prinzip hat jedoch lediglich Anwendungsvorrang; das schwächere behält weiterhin Geltung44. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien – auch Prinzipientheorie genannt – lässt sich auf die Grundrechte übertragen45. Die Prinzipientheorie ist nicht unumstritten. Ihr wird insbesondere vorgeworfen, Birk, Rechtstheorie, Rn. 131 ff., differenzieren nur innerhalb der Hilfsnormen zwischen Definitionsnormen, gesetzlichen Verweisungen, gesetzlichen Fiktionen und gesetzlichen Vermutungen. 38 Die Unterscheidung zwischen Regeln, Prinzipien und Zielsetzungen wurde von Dworkin geprägt, Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 54 ff., 64 ff. 39 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76, qualifiziert Normen als Regeln, die nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. 40 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 288. 41 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 42 Muthorst, Grundlagen, § 6 Rn. 2. 43 Muthorst, Grundlagen, § 6 Rn. 3. 44 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 288. 45 Hierzu ausführlich Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 114 ff.
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dass das Verständnis der Grundrechtsnormen als Prinzipien einen Verlust der Bindung an den Normtext der Verfassung bewirke, da selbst eine bereits ausgelegte Grundrechtsnorm nicht allein darüber entscheide, was in einem bestimmten Fall gesollt ist, weil alles unter dem Vorbehalt eines besseren verfassungsrechtlichen Grundes stehe. Hinzu komme, dass sie für die praktische Abgrenzung zwischen Regeln und Prinzipien keine Orientierung gebe. Darüber hinaus führe die Anerkennung von allem als normativem Rechtsprinzip dazu, dass mit Hilfe der Prinzipientheorie jede beliebige Entscheidung „rekonstruiert“ werden, aber keine zukünftige Entscheidung angeleitet werden könne46. Wie unten noch dargelegt werden wird, vermag die Prinzipientheorie dennoch einen brauchbaren Analyserahmen zu liefern. Geht man von dem beschriebenen Vergleich aus, dass die Grundrechte Rechtsnormen sind, deren Auslegung den Senaten obliegt und sich die Unterscheidung zwischen Regel bzw. Prinzipien auf die Grundrechte übertragen lässt, dann ist auch eine Übertragung dieser Unterscheidung auf die Senatsmaßstäbe möglich. Denn das Verhältnis zwischen Verfassungsgeber – als Normsetzer – und den Senaten – als Normanwender – entspricht dem Verhältnis von Senaten und Kammern. Nach der Konzeption des Annahmeverfahrens sollen die Kammern über Verfassungsbeschwerden nur entscheiden, wenn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage von den Senaten bereits entschieden wurde, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der erläuterte rechtstheoretische Hintergrund bildet den Aufhänger für ein weiteres Bewertungskriterium der von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe im Hinblick auf die Fragestellung, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Es geht darum, ob die von den Senaten aufgestellten und von den Kammern verwendeten Maßstäbe als Regeln oder Prinzipien aufgestellt wurden. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Ist der Maßstab nach dem Konditionalschema aufgebaut und somit eine Regel, ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden, wenn eine Subsumtion möglich ist. Handelt es sich hingegen um ein Prinzip, ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden, wenn eine Richtung für die Falllösung in dem Sinn aufgezeigt wird, dass Werte und Ziele im Rahmen der Rechtsanwendung durch die Kammern berücksichtigt werden können. Im Vergleich zur Formel von Mahrenholz liegt der zusätzliche Gewinn der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien in dem Umstand begründet, dass eine Subsumtion des Sachverhalts unter Sätze aus der Rechtsprechung des Gerichts nicht immer möglich ist. Dies hängt damit zusammen, dass die Senatsmaßstäbe vielfach die Anforderung der Formel, nämlich eine Subsumtion ohne abstrakte Zwi46
Klement, JZ 2008, 756, 759 ff.
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schenschritte, nicht erfüllen. Greift die Mahrenholzsche Formel nicht, könnte die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien weiterhelfen. Handelt es sich bei den Senatsmaßstäben um Prinzipien, müssen sie eine Richtung für die Falllösung in dem bereits genannten Sinn vorgeben. Handelt es sich um Regeln, müssen sie subsumierbar sein. Zur Frage der Subsumierbarkeit stellt die Formel von Mahrenholz bereits detaillierte Anforderungen auf, die inhaltlich enger sind. Denn während die Tatsache, dass es sich bei den Senatsmaßstäben um Regeln handelt, nur besagt, dass sie subsumierbar sein müssen, besagt die Formel von Mahrenholz, unter welchen Bedingungen subsumiert werden kann. Daher ist sie in diesem Bereich vorrangig. Demzufolge könnte die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien dann weiterhelfen, wenn es sich bei den verwendeten Senatsmaßstäben nicht um Regeln handelt und die Mahrenholzsche Formel nicht greift. c) Eine Frage der Ebene Während die Einordnung der Senatsmaßstäbe als Normen zwischen der Verfassung und dem Sachverhalt den formellen Aspekt im Blick hatte, soll nun die inhaltliche oder materielle Seite näher betrachtet werden und als drittes Bewertungskriterium dienen. Im Rahmen der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde kann es inhaltlich auf der einen Seite um die Auslegung des Verfassungsrechts gehen. Dies ist etwa der Fall, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wann Gefahr im Verzug nach Art. 13 Abs. 2 GG besteht oder wann eine Versammlung im Sinn des Art. 8 Abs. 1 GG vorliegt. Man könnte es so ausdrücken, dass es in diesen Konstellationen um originär verfassungsrechtliche Fragen geht. Auf der anderen Seite kann es inhaltlich um Direktiven für die Überprüfung der Anwendung des einfachen Rechts am Maßstab der Verfassung gehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Beschwerdeführer im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt, weil seine Berufung wegen vermeintlich nicht formgerecht eingegangener Begründung innerhalb der Frist verworfen wurde und auch eine Wiedereinsetzung aufgrund anwaltlichen Verschuldens verweigert wurde47. In Frage steht die Anwendung von Normen der Zivilprozessordnung und somit von einfachem Recht. Diese Konstellation wird im Folgenden, im Gegensatz zu der eingangs vorgestellten, als eine nicht originär verfassungsrechtliche, sondern einfachrechtliche, bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen beiden Konstellationen wirkt sich bei der Bewertung der Senatsmaßstäbe im Hinblick auf die Beantwortung der Frage aus, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des 47
BVerfGK 11, 9.
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§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bereits entschieden war und die Kammer über die Verfassungsbeschwerde entscheiden durfte. Denn der Bewertungsmaßstab, der an die Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe anzulegen ist, hängt ebenfalls davon ab, in welche der beiden Kategorien die zu entscheidende Verfassungsbeschwerde fällt. Wenn es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt, muss der Senatsmaßstab, auf den die Kammer ihre Entscheidung stützt, so bestimmt sein, dass er inhaltlich trägt. An den Maßstab werden im Ergebnis gesteigerte Anforderungen gestellt. Denn das Bundesverfassungsgericht ist letzte Instanz bei der Interpretation und Auslegung des Grundgesetzes48. Bei einfachrechtlichen Fragen, die nur am Maßstab der Verfassung geprüft werden, kann nicht der gleiche Bewertungsmaßstab an die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe angelegt werden. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind geringer. Es ist den Senaten in diesen Fällen gar nicht möglich, inhaltlich bestimmte Maßstäbe zu entwickeln, ohne von der grundsätzlichen Aufgabenteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten abzuweichen. Diese Aufgabenteilung kommt insbesondere in seinem Prüfungsmaßstab zum Ausdruck. Nach der Heckschen Formel prüft das Bundesverfassungsgericht nur die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht. Ein Eingreifen des Gerichts kommt demnach nur in Frage, wenn Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind49. Der soeben vorgestellte Bewertungsmaßstab verschiebt im Ergebnis nur die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe zu stellen sind, nach oben oder nach unten. Der Bewertungsmaßstab operiert mit dem Begriff der Bestimmtheit, der nachfolgend näher beleuchtet wird. Das Bestimmtheitsgebot ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips50. Normierungen finden sich an mehreren Stellen 48
Siehe Teil A., Fn. 6. BVerfGE 18, 85, 92 f. Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 77, 122, sieht in der Heckschen Formel eine äußerst flexible, je nach bundesverfassungsgerichtlichem Bedarf kalibrierbare Rechtsprechungsformel, um den Verfassungsbeschwerdestrom auf ein zu bewältigendes Maß zu kanalisieren. Ausführlich zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, oder Düwel, Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts. Siehe auch Roth, AöR 121 (1996), S. 544 ff. 50 Ausführlich zur Herleitung des Bestimmtheitsgebots Robbers, in: BK-GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 2128; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 128. Siehe auch Middelschulte, Unbestimmte Rechtsbegriffe und das Bestimmtheitsgebot, S. 119 ff. sowie BVerfGE 59, 104, 114; 78, 374, 388. Teilweise wird das Bestimmtheitsgebot als Teil des Grundsatzes der Rechtssicherheit eingestuft, der 49
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des Grundgesetzes, nämlich Art. 80 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 2 und 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weshalb man in diesen Fällen von besonderen Bestimmtheitsanforderungen sprechen kann. Für alle anderen Fälle gelten die allgemeinen Bestimmtheitsanforderungen51. Der Umgang mit den allgemeinen Bestimmtheitsanforderungen oder dem allgemeinen Bestimmtheitsgebot erweist sich als schwierig. Denn es existiert für seinen inhaltlichen Gehalt keine einheitliche terminologische Determinierung52. Es gibt daher vielfältige Ansätze zu dessen Bestimmung. Genannt werden etwa die Verständlichkeit der Norm53 oder die Verpflichtung des Gesetzgebers, präzise Tatbestände vorzugeben54. Verbreitet ist in diesem Kontext die Forderung, die gesetzlichen Tatbestände müssten so genau formuliert sein, dass die Adressaten die Rechtslage erkennen sowie ihr Verhalten daran ausrichten können, weil die Folgen der Regelung für sie voraussehbar bzw. berechenbar sind55. Unbestimmte Rechtsbegriffe dürfen verwendet werden, ebenso Generalklauseln, wenn sie mit Hilfe der juristischen Methoden ausgelegt werden können. Zudem spricht nichts gegen die Einräumung von Ermessen an die Verwaltung unter der Bedingung, dass es durch die Gesetzeszwecke sowie Maßstäbe für Abwägungsentscheidungen und tatbestandliche Bindungen begrenzt ist56. Das Bestimmtheitsgebot gilt für Rechtsvorschriften: Erfasst werden formelle und materielle Gesetze, aber auch Verwaltungsvorschriften sowie Verwaltungsakte57. Der Grad der Bestimmtheit ist nicht in allen Fällen gleich, sondern variiert58. Kriterien, die den Grad der Bestimmtheit bewiederum ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzip ist, so Maurer, StaatsR I, § 8 Rn. 46. 51 Middelschulte, Unbestimmte Rechtsbegriffe und das Bestimmtheitsgebot, S. 119 ff. Siehe hierzu auch Kunig, Jura 1990, 495, 496, der von spezifischen Bestimmtheitsgeboten spricht. 52 Middelschulte, Unbestimmte Rechtsbegriffe und das Bestimmtheitsgebot, S. 123. 53 Krüger, Staatslehre, S. 290. 54 Kunig, Jura 1990, 495. 55 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Allgemeine Rechtsstaatlichkeit) Rn. 58; Maurer, StaatsR I, § 8 Rn. 47; Robbers, in: BK-GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 2129 f. Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots negativ formulierend Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 289. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe BVerfGE 31, 255, 264; 110, 33, 53. 56 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 133 f.; ähnlich Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Allgemeine Rechtsstaatlichkeit) Rn. 62 f.; Maurer, StaatsR I, § 8 Rn. 47; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 289. 57 Robbers, in: BK-GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 2137; ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 132. Kunig, Jura 1990, 495 ff., spricht in diesem Zusammenhang von der „hinreichenden Bestimmtheit“ von Normen und Einzelakt.
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einflussen, sind die Regelungsmaterie, der Regelungszweck, die Regelungsfähigkeit des Gegenstandes, die Grundrechtsrelevanz und das Gewicht der Regelungswirkung59. Die aufgezählten Kategorien sind zwar abstrakt und bei der Überprüfung einer Norm auf ihre Bestimmtheit schwer handhabbar, dennoch sind sie alternativlos. Konkretere Kriterien wie die Praktikabilität, die Verständlichkeit oder die Bestimmbarkeit der Norm, die Einheitlichkeit, Sachwidrigkeit und Zumutbarkeit ihrer Anwendung, die Alternativlosigkeit der Rechtssetzungsmethode sowie die Motivation des Gesetzgebers, haben sich in diesem Zusammenhang als nur bedingt tauglich erwiesen60. Die Frage der erforderlichen Bestimmtheit kann somit nicht abstrakt, sondern nur im konkreten Einzelfall beantwortet werden61. Zwar gilt das Bestimmtheitsgebot für die Senatsmaßstäbe nicht direkt, weil es sich bei ihnen nicht um Rechtsvorschriften handelt. Seine zentrale Aussage, dass gesetzliche Tatbestände so genau formuliert sein müssen, dass die Adressaten die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können, weil die Folgen der Regelung für sie voraussehbar bzw. berechenbar sind, kann fruchtbar gemacht werden für die Bewertung der Senatsmaßstäbe im Hinblick darauf, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Auf die Senatsmaßstäbe übertragen verlangt das Bestimmtheitsgebot, dass die Maßstäbe so genau formuliert sind, dass aus ihnen die verfassungsrechtliche Rechtslage in Bezug auf die fallentscheidende Frage erkennbar wird und sie eine Kammerentscheidung inhaltlich tragen können. Auf diese Weise soll die in den §§ 93a ff. BVerfGG niedergelegte Kompetenzverteilung zwischen Senaten und Kammern gewahrt bleiben. d) Prüfungsschema Die vorgestellten Bewertungskriterien lassen sich zu einem Prüfungsschema für das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zusammenfassen. Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe werden zunächst anhand der Mahrenholzschen Formel darauf überprüft, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Demnach 58 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Allgemeine Rechtsstaatlichkeit) Rn. 60; Maurer, StaatsR I, § 8 Rn. 47; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135. 59 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135 (m. w. N.). 60 Mit Ausführungen zu jedem der genannten Kriterien Middelschulte, Unbestimmte Rechtsbegriffe und das Bestimmtheitsgebot, S. 170 ff. 61 Middelschulte, Unbestimmte Rechtsbegriffe und das Bestimmtheitsgebot, S. 181.
III. Untersuchungsprogramm
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kommt es darauf an, ob der zu entscheidende Sachverhalt ohne Zwischenschritte abstrakter Art unter die verwendeten Senatsmaßstäbe subsumiert werden kann. Ist eine direkte Subsumtion möglich, ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Die beiden anderen Bewertungskriterien dienen in diesem Fall noch einer Stimmigkeitskontrolle. Greift die Formel nicht, kommt es darauf an, ob es sich bei dem Senatsmaßstab um eine Regel oder ein Prinzip handelt. Liegt eine Regel vor, bei der es sich um nichts anderes als eine Norm mit Tatbestand und Rechtsfolge handelt, bleibt es bei dem festgestellten Ergebnis nach der Mahrenholzschen Formel. Denn zur Frage der Subsumierbarkeit stellt sie bereits detaillierte Anforderungen auf, die inhaltlich enger sind. Während die Tatsache, dass es sich bei den Senatsmaßstäben um Regeln handelt, nur besagt, dass sie subsumierbar sein müssen, besagt die Formel von Mahrenholz, unter welchen Bedingungen subsumiert werden kann, sodass sie in diesem Bereich vorrangig ist. Liegt hingegen ein Prinzip vor, kommt es darauf an, ob eine Richtung für die Falllösung in dem Sinn aufgezeigt wird, dass Werte und Ziele im Rahmen der Rechtsanwendung durch die Kammern berücksichtigt werden können. Werden diese Voraussetzungen erfüllt, ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Ist sowohl nach der Mahrenholzschen Formel als auch nach der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage noch nicht entschieden, kommt es auf das dritte Bewertungskriterium an, das die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit zu stellen sind, nach oben oder unten verschiebt. Handelt es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage, muss der Senatsmaßstab, auf den die Kammer ihre Entscheidung stützt, so bestimmt sein, dass er inhaltlich trägt. Geht es um die Überprüfung einer einfachrechtl. Frage am Maßstab der Verfassung, sind die inhaltlichen Anforderungen geringer. Dieses Kriterium beeinflusst das Ergebnis, das anhand der Mahrenholzschen Formel oder der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien gefunden wurde. Das beschriebene Prüfungsprogramm kombiniert die drei Bewertungskriterien und somit verschiedene Aspekte bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage miteinander. Auf diese Weise werden die Schwächen jedes einzelnen Kriteriums ausgeglichen und die Stärken genutzt. Würde man die Bewertungskriterien gleichrangig nebeneinander verwenden, müssten dennoch Regelungen oder Argumente für den Fall gefunden werden, dass die Kriterien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Vor diesem Hintergrund ist das gestufte Prüfungsprogramm überlegen.
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren Der folgende dritte Teil der Arbeit ist der Analyse der Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren gewidmet. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der praktischen Handhabung der Annahme- und Stattgabevoraussetzungen der §§ 93a Abs. 2, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG durch die Kammern in den sieben Grundrechtsbereichen, wobei der Umgang mit dem Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage von besonderem Interesse ist. Denn hinter diesem Merkmal steht die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Kammern und Senaten. Zur Überprüfung, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden war, dienen die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe. Es werden daher zunächst die Senatsmaßstäbe vorgestellt, an denen sich die Kammern bei ihren Entscheidungen orientieren. Danach werden die aufgrund dieser Senatsmaßstäbe ergangenen Kammerentscheidungen erläutert. Es schließt sich die Bewertung der Senatsmaßstäbe im Hinblick auf die Fragestellung an, ob sie die ergangenen Kammerentscheidungen tragen. Die Untersuchung konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf folgende Fragen. Verwendet die Kammer überhaupt Senatsmaßstäbe? Tragen die verwendeten Senatsmaßstäbe die konkrete Entscheidung tatsächlich? Gibt es Bereiche, in denen das Netz der Maßstäbe enger oder weiter ist? Hinter diesen Fragen geht es im Grunde darum, ob die Kammern, obwohl sie nach der gesetzlichen Konzeption auf den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung beschränkt sind, eigene Akzente setzen und somit selbst die Verfassungsrechtsprechung prägen. Unter der Überschrift inhaltliche Tendenzen wird es darum gehen.
I. Feststellungen zur Einleitung der rechtlichen Ausführungen in den Kammerbeschlüssen Die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Kammer eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr gleichzeitig stattgeben darf, sind in den §§ 93c Abs. 1 Satz 1, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG geregelt1. 1 Die Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen wurden ausführlich unter B. V. 1. dargestellt.
I. Rechtliche Ausführungen in den Kammerbeschlüssen
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Die Theorie ist eine Seite der Medaille, die Praxis die andere. Die Kammern bauen ihre Beschlüsse üblicherweise dreiteilig auf. Im ersten Teil wird der für das Verständnis des Falles notwendige Sachverhalt mitgeteilt, das heißt insbesondere die Entscheidungen der Fachgerichte. Der zweite Teil stellt die grundrechtlichen Rügen des Beschwerdeführers dar, während der dritte die rechtlichen Ausführungen der Kammern enthält. Der dritte Teil gliedert sich wiederum in einen Maßstäbeteil und einen Subsumtionsteil2. Zu Beginn der rechtlichen Ausführungen nehmen die Kammern jedoch zunächst zu den Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen Stellung. Die Art und Weise, wie diese Stellungnahme erfolgt, soll im Folgenden untersucht werden, insbesondere, ob die Kammern das Vorliegen der Voraussetzungen begründen oder schlicht feststellen. 1. Nichtannahmebeschlüsse Im Mittelpunkt stehen zunächst die Nichtannahmebeschlüsse. Hier fällt auf, dass die Kammern keine einheitliche Prüfung der Annahmevoraussetzungen praktizieren. So ist es sehr verbreitet, die rechtlichen Ausführungen wie folgt zu beginnen: „Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 [24 ff.]). Sie ist unzulässig.“3
Die Kammer begnügt sich mit der Feststellung, dass die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen werde, weil sie keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Ausführungen zu den Annahmevoraussetzungen beschränken sich dann auf diese Feststellung. Auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale wird nicht näher eingegangen. Sehr vereinzelt finden sich Nichtannahmebeschlüsse, in denen die Annahmevoraussetzungen nicht thematisiert werden4. Sie können daher vernachlässigt werden. Häufig prüfen die Kammern die Annahmevoraussetzungen in folgender Variante: „Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde wirft keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf. Ebenso wenig ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführer angezeigt. Es kann dahinstehen, ob die Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang zulässig ist. Jedenfalls hat sie in der Sache keine Aussicht auf Erfolg.“5
2 3 4
Siehe Teil C., Fn. 24. BVerfGK 4, 283, 284; ähnlich 7, 276; 9, 325; 9, 83; 12, 378; 12, 422. BVerfGK 11, 405; 13, 49; 13, 115.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Zu Beginn erfolgt die Feststellung, dass die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Im Hinblick auf § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG wird erwähnt, dass die Verfassungsbeschwerde keine Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung aufwerfe. Ein Verweis auf einschlägige Senatsmaßstäbe findet sich nicht. Schließlich verneinen die Kammern auch den Annahmegrund des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Eine Annahme zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers sei nicht angezeigt. Teilweise findet sich im Anschluss daran noch der Hinweis, dass die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg habe, weil sie unzulässig oder unbegründet sei. Eine detaillierte Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen, so zum Beispiel der Fallgruppen zum Tatbestandsmerkmal angezeigt, findet nicht statt. Schließlich existieren noch Nichtannahmebeschlüsse nach folgender Variante: „Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Beschwerde hat keine grundsätzliche Bedeutung nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG. Die verfassungsrechtliche Fundierung des Anspruchs auf Geldentschädigung in dem von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ist in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 34, 269 [285 f.]). Die Annahme der Beschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerdeführerin nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.“6
Die Kammern verweisen bei der Prüfung der Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG auf Senatsentscheidungen bzw. Senatsmaßstäbe. Hier wird zunächst wiederum festgestellt, dass die Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung habe, da die jeweilige verfassungsrechtliche Frage schon geklärt sei. Es folgt der Verweis auf die Senatsmaßstäbe. Die Prüfung der Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG erfolgt dann in der zuvor dargestellten Form. Sie wird nur kurz verneint. Zusammenfassend gibt es somit drei Prüfungsvarianten im Bereich der Nichtannahmebeschlüsse, wenn von gewissen minimalen Abweichungen an der einen oder anderen Stelle abgesehen wird. Variante eins zeichnet sich dadurch aus, dass lediglich mit Hinweis auf § 93a Abs. 2 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde wegen mangelnder Erfolgsaussicht nicht angenommen wird. Variante zwei geht zumindest auf die Annahmevoraussetzungen des 5
BVerfGK 13, 336, 339; ähnlich BVerfGK 1, 100; 7, 397; 8, 205; 9, 48; 9, 54; 9, 92; 12, 410; 12, 417. 6 BVerfGK 10, 389, 392; ähnlich BVerfGK 1, 122; 1, 285; 7, 120; 7, 217; 10, 499; 12, 60.
I. Rechtliche Ausführungen in den Kammerbeschlüssen
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§ 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG dergestalt ein, dass der gesetzliche Wortlaut wiedergegeben und das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale verneint wird. Variante drei verweist im Rahmen der Prüfung des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG auf die nach Ansicht der Kammer einschlägigen Senatsmaßstäbe und verneint im Hinblick auf die Prüfung des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG wiederum das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. 2. Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse Betrachtet man im Vergleich dazu die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse der Kammern, ergibt sich folgendes Bild: Die Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG, nämlich die Annahme der Verfassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung, wird nicht erwähnt7. Die Kammern haben den ersten Zugriff auf die Verfassungsbeschwerde, sodass sie auch eine Prüfungspflicht bezüglich dieser Annahmevoraussetzung haben, obwohl sie, bei deren Vorliegen, nicht zur Annahme befugt sind. Auf diese Weise soll die Senatszuständigkeit nicht unterlaufen werden8. Verbreitet leiten die Kammern die Prüfung der Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der folgenden ersten Variante ein: „Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Beschwerdeführers (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG).“9
Zunächst stellen sie fest, dass sie die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG – teilweise aus dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang – stattgeben. Dann erfolgt eine Bezugnahme auf das in dem konkreten Fall verletzte Grundrecht und die Aussage, dass die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung dieses Grundrechts angezeigt sei. 7 Siehe dazu die folgenden Zitate aus der Kammerrechtsprechung. Es existieren jedoch vereinzelt Nichtannahmebeschlüsse, in denen die zuständige Kammer ausführlich prüft, ob der Verfassungsbeschwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, um sie letztendlich doch zu verneinen, BVerfGK 7, 283, 294 ff.; 8, 343, 345 ff. 8 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. IV. 1. 9 BVerfGK 3, 319, 320; ähnlich BVerfGK 3, 49; 5, 146; 6, 5; 6, 144; 10, 134; 13, 472.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Die Feststellung der Annahme und die Bezugnahme auf das verletzte Grundrecht werden häufig miteinander verknüpft. Schließlich erwähnen sie das Vorliegen der Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung. Teilweise wird der Hinweis auf das Vorliegen der Voraussetzungen oder das verletzte Grundrecht weggelassen. Eine konkrete Prüfung erfolgt jedoch nicht. Öfter anzutreffen ist auch die zweite Variante: „Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.“10
Die Kammern stellen zu Beginn die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung fest, in dem gerade beschriebenen Sinn. Dann benennen sie gegebenenfalls das verletzte Grundrecht und zählen schließlich die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zumindest – teilweise unvollständig – auf. Eine dritte und letzte Prüfungsvariante in diesem Bereich ist mit der zuletzt dargestellten deckungsgleich bis auf die Tatsache, dass die Kammern im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auf die, nach ihrer Ansicht, einschlägige Senatsentscheidung bzw. die Senatsmaßstäbe verweisen: „Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen zu den Anforderungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an Datenspeicherungen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 65, 1 [41 ff.]; 67, 100 [142 ff.]; 78, 77 [84 ff.]). Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.“11
Bei den Annahme- bzw. Stattgabebeschlüssen der Kammern existieren somit ebenfalls drei Prüfungsvarianten. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Feststellungen nur auf die Einleitung der rechtlichen Ausführungen in den Kammerbeschlüssen beziehen. Im Rahmen der weiteren Ausführungen gehen die Kammern in der Regel weiter auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe ein, nicht aber auf die anderen Annahmevoraussetzungen. 10 11
BVerfGK 5, 32, 35; ähnlich BVerfGK 7, 168; 8, 36; 9, 231; 10, 330. BVerfGK 8, 165, 167; ähnlich BVerfGK 1, 167; 2, 102; 9, 353; 10, 374; 13, 137.
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit Die Kammern des Bundesverfassungsgerichts trafen im Untersuchungszeitraum, das heißt von Januar 2003 bis Mai 2008, insgesamt 52 Entscheidungen, die thematisch in den Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit eingeordnet werden können12. Weit überwiegend rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die dort geltend gemachten Grundrechtsverletzungen stammen besonders aus den Bereichen der Medienberichterstattung13 sowie der Maßnahmen oder Unterlassungen gegenüber Gefangenen und der Strafverfolgung14. Rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ging es inhaltlich etwa um die Einsicht in Krankenunterlagen im Maßregelvollzug15, den Datenschutz im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. im Privatversicherungsrecht oder im Rahmen der Abtretung einer Forderung16 sowie um ein behördliches Auskunftsverlangen über den Wiedererwerb einer Staatsangehörigkeit17. In einigen Fällen wurde auch eine Verletzung der Menschenwürde geltend gemacht. Inhaltlich beschäftigten sich diese Kammerentscheidungen mit den Unterbringungsbedingungen in der Untersuchungshaft18, einer Entschädigung aufgrund kurzfristiger menschenunwürdiger Bedingungen in dieser19 oder den Rügeanforderungen bei Folterandrohung im Ermittlungsverfah12
Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 1. Im Rahmen des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch Medienberichterstattung ging es beispielweise um die Berichterstattung über Verkehrsverstöße eines Prominenten (BVerfGK 8, 205), die Bildberichterstattung über Privatpersonen ohne hervorgehobene Prominenz (BVerfGK 9, 54) oder das Verbot der Ausstrahlung eines an reale historische Vorgänge anknüpfenden Films (BVerfGK 12, 85, 95). 14 Inhaltlich ging es um die mit einer Entkleidung verbundenen Durchsuchung bei einem Häftling (BVerfGK 2, 102), die Verlegung eines Strafgefangenen in eine familiennähere Justizvollzugsanstalt (BVerfGK 8, 36), die Anordnung der Umkleidung und anschließenden körperlichen Durchsuchung vor der Zuführung zum Besuch im Strafvollzug (BVerfGK 8, 363), die Anforderungen an die Vollzugsplanung für einen Strafgefangenen (BVerfGK 9, 231); die Urinkontrolle im Vollzug der Untersuchungshaft (BVerfGK 12, 378); die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Beschäftigungsverhältnisse von Gefangenen bei in der Anstalt tätigen privaten Unternehmen (BVerfGK 13, 137) und die Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug (BVerfGK 13, 472). 15 BVerfGK 7, 168. 16 BVerfGK 7, 276; 9, 353; 11, 405. 17 BVerfGK 7, 397. 18 BVerfGK 12, 422. 19 BVerfGK 7, 120. 13
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
ren20. Schließlich hatten zwei Kammerentscheidungen im Schwerpunkt Rügen von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Gegenstand. So ging es um die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus21 und das Verfahren der Vollstreckungsgerichte bei Suizidgefahr im Fall der Zwangsräumung22. Im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit spielt somit das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Hauptrolle. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Im Folgenden wird untersucht, ob sich die praktische Handhabung der Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit durch die Kammern mit den dogmatischen Vorgaben der Senate sowie der Literatur zu deren Auslegung deckt. Es finden sich keine vertieften Ausführungen in den Kammerentscheidungen zum Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit23. Die Kammern legen in diesem Zusammenhang nicht dar, warum sich die Konkretisierung oder verfassungsrechtliche Entfaltung der weiteren verfassungsrechtlichen Maßstäbe oder auch die Abwägung zwischen mehreren betroffenen grundrechtlichen Schutzgütern, in der gegebenen Fallkonstellation, geradezu aufdrängen und das Ergebnis so eindeutig sei, dass ernsthafte Zweifel daran, dass der Senat die Beschwerde anders entscheiden würde, nicht denkbar seien24. Vielmehr wird das Vorliegen ohne Begründung angenommen. Eine Untersuchung ist daher nicht möglich. Es existiert ein Kammerbeschluss, in dem sich Ausführungen zum Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG finden. Es stellt keine eigenständige Fallgruppe dar, 20 BVerfGK 4, 283. Es handelt sich um den „Fall Magnus Gäfgen“. Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG durch Folterandrohung im Ermittlungsverfahren. Die 3. Kammer des 2. Senats nahm die Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung an. Sie sah die Anforderungen, die die §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde stellen, als nicht erfüllt an. Inhaltlich äußerte sich die Kammer jedoch dahingehend, dass Grundrechtsverletzungen außerhalb der Hauptverhandlung nicht zwingend die Verfassungswidrigkeit eines auf der Hauptverhandlung beruhenden Strafurteils bewirken. Die befassten Fachgerichte (Landgericht und BGH) hatten die angewandten Vernehmungsmethoden als unzulässig eingestuft und entsprechende Konsequenzen gezogen. 21 BVerfGK 1, 53. 22 BVerfGK 6, 5. 23 Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit siehe die Ausführungen unter B.V. 1. b). 24 Ebd.
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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sondern geht in der Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit auf, einer Fallgruppe des Tatbestandsmerkmals angezeigt25. a) Besonders schwerer Nachteil In dem Beschluss, in dem sich die Kammer zum Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils äußert, nahm sie die auf eine Verletzung der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Denn nach ihrer Auffassung entstehe der Beschwerdeführerin kein schwerer Nachteil26. Den Hintergrund der Verfassungsbeschwerde bildet der folgende Fall: Die Beschwerdeführerin ist Mutter zweier Töchter und wehrt sich gegen einen Beweisbeschluss, der im Rahmen eines elterlichen Sorgeverfahrens erging. Der Beweisbeschluss ordnete die psychiatrische Begutachtung der Kinder zur Feststellung von Auffälligkeiten sowie Verhaltensstörungen und zur Beantwortung der Frage an, ob diese auf die Krankheit der Mutter – im Raum stand eine schizophrene Erkrankung – zurückgeführt werden können. Gleichzeitig ging es um die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung der Gefährdung für das Kindeswohl. Die Mutter wurde verpflichtet, die Begutachtung zu dulden, ebenso eine eventuell erforderliche stationäre Unterbringung der Kinder27. Die Kammer deutet in ihrem Nichtannahmebeschluss eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG an. Die Pflicht zur Duldung der stationären Unterbringung der Kinder sei unverhältnismäßig, da unklar sei, ob das Verhalten der Mutter sich auf die Kinder auswirke und warum eine stationäre, und nicht etwa eine ambulante, Untersuchung erforderlich sei28. Während des laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens wurde die Begutachtung der Kinder ohne stationäre Unterbringung abgeschlossen. Dies nahm die Kammer zum Anlass, das Vorliegen eines schweren Nachteils zu verneinen29. b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals des besonders schweren Nachteils müsste sich mit der von der Senatsrechtsprechung des 25
Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c). BVerfGK 1, 122, 123. Die Kammer verwendet anstelle des gesetzlichen Wortlauts „besonders schwerer Nachteil“ in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG die Formulierung schwerer Nachteil. 27 BVerfGK 1, 122, 123. 28 BVerfGK 1, 122, 124. 29 Ebd. 26
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung decken. Ein besonders schwerer Nachteil wird angenommen bei Verurteilungen zu Geldleistungen, Erleiden eines wirtschaftlichen Nachteils, Rufvernichtung oder strafrechtlicher Verurteilung zu einer Sanktion. Definiert man das Tatbestandsmerkmal negativ, liegt ein besonders schwerer Nachteil nicht vor, wenn die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat oder wenn abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer, auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht, im Ergebnis keinen Erfolg haben würde. Im Fall der Erledigung des Ausgangsverfahrens wird ebenfalls vom Fehlen des besonders schweren Nachteils ausgegangen, wobei eine Ausnahme bei versammlungsrechtlichen Konstellationen gemacht wird30. In dem vorgestellten Fall ist Erledigung eingetreten, weil während dem laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahren die Begutachtung der Kinder ohne stationären Aufenthalt erfolgte. Die Handhabung bewegt sich somit auf der Linie der Rechtsprechung der Senate und der von der Literatur vertretenen Auffassung. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage An dieser Stelle wird das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG im Hinblick darauf näher betrachtet, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage in dem konkreten Fall tatsächlich bereits entschieden war. Als Grundlage der Untersuchung dienen einige stattgebende Kammerentscheidungen aus dem Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und eine Kammerentscheidung, die mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts behandelt. Schließlich soll eine Entscheidung vorgestellt werden, die eine Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit zum Gegenstand hat. Die Besonderheit dieser Entscheidung, die auch ihre Darstellung rechtfertigt, liegt darin begründet, dass es sie nicht geben dürfte. Jedenfalls dann nicht, wenn die zuständigen Fachgerichte die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG beachtet hätten. a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht Das allgemeine Persönlichkeitsrecht spielt im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit eine Hauptrolle, was eine genauere Betrachtung rechtfertigt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem allgemei30
Siehe insgesamt die Ausführungen unter B. V. 1. c) cc).
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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nen Persönlichkeitsrecht auf der einen Seite und den grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG sowie der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs auf der anderen Seite war wiederum Gegenstand vieler Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse in diesem Bereich31. aa) Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 1 GG Die Standardkonstellation im Konflikt zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und den Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG stellt sich vereinfacht so dar, dass ein Medienunternehmen über eine Person oder einen Sachverhalt in einer beliebigen Form berichtet oder berichten möchte und diese sich gegen die Berichterstattung zur Wehr setzt. Im Kern geht es, sowohl im Zivilrecht als auch im Verfassungsrecht, um eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und den im konkreten Einzelfall einschlägigen grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG32. Daraus folgt, dass keiner der beiden Verfassungswerte einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen kann, sondern es auf die Abwägung im konkreten Einzelfall ankommt33. Anderenfalls wäre eine Abwägung sinnlos. (1) BVerfGK 3, 319 Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, vertrat einen Mandanten wegen übler Nachrede gegenüber einer Tageszeitung. In einem ihrer späteren Artikel berichtete diese über die Hauptverhandlung u. a. wie folgt: „Seit Jahren Auffälligkeiten Vertreten wird der 59-Jährige regelmäßig von einem Würzburger Anwalt, der nach einer Karriere als Staatsanwalt ebenfalls gegen seinen Willen aus dem Justizdienst entlassen wurde und dagegen ebenso erbittert wie erfolglos gekämpft hat. Nach Informationen der M registriert man beim Landgericht seit Jahren Auffälligkeiten dieses Anwalts, hält es für fraglich, ob er noch in der Lage ist seinen Beruf ordnungsgemäß auszuüben und regt eine Prüfung an, ob nicht der Widerruf der Zulassung des Rechtsanwalts in Betracht zu ziehen sei.“34
Die Unterlassungsklage des Beschwerdeführers hatte weder vor dem Amtsgericht noch vor dem Landgericht Erfolg. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts statt. Sie verweist 31 32 33 34
Siehe die Ausführungen unter D. II. BVerfGE 35, 202, 221 (m. w. N.). BVerfGE 35, 202, 203. BVerfGK 3, 319.
112
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
im Rahmen der Darlegung ihrer verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf folgende Senatsmaßstäbe35: „Das Grundrecht schützt Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand besonderer Freiheitsgarantien sind, aber in diesen in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (. . .). Dazu gehört auch die soziale Anerkennung des Einzelnen. Aus diesem Grund umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Schutz vor Äußerungen, die geeignet sind, sich abträglich auf sein Bild in der Öffentlichkeit auszuwirken. Derartige Äußerungen gefährden die von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete freie Entfaltung der Persönlichkeit, weil sie das Ansehen des Einzelnen schmälern, seine sozialen Kontakte schwächen und infolgedessen sein Selbstwertgefühl untergraben können. Allerdings reicht der Schutz dieses Grundrechts nicht so weit, dass es dem einzelnen einen Anspruch darauf verliehe, in der Öffentlichkeit nur so dargestellt zu werden, wie er sich selber sieht oder von anderen gesehen werden möchte.“36 „Dieser Grundsatz [dass Persönlichkeitsinteressen regelmäßig hinter der Meinungsfreiheit zurückzustehen haben, wenn die umstrittene Äußerung wahre Tatsachen zum Gegenstand hat] gilt aber nicht ausnahmslos. Insbesondere können wahre Berichte das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dann verletzen, wenn die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentwicklung schwerwiegend sind und die Schutzbedürfnisse das Interesse an der Äußerung überwiegen.“37 „Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen werden und so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muss, auf jeden Fall gewahrt bleibt.“38 „Dem Bundesverfassungsgericht obliegt lediglich, die Beachtung der grundrechtlichen Normen und Maßstäbe durch die ordentlichen Gerichte sicherzustellen; im Rahmen dieser Aufgabe hat es zu prüfen, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch für den materiellen Rechtsfall von einigem Gewicht sind (. . .).“39
Aufgrund dieser Maßstäbe ging die zuständige Kammer davon aus, dass es für eine Persönlichkeitsverletzung entscheidend auf die Identifizierbarkeit 35 Der Senatsmaßstab BVerfGE 61, 1, 8, befasst sich mit Fragen des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit. So geht es etwa um den Schutz von Tatsachenbehauptungen und die Elemente einer Meinung i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. 36 BVerfGE 99, 185, 193 f. 37 BVerfGE 97, 391, 403 f. 38 BVerfGE 7, 198, 208. 39 BVerfGE 54, 148, 151 f.
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des Beschwerdeführers für sachlich interessierte Leser ankomme, trotz Auslassung des Namens. Für den Betroffenen sei die Verbreitung solcher Informationen im beruflichen und persönlichen Umfeld besonders nachteilig40. Dieser Maßstab stammt allerdings nicht von den Senaten, sondern wurde vom Bundesgerichtshof entwickelt und wird von der Kammer zitiert41. Ebenso nimmt die Kammer Bezug auf einschlägige Literatur42. Es schließt sich die Feststellung der Kammer an, dass die zuvor aus der Rechtsprechung und Literatur übernommenen Maßstäbe den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung tragen. (2) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die Kammerentscheidung könnte von dem Senatsmaßstab getragen werden, nach dem wahre Berichte das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzen, wenn die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentwicklung schwerwiegend sind und die Schutzbedürfnisse überwiegen. Dieser Maßstab eignet sich nicht für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Es bleibt vielmehr offen, wann die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentwicklung schwerwiegend sind. Dafür spricht auch, dass die Kammer auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Erkennbarkeit einer Person zurückgreifen musste, um die Lücke zwischen dem Maßstab und dem konkreten Fall zu schließen. Zieht man die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien heran, ändert sich nichts. Es handelt sich um eine Regel, da der Senatsmaßstab nach dem Konditionalschema aufgebaut ist. Regeln müssen subsumierbar sein. Zur Frage der Subsumierbarkeit enthält die Formel von Mahrenholz die engeren Voraussetzungen und ist somit vorrangig. Schließlich werden die Senatsmaßstäbe nicht zur Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung verwendet. Es geht um eine originär verfassungsrechtliche Frage. An die inhaltliche Bestimmtheit der verwendeten Senatsmaßstäbe sind gesteigerte Anforderungen zu stellen. Diese werden nicht erfüllt. Daher ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG noch nicht entschieden und die Kammer hätte nicht entscheiden dürfen. (3) BVerfGK 10, 374 Der Beschwerdeführer beantragte bei dem Regierenden Bürgermeister von Berlin die Patenschaft für seine Drillinge, da eine solche bei Mehr40 41 42
BVerfGK 3, 319, 322. BVerfGK 3, 319, 321. Ebd.
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lingsgeburten dort möglich ist. Der Regierende Bürgermeister übernahm die Patenschaft und eine in Berlin verbreitete Tageszeitung berichtete hierüber. Der Zeitung war jedoch ebenfalls bekannt, dass der Beschwerdeführer wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes Jahre zuvor verurteilt worden war und berichtete in den folgenden Ausgaben darüber. Im Rahmen der Berichterstattung wurde er mit seinem Vornamen und dem Anfangsbuchstaben seines Nachnamens genannt. Zudem wurden Bilder veröffentlicht, die ihn bei der Übergabe der Patenschaftsurkunde und mit seinen Drillingen zeigen. Auf den Abbildungen war das Gesicht des Beschwerdeführers mit einem schwarzen Balken verdeckt. Die Zeitung warf die Frage auf, ob ihm das Sorgerecht zu entziehen sei. Ein Bild, das ihn bei der Pflege seiner Kinder zeigte, wurde mit der Frage kommentiert, wohin die Hände des Kinderschänders glitten, wenn die Kamera nicht da sei. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts statt. Die Kammer nimmt folgende Senatsmaßstäbe43 in Bezug: „Eine öffentliche Berichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung, Abbildung oder Darstellung des Täters wird stets seinen Persönlichkeitsbereich erheblich beeinträchtigen, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekanntmacht und seine Person in den Augen der Adressaten von vornherein negativ qualifiziert. Etwas anderes mag gelten, wenn die Berichterstattung gerade in der Absicht erfolgt, Verständnis für den Täter zu erwecken, etwa um eine Wiederaufnahme des Verfahrens, einen Gnadenakt oder eine sonstige Hilfe zu erreichen.“44 „Berichte über ein derartiges Verhalten [Vorwurf des sexuellen Missbrauchs des eigenen Kindes] führen meist zu einer Stigmatisierung des Täters.“45 „Insgesamt ist somit eine wiederholte, nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat jedenfalls dann unzulässig, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährdet.“46 „Vielmehr fällt auch die spezifisch elterliche Hinwendung zu den Kindern grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Der Schutzgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfährt dann eine Verstärkung durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, der den Staat verpflichtet, die Lebensbedingungen des Kindes zu sichern, die für sein gesundes Aufwachsen erforderlich sind und zu denen insbesondere die elterliche Fürsorge gehört (. . .).“47
43 Der Senatsmaßstab BVerfGE 81, 347, 356 f., bezieht sich auf eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. 20 Abs. 3 GG und kann hier vernachlässigt werden. 44 BVerfGE 35, 202, 226. 45 BVerfGE 97, 391, 404. 46 BVerfGE 35, 202, 237. Die Kammer verweist im Zusammenhang mit diesem Maßstab ebenfalls auf BVerfGE 36, 174, 188. 47 BVerfGE 101, 361, 386.
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„Während die in einem Presseerzeugnis enthaltene Meinungsäußerung bereits durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt ist, geht es bei der besonderen Garantie der Pressefreiheit um die einzelne Meinungsäußerungen übersteigende Bedeutung der Presse für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung, die Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisten will (. . .).“48 „Da der Rechtstreit aber ungeachtet des grundrechtlichen Einflusses ein privatrechtlicher bleibt und seine Lösung in dem – grundrechtsgeleitetet interpretierten – Privatrecht findet, ist das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt nachzuprüfen, ob die Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben.“49 „Auch Straftaten gehören zunächst zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien überhaupt ist.“50 „Zwar wird es regelmäßig an einem Schutzbedürfnis fehlen, wenn sich Eltern mit ihren Kindern bewusst der Öffentlichkeit zuwenden, etwa gemeinsam an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen oder gar in deren Mittelpunkt stehen. Insoweit liefern sie sich den Bedingungen öffentlicher Auftritte aus. Im Übrigen kann der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugunsten spezifischer Eltern-KindBeziehungen grundsätzlich aber auch dort eingreifen, wo es an den Voraussetzungen der örtlichen Abgeschiedenheit fehlt.“51
Die Kammer gab im Rahmen der Abwägung dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht den Vorzug. Die Gerichte hätten nicht berücksichtigt, dass es als Ausdruck der von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten und von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bestärkten Hinwendung zu den eigenen Kindern zu werten gewesen sei, dass der Beschwerdeführer ihnen diese Patenschaft zukommen ließ52. Die Selbstöffnung der Privatsphäre für die Medien lasse das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers im Rahmen der Abwägung nicht zurücktreten53. Nicht der Beschwerdeführer oder seine Lebensführung standen im Mittelpunkt, sondern die Übernahme der Patenschaft des Regierenden Bürgermeisters für die Drillinge. Die bloße Mitwirkung des Beschwerdeführers hieran rechtfertige es nicht, über ihn selbst zu berichten54. Schließlich sei dem Resozialisierungsinteresse keine Rechnung getragen worden, weil das Landgericht die Berichterstattung wegen der zeitlichen Nähe dieser zur Verurteilung des Beschwerdeführers für zulässig gehalten habe55.
48 49 50 51 52 53 54 55
BVerfGE 85, 1, 11 f. BVerfGE 101, 361, 388. BVerfGE 35, 202, 230 ff. BVerfGE 101, 361, 386. BVerfGK 10, 374, 380. Ebd. BVerfGK 10, 374, 381. Ebd.
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(4) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die Eröffnung des Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts lässt sich nach allen Bewertungskriterien auf den Senatsmaßstab stützten, dass eine öffentliche Berichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung, Abbildung oder Darstellung des Täters stets seinen Persönlichkeitsbereich erheblich beeinträchtigen wird, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekanntmacht und seine Person in den Augen der Adressaten von vornherein negativ qualifiziert. Das Abwägungsergebnis der Kammer lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, dass ein Schutzbedürfnis zu verneinen sei, wenn sich Eltern mit ihren Kindern bewusst der Öffentlichkeit zuwenden, in dem sie an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen oder sich dort in den Mittelpunkt stellen. Zwar eignet sich dieser Maßstab für eine direkte Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel, denn er erlaubt einen deduktiven Schluss. Die Situation des Falles war aber eine andere. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine bewusste Hinwendung zur Öffentlichkeit vorliegt, wäre das Schutzbedürfnis allenfalls gegenüber einer Berichterstattung über die Patenschaft zu verneinen. Die Vergangenheit des Beschwerdeführers selbst spielt in diesem Zusammenhang jedoch keine Rolle, wie auch die Kammer betont. Von seiner Formulierung und seinem Aufbau entspricht der Maßstab einer Regel, sodass eine Subsumtion unter ihn möglich sein muss. In diesem Bereich ist jedoch die Mahrenholzsche Formel vorrangig, sodass sich am festgestellten Ergebnis nichts ändert. Dafür spricht nicht zuletzt der Umstand, dass der Senatsmaßstab zur Beantwortung einer originär verfassungsrechtlichen Frage herangezogen wurde und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit höher waren. Die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe vermögen die Entscheidung nicht zu tragen und sie hätte damit nicht entscheiden dürfen. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war noch nicht entschieden. (5) Bewertende Zusammenfassung Bewertet man die verwendeten Senatsmaßstäbe insgesamt, lässt sich feststellen, dass zum einen sehr abstrakt oder inhaltlich weit formulierte Maßstäbe existieren. So etwa der, dass die spezifisch elterliche Hinwendung zu den Kindern in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG falle und dieses Grundrecht dann eine Verstärkung durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erfahre, der den Staat verpflichte, die Lebensbedingungen des Kindes zu sichern, die für sein gesundes Aufwachsen erforderlich seien und zu denen insbesondere die elterliche Fürsorge gehöre. Die direkte Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel ist hier nicht möglich, da es sich
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um eine Aufgabenzuweisung an den Staat handelt. Der Maßstab ist als Prinzip zu klassifizieren, der allenfalls eine äußerst grobe Richtung für die Kammerentscheidung vorgeben kann. Zum anderen gibt es auch Maßstäbe, die eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte zulassen, weil sie inhaltlich konkret sind. Dies gilt für die Maßstäbe, die sich mit der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht befassen. So etwa der Maßstab, dass es regelmäßig an einem Schutzbedürfnis fehlen werde, wenn sich Eltern mit ihren Kindern bewusst der Öffentlichkeit zuwenden würden. Ebenso der Maßstab, dass eine wiederholte, nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Fernsehberichterstattung über eine schwere Straftat jedenfalls dann unzulässig sei, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährde. Hier handelt es sich aufgrund des Aufbaus um Regeln, die eine Subsumtion erlauben. Die überwiegende Anzahl der verwendeten Senatsmaßstäbe sind jedoch strukturell betrachtet Prinzipien. Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind tendenziell nicht geeignet, die Kammerentscheidungen zu tragen. Es fehlen insbesondere Kriterien für die Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit. Jedenfalls werden sie von den Kammern nicht angeführt und die vorhandenen sind unzureichend. Die Forderung nach Abwägungskriterien überspannt an dieser Stelle nicht die Anforderungen an die Ausgestaltung der Senatsmaßstäbe, denn an anderer Stelle entwickelten die Senate Leitlinien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Gemeint ist zum einen die sogenannte Drei-Stufen-Theorie bei Art. 12 Abs. 1 GG, die der Erste Senat im Apothekenurteil aus der Taufe gehoben hat56, zum anderen die sogenannte Sphärentheorie beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Nach der Drei-Stufen-Theorie ist bei den Einschränkungen der Berufsfreiheit zwischen Berufsausübungsregelungen und subjektiven sowie objektiven Zulassungsvoraussetzungen zu unterscheiden. Während Berufsausübungsregelungen sich bereits durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen lassen, müssen subjektive Zulassungsvoraussetzungen zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter zwingend erforderlich sein. Objektive Zulassungsvoraussetzungen sind hingegen nur zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zulässig57. Die Drei-Stufen-Theorie konkretisiert somit die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art. 12 Abs. 1 GG58 und gibt Kriterien für 56
BVerfGE 7, 377 ff. BVerfGE 7, 377, 378. 58 Volkmann, StaatsR II, 5. Kap., § 16 Rn. 84; kritisch zur Drei-Stufen-Theorie aufgrund ihrer Typisierung, die atypische Situationen nicht berücksichtigt Kloepfer, VerfR, § 70 Rn. 87 f.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 926 ff., bemängeln die Beliebigkeit der Theorie. Sehr ausführlich zur Kritik Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12 Rn. 112 ff. 57
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die Abwägung vor. Die Sphärentheorie wurde zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinn im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt. Eingriffe in die Intimsphäre, als Bereich äußerster Zurückgezogenheit, sind unzulässig. In die Privatsphäre, die den häuslichen und privaten Bereich schützt, kann nur aufgrund überwiegender Interessen der Allgemeinheit und unter besonders strenger Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingriffen werden. Im Bereich der Sozialsphäre, die den Bereich der Öffentlichkeit und Kommunikation erfasst, ist das Schutzniveau sehr eingeschränkt59. (6) Inhaltliche Tendenzen Angesichts der Tatsache, dass keine Senatsmaßstäbe für die Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit existieren, die eine Richtung für die Falllösung vorgeben, füllen die Kammern diese Lücke. Die Kammern differenzieren danach, ob die Person, die sich auf eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts beruft, prominent ist oder sich zur Öffentlichkeit hin geöffnet hat. Ist dies der Fall, neigen sie dazu, dem Informationsinteresse den Vorrang einzuräumen60. Wird eine Person aber gegen ihren Willen in das Licht der Öffentlichkeit gerückt, ohne dass sie in irgendeiner Form darauf hingearbeitet hat, muss das Informationsinteresse zurückstehen61. Weiterhin spielt die Identifizierbarkeit des Betroffenen durch die Öffentlichkeit oder Teilöffentlichkeit eine Rolle. Ist eine Identifizierung des Betroffenen möglich, so neigen die Kammern dazu, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht den Vorzug zu geben62. 59 BVerfGE 27, 1, 6 ff.; 34, 238, 245; 80, 367, 373; siehe ferner Epping, Grundrechte, Rn. 633 und 652; Hufen, StaatsR II, § 11 Rn. 4 und 25; Kloepfer, VerfR, § 56 Rn. 51 ff.; Volkmann, StaatsR II, 2. Kap., § 6 Rn. 49 f. Kritisch zur Sphärentheorie aufgrund der Abgrenzungsprobleme bei den einzelnen Sphären Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 87 f.; ähnlich Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 396. 60 Für den Vorrang des Informationsinteresses der Öffentlichkeit entschied sich die zuständige Kammer auch in dem Fall, in dem sich ein prominenter Beschwerdeführer gegen die Berichterstattung über seine Verurteilung zu einem Bußgeld in Frankreich, anlässlich einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung, wandte. Die Kammer verwies auf den Vorrang des Informationsinteresses bei einer tagesaktuellen Berichterstattung über Straftaten oder ähnliche Verfehlungen von Prominenten, insbesondere, wenn sie zu einem bedeutenden Adelshaus gehören und daher eine hervorgehobene gesellschaftliche Stellung einnehmen, BVerfGK 8, 205, 208 ff. Wenn die Person zwar nicht prominent ist, sich aber als Lebenspartner einer solchen gegenüber den Medien öffnet, kann sie sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf einen unbeschränkt persönlichkeitsabgewandten Privatsphärenschutz berufen, BVerfGK 9, 54, 60. 61 BVerfGK 10, 374 ff. 62 BVerfGK 3, 319.
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Die Kammern setzen eigene Akzente und prägen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich mit. bb) Spannungsverhältnis zur Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs Es besteht weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Häftlingen und Maßnahmen, die der Vollstreckung des Strafanspruchs des Staates dienen. Die Ermächtigungsgrundlagen für diese Maßnahmen befinden sich im Strafvollzugsgesetz. Die typische Konstellation in diesem Bereich gestaltet sich so, dass sich ein Gefangener gegen eine gegenüber ihm verhängte Maßnahme nach dem Strafvollzugsgesetz wehrt. In Ausfüllung des Art. 19 Abs. 4 GG hält der 14. Titel dieses Gesetzes auch die entsprechenden Rechtsbehelfe für den Gefangenen bereit, so insbesondere den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG. (1) BVerfGK 2, 102 Ein Strafgefangener wandte sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen die pauschale Anordnung von körperlichen Durchsuchungen vor Kontakten von Gefangenen mit Besuchern, die die Anstalt auf § 84 Abs. 2 StVollzG63 stützte. Der Anstaltsleiter habe die Anordnungskompetenz für entsprechende Durchsuchungen vor dem Besuchsempfang nach § 156 Abs. 3 StVollzG mit Zustimmung der Aufsichtsbehörde auf Vollzugsbedienstete übertragen. Der Beschwerdeführer scheiterte mit seinem Begehren, die Rechtswidrigkeit der durchgeführten Durchsuchung festzustellen, vor den Fachgerichten64. Die zuständige Kammer bejahte eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe65: 63 § 84 Abs. 2 StVollzG lautet: Nur bei Gefahr im Verzug oder auf Anordnung des Anstaltsleiters im Einzelfall ist es zulässig, eine mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung vorzunehmen. Sie darf bei männlichen Gefangenen nur in Gegenwart von Männern, bei weiblichen Gefangenen nur in Gegenwart von Frauen erfolgen. Sie ist in einem geschlossenen Raum durchzuführen. Andere Gefangene dürfen nicht anwesend sein. 64 BVerfGK 2, 102 f. 65 Die Maßstäbe BVerfGE 59, 231, 268 f.; 77, 240, 255 f., enthalten Beispiele für Fälle, in denen die Fachgerichte das einschlägige Grundrecht unbeachtet gelassen hatten. Der Maßstab BVerfGE 69, 233, 248, betrifft die Frage, ob die Beurteilung der Rechtsbeschwerde als unzulässig den Zugang des Beschwerdeführers zur Rechtsbeschwerdeinstanz unzumutbar erschwert hat. Dies spielte aber keine Rolle, da der Beschluss des Landgerichts durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde und somit der Beschluss des Oberlandesgerichts gegenstandslos wurde.
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„Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“66 „Ihm [dem Richter] ist es verwehrt, dem Gesetz einen Sinn zu unterlegen, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen, den er nicht ausgedrückt hat und den das Gesetz auch nicht im Verlaufe einer Rechtsentwicklung aufgrund gewandelter Anschauungen erhalten hat.“67 „Die Grundrechte von Strafgefangenen können also nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das allerdings auf – möglichst engbegrenzte – Generalklauseln nicht wird verzichten können.“68
Die Kammer sah hier eine Überspielung der, in § 84 Abs. 2 und Abs. 3 StVollzG enthaltenen, abgestuften Anordnungsbefugnisse für körperliche Durchsuchungen. § 84 Abs. 2 StVollzG verlange eine, hier nicht vorliegende, Anordnung im Einzelfall und § 84 Abs. 3 StVollzG69 erlaube pauschale körperliche Durchsuchungen nur in drei Fällen, die hier nicht vorliegen würden70. (2) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Entscheidung tragen. Die beiden zuerst genannten Senatsmaßstäbe beschäftigen sich nur mit dem Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts und enthalten keine inhaltlichen Aussagen zu der im Fall aufgeworfenen Rechtsfrage. In Betracht kommt nur der Maßstab, nach dem die Grundrechte von Strafgefangenen durch oder aufgrund Gesetzes eingeschränkt werden können und auf Generalklauseln nicht verzichtet werden kann. Er eignet sich nicht für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinne der Formel von Mahrenholz. Seine inhaltliche Aussage, dass auch die Grundrechte von 66 BVerfGE 18, 85, 92 f.; ähnlich BVerfGE 30, 173, 196 f.; 57, 250, 272; 74, 102, 127. 67 BVerfGE 86, 59, 64. 68 BVerfGE 33,1, 11. In diese Richtung geht auch der Maßstab BVerfGE 89, 315, 322 f. 69 § 84 Abs. 3 StVollzG lautet: Der Anstaltsleiter kann allgemein anordnen, dass Gefangene bei der Aufnahme, nach Kontakten mit Besuchern und nach jeder Abwesenheit von der Anstalt nach Absatz 2 zu durchsuchen sind. 70 BVerfGK 2, 102 ff.
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Strafgefangenen durch oder aufgrund Gesetzes beschränkt werden könnten, trifft nicht nur für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu, sondern für alle Grundrechte und gibt im Grunde nur das Gesetz wieder. Strukturell betrachtet, handelt es sich bei dem Maßstab um ein Prinzip, da das Konditionalschema fehlt. Als Prinzip muss er eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Diesem Erfordernis wird er nicht gerecht. Er ist zu allgemein formuliert und könnte letztlich jedes beliebige Ergebnis rechtfertigen. Zwar geht es um die Überprüfung der Auslegung von § 84 StVollzG und somit um die Überprüfung der Auslegung von einfachem Recht am Maßstab der Verfassung, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der verwendeten Senatsmaßstäbe geringer sind. Dies vermag am gefundenen Ergebnis jedoch nichts mehr zu ändern. Denn der in Rede stehende Maßstab ist schlicht inhaltlich zu allgemein, um einen Anhaltspunkt zu liefern, wie die Kammer den Fall entscheiden soll. Die verwendeten Senatsmaßstäbe tragen die Entscheidung nicht, sodass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht bereits entschieden war. (3) BVerfGK 8, 36 Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der bayerischen Justizvollzugsanstalt Straubing und verbüßt dort eine lebenslange Freiheitsstrafe. Seine Eltern bzw. sein Bruder leben in Brandenburg, seine Schwester mit ihren Kindern in Sachsen und seine Verlobte in Sachsen-Anhalt. Nachdem der Beschwerdeführer 2003 bei einer Besuchsüberstellung unzulässigerweise Bargeld angenommen hatte, kam es erst im Juni 2005 zu einer weiteren Besuchszusammenführung. Der bereits im Juli 2004 gestellte Antrag auf eine Verlegung in eine Vollzugsanstalt des Landes Sachsen, abweichend vom Vollstreckungsplan, wurde abgelehnt. Die Justizvollzugsanstalt Straubing ging davon aus, dass eine Verlegung nach § 8 Abs. 1 StVollzG71 in eine heimatnahe Vollzugsanstalt nur ausnahmsweise zulässig sei, da sonst die Regelungen des Vollstreckungsplans mit der Zeit unterlaufen würden. Vor den zuständigen Fachgerichten drang der Beschwerdeführer mit seinem Begehren ebenfalls nicht durch72. Die zuständige Kammer nahm die Verfas71
§ 8 StVollzG lautet: (1) Der Gefangene kann abweichend vom Vollstreckungsplan in eine andere für den Vollzug der Freiheitsstrafe zuständige Anstalt verlegt werden, 1. wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird oder 2. wenn dies aus Gründen der Vollzugsorganisation oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist. (2) Der Gefangene darf aus wichtigem Grund in eine andere Vollzugsanstalt überstellt werden.
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sungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Die Erkenntnis von der Bedeutung dieser Zielsetzung [Resozialisierung des Straftäters] hat sich in den letzten Jahrzehnten im Strafrecht zunehmend durchgesetzt; nach allgemeiner Auffassung wird die Resozialisierung oder Sozialisation als das herausragende Ziel namentlich des Vollzuges von Freiheitsstrafen angesehen (. . .).“73 „Regelmäßig fördern der Bestand und die Stärkung einer ehelichen oder familiären Beziehung des Gefangenen die Chancen seiner Eingliederung, wie umgekehrt die Bemühungen um Resozialisierung auch solchen Beziehungen zugutekommen.“74 „Die Vollzugsanstalten sind auch bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, sie lebenstüchtig zu erhalten und schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs und damit auch und vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken.“75 „Die Durchführung der Resozialisierung erfordert zunächst, durch eine entsprechende Einwirkung auf den Verurteilten die inneren Voraussetzungen für eine spätere straffreie Lebensführung zu schaffen. (. . .) Gerade deren Resozialisierung kann jedoch erst gelingen, wenn auch die äußeren Bedingungen dafür geschaffen werden, dass der Straffällige sich nach seiner Entlassung in die normale Gesellschaft eingliedert.“76 „Gegen den Gleichheitssatz wird nicht bereits dann verstoßen, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren fehlerhaft sind. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (. . .).“77
Die Kammer rügte die landgerichtliche Auslegung des § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG, nach der ein Anstaltswechsel zur Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen nur dann in Betracht komme, wenn dies als Behandlungsmaßnahme oder zur Resozialisierung aufgrund besonderer Umstände unerlässlich erscheine. Diese Auslegung überschreite den fachgerichtlichen Spielraum. Ein Anstaltswechsel sei schon möglich, wenn die Behandlung oder Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert werde78. Die Anstalt 72
BVerfGK 8, 36, 37 ff. BVerfGE 35, 202, 235 f.; ähnlich BVerfGE 36, 174, 188; 45, 187, 238 f.; 64, 262, 276; 98, 169, 200 f. 74 BVerfGE 89, 315, 322. 75 BVerfGE 45, 187, 238; ähnlich 35, 202, 235 f.; 36, 174, 188; 64, 262, 276; 98, 169, 200 f. 76 BVerfGE 35, 202, 235 f. 77 BVerfGE 80, 48, 81. 73
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übe zudem ihr Ermessen im Einzelfall nicht aus, sondern lege ihren Entscheidungen eine Leitlinie zugrunde, die eine Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen darstelle79. (4) Ergebnis: Die Frage war entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Kammerentscheidung tragen. Möglicherweise erfüllt dieses Erfordernis der Maßstab, nach dem der Bestand und die Stärkung einer ehelichen oder familiären Beziehung des Gefangenen die Chancen seiner Eingliederung fördern. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, kommt man zum Ergebnis, dass keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte möglich ist. Der Maßstab liefert keinen Hinweis dahingehend, dass die Auslegung von § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG durch die Kammer der Auslegung durch die Fachgerichtsbarkeit vorzuziehen ist. Der Maßstab beinhaltet keine konditionale Struktur, sodass es sich um ein Prinzip handelt. Demnach muss eine Richtung für die Falllösung vorgegeben werden. Aus dem Senatsmaßstab lässt sich für den hier zu entscheidenden Fall, in dem es um die Überprüfung der fachgerichtlichen Auslegung am Maßstab der Verfassung geht, ableiten, dass eheliche und familiäre Beziehungen des Gefangenen zu fördern sind. Vor diesem Hintergrund kann das von der Kammer gefundene Ergebnis auf den Maßstab gestützt werden. Ferner geht es um die Überprüfung der Auslegung von § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG und somit um einfaches Recht, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des Senatsmaßstabs geringer sind. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war bereits entschieden. (5) BVerfGK 9, 231 Ein wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilter Beschwerdeführer rügte im Wege der Verfassungsbeschwerde, ihm würden keine Protokolle der Vollzugsplankonferenzen zugänglich gemacht, sodass er die Vollzugsplanfortschreibungen nicht überprüfen könne. Zunächst hatte er im Februar 2005 die Eröffnung der im August 2004 erfolgten Vollzugsplanfortschreibung sowie die Gewährung von Akteneinsicht, unter Aushändigung einer Kopie der Vollzugsplanfortschreibung bzw. einer Kopie des Protokolls der Vollzugsplankonferenz, gegenüber der Anstalt beantragt. Durch Bescheid teilte ihm die Anstalt mit, das Ergebnis der Fortschreibung sei ihm 78 79
BVerfGK 8, 36, 42. BVerfGK 8, 36, 42.
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zwischenzeitlich mitgeteilt und es sei ihm Gelegenheit gegeben worden, die Änderungen in seiner Kopie des Plans nachzutragen. Ein Protokoll der Konferenz sei hingegen nicht erstellt worden80. Nun stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung und begehrte die Aufhebung der Vollzugsplanung und sämtlicher Fortschreibungen. Zudem solle die Anstalt verpflichtet werden, einen ordnungsgemäßen Plan zu erstellen, ihm eine Kopie zu überlassen und ihn über die Teilnehmer der Konferenz zu informieren. Die Vollzugsplanung insgesamt zeige, dass eine Auseinandersetzung mit seiner Person nicht stattfinde und ein reiner Verwahrvollzug ohne Zukunftsperspektive erfolge81. Nachdem er vor den Fachgerichten mit seinen Begehren nicht durchdringen konnte, nahm die zuständige Kammer seine Verfassungsbeschwerde an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie Art. 19 Abs. 4 GG teilweise statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe82: „Die Erkenntnis von der Bedeutung dieser Zielsetzung [Resozialisierung des Straftäters] hat sich in den letzten Jahrzehnten im Strafrecht zunehmend durchgesetzt; nach allgemeiner Auffassung wird die Resozialisierung oder Sozialisation als das herausragende Ziel namentlich des Vollzuges von Freiheitsstrafen angesehen (. . .).“83 „Geht man davon aus, dass auch dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleiben muss, je seine Freiheit wiedererlangen zu können, so muss ihm folgerichtig auch ein Anspruch auf Resozialisierung zustehen, mag für ihn auch erst nach langer Strafverbüßung die Aussicht bestehen, sich auf das Leben in Freiheit einrichten zu müssen (. . .).“84 „Dieses verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot bestimmt den gesamten Strafvollzug; es gilt auch bei der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch Gefangenen sind Bedingungen zu bieten, unter denen sie ihre Lebenstüchtigkeit entfalten und festigen können. Persönlichkeitsschädigenden Auswirkungen des Freiheitsentzugs, vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen ist entgegenzuwirken (. . .).“85 „Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich daher für die Strafverfolgungsbehörden Dokumentations- und Begründungspflichten, die den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erst möglich machen (. . .).“86
80
BVerfGK 9, 231, 232. BVerfGK 9, 231, 232 f. 82 Der Maßstab BVerfGE 86, 90, 122, bezieht sich auf die Kostenerstattung und kann vernachlässigt werden. 83 BVerfGE 35, 202, 235 f.; ähnlich BVerfGE 45, 187, 238 f.; 74, 102, 122 f.; 98, 169, 200 f. 84 BVerfGE 45, 187, 238 f.; ähnlich BVerfGE 64, 261, 271 f. 85 BVerfGE 98, 169, 200; ähnlich BVerfGE 45, 187, 238 f. 86 BVerfGE 103, 142, 160; ähnlich BVerfGE 65, 1, 70. 81
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
125
Die Kammer ging davon aus, dass der Plan auf die Entwicklung des Gefangenen sowie die in Frage kommenden Behandlungsansätze in zureichender und Orientierung ermöglichender Weise eingehen müsse. Eine Vollzugsplanung, die den Mindestanforderungen nicht entspreche, genüge auch den grundrechtlichen Anforderungen nicht. Der Vollzugsplan müsse eine gerichtliche Kontrolle dahingehend ermöglichen, ob die Vorschriften zur Aufstellung beachtet und das inhaltliche Gestaltungsermessen der Behörde rechtsfehlerfrei ausgeübt worden seien87. Das Landgericht werde diesen Maßstäben aber nicht gerecht88. (6) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung inhaltlich stützen. Die Maßstäbe, die sich mit der Resozialisierung des Straftäters beschäftigen, erlauben keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Kammer beanstandet im Wesentlichen, dass die Mindestanforderungen an die Vollzugsplanung nicht eingehalten worden und damit auch die grundrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt seien. Dies lässt sich aus den verwendeten Maßstäben nicht direkt ableiten. Vielmehr greift die Kammer zur Schließung der Lücken zwischen den Senatsmaßstäben und der konkreten Kammerentscheidung auf Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen oder Entscheidungen der Fachgerichte zurück. Exemplarisch hierfür ist der Maßstab, nach dem der Vollzugsplan der Konkretisierung des Vollzugsziels mit Blick auf den einzelnen Gefangenen diene und einen Orientierungsrahmen für den Gefangenen und das Vollzugspersonal bilde89. Selbst die Feststellung, dass die Nichteinhaltung der Mindestanforderungen auch zur Verfehlung der grundrechtlichen Anforderungen führe, ist ein Maßstab aus einer anderen Kammerentscheidung90. Zwar sind die Maßstäbe aufgrund ihrer fehlenden Konditionalstruktur als Prinzipien einzustufen, sie vermögen aber keine Richtung für die Lösung des Falles vorzugeben. Sie sind inhaltlich vielmehr so offen formuliert, dass sich mit ihnen letztlich jedes beliebige Ergebnis rechtfertigen ließe. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle mehr, ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt oder es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung geht. Unterstellt man Letzteres, wären zwar die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer, es ließe sich dennoch keine Richtung erken87 88 89 90
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
9, 9, 9, 9,
231, 231, 231, 231,
237. 238. 236. 237.
126
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
nen, wie der Fall zu entscheiden wäre. Der Senatsmaßstab, der sich zu den sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Dokumentations- und Begründungspflichten äußert, vermag die Entscheidung allein nicht zu tragen. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war noch nicht bereits entschieden. (7) BVerfGK 12, 378 Der Beschwerdeführer wandte sich gegen die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme, die seine Weigerung, eine Urinprobe abzugeben, sanktionierte, obwohl ihm die erforderliche richterliche Anordnung nicht bekannt gegeben wurde91. Im Rahmen der polizeilichen und richterlichen Beschuldigtenvernehmung hatte der Beschwerdeführer den regelmäßigen Konsum von Marihuana und gelegentlich Kokain zugegeben. Bei der Eingangsuntersuchung wurde er positiv auf THC und Kokain getestet92. Die zuständige Kammer nahm eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie des Art. 20 Abs. 3 GG an und folgende Senatsmaßstäbe93 in Bezug: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“94 „Die Untersuchungshaft muss in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit ist nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, dass der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird.“95 „Für die Auslegung von § 119 Abs. 3 und 4 StPO96 und die Prüfung der Voraussetzungen für eine Beschränkung nach diesen Bestimmungen ist entscheidend, 91
BVerfGK 12, 378 ff. BVerfGK 12, 378, 381. 93 Der Maßstab BVerfGE 81, 138, 140 f., befasst sich mit den Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ausnahmsweise vom Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses auszugehen ist, wenn sich das Rechtsschutzziel bereits erledigt hat. 94 BVerfGE 18, 85, 92 f. 95 BVerfGE 19, 342, 347. 92
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
127
dass das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße beherrschen muss (. . .), eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls gebieten. Beschränkungen sind danach nur zulässig, wenn sie erforderlich sind, um eine reale Gefahr für die in § 119 Abs. 3 und 4 StPO genannten öffentlichen Interessen abzuwehren, und dieses Ziel nicht mit weniger eingreifenden Maßnahmen erreicht werden kann.“97 „Die Auferlegung einer Beschränkung ist bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung von § 119 Abs. 3 StPO nicht schon dann zulässig, wenn ein möglicher Missbrauch eines Freiheitsrechts nicht völlig auszuschließen ist. Vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Untersuchungsgefangene einen ihm überlassenen Gegenstand missbrauchen und dadurch den Haftzweck oder die Ordnung in der Anstalt gefährden könnte.“98 „Durch rechtlich vorgeschriebene Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden. Wegen dieser Folgen ist die erzwingbare Auskunftspflicht als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG zu beurteilen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird.“99 „Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen. (. . .). Handelt es sich hingegen um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen.“100 „Dem Grundsatz, dass jede Strafe – nicht nur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht – Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet.“101 96 Die Maßstäbe beziehen sich auf § 119 Abs. 3 und 4 StPO a. F., die wie folgt lauteten: (3) Dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. (4) Bequemlichkeiten und Beschäftigungen darf er sich auf seine Kosten verschaffen, soweit sie mit dem Zweck der Haft vereinbar sind und nicht die Ordnung in der Vollzugsanstalt stören. 97 BVerfGE 35, 5, 9 f.; ähnlich BVerfGE 35, 311, 321. 98 BVerfGE 35, 5, 10; ähnlich BVerfGE 42, 234, 236; 57, 170, 177. 99 BVerfGE 56, 37, 41 f.; ähnlich BVerfGE 55, 144, 150. 100 BVerfGE 56, 37, 49 f. 101 BVerfGE 20, 323, 331; zu diesem Grundsatz siehe auch BVerfGE 45, 187, 228; 50, 125, 133; 50, 205, 214 f.; 81, 228, 237; 86, 288, 313.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Die Kammer ging zunächst davon aus, dass die Anordnung für die Abgabe einer Urinprobe auf § 119 Abs. 3 StPO gestützt werden könne. Da der Beschwerdeführer in der Vergangenheit schon mit Drogen in Berührung kam, müssten hier keine weiteren Umstände, etwa ein Drogenfund, hinzutreten, um die Anordnung einer Kontrollmaßnahme zu rechtfertigen102. Eine Grundrechtsverletzung sah die Kammer jedoch darin, dass die hier erforderliche und auch vorliegende richterliche Anordnung weder dem Beschwerdeführer noch seinem Bevollmächtigten bekannt gegeben worden sei. Der Beschwerdeführer habe daher vom Bestehen einer Verpflichtung zur Abgabe einer Urinprobe nicht ausgehen müssen. Hintergrund war, dass es an der auf dringende Fälle beschränkten Ersatzzuständigkeit des Vollzugspersonals zur Anordnung gefehlt habe, sodass es bei der richterlichen Anordnung der Maßnahme nach § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO geblieben sei. Dem Betroffenen solle durch die Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung ermöglicht werden, sein weiteres Vorgehen abzuwägen, insbesondere das Einlegen von Rechtsmitteln103. (8) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Entscheidung tragen. Inhaltlich sind zwei Fragestellungen zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Anordnung der Abgabe einer Urinprobe, zum anderen um die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme. Die Anordnung der Abgabe einer Urinprobe könnte auf den Maßstab gestützt werden, nach dem bei der Auslegung von § 119 Abs. 3 StPO zu beachten ist, dass für die Auferlegung einer Beschränkung konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen müssen, dass der Untersuchungsgefangene einen ihm überlassenen Gegenstand missbrauchen und dadurch den Haftzweck oder die Ordnung der Anstalt gefährden könnte. Nach der Mahrenholzschen Formel ist eine Subsumtion ohne weitere Zwischenschritte möglich. Die „Drogenvergangenheit“ des Beschwerdeführers rechtfertigt die Anordnung der Abgabe einer Urinprobe. Aufgrund der konditionalen Struktur ist der Senatsmaßstab als Regel zu qualifizieren. Regeln müssen eine Subsumtion zulassen. Dies ist der Fall, denn die Formel von Mahrenholz ist in diesem Bereich vorrangig. Schließlich handelt es sich um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage, sodass zusätzlich noch die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des Maßstabs geringer sind. Im Hinblick auf die Fragestellung, die sich mit der Anordnung der Abgabe einer Urinkontrolle beschäftigte, war die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. 102 103
BVerfGK 12, 378, 380 f. BVerfGK 12, 378, 382 f.
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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Die Verhängung der Disziplinarmaßnahme könnte der Maßstab tragen, nach dem jede Strafe oder strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht Schuld voraussetzt. Nach der Mahrenholzschen Formel ist keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte möglich. Dafür spricht, dass die Kammer die Lücke zwischen dem Maßstab und der konkreten Entscheidung durch Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen schließt. So etwa den, dass Disziplinarmaßnahmen nur verhängt werden dürfen, wenn zweifelsfrei geklärt ist, ob ein schuldhafter Pflichtverstoß überhaupt vorliegt oder der, dass es hinreichender Tatsachenfeststellung bedarf, ob die verhängte Sanktion schuldangemessen und verhältnismäßig ist104. Strukturell betrachtet, ist der Maßstab als Prinzip einzuordnen, da er kein Konditionalschema aufweist. Prinzipien müssen eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Diesem Erfordernis wird der Maßstab gerecht. Aus ihm lässt sich ableiten, dass keine strafähnliche Maßnahme ohne Schuld verhängt werden darf. Wenn der Beschwerdeführer oder sein Anwalt keine Kenntnis von der richterlichen Anordnung hatte, ist der Schuldvorwurf zumindest problematisch. Hinzu kommt, dass es sich um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung handelt. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des Maßstabs sind geringer. Vor diesem Hintergrund dürfen die Anforderungen an den Inhalt des Maßstabs nicht überspannt werden. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden. (9) BVerfGK 13, 472 Der Beschwerdeführer verweigerte nach einer Hämorrhoiden-Operation die Gemeinschaftsunterbringung, weil dort seinen hygienischen Bedürfnissen nicht ausreichend Rechnung getragen werden konnte. Gegen ihn wurde ein Arrest von sieben Tagen verhängt. Das zuständige Landgericht lehnte zunächst den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, um später ebenso den Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Hauptsacheverfahren zurückzuweisen. Das zuständige Oberlandesgericht verwarf die Rechtsbeschwerden105. Die zuständige Kammer nahm eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie der Art. 19 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG an und verwies auf folgende Senatsmaßstäbe: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Ver104 105
BVerfGK 12, 378, 382. BVerfGK 13, 472 ff.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
fassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“106 „Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält auch die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Verfahrensgegenstands ermöglichen muss (. . .). Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verleiht dem Einzelnen einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame Kontrolle. Dieses Grundrecht ist verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung derjenigen Fragen, die ihnen vorgelegt worden sind, nicht möglich ist (. . .) und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann (. . .).“107 „Dem Grundsatz, dass jede Strafe – nicht nur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht – Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet.“108 „Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Grundsatz der Normenwahrheit (. . .) hat zur Folge, dass sich der Gesetzgeber an dem für den Normadressaten ersichtlichen Regelungsgehalt der Norm festhalten lassen muss.“109 „Der Staat muss den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlich ist (. . .). Dies betrifft insbesondere die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Formen der Unterbringung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch den Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichen (. . .), ausreichende pädagogische und therapeutische Betreuung sowie eine mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung (. . .) verzahnte Entlassungsvorbereitung.“110
Die Kammer ging von einer Grundrechtsverletzung aus, weil die Entscheidung des Landgerichts auf unzureichender Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts beruhe111. Es sei anerkannt, dass die disziplinarische Ahndung einer Verletzung der Gehorsamspflicht nur in Frage komme, wenn die Anordnung, die verweigert wurde, rechtmäßig sei. Die Feststellungen des Landgerichts, auf deren Grundlage die Anstalt von einer disziplinarisch sanktionierbaren Verpflichtung des Beschwerdeführers zur Befolgung der Zuweisung des Gemeinschaftshaftraumes ausging, seien offensichtlich unzureichend112. 106
BVerfGE 18, 85, 92 f. BVerfGE 101, 275, 294 f. 108 BVerfGE 20, 323, 331; zu diesem Grundsatz siehe auch BVerfGE 45, 187, 228; 50, 125, 133; 50, 205, 214 f.; 81, 228, 237; 86, 288, 313. 109 BVerfGE 107, 218, 256. 110 BVerfGE 116, 69, 89 f. 111 BVerfGK 13, 472, 476. 112 BVerfGK 13, 472, 477 f. 107
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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(10) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Möglicherweise kommen hierfür zwei Maßstäbe kumulativ in Frage. Zum einen der Maßstab, der sich mit der Prüfung des Verfahrensgegenstandes und der Sachverhaltsfeststellung befasst. Zum anderen der Maßstab, nach dem auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht die Schuld des Betroffenen voraussetzt. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist bei beiden Maßstäben nicht möglich. Die Kammer stellt entscheidend darauf ab, dass die disziplinarische Ahndung einer Verletzung der Gehorsamspflicht nur in Betracht kommt, wenn die Anordnung der Gemeinschaftsunterbringung rechtmäßig war. Zudem seien die Feststellungen hierzu unzureichend gewesen. Dieses Ergebnis lässt sich jedoch nicht unmittelbar von den Maßstäben ableiten. Dafür spricht auch, dass die Kammer die Lücke zwischen den Senatsmaßstäben jeweils mit Maßstäben aus anderen Kammerentscheidungen füllt. So etwa der, dass das Rechtsstaatsprinzip, die materiell berührten Grundrechte und das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt werden, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Strafvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden113. Zur Lückenfüllung dienen auch Maßstäbe aus Entscheidungen der Fachgerichte, beispielsweise der Maßstab, dass der Gefangene für die Nichtbefolgung rechtswidriger Anordnungen nicht disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden kann114. Strukturell betrachtet, handelt es sich um Prinzipien. Zwar vermag der Maßstab, der sich mit dem Vorliegen von Schuld für die Verhängung von strafähnlichen Sanktionen befasst, eine Richtung für die konkrete Fallentscheidung vorzugeben. Der andere passt jedoch inhaltlich nicht auf den Fall. Das Landgericht legte die prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung nicht zu eng aus, sondern traf schlicht unzureichende Feststellungen. Da beide Maßstäbe die Entscheidung nur zusammen tragen können, wird insgesamt keine Richtung für die Falllösung vorgegeben. Schließlich geht es um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, nämlich einen Verstoß gegen § 82 StVollzG. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des Maßstabs sind geringer. Dies vermag am gefundenen Ergebnis nichts mehr zu ändern, da der betreffende Maßstab bereits inhaltlich unpassend ist. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht bereits entschieden.
113 114
BVerfGK 13, 472, 476. BVerfGK 13, 472, 477.
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(11) Bewertende Zusammenfassung Es fällt in diesem Bereich auf, dass die Kammern, obwohl sie zunächst auf den eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts verweisen und das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein normgeprägtes Grundrecht ist, sehr tief in die einfachrechtliche Prüfung des Strafvollzugsgesetzes einsteigen. So fanden sich beispielsweise detaillierte Aussagen zur Dogmatik des § 84 StVollzG115. Die Kammern geraten daher doch tendenziell in die Rolle einer Superrevisionsinstanz und prüfen mehr als nur die Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass dem Gefangenen nur die Rechtsbehelfe des Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts und hiergegen, unter den engen Voraussetzungen des § 116 StVollzG, die Rechtsbeschwerde zum Strafsenat des Oberlandesgerichts zur Verfügung stehen. Es fehlt somit an einer einheitlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung, da der Bundesgerichtshof aufgrund der prozessrechtlichen Ausgestaltung nicht zuständig ist. Die Kammern handeln der Sache nach als besondere Verwaltungsgerichte, die sicherstellen, dass in den mit dem Freiheitsentzug begründeten Sonderstatusverhältnissen, die wiederum verwaltungsrechtlichen Charakter haben, die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts beachtet werden116. Für den Gefangenen ist daher die beschriebene Neigung der Kammern durchaus positiv. Das sehr tiefe Eindringen in das einfache Recht ist der Tatsache geschuldet, dass es sich bei den von den Kammern zu entscheidenden Fällen um einfachrechtliche und keine originär verfassungsrechtlichen Fragen handelt. b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die folgenden zwei Kammerbeschlüsse behandeln Fragen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Während es in der ersten Kammerentscheidung um die Einsicht in Krankenunterlagen im Maßregelvollzug geht, beschäftigt sich die zweite mit Fragen des Datenschutzes im Privatversicherungsrecht. aa) BVerfGK 7, 168 Der Beschwerdeführer, ein 1990 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilter Strafgefangener, befand sich nach § 63 StGB im Maßregelvollzug. Zuvor gewährte Vollzugslockerungen wurden im September 115 116
BVerfGK 2, 102, 105 ff.; 8, 363, 366 f. Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 613, 633 f.
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2000 widerrufen, da er sich unwillig gezeigt habe, sich mit den emotionalen Erlebnissen während der Beurlaubungen auseinanderzusetzen. Die therapeutischen Bemühungen der letzten Jahre hätten an der Grundpersönlichkeit nichts geändert und die den Taten zugrunde liegende Persönlichkeitsstörung bestehe fort. Die Verteidigerin des Beschwerdeführers bat um Akteneinsicht in die vollständigen Krankenunterlagen, um den Widerruf und die Voraussetzungen, unter denen Vollzugslockerungen gewährt worden waren, nachvollziehen zu können. Die Klinik war hingegen nur bereit, die sogenannten harten Fakten zur Verfügung zu stellen, nicht aber die in der Dokumentation enthaltenen subjektiven Einschätzungen, Arbeitshypothesen und diagnostischen Überlegungen, die auch das Verhalten anderer Patienten und interne Angelegenheiten des Hauses beinhalteten117. Nachdem der Beschwerdeführer mit seinem Begehren vor den Fachgerichten gescheitert war, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts teilweise statt. Sie nahm folgende Senatsmaßstäbe118 in Bezug: „Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“119 „Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss vielmehr Einschränkungen dieses Rechts im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Solche Beschränkungen bedürfen aber nach Art. 2 Abs. 1 GG einer gesetzlichen Grundlage und müssen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit genügen. Es verlangt, dass eine Grundrechtsbeschränkung von hinreichenden Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt wird, das gewählte Mittel zur Erreichung des Zwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zumutbaren noch gewahrt ist (. . .).“120 „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Information in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“121 117
BVerfGK 7, 168 f. Die Maßstäbe BVerfGE 65, 1, 70; 69, 1, 49 betreffen die Bedeutung des effektiven Rechtsschutzes schon im Vorfeld potentieller Rechtsstreitigkeiten. 119 BVerfGE 65, 1, 43; ähnlich BVerfGE 78, 77, 84; 80, 367, 373. 120 BVerfGE 78, 77, 85; ähnlich BVerfGE 65, 1, 44. 121 BVerfGE 65, 1, 43. 118
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Ärztliche Karteikarten (Krankenblätter) betreffen mit ihren Angaben über Anamnese, Diagnose und therapeutische Maßnahmen zwar nicht die unantastbare Intimsphäre, wohl aber den privaten Bereich des Patienten. Damit nehmen sie teil an dem Schutz, den das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dem Einzelnen vor dem Zugriff der öffentlichen Gewalt gewährt.“122 „Der Schutz ist umso intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht (. . .). (. . .) Das gilt nicht nur für den medizinischen, sondern in gesteigertem Maße auch für den psychologischen Teil.“123 „Art. 10 GG vermittelt den Grundrechtsträgern ferner Anspruch auf Kenntnis von Maßnahmen der Fernmeldeüberwachung, die sie betroffen haben. Das ist ein Erfordernis effektiven Grundrechtsschutzes. Denn ohne eine solche Kenntnis können die Betroffenen weder die Unrechtmäßigkeit der Erfassung und Kenntnisnahme ihrer Fernmeldekontakte noch etwaige Rechte auf Löschung oder Berichtigung geltend machen.“124 „Nach sachverständiger Beratung hat der Richter eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat (. . .). Diese Kontrolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen.“125 „Dabei müssen die Gutachter die für die Begutachtung maßgeblichen Einzelkriterien regelmäßig in einem sorgfältigen Verfahren erheben, das die Auswertung des Aktenmaterials, die eingehende Untersuchung des Probanden und die schriftliche Aufzeichnung des Gesprächsinhalts und des psychischen Befundes umfasst und dessen Ergebnisse von einem Facharzt mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung gewichtet und in einen Gesamtzusammenhang eingestellt werden (. . .).“126 „Wegen der besonderen Bedeutung der Vollzugslockerungen für die Prognosebasis darf sich das Vollstreckungsgericht nicht damit abfinden, dass sich die Vollzugsbehörde ohne hinreichenden Grund – etwa auf der Grundlage bloßer pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte Flucht- oder Missbrauchsgefahr – der Gewährung von Vollzugslockerungen versagt (. . .), welche die Erledigung der Maßregel vorbereiten können.“127
Die Kammer ging davon aus, dass eine Grundrechtsverletzung auch zu bejahen sei, wenn davon ausgegangen werde, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, den Zugang zu erheblichen Daten, die personale 122 123 124 125 126 127
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
32, 373, 379; ähnlich BVerfGE 44, 353, 372. 89, 69, 82 f. 100, 313, 361. 109, 133, 164 f. 109, 133, 164 f. 109, 133, 166; ähnlich BVerfGE 17, 139, 145.
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
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Selbstbestimmung betreffend, nur ein Recht auf abwägende Berücksichtigung des Informationsinteresses beinhalte. Die Fachgerichte hätten bei dieser Abwägung jedoch das Gewicht des Informationsinteresses des Beschwerdeführers bzw. die Bedeutung der entgegenstehenden Belange und somit verfassungsrechtlich wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen oder nicht hinreichend gewürdigt128. Der Rückgriff der Fachgerichte auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die den Anspruch des Patienten auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen grundsätzlich auf sogenannte objektive Funde beschränke, komme hier nicht in Frage. Die grundrechtliche Gefährdungslage im Maßregelvollzug sei mit der in privatrechtlichen Behandlungsverhältnissen nicht zu vergleichen129. Im Rahmen der Abwägung seien die rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte außer Acht gelassen worden, die für ein Zurücktreten der Interessen der behandelnden Therapeuten gesprochen hätten130. Beschränkungen des Informationszugangs können durch zu erwartende ungünstige Rückwirkungen – etwa der Verzicht auf schriftliche Aufzeichnungen – gerechtfertigt werden, wenn hierfür eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehe131. Schließlich seien auch Gesichtspunkte nicht berücksichtigt worden, die für das Überwiegen des Informationsinteresses gesprochen hätten, trotz der Gefahr des Vortäuschens von Therapieerfolgen132. bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung tragen. Durch Subsumtion unter die Maßstäbe ergibt sich zunächst, dass die Einsicht in Krankenunterlagen in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung fällt. Die Maßstäbe, die sich zur Einschränkbarkeit des Grundrechts durch eine gesetzliche Grundlage und der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes äußern, helfen nicht weiter, da sie zu allgemein gehalten sind. Diese Feststellungen treffen auf jedes Grundrecht zu, das einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterliegt. Einen Anhaltspunkt für die Abwägung gibt der Maßstab, der sich zum Schutzniveau verhält. Dieses werde umso intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre stehen. Einige der tragenden Erwägungen der Kammerentscheidung lassen sich jedoch nicht von den Senatsmaßstäben ableiten. So etwa die Feststellung der Kammer, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hier 128 129 130 131 132
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
7, 7, 7, 7, 7,
168, 168, 168, 168, 168,
175 176 179 182 183
f. f. f. f. f.
136
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
nicht anwendbar sei, aufgrund der Verschiedenheit der grundrechtlichen Gefährdungslage im Maßregelvollzug und in privaten Behandlungsverhältnissen. Ebenso geht die Kammer davon aus, dass an der Akteneinsicht im Maßregelvollzug auch deshalb ein besonders starkes verfassungsrechtlich geschütztes Interesse bestehe, weil der Betroffene ohne sie seinen Anspruch auf Löschung oder Berichtigung falscher Informationen gegenüber der zuständigen Stelle nicht verwirklichen könne. Die Kammer nimmt hier Bezug auf die Senatsrechtsprechung zu Art. 10 GG133. Die Übertragung der Maßstäbe von Art. 10 GG auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist hingegen nicht von der Kammerkompetenz gedeckt. Vielmehr handelt es sich um eine Aufgabe der Senate. Schließlich geben die Senatsmaßstäbe keine Leitlinien für die Abwägung zwischen dem Informationsinteresse und dem Zurückhaltungsinteresse vor. Das Kriterium, dass Beschränkungen des Informationszugangs durch zu erwartende ungünstige Rückwirkungen gerechtfertigt werden können, wenn hierfür eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehe, stammt wiederum nicht aus einem Senatsmaßstab. Betrachtet man den Aufbau der verwendeten Maßstäbe, handelt es sich ausnahmslos um Prinzipien. Keiner weist eine Konditionalstruktur auf. Für die Bewertung bedeutet dies, dass die Maßstäbe zumindest eine Richtung für die Falllösung vorgeben müssen. Der Maßstab, der sich zum Schutzniveau äußert, erfüllt dieses Kriterium. Er trägt die Entscheidung jedoch nicht allein. Wie bereits erläutert, hält die Kammer die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für nicht anwendbar, ohne sich auf einen entsprechenden Maßstab stützen zu können. Ebenso bei der Übertragung der Maßstäbe zu Art. 10 GG. Die fallentscheidende Frage ist eine originär verfassungsrechtliche, denn es geht um die Abwägung zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Beschwerdeführers auf der einen Seite und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung der behandelnden Personen sowie der anderen Patienten auf der anderen Seite. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe sind daher erhöht, sodass sich an dem gefundenen Ergebnis nichts ändert. Demnach ist ein Tatbestandsmerkmal des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, nämlich die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage, nicht erfüllt und die Kammer hätte nicht entscheiden dürfen. cc) BVerfGK 9, 353 Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen eine versicherungsvertragliche Obliegenheit, zur Feststellung des Versicherungsfalls eine Schweigepflichtentbindung zu erteilen. Sie hatte mit einem Lebensversicherungs133
BVerfGK 7, 186, 178.
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
137
unternehmen einen Lebensversicherungsvertrag mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung abgeschlossen. Im Rahmen der Feststellung des Versicherungsfalles weigerte sich die Beschwerdeführerin, eine generelle Schweigepflichtentbindung zu erteilen. Stattdessen bot sie Einzelermächtigungen für jedes konkrete Auskunftsersuchen an. Die zuständige Kammer gab der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung, teilweise statt. Bei der Prüfung der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage stellte die Kammer fest, dass die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Privatrechtswirkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits entschieden seien und verwies auf BVerfGE 84, 192 ff. Als Maßstäbe für die verfassungsrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf die Inhaltskontrolle von Verträgen dienten BVerfGE 81, 242 ff.; 89, 214 ff.; 103, 89 ff.; 114, 73 ff. Hinter diesen Verweisungen stecken folgende Senatsmaßstäbe: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“134 „Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflussten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat. Der Einfluss grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public – im weiten Sinne – bilden, d.h. der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben ihrem Zweck nach eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht, dem sie sich ergänzend anfügen. Das muss sie in besonderem Maße dem Einfluss des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses vor allem die ‚Generalklauseln‘, die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe, wie die ‚guten Sitten‘, verweisen.“135
134 135
BVerfGE 18, 85, 92 f. BVerfGE 7, 198, 205 f.; ähnlich BVerfGE 42, 143, 148; 103, 89, 100.
138
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“136 „Es [das Recht auf informationelle Selbstbestimmung] entfaltet als objektive Norm seinen Rechtsgehalt auch im Privatrecht und strahlt in dieser Eigenschaft auf die Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Vorschriften aus. Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob von der Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Einzelfall Grundrechte berührt werden. Trifft das zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen (. . .). Verfehlt der Richter diese Maßstäbe und beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf das Privatrecht, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht des Bürgers (. . .).“137 „Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit.“138 „Maßgebliches Instrument zur Verwirklichung freien und eigenverantwortlichen Handelns in Beziehung zu anderen ist der Vertrag, mit dem die Vertragspartner im Rahmen des Rechts selbst bestimmen, wie ihre individuellen Interessen beim Vertragsschluss, während der Laufzeit des Vertrags und bei Vertragsende zueinander in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Freiheitsausübung und wechselseitige Bindung finden so ihre Konkretisierung. Der zum Ausdruck gebrachte übereinstimmende Wille der Vertragsparteien lässt deshalb in der Regel auf einen durch Vertrag hergestellten sachgerechten Interessenausgleich schließen, den der Staat grundsätzlich zu respektieren hat (. . .).“139 „Ist jedoch auf Grund einer besonders einseitigen Aufbürdung von vertraglichen Lasten und einer erheblich ungleichen Verhandlungsposition der Vertragspartner ersichtlich, dass in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verkehrt (. . .).“140 „Zwar wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vorbehaltlos gewährleistet; es kann seine Grenze unter anderem in den Rechten Dritter finden (Art. 2 Abs. 1 GG). Das ist aber nicht so zu verstehen, dass dieses Recht von vorneherein zurücktreten muss, wenn Rechte anderer berührt werden. Vielmehr sind die betroffenen Belange – im Rahmen der zivilrechtlichen Beurteilung – gegeneinander abzuwägen.“141 136 137 138 139 140
90 f.
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
65, 1, 43. 84, 192, 194 f. 65, 1, 43 f. 114, 73, 89 f.; ähnlich BVerfGE 81, 242, 254. 103, 89, 100; ähnlich BVerfGE 89, 214, 232; 114, 1, 34 f.; 114, 73,
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
139
„Die Vertragsbedingungen der Lebensversicherer sind auch heute praktisch nicht verhandelbar.“142
Die Kammer ging davon aus, dass zwischen der Beschwerdeführerin und dem Lebensversicherungsunternehmen bei Vertragsschluss ein derart erhebliches Verhandlungsungleichgewicht bestanden habe, dass sie ihren informationellen Selbstschutz nicht eigenverantwortlich und selbstständig habe sicherstellen können. Wenn das Unternehmen die Abgabe der begehrten Schweigepflichtentbindung verlangen könne, werde ihr Interesse an einem wirkungsvollen informationellen Selbstschutz in erheblichem Ausmaß beeinträchtigt143. Diesem Interesse der Beschwerdeführerin stehe ein erhebliches Offenbarungsinteresse des Unternehmens gegenüber. Die Auffassung der Fachgerichte, dass es keine schonendere Möglichkeit gäbe, als dem Aufklärungsinteresse des Unternehmens nachzukommen, begegne durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Beschwerdeführerin als Versicherten müsse die Möglichkeit zu anderweitiger Beschaffung der Informationen oder eine Widerspruchsmöglichkeit eingeräumt werden144. dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Die von dem Versicherungsunternehmen geforderte generelle Schweigepflichtentbindung fällt nach den Senatsmaßstäben in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Die Maßstäbe zum Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen zivilrechtlicher Streitigkeiten, insbesondere bei der Auslegung von Verträgen, gelten für jede Fallkonstellation und sind damit zu allgemein formuliert, um die konkrete Entscheidung zu stützen. Entscheidungstragend ist zum einen der Maßstab, der sich mit dem ungleichen Kräfteverhältnis der Vertragspartner auseinandersetzt und zum anderen der Maßstab, der eine Abwägung der wechselseitigen Interessen zur Konfliktlösung vorsieht. Die zitierten Senatsmaßstäbe tragen die Kammerentscheidung nicht, jedenfalls wenn man die Mahrenholzsche Formel anwendet. Es wären Zwischenschritte abstrakter Art nötig gewesen, ohne die eine Subsumtion nicht möglich ist. Die verwendeten Maßstäbe sind aufgrund der fehlenden Konditionalstruktur als Prinzipien einzuordnen und müssen daher nur eine Zielrichtung vorgeben. Dieses Kriterium wird nicht erfüllt. Im ersten der beiden Maßstäbe geht es darum, dass es Aufgabe des Rechts sei, bei un141 142 143 144
BVerfGE 84, 192, 195. BVerfGE 114, 73, 95. BVerfGK 9, 353, 360. BVerfGK 9, 353, 362 ff.
140
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
gleichem Kräfteverhältnis auch die Grundrechtspositionen des schwächeren Vertragspartners zu wahren. Offen bleibt aber, auf welche Weise dies zu geschehen hat. Ebenso fehlen beim zweiten Maßstab Leitlinien für die Abwägung, etwa dergestalt, was alles in diese einzustellen ist oder wie die Gewichtung zu erfolgen hat. Es handelt sich zudem um eine originär verfassungsrechtliche Frage, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe nicht abgesenkt waren. Demnach ist das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nicht erfüllt und die Kammer hätte nicht entscheiden dürfen. ee) Bewertende Zusammenfassung Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind tendenziell nicht geeignet, die Kammerentscheidungen inhaltlich zu tragen. Während die Maßstäbe den Umfang des Schutzbereichs noch ausreichend zu beschreiben vermögen, fehlen hinreichende Leitlinien für die Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten, insbesondere, was in die Abwägung einzustellen ist und was die Gewichtung anbelangt. Die Senatsmaßstäbe, die strukturell betrachtet Prinzipien sind, überwiegen bei weitem. c) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Die zuständige Kammer hatte folgenden Fall zu entscheiden145: Die im Jahr 1934 geborene Beschwerdeführerin bewohnte seit Mai 1981 als Mieterin eine Wohnung in Mannheim, in der sie zwar seit 1965 lebte, aber nicht Vertragspartei des Vermieters war. Der Vermieter kündigte ihr im Januar 2002 und das Landgericht verurteilte sie zur Räumung. Die Beschwerdeführerin beantragte die Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO, da sie seit 1977 an einer chronischen paranoiden Schizophrenie leide, der Auszug zu einem neuerlichen Schub führen werde und sie konkret suizidgefährdet sei. Nachdem die Beschwerdeführerin weder vor dem Amtsgericht noch vor dem Landgericht mit ihrem Begehren Erfolg hatte, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit statt. Sie nimmt im Rahmen der Darlegung ihrer verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf BVerfGE 52, 214, 219 ff. Bezug. In dieser Entschei145 BVerfGK 6, 5; es handelt sich um eine im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG häufiger vorkommende Konstellation, Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 442 (m. w. N.).
II. Der Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit
141
dung ging es ebenfalls um einen Mieter, der sich gegen die ihm drohende Räumung seiner Wohnung im Wege der Zwangsvollstreckung wehrte. Der Vermieter hatte ihm gekündigt, weil er ohne Erlaubnis zwei große Hunde in der Wohnung gehalten hatte. Der Mieter stellte einen Antrag auf Untersagung der Zwangsräumung und begründete ihn damit, dass er seit Jahren an einer progressiven endogenen Depression leide, stationär behandelt werde, u. a. wegen drei Selbstmordversuchen, und der Verlust der Wohnung daher zu akuter Lebensgefahr führen werde. Die in der Kammerentscheidung verwendeten Senatsmaßstäbe waren folgende: „§ 765a Abs. 1 ZPO sieht die Möglichkeit der zeitweiligen Einstellung, aber auch der – selbst vollständig und auf Dauer wirkenden – Untersagung der Zwangsvollstreckung vor, wenn sich diese für den Vollstreckungsschuldner wegen besonderer Umstände als eine mit den guten Sitten nicht vereinbare Härte darstellt. Bei der Prüfung dessen, was als eine solche mit den guten Sitten nicht zu vereinbarende Härte anzusehen ist, müssen die Vollstreckungsgerichte auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte berücksichtigen. Eine entsprechend diesen Grundsätzen vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass zur Vermeidung unzulässiger Grundrechtsbeeinträchtigung eines Schuldners die Vollstreckung aus einem rechtskräftigen Titel für einen längeren Zeitraum einzustellen ist.“146 „Vor allem haben die Vollstreckungsgerichte in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst ausgeschlossen werden. Dies kann es erfordern, dass Beweisangeboten des Schuldners hinsichtlich seines Vorbringens, ihm drohten schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen, besonders sorgfältig nachgegangen wird. (. . .) Es ist Aufgabe der staatlichen Organe, die Gefahr von Grundrechtsverletzungen nach Möglichkeit einzudämmen. Das Verfahren der Vollstreckungsgerichte ist unter diesem Gesichtspunkt so durchzuführen, dass dieser verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Genüge getan wird.“147
Nach Auffassung der Kammer genüge die Entscheidung des Amtsgerichts nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, da es trotz Beweisantritts der Beschwerdeführerin von jeglicher Sachaufklärung abgesehen habe148. Dem Beschluss des Landgerichts mangele es an einer ausreichenden Grundlage für die getroffene Abwägungsentscheidung, weil er auf ungesicherte Annahmen gestützt sei und das Gericht die Erfüllung der Voraussetzungen seiner Abwägung nicht geprüft habe149. 146 147 148 149
BVerfGE 52, 214, 219 f. BVerfGE 52, 214, 220 f. BVerfGK 6, 5, 11. BVerfGK 6, 5, 11.
142
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Fraglich ist, ob die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Nach der Mahrenholzschen Formel käme man bei dieser Fallgestaltung zum Ergebnis, dass die zitierten verfassungsrechtlichen Maßstäbe die Aufhebung der Entscheidung des Amtsgerichts ohne abstrakte Zwischenschritte tragen. Aus dem zweiten der zitierten Maßstäbe ergibt sich, dass das Amtsgericht den Beweisangeboten der Beschwerdeführerin hätte nachgehen müssen. Strukturell betrachtet, handelt es sich um ein Prinzip, sodass eine Richtung für die Falllösung vorgegeben werden muss. Diesem Erfordernis wird der Maßstab gerecht. Hinzu kommt, dass es sich bei der Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO um keine originär verfassungsrechtliche Frage handelt, sondern um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Auslegung am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe waren daher geringer. Bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel ergibt sich, dass sich die Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung ohne abstrakte Zwischenschritte aus den verwendeten Senatsmaßstäben ableiten lässt. Es fehlt an einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalles im Sinn des ersten Maßstabs, wenn das Landgericht sich auf ungesicherte Annahmen gestützt hat. Der Maßstab ist von seinem Aufbau her betrachtet als Regel einzustufen, da ein konditionaler Aufbau existiert. Für die Frage der Subsumierbarkeit von Regeln ist die Mahrenholzsche Formel vorrangig. Schließlich geht es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, sodass auch hier die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer waren. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn Die Kammern des Bundesverfassungsgerichts trafen im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 insgesamt 165 Entscheidungen, die thematisch in den Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn eingeordnet werden können150. Es tauchen vermehrt grundrechtliche Rügen in folgenden Bereichen auf: Im Zusammenhang mit dem Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 104 GG geht es häufig um Freiheitsentziehungen der Justiz durch Verstöße gegen den Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren151 oder Beschwerdeführer wenden sich gegen eine drohende Auslieferung152. Im Hin150 151
286.
Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 2. BVerfGK 5, 109; 6, 242; 7, 140; 7, 421; 8, 1; 9, 306; 10, 294; 10, 544; 11,
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
143
blick auf Art. 13 Abs. 1 GG geht es des Öfteren um die Anforderungen, die Art. 13 Abs. 2 GG an das Vorliegen von Gefahr im Verzug und die damit zusammenhängende Anordnungskompetenz einer Durchsuchung stellt153. Rügen des Art. 6 GG betreffen überwiegend Sorge- und Umgangsrechtsstreitigkeiten und damit Art. 6 Abs. 2 GG154. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Es stellt sich die Frage, ob sich die praktische Handhabung der Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit durch die Kammern mit den dogmatischen Vorgaben der Senate sowie der Literatur zu deren Auslegung deckt. Es finden sich in diesem Bereich keine Kammerentscheidungen, die sich zum Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit äußern. Demgegenüber existieren mehrere Beschlüsse, in denen es inhaltlich um das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils und die Fallgruppe des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung geht. 152 Auslieferung nach Ägypten (BVerfGK 6, 13), in die USA (BVerfGK 1, 316), nach Peru (BVerfGK 2, 165), nach Indien (BVerfGK 1, 103), nach Italien (BVerfGK 3, 27), nach Weißrussland (BVerfGK 3, 159), nach Bulgarien (BVerfGK 3, 314). 153 Regelzuständigkeit des Richters nach Art. 13 Abs. 2 Halbsatz 1 GG und richterlicher Bereitschaftsdienst zur Nachtzeit (BVerfGK 2, 176); Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug bei einer Durchsuchung (BVerfGK 2, 254); Begründungs- und Dokumentationspflichten der Strafverfolgungsbehörden bei Durchführung einer Durchsuchung wegen Gefahr im Verzug (BVerfGK 2, 310); Gefahr im Verzug und Dokumentation der Dringlichkeit bei einer Wohnungsdurchsuchung (BVerfGK 5, 74); Gefahr im Verzug bei nichtrichterlicher Durchsuchung (BVerfGK 7, 392); Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters bei Anordnung einer Durchsuchung (BVerfGK 9, 287). 154 Kein Anspruch auf das alleinige Sorgerecht für einen nicht mit der Kindesmutter verheirateten Vater (BVerfGK 1, 117); tragfähige soziale Beziehung als Voraussetzung für die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung (BVerfGK 2, 185); Voraussetzungen für die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge (BVerfGK 3, 1); Berücksichtigung des geäußerten Kindeswillen bei einem knapp Vierzehnjährigen im Rahmen eines befristeten Umgangsausschlusses (BVerfGK 6, 57); Ablehnung einer Umgangsrechtsregelung als Verstoß gegen das Elternrecht (BVerfGK 6, 61); Ablehnung einer Umgangsregelung als unverhältnismäßiger Eingriff in das Elternrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils (BVerfGK 6, 153); Einräumung des alleinigen Sorgerechts für einen nicht mit der Kindesmutter verheirateten Vater (BVerfGK 7, 65); Vorrang des Elternrechts bei der Verantwortung für ein hilfsbedürftiges volljähriges Kind (BVerfGK 7, 432); Anforderungen an die Verfahrensgestaltung und Sachverhaltsaufklärung bei einem Umgangsausschluss (BVerfGK 11, 146); unverhältnismäßige Einschränkung des Elternrechts durch Anordnung begleiteten Umgangs bei bloßer Möglichkeit pädophiler Neigungen des Vaters (BVerfGK 12, 472).
144
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
a) Besonders schwerer Nachteil Im Rahmen eines Beschlusses gab die zuständige Kammer einer Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufgrund folgender Konstellation statt: Es wandte sich ein Vater als Beschwerdeführer gegen eine sorgerechtliche Entscheidung. Nach der Trennung der nicht verheirateten Kindeseltern entzog das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht und weitere Teile der elterlichen Sorge. Die Kinder wurden in einer Pflegefamilie untergebracht. Der Beschwerdeführer scheiterte mit dem Antrag, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen, da die Gerichte den Verbleib der Kinder in der Pflegefamilie als für das Kindeswohl besser erachteten. Die beschriebene Grundrechtsverletzung wurde als besonders schwerer Nachteil für den Beschwerdeführer eingeordnet, sodass die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen sei155. Die zuständige Kammer verneinte das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils, wobei sie selbst die Formulierung schwerer Nachteil verwendete, bei folgender Fallgestaltung156: Ein Vater mit Umgangsrecht zu seinem Sohn wandte sich gegen eine Entscheidung vom 30. Dezember 2005, die eine Anreise des Kindes zum Weihnachtsferienumgang mit dem Flugzeug anordnete. Der Umgang sollte vom 1. Januar bis zum 7. Januar 2006 stattfinden. Problematisch war, dass bis zum 2. Januar keine Flüge gingen und so der Umgang verkürzt wurde. Zum Entscheidungszeitpunkt war Erledigung eingetreten, sodass die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen wurde157. Ebenso wegen Erledigung wurde eine Verfassungsbeschwerde im Rahmen eines Beschlusses nicht zur Entscheidung angenommen, in dem sich ein Beschwerdeführer gegen seine Ladung zum geschlossenen Vollzug wandte, weil er nur bei offenem Vollzug seinen Arbeitsplatz behalten könne. Während des laufenden Verfahrens änderte die zuständige Behörde den Vollstreckungsplan, sodass nun auch eine Ladung zum offenen Vollzug möglich war158. Daraufhin verneinte die Kammer das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils159.
155 156 157 158 159
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
7, 65, 70. 7, 279, 281. 7, 279 ff. 12, 210 ff. 12, 210, 226.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
145
b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals des besonders schweren Nachteils müsste sich mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung decken. In den vorgestellten Beschlüssen führen die Kammern nicht detailliert aus, weshalb sie vom Vorliegen eines besonders schweren Nachteils ausgegangen sind. Stattdessen wird das Vorliegen oder Nichtvorliegen schlicht festgestellt160. Die Handhabung liegt aber auf der Linie der Rechtsprechung der Senate. So wird das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils verneint, wenn die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat161. In den beiden zuletzt beschriebenen Fällen war Erledigung durch Zeitablauf eingetreten und kein Rechtschutzbedürfnis für eine Entscheidung gegeben162. Die Verfassungsbeschwerden hatten demnach keine Aussicht auf Erfolg. In dem zuerst beschriebenen Fall sind der Verbleib der leiblichen Kinder in einer Pflegefamilie und der damit einhergehende Verlust des Sorgerechts für den Vater, von der Intensität der eintretenden Folgen auf Seiten des Beschwerdeführers betrachtet, vergleichbar mit einer Rufvernichtung oder Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion. Denn in diesen Konstellationen wurde ebenfalls ein besonders schwerer Nachteil angenommen163. c) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung Das Tatbestandsmerkmal des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung lässt sich weiter in Unterfallgruppen auffächern. Zu diesen Unterfallgruppen zählen die generelle Vernachlässigung von Grundrechten, die Abschreckung von der Grundrechtsausübung und der besonders krasse Verstoß, wobei Letzterer nochmal drei Varianten enthält. Eine Variante stellt die grobe Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes dar164. Die zuständige Kammer bejahte das Vorliegen einer generellen Vernachlässigung von Grundrechten bei folgender Fallgestaltung165: Der Beschwerdeführer, ein Maler- und Lackierergeselle, der die Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle unter keinem Gesichtspunkt erfüllte, 160
BVerfGK 7, 65, 70; 7, 279, 281. Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c) cc). 162 Das fehlende Rechtschutzbedürfnis stellte die Kammer ausdrücklich fest, BVerfGK 7, 279, 283. 163 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. V. 1. c) cc). 164 Siehe hierzu die Ausführungen unter B. V. 1. c) aa). 165 BVerfGK 10, 403 ff. 161
146
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
wandte sich gegen das Ansinnen der zuständigen Handwerkskammer, bei ihm eine Besichtigung aufgrund des § 17 Abs. 2 HandwO durchzuführen. Die Handwerkskammer habe Kenntnis von den fehlenden Voraussetzungen gehabt und wolle ihn nur einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zuführen. Mit seiner Feststellungsklage, dass die Handwerkskammer in seinem Fall kein Betretungsrecht habe, scheiterte er vor den Verwaltungsgerichten. Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts gab seiner Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 13 Abs. 1 GG statt. Zudem führte sie aus, dass eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten vorliege, weil die Änderungen des dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I, S. 2934) nicht zu den notwendigen Konsequenzen für das Verständnis des § 17 Abs. 2 HandwO geführt hätten. Entgegen der Rechtsauffassung der bislang herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung, die ein Betretungsrecht auch bei den Gewerbetreibenden annahm, bei denen nicht von vornherein feststand, dass kein Handwerksbetrieb vorliege, müsse der Begriff der einzutragenden Gewerbetreibenden in § 17 Abs. 1 Satz 1 HandwO eng ausgelegt werden. Es komme sonst zu einer Verletzung von Art. 13 Abs. 1 GG. Sobald eine Eintragungsvoraussetzung erkennbar nicht gegeben sei, scheide ein Betretungsrecht aus166. Die zuständige Kammer nahm eine grobe Verkennung in folgendem Fall an167: Ein 13 Jahre altes Kind wurde gegen den Willen der Eltern, die zwar getrennt leben, sich aber die gemeinsame elterliche Sorge teilen, auf Betreiben des Jugendamtes in eine geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Anlass waren erhebliche strafrechtliche Auffälligkeiten, wie zum Beispiel die Brandlegung in einer Tiefgarage eines Einkaufzentrums oder Diebstähle in Geschäften unter Zuhilfenahme einer Axt. Die zuständigen Gerichte hatten den Eltern jedoch nicht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind entzogen, die Art der Unterbringungsmaßnahme nicht benannt und hörten die Eltern nicht persönlich an. Bedenken bestanden ebenso im Hinblick auf die Sachverhaltsaufklärung der zuständigen Gerichte, da das Oberlandesgericht das betroffene Kind nicht persönlich anhörte und keine aktuelle Stellungnahme der Klinik zur Erforderlichkeit der Fortdauer der Unterbringung einholte. Die Kammer begründete die grobe Verkennung der Grundrechtslage mit den dargestellten Rechts- und Verfahrensfehlern unter Berücksichtigung des Freiheitsgrundrechts168. Die Kammer bejahte die abschreckende Wirkung für die Grundrechtsausübung bei folgendem Fall169: Ein 1992 in Afghanistan geborenes bzw. dort 166 167 168
BVerfGK 10, 403, 409 ff. BVerfGK 11, 323 ff. BVerfGK 11, 323, 335.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
147
lebendes Kind wurde zu Behandlungszwecken im Jahr 1999 nach Deutschland gebracht und befand sich daher von Januar 2000 bis Februar 2005 in der Obhut von Gasteltern. Das zuständige Oberlandesgericht ordnete 2003 den dauerhaften Aufenthalt des Kindes bis 2006 bei den Gasteltern an, da sich aufgrund des über Jahre dauernden Pflegeverhältnisses eine ElternKind-Beziehung entwickelt habe. Hiergegen wandte sich der afghanische Vater und rügte eine Verletzung seines Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG. Die Kammer gab der Verfassungsbeschwerde statt und führte aus, dass von der angegriffenen Entscheidung eine abschreckende Wirkung ausgehe, weil ausländische Eltern fürchten müssten, ihnen werde ihr Kind entzogen, wenn sie es zu Behandlungszwecken nach Deutschland schickten, obwohl sie sich verantwortungsvoll verhielten170. d) Verhältnis zwischen praktischer Handhabung und dogmatischen Vorgaben Es gilt zu überprüfen, ob die praktische Handhabung der Fallgruppe des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung – Anknüpfungspunkt der Fallgruppe ist das Tatbestandsmerkmal angezeigt – mit der von der Senatsrechtsprechung und der Literatur entwickelten Auslegung hierzu übereinstimmt. Im Fall zur Auslegung des § 17 HandwO wird schlicht festgestellt, dass die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten von besonderem Gewicht ist, denn sie deute auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hin171. Eine argumentative Einordnung des Falles erfolgt nicht. Anders in den Fällen zur Einweisung in die Kinder- bzw. Jugendpsychiatrie und des Elternrechts des afghanischen Vaters, in denen die zuständige Kammer die Zuordnung mit Argumenten vornimmt. Zum einen bejaht sie eine besonders gewichtige Grundrechtsverletzung in Form einer groben Verkennung des durch das Grundrecht gewährten Schutzes aufgrund von Rechts- und Verfahrensfehlern unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts172. Zum anderen nimmt sie ausführlich Stellung dazu, weshalb die Entziehung ausländischer Kinder, die zu Behandlungszwecken in Deutschland sind, die Eltern davon abschrecken könnte, ihre Kinder in Deutschland behandeln zu lassen173. Diese drei Kammerentscheidungen fügen sich inhaltlich mühelos in die bestehende Kasuistik ein, wenn man die bereits erläuterten Kriterien zur 169 170 171 172 173
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
9, 97 ff. 9, 97, 101. 10, 403, 409. 11, 323, 335. 9, 97, 101.
148
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Auslegung anwendet174. Der Kammerbeschluss zu § 17 HandwO ist mit folgendem Fall vergleichbar: Einer Verfassungsbeschwerde wurde wegen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip stattgegeben, weil ein Landgericht in ständiger Praxis § 225 Abs. 2 ZPO so auslegte, dass einem zweiten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nur bei Zustimmung des Gegners entsprochen werden könne175. Ebenso fügt sich die Kammerentscheidung zur Einweisung des Kindes in eine geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie ein, da es sich nicht um einfache Versehen, organisatorische Fehler im Gerichtsbetrieb und unzureichende Abwägungen gehandelt hatte. Keine Ausnahme stellt die Entscheidung zum Elternrecht des afghanischen Vaters dar. Aufgrund des öffentlichen Interesses an dem streitigen Vorgang der betroffenen Kreise, nämlich ausländischer Eltern, die befürchten müssen, ihr Kind zu verlieren, wenn sie dieses zur Behandlung nach Deutschland schicken, lässt sich eine abschreckende Wirkung feststellen. Es bleibt festzuhalten, dass sich die Kammern, wenn sie sich explizit zum Vorliegen der Tatbestandsmerkmale besonders schwerer Nachteil oder angezeigt äußern, innerhalb der durch die Senate festgelegten Kriterien bewegen. Dies lässt sich jedoch auf die Formulierung der Maßstäbe zurückführen. Die Fallgruppen sind so gefasst, dass sie den Kammern eine flexible Handhabung im Einzelfall ermöglichen. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wird im Hinblick darauf betrachtet, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage in dem konkreten Fall tatsächlich bereits entschieden war. Als Grundlage für die nachfolgenden Feststellungen dienen die 165 Entscheidungen der Kammern aus dem Bereich Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn. Die Einleitung der rechtlichen Ausführungen in den Kammerbeschlüssen folgt dem schon beschriebenen Muster176. Auf eine Besonderheit ist jedoch hinzuweisen: In einem Annahme- bzw. Stattgabebeschluss wird im Zusammenhang mit der Prüfung der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage auf eine andere Kammerentscheidung konkret verwiesen: 174
Siehe hierzu die Ausführungen unter B. V. 1. c). BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 9.12.1999 – 1 BvR 1297/99, NJW 2000, 944 f. 176 Siehe hierzu die Ausführungen unter D. I. 1. und 2. 175
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
149
„Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, wird sie zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu dem aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht für den hier zu beurteilenden Zusammenhang bereits entschieden (vgl. zuletzt BVerfGK 3, 348 [350 f.] m. w. N. auch der Senatsrechtsprechung). Danach ist die Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründeten Sinne offensichtlich begründet.“177
Zwar ist es nicht unüblich, dass die Kammern im Rahmen der Maßstäbe auf andere Kammerentscheidungen verweisen. Doch ein Verweis an dieser Stelle ist problematisch. Denn die Senate stellen nach der gesetzlichen Konzeption des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf, anhand derer die Kammern entscheiden und nicht umgekehrt. Um hier dem falschen Eindruck von der fehlenden Kenntnis dieses Zusammenhangs vorzubeugen, sollte im Rahmen der Darlegung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht auf andere Kammerentscheidungen verwiesen werden. Es findet sich jedoch der Hinweis, dass die Kammerentscheidung, auf die verwiesen wurde, auch Nachweise zur Senatsrechtsprechung enthält178. Die Kammer bekommt an dieser Stelle „gerade nochmal die Kurve“. Die Mehrzahl der Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse stammen aus folgenden Bereichen: Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Strafsachen betreffend Art. 2. Abs. 2 Satz 2 GG, Anforderungen an eine Wohnungsdurchsuchung nach Art. 13 Abs. 1 und 2 GG und Rügen im Hinblick auf Sorge- oder Umgangsrechtsstreitigkeiten i. S. d. Art. 6 Abs. 2 GG. Dies rechtfertigt eine genauere Untersuchung. a) Freiheit der Person Das Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG steht in einem Spannungsverhältnis zu den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung im Allgemeinen und zur Untersuchungshaft im Besonderen179. Der typische Fall in diesem Bereich stellt sich so dar, dass gegenüber einem Tatverdächtigen zur Sicherung der Strafverfolgung Untersuchungshaft angeordnet wird. Es kommt allerdings im Rahmen des Ermittlungs- oder Strafverfahrens, aufgrund verschiedenster Ursachen, zu Ver177 178 179
BVerfGK 7, 312, 316. BVerfGK 7, 312, 316. BVerfGE 20, 45, 49.
150
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
zögerungen, sodass sich der Untersuchungshäftling, teilweise über Jahre, ohne ein rechtskräftiges Urteil in Haft befindet180. Es wird daher die Frage nach einem Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz und seine Auswirkungen aufgeworfen. Zu der vorgestellten Problematik existieren zahlreiche Kammerbeschlüsse181. aa) BVerfGK 6, 242 Zur Erläuterung der Problematik dient folgender Musterfall: Der Beschwerdeführer, gegen den zunächst wegen des Verdachts der Anstiftung zur schweren Brandstiftung ermittelt wurde, befand sich vom 2. August 1997 bis zum Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. September 2005 fortlaufend in Untersuchungshaft. Nach der Inhaftierung 1997 wurde erst im Oktober 1998 Anklage erhoben und die Hauptverhandlung im Juli 1999 begonnen. Im August 2001 erfolgte die Verurteilung durch das Landgericht wegen Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge in Tateinheit mit sechsfachem Mord und zwei Mordversuchen zu lebenslanger Haft, wobei die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde. Der Beschwerdeführer legte im März 2002 Revision ein, infolgedessen die Bundesanwaltschaft im September 2003 Stellung nahm, der Bundesgerichtshof das Urteil im Juli 2003 aufgrund von Verfahrensfehlern aufhob und zurückverwies. Die neue Hauptverhandlung begann im Februar 2004 und dauerte bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde an. Alle Rechtsbehelfe des Beschwerdeführers, mit dem Ziel, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen, blieben ohne Erfolg182. Die zuständige Kammer nahm eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot an und berief sich auf folgende Maßstäbe: „Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass das in Haftsachen bis zum Erlass eines tatrichterlichen Urteils geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot im Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) angesiedelt ist (. . .). Daraus folgt, dass es im Prinzip auch nach Erlass eines solchen Urteils Geltung beansprucht.“183 „Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze [Freiheitsanspruch und Strafrechtspflege] lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als 180 Zur Häufigkeit dieser Konstellation siehe auch Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 428, 443 (m. w. N.). 181 Siehe Teil D., Fn. 151. 182 BVerfGK 6, 242. 183 BVerfGE 46, 194, 195.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
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Korrektiv entgegengehalten wird (. . .). Dies bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt (. . .), und zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird (. . .).“184 „Dies bedeutet: Die Untersuchungshaft muss in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit ist nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden, auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, dass der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird.“185 „Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Vor allem darf die Untersuchungshaft hinsichtlich ihrer Dauer nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen.“186 „Müsste das Gericht auch Anträgen und Anregungen des Angeklagten auf weitere Sachaufklärung nachgehen, in denen ein konkreter Zusammenhang zur Wahrheitsermittlung nicht aufgezeigt ist, gewänne der Angeklagte einen Einfluss auf Umfang und Dauer des Strafverfahrens, der über das zu seiner Verteidigung Gebotene hinausginge und dazu führen könnte, dass die – nicht zuletzt im Interesse des Beschuldigten – rechtsstaatlich geforderte Beschleunigung des Strafverfahrens ernstlich gefährdet wäre.“187 „Disziplinarverfahren sind ihrer Natur nach mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen. Jede vermeidbare Verzögerung des Verfahrens setzt den Beschuldigten einem Eingriff und einer Belastung aus, die fühlbar schwerer sind als im Falle der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens, und kann deshalb unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden.“188 „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht ge184
BVerfGE 264, 270. 185 BVerfGE 186 BVerfGE 187 BVerfGE 188 BVerfGE
53, 152, 158 f.; ähnlich BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49 f.; 36, 19, 20, 63, 46,
342, 347 f.; 20, 45, 49. 45, 49 f.; ähnlich BVerfGE 20, 144, 148; 36, 264, 270. 45, 68 f. 17, 29.
152
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
messen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“189
Die Kammer ging davon aus, dass dem Staat zurechenbare Verfahrensverzögerungen vorlägen. Im Einzelnen: Der Start der Hauptverhandlung zwei Jahre nach Beginn der Untersuchungshaft, eine zweijährige Verhandlungsdauer, die Dauer von sechs Monaten für die Fertigung der Stellungnahme des Generalbundesanwaltes im Rahmen der Revision, die Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof nach Ablauf weiterer neun Monate, der Neubeginn der Verhandlung vor dem Landgericht nach Ablauf weiterer sieben Monate und die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils wegen Verfahrensfehlern. Das zuständige Beschwerdegericht habe, neben den aufgezählten Verzögerungen, auch maßgebliche Abwägungsgrundsätze außer Acht gelassen, vor allem den Grundsatz, dass mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft der Freiheitsanspruch an Gewicht zunehme190. bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden In dem vorgestellten Musterfall stellt die Kammer fest, dass eine, von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende, erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verletzt und verweist auf BVerfGE 63, 45, 68 f.191. Dort findet sich der in Bezug genommene Maßstab in dieser Form nicht. Der zuständige Senat ging an anderer Stelle dergestalt darauf ein, dass ein zentrales Anliegen eines rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils sei. Ausgestaltungen des Strafverfahrens, welche die Ermittlung der Wahrheit zu Lasten des Beschuldigten behindern, könnten daher seinen Anspruch auf ein faires Verfahren verletzen192. Ferner weist die zuständige Kammer bei ihren verfassungsrechtlichen Maßstäben darauf hin, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und Bestrafung unter Berücksichtigung der Grundrechtsbeschränkung des Betroffenen noch angemessen seien und nimmt Bezug auf BVerfGE 46, 17, 29193. Dort findet sich der von der Kammer in Bezug genommene Maßstab so jedoch wiederum nicht. Stattdessen stellt der zuständige Senat fest, dass Disziplinarverfahren mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen 189 190 191 192 193
BVerfGE 18, 85, 92 f.; ähnlich BVerfGE 15, 245, 247; 20, 144, 150. BVerfGK 6, 242, 251 ff. BVerfGK 6, 242, 249. BVerfGE 63, 45, 61. BVerfGK 6, 242, 249 f.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
153
seien. Jede vermeidbare Verzögerung des Verfahrens setze den Beschuldigten einem Eingriff und einer Belastung aus, die fühlbar schwerer seien als im Falle der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens, und könnte deshalb unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden. Ebenso verweist die Kammer in diesem Zusammenhang auf zwei andere Kammerentscheidungen (BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 19.03.1992 – 2 BvR 1/91, NJW 1992, 2472, 2473; BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 19.04.1993 – 2 BvR 1487/90, NJW 1993, 3254, 3255)194. Dort geht es im Rahmen der verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die ihrerseits wieder auf BVerfGE 46, 17, 29, verweisen, um die Angemessenheit der Verfahrensdauer. An dieser Stelle erübrigt sich die Anwendung der Bewertungskriterien. Denn die von der Kammer verwendeten Maßstäbe existieren in der von ihr formulierten Fassung nicht. Jedenfalls nicht an der angegebenen Stelle. Wie der vorgestellte Musterfall zeigt, füllt die Kammer die Lücken in den Senatsmaßstäben selbst aus oder beruft sich auf Maßstäbe, die in der von ihr angegebenen Fassung nicht existieren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Kammer, gerade wenn es um die Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsanspruch des Staates und dem Freiheitsanspruch geht oder um die Frage, ab wann eine zeitliche Verzögerung zu einem Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz führt, nicht hätte entscheiden dürfen. Denn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war noch nicht entschieden. cc) Bewertende Zusammenfassung Aufgrund ihrer hohen Abstraktionsebene sind die verwendeten Senatsmaßstäbe schwer geeignet, eine direkte Subsumtion im Sinne der Mahrenholzschen Formel zuzulassen. Strukturell gesehen, halten sich bei den Senatsmaßstäben Prinzipien und Regeln fast die Waage. Die Maßstäbe sind in diesem Bereich lückenhaft, obwohl es sich um originär verfassungsrechtliche Fragen handelt. Exemplarisch sei der Maßstab herausgegriffen, der sich zu der Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsanspruch des Staates und dem Freiheitsanspruch des Bürgers äußert. Er wurde von den Kammern um Abwägungskriterien ergänzt. Bei der Abwägung kommt es nach Auffassung der Kammern auf Folgendes an: Komplexität der Rechtssache, Vielzahl der beteiligten Personen, Verhalten der Verteidigung oder Gewicht der zu ahndenden Straftat. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft müssten höhere 194
BVerfGK 6, 242, 250.
154
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Anforderungen an die Rechtfertigungsgründe gestellt werden. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung könnten erhebliche vermeidbare und dem Staat zurechenbare Verzögerungen bei schon lange dauernder Untersuchungshaft nicht rechtfertigen195. Problematisch ist hierbei, dass nicht die Senate, sondern die Kammern diese Abwägungskriterien aufgestellt haben. Aus dieser Tatsache lässt sich ableiten, dass der Senatsmaßstab nach der Mahrenholzschen Formel nicht geeignet ist, eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte zu ermöglichen. Zum gleichen Ergebnis führt die Differenzierung nach Regeln und Prinzipien. Der Senatsmaßstab ist nach dem Konditionalschema aufgebaut, daher als Regel einzuordnen und muss subsumierbar sein. Aufgrund der zu abstrakten Formulierung vermag er dies nicht zu leisten. Wie die Abwägung zu erfolgen hat und welche Kriterien Berücksichtigung finden, sind aber originär verfassungsrechtliche Fragen. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des verwendeten Senatsmaßstabs waren nicht abgesenkt. Der beschriebene Maßstab erfüllt auch aus diesem Blickwinkel die Voraussetzungen nicht. Als Konsequenz greifen die Kammern zur Überprüfung der Abwägung der Fachgerichte auf die aus der Bauleitplanung bekannte Abwägungsfehlerlehre196 zurück und prüfen ebenfalls das Vorliegen eines Abwägungsausfalls, eines erheblichen Abwägungsdefizits oder einer Abwägungsdisproportionalität197. Die Kammern äußern sich zur Prüfung des einfachrechtlichen § 121 Abs. 1 StPO dergestalt, dass hier eine doppelte Prüfung erforderlich sei. Zum einen seien Feststellungen darüber zu treffen, ob die besondere Schwierigkeit, der besondere Umfang der Ermittlungen oder andere wichtige Gründe, ein Urteil noch nicht zugelassen hätten. Zum anderen müssten, bei Vorliegen der Voraussetzungen, diese die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen198. Die Kammer stützt sich hierbei auf den Maßstab, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung ist. Vor allem dürfe die Untersuchungshaft hinsichtlich ihrer Dauer nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setze aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel lassen sich die Aussagen der Kammer zu § 121 StPO 195 BVerfGK 5, 109, 122 f.; hierauf in den Maßstäben bezugnehmend BVerfGK 6, 242, 253. 196 Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 1004 ff.; Krebs, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Kapitel Rn. 108 f. 197 BVerfGK 8, 1, 7 f. 198 BVerfGK 9, 339, 349 f.; hierauf bezugnehmend BVerfGK 10, 294, 304 f.; 10, 544, 551.
III. Der Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn
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nicht ohne Zwischenschritte abstrakter Art aus dem verwendeten Senatsmaßstab ableiten. Dafür spricht ebenfalls, dass die Kammer im Rahmen der Darlegung ihre Maßstäbe zu § 121 StPO auf die Kommentarliteratur und andere Kammerentscheidungen zurückgreift199. Zwar handelt es sich bei dem Maßstab um ein Prinzip, da der konditionale Aufbau fehlt. Aus ihm lässt sich aber nur ableiten, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen darf. Zwar handelt es sich um die Überprüfung der Auslegung von einfachem Recht am Maßstab der Verfassung, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind, doch liegen die inhaltlichen Aussagen des Senatsmaßstabs und die von der Kammer gemachten Vorgaben zur Prüfung des § 121 StPO zu weit auseinander. Die Kammer überspannt die inhaltliche Reichweite dieses Maßstabes, wenn sie aus ihm die von ihr gemachten Aussagen zu § 121 StPO ableiten möchte. Abstrakt schwer zu beantworten ist die Frage, welcher Zeitraum vergangen sein und was innerhalb dieses Zeitraums an der Justiz zurechenbaren Verzögerungen sich ereignet haben muss, damit ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. In diesem Zusammenhang weist die zuständige Kammer auf folgenden Senatsmaßstab hin: „Jedenfalls verstößt der weitere Vollzug der Untersuchungshaft, welche die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Frist in so ungewöhnlichem Maße überschreitet, dann gegen Art. 2 Abs. 2 GG, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen.“200
Dieser Maßstab wurde zwar nicht in dem vorgestellten Fall verwendet, dafür aber in drei anderen Kammerentscheidungen, die sich mit Verstößen gegen den Beschleunigungsgrundsatz beschäftigt haben201. Aufgrund seiner abstrakten Formulierung hilft er bei der Beantwortung der aufgestellten Frage nicht weiter und erlaubt auch keine direkte Subsumtion. Aufgrund seines Aufbaus nach dem Konditionalschema ist er als Regel einzustufen, die subsumierbar sein muss. Wie bereits festgestellt, ist das nach der insoweit vorrangigen Mahrenholzschen Formel nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht siedelt das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot im Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG an202. Demnach ist es eine originär verfassungsrechtliche Frage, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß vorliegt und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Abstri199 200 201 202
BVerfGK 9, 339, 349 f. BVerfGE 20, 45, 50; ähnlich BVerfGE 36, 264, 273. BVerfGK 7, 140, 156; 10, 294, 302 f.; 11, 286, 292 f. BVerfGE 46, 194, 195.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
che bezüglich der Bestimmtheit können nicht gemacht werden. Zwar lässt sich schwer abstrakt festlegen, wie viel Zeit verstrichen sein muss, um von einem Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz zu sprechen, weil es auf den konkreten Einzelfall ankommt. Es wäre aber durchaus möglich, einen Rahmen festzulegen. Da es keine verfassungsrechtlichen Vorgaben der Senate gibt, greift die Kammer auf fachgerichtliche Rechtsprechung zurück, um festzustellen, dass an den zügigen Fortgang des Verfahrens umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je länger die Untersuchungshaft andauere203. So soll der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass eines Urteils nur in ganz besonderen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein. Dauere er schon ein Jahr an, führe in bestimmten Fällen schon eine Verzögerung von einem Monat oder sechs Wochen zur Verletzung des Beschleunigungsgebots204. Unter Bezugnahme auf die fachgerichtliche Rechtsprechung hält die Kammer, je nach Sachlage, auch einen Zeitraum von drei Monaten für beanstandungswürdig205. Es läuft somit auf eine Einzelfallprüfung hinaus, wobei die erläuterten Zeitspannen von der Kammer dieser Prüfung zugrunde gelegt werden. Die Kammern prägen in diesem Bereich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor dem Hintergrund fehlender oder unzureichender Senatsmaßstäbe maßgeblich selbst. b) Unverletzlichkeit der Wohnung Während Art. 13 Abs. 1 GG die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleistet, ordnet Art. 13 Abs. 2 GG für Durchsuchungen im Regelfall einen Richtervorbehalt an, von dem nur ausnahmsweise, bei Gefahr im Verzug, 203
Siehe Teil D., Fn. 201. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 30.09.1999 – 2 BvR 1775/99, NStZ 2000, S. 153 f. Die aus dieser Entscheidung abgeleiteten Maßstäbe finden sich so formuliert nicht. Die Kammer stellt fest, dass nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung der Vollzug der Untersuchungshaft über ein Jahr hinaus bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder Erlass des Urteils nur in ganz besonderen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein könne. Sodann weist sie darauf hin, dass auch verfassungsrechtlich an die Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes mit zunehmender Haftdauer steigende Anforderungen zu stellen seien. Sei die Anklage erst nach ca. 15 Monaten vollständig erhoben worden, könnten nur besondere Ausnahmegründe die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Als Beleg wird auf BVerfGE 53, 152, 158 f., Bezug genommen. In der Senatsentscheidung finden sich aber die abgeleiteten Zeitspannen nicht. Es stellt sich daher die Frage, ob die Kammer aufgrund der dargestellten vorhandenen Senatsmaßstäbe überhaupt davon ausgehen durfte, dass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bereits entschieden war. Jedenfalls befindet sie sich im Hinblick auf die zeitlichen Fragen einer Verfahrensverzögerung auf dünnem Eis. 205 BVerfGK 7, 140, 156; 10, 294, 303. 204
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abgewichen werden darf. Es besteht ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen dem hohen Gewicht des Schutzes der Wohnung für die grundrechtliche Freiheit einerseits und der Bedeutung von Durchsuchungen für die tägliche Strafverfolgungsarbeit andererseits206. Das Tatbestandsmerkmal Gefahr im Verzug, genauer gesagt seine tatsächlichen Voraussetzungen und Auslegung, sind daher Gegenstand einiger Kammerentscheidungen im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn gewesen207. aa) BVerfGK 9, 287 Zur Erläuterung der Probleme im Rahmen einer nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung wegen Gefahr im Verzug dient folgender Musterfall: Der Beschwerdeführer war an einem Montag im Juni 2005 an einer Messerstecherei in München in seiner Wohnung beteiligt. Er war in einem Ladenlokal im Erdgeschoss des Hauses zugegen, in dem sich seine Wohnung befand, als gegen 17:30 Uhr die Polizei eintraf. Die Beamten verdächtigten den Beschwerdeführer, der teils weit klaffende Schnittverletzungen aufwies, der gefährlichen Körperverletzung und durchsuchten seine Wohnung, wobei ein Drogenspürhund zum Einsatz kam. Das zuständige Amtsgericht wies den Antrag zurück, die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung sowie ihrer Art und Weise festzustellen. Gefahr im Verzug habe vorgelegen, da um 18 Uhr ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss nicht mehr zu bekommen gewesen sei. Das Landgericht verwarf die Beschwerde208. Die zuständige Kammer gab der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 13 Abs. 1 und 2 GG statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Im Allgemeinen müssen sowohl die Strafverfolgungsbehörden als auch die Ermittlungsrichter und die Gerichtsorganisation im Rahmen des Möglichen sicherstellen, dass auch in der Masse der Alltagsfälle die in der Verfassung vorgesehene Verteilung der Gewichte (. . .), nämlich die Regelzuständigkeit des Richters, gewahrt bleibt.“209 „Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des instanziell und funktionell zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen.“210 206 Wild, in: Rensen/Brink, S. 274, 276, unter Bezugnahme auf die Senatsrechtsprechung. Als Ursache dieses Spannungsverhältnisses sieht er die Zuständigkeit der Landgerichte als höchste Kontrollinstanz, da als Rechtsmittel nur die Beschwerde möglich ist und somit das Fehlen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung. 207 Siehe Teil D., Fn. 153. 208 BVerfGK 9, 287, 288 f. 209 BVerfGE 103, 142, 155. 210 BVerfGE 103, 142, 155.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Die Annahme von Gefahr im Verzug kann nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nicht zu erlangen. Dem korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes, zu sichern.“211 „Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (. . .). Für den Staat folgt daraus die verfassungsrechtliche Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters – jedenfalls zur Tageszeit (vgl. etwa § 188 Abs. 1 ZPO, § 104 Abs. 3 StPO) – zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen (. . .).“212
Nach Auffassung der Kammer könne es nicht hingenommen werden, dass in einer Stadt wie München gegen 18 Uhr eine Wohnung auf Anordnung der Polizei durchsucht werde, ohne den Versuch zu unternehmen, einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken. Es seien auch keine Gründe ersichtlich bzw. von den Gerichten geprüft worden, die, bei unterstelltem Bestehen eines richterlichen Eildienstes, eine sofortige Durchsuchung der Polizei gerechtfertigt hätten213. bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Kammerentscheidung müsste sich auf die verwendeten Senatsmaßstäbe stützen lassen. Entscheidungstragend ist möglicherweise der Maßstab, dass die Strafverfolgungsbehörden zunächst versuchen müssten, eine Entscheidung des Richters einzuholen, bevor eine Durchsuchung begonnen werde. Ebenso der, dass die Annahme von Gefahr im Verzug nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden könne, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nicht zu erlangen gewesen. Bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel ergibt sich, dass eine direkte Subsumtion unter die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe ohne Zwischenschritte abstrakter Art möglich ist. Da in dem vorgestellten Musterfall noch nicht einmal der Versuch unternommen wurde, eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu bekommen, sind die Anforderungen des Maßstabes verfehlt worden. Es fällt daher nicht ins Gewicht, dass die Kammer im Rahmen ihrer Maßstäbe auf eine andere Kammerentscheidung verweist214. Dort ging es um die Verpflichtung des Staates, den Richter mit 211 212 213 214
BVerfGE 103, 142, 156. BVerfGE 105, 239, 248. BVerfGK 9, 287 ff. BVerfGK 9, 297, 290.
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den für eine sachangemessene Wahrnehmung seiner Aufgaben notwendigen Hilfsmitteln auszustatten. Diese Vorgaben stammen wiederum aus einem Senatsbeschluss, in dem es um den richterlichen Haftdienst ging215. Die Übertragung der Vorgaben auf den richterlichen Dienst, eine Durchsuchungsanordnung betreffend, ist Sache der Senate. Der Aufbau der Maßstäbe weist sie als Prinzipien aus, weil es an einem Konditionalschema fehlt. Konsequenz daraus ist, dass sie für die Falllösung lediglich eine Richtung vorgeben müssen. Diesem Erfordernis werden sie gerecht. Aus den Maßstäben ergibt sich der hohe Wert, der der Einhaltung des Richtervorbehalts im Rahmen von Durchsuchungen beigemessen wird. Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG ist wiederum eine originär verfassungsrechtliche Frage. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe sind höher als bei einfachrechtlichen Fragen. Denn die Beantwortung obliegt dem Bundesverfassungsgericht im Allgemeinen und den Senaten im Besonderen. Diese fallentscheidende Frage wird durch die Senatsmaßstäbe beantwortet. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war bereits entschieden, sodass die Kammer entscheiden durfte. cc) Bewertende Zusammenfassung Der Musterfall verdeutlicht einen häufigen Fehler der Strafverfolgungsbehörden, wenn es um eine nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung wegen Gefahr im Verzug geht. Der Fehler liegt darin begründet, dass die Beamten noch nicht einmal den Versuch machen, einen richterlichen Beschluss zu erhalten216. Eine weitere Fehlerquelle liegt in der unterlassenen oder mangelnden Dokumentation der Erkenntnisse, die den handelnden Beamten zur Annahme von Gefahr im Verzug veranlasst haben217. Zudem bleibt festzuhalten, dass eine sehr ausdifferenzierte Senatsrechtsprechung zu der hier relevanten Problematik besteht. In der Entscheidung zur Wohnungsdurchsuchung hat sich der Zweite Senat explizit mit den tatsächlichen Voraussetzungen und der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG beschäftigt218. Es kann daher nicht verwundern, dass die meisten Senatsmaßstäbe aus dieser Entscheidung stammen. Im Musterfall wurden nicht alle relevanten Senatsmaßstäbe zu diesem Tatbestandsmerkmal verwendet. Es existieren jedoch andere Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse, in denen es ebenfalls eine Rolle 215 216 217 218
BVerfGE 105, 239, 248. So auch in BVerfGK 5, 74, 79; 7, 392, 396. BVerfGK 2, 310, 316. BVerfGE 103, 142, 150 ff.
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spielte219. Die dort verwendeten Senatsmaßstäbe sollen kurz vorgestellt werden, um das Bild abzurunden: „Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich zuvor um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben.“220 „Im Konkreten sind reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen als Grundlage einer Annahme von Gefahr im Verzug nicht hinreichend. Gefahr im Verzug muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Die bloße Möglichkeit eines Beweismittelverlusts genügt nicht.“221 „Gefahr im Verzug kann im Rechtssinne auch nicht dadurch entstehen, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre tatsächlichen Voraussetzungen selbst herbeiführen.“222 „Das Merkmal ‚Gefahr im Verzug‘ bestimmt in Art. 13 Abs. 2 GG den Tatbestand einer nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung; insoweit scheidet ein Ermessen der Behörden von vornherein aus. Ihnen kommt aber auch kein Beurteilungsspielraum zu.“223 „Die verfassungsrechtlich gebotene volle gerichtliche Kontrolle der Annahme von Gefahr im Verzug ist in der Praxis nur möglich, wenn nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Grundlagen der Entscheidung der Behörden und ihr Zustandekommen zuverlässig erkennbar werden. Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich daher für die Strafverfolgungsbehörden Dokumentations- und Begründungspflichten, die den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz erst möglich machen (. . .).“224
Eine ausdifferenzierte Senatsrechtsprechung geht Hand in Hand mit inhaltlich konkreten verfassungsrechtlichen Maßstäben, was sich wiederum auf das Vorliegen der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrecht219
Siehe Teil D., Fn. 153. BVerfGE 103, 155, 156. 221 BVerfGE 103, 142, 155. 222 BVerfGE 103, 142, 155. 223 BVerfGE 103, 142, 157. 224 BVerfGE 103, 142, 159 f. Der Zweite Senat hat die Dokumentations- und Begründungspflichten noch weiter konkretisiert: So muss der handelnde Beamte vor oder jedenfalls unmittelbar nach der Durchsuchung seine für den Eingriff bedeutsamen Erkenntnisse und Annahmen, insbesondere unter Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel, die Umstände darlegen, auf die er die Gefahr des Beweismittelverlusts stützt, in den Ermittlungsakten dokumentieren. Zudem muss erkennbar sein, ob der Beamte den Versuch unternommen hat, den Ermittlungsrichter zu erreichen. Die Dokumentation ist Grundlage der späteren Begründung der Strafverfolgungsbehörden in einem gerichtlichen Verfahren. Inhaltlich muss auf die gesetzlichen Voraussetzungen der Durchsuchung nach §§ 102 ff. StPO eingegangen werden, ebenso auf die Frage, warum die richterliche Anordnung zu spät gekommen wäre bzw. erst gar nicht der Versuch unternommen wurde, so BVerfGE 103, 142, 160. 220
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lichen Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auswirkt. Bei Anwendung der vorgestellten Bewertungskriterien225, insbesondere der Formel von Mahrenholz, ergibt sich, dass eine direkte Subsumtion ohne Zwischenschritte abstrakter Art bei den vorgestellten Senatsmaßstäben möglich ist. Dies hängt damit zusammen, dass sich die Maßstäbe detailliert dazu äußern, wann die Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug vorliegen, welche Ausnahmen existieren und wie es sich mit der gerichtlichen Kontrolle verhält. Strukturell betrachtet, handelt es sich bei den Senatsmaßstäben überwiegend um Prinzipien. Sie vermögen eine Orientierung für die Falllösung zu vermitteln. Nichts anderes ergibt sich, wenn man aufgrund der originär verfassungsrechtlichen Fragestellung erhöhte Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe stellt. Somit existieren in diesem Bereich keine Untiefen im Hinblick auf die bereits entschiedene verfassungsrechtliche Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Dies ist aber nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es sich um eine sehr eingegrenzte Fragestellung handelt, nämlich der tatsächlichen Voraussetzungen und Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug nach Art. 13 Abs. 2 GG. Ein weiteres Argument ist die Ähnlichkeit der Sachverhalte in diesem Bereich, da es fast immer um Durchsuchungen nach §§ 102, 103 StPO geht226. Inhaltlich fällt auf, dass die Kammern der Beachtung des Richtervorbehalts großes Gewicht beimessen und eher großzügigeren Tendenzen in der Handhabung durch die Fachgerichte entgegenwirken227. c) Elternrecht Das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistet sowohl die Pflege, das heißt die Sorge um das körperliche Wohl als auch die Erziehung, genauer die Sorge um die seelische und geistige Entwicklung, die Bildung und Ausbildung228. Die von den Kammern zu entscheidenden Sachverhalte betreffen hier häufig Auseinandersetzungen um das Sorge- bzw. Umgangsrecht. Pro225
Siehe die Ausführungen unter C. III. 2. So Wild, in: Rensen/Brink, S. 274, 275 f., der feststellt, dass wegen der Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Sachverhalte und Eingriffsnormen die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 und 2 GG ein gutes Beispiel für die Art und Weise der Ausgestaltung der Senats- durch die Kammerrechtsprechung und das Verhältnis beider zu der Rechtsprechung der Fachgerichte ist. 227 Wild, in: Rensen/Brink, S. 274, 277, verweist darauf, dass Verfassungsbeschwerden gegen Durchsuchungen, die nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet sind, immer zur Entscheidung angenommen werden, da das Bundesverfassungsgericht das staatliche Eindringen in die Privatsphäre per se als schwerwiegenden Eingriff nach § 93a Abs. 2 b) BVerfGG werte. 228 Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 698; hierauf Bezug nehmend, Kloepfer, VerfR, § 67 Rn. 56; ähnlich Epping, Grundrechte, Rn. 522. 226
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blemfelder229 sind: Die Einräumung des alleinigen Sorgerechts eines nicht mit der Kindesmutter verheiratet gewesenen Vaters230, die Voraussetzungen für die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung231 und Beschränkungen des Elternrechts in Form von befristetem Umgangsausschluss232 oder der Ablehnung einer Regelung des Umgangs233 oder durch Anordnung begleiteten Umgangs234. Nachfolgend wird jeweils ein Musterfall aus den genannten Bereichen vorgestellt, um die Problemlagen zu verdeutlichen. aa) BVerfGK 2, 185 Die Beschwerdeführerin ist Mutter eines aus der Ehe mit dem Antragsgegner des Ausgangsverfahrens hervorgegangenen Kindes. Der Antragsgegner wurde unter anderem wegen Körperverletzung sowie versuchter Vergewaltigung zum Nachteil der Beschwerdeführerin zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 16 Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Beschwerdeführerin musste sich aufgrund der Taten in psychologische Behandlung begeben. Die Ehe wurde geschieden und die elterliche Sorge für das Kind auf die Beschwerdeführerin übertragen. Das Oberlandesgericht stellte die gemeinsame Sorge jedoch wieder her235. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG statt. Sie stützte sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts gilt in erster Linie dem Schutz des Kindes. Sie beruht auf dem Grundgedanken, dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution. Das Elternrecht ist Freiheitsrecht im Verhältnis zum Staat, der in das Erziehungsrecht der Eltern grundsätzlich nur eingreifen darf, wenn das ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommende Wächteramt dies gebietet. In der Beziehung zum Kind muss dessen Wohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein.“236 „Den Eltern ehelicher Kinder und dem sorgeberechtigten Elternteil nichtehelicher Kinder stellt der Gesetzgeber diese Befugnisse in Form der elterlichen Sorge ge229 Aufgrund der Vielschichtigkeit der Probleme in diesem Bereich existiert keine Kammerentscheidung, die alle Probleme beinhaltet und als Beispielsfall hätte dienen können. 230 BVerfGK 1, 117; 7, 65. 231 BVerfGK 2, 185; 3, 1. 232 BVerfGK 6, 57. 233 BVerfGK 6, 61; 6, 153. 234 BVerfGK 12, 472. 235 BVerfGK 2, 185, 186 f. 236 BVerfGE 61, 358, 371 f.; ähnlich BVerfGE 75, 201, 218 f.
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bündelten Rechte zur Verfügung. (. . .) Der Schutz des Elternrechts, das die treuhänderische Wahrnehmung der Belange des Kindes umfasst, erstreckt sich aber auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann.“237 „Das Elternrecht bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setzt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten. Fehlen die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Elternverantwortung, darf der Gesetzgeber einem Elternteil die Hauptverantwortung für das Kind zuordnen.“238 „Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage ist von der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen, dass Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und dass die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.“239 „Um dies zu gewährleisten [eine Entscheidung, die den Belangen des Kindes gerecht wird], haben die Familiengerichte im Einzelfall ihre Verfahrensweise unter Berücksichtigung des Alters des einzelnen Kindes, seines Entwicklungsstandes und vor allem seiner häufig durch die Auseinandersetzung zwischen den Eltern besonders angespannten seelischen Verfassung so zu gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundlagen einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können.“240
Die Kammer begründete die Grundrechtsverletzung zunächst mit einer Verkennung der Voraussetzungen für die gemeinsame Sorge der Eltern, nämlich eine tragfähige soziale Beziehung. Das Oberlandesgericht habe prüfen müssen, ob eine Verständigung der Eltern über wichtige Sorgerechtsangelegenheiten vor dem Hintergrund des Falles überhaupt noch möglich sei241. Zudem habe der Senat nur den Antragsgegner des Ausgangsverfahrens persönlich angehört und daraus abgeleitet, dass zwischen den Eltern ein offenkundiger Grundkonsens in den wesentlichen Sorgerechtsfragen bestehe242.
237
BVerfGE 84, 168, 180. BVerfGE 107, 150, 169; ähnlich BVerfGE 92, 158, 178. 239 BVerfGE 53, 30, 65; ähnlich BVerfGE 75, 201, 218 f. 240 BVerfGE 55, 171, 182; die zuständige Kammer übernimmt diesen Maßstab und formuliert wie folgt: Das Verfahren muss grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen, BVerfGK 2, 185, 188. Es handelt sich nicht nur um eine Umformulierung, sondern auch um eine inhaltliche Verkürzung, denn der Senat hat inhaltliche Vorgaben gemacht, die nun weggefallen sind. 241 BVerfGK 2, 185, 189. 242 Ebd. 238
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bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Bei der Beurteilung der Senatsmaßstäbe zu Art. 6 Abs. 2 GG könnte zunächst zu beachten sein, dass das Elternrecht der Ausgestaltung durch den einfachrechtlichen Gesetzgeber bedarf243, mit anderen Worten, es sich um ein normgeprägtes Grundrecht handelt. Dies hat zur Folge, dass sich die Kammern sowieso vertiefter als sonst mit einfachrechtlichen Fragestellungen befassen müssen, so beispielsweise bei der Einräumung des alleinigen Sorgerechts für nicht mit der Kindesmutter verheiratete Väter244. Wenn sich die Kammern aber sowieso vertiefter mit einfachrechtlichen Fragestellungen befassen müssen, könnte man für die Senatsmaßstäbe folgern, dass sie – im Vergleich zu den Maßstäben von nicht normgeprägten Grundrechten – gar nicht in der Weise inhaltlich konkret formuliert sein können oder müssen, dass eine direkte Subsumtion möglich ist. Es könnte also die bloße Tatsache, dass es sich um ein normgeprägtes Grundrecht handelt, rechtfertigen, geringere Anforderungen an die Senatsmaßstäbe zu stellen. Diese Überlegung greift letztendlich nicht durch. Zwar ist Art. 6 Abs. 2 GG ein normgeprägtes Grundrecht und bedarf damit in besonderer Weise, das heißt mehr als nicht normgeprägte Grundrechte, der einfachrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Aber auch die nicht normgeprägten Grundrechte finden ihre Entsprechungen auf einfachrechtlicher Ebene und werden durch das einfache Recht nachgezeichnet245. Nicht nur bei normgeprägten Grundrechten müssen sich die Kammern vertieft mit einfachrechtlichen Fragestellungen auseinander setzen, sondern in nahezu allen Bereichen246. Ferner müssen die Senatsmaßstäbe immer vor dem Hintergrund von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gesehen werden, nämlich der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage. Die Kammer darf u. a. nur dann der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn diese Voraussetzung erfüllt ist. Die bestehenden Auslegungsschwierigkeiten würden weiter verschärft und das ohnehin schon unbestimmte Tatbestandsmerkmal wäre konturenlos. Es 243
Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rn. 97; Epping, Grundrechte, Rn. 528; Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6 Rn. 112; Kloepfer, VerfR, § 67 Rn. 68; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 2 Rn. 190. Hufen, StaatsR II, § 16 Rn. 3 bezeichnet es als paradoxe Lage, dass der Gesetzgeber den Schutz von Ehe, Familie und Eltern ausgestalten müsse, aber selbst dabei an Art. 6 GG gebunden sei. 244 BVerfGK 7, 65. 245 So findet Art. 8 Abs. 1 GG eine einfachrechtliche Entsprechung in § 1 Abs. 1 VersG. 246 Bereits festgestellt für das Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Häftlingen und der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs, siehe D. II. 2. a) bb) (11). Siehe ferner die Ausführungen unter D. V. 2. a) ee) und D. VII. 2. c) dd).
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ist daher verfehlt, Art. 6 Abs. 2 GG eine Sonderstellung im Hinblick auf die Senatsmaßstäbe einzuräumen und hier andere Bewertungskriterien anzulegen als bei nicht normgeprägten Grundrechten, nur aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein normgeprägtes Grundrecht handelt. In dem oben vorgestellten Kammerbeschluss kommt es entscheidend darauf an, ob die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung möglich ist oder nicht. Zu dieser Fragestellung existiert ein Senatsmaßstab, den die Kammer bei ihrer Entscheidung verwendet. Demnach setzt die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus, erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen und hat sich am Kindeswohl auszurichten. Nach der Mahrenholzschen Formel ist eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte unter diesen Maßstab möglich. Die Voraussetzungen für die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung, nämlich die tragfähige soziale Beziehung und das Mindestmaß an Übereinstimmung sowie der Orientierungsmaßstab, sind sehr konkret formuliert und zeichnen sich nicht durch eine zu hohe Abstraktionsebene aus. Von seinem Aufbau her betrachtet, entspricht der Senatsmaßstab einem Prinzip, da die Konditionalstruktur fehlt. Er muss daher eine Richtung für die Entscheidung des Falles vorgeben. Diese Voraussetzung wird erfüllt. Ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche oder einfachrechtliche Fragestellung, die am Maßstab der Verfassungs überprüft wird, handelt, kann an dieser Stelle offen bleiben. Selbst wenn man von einer originär verfassungsrechtlichen Frage ausgeht und damit höhere Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit stellt, ist der Maßstab dennoch konkret genug, um die Kammerentscheidung zu tragen. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage ist erfüllt. cc) BVerfGK 6, 61 Der Beschwerdeführer wendet sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Fachgerichte, eine Umgangsregelung für ihn zu treffen. Aus der nichtehelichen Beziehung zur Kindesmutter ist sein Sohn hervorgegangen, der bei dieser lebt. Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht trafen keine Umgangsregelung, weil das Verhältnis der Eltern untereinander derart gespannt sei, dass jeglicher Kontakt mit dem Beschwerdeführer die Kindesmutter für Außenstehende ersichtlich seelisch aufwühle247. Nach Feststellung der gerichtlich bestellten Sachverständigen seien die seelischen Belastungen so massiv, dass sie sich auf das Kind über247
BVerfGK 6, 61, 62.
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tragen würden, es verunsicherten und sich für die eigene Entwicklung des Kindes schädlich auswirkten248. Die zuständige Kammer nahm eine Verletzung des Elternrechts des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG an und berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Gleichviel, ob man das Verkehrsrecht249 mit der früher herrschenden Auffassung als Restbestandteil des Personensorgerechts versteht (. . .) oder es mit der heute überwiegenden Ansicht unmittelbar aus der natürlichen Eltern-Kind-Beziehung herleitet (. . .), steht auch dieses Recht ebenso wie die elterliche Gewalt des anderen Elternteils unter dem Schutze des Art. 6 Abs. 2 GG. Beide Rechtspositionen erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternverantwortung, die auch aufseiten des nichtsorgeberechtigten Elternteils grundsätzlich fortbesteht, und müssen von den Eltern im Verhältnis zueinander respektiert werden. Ebenso wie der nichtsorgeberechtigte Elternteil nicht in das Erziehungsrecht des anderen eingreifen darf (. . .), muss der Sorgeberechtigte den persönlichen Verkehr des Kindes mit dem Nichtsorgeberechtigten zulassen und ermöglichen.“250 „Wenn sich geschiedene Eltern nicht über die Ausübung des Umgangsrechts einigen können, ist der Staat vielmehr berufen, durch die Gerichte über die widerstreitenden Interessen der Eltern unter Berücksichtigung ihrer beiderseitigen Grundrechtspositionen zu entscheiden.“251 „Gleichwohl ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die gesetzliche Regelung dahin ausgelegt wird, dass es trotz dieser Problematik [Eltern tragen ihre Differenzen auf dem Rücken des Kindes aus] grundsätzlich im Interesse des Kindes liegt, auch die Beziehungen zu dem nichtsorgeberechtigten Elternteil durch den persönlichen Verkehr zu pflegen, und dass eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Verkehrs nur veranlasst ist, wenn nach den Umständen des Einzelfalles der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner körperlichen oder seelischen Entwicklung abzuwehren.“252
Die Kammer ging davon aus, dass die Weigerung der Regelung des Umgangsrechts einem Umgangsrechtsauschluss gleichkomme, ohne dass der Beschwerdeführer aus der Entscheidung entnehmen könne, wann eine erneute Prüfung in Frage komme253. Die Zurückweisung des Oberlandesgerichts mit der Erwägung, es sei nicht absehbar, wann sich die Situation ändere, sei nicht haltbar im Hinblick auf die Äußerung der Kindesmutter, sie werde alles tun, um ihr Kind vor dem Beschwerdeführer zu schützen. Vor diesem Hintergrund gebiete der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Nichtregelung des Umgangs, sondern einen befristeten Umgangsausschluss254. 248 249 250 251 252 253
BVerfGK 6, 61, 62. Gemeint ist das Umgangsrecht. BVerfGE 31, 194, 206. BVerfGE 64, 180, 188. BVerfGE 31, 194, 209. BVerfGK 6, 61 ff.
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dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung tragen. Die drei von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Umgangsrecht bzw. Sorgerecht, der Pflicht der Gerichte, eine Entscheidung zu treffen, wenn sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen können und den Voraussetzungen einer Einschränkung oder eines Ausschlusses des Umgangsrechts. Die Entscheidung inhaltlich tragen könnte der Maßstab, dass eine Einschränkung oder ein Ausschluss des Umgangsrechts nur veranlasst ist, wenn nach den Umständen des Einzelfalls der Schutz des Kindes dies erfordert, um eine Gefährdung seiner körperlichen oder seelischen Entwicklung abzuwehren. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, kommt man zum Ergebnis, dass eine direkte Subsumtion nicht möglich ist. Es fehlen die Zwischenschritte, da unklar ist, welche Umstände des Einzelfalls gemeint sind. Die Formulierung ist an dieser Stelle uferlos. Zum gleichen Ergebnis kommt die Differenzierung nach Regeln und Prinzipien. Es handelt sich nach dem Aufbau des Maßstabs um eine Regel, sodass eine Subsumtion möglich sein muss. Zur Frage der Subsumierbarkeit ist die Formel von Mahrenholz vorrangig. Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass es sich bei der Frage einer Umgangsregelung nicht um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt, sondern um eine einfachrechtliche, die am Maßstab der Verfassung überprüft wird. Daher sind die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer. Die Anforderungen an den Senatsmaßstab würden überspannt und das Bundesverfassungsgericht die Aufgabenteilung zwischen ihm und den Fachgerichten missachten, wenn es die Umstände des Einzelfalls näher ausfüllen würde. Es fällt nicht ins Gewicht, dass keine Konkretisierung existiert bzw. zumindest nicht von der Kammer verwendet wurde. Vor diesem Hintergrund trägt der Senatsmaßstab die Kammerentscheidung und die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden. ee) BVerfGK 7, 65 Der Beschwerdeführer lebte mit der Mutter seines Sohnes und seiner Tochter in einer nichtehelichen Beziehung. Die Kindesmutter ist gleichzeitig Mutter von vier weiteren Kindern, sodass der Beschwerdeführer zeitweise alle sechs Kinder betreute. Nach der Trennung entzog das Amtsgericht im Wege der einstweiligen Anordnung der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie weitere Teile der elterlichen Sorge. Sie 254
BVerfGK 6, 61, 64.
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wurde dem Jugendamt übertragen, das die Kinder des Beschwerdeführers in einer Pflegefamilie unterbrachte. Die zuständigen Gerichte lehnten den Antrag des Beschwerdeführers ab, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für seine beiden Kinder zu übertragen255. Das Oberlandesgericht ging davon, dass er zwar grundsätzlich in der Lage sei, die Kinder zu erziehen bzw. zu versorgen, es für das Kindeswohl aber besser sei, wenn sie in der Pflegefamilie verblieben. Die in ihrer Entwicklung gestörten Kinder benötigten besonders qualifizierte Betreuung und Förderung, die er nicht gewährleisten könne256. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG statt. Dabei nahm sie folgende Senatsmaßstäbe257 in Bezug: „Die Maßnahme der Trennung eines Kindes von seiner Familie ist als stärkster Eingriff in das Elternrecht nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar.“258 „Zwar stellt das Kindeswohl in der Beziehung zum Kind die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung dar. Das bedeutet aber nicht, dass es zur Ausübung des Wächteramtes des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gehöre, gegen den Willen der Eltern für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Das Grundgesetz hat die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg des Kindes nach Abschluss der Grundschule zunächst den Eltern als den natürlichen Sachwaltern für die Erziehung des Kindes belassen. Die primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes in der Regel am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei wird die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch den Entschluss der Eltern wirkliche oder vermeintliche Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben betriebenen Begabtenauslese vielleicht vermieden werden könnten (. . .).“259 „Es verstößt auch weiterhin nicht gegen das Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes aus Art. 6 Abs. 2 GG, dass ein Kind nach § 1626a Abs. 2 BGB zunächst rechtlich allein der Mutter zugeordnet und grundsätzlich ihr die Personensorge übertragen ist (. . .).“260 „Die grundsätzliche Zuweisung des Sorgerechts an die Mutter des nichtehelichen Kindes nach § 1626a Abs. 2 BGB ist auch deswegen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, weil der Gesetzgeber mit § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB denjenigen Eltern, die für ihr nichteheliches Kind gemeinsam Sorge tragen wollen, inzwischen die Möglichkeit eingeräumt hat, durch übereinstimmende Sorgeerklä255
BVerfGK 7, 65 f. BVerfGK 7, 65, 66. 257 Der Maßstab BVerfGE 92, 122, 125, behandelt Fragen der Prozesskostenhilfe und kann daher vernachlässigt werden. 258 BVerfGE 60, 79; ebenso BVerfGE 79, 51, 60. 259 BVerfGE 60, 79, 94. 260 BVerfGE 107, 150, 169; jüngst bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 21.07.2010 – 1 BvR 420/09, B der Gründe. 256
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rungen schon bei der Geburt des Kindes auch rechtlich gemeinsam die Sorge zu tragen.“261
Nach Auffassung der Kammer gebiete das Elternrecht des Beschwerdeführers § 1680 Abs. 2 Satz 2 BGB in einer Weise auszulegen, die der primären Entscheidungszuständigkeit der leiblichen Eltern gerecht werde. Wenn der nach § 1626a BGB nicht sorgeberechtigte Vater über einen längeren Zeitraum die elterliche Sorge tatsächlich wahrgenommen habe, diene eine Sorgerechtsübertragung regelmäßig dem Kindeswohl, solange nicht konkret feststellbare Kindesinteressen dem entgegenstehen würden262. ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden Dieses Ergebnis könnte sich auf zwei Senatsmaßstäbe stützen lassen. Zum einen der Maßstab, dass die Trennung eines Kindes von der Familie als stärkster Eingriff in das Elternrecht verhältnismäßig sein muss, zum anderen, dass die primäre Entscheidungszuständigkeit bei den Eltern liegt, da sie die Interessen der Kinder am besten wahrnehmen können. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, stellt man fest, dass eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nicht möglich ist. Während der erste Maßstab eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und somit eine Abwägung verlangt, enthält der zweite eine Aufgabenzuweisung. Insbesondere fehlen Kriterien für die Abwägung. Von ihrer Struktur her betrachtet entsprechen die beiden Maßstäbe Prinzipien, denn es fehlt das Konditionalschema. Prinzipien müssen für den zu entscheidenden Fall eine Richtung vorgeben. Diese Voraussetzung erfüllen beide Maßstäbe. Die Trennung ist nur möglich, wenn sie verhältnismäßig ist und die primäre Entscheidungszuständigkeit für das Kind liegt bei den Eltern. Zu berücksichtigen ist bei der Bewertung der Senatsmaßstäbe ferner, dass es sich um eine einfachrechtliche Fragestellung handelt, die am Maßstab der Verfassung überprüft wird, nämlich die Auslegung von § 1680 Abs. 2 Satz 2 BGB. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind geringer als bei einer originär verfassungsrechtlichen Frage. Vor diesem Hintergrund tragen die Senatsmaßstäbe die konkrete Kammerentscheidung. gg) Bewertende Zusammenfassung Insgesamt lässt sich zu den Senatsmaßstäben in diesem Bereich Folgendes feststellen: Auf der einen Seite existieren im Bereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG inhaltlich konkret formulierte Senatsmaßstäbe. Gemeint 261 262
BVerfGE 107, 150, 171. BVerfGK 7, 65 ff.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
sind solche, die sich direkt zu einer Rechtsfrage verhalten. So etwa die Maßstäbe, die sich zur grundsätzlichen Zuordnung eines nichtehelichen Kindes zur Mutter nach § 1626a Abs. 2 BGB äußern. Sie erlauben eine Subsumtion ohne weitere abstrakte Zwischenschritte. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, dass viele Maßstäbe eher abstrakt gehalten sind und eine direkte Subsumtion schwer zulassen. Dies wird augenscheinlich, wenn man sie mit denen vergleicht, die zum Tatbestandsmerkmal der Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG existieren263. Einschränkend ist aber zur Vergleichbarkeit anzumerken, dass diese Fragestellung sehr eingegrenzt ist. Bei den Maßstäben handelt es sich häufig um inhaltliche Beschreibungen des Elternrechts, die aber bei der konkreten Entscheidung nicht weiterhelfen. So etwa der Maßstab, dass die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Elternrechts in erster Linie dem Schutz des Kindes gilt, auf dem Grundgedanken beruht, dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution und in der Beziehung zum Kind dessen Wohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege sein muss. Einige Maßstäbe enthalten eine Aufgabenzuweisung an den Staat, wie der, dass die Gerichte eine Entscheidung unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen bzw. Grundrechtspositionen treffen müssen, wenn die Eltern sich nicht über die Ausübung des Umgangsrechts einigen können. Da die überwiegende Mehrzahl der Senatsmaßstäbe, von ihrer Struktur her betrachtet, Prinzipien entsprechen, müssen sie für die Falllösung nur eine Richtung vorgeben. Diesem Erfordernis werden sie gerecht. Denn es kommt noch hinzu, dass es sich häufig um einfachrechtliche Fragestellungen handelt, die am Maßstab der Verfassung überprüft werden. Als Konsequenz daraus sind die Anforderungen in die inhaltliche Bestimmtheit geringer. Die zu Art. 6 Abs. 2 GG verwendeten Senatsmaßstäbe reichen tendenziell aus, um die Entscheidungskompetenz der Kammern nach § 93c Abs. 1 Satz 1 GG in den vorgestellten Beschlüssen zu begründen.
IV. Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit Im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 trafen die Kammern des Bundesverfassungsgerichts insgesamt 16 Entscheidungen, die in diesen Bereich thematisch eingeordnet werden können264. Nur zwei Verfassungsbeschwerden waren erfolgreich. Während die eine Stattgabe die Einreiseverweigerung für den geistlichen Führer einer religiösen Vereinigung (Mun) und damit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zum Gegenstand hatte265, 263 264 265
Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. b) bb) und cc). Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 3. BVerfGK 9, 371 ff.
IV. Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit
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ging es bei der anderen um Art 5 Abs. 3 Satz 1 GG und die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit medizinischer Hochschullehrer bei gegenüber der Hochschule organisatorisch verselbstständigtem Uniklinikum266. Die grundrechtlichen Rügen insgesamt betrafen im Bereich Religionsfreiheit und Schule beispielsweise den Heimunterricht für schulpflichtige Kinder267, den Ausschluss einer Lehramtskandidatin vom Vorbereitungsdienst wegen der Weigerung, auf das Tragen eines Kopftuchs während dem Unterricht zu verzichten268 oder die Pflicht zur Teilnahme am Ethikunterricht ohne Abmeldemöglichkeit in Berlin269. Im Bereich der Wissenschaftsfreiheit ging es etwa um die Zusammensetzung eines Hochschulsenats270, die Aufhebung eines juristischen Studiengangs durch eine Universität271 oder die landesgesetzliche Verpflichtung der Hochschulen zur Umstellung der Studiengänge auf das Bachelor- bzw. Mastersystem272. Schließlich wurde die Gewissensfreiheit relevant, als ein Beschwerdeführer keinen finanziellen Beitrag für einen Krieg leisten wollte und daher die volle Entrichtung der Einkommensteuer verweigerte273. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Die Untersuchung in diesem Bereich beschränkt sich auf das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG und der Frage, ob diese tatsächlich bereits entschieden war. Denn es existieren keine Beschlüsse, in denen die Kammern auf die Tatbestandsmerkmale angezeigt oder offensichtliche Begründetheit näher eingehen. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Im Fokus der nachfolgenden Betrachtung stehen zunächst die beiden Stattgabebeschlüsse. Einer betraf den Konflikt von Trägern der Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Hochschule. Dies rechtfertigt die Betrachtung 266 267 268 269 270 271 272 273
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
12, 440 ff. 1, 141 ff. 7, 320 ff. 10, 423 ff. 2, 29 ff. 5, 135 ff. 12, 17 ff. 11, 128 ff.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
der Gewährleistung von Wissenschaftsfreiheit innerhalb der Hochschule und im Verhältnis zum Staat. Zusätzlich soll das Verhältnis von Religionsfreiheit und Schule untersucht werden. Dort gab es in jüngerer Zeit Konflikte mit Eltern, die ihre Kinder aus religiösen Erwägungen vom Schulbesuch fernhielten. Aufgrund von nur zwei stattgebenden Beschlüssen sollen einige begründete Nichtannahmebeschlüsse in die Untersuchung miteinbezogen werden, um so die Grundlage zu erweitern. a) Religionsfreiheit und Schulpflicht Der Schutzbereich der Religionsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht weit ausgelegt. Demnach gehört zu ihr nicht nur die innere Freiheit, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben bzw. die äußere Freiheit, diesen Glauben auch nach außen manifestieren zu dürfen. Sie umfasst ebenfalls das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln274. Diese weite Auslegung führt zwangsläufig zu verstärkten Kollisionen mit anderen Grundrechten oder Gütern von Verfassungsrang275. Die Religionsfreiheit kann im Bereich der Schule mit dem Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG bzw. der Schulpflicht in Konflikt geraten. aa) BVerfGK 1, 141 Die Beschwerdeführer, Eltern und deren schulpflichtige Kinder, gehören einer bibelgläubigen christlichen Gemeinschaft an und lehnen den Besuch staatlicher Schulen aus religiösen Gründen ab276. Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts nahm die u. a. auf eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde unter Verwendung der nachfolgenden Senatsmaßstäbe277 nicht zur Entscheidung an: „Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubensund Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (. . .). Dem 274
BVerfGE 32, 98, 106. Zur Problematik des weiten Schutzbereichs mit Ansätzen zu dessen Begrenzung siehe v. Ungern-Sternberg, in: Rensen/Brink, S. 247 ff. 276 BVerfGK 1, 141, 142. 277 Die Maßstäbe BVerfGE 85, 191, 206; 97, 186, 197, behandeln zwar Art. 3 Abs. 3 GG, knüpfen aber nicht an das Merkmal Glauben bzw. religiöse Anschauung an. Der Maßstab BVerfGE 82, 126, 146, äußert sich nicht zur Ungleichbehandlung von nicht schulbesuchspflichtigen Kindern aus beruflichen Gründen und Schulverweigerern. Vielmehr geht es um die Ungleichbehandlung von Angestellten und Arbeitern. 275
IV. Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit
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entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.“278 „Der Erziehungsauftrag des Staates ist eigenständig und dem Erziehungsrecht der Eltern gleichgeordnet; weder dem Elternrecht noch dem Erziehungsauftrag des Staates kommt ein absoluter Vorrang zu.“279 „Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts280 sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (. . .).“281 „Eine solche Schule, die Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen weltanschaulich-religiösen Auffassungen, wenn auch von einer bestimmten weltanschaulichen Orientierungsbasis her bietet, führt Eltern und Kinder nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt.“282 „Aufgrund der Vorschriften des Grundgesetzes (Art. 4, Art. 3, Art. 33 Abs. 3 Satz 2 GG) können die Eltern allerdings die gebotene Zurückhaltung und Toleranz bei der Durchführung der Sexualerziehung verlangen. Die Schule muss den Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen.“283
Die Kammer ging davon aus, dass die Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags diene. Sie sei zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich284. Im Rahmen dieses Auftrags gehe es nicht nur um die Wissensvermittlung, sondern ebenfalls um die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger. Es sei keine Fehleinschätzung, die bloße staatliche Kontrolle von Heimunterricht bezüglich der Vermittlung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz als nicht gleich wirksam zu bewerten285. Die Pflicht zum Besuch einer staatlichen Schule stehe auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewinn, den die Erfüllung dieser Pflicht für den staatlichen Erziehungsauftrag erwarten lasse. Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes In278
BVerfGE 93, 1, 17. BVerfGE 52, 223, 236. 280 Die Einordnung von Art. 4 Abs. 1 GG als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht durch das Bundesverfassungsgericht wird nicht von allen unterstützt. So gibt es Stimmen, die für eine Einschränkung des Grundrechts durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV eintreten, so etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rn. 28; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 4 Rn. 87 ff.; Muckel, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art. 4 Rn 52 (m. w. N.). 281 BVerfGE 93, 1, 21. 282 BVerfGE 41, 29, 51 f. 283 BVerfGE 47, 46, 77. 284 BVerfGK 1, 141, 143. 285 BVerfGK 1, 141, 143. 279
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
teresse, die Entstehung von religiösen oder weltanschaulichen Parallelgesellschaften zu verhindern und Minderheiten zu integrieren286. bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Entscheidung der Kammer tragen. Es handelt sich um einen begründeten Nichtannahmebeschluss. Die Kammer verneinte sowohl die Grundsatzannahme als auch die Durchsetzungsannahme. Inhaltlich geht es um die Lösung des Konflikts zwischen der Religionsfreiheit auf der einen Seite und dem staatlichen Erziehungsauftrag auf der anderen Seite. In Betracht kommen zwei Maßstäbe. Zum einen der Maßstab, nach dem der Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen ist. Zum anderen der, nach dem eine Schule, die Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen weltanschaulich-religiösen Auffassungen lässt, Eltern und Kinder in keinen unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt führt. Beide Maßstäbe erlauben keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Der erste Maßstab ist inhaltlich schlicht zu allgemein. Denn der Grundsatz der praktischen Konkordanz erfasst jede beliebige Konstellation, in der etwa zwei vorbehaltlos garantierte Grundrechte untereinander oder mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern kollidieren. Er enthält gerade keine Leitlinien für die nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz durchzuführende Abwägung und somit keine Anhaltspunkte wie der konkrete Fall zu entscheiden ist. Der zweite Maßstab ist zwar inhaltlich etwas konkreter, das Ergebnis der Kammerentscheidung lässt sich jedoch nicht durch Subsumtion unter den Maßstab erzielen. Aufbautechnisch sind beide Maßstäbe als Prinzipien einzuordnen. Betrachtet man wiederum den ersten Maßstab, ergibt sich aus ihm keine Richtung für die Falllösung. Über ihn könnte jedes beliebige Ergebnis begründet werden. Der zweite Maßstab vermag zumindest eine Richtung für die Lösung des konkreten Falles dergestalt vorzugeben, dass der Besuch einer Schule, die Raum für weltanschaulich-religiöse Auffassungen lässt, nicht von vornherein unzumutbar ist. Es kommt jedoch hinzu, dass es sich bei der Lösung des eingangs beschriebenen Konfliktes um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe sind folglich höher. Vor diesem Hintergrund vermag auch der zweite Maßstab keine Richtung für die Falllösung vorzugeben. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. 286
BVerfGK 1, 141 ff.
IV. Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit
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cc) BVerfGK 8, 151 Die Beschwerdeführer sind Eltern von drei schulpflichtigen Töchtern und sehen sich durch ihren Glauben verpflichtet, bei der Kindererziehung den Maßstäben und Vorgaben der Bibel wortgetreu zu folgen287. Um ihre Kinder von Einflüssen fernzuhalten, die den Geboten Gottes zuwiderlaufen, hielten sie ihre Töchter seit Beginn des Schuljahres 2001/2002 vom Unterricht fern, worauf das Landgericht sie in der Berufung wegen dauerhafter Entziehung anderer von der Schulpflicht verurteilte288. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde unter Verweis auf die nachfolgenden Senatsmaßstäbe nicht zur Entscheidung an: „Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln (. . .).“289 „Deshalb schließt dieses Grundrecht auch das Recht der Eltern ein, ihren Kindern die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu vermitteln.“290 „Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.“291 „Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, dass es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. (. . .) Allerdings erteilt Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag.“292 „Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (. . .).“293 „Der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen.“294 „Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. 287 288 289 290 291 292 293 294
BVerfGK 8, 151. BVerfGK 8, 151 f. BVerfGE 93, 1, 15; ausführlich BVerfGE 32, 98, 106. BVerfGE 41, 29, 47. BVerfGE 93, 1, 17. BVerfGE 93, 1, 21; ähnlich BVerfGE 34, 165, 181 f. BVerfGE 93, 1, 21. BVerfGE 47, 46, 72; angedeutet in BVerfGE 34, 165, 182.
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Er darf daher den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden.“295 „Danach sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (. . .).“296 „Vor allem dürfen die Gesetze daher die Würde des Menschen nicht verletzen, die im Grundgesetz der oberste Wert ist, aber auch die geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit des Menschen nicht so einschränken, dass sie in ihrem Wesensgehalt angetastet würde (. . .).“297 „Die sich aus Art. 4 Abs. 1 GG ergebende Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren, muss zu einem Zurückweichen des Strafrechts jedenfalls dann führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber die kriminelle Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde.“298 „Es [das Grundgesetz] verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger.“299 „Zwar hat er [der Einzelne] in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet Art. 4 Abs. 1 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind (. . .).“300
Die Begründung der Kammer entspricht überwiegend der in BVerfGK 1, 141. So stelle die Verpflichtung der Beschwerdeführer, ihre Kinder am Schulunterricht teilnehmen zu lassen, eine zulässige Beschränkung des El295
BVerfGE 93, 1, 16 f.; ähnlich BVerfGE 108, 282, 300. BVerfGE 108, 282, 300. 297 BVerfGE 6, 32, 41; ähnlich in BVerfGE 27, 1, 6; 30, 173, 193. Die Kammer wendet den Senatsmaßstab wie folgt an: „Die Glaubensfreiheit ist als Teil des grundrechtlichen Wertsystems dem Gebot der Toleranz zugeordnet und insbesondere auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen bezogen, die als oberster Wert das gesamte grundrechtliche Wertsystem beherrscht“, BVerfGK 8, 151, 154. 298 BVerfGE 32, 98, 109. 299 BVerfGE 108, 282, 299. 300 BVerfGE 93, 1, 16. 296
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ternrechts dar301. Die allgemeine Schulpflicht diene dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags und sei hierfür geeignet bzw. erforderlich. Es gehe nicht nur um die Wissensvermittlung, sondern ebenfalls um die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger und die Verhinderung von religiösen oder weltanschaulichen Parallelgesellschaften302. Es sei von Verfassungs wegen zulässig, dass der Schulunterricht meinungsund wertepluralistisch ausgerichtet sei. Es sei keine Missachtung des staatlichen Neutralitätsgebots zu erkennen303. Schließlich sei die Verhängung einer Sanktion auch im Lichte von Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG nicht unverhältnismäßig. Der Konflikt zwischen dem strafbewehrten Handlungsgebot, nämlich der Teilnahme der Kinder am Schulunterricht, und den eigenen Glaubensüberzeugungen gestalte sich nicht derart ausweglos, dass sich die Beschwerdeführer dem Verbotsgesetz widersetzen durften304. dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die konkrete Kammerentscheidung tragen. Im Kern geht es wiederum um den Konflikt zwischen der Religionsfreiheit der Beschwerdeführer einerseits und dem staatlichen Erziehungsauftrag andererseits, dessen Durchsetzung hier mit den Mitteln des Strafrechts sichergestellt werden soll. Die Entscheidung der Kammer könnte auf den Maßstab gestützt werden, nach dem der vorliegende Konflikt im Wege der praktischen Konkordanz zu lösen ist. Dieser Maßstab ist jedoch nach allen Bewertungskriterien ungeeignet, eine Kammerentscheidung zu tragen, wie bereits die Prüfung des vorangegangenen Falles gezeigt hat305. Ähnlich fällt das Ergebnis aus, wenn man den Maßstab heranzieht, nach denen der Staat in der Schule eigene Erziehungsziele verfolgen kann. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist nicht möglich. Der Maßstab ist zu allgemein gefasst. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich um ein Prinzip handelt, wird keine Richtung für die Falllösung vorgegeben. Zudem handelt es sich hier um eine originär verfassungsrechtliche Frage, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit höher sind. In Betracht kommt noch der Maßstab, nach dem das Strafrecht zurückweichen muss, wenn der konkrete Konflikt den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber 301 302 303 304 305
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK Siehe die
8, 151, 155. 8, 151, 155. 8, 151, 156. 8, 151, 157. Ausführungen unter D. IV. 2. a) bb).
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sich die kriminelle Bestrafung als übermäßige Reaktion darstellt. Der Maßstab erlaubt keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Formel von Mahrenholz. Die Kammer musste im vorliegenden Fall prüfen, ob der Schulbesuch ihrer Kinder die Beschwerdeführer in eine derartige seelische Bedrängnis gebracht hat, dass die strafrechtliche Verurteilung sich als übermäßige Reaktion darstellt. Der Maßstab lässt jedoch offen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit der konkrete Konflikt den Täter in die beschriebene seelische Bedrängnis bringt. Die fallentscheidende Frage bleibt offen. Strukturell betrachtet, handelt es sich um eine Regel, da der Maßstab ein Konditionalschema enthält. Zur Frage der Subsumierbarkeit ist die Mahrenholzsche Formel vorrangig. An dieser Stelle kann offen bleiben, ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt oder ob es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung geht. Selbst wenn man von der zweiten Variante ausginge, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind, wird der Maßstab diesem Erfordernis nicht gerecht. Denn er vermag die offene Frage immer noch nicht zu beantworten. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. ee) BVerfGK 9, 371 Sun Myung Mun und Hak Ya Han Mun wurden auf Bitte des Bundesministerium des Innern durch die Grenzschutzdirektion Koblenz nach Art. 96 Abs. 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben306. Mun ist Gründer der weltweit vertretenen Vereinigungskirche und wollte 1995 im Rahmen einer Welttour in die Bundesrepublik einreisen. Der Beschwerdeführer ist eingetragener Verein, dessen Mitglieder zur religiösen Vereinigung gehören, und wendet sich gegen diese Ausschreibung307. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG statt, wobei sie sich auf folgende Maßstäbe stützte: 306
Art. 96 Abs. 2 SDÜ lautet: (2) Die Entscheidungen können auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit, die die Anwesenheit eines Drittausländers auf dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei bedeutet, gestützt werden. Dies kann insbesondere der Fall sein a. bei einem Drittausländer, der wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bedroht ist; b. bei einem Drittausländer, gegen den ein begründeter Verdacht besteht, dass er schwere Straftaten, einschließlich solcher im Sinne von Art. 71 begangen hat, oder gegen den konkrete Hinweise bestehen, dass er solche Taten in dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei plant. 307 BVerfGK 9, 371, 372 f.
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„Als eine Vereinigung, die sich die Pflege und Förderung eines religiösen Bekenntnis und die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder zum Zweck gesetzt hat, ist die Beschwerdeführerin Trägerin des Grundrechts der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Die Grundrechtsträgerschaft ist unabhängig von dem Erwerb der Rechtsfähigkeit als eingetragener Verein des Privatrechts (. . .), der erst im Laufe dieses Verfahrens erfolgt ist.“308 „Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ist nicht nur die Freiheit des Einzelnen zum privaten Bekenntnis, nicht nur die Freiheit des Einzelnen zum öffentlichen Bekenntnis, sondern auch die Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses zum Zwecke des gemeinsamen öffentlichen Bekenntnisses, insbesondere die Freiheit der Kirchen in ihrer historisch gewordenen Gestalt zum Bekenntnis gemäß ihrem Auftrag.“309 „Zwar können nicht allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, für diese und ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG rechtfertigen; vielmehr muss es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln.“310 „Danach verfolgen die Beschwerdeführer ausweislich ihrer Satzungen jeweils den Zweck, gemeinschaftlich die Lehren des Osho-Rajneesh zu pflegen. Diese bestimmten, wie es das Oberverwaltungsgericht ausgedrückt hat, die Ziele des Menschen, sprächen ihn im Kern seiner Persönlichkeit an und erklärten auf eine umfassende Weise den Sinn der Welt und des menschlichen Lebens.“311 „Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass sich die Beschwerdeführer wie die Osho-Bewegung insgesamt auch wirtschaftlich betätigen.“312 „Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“313 „Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität (. . .) verwehrt es dem Staat, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Mangels Einsicht und geeigneter Kriterien darf der neutrale Staat im Bereich genuin religiöser Fragen nichts regeln und bestimmen.“314 308
BVerfGE 102, 370, 383; ähnlich BVerfGE 105, 279, 293. BVerfGE 42, 312, 323; ähnlich BVerfGE 19, 129, 132; 70, 138, 161; 99, 100, 118; 102, 370, 383; 105, 279, 293. 310 BVerfGE 83, 341, 353. 311 BVerfGE 105, 279, 293. 312 BVerfGE 105, 279, 293. 313 BVerfGE 24, 236, 246. 314 BVerfGE 102, 370, 394; ähnlich BVerfGE 12, 1, 4. 309
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 GG geben für einen solchen Anspruch [grundrechtlicher Anspruch auf Einreise und Aufenthalt] nichts her.“315 „Die religiöse Vereinigungsfreiheit gebietet allerdings, das Eigenverständnis der Religionsgesellschaft, soweit es in den Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 G geschützten Religionsausübung verwirklicht, bei der Auslegung und Handhabung des einschlägigen Rechts, hier des Vereinsrechts des Bürgerlichen Gesetzbuchs, besonders zu berücksichtigen (. . .).“316 „Der Grundrechtsträger muss sein Handeln nicht an den Interessen des Staates orientieren. Dies aber würde man von einer Religionsgemeinschaft verlangen, die ihr Wirken auf die Ziele des Staates, seine Verfassungsordnung und die dort niedergelegten Werte „loyal“ auszurichten hätte.“317 „Dieser Wechselwirkung von Kirchenfreiheit und Schrankenzweck ist durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen.“318
Die Kammer beanstandete die Wertung des Oberverwaltungsgerichts, dass der geplante Besuch der Eheleute Mun keine besondere Bedeutung für die Religionsausübung und keinen spezifisch religiösen Gehalt für die Mitglieder des Beschwerdeführers hätte. Dies sei eine Gewichtung genuin religiöser Belange aus dem Binnenbereich, die dem Gericht als staatlicher Stelle verwehrt sei319. Zudem verlange die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nach Art. 96 Abs. 2 Satz 2 SDÜ das Vorliegen von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit, wobei die Gefahr eine gewisse Erheblichkeit aufweisen müsse. Dies sei bereits nicht offenkundig320. ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung tragen. Inhaltlich werden zwei Fragen aufgeworfen. Zum einen geht es um die Auslegung von Art. 96 Abs. 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens, zum anderen um das Verbot der Bewertung genuin religiöser Fragen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. In Bezug auf das Verbot der Gewichtung religiöser Belange existiert ein entsprechender Senatsmaßstab. Demnach ist es dem Staat nach dem Grund315 BVerfGE 76, 1, 47, die Kammer überträgt die Wertung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. 316 BVerfGE 83, 341, 356; ähnlich BVerfGE 24, 236, 251; 53, 366, 401. 317 BVerfGE 102, 370, 395. 318 BVerfGE 72, 278, 289. 319 BVerfGE 9, 371, 379. 320 BVerfGK 9, 381, 380.
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satz religiös-weltanschaulicher Neutralität verwehrt, den Glauben und die Lehre einer Religionsgemeinschaft zu bewerten, da ihm die Einsicht und geeignete Kriterien fehlten. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, kommt man zum Ergebnis, dass eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte möglich ist. Vom Aufbau her betrachtet, handelt es sich um ein Prinzip, da der konditionale Aufbau fehlt. Mit dem Grundsatz der religiösweltanschaulichen Neutralität wird eine Richtung für die Falllösung vorgegeben. Es handelt sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage mit der Konsequenz, dass der Senatsmaßstab die Entscheidung inhaltlich tragen muss und keine geringeren Anforderungen an die Bestimmtheit gestellt werden können. Diesen Erfordernissen genügt der Maßstab. Im Hinblick auf die Auslegung von Art. 96 Abs. 2 Satz 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens – nach Ansicht der Kammer fehlt das erforderliche Gefahrenpotential – kommt als Grundlage der Senatsmaßstab in Betracht, bei dem es um die Berücksichtigung der Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bei der Auslegung des einschlägigen Rechts geht. Nach der Formel von Mahrenholz ist hier eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nicht möglich. Der Maßstab formuliert nur eine Auslegungsregel. Strukturell betrachtet, handelt es sich bei dem Maßstab um ein Prinzip, sodass eine Richtung für die Falllösung vorgegeben werden muss. Dieses Erfordernis wird erfüllt. Denn es handelt sich um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind. Vor diesem Hintergrund erfüllt der Senatsmaßstab die inhaltlichen Anforderungen. Die verwendeten Maßstäbe tragen die Kammerentscheidung im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage. gg) BVerfGK 10, 423 Die Beschwerdeführer, wiederum Eltern und ihre schulpflichtige Tochter, sind evangelische Christen. Sie wenden sich gegen eine Regelung im Berliner Schulgesetz, nach der eine Pflicht zur Teilnahme am Fach Ethik besteht, ohne die Möglichkeit, eine Abmeldung zuzulassen, wenn gleichzeitig das Fach Weltanschauungs- und Religionsunterricht belegt wird, dessen Belegung freiwillig ist. Mit anderen Worten ist eine Befreiung von der Pflicht zum Besuch des Ethikunterrichts für Schüler nicht vorgesehen, die am Religionsunterricht teilnehmen321. Die zuständige Kammer nahm die u. a. auf eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gestützte Verfassungsbe321
BVerfGK 10, 423 f.
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schwerde unter Bezugnahme auf die nachfolgenden Senatsmaßstäbe322 nicht zur Entscheidung an: „Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln (. . .).“323 „Deshalb schließt dieses Grundrecht auch das Recht der Eltern ein, ihren Kindern die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu vermitteln.“324 „Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.“325 „Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, dass es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. (. . .) Allerdings erteilt Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat einen Erziehungsauftrag.“326 „Der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen.“327 „Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zurechenbare Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden.“328 „Dieser Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern ist nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (. . .).“329 „Das Bundesverfassungsgericht hat daraus [Auflösung des Konflikts zwischen Art. 4 und Art. 7 GG durch den Landesgesetzgeber] den Schluss gezogen, dass dem Landesgesetzgeber die Einführung christlicher Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Volksschulen nicht schlechthin verboten ist, mögen auch Erziehungs322 Die Maßstäbe BVerfGE 77, 381, 401; 80, 40, 45, betreffen den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei Eilentscheidungen und können daher vernachlässigt werden. Ebenso die Maßstäbe BVerfGE 79, 275, 279; 93, 1, 13, bei denen es um Ausnahmen vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung geht. 323 BVerfGE 93, 1, 15; ausführlich BVerfGE 32, 98, 106. 324 BVerfGE 41, 29, 47. 325 BVerfGE 93, 1, 17. 326 BVerfGE 93, 1, 21; ähnlich BVerfGE 34, 165, 181 f. 327 BVerfGE 47, 46, 72; angedeutet in BVerfGE 34, 165, 182. 328 BVerfGE 108, 282, 300; ähnlich BVerfGE 93, 1, 16 f. 329 BVerfGE 93, 1, 21.
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berechtigte, die bei der Erziehung ihrer Kinder dieser Schule nicht ausweichen können, keine religiöse Erziehung wünschen.“330 „Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidlich sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nach einem Ausgleich gesucht werden (. . .).“331 „Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes zu lösen, obliegt dem Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat.“332 „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“333 „Dieser Auftrag des Staates [Erziehungsauftrag], den Art. 7 Abs. 1 GG voraussetzt, hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden.“334 „Der Bund hat auf diesem Gebiet [Schulwesen] weder eine Gesetzgebungsbefugnis (Art. 70 ff. GG) noch eine Verwaltungshoheit (Art. 30 GG). Daraus ergibt sich eine weitgehende eigenständige Gestaltungsfreiheit der Länder bei der Festlegung der Schulorganisation sowie der Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände. Sie ist nur eingeschränkt, soweit übergeordnete Normen des Grundgesetzes ihr Grenzen setzen (. . .). Schon aus diesem Grunde muss sich das Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung schulrechtlicher Regelungen der Bundesländer große Zurückhaltung auferlegen.“335 „Zwar hat er [der Einzelne] in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. (. . .).“336
Die Kammer begründete die Nichtannahme im Wesentlichen damit, dass ein einseitig an den Überzeugungen eines bestimmten Glaubens orientierter Pflichtunterricht ebenso wenig mit den Senatsmaßstäben vereinbar wäre wie eine Abschottung der Schüler von den in der Gesellschaft vertretenen moralisch-ethischen und religiösen Positionen337. Dem Landesgesetzgeber obliege, für einen Ausgleich zwischen den Rechten aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 GG auf der einen Seite sowie dem staatlichen Erziehungsauf330 331 332 333 334 335 336 337
BVerfGE 93, 1, 23. BVerfGE 108, 282, 301; ähnlich BVerfGE 93, 1, 22 f. BVerfGE 93, 1, 22. BVerfGE 108, 282, 300. BVerfGE 47, 46, 72; ähnlich BVerfGE 93, 1, 20. BVerfGE 53, 185, 196; ebenso BVerfGE 59, 360, 377; 75, 40, 67. BVerfGE 93, 1, 16. BVerfGK 10, 423, 431.
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trag auf der anderen Seite im Wege der praktischen Konkordanz zu sorgen. Er dürfe hierbei das Ziel verfolgen, religiöse oder weltanschauliche Parallelgesellschaften zu verhindern. Ebenso die Integration religiöser oder weltanschaulicher Minderheiten338. Dem Landesgesetzgeber sei es, im Rahmen seines die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Leitung und Planung des Schulwesens umfassenden Auftrags, grundsätzlich unbenommen, eine solche Regelung zu treffen339. Schließlich gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Ethikunterricht im Land Berlin nicht religiös oder weltanschaulich neutral wäre340. hh) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die konkrete Entscheidung tragen. Wiederum geht es im Wesentlichen um den Konflikt zwischen der Religionsfreiheit und dem staatlichen Erziehungsauftrag. Wie bereits gezeigt vermag der Maßstab, der zur Lösung dieser Kollision die Anwendung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz vorsieht, die Entscheidung nicht zu tragen341. In Betracht könnte der Maßstab kommen, nach dem das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit durch den Landesgesetzgeber zu lösen ist. Vorliegend geht es aber nicht um dieses Spannungsverhältnis, sondern um den Konflikt zwischen Religionsfreiheit und staatlichem Erziehungsauftrag. Der Maßstab passt somit inhaltlich nicht. Insgesamt findet sich kein Maßstab, der annähernd die Kammerentscheidung inhaltlich trägt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. ii) Bewertende Zusammenfassung Betrachtet man die verwendeten Senatsmaßstäbe insgesamt, lässt sich feststellen, dass die, die sich mit dem Schutzbereich der Religionsfreiheit beschäftigen, ohne weiteres für die direkte Subsumtion geeignet sind, finden sie sich doch in jedem gängigen Lehrbuch zu den Grundrechten342. Geht es aber um die fallentscheidende Frage der Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und dem staatlichen Erziehungsauftrag, sind sie sehr abstrakt formuliert und erlauben überwiegend keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Exemplarisch kann 338 339 340 341 342
BVerfGK 10, 423, 431. BVerfGK 10, 423, 433. BVerfGK 10, 423, 434. Siehe die Ausführungen unter D. IV. 2. a) bb). Statt vieler Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 548 ff.
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auf den Maßstab verwiesen werden, nach dem der Konflikt zwischen verschiedenen Trägern eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts sowie zwischen diesem Grundrecht und anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen ist. Notwendig wären vielmehr Leitlinien für die Abwägung, wie etwa die Drei-StufenTheorie bei Art. 12 Abs. 1 GG oder die Sphärentheorie beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Bei den von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäben handelt es sich, von ihrem Aufbau her betrachtet, weit überwiegend um Prinzipien: Es existieren zwei Maßstäbe, die dem Konditionalschema entsprechen. Zum einen der Maßstab, dass der Staat die friedliche Koexistenz der weltanschaulichen Überzeugungen nur gewährleisten kann, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität wahrt343. Zum anderen der Maßstab, dass die sich aus Art. 4 Abs. 1 GG ergebende staatliche Pflicht, die ernste Glaubensüberzeugung zu respektieren, zu einem Zurückweichen des Strafrechts führen muss, wenn der konkrete Konflikt den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt und die Sanktionierung sich als übermäßig und gegen seine Menschenwürde verstoßend darstellt344. Vereinzelt gelingt es den Maßstäben als Prinzipien eine Richtung für die Falllösung vorzugeben und damit für eine Kompensation zu sorgen345. Verwundern kann das Fehlen von subsumierbaren Maßstäben hingegen nicht. Denn es ist letztlich eine Konsequenz aus der weiten Auslegung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht. Zwar können die Senate nicht für jeden denkbaren Fall Maßstäbe aufstellen, es dürfte aber möglich sein, solche für die Abwägung zu entwickeln. jj) Inhaltliche Tendenzen Die Kammern nutzen die fehlenden Senatsmaßstäbe, um eigene Akzente zu setzen. So neigen sie bei der Abwägung der Religionsfreiheit gegenüber dem staatlichen Erziehungsauftrag eindeutig in Richtung des Letzteren, wenn es um die totale Ablehnung des Schulbesuchs geht346. Die Begründung ist im Grundsatz immer die gleiche, es geht um die Verhinderung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften und die Integration von Minderheiten in diesem Bereich. Integration setze in diesem Zusammenhang voraus, dass die Mehrheit die Minderheit nicht ausgrenze, die Minderheit wiederum sich aber der Mehrheit nicht verschließe. Des 343
BVerfGE 93, 1, 16 f.; ähnlich BVerfGE 108, 282, 300. BVerfGE 32, 98, 109. 345 Siehe die Ausführungen unter D. IV. 2. a) ff). 346 Dieser Rechtsprechung zustimmend v. Ungern-Sternberg, in: Rensen/Brink, S. 246, 267. 344
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Weiteren gehe es um die Vermittlung sozialer Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung, die beim regelmäßigen Schulbesuch besser zu vermitteln seien347. In diesem Bereich prägen die Kammern somit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst. b) Wissenschaftsfreiheit Während das Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG typischerweise mit den Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung im Allgemeinen und zur Untersuchungshaft im Besonderen in einem Spannungsverhältnis steht348, existiert ein vergleichbares, beschränkt auf einen typischen Konflikt, bei der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht. Vielmehr stellt es sich so dar, dass die Wissenschaftsfreiheit mit mehreren Grundrechten oder Gütern von Verfassungsrang in Konflikt geraten kann349. Die von den Kammern zu entscheidenden Fälle beschäftigen sich im Wesentlichen mit dem Spannungsverhältnis der einzelnen Träger der Wissenschaftsfreiheit untereinander. Träger der Wissenschaftsfreiheit sind u. a. die Hochschullehrer, Privatdozenten und Lehrbeauftragten, aber auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter, Studierenden, sowie die Universität und ihre Fachbereiche bzw. verselbständigten Institute350. aa) BVerfGK 2, 29351 Vor dem Hintergrund der Aufhebung des Studiengangs Rechtswissenschaft an der Technischen Universität Dresden, rügten die Beschwerdeführer, Juraprofessoren, mit der Verfassungsbeschwerde u. a. eine Verletzung ihrer Wissenschaftsfreiheit, da der Senat ihrer Universität nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt sei. Der Senat bestand in der gerügten Zusammen347
BVerfGK 1, 141, 143; 8, 151, 155; 10, 423, 431. Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb). 349 Siehe die Aufzählung in Hufen, StaatsR II, § 34 Rn. 44 ff.; beispielweise der Konflikt zwischen Wissenschaftsfreiheit an theologischen Fakultäten und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht; der Konflikt zwischen empirischer Forschung und informationeller Selbstbestimmung; der Konflikt zwischen Wissenschaftsfreiheit und Tierversuchen. 350 Siehe Epping, Grundrechte, Rn. 283; Hufen, StaatsR II, § 34 Rn. 14 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 672. 351 In BVerfGK 5, 135 ff., geht es ebenfalls um die Aufhebung des Studiengangs Rechtswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Beschwerdeführerin ist hier die juristische Fakultät. Die Verfassungsbeschwerde wurde ebenfalls nicht zur Entscheidung angenommen. 348
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setzung aus dem Rektor, drei Prorektoren, vierzehn Dekanen, drei Vertretern der Gruppe der Hochschullehrer, acht Vertretern der Gruppe der akademischen Mitarbeiter, acht Vertretern der Gruppe der Studenten und drei Vertretern der sonstigen hauptberuflichen Mitarbeiter352. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde unter Bezugnahme folgender Senatsmaßstäbe353 nicht zur Entscheidung an: „Das Verfahrensrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes, der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle.“354 „Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift [§ 123 VwGO] kann vom Bundesverfassungsgericht nur dann beanstandet werden, wenn sie Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte des jeweiligen Antragstellers und seines Anspruchs auf effektiven Rechtschutz beruhen.“355 „Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht nur bei Anfechtungs-, sondern auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (. . .).“356 „Eine hervorgehobene Stellung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen haben die dort tätigen Hochschullehrer inne. Ihnen muss deshalb nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG im Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Hochschule bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer zum Gegenstand haben, ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluss vorbehalten bleiben (. . .).“357 „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gebietet nicht, jedem Professor eines Fachgebiets, das durch eine wissenschaftsrelevante Entscheidung berührt wird, eine Äußerung unmittelbar vor dem Entscheidungsgremium selbst zu ermöglichen. Der einzelne Hochschullehrer muss vielmehr in geeigneter Form zu Gehör kommen (. . .).“358
Nach Auffassung der Kammer sei gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG bei der Verteilung der Stimmanteile in Hochschulgre352
BVerfGK 2, 29, 30. Die Senatsmaßstäbe BVerfGE 68, 376, 380; 77, 381, 400 ff.; 78, 290, 301 f.; 79, 1, 20; 79, 275, 278 f.; 104, 65, 70 f., beschäftigen sich mit Fragen der Subsidiarität und der Zumutbarkeit der Verweisung auf das Hauptsacheverfahren, wenn Eilentscheidungen der Fachgerichte gerügt werden. 354 BVerfGE 35, 263, 274. 355 BVerfGE 79, 69, 74. 356 BVerfGE 79, 69, 74; ähnlich BVerfGE 93, 1, 13. 357 BVerfGE 95, 193, 210. Dieser Maßstab wird zwar in BVerfGK 2, 29, 32, inhaltlich verwendet, aber nicht auf die entsprechende Senatsentscheidung verwiesen. 358 BVerfGE 55, 37, 71; ähnlich BVerfGE 35, 79, 128 f. 353
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mien, die über hinreichend wissenschaftsrelevante Angelegenheiten zu entscheiden haben, den Hochschullehrern im materiellen Sinne als Inhabern der Schlüsselfunktionen des wissenschaftlichen Lebens ein herausgehobenes Gewicht einzuräumen. Es sei jedenfalls nicht so offensichtlich, dass über eine Mehrheit der Hochschullehrer im materiellen Sinne hinaus für eine verfassungsgemäße Zusammensetzung des Senats eine Mehrheit von Senatoren unabdingbar wäre, die durch die Gruppe der Hochschullehrer oder mindestens mit Hochschullehrermehrheit gewählt worden sei359. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts seien die Hochschullehrer im materiellen Sinn in der Mehrheit360. bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Entscheidung der Kammer tragen. In Betracht kommt der Maßstab, nach dem bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder Berufung von Hochschullehrern betreffen, den Hochschullehrern ein ausschlaggebendes Gewicht zukommen muss. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist hier möglich. Die Kammer musste nur prüfen, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind oder nicht. Aufgrund des fehlenden Konditionalschemas ist der Maßstab als Prinzip einzustufen. Eine Richtung für die Falllösung wird vorgegeben. Es kann offen bleiben, ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt oder es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Auslegung am Maßstab der Verfassung geht. Selbst wenn man erhöhte Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit des Maßstabs stellt, wird er diesen gerecht. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war bereits entschieden. cc) BVerfGK 12, 17 Die Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Ruhr Universität Bochum wandte sich im Wege der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit gegen Vorschriften des Landeshochschulrechts. Diese Normen verpflichteten die Hochschulen ab dem Wintersemester 2007/2008 nur noch Studiengänge mit dem Abschluss des Bachelor- oder Mastergrades anzubieten und die anderen Abschlüsse auslaufen zu lassen361. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: 359 360 361
BVerfGK 2, 29, 32. Ebd. BVerfGK 12, 17 f.
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„Denn aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG lässt sich nicht ableiten, dass einer Fakultät oder einem Fachbereich ein verfassungsrechtlich geschütztes autonomes Recht zukommt, ausschließlich über Umfang und Inhalt des Lehrangebots zu bestimmen und dieses allein wahrzunehmen.“362 „Die Hochschulen haben nicht nur die Pflege der reinen Wissenschaft zur Aufgabe, sie erfüllen vor allem auch die Funktion von Ausbildungsstätten für bestimmte Berufe.“363 „Begrenzt ist hingegen die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit im Bereich derjenigen Angelegenheiten, die als ‚wissenschaftsrelevant‘ angesehen werden müssen, d.h. die Forschung und Lehre unmittelbar berühren.“364 „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG enthält neben einem individuellen Freiheitsrecht eine objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm.“365 „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fordert, die Hochschulorganisation und damit auch die hochschulorganisatorische Willensbildung so zu regeln, dass in der Hochschule freie Wissenschaft möglich ist und ungefährdet betrieben werden kann.“366 „Die Hochschulen und ihre Untergliederungen sind ebenso wie die Hochschullehrer gegen hochschulorganisatorische Entscheidungen nur insoweit geschützt, als diese die Erfüllung ihrer Aufgabe, freie Wissenschaft zu ermöglichen, gefährden können.“367 „Solange der Gesetzgeber ein in diesem Sinne hinreichendes Maß an organisatorischer Selbstbestimmung der Grundrechtsträger sicherstellt, ist er frei, den Wissenschaftsbetrieb nach seinem Ermessen zu regeln, um die unterschiedlichen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und die Interessen aller daran Beteiligten in angemessenen Ausgleich zu bringen.“368 „Er ist dabei nicht an überkommene Strukturen gebunden. Vielmehr ist er berechtigt und verpflichtet, den Wissenschafts- und Ausbildungsbetrieb kritisch zu beobachten und zeitgemäß zu reformieren (. . .).“369 „Gegen die Auflösung ihrer Forschungseinrichtung gewährt ihnen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ebenfalls keinen Schutz. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Forschungseinrichtung, bei der ein Forscher arbeitet, fällt nicht in den Schutzbereich seines Individualgrundrechts auf Wissenschaftsfreiheit. Die Organisationsbefugnis des Staates hinsichtlich seiner Einrichtungen wird durch die Grundrechte der dort Tätigen grundsätzlich nicht eingeschränkt (. . .).“370 362
BVerfGE BVerfGE 364 BVerfGE 365 BVerfGE 366 BVerfGE 367 BVerfGE 368 BVerfGE 85, 95. 369 BVerfGE 363
67, 202, 207. 35, 79, 121. 35, 79, 123. 93, 85, 95; ähnlich BVerfGE 111, 333, 353. 111, 333, 353; ähnlich BVerfGE 35, 79, 116 f.; 54, 363, 389 ff. 111, 333, 355. 111, 333, 355; ähnlich BVerfGE 35, 79, 116, 120; 47, 327, 404; 93, 111, 333, 355; ähnlich BVerfGE 67, 202, 207 f.
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„Bei der Auslegung jeder rahmengesetzlichen Vorschrift ist die beschränkte Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu berücksichtigen, die im Zweifel dafür spricht, dass eine Vorschrift auf eine Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber hin angelegt ist (. . .).“371
Nach Auffassung der Kammer habe der Landesgesetzgeber die Grenzen seines Gestaltungsspielraums bei der Neuregelung beachtet, insbesondere beeinträchtige die Verpflichtung, die Diplomstudiengänge zu beenden, nicht die freie Lehre an der Fakultät. In den Regelungen beschränke sich der Gesetzgeber auf strukturelle Vorgaben und überlasse die inhaltliche Ausgestaltung den Fakultäten372. Der Gesetzgeber verfolge das legitime Ziel, die Studienabschlüsse länderübergreifend kompatibel zu machen373. Schließlich liege kein Verstoß gegen Bundesrecht vor, da die landesrechtlichen Normen mit § 18 Abs. 1 Satz 1 HRG374 vereinbar seien. Die Vorschriften seien so zu interpretieren, dass es sich um eine Ermächtigung an die Länder handele, vorerst neben den Bachelor- und Masterstudiengängen die ehemaligen Studiengänge weiter bestehen zu lassen, jedoch ohne die Verpflichtung hierzu375. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Kammerentscheidung tragen. Möglicherweise stützen die Entscheidung mehrere Maßstäbe kumulativ. Zunächst kommt der Maßstab in Frage, nach dem der Gesetzgeber solange frei ist den Wissenschaftsbetrieb zu regeln, wie er ein hinreichendes Maß an organisatorischer Selbstbestimmung der Grundrechtsträger gewährleitstet. Dann der Maßstab, dass der Gesetzgeber im Rahmen dieser Vorgaben nicht an überkommene Strukturen gebunden ist, sondern zeitgemäß reformieren kann. Schließlich der Maßstab, der festlegt, dass rahmengesetzliche Vorschriften auf die Ausgestaltung durch den Landesgesetzgeber angelegt sind. Die beschriebenen Maßstäbe erlauben eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Kammer muss aufgrund der Vorgaben aus den Maßstäben im vorliegenden Fall prüfen, ob die Verpflichtung der Hochschulen ab dem Wintersemester 2007/2008 ausschließlich Studiengänge mit dem Abschluss des Bachelor370
BVerfGE 85, 360, 382. BVerfGE 66, 270, 285; ähnlich BVerfGE 25, 142, 152. 372 BVerfGK 12, 17, 24. 373 BVerfGK 12, 17, 25. 374 § 18 Abs. 1 Satz 1 HRG lautet: (1) Auf Grund der Hochschulprüfung, mit der ein berufsqualifizierender Abschluss erworben wird, kann die Hochschule einen Diplomgrad mit der Angabe der Fachrichtung verleihen. 375 BVerfGK 12, 17, 25 f. 371
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oder Mastergrades anzubieten, die organisatorische Selbstbestimmung der Grundrechtsträger nicht mehr ausreichend sicherstellt. Hinzu kommt die Prüfung, ob die Ausgestaltung durch den Landesgesetzgeber den durch den Bundesgesetzgeber gesteckten Rahmen verlässt. Die Maßstäbe sind strukturell betrachtet Prinzipien, die eine Richtung für die Falllösung vorgeben müssen. Diesem Erfordernis werden sie gerecht. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind, da es sich im Wesentlichen um die Überprüfung der Auslegung einfachrechtlicher Normen, nämlich der des nordrhein-westfälischen Hochschulgesetzes, am Maßstab der Verfassung handelt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden. ee) BVerfGK 12, 440 Der Beschwerdeführer, ein Universitätsprofessor für Nuklearmedizin, rügte mit der Verfassungsbeschwerde u. a. eine Verletzung seiner Wissenschaftsfreiheit. Hintergrund war die Schließung der auf dem Klinikgelände gelegenen Bettenstation, der von ihm geleiteten nuklearmedizinischen Klinik an einem Universitätsklinikum, das wiederum organisatorisch gegenüber der Universität in Form einer Anstalt verselbständigt war. Der einstimmige Beschluss zur Schließung stammte vom Vorstand des Klinikums, dem auch kraft Amtes der Dekan des Fachbereichs Medizin der Universität angehörte. Der Beschwerdeführer wurde schriftlich unter Gewährung der Möglichkeit zur Stellungnahme unterrichtet376. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung der Wissenschaftsfreiheit teilweise statt. Sie verwendete die nachfolgenden Senatsmaßstäbe: „Das Grundrecht des an der Universität tätigen Wissenschaftlers aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG betrifft zunächst nur dessen wissenschaftliche Arbeit und Entfaltung in den der Universität gestellten, den Kernbereich akademischer Selbstverwaltung bildenden Aufgaben in Forschung und Lehre. (. . .) Dass der Krankenhausbetrieb im Interesse einer bestmöglichen Versorgung der zu behandelnden und zu betreuenden Patienten eine gegenüber dem allgemeinen Wissenschaftsbetrieb der Universität straffere, die Verantwortlichkeiten klar abgrenzende und rasche Entscheidungen ermöglichende Organisation erfordert, liegt nahe.“377 „Verfassungsrechtlich folgt hieraus [Überschneidung von Forschung, Lehre, Ausbildung und Krankenversorgung im Fachbereich Medizin], dass das Grundrecht des medizinischen Hochschullehrers aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auf Wissen376 377
BVerfGK 12, 440, 441 f. BVerfGE 57, 70, 96 f.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
schaftsfreiheit auch bei seiner Tätigkeit in der Krankenbehandlung und -versorgung nicht gänzlich ausgeklammert werden darf.“378 „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert den im Rahmen des wissenschaftlichen Betriebs einer Hochschule tätigen Trägern dieses Grundrechts deshalb auch die zur Wahrung der Wissenschaftsfreiheit erforderlichen Mitwirkungsrechte und Einflußmöglichkeiten in den Organen der Hochschulverwaltung (. . .).“379 „Dieser Freiraum ist nicht nur im Interesse seiner Entfaltung als Wissenschaftler garantiert, sondern auch im Interesse einer dem Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft dienenden Wissenschaft (. . .). Daher schützt die Wissenschaftsfreiheit nicht vor Beschränkungen, die für den einzelnen Grundrechtsträger aufgrund des Zusammenwirkens mit anderen Grundrechtsträgern im Wissenschaftsbetrieb unvermeidbar sind (. . .).“380 „Das Verfahrensrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes, der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle.“381 „Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift [§ 123 VwGO] kann vom Bundesverfassungsgericht nur dann beanstandet werden, wenn sie Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte des jeweiligen Antragstellers und seines Anspruchs auf effektiven Rechtschutz beruhen.“382 „Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht nur bei Anfechtungs-, sondern auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (. . .).“383
Die Kammer stellte bei ihrer Begründung im Wesentlichen darauf ab, dass der einzelne am Fachbereich Medizin tätige Hochschullehrer einen grundrechtlich geschützten Anspruch darauf habe, dass Organisationsmaßnahmen des Universitätsklinikums im Bereich der Krankenversorgung, soweit sie Forschung und Lehre betreffen, nicht ohne das zur Sicherung seiner wissenschaftlichen Belange erforderliche Einvernehmen des Fachbereichs Medizin und damit unter Wahrung seiner insoweit bestehenden Einflussmöglichkeiten auf den Wissenschaftsbetrieb erfolgten384. Das Einvernehmenserfordernis sei normiert in den Verordnungen über die Errichtung der Universitätskliniken als Anstalten des öffentlichen Rechts (vgl. 378 379 380 381 382 383 384
BVerfGE 57, 70, 98 f. BVerfGE 95, 193, 209 f. BVerfGE 111, 333, 353. BVerfGE 35, 263, 274. BVerfGE 79, 69, 74. BVerfGE 79, 69, 74; ähnlich BVerfGE 93, 1, 13. BVerfGK 12, 440, 448.
IV. Die Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit
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§ 2 Abs. 2 Satz 3 KlV-Dü), die ihrerseits auf der Grundlage von § 41 Abs. 1 Satz 1 HG NRW ergingen. Dieses Einvernehmenserfordernis habe eine Sicherungsfunktion für den medizinischen Hochschullehrer. Es handele sich um ein Verfahrensrecht, dem schützende Wirkung für den einzelnen medizinischen Hochschullehrer zukomme385. Daher habe das im Eilrechtsschutz letztinstanzlich zuständige Oberverwaltungsgericht die Frage des Einvernehmens nicht dahinstehen lassen bzw. ihm nur reflexartige Wirkung beimessen dürfen386. ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die Entscheidung der Kammer könnte der Senatsmaßstab tragen, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG den Trägern dieses Grundrechts zur Wahrung der Wissenschaftsfreiheit die erforderlichen Mitwirkungsrechte und Einflussmöglichkeiten in den Organen der Hochschulverwaltung garantiert. Der Maßstab erweist sich bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel als inhaltlich zu abstrakt. Denn es ist keine direkte Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte möglich. Dafür spricht ebenso die Tatsache, dass die zuständige Kammer im Rahmen der verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf solche aus anderen Kammerentscheidungen zurückgreift387. Es handelte sich um den für die Kammerentscheidung tragenden Maßstab, dass das Einvernehmenserfordernis des Fachbereichs Medizin gegenüber dem verselbständigten Universitätsklinikum die Wissenschaftsfreiheit organisatorisch sichert und damit gewährleistet, dass die Hochschullehrer des Fachbereichs über den Fachbereichsrat Einfluss auf das Uniklinikum nehmen können388. Von der Struktur her betrachtet liegt ein Prinzip vor, das nur eine Richtung für die Entscheidung vorgeben muss. Eine Richtung wird indes nicht vorgegeben. Es ist offen, welche Mitwirkungsrechte und Einflussmöglichkeiten erfasst und wie sie ausgestaltet sind. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es sich um eine einfachrechtliche Frage handelt, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind, ändert sich am gefundenen Ergebnis nichts. Der Maßstab ist schlicht zu unbestimmt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit nicht bereits entschieden. Der zuständige Senat hätte entscheiden müssen.
385 386 387 388
Ebd. BVerfGK 12, 440, 449. BVerfGK 12, 440, 448. BVerfGK 12, 440, 448.
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gg) Bewertende Zusammenfassung Insgesamt sind die Maßstäbe in diesem Bereich im Wesentlichen konkret formuliert. Sie eigenen sich daher für eine direkte Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel. Dies wird in der Regel durch die Kammerentscheidungen selbst untermauert. Im Grundsatz griffen die Kammern nicht auf Maßstäbe aus Kammerentscheidungen zurück, um bestehende Lücken in den Senatsmaßstäben zu schließen. Dies hängt nicht unwesentlich damit zusammen, dass sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten Hochschulurteil vom 29.05.1973389 sehr ausführlich mit dem Inhalt der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und deren Anforderungen auseinandergesetzt hat. Anlass für die Entscheidung war das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26.10.1971, in dem es um die Zusammensetzung der Kollegialorgane, Kommissionen bzw. Ausschüsse der wissenschaftlichen Hochschulen, die Mitwirkung von Vertretern der unterschiedlichen Gruppen von Hochschulangehörigen in den genannten Organen und das Wahlverfahren ging. Teilweise stammen die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe aus diesem Urteil. Eine Ausnahme von der eingangs beschriebenen Regel bildet jedoch die Verfassungsbeschwerde des Universitätsprofessors für Nuklearmedizin, was im Hinblick auf § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wiederum problematisch ist. Natürlich existieren auch Maßstäbe, die eher abstrakt gehalten sind. Beispielsweise der Maßstab, dass Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nach dem Wortlaut und Sinngehalt eine objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm enthalte. Dennoch bleibt der Gesamteindruck bestehen, dass die Senatsmaßstäbe in diesem Bereich tendenziell dazu geeignet sind, die Kammerentscheidungen inhaltlich zu tragen. In diesem Zusammenhang ist ferner Folgendes zu beachten: Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind, von ihrem Aufbau her betrachtet, ausnahmslos Prinzipien. Es reichte somit aus, dass sie nur eine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorgaben, was überwiegend gelang. In den Kammerbeschlüssen ging es zudem jeweils um die Überprüfung der Auslegung einfachrechtlicher Fragen am Maßstab der Verfassung, so etwa die Zusammensetzung des Senats einer Hochschule, die Verpflichtung zur Abschaffung der Diplomstudiengänge sowie die Schließung der Bettenstation. Folglich waren die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit abgesenkt, was ebenfalls dazu beitrug, dass die verwendeten Senatsmaßstäbe die konkreten Kammerbeschlüsse inhaltlich trugen.
389
BVerfGE 35, 79 ff.
V. Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung
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V. Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung Im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 trafen die Kammern des Bundesverfassungsgerichts insgesamt 72 Entscheidungen, die in diesen Bereich thematisch eingeordnet werden können390. Im Rahmen der grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG spielte die Meinungsfreiheit zwar eine überragende Rolle391, jedoch finden sich ebenfalls Rügen, die die Informations-392, Presse-393 und Rundfunkfreiheit394 betreffen. Neben der Meinungsfreiheit dominiert die Versammlungsfreiheit den Bereich des Schutzes der Kommunikation und politischen Beteiligung395. Vereinzelt gibt es noch Entscheidungen zu den Garantien des 390
Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 4. So ging es etwa um die Verantwortlichkeit eines Rechtsanwalts für Äußerungen im Rahmen eines Mandats (BVerfGK 1, 235); die Unterlassung unwahrer Äußerungen in Bezug auf die Haare von Kanzler Schröder (BVerfGK 1, 327); das Anhalten einer an einen Gefangenen adressierten Informationsbroschüre zum Strafvollzug (BVerfGK 4, 305); die Meinungsfreiheit und das Rechtsberatungsgesetz – geschäftsmäßige Rechtsberatung als politisches Protestmittel (BVerfGK 10, 312); die Medienberichterstattung über eine tilgungsreife Verurteilung wegen einer Wirtschaftsstraftat (BVerfGK 10, 383); die Zulässigkeit des Boykottaufrufs trotz wirtschaftlicher Beeinträchtigung – mehrfache Zielrichtung einer Meinungsäußerung (BVerfGK 12, 272). 392 Thematisch ging es um die Unterbindung von Videotextempfang in der Strafhaft (BVerfGK 3, 105); die Maßstäbe für verfassungsgerichtliche Eilanordnungen gegen bevorstehende Hoheitsakte – Folgenabwägung bei einem Antrag auf Ermöglichung der Wortberichterstattung aus einer Gerichtsverhandlung (BVerfGK 10, 1); die nächtliche Stromabschaltung in der Untersuchungshaft (BVerfGK 13, 163). 393 Die Fälle betrafen die Folgenabwägung bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Verpflichtung zum Abdruck einer Gegendarstellung (BVerfGK 4, 200); die Persönlichkeitsverletzung bei Verbreitung von Sachabbildungen privater Anwesen (BVerfGK 8, 53); die Verletzung der Privatsphäre Minderjähriger durch Medienberichterstattung (BVerfGK 8, 173); den Straßenverkauf von Sonntagszeitungen (BVerfGK 11, 21). 394 Hier ging es um die journalistische Betätigung und Schutzzweckbestimmung des Rechtsberatungsgesetzes – keine Beeinträchtigung des durch dieses Gesetz geschützten Rechtsgutes durch Fernsehbeiträge mit publizistischem Kontext (BVerfGK 2, 231); den Schutz der Informationsbeschaffung durch die Pressefreiheit (BVerfGK 3, 77); die Zulassung einer Fernsehberichterstattung über das Geschehen am Rande einer Strafverhandlung (BVerfGK 10, 435); die Zulassung von staatlichen Hochschulen als Rundfunkveranstalter (Lernradios), die nicht den Grundsatz der Staatsfreiheit des Rundfunks verletzt (BVerfGK 11, 478). 395 Thematisch ging es um die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung einer eine Verbotsverfügung begründenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit (BVerfGK 1, 320); die Beurteilung eines auf § 130 Abs. 4 StGB gestützten Versammlungsverbots (BVerfGK 5, 179); die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Auflagen hinsichtlich des Versammlungsortes – Prioritätsgrundsatz im Versammlungsrecht (BVerfGK 6, 104); das Versammlungsverbot wegen Forderung nach Ab391
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Art. 9 GG396 sowie zu Art. 17 GG397 und schließlich zu Art. 21 i. V. m. Art. 3 bzw. Art. 38 Abs. 1 GG398. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Untersucht wird zunächst, wie sich das Verhältnis zwischen der praktischen Handhabung der Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit durch die Kammern mit den dogmatischen Vorgaben der Senate sowie der Literatur zu deren Auslegung darstellt. Die 72 Kammerentscheidungen aus diesem Bereich folgen dem bereits erläuterten Muster für die Einleitung der rechtlichen Ausführungen bei Beschlüssen399. Es existiert ein Beschluss, der sich zur Durchsetzungsannahme im Sinn des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG und zu seinen Tatbestandsmerkmalen wie folgt äußert: „Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die angegriffenen Entscheidungen weisen weder eine Grundrechtsverletzung von besonderem Gewicht auf, noch entsteht im Falle der Nichtannahme ein besonders schwerer Nachteil im Sinne einer existenziellen Betroffenheit für die Beschwerdeführerin (vgl. BVerfGE 90, 22 [24 f.]).“400
Hintergrund dieser Kammerentscheidung war folgender Fall401: Die Beschwerdeführerin ist Verlegerin der Zeitschriften „die aktuelle“ bzw. „die zwei“. Sie berichtete im Zeitraum von Juli 1999 bis 2000 in insgesamt neun Artikeln über eine im Sommer 1999 geborene Tochter von Prinzessin schaffung des § 130 StGB (BVerfGK 7, 221; 7, 229); das Verbot des „Sternmarsches“ zum Standort des G8-Gipfels in Heiligendamm (BVerfGK 11, 298). 396 Es ging beispielsweise um Schießsportvereine im neuen Waffengesetz (BVerfGK 1, 95); den Streik gegen Außenseiter-Arbeitgeber (BVerfGK 4, 60); den Ausschluss eines Landesverbandes aus einem gewerkschaftlichen Dachverband (BVerfGK 10, 167); die Unterschriftenaktion einer Polizeigewerkschaft in Polizeidienststellen (BVerfGK 10, 250); das Personalvertretungsrecht – Begriff der Gewerkschaft – Beschränkung von Personalvorschlägen bei Personalratswahlen (BVerfGK 11, 474). 397 Der Fall betraf die Wirkung der Überweisung einer erfolgreichen Petition durch den Deutschen Bundestag an die Bundesregierung (BVerfGK 7, 133). 398 Hier ging es um die Chancengleichheit der Parteien – Nutzung einer Stadthalle für den Parteitag (BVerfGK 10, 363) oder die Parteienfinanzierung – Rückforderung wegen unrichtigen Rechenschaftsberichts (BVerfGK 12, 280). 399 Siehe die Ausführungen unter D. I. 1. und 2. 400 BVerfGK 8, 178, 181. 401 BVerfGK 8, 178 ff.
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Caroline von Hannover und des Prinzen Ernst August von Hannover. Die Berichte beinhalteten Fotos, die die im Säuglingsalter stehende Tochter im privaten Zusammensein mit ihren Eltern zeigten. Sowohl die Mutter als auch die Tochter nahmen die Beschwerdeführerin auf Zahlung einer Geldentschädigung wegen einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts in Anspruch. Die Tochter hatte bereits gegen andere Verlage wegen der Veröffentlichung eines Teils der Fotos eine Geldentschädigung erwirkt. Die von der Beschwerdeführerin an die Tochter zu zahlende Geldentschädigung setzte das Landgericht auf 150.000 DM fest. Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Sie sah weder eine Verletzung des Art. 103 Abs. 3 GG noch der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als gegeben an. Im Streitfall habe das besondere Schutzbedürfnis der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung grundsätzlich Vorrang vor der Berichterstattung der Medien402. Zudem hätten die Gerichte berücksichtigt, dass die Geldentschädigung für Verletzungen des Persönlichkeitsrechts keine unverhältnismäßige und insbesondere die Belange der Pressefreiheit vernachlässigende Höhe erreichen dürfe403. Die Feststellung der Kammer, dass die angegriffenen Entscheidungen keine Grundrechtsverletzung von besonderem Gewicht aufweisen würden, ist unpräzise. Wie bereits erläutert404, verbergen sich hinter der Fallgruppe des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung mehrere Unterfallgruppen. Die zuständige Kammer macht sich aber nicht die Mühe, diese Unterfallgruppen jeweils für sich auszuschließen, obwohl diese sich ebenfalls in der, von der Kammer in Bezug genommenen, Senatsentscheidung405 befinden. Vielmehr handelt es sich um eine pauschale Verneinung ohne Argumentation. Diese Vorgehensweise war schon bei Kammerentscheidungen im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn zu beobachten406. Um eine bloße Feststellung handelt es sich ebenfalls, wenn die Kammer anmerkt, dass im Falle der Nichtannahme ein besonders schwerer Nachteil im Sinne einer existenziellen Betroffenheit für die Beschwerdeführerin nicht entstehe. Eine argumentative Auseinandersetzung, insbesondere mit dem Vorliegen eines besonders schweren Nachteils, erfolgt wiederum nicht. Gerade an dieser Stelle wäre sie aber notwendig gewesen, weil in diesem Fall das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils nicht kategorisch 402 403 404 405 406
BVerfGK 8, 178, 182. BVerfGK 8, 178, 183. Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c) aa). Gemeint ist hier BVerfGE 90, 22. Siehe die Ausführungen unter D. III. 1. d).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
ausgeschlossen ist angesichts einer Summe von 150.000 DM. Zwar gibt es keine abstrakten Grenzen, da 10.000 e für den Sozialhilfeempfänger einen anderen Stellenwert haben als für den Großkonzern, um mit Zuck zu sprechen407. Doch wird zumindest ein grober Richtwert von 5.000 e teilweise vertreten408. Die Handhabung befindet sich somit wiederum im Rahmen des bereits beim Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn Festgestellten409. Schließlich findet sich auch in diesem Bereich kein Kammerbeschluss, der sich zum Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit äußert. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Der Fokus der folgenden Untersuchung liegt auf der Frage, ob das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG im konkreten Fall tatsächlich erfüllt war. Eine genauere Untersuchung verdient zum einen die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und zum anderen die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG. Dies rechtfertigt sich erstens durch die herausgehobene Stellung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für den demokratischen Prozess und zweitens durch die dominierende Stellung der beiden Grundrechte in diesem Bereich. a) Die Versammlungsfreiheit Der typische Kammerfall in diesem Bereich stellt sich so dar, dass eine Versammlung – meist aus der rechten Szene – aufgrund von § 15 Abs. 1 VersG wegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung von der Versammlungsbehörde verboten wird. Die Kammern entscheiden hier jedoch fast ausschließlich im Wege einer einstweiligen Anordnung, deren Voraussetzungen § 32 BVerfGG normiert. aa) Die Bedeutung der §§ 93a ff. BVerfGG im einstweiligen Rechtsschutz Eine Einbeziehung der Kammerfälle, die einstweilige Anordnungen im Versammlungsrecht betreffen in die Untersuchung kommt nur in Frage, 407 408 409
Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93a Rn. 30. Gehle, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93a Rn. 53 (m. w. N.). Siehe die Ausführungen unter D. III. 1. b).
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wenn die Annahmevoraussetzungen für den Erlass einer solchen Anordnung nach § 32 BVerfGG überhaupt eine Rolle spielen. § 32 BVerfGG regelt die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine einstweilige Anordnung ergehen kann. Die Norm gilt für jedes Verfahren, das in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach § 13 BVerfGG fällt410. Vor dem Hintergrund des Untersuchungsschwerpunktes sind jedoch nur die Voraussetzungen von Interesse, bei deren Vorliegen das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren erlassen kann. Im Gesetzeswortlaut des § 32 BVerfGG findet sich kein Verweis auf die §§ 93a ff. BVerfGG und somit auf das Annahmeverfahren. Wie bei jedem Rechtsbehelf lässt sich ebenso bei einem Antrag an das Bundesverfassungsgericht auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zwischen dessen Zulässigkeit und Begründetheit unterscheiden411. Soweit besteht zumindest Einigkeit in der Literatur, wobei selbst diese Unterscheidung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts nicht eindeutig durchgehalten wird412. Über die Zuordnung der einzelnen Voraussetzungen in die Zulässigkeit oder Begründetheit des Antrags und deren korrekte Bezeichnung gehen die Meinungen in der Literatur auseinander. Auf diese Meinungsverschiedenheiten ist hier nicht näher einzugehen, da sie für die Untersuchung der Annahmevoraussetzungen bei einstweiligen Anordnungen keine Bedeutung haben. Dennoch soll an dieser Stelle zum Verständnis ein kurzer Überblick über die Voraussetzungen gegeben werden. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache zuständig ist413, die Statthaftigkeit414, die Antragsberechtigung415, das Rechtsschutzbedürfnis416 gegeben sind und die Formvorschriften des § 23 410 Unter Hinweis auf die systematische Stellung ebenso Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 7. 411 Ebenso Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 37 und 151, wobei er zusätzlich noch zwischen formellen bzw. materiellen Voraussetzungen unterscheidet. Auch Benda/Klein, VerfProzR 2001, Rn. 496 ff.; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 37 bzw. 54; Schlaich/ Korioth, BVerfG, Rn. 464 f. und Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1124 ff., differenzieren zwischen Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags. 412 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 37 (m. w. N.). 413 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1200; Berkemann, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 58; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 464; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1126. 414 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1202; Berkemann, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 44 ff. 415 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1201; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 44. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1124; Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 86 und 90, spricht von Antragsbefugnis.
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Abs. 1 BVerfGG gewahrt wurden417. Teilweise werden auch das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache und der Grundsatz der Subsidiarität zur Zulässigkeit des Antrags gezählt418. Die nachfolgen kurzen Erläuterungen zur Begründetheit beziehen sich ausschließlich auf Anträge bei Verfassungsbeschwerden. Bevor das Gericht in die Folgenabwägung eintritt – es wird hier vom sogenannten Abwägungsmodell gesprochen – durchläuft es eine vierstufige Prüfung419. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass es sich nicht um eine starre Prüfungsreihenfolge handelt, sondern eine logisch vorrangige Frage offen bleiben kann, wenn die nachfolgende eine abschließende Entscheidung ermöglicht420. Zunächst prüft das Gericht, ob eine Annahme nach den §§ 93a ff. BVerfGG in Frage kommt421. Danach stellt es darauf ab, ob die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig422 oder offensichtlich unbegründet423 ist424. Schließlich beschäftigt sich das Gericht 416 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1210; Berkemann, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 93; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 1133, spricht von Rechtsschutzinteresse; ebenso Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 52. 417 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1211; ähnlich Graßhof, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 45 ff.; Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 60, spricht von Antragsbezogenheit. 418 Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1206 und 1209; Berkemann, in: Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 125 und 132, ordnet die Subsidiarität als einen Unterpunkt des Rechtschutzbedürfnisses ein; auch für Graßhof, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 48, zählt das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache zur Zulässigkeit des Antrags. 419 Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 224 ff. 420 So Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 193, im Hinblick auf das Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Begründetheit von Anträgen im einstweiligen Rechtschutz im Allgemeinen. 421 Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 225 f.; ähnlich Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 100. 422 Gebräuchlich sei auch die Formulierung offensichtlich unzulässig. Eine Definition, wann der Antrag von vornherein unzulässig oder offensichtlich unzulässig sei, gebe es nicht, siehe Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 11 f. 423 Teilweise spricht das Gericht in diesem Zusammenhang auch von der offensichtlichen Begründetheit des Antrags, Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 99; Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 12. Die Hauptsache sei nicht offensichtlich unbegründet, wenn abzusehen sei, dass sie die umfassende Prüfung gewichtiger bzw. schwieriger verfassungsrechtlicher Fragen notwendig machen werde, die sich nicht ohne Weiteres aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts beantworten ließen. Dies sei der Fall, wenn für das Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung kein Gesichtspunkt erkennbar sei, der dem gestellten Antrag zum Erfolg verhelfen könnte. Die Unbegründetheit müsse nicht auf der Hand liegen, sondern könne auch das Ergebnis vorgängiger gründlicher Prüfung sein, siehe Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 12 (m. w. N.).
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mit dem grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache. Dieses Verbot kann aufgrund des Individualinteresses jedoch durchbrochen werden425. Wenn der Antrag durch keines dieser Prüfungsraster gefallen ist, tritt das Gericht in die Folgenabwägung ein. Es verwendet hierbei folgende Formel, die das Prüfprogramm enthält: „Das Bundesverfassungsgericht muss im Verfahren nach § 32 BVerfGG die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Hauptsacheantrag aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einsteilige Anordnung erlassen würde, dem Hauptsacheantrag aber der Erfolg zu versagen wäre (. . .). Bei Würdigung der Umstände, die für oder gegen den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechen, muss die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache lauten würde, grundsätzlich außer Betracht bleiben (. . .).“426
Da nach dieser Formel sowohl die Folgen in die Abwägung eingestellt werden, die eintreten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht ergeht, der Hauptsacheantrag später aber erfolgreich ist als auch die Folgen des umgekehrten Falles, wird teilweise von einer Doppelhypothese gesprochen427. Es soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass dieses Abwägungsmodell428 unter methodischen, dogmatischen und praktischen Gesichtspunkten kritisiert wird429. Wenn das Gericht auf einer dieser Prüfungsebenen das Vorliegen der Voraussetzungen verneint, lehnt es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. 424 Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 228 ff.; ähnlich Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 32 Rn. 97. Im Ergebnis auch Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 18, die die Prüfung, ob der Antrag von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist, als denklogisch vorrangig vor der Folgenabwägung ansieht. 425 Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 232. Typischerweise greift das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache nicht in versammlungsrechtlichen Fällen, siehe hierzu Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 13 (m. w. N.). 426 BVerfGE 80, 74, 79. Dort ging es zwar um eine einstweilige Anordnung im Bund-Länderstreit, die Ausführungen sind aber allgemeingültig. 427 Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 236; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 465; Wiedmann, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 3, 8 ff. 428 Zur Entwicklung des Abwägungsmodells siehe Berkemann, JZ 1993, 161, 163 ff. 429 So Berkemann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 32 Rn. 237; Berkemann, JZ 1993, 161, 165, geht weiterhin davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht „jenseits aller verbalen Beteuerungen im Ergebnis ein summarisches Verfahren der Vorabprüfung praktiziert“; siehe hierzu seine Untersuchung des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens des Bundesverfassungsgerichts, Berkemann, JZ 1993, 161, 165 ff.; kritisch zum Abwägungsmodell auch Benda/Klein, VerfProzR, 2001, Rn. 1222.
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Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Annahmevoraussetzungen allgemein und damit die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage besonders im einstweiligen Rechtschutz nach § 32 BVerfGG eine Rolle spielen. Dies rechtfertigt die Einbeziehung in die Untersuchung. bb) BVerfGK 2, 1 Zur Erläuterung der Probleme bei Verboten von Versammlungen aus der rechten Szene dient der folgende Musterfall430: Der Antragsteller meldete am 02.06.2003 bei der zuständigen Versammlungsbehörde für den 06.09.2003 die Durchführung eines Aufzugs unter freiem Himmel mit Kundgebungen unter dem Motto „Stolz und Treu – Macht Deutschland frei“ in Nürnberg an. Am 26.08.2003 verbot die Versammlungsbehörde durch Bescheid die Durchführung der Versammlung sowie jede Ersatzveranstaltung am gleichen Tag unter Anordnung der sofortigen Vollziehung431. Daraufhin erhob der Antragsteller Widerspruch und stellte einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 02.09.2003 ablehnte. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts waren die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG für ein Verbot erfüllt. Es sei das Ziel des Aufzugs, die in der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführten Aufmärsche in Nürnberg, in Anlehnung an die historische Aufzugsstrecke, nachzuvollziehen und im Ergebnis für ein neues nationalsozialistisches Deutschland einzutreten432. Nachdem der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde durch Beschluss vom 04.09.2003 zurückgewiesen hatte, erließ die zuständige Kammer am 05.09.2003 eine einstweilige Anordnung, mit der sie die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs unter Auflagen wiederherstellte. Die Kammer nahm folgende Senatsmaßstäbe433 in Bezug: 430
Vergleichbar sind BVerfGK 1, 320; 5, 179; 7, 221; 7, 229; 8, 195; 13, 1. BVerfGK 2, 1, 2. 432 BVerfGK 2, 1, 2. 433 Die Kammer (BVerfGK 2, 1, 5) geht im Rahmen ihrer Maßstäbe davon aus, dass der Ausgangskonflikt schwierige Rechtsfragen aufwerfe, die nur im Hauptsacheverfahren zu klären seien. Es sei zudem ausgeschlossen, im Eilrechtsschutz in eine eigenständige Ermittlung und Würdigung des zugrunde liegenden Falles einzutreten. Daher seien für die Folgenabwägung in der Regel die Tatsachenfeststellungen in den angegriffenen Entscheidungen zu übernehmen. Die Kammer verweist dann auf BVerfGE 34, 211, 216; 36, 37, 40. Dort finden sich jedoch die von der Kammer verwendeten Maßstäbe so nicht. Ebenso geht die Kammer (BVerfGK 2, 1, 6) davon aus, dass sich hinsichtlich der Modalitäten der Durchführung einer Versammlung die Grenzen der Versammlungsfreiheit aus § 15 VersG ergeben, der neben dem Schutz der öffentlichen Sicherheit auch den der öffentlichen Ordnung vor431
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„Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Gewährleistung – den wirkungsvollen Rechtsschutz – verfolgen; sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtssuchenden zumutbar sein (. . .). Das muss auch der Richter bei der Auslegung dieser Normen beachten; er darf den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (. . .).“434 „Die verfassungsrechtliche Beurteilung der Auflage hängt vor allem davon ab, ob derartige Äußerungen erlaubt sind oder nicht. Eine Äußerung, die von Verfassungs wegen nicht unterbunden werden darf, kann auch nicht Anlass für eine versammlungsbeschränkende Maßnahme nach § 5 Nr. 4 VersG sein. Für die Beantwortung dieser Frage ergeben sich die Maßstäbe aber nicht aus dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), sondern aus dem der Meinungsfreiheit.“435 „Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muss, auf jeden Fall gewahrt bleibt.“436 „Dabei ist das Recht der Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen, selbst über Art und Umstände der Ausübung ihres Grundrechts zu bestimmen, also zu entscheiden, welche Maßnahmen sie zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen einsetzen wollen.“437 „Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.“438 „Für die verfassungsrechtliche Beurteilung bedeutsam sind zwei Einschränkungen, die im Gesetz [§ 15 VersG] selbst angelegt sind und die zur Folge haben, dass Verbote und Auflösungen im Wesentlichen nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter in Betracht kommen können, während eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung im allgemeinen nicht genügen wird.“439 „Im Strafverfahren besteht anders als für versammlungsbehördliche Entscheidungen, die im Vorfeld von Versammlungen ergehen, jedoch keine Möglichkeit, sehe. Sie nimmt BVerfGE 69, 315, 352 f., in Bezug. Dort findet sich dieser Maßstab so wiederum nicht. 434 BVerfGE 77, 275, 284. 435 BVerfGE 90, 241, 246. 436 BVerfGE 7, 198, 208. 437 BVerfGE 104, 92, 111. 438 BVerfGE 69, 315, 352. 439 BVerfGE 69, 315, 353.
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Rechtsgüterkollisionen durch versammlungsrechtliche Auflagen auszuschließen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch Modifikation der Durchführung der Versammlung, etwa die Veränderung der Route eines Aufzugs oder der Dauer der Kundgebung, Rechnung zu tragen.“440 „Die Forderung an die staatlichen Behörden, nach dem Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben, entspricht dem Bestreben nach verfahrensrechtlicher Effektuierung von Freiheitsrechten.“441
Die Kammer stützte ihre Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Argumente: Zunächst sei die Annahme der Versammlungsbehörde und des Verwaltungsgerichts, dass eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliege, nicht zu beanstanden442. Der von der Behörde und den Gerichten angenommenen Gefahr hätte aber im Wege von Auflagen begegnet werden können. So wäre die Möglichkeit einer anderen Streckenführung oder die Durchführung einer ortsfesten Versammlung zu prüfen gewesen443. Zwar gebe es konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr des Begehens strafbarer Handlungen aufgrund des früheren Verhaltens des Veranstalters, doch bezögen sich diese Straftaten auf Vorgänge, die keinen unmittelbaren Schaden für Personen und Sachen verursachten, was bei der Folgenabwägung zu berücksichtigen sei444. cc) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Kammerentscheidung müsste sich auf die verwendeten Senatsmaßstäbe stützen lassen. In Betracht kommen im Wesentlichen zwei Senatsmaßstäbe: Zum einen der Maßstab, dass Verbote bzw. Auflösungen nach § 15 Abs. 1 VersG grundsätzlich nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter in Betracht kommen und bloße Gefährdungen der öffentlichen Ordnung nicht 440 BVerfGE 104, 92, 111; die Kammer (BVerfGK 2, 1, 8) formulierte wie folgt: „Die Versammlungsbehörde und das Verwaltungsgericht haben im Hinblick auf die Erteilung von Auflagen nicht geprüft, ob die vor allem durch das gewählte Datum und den Verlauf der geplanten Route des Aufzugs geschaffene Parallele zu Aufmärschen bei Nürnberger Reichsparteitagen dadurch beseitigt werden können, dass eine andere, nicht durch Erinnerungen an entsprechende historische Ereignisse geprägte Streckenführung gewählt oder dass die Versammlung nur als ortsfeste durchgeführt wird. Zur Abwehr der Gefahren für die öffentliche Ordnung wären im vorliegenden Fall außerdem Auflagen bezüglich der Zeitdauer der Versammlung und anderer Modalitäten in Betracht gekommen.“ – Vgl. BVerfGE 104, 92, 111. 441 BVerfGE 69, 315, 356; die Kammer (BVerfGK 2, 1, 10) spricht in diesem Zusammenhang von einem aus Art. 8 GG ableitbaren Grundsatz des versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde. 442 BVerfGK 2, 1, 6. 443 BVerfGK 2, 1, 8. 444 BVerfGK 2, 1, 9.
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ausreichen. Zum anderen der Senatsmaßstab, dass im Strafverfahren, anders als bei versammlungsbehördlichen Entscheidungen, keine Möglichkeit bestehe, Rechtsgüterkollisionen durch versammlungsrechtliche Auflagen auszuschließen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch Veränderung der Route eines Aufzugs oder der Dauer der Kundgebung Rechnung zu tragen445. Bei beiden Maßstäben ist eine direkte Subsumtion im Sinne der Mahrenholzschen Formel möglich, da keine abstrakten Zwischenschritte erforderlich sind. Insbesondere der zweite Maßstab nennt konkrete Beispiele, auf welche Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch Auflagen Rechnung getragen werden kann. Der Senat macht hier selbst die Zwischenschritte. Die Maßstäbe sind nicht nach dem Konditionalschema einer Regel aufgebaut, sondern stellen Prinzipien dar, deren Aufgabe darin besteht, für die Falllösung eine Richtung vorzugeben. Diese Anforderungen werden erfüllt. Zudem sind die Anforderungen abgesenkt, die an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe gestellt werden müssen. Denn es handelt sich um keine originär verfassungsrechtlichen Fragen. Vielmehr geht es um die Anwendung und Auslegung von § 15 Abs. 1 VersG und somit um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war somit erfüllt und die Kammer durfte entscheiden. dd) BVerfGK 4, 154 Die NPD erhielt eine Sondernutzungserlaubnis, um einen Informationsstand auf dem Münchener Karlsplatz in der Zeit von 9:00 bis 12:00 Uhr zu errichten. Der Beschwerdeführer befand sich ab 9:15 Uhr in einer Gruppe, die sich zusammengefunden hatte, um gegen diesen Stand zu protestieren. Der Aufforderung der Polizei, den Platz zu verlassen, kam der Beschwerdeführer, ein Mitglied der PDS, nicht nach. Daraufhin wurde er von 9:20 bis 12 Uhr in Gewahrsam genommen446. Sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht lehnten es ab, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung festzustellen447. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung der Versammlungsfreiheit statt, wobei sie folgende Senatsmaßstäbe verwendete: „Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“448 445 446 447 448
Siehe Teil D., Fn. 440. BVerfGK 4, 154. BVerfGK 4, 154, 155. BVerfGE 104, 92, 104.
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„Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (. . .).“449 „Nach ganz herrschender Ansicht entfällt die Pflicht zur rechtzeitigen Anmeldung bei Spontandemonstrationen, die sich aus aktuellem Anlass augenblicklich bilden (. . .). Sie unterstehen der Gewährleistung des Art. 8 GG; versammlungsrechtliche Vorschriften sind auf sie nicht anwendbar, soweit der mit der Spontanveranstaltung verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte.“450 „Verbot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivsten Eingriffe in das Grundrecht dar.“451
Die Kammer bejahte das Vorliegen einer Versammlung und damit die Eröffnung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit. Es sei nichts ersichtlich, was für einen unfriedlichen Verlauf der Versammlung spreche452. Das Landgericht habe nicht geklärt, ob es sich um eine Spontanversammlung gehandelt habe, für die eine Anmeldepflicht nach § 14 VersG nicht in Frage komme. Selbst wenn es sich um keine Spontanversammlung handele, komme eine Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG in Betracht. Bis zu dieser Auflösung bestehe jedoch der versammlungsrechtliche Schutz weiter453. Erst nach Auflösung der Versammlung oder Ausschluss des Teilnehmers sei ein Platzverweis nach Polizeirecht möglich. Beides habe das Landgericht nicht festgestellt und diese Maßnahmen könnten hier auch nicht auf das Versammlungsrecht gestützt werden454. ee) Ergebnis: Die Frage war entschieden Fraglich ist, ob die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Die Maßstäbe erlauben eine direkte Subsumtion nach der Formel von Mahrenholz. Denn es handelt sich bei ihnen um die verfassungsrechtlichen Definitionen der Begriffe Versammlung und Unfriedlichkeit. Aufbautechnisch liegen zwar Prinzipien vor, dennoch zeigen sie eine Richtung für die Falllösung auf. Sie erfüllen auch die höheren Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit, die an Senatsmaßstäbe zu stellen sind, wenn es sich um originär verfassungsrechtliche Fragen handelt. Dieselben 449 450 451 452 453 454
BVerfGE 104, 92, 106. BVerfGE 69, 315, 350; ähnlich BVerfGE 85, 69, 74 f. BVerfGE 87, 399, 409. BVerfGK 4, 154, 157. BVerfGK 4, 154, 158. BVerfGK 4, 154, 158 f.
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Erwägungen gelten für den Maßstab, der sich mit dem Entfallen der Anmeldepflicht bei Spontanversammlungen befasst. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. ff) BVerfGK 11, 102 Der Beschwerdeführer, ein Anarchist, störte am 11.01.2003 eine in der Gießener Innenstadt stattfindende Wahlkampfveranstaltung, an der u. a. der hessische Innenminister und der Polizeipräsident von Gießen teilnahmen455. Die Störung erfolgte dergestalt, dass sich der Beschwerdeführer mit etwa zehn bis zwölf weiteren Personen in die Nähe des Standes begab, dort ein Transparent mit der Aufschrift „Freiheit stirbt mit Sicherheit“ entrollt wurde und der Beschwerdeführer mit einem Megaphon die nach seiner Auffassung rechtswidrige Durchsuchung der „Projektwerkstatt“ anprangerte456. Der Beschwerdeführer ist Mitglied der sogenannten „Projektwerkstatt“, die im Bundestagswahlkampf 2002 für die Verunstaltung von Wahlkampfplakaten verantwortlich war und deren Räume aus diesem Grund einen Tag vor der beschriebenen Aktion durchsucht worden waren. Das Landgericht Gießen erklärte diese Durchsuchung später für rechtswidrig457. Nachdem der Innenminister und der Polizeipräsident sich diese Aktion nicht bieten lassen wollten, trat der Einsatzleiter der Polizei mit einigen Beamten an den Beschwerdeführer heran und verlangte die Herausgabe des Megaphons. Da der Beschwerdeführer diese verweigerte, wurde er ergriffen und zum Polizeiwagen verbracht, wobei es zu einem Tritt des Beschwerdeführers, der schwere halbhohe Schnürstiefel trug, in Richtung des Kopfes des Einsatzleiters kam. Er wurde später wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt458. Die zuständige Kammer gab der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG teilweise statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe459: 455
BVerfGK 11, 102, 103. BVerfGK 11, 102, 103 f. 457 BVerfGK 11, 102, 103. 458 BVerfGK 11, 102, 104 f. 459 Die Kammer (BVerfGK 11, 102, 108) ging im Rahmen ihrer Maßstäbe davon aus, dass der Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit unabhängig davon bestehe, ob die Versammlung anmeldepflichtig und angemeldet war. Sie verwies auf BVerfGK 4, 154, 158. Ferner ging die Kammer (BVerfGK 11, 102, 111) davon aus, dass das Erfordernis der verwaltungsrechtlichen Rechtmäßigkeit der jeweiligen Ausgangsmaßnahmen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf Gründe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gestützt und deren Anwendung auf die im Einzelfall zu beurteilende Sanktionsnorm zu prüfen sei. Sie nahm BVerfGE 87, 456
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„Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“460 „Der Schutz des Art. 8 GG endet dort, wo es nicht um die – wenn auch kritische – Teilnahme an der Versammlung, sondern um deren Verhinderung geht. (. . .) Wer dagegen eine Versammlung in der Absicht aufsucht, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, kann sich nicht auf das Grundrecht aus Art. 8 GG berufen. Das gilt auch, wenn er dabei seinerseits im Verein mit anderen auftritt. Der Umstand, dass mehrere Personen zusammenwirken, bringt diese nicht in den Genuss der Versammlungsfreiheit, wenn der Zweck ihres Zusammenwirkens nur in der Unterbindung einer Versammlung besteht.“461 „Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt (. . .) oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben (. . .) oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen.“462 „Was für die verwaltungsrechtliche Durchsetzung der Auflösungsverfügung gilt, trifft aber nicht in gleicher Weise auf die Ahndung der Widersetzlichkeit nach dem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht zu. Zwischen beiden muss unterschieden werden. Der Grund dafür, dass es bei der Durchsetzung der Auflösungsverfügung nicht auf deren Rechtmäßigkeit ankommt, liegt in der Situationsgebundenheit der Entscheidung, deren Vollzug nicht bis zur verbindlichen oder auch nur vorläufigen Klärung der Rechtsfrage aufgeschoben werden kann.“463 „Der Betroffene hat sie [die Maßnahme] in Situationen, die eine vorgängige Klärung der Rechtmäßigkeit nicht zulassen, grundsätzlich hinzunehmen und kann allenfalls nachträglich eine Feststellung der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Einschreitens erreichen.“464 „Unter diesen Umständen kann dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nur Rechnung getragen werden, wenn die Sanktion des § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG auf Fälle rechtmäßiger Versammlungsauflösung beschränkt wird. Die Rechtmäßigkeit muss daher feststehen, ehe der Strafrichter eine Buße verhängen darf.“465
399, 410; 92, 191, 201, in Bezug. Die dortigen Maßstäbe beziehen sich nur darauf, dass bei Verhängung einer Sanktion die Maßnahme verwaltungsrechtlich rechtmäßig gewesen sein müsse und dies zu prüfen sei. 460 BVerfGE 104, 92, 104. 461 BVerfGE 84, 203, 209 f. 462 BVerfGE 69, 315, 361. 463 BVerfGE 87, 399, 410. 464 BVerfGE 92, 191, 201. 465 BVerfGE 87, 399, 410.
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„Die Rechtmäßigkeit des Auskunftsverlangens ist daher von den Strafgerichten vor Verhängung der in § 111 OWiG vorgesehenen Sanktion in vollem Umfang zu prüfen.“466 „Die Beschränkung [der strafgerichtlichen Prüfung auf den strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff] wird damit begründet, dass den Beamten oft ein schnelles Handeln in unübersichtlichen und spannungsreichen Situationen abverlangt werde, in denen eine umfassende Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen des Einschreitens nicht möglich sei. Zum Schutz des Beamten und zur Stärkung seiner Entschlusskraft sei deswegen ein verkürzter Rechtmäßigkeitsbegriff erforderlich (. . .).“467
Nach Auffassung der Kammer hätten die Strafgerichte bei der konkretisierenden Auslegung und Anwendung des strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs im Rahmen des § 113 Abs. 3 StGB die Bedeutung und Tragweite des Art. 8 Abs. 1 GG verkannt468. Bestimmte Rechtsfehler der handelnden Amtsträger könnten eine Verurteilung nach § 113 Abs. 1 StGB ausschließen. Die Rechtmäßigkeit sei davon abhängig, dass der Beamte sachlich und örtlich zuständig sei und die wesentlichen Förmlichkeiten zum Schutz des Betroffenen eingehalten worden seien. Dazu zählten das Vorliegen eines vollstreckbaren Titels in der Zwangsvollstreckung, die Eröffnung des zur Last gelegten Fehlverhaltens bei Identifizierungsmaßnahmen, das Eröffnen des Vorführungsbefehls nach § 134 StPO oder die Hinzuziehung von Zeugen bei Durchsuchungen bzw. der Zwangsvollstreckung. Die Rechtsprechung verlange eine pflichtgemäße Prüfung der sachlichen Eingriffsvoraussetzungen469. Der Einsatzleiter habe Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer als Teilnehmer einer Versammlung durchgeführt, ohne diese zuvor aufzulösen oder den Beschwerdeführer auszuschließen470. Von einem verständigen Amtsträger könne die Kenntnis der maßgeblichen versammlungsrechtlichen Regeln verlangt werden. Wenn er sie nicht kenne und damit den Versammlungsteilnehmer über den Wegfall des Schutzes von Art. 8 Abs. 1 GG im Ungewissen lasse, könne das nicht zum Nachteil des Grundrechtsträgers sein. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gebiete 466
BVerfGE 92, 191, 201. BVerfGE 92, 191, 200; die Kammer formulierte wie folgt: „Verfassungsrechtlich ist es jedenfalls nicht zu beanstanden, wenn solche Rechtsfehler der handelnden Hoheitsträger bei der Festsetzung einer Sanktion nach § 113 StGB außer Acht bleiben, die den Besonderheiten der Situation der konkreten Diensthandlungen, etwa einer erheblichen Unübersichtlichkeit oder einer spannungsreichen Lage, geschuldet sind (vgl. dazu auch BVerfGE 92, 191, 200) und in der Folge in einer fehlerhaften Beurteilung der Tatsachenlage und darauf aufbauend in einer Fehleinschätzung etwa der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahme bestehen“, BVerfGK 11, 102, 112. 468 BVerfGK 11, 102, 112. 469 BVerfGK 11, 102, 113. 470 BVerfGK 11, 102, 114. 467
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hier die Vollstreckungshandlung als rechtswidrig im Sinn des § 113 Abs. 3 Satz 1 StGB anzusehen471. Eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften sei jedoch nicht ausgeschlossen472. gg) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Entscheidung könnten mehrere Senatsmaßstäbe kumulativ tragen. Zum einen der, dass es Situationen gibt, in denen der Betroffene eine Maßnahme zunächst hinnehmen muss und sie erst später auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen lassen kann. Ferner der, dass die Verhängung einer Sanktion nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG nur zulässig ist, wenn die Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung feststeht oder der Rechtmäßigkeitsbegriff eingeschränkt sein kann, um die Entschlusskraft der handelnden Personen zu stärken473. Schließlich der, dass bei § 113 Abs. 3 StGB ein verkürzter Rechtmäßigkeitsbegriff erforderlich ist, weil den Beamten schnelles Handeln in unübersichtlichen Situationen abverlangt werde und um ihre Entschlusskraft zu stärken. Bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel kommt man, im Hinblick auf die drei tragenden Maßstäbe, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während die zuerst genannten Maßstäbe durchaus eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte zulassen, erscheint dies bei dem zuletzt genannten fraglich. Handelt es sich doch um eine Erklärung, warum in spannungsreichen Situationen der Rechtmäßigkeitsbegriff verkürzt ist. Zwei der drei genannten tragenden Maßstäbe entsprechen, von ihrem Aufbau her betrachtet, Prinzipien und müssen für die Falllösung nur eine Richtung vorgeben. Diese Voraussetzung wird erfüllt. Ebenso ist bei dem Maßstab, der ein Konditionalschema enthält und somit einer Regel entspricht, eine Subsumtion möglich. Schließlich geht es bei der Anwendung und Auslegung des § 113 Abs. 3 StGB um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Norm am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe sind daher geringer. Folglich tragen die verwendeten Maßstäbe die konkrete Kammerentscheidung und die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden. hh) Bewertende Zusammenfassung Das Netz der Senatsmaßstäbe ist in diesem Bereich sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr dicht. Die Maßstäbe sind weit überwiegend inhalt471 472 473
BVerfGK 11, 102, 116. BVerfGK 11, 102, 117. Siehe Teil D., Fn. 467.
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lich konkret formuliert. Sie erlauben eine direkte Subsumtion im Sinne der Mahrenholzschen Formel. So finden sich etwa Definitionen zur Versammlung474, zur Unfriedlichkeit475 und zur öffentlichen Ordnung476. Ferner existieren detaillierte Angaben darüber, was beispielsweise das versammlungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht umfasst477, wie die Anmeldepflicht aus § 14 VersG bei Spontanversammlungen zu handhaben ist478 oder wann eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinn des § 15 Abs. 1 VersG anzunehmen ist479. Angesichts dieser Feststellungen ist es jedoch erstaunlich, dass viele Kammerentscheidungen im Rahmen ihrer Maßstäbe es nicht bei der Bezugnahme auf die vorgestellten Senatsmaßstäbe bewenden lassen, sondern Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen benutzen. Es existieren mehrere Kammerentscheidungen, die in diesem Zusammenhang zitiert werden und einige sollen beispielhaft genannt werden: BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 25.7.1998 – 1 BvQ 11/1998, NJW 1998, 3631 ff.480; BVerfG (1 Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 18.8.2000 – 1 BvQ 23/2000, NJW 2000, 3053 ff.481; BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 1.9.2000 – 1 BvQ 24/2000, NVwZ 2000, 1406 ff.482; BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 26.1.2001 – 1 BvQ 9/2001, NJW 2001, 1409 ff.483; BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 24.3.2001 – 1 BvQ 13/2001, NJW 2001, 2069 ff484. 474
BVerfGE 104, 92, 104. BVerfGE 104, 92, 106. 476 BVerfGE 69, 315, 352. 477 BVerfGE 69, 315, 342. 478 BVerfGE 69, 315, 350. 479 BVerfGE 87, 399, 409. 480 Inhaltlich ging es um ein Verbot gegenüber einer von der NPD veranstalteten Versammlung im Bundestagswahlkampf 1998 und somit eine mögliche Behinderung bzw. Wettbewerbsnachteile einer nicht verbotenen Partei. BVerfGK 2, 1, 9, nimmt auf diese Kammerentscheidung Bezug. 481 Inhaltlich ging es um ein Versammlungsverbot aufgrund der Annahme einer Tarnveranstaltung und Beschränkungen der Versammlungsfreiheit unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes. BVerfGK 8, 195, 198, nimmt auf diese Kammerentscheidung Bezug. 482 Inhaltlich ging es um ein Versammlungsverbot, das Vorgehen gegenüber der Versammlung im Wege des polizeilichen Notstandes und in diesem Zusammenhang um die Figur des Zweckveranlassers im Versammlungsrecht. BVerfGK 8, 195, 201, nimmt auf diese Kammerentscheidung Bezug. 483 Inhaltlich ging es um die Verlegung einer Versammlung aus dem rechtsextremen Umfeld vom 27.01. (Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus) auf den 28.01.2001 im Wege einer sofort vollziehbaren Auflage und deren Rechtfertigung aufgrund einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 15 Abs. 1 VersG. BVerfGK 2, 1, 6; 7, 221, 227; 8, 195, 199, nehmen auf diese Kammerentscheidung Bezug. 475
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Im Zusammenhang mit neonazistischen Demonstrationen wurde zudem von unbewältigten verfassungsrechtlichen Problemen, insbesondere den Grenzen der Meinungsäußerung auf Versammlungen des rechten Spektrums, gesprochen, für welche die Maßstäbe aus der Brokdorf-Entscheidung nur bedingt lösungstauglich seien485. Hierzu ist anzumerken, dass sich der Erste Senat, in seinem Beschluss zur Synagoge Bochum, explizit mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat. Als Schranke für den Inhalt bzw. die Form einer Meinungsäußerung auf einer Versammlung nennt er Art. 5 Abs. 2 GG im Leitsatz486. Sollte es zuvor eine Lücke in den Senatsmaßstäben in Bezug auf diese Problematik gegeben haben, ist sie jedenfalls nun geschlossen. Ein Vergleich mit den Senatsmaßstäben aus anderen Bereichen, so etwa den Maßstäben zur Freiheit der Person487, zeigt, dass gerade die Senatsmaßstäbe zur Versammlungsfreiheit inhaltlich konkret formuliert sind. Wenn die Kammern bei ihren Entscheidungen Maßstäbe anderer Kammerentscheidungen verwenden, ist dies allenfalls ein Indiz für die ausgeprägte Kasuistik in diesem Bereich, die Hand in Hand mit einer starken Durchdringung der dogmatischen Strukturen geht. Zurückzuführen ist dies auch auf die nahezu exklusive Zuständigkeit der 1. Kammer des Ersten Senats für versammlungsrechtliche Fälle. Die Kammer knüpft bei ihren Entscheidungen an ihre Rechtsprechung in zeitlich vorangegangenen Entscheidungen an, entwickelt sie weiter und verweist natürlich auf diese. Die überwiegende Mehrheit der verwendeten Senatsmaßstäbe weist kein Konditionalschema auf und entspricht einem Prinzip. Es reicht somit aus, wenn eine Richtung für die Entscheidung des Falles vorgegeben wird. Ferner handelt es sich bei den Kammerbeschlüssen vielfach um Anordnungen im einstweiligen Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG. Ein Grund hierfür ist sicherlich folgender Umstand: Es ist sehr auffällig, dass sich die zuständigen Versammlungsbehörden, nach Anmeldung einer Versammlung aus dem rechten Spektrum, mit ihrer Verbotsverfügung oder Auflagen bis kurz vor dem geplanten Termin Zeit lassen, auch dann, wenn die Versammlung Monate vorher angemeldet wurde488. So verkürzt sich bedenklich der Zeitraum, in dem die Veranstalter vorläufigen Rechtschutz vor den Verwaltungsgerichten erlangen können, an eine Entscheidung in der Hauptsache ist 484 Inhaltlich ging es um ein Versammlungsverbot, die Unzulässigkeit des Rückgriffs auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 15 Abs. 1 VersG, um Meinungsäußerungen einzuschränken und die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes. BVerfGK 1, 320, 324; 2, 1, 6; 7, 221, 227; 7, 229, 235 f.; 13, 82, 93, nehmen auf diese Kammerentscheidung Bezug. 485 Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051. 486 BVerfGE 111, 147. 487 Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. a) cc). 488 BVerfGK 2, 1; 5, 179; 7, 229; 13, 1; 13, 82.
V. Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung
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erst gar nicht zu denken. Die Problematik wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Veranstalter in der Regel noch eine Antragsbzw. Beschwerdeschrift für das jeweilige Gericht verfassen müssen. Insbesondere kann es für eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über eine Beschwerde zeitlich besonders eng werden und erst recht, wenn anschließend noch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden soll489. Es erscheint dann im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG fragwürdig, wenn das Oberverwaltungsgericht mit Verweis auf § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO die Beschwerde als unzulässig verwirft, weil es den Veranstaltern unter dem bestehenden Zeitdruck nicht gelungen sei, den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechend, die Beschwerde umfassend zu begründen. Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts ließ in einem solchen Fall zwar offen, ob der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen in Bezug auf Art. 19 Abs. 4 GG überspannt hatte. Sie lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, unter Verweis auf den nicht vom Veranstalter verursachten Zeitdruck, aber nicht wegen Verstoßes gegen den Subsidiaritätsgrundsatz, ab und entschied in der Sache490. Ferner besteht eine Parallele zur Funktion der Kammern, wie sie sich im Spannungsverhältnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs im Bereich des Strafvollzugsgesetzes schon gezeigt hat491. Die rechtlichen Auseinandersetzungen im Versammlungsrecht verlagern sich, u. a. bedingt durch zeitlichen Druck, in das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten. Hier besteht zum einen die Möglichkeit, einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen. Zum anderen kann gegen eine negative Entscheidung eine Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO beim Oberverwaltungsgericht eingereicht werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist somit im vorläufigen Rechtsschutz nicht zur Entscheidung berufen. Insofern ist die gerade beschriebene Situation in etwa vergleichbar mit der Situation der Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem Strafvollzugsgesetz. Dort gibt es die Möglichkeit, einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG vor den Landgerichten zu stellen und, bei negativer Entscheidung, die Rechtsbeschwerde zum Strafsenat des Oberlandesgerichts nach § 116 StVollzG zu erheben. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist nicht vorgesehen. Die Kammern geraten somit tendenziell in die Rolle einer Superrevisionsinstanz. Im Zusammenhang mit den Rechtsbehelfen des Straf489 Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051, 2054, führen Unsicherheiten und argumentative Schwächen der Kammerentscheidungen insbesondere auf den Zeitdruck, die Verwendung von Textbausteinen und die Entscheidungsfindung bzw. -begründung im Umlaufverfahren zurück. 490 BVerfGK 2, 1, 4. 491 Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb) (11).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
vollzugsgesetzes wurde im Hinblick auf die Funktion der Kammern des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, dass sie der Sache nach als besondere Verwaltungsgerichte fungierten, die sicherstellten, dass in den mit dem Freiheitsentzug begründeten Sonderstatusverhältnissen, die wiederum verwaltungsrechtlichen Charakter hätten, die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts beachtet würden492. Die Feststellung lässt sich auf die Funktion der Kammern im Bereich des Versammlungsrechts übertragen. Zwar besteht hier kein Sonderstatusverhältnis, doch ist der verwaltungsgerichtliche Charakter, insbesondere mit Blick auf die Anwendung des Versammlungsgesetzes, nicht zu verkennen. Eine weitere Parallele ist die teilweise vertiefte Prüfung einfachrechtlicher Fragestellungen durch die Kammern. So finden sich detaillierte Ausführungen zur Auslegung von § 15 VersG493, § 130 Abs. 4 StGB494 oder § 113 StGB495. Der verfahrensrechtliche Ausschluss der Entscheidung eines Bundesgerichts auf der einen Seite und die vertiefte Prüfung einfachrechtlicher Fragestellungen durch die Kammern auf der anderen Seite stehen in einer Wechselbeziehung. Anders gewendet bedingen sie einander. Ferner fällt auf, dass sowohl die Versammlungsbehörden als auch die Verwaltungsgerichte in ihrem Bestreben, Versammlungen aus dem rechten Spektrum zu unterbinden, die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Verbot oder Auflagen vorschnell bejahen oder Vermutungen genügen lassen. Dies steht im Widerspruch zur Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts496 und wird von der 1. Kammer des Ersten Senats regelmäßig beanstandet497. ii) Inhaltliche Tendenzen Aufgrund des gut ausgebauten Netzes an Senatsmaßstäben können die Kammern die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich nicht entscheidend gegenüber den Senaten prägen, wohl aber im Verhältnis zu den Fachgerichten. Hier zeigten sich inhaltliche Differenzen bei der Anwendung des Versammlungsgesetzes, vor allem bei den Voraussetzungen für ein Verbot nach § 15 Abs. 1 VersG gegenüber Versammlungen 492 Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb) (11) und Höfling/Rixen, AöR 125 (2000), S. 613, 633 f. 493 BVerfGK 7, 221, 226. 494 BVerfGK 5, 179, 183 f. 495 BVerfGK 11, 102, 109 ff. 496 BVerfGE 87, 399, 409. 497 So geschehen in BVerfGK 1, 320, 324; 5, 179, 183; 8, 195, 200 ff.; 13, 82, 92.
V. Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung
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aus dem rechten Spektrum, zwischen der zuständigen 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichtsbarkeit, allen voran dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen498. Während das Bundesverfassungsgericht, insbesondere die 1. Kammer des Ersten Senats, davon ausging, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung grundsätzlich ein Versammlungsverbot nicht trägt499 und die auf einer Versammlung geäußerte Meinung an den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG zu messen ist500, lehnte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen diese Auslegung ab. Es leitete aus der Menschenwürde, dem verfassungsrechtlichen Friedensstaatsgebot (Art. 1 Abs. 2, Art. 24 Abs. 2, Art. 26 Abs. 1 GG), den in Art. 20 GG niedergelegten verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien sowie den sich aus den Ausprägungen der wehrhaften Demokratie (Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 4 GG) ergebenden Grenzen eine, auf die Abwehr neonazistischer Tendenzen gerichtete, verfassungsimmanente Schranke für die demonstrative Äußerung neonazistischer Meinungsinhalte ab. Versammlungen, die diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben zuwiderliefen, seien schon nicht vom Schutzbereich der Art. 5, 8 GG erfasst. Dies sei im Rahmen der Definition und Anwendung des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG zu berücksichtigen501. Auf den Punkt gebracht geht es bei dieser Auseinandersetzung um die Frage, wie eine Meinung, die auf einer Versammlung geäußert wird, beschränkt oder unterbunden werden kann. Die 1. Kammer des Ersten Senats sieht als Schranke nur Art. 5 Abs. 2 GG, womit in erster Linie die allgemeinen Gesetze und insbesondere die Normen des Strafgesetzbuchs (§§ 86, 86a und 130 StGB) in Frage kommen. Jede Meinung, die nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Strafrechtsnorm erfüllt, kann demnach auf einer Versammlung geäußert werden. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen geht davon aus, dass es für demonstra498 Eine ausführliche chronologische Darstellung dieses Konflikts befindet sich in Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051 ff. 499 BVerfGE 69, 315, 353. 500 BVerfGE 90, 241, 246 f.; die Position unterstützend Kloepfer, VerfR, § 63 Rn. 59 ff. 501 OVG Münster, NJW 2001, 2111; auch Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123 f., sehen auf verfassungsrechtlicher Ebene eine meinungsinhaltliche Grenze im Friedlichkeitsgebot dergestalt, dass Unfriedlichkeit ab einer gewissen Schwelle aus dem demokratischen Prozess ausgesondert wird, unabhängig davon, aus welcher politischen Ecke sie kommt. Eine verfassungsimmanente Schranke bei der demonstrativen Äußerung nazistischer Meinungsinhalte ergebe sich aus der Architektonik des Grundgesetzes, insbesondere aus dem Grundrechtsteil unter Hervorhebung der Menschenwürde und dessen Schutz durch Art. 20 Abs. 4 und Art. 79 Abs. 3 GG. Die Auffassung von Battis/Grigoleit bildet insofern das dogmatische Fundament für die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, da es in dem zitierten Beschluss ausdrücklich auf diese Überlegungen Bezug nimmt.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
tive Äußerungen neonazistischer Meinungsinhalte auf Versammlungen eine verfassungsimmanente Schranke gibt, solche Meinungsäußerungen die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährden und somit verboten werden können. Im Ergebnis kann eine Meinungsäußerung unterbunden werden, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegt und sich nicht im Einklang mit der öffentlichen Ordnung befindet, die nach ihrer Definition auf herrschende Anschauungen abstellt. Die Auseinandersetzung spitzte sich so weit zu, dass der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land NordrheinWestfalen in einem Beschluss Folgendes feststellte: „Diese Auffassung [der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts] wird dem Problem des Wiedererstarkens neonazistischer Umtriebe im wiedervereinten Deutschland nicht gerecht und weist überdies zahlreiche verfassungsrechtliche Ungereimtheiten und Widersprüche auf.“502
Zuvor hatte sich die zuständige 1. Kammer des Ersten Senats in einem Beschluss wie folgt geäußert: „Das Grundgesetz und die übrige Rechtsordnung verbieten Meinungsäußerungen nur unter engen Voraussetzungen. Sind diese nicht gegeben, gilt der Grundsatz der Freiheit der Rede. Die Kraft eines Rechtsstaats zeigt sich auch daran, dass er den Umgang mit seinen Gegnern den allgemein geltenden rechtsstaatlichen Grundsätzen unterwirft. Für Verbote von Parteien oder die Verwirkung des Grundrechtsschutzes bestimmter Personen kennt das Grundgesetz daher formelle und materielle Grenzen in den Art. 18 und 21 GG, die nicht deshalb außer Acht gelassen werden dürfen, weil ein OVG deren Schutzwirkung nicht als ausreichend bewertet.“503
Im Rahmen der Auseinandersetzung stellte die 1. Kammer des Ersten Senats in einem Beschluss einen Verstoß gegen die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Gesetzesbindung fest, weil das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG für verfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht beachtet hatte504. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bestätigte einstimmig die Linie der Kammer im Beschluss zur Synagoge Bochum. Die Schranke für den Inhalt bzw. die Form einer Meinungsäußerung auf einer Versammlung bildet Art. 5 Abs. 2 GG und nicht etwa die öffentliche Ordnung505. Dieser Be502 OVG Münster, NJW 2001, 2986, 2987; kritisch hierzu Benda, NJW 2001, 2947, 2948, der insbesondere vor dem Hintergrund des Vorwurfs von „verfassungsrechtlichen Ungereimtheiten“ die Stilfrage aufwirft. Zuvor hatten Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051, 2055, Zurückhaltung und Sensibilität eingefordert, sympathisierten aber durchaus mit der Haltung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen. 503 BVerfGK (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 1.5.2001 – 1 BvQ 22/01, NJW 2001, 2076, 2077. 504 BVerfGK 7, 229, 236. 505 BVerfGE 111, 147, 155 ff.
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schluss stellt den Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die im Brokdorf-Beschluss begann. Die bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung trägt im Allgemeinen kein Versammlungsverbot. Dann ging es im Beschluss zur Leugnung des Holocausts mit der Feststellung weiter, dass eine auf einer Versammlung geäußerte Meinung nur an den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG zu messen ist506. Mittlerweile haben sich die Wogen geglättet. b) Die Meinungsfreiheit Nachdem die Meinungsfreiheit im Rahmen der Darstellung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schon mittelbarer Untersuchungsgegenstand war, soll sie nun selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn es ermögliche erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement sei507. Die Meinungsfreiheit und ihre Bedeutung für den demokratischen Prozess ist eng verzahnt mit der Versammlungsfreiheit, was sich auch an der Auseinandersetzung zwischen der 1. Kammer des Ersten Senats und dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zeigte. Die Grenzen der Meinungsfreiheit ergeben sich aus Art. 5 Abs. 2 GG und hier insbesondere aus den allgemeinen Gesetzen, konkretisiert durch die Normen des Strafgesetzbuchs. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Untersuchung liegt auf dem Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsfreiheit und den Strafgesetzen, wobei eine Entscheidung miteinbezogen wurde, in der es um die Verhängung eines Ordnungsgeldes ging. aa) BVerfGK 1, 289 Der Beschwerdeführer wendet sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung nach § 185 StGB. Er selbst ist Betreiber einer Herberge, in deren Nähe sich eine Windkraftanlage befindet, an der es zu einem Störfall gekommen war508. Der Stadtdirektor, der gleichzeitig Prokurist der gemeindlichen Wirtschaftsbetriebe ist, war mit dieser Angelegenheit befasst. Dieser ermöglichte es einem ortsansässigen Unternehmen, die Internet-Domain „N.de“ der Insel für sich zu nutzen, wodurch der Beschwerdeführer nach seiner Auffassung wirtschaftliche Nachteile erleide. Im Bürgermeisterwahlkampf verbreitete 506 507 508
Hong, in: Rensen/Brink, S. 155, 193. BVerfGE 5, 85, 205. BVerfGK 1, 289, 290.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
der Beschwerdeführer eine zwei Seiten umfassende Postwurfsendung, in der er sich über den Stadtdirektor, der sich für das Amt bewarb, wie folgt äußerte509: „(Der namentlich genannte Geschädigte) hatte keine Skrupel, eine Lüge mit der nächsten Lüge beschönigen zu wollen, und das, wo das Gericht daneben stand (. . .) Sprichwörtlich ‚über Leichen‘ ging er, als er seine illegale Idee umsetzte, dem Wettbewerbsunternehmen, (. . .), die Alleinrechte an der Insel-Internet-Seite zu gewähren (. . .) Ein Mann wie (der Geschädigte), der unsere Rechtsordnung mit ‚Füßen‘ tritt, sollte den Mund halten und sich nicht als Verwaltungsfachmann betiteln! (. . .).“510
Das Amtsgericht wertete die Äußerungen als Schmähkritik, weshalb eine Straffreiheit nach § 193 StGB ausscheide. Nachdem die Berufung als unzulässig verworfen worden war, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt511. Sie sah in der Verurteilung des Beschwerdeführers eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit und berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts.“512 „Tatsachenbehauptungen fallen deswegen aber nicht von vornherein aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Da sich Meinungen in der Regel auf tatsächliche Annahmen stützen oder zu tatsächlichen Verhältnissen Stellung beziehen, sind sie durch das Grundrecht jedenfalls insoweit geschützt, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind, welche Art. 5 Abs. 1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet (. . .).“513 „Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet es seine Schranken vielmehr an den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB, der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegt.“514 „Auf der Stufe der Anwendung von §§ 185 ff. StGB im Einzelfall verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind (. . .). Das Ergebnis dieser 509 510 511 512 513 514
Ebd. BVerfGK 1, 289, 290. BVerfGK 1, 289, 290. BVerfGE 93, 266, 289; ähnlich BVerfGE 54, 129, 138 f. BVerfGE 90, 241, 247 f. BVerfGE 93, 266, 290.
V. Der Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung
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Abwägung lässt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und abstrakt vorwegnehmen. Doch ist in der Rechtsprechung eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben.“515 „Eine herabsetzende Äußerung nimmt vielmehr erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muss jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person stehen (. . .).“516 „Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung, mit der Folge, dass eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entbehrlich wird, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (. . .).“517 „Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muss, auf jeden Fall gewahrt bleibt.“518 „Der Wahrheitsgehalt [von Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug] fällt dann aber bei der Abwägung ins Gewicht.“519
Nach Auffassung der Kammer seien die Äußerungen nicht als Schmähkritik einzuordnen. Gehe ein Gericht fälschlich von einer Schmähkritik aus und unterlasse daher eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, liege darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler. Dieser führe zur Aufhebung der Entscheidung, wenn sie darauf beruhe. Die in der Entscheidung des Amtsgerichts enthaltenen weiteren Abwägungsgesichtspunkte könnten die Entscheidung für sich nicht rechtfertigen520.
515 BVerfGE 93, 266, 293; im Anschluss werden diese Kriterien aufgeführt; ähnlich BVerfGE 94, 1, 8. 516 BVerfGE 82, 272, 284; der Senat nimmt hier allerdings selbst Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die Literatur; ähnlich BVerfGE 93, 266, 294. 517 BVerfGE 93, 266, 294; ähnlich BVerfGE 82, 272, 281. 518 BVerfGE 7, 198, 208; ähnlich BVerfGE 61, 1, 11. 519 BVerfGE 99, 185, 197; ähnlich BVerfGE 94, 1, 8. 520 BVerfGK 1, 289, 291.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung tragen. Fallentscheidend war die Frage, ob die Äußerung des Beschwerdeführers als Schmähkritik einzuordnen ist. Wird das Vorliegen einer Schmähkritik verneint, ist eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten sowie der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers vorzunehmen. Dies ergibt sich unmittelbar aus den von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäben. Der Senatsmaßstab, der sich mit der vorzunehmenden Abwägung beschäftigt, enthält im Anschluss auch die zu beachtenden Abwägungskriterien. Die Meinungsfreiheit hat zurückzutreten, wenn die Menschenwürde eines anderen angetastet wird oder es sich um eine Formalbeleidigung bzw. Schmähung handelt521. Ist dies nicht der Fall, kommt es bei der Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an, wobei es im Gegensatz zu Tatsachenbehauptungen keine Rolle spielt, ob das Werturteil richtig bzw. die Kritik berechtigt ist522. Zu berücksichtigen ist ferner, ob von der Meinungsfreiheit im Rahmen einer privaten oder öffentlichen Auseinandersetzung Gebrauch gemacht wurde, da im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung eine Vermutung zugunsten der freien Rede besteht523. Die Senatsmaßstäbe sind inhaltlich konkret formuliert. Sie erlauben daher eine direkte Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinne der Mahrenholzschen Formel. Dafür spricht zusätzlich, dass die Kammer weit überwiegend nur Senatsmaßstäbe verwendet. Es finden sich zwar Verweise auf Kammerentscheidungen, diese tragen jedoch nicht die konkrete Kammerentscheidung. Zum einen ging es um die Abwägung zwischen der Pressefreiheit und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung524, zum anderen 521 Der Maßstab lautet wörtlich: „Desgleichen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (. . .)“, BVerfGE 93, 266, 294. 522 Der Maßstab lautet wörtlich: „Lässt sich die Äußerung weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Dabei spielt es aber, anders als im Fall von Tatsachenbehauptungen, grundsätzlich keine Rolle, ob die Kritik berechtigt oder das Werturteil richtig ist (. . .)“, BVerfGE 93, 266, 294. 523 Der Maßstab lautet wörtlich: „Dagegen fällt ins Gewicht, ob von dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen oder im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (. . .)“, BVerfGE 93, 266, 294 f. 524 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 28.8.2000 – 1 BvR 1307/1998, NJW 2001, 503, 505.
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um die Unterlassung einer Schmähkritik gegenüber Heinrich Böll525. Von ihrer Struktur her betrachtet handelt es sich bei den Senatsmaßstäben um Prinzipien, da es am Konditionalschema fehlt. Prinzipien müssen nur eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Wenn aber schon eine direkte Subsumtion möglich ist, wird erst recht eine Richtung für den zu lösenden Fall vorgegeben. Die inhaltlichen Voraussetzungen einer Schmähkritik sowie die Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit sind originär verfassungsrechtliche Fragen, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit nicht abgesenkt sind. Aufgrund ihrer präzisen Formulierung erfüllen die Maßstäbe die Kriterien. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. cc) BVerfGK 8, 159 Nachdem eine Versammlung aus dem rechten Spektrum, an der der Beschwerdeführer als stellvertretender Versammlungsleiter teilgenommen hatte, aufgelöst wurde, riefen er und andere Teilnehmer die Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“. Das Amtsgericht verwarnte den Beschwerdeführer wegen eines Verstoßes gegen § 86a Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Satz 2 und § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Der Wahlspruch der Waffen-SS habe zwar „Unsere Ehre heißt Treue“ gelautet, die benutzte Parole sei einem verbotenen Kennzeichen jedoch zum Verwechseln ähnlich526. Nach Berufung der Staatsanwaltschaft verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die verwendete Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ sei der Parole der Hitlerjugend „Blut und Ehre“ zum Verwechseln ähnlich, wobei die Ergänzung der Waffen-SS an der Nähe nichts ändere. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG bezüglich des amtsgerichtlichen Urteils und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG hinsichtlich des landgerichtlichen Urteils statt. Sie nahm folgende Senatsmaßstäbe527 in Bezug: 525 BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 25.2.1993 – 1 BvR 151/1993, NJW 1993, 1462. 526 BVerfGK 8, 159, 160. 527 Die Kammer (BVerfGK 8, 159, 162) geht innerhalb ihrer Maßstäbe davon aus, dass sich auf den Schutz der Meinungsfreiheit grundsätzlich auch Rechtsextremisten berufen können, wobei sie an die Schranken der allgemeinen Gesetze gebunden sind. Sie verweist auf BVerfGE 111, 147, 155 ff. Dort findet sich der Maßstab in dieser Formulierung nicht. Er lässt sich jedoch aus den dortigen Ausführungen ableiten.
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„Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber – neben dem hier nicht zu erörternden Rückwirkungsverbot –, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (. . .).“528 „Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Würde erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende Deutung zur Strafbarkeit eines Verhaltens führen, so müssen sie zum Freispruch gelangen. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will.“529 „Der Gesetzgeber hat in den allgemeinen Gesetzen, insbesondere den Strafgesetzen (so etwa in den §§ 86, 86a, 130 StGB), Beschränkungen des Inhalts von Meinungsäußerungen an nähere tatbestandliche Voraussetzungen gebunden; eine Berufung auf das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung ist insofern nicht vorgesehen.“530 „Diese [die allgemeinen Gesetze] müssen jedoch ihrerseits wieder im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt und angewandt werden, damit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auch auf der Rechtsanwendungsebene Rechnung getragen wird (. . .).“531 „Auf der Stufe der Anwendung von §§ 185 ff. StGB im Einzelfall verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind (. . .). Das Ergebnis dieser Abwägung lässt sich wegen ihres Fallbezugs nicht generell und abstrakt vorwegnehmen. Doch ist in der Rechtsprechung eine Reihe von Gesichtspunkten entwickelt worden, die Kriterien für die konkrete Abwägung vorgeben.“532 „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifi528
BVerfGE 71, 108, 114. BVerfGE 92, 1, 13; ähnlich BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 236. 530 BVerfGE 111, 147, 155. 531 BVerfGE 94, 1, 8; ähnlich BVerfGE 7, 198, 205 ff. 532 BVerfGE 93, 266, 293; die Kammer (BVerfGK 8, 159, 163) formuliert wie folgt: „Auf der Ebene der Normanwendung verlangt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem von dem allgemeinen Gesetz geschützten Rechtsgut auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht. Dabei sind alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 93, 266, 293).“ 529
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schem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“533
Nach Auffassung der Kammer findet die amtsgerichtliche Auslegung, dass unter § 86a Abs. 2 Satz 2 StGB auch solche Kennzeichen fallen, denen zwar kein authentisches Kennzeichen zugeordnet werden könne, die aber den Anschein eines solchen Kennzeichens erweckten, keine Stütze im Gesetzeswortlaut534. Im Ansatz verfehlt sei die Auffassung des Landgerichts, nach der der Beschwerdeführer sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen könne, weil die Parole im Rahmen einer Demonstration als ein die gemeinsame Gesinnung repräsentierendes Erkennungssymbol der rechten Szene benutzt wurde535. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei eine Parole oder ein Kennzeichen einem anderen zum Verwechseln ähnlich, wenn ein gesteigerter Grad sinnlich wahrnehmbarer Ähnlichkeit gegeben sei bzw. eine objektive Übereinstimmung in wesentlichen Vergleichspunkten. Dies habe das Landgericht bezüglich beider Parolen verkannt536. Der Zusatz Waffen-SS rücke die Parole nicht in die Nähe der Hitlerjugend, sondern in die einer anderen Organisation537. Die Kammer verweist in diesem Zusammenhang auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Dieses Ergebnis lässt sich möglicherweise kumulativ auf die beiden von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe zu Art. 103 Abs. 2 GG stützen. Zum einen den, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschreiben muss, dass der Anwendungsbereich zu erkennen ist und durch Auslegung ermittelt werden kann. Zum anderen den, wonach es Aufgabe des Gesetzgebers ist zu entscheiden, welches Rechtsgut er mit den Mitteln des Strafrechts schützen will. Eine Korrektur durch die Gerichte scheide aus, selbst dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich herausfielen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erschienen. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist nicht möglich. Die Subsumtion des Sachverhalts unter die Senatsmaßstäbe beantwortet nicht direkt die Frage, ob 533 534 535 536 537
BVerfGE 18, 85, 92 f.; ähnlich BVerfGE 85, 248, 257 f.; 93, 266, 296. BVerfGK 8, 159, 162. BVerfGK 8, 159, 162 f. BVerfGK 8, 159, 164. BVerfGK 8, 159, 165.
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auch solche Kennzeichen unter § 86a Abs. 2 Satz 2 StGB zu subsumieren sind, denen zwar kein authentisches Kennzeichen zugeordnet werden kann, die aber den Anschein eines solchen erwecken. Dafür spricht ebenso, dass die Kammer die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bemüht, um ihr Ergebnis zu untermauern. Einer der beiden zu Art. 103 Abs. 2 GG verwendeten Senatsmaßstäbe entspricht vom Aufbau her betrachtet einem Prinzip. Er muss daher für die Falllösung nur eine Richtung vorgeben. Der zweite Maßstab enthält zwar einen Teil, der nach dem Konditionalschema aufgebaut ist, es handelt sich aber nur um eine Bestätigung einer allgemein geltenden Regelung für eine besondere Konstellation. Die Regelung selbst entspricht einem Prinzip. Erforderlich ist mithin eine Richtungsweisung für den zu entscheidenden Fall. Beide Maßstäbe weisen in eine Richtung. Der Anwendungsbereich der Straftatbestände kann nicht überdehnt und somit auf ähnliche Fälle erstreckt werden. Im vorliegenden Fall ist damit keine Strafbarkeit gegeben. Es fällt zusätzlich ins Gewicht, dass es um die Anwendung und Auslegung von § 86a Abs. 2 Satz 2 StGB geht, und damit um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Norm am Maßstab der Verfassung. Vor diesem Hintergrund sind die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe geringer. Das Ergebnis wird somit untermauert. Die beschriebene Problematik setzt sich bei der Meinungsfreiheit fort, als dessen Schranke sich § 86a Abs. 2 Satz 2 StGB über die allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG darstellt. Für die Bewertung der Senatsmaßstäbe gilt daher nichts anderes. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. ee) BVerfGK 9, 442 Der Beschwerdeführer wurde wegen vielfachen Kindesmissbrauchs zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und befand sich in der Justizvollzugsanstalt M in Untersuchungshaft. Da er wegen seiner Taten von den Mitgefangenen gedemütigt und misshandelt wurde, erfolgte eine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt L. Im Rahmen eines Verschubungsaufenthalts in der Justizvollzugsanstalt M lernte er einen Mitgefangenen kennen, zu dem sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte538. Ihm schrieb der Beschwerdeführer später einen Brief, in dem er die Verhältnisse in der Vollzugsanstalt L lobte und die Bediensteten als „echt super“ beschrieb. Er schrieb ferner: „Kein Vergleich mit den unfähigen Arschlöchern aus M. Du wirst hier wie ein Mensch behandelt und nicht wie ein Stück Dreck“539. Nachdem der Brief aufgrund eines amtsgerichtlichen Beschlusses angehal538 539
BVerfGK 9, 442 f. BVerfGK 9, 442, 443.
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ten worden war, wurde der Beschwerdeführer wegen Beleidigung verurteilt540. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung der Meinungsfreiheit sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Am Schutz der Privatsphäre nimmt auch die vertrauliche Kommunikation teil. Gerade bei Äußerungen gegenüber Familienangehörigen und Vertrauenspersonen steht häufig weniger der Aspekt der Meinungskundgabe und die damit angestrebte Einwirkung auf die Meinungsbildung Dritter als der Aspekt der Selbstentfaltung im Vordergrund. Nur unter den Bedingungen besonderer Vertraulichkeit ist dem Einzelnen ein rückhaltloser Ausdruck seiner Emotionen, die Offenbarung geheimer Wünsche oder Ängste, die freimütige Kundgabe des eigenen Urteils über Verhältnisse und Personen oder eine entlastende Selbstdarstellung möglich. Unter solchen Umständen kann es auch zu Äußerungsinhalten oder -formen kommen, die sich der Einzelne gegenüber Außenstehenden oder in der Öffentlichkeit nicht gestatten würde. Gleichwohl verdienen sie als Ausdruck der Persönlichkeit und Bedingung ihrer Entfaltung den Schutz des Grundrechts.“541 „Die Kenntnisnahme von der Äußerung ändert aber nichts an deren Zugehörigkeit zu der grundrechtlich geschützten Privatsphäre. Durch die Kontrollbefugnis kann diese zwar rechtmäßig durchbrochen, nicht aber in eine öffentliche Sphäre umdefiniert werden. Vielmehr wirkt sich der Grundrechtsschutz gerade dahin aus, dass der vertrauliche Charakter der Mitteilung trotz der staatlichen Überwachung gewahrt bleibt. Er entfällt folglich nicht schon deswegen, weil der Verfasser von der Briefkontrolle weiß.“542 „Schließlich ist der Kreis möglicher Vertrauenspersonen nicht auf Ehegatten (BVerfGE 35, 35; 42, 234) oder Eltern (BVerfGE 57, 170) beschränkt. Gerade die Ausführungen in dem letztgenannten Beschluss (a. a. O., S. 178) zeigen, dass von der Funktion des Persönlichkeitsschutzes her die Übertragung auf ähnlich enge Vertrauensverhältnisse geboten ist.“543
Nach Auffassung der Kammer haben die Fachgerichte den verfassungsrechtlichen Schutzumfang verkannt, indem sie den Vertrauensschutz bei Strafgefangenen nur auf die Post zwischen Familienangehörigen beschränkten. Vielmehr sei auch ein enges Vertrauensverhältnis zu einer Person erfasst, zu der kein Verwandtschafts- oder Liebesverhältnis bestehe544. Neben der Feststellung eines solchen Vertrauensverhältnisses müssten die Fachgerichte die Art und den Kontext der ehrverletzenden Äußerung berücksichtigen, was hier nicht geschehen sei545. 540 541 542 543 544 545
BVerfGK 9, 442, 443. BVerfGE 90, 255, 260. BVerfGE 90, 255, 262. BVerfGE 90, 255, 262. BVerfGK 9, 442, 445 f. BVerfGK 9, 442, 446.
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ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Kammerentscheidung könnte auf den Senatsmaßstab gestützt werden, dass von der Funktion des Persönlichkeitsschutzes her die Übertragung auf ähnlich enge Vertrauensverhältnisse geboten ist. Eine direkte Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel ist möglich. Unter die Formulierung ähnlich enge Vertrauensverhältnisse können enge Freunde ohne abstrakte Zwischenschritte subsumiert werden. Der Senatsmaßstab ist strukturell betrachtet als Prinzip einzustufen, da der konditionale Aufbau fehlt. Eine Richtung für die Falllösung wird mit der Übertragung des Schutzes vorgegeben. Schließlich handelt es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit höher waren. Sie werden durch die konkrete Formulierung erfüllt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden und die Kammer durfte entscheiden. gg) BVerfGK 11, 29 In einem Scheidungsverfahren mit ihrem Ehemann beantragte die Beschwerdeführerin, das Güterrechtsverfahren abzutrennen, womit sich der Ehemann nicht einverstanden erklärte. Als der Vorsitzende am Amtsgericht in der mündlichen Verhandlung die Neigung zu erkennen gab, keine Trennung durchzuführen, sprang die Beschwerdeführerin auf und schrie diesen an: „Diese Verhandlung ist eine Farce“546. Aufgrund dieser Äußerung wurde ein Ordnungsgeld in Höhe von 250 e gegen die Beschwerdeführerin verhängt, die zeitweilig den Verhandlungsraum verlies. In diesem Zusammenhang schrie sie den Vorsitzenden erneut an: „Sie sind eine Schande für die deutsche Richterschaft“. Nachdem die Beschwerde erfolglos blieb, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung der Meinungsfreiheit unter Berufung auf folgende Senatsmaßstäbe statt: „Auslegung und Anwendung der Strafgesetze sind Sache der Strafgerichte. Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei aber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt.“547
546
BVerfGK 11, 29, 30. BVerfGE 93, 266, 292; die Kammer (BVerfGK 11, 29, 30) formulierte: „Allerdings sind bei der Auslegung und Anwendung der allgemeinen Gesetze verfassungsrechtliche Anforderungen zu beachten, die sich aus der wertsetzenden Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben (vgl. BVerfGE 93, 266, 292).“ 547
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„Die Wahrnehmung dieser Aufgaben [Beratung und Vertretung der Rechtssuchenden] erlaubt es dem Anwalt – ebenso wie dem Richter – nicht, immer so schonend mit den Verfahrensbeteiligten umzugehen, dass diese sich nicht in ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt fühlen. Nach allgemeiner Auffassung darf er im ‚Kampf um das Recht‘ auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, ferner Urteilsschelte üben oder ‚ad personam‘ argumentieren, um beispielsweise eine mögliche Voreingenommenheit eines Richters oder die Sachkunde eines Sachverständigen zu kritisieren.“548
Nach Auffassung der Kammer setzt die Sanktionierung einer Äußerung wegen Ungebühr voraus, dass sie nach Zeitpunkt, Inhalt oder Form den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in nicht unerheblichem Ausmaß gestört habe und die Sanktion dem Anlass angemessen sei, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sei. Die Spontanreaktion auf ein, zumindest aus Sicht des Betroffenen, beanstandungswürdiges Fehlverhalten der prozessualen Gegenseite oder des Gerichts könne der Verhängung einer Sanktion entgegenstehen. Die Verhängung ohne vorherige Ermahnung könne in solchen Situationen unverhältnismäßig sein549. In den angegriffenen Beschlüssen habe eine Abwägung unter Einbeziehung aller wesentlichen Umstände nicht stattgefunden. Ebenso sei nicht erkennbar, warum eine vorherige Ermahnung entbehrlich gewesen war550. Eine vorherige Ermahnung sei in dieser Situation erforderlich gewesen, da familiengerichtliche Verfahren typischerweise besonders psychisch belastend seien551. hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden Der Senatsmaßstab, dass im Kampf um das Recht auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzt werden können, trägt möglicherweise die Kammerentscheidung. Eine Subsumtion des Verhaltens der Beschwerdeführerin ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist nicht möglich. Die Beschwerdeführerin ist weder Anwalt noch Richter. Zudem zieht die Kammer Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen heran552. Sie konkretisieren den Senatsmaßstab weiter. Struk548
BVerfGE 76, 171, 192. BVerfGK 11, 29, 32; sowohl die Ausführungen zur Spontanreaktion als auch die zur vorherigen Ermahnung stammen aus der Kommentarliteratur und werden von der Kammer übernommen. 550 BVerfGK 11, 29, 32. 551 BVerfGK 11, 29, 33. 552 Demnach setze ein wirkungsvoller Rechtsschutz voraus, dass der Rechtsuchende Handlungen vornehmen könne, die nach seiner Sicht geeignet sind, um sich im Prozess zu behaupten, ohne Rechtsnachteile befürchten zu müssen. Nicht entscheidend sei es, ob der Betreffende seine Kritik hätte anders formulieren können, BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 11.04.1991 – 2 BvR 549
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turell betrachtet, ist der Maßstab als Prinzip einzustufen. Eine Richtung für die Falllösung wird vorgegeben. Im Kampf um das Recht dürfen eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzt werden. Geht es zunächst um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, nämlich die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Ungebühr, handelt es sich dennoch um eine Äußerung, die in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt. Die Verhängung des Ordnungsgeldes stellt sich als Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Im Rahmen der Abwägung auf Rechtfertigungsebene spielen verfassungsrechtliche Kriterien die entscheidende Rolle, keine einfachrechtlichen Erwägungen. Die Senatsmaßstäbe werden daher für die Beantwortung einer originär verfassungsrechtlichen Frage herangezogen. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind höher, werden aber erfüllt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit beantwortet. ii) Bewertende Zusammenfassung Abschließend lässt sich für die vorgestellten Kammerbeschlüsse festhalten, dass die Senatsmaßstäbe inhaltlich konkret genug waren, um die Kammerentscheidungen zu tragen. So finden sich Maßstäbe, die sich detailliert zur Behandlung von Tatsachenbehauptungen äußern553, zum Vorliegen einer Schmähkritik554 oder zur Rolle der Meinungsfreiheit bei der Auslegung der §§ 185 ff. StGB555. Gerade der zuletzt genannte Maßstab, der sich mit der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre beschäftigt, enthält die bereits erwähnten Abwägungskriterien. Dies bestätigt folgende These: Es gibt Bereiche, in denen das Netz der Senatsmaßstäbe quantitativ und qualitativ sehr dicht ist. Etwa bei der Versammlungsfreiheit, bei der Unverletzlichkeit der Wohnung und tendenziell bei der Wissenschaftsfreiheit. Umgekehrt existieren jedoch ebenso Bereiche, in denen diese Durchdringung noch nicht erfolgt ist, wie etwa in Teilbereichen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der Religionsfreiheit oder der Freiheit der Person. Die weit überwiegende Anzahl der verwendeten Senatsmaßstäbe enthält kein Konditionalschema und ist als Prinzip einzustufen. Es lässt sich hier insgesamt eine Parallele zu den Maßstäben zum Versammlungsrecht ziehen. 963/90, NJW 1991, 2074, 2075. Ebenso würden ehrverletzende Äußerungen, die in keinem inneren Zusammenhang zur Ausführung oder Verteidigung der geltend gemachten Rechte stehen, nicht privilegiert, BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 11.04.1991 – 2 BvR 963/90, NJW 1991, 2074, 2075. Der letzte Maßstab stammt jedoch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und wurde von der Kammer übernommen, BGH, NJW 1971, 284 f. 553 BVerfGE 90, 241, 247 f. 554 BVerfGE 82, 272, 284. 555 BVerfGE 93, 266, 293.
VI. Die Justizgrundrechte
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Es fällt auf, dass die Kammern teilweise sehr tief in die Prüfung einfachrechtlicher Fragen einsteigen, obwohl die Meinungsfreiheit kein normgeprägtes Grundrecht ist. Es finden sich vertiefte Ausführungen zur Auslegung von § 86a Abs. 2 Satz 2 StGB unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs556 oder zur Auslegung von § 178 Abs. 1 GVG unter Bezugnahme auf die Literatur bzw. Rechtsprechung557. Ähnlich agierten die Kammern schon beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Bereich der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs558 oder bei der Versammlungsfreiheit559. In verfahrensrechtlicher Hinsicht besteht jedoch ein Unterschied zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht bzw. der Versammlungsfreiheit auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite. Die Entscheidung eines Bundesgerichts, hier des Bundesgerichtshofs, ist nicht ausgeschlossen. Anders die Regelungen des Strafvollzugsgesetzes oder der Verwaltungsgerichtsordnung im vorläufigen Rechtsschutz, die weder eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs noch des Bundesverwaltungsgerichts vorsehen. Es besteht somit zumindest aus prozessrechtlicher Sicht kein Anlass, dass sich die Kammern in die Rolle einer Superrevisionsinstanz begeben.
VI. Die Justizgrundrechte Im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 trafen die Kammern des Bundesverfassungsgerichts insgesamt 212 Entscheidungen, die in diesen Bereich thematisch eingeordnet werden können560. Ein Grundrecht sowie ein grundrechtsgleiches Recht spielen eine herausgehobene Rolle: Zum einen Art. 19 Abs. 4 GG und zum anderen Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verfassungsbeschwerden zu Art. 19 Abs. 4 GG sind vielgestaltig und lassen sich schwer in Kategorien einteilen. Es finden sich jedoch mehrere Kammerentscheidungen, in denen es um die Frage des bestehenden Rechtsschutzbedürfnisses generell und insbesondere nach erledigten Maßnahmen geht561. Ebenso verhält es sich mit den Verfassungsbeschwerden, die eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens562 oder von Art. 103 Abs. 1 GG rügen. Eine Einteilung in Gruppen fällt auch hier 556
BVerfGK 8, 159, 162. BVerfGK 11, 29, 30 ff. 558 Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb) (11). 559 Siehe die Ausführungen unter D. V. 2. a) ii). 560 Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 5. 561 BVerfGK 3, 147; 4, 287; 6, 197; 6, 303; 6, 344; 11, 262. 562 So ging es etwa um das Freihalten einer Notaranwaltsstelle (BVerfGK 1, 110); die Erstattung von Dolmetscherkosten für Verteidiger (BVerfGK 1, 331); die Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung (BVerfGK 4, 66); die unterlassene 557
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
schwer. Gegenständlich reichen die Rügen zu Art. 103 Abs. 1 GG von abgelehnten Rechtsbehelfen563 bis zur Nichtberücksichtigung angebotener Beweismittel564. Verfassungsbeschwerden zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beziehen sich häufig auf abschlägig beschiedene Befangenheitsanträge565. Im Zusammenhang mit dem Justizgewährungsanspruch ging es häufiger um den Zugang zu und die Entscheidung durch die Rechtsmittelgerichte. Genauer gesagt standen im Mittelpunkt die Zulässigkeit der Berufungzurückweisung im Wege des einstimmigen Beschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO566, die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO567 oder die Anforderungen, die an die Darlegungslast bei einer Nichtzulassungsbeschwerde an den Bundesgerichtshof zu stellen sind568. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Zunächst wird der Fragestellung nachgegangen, ob sich die praktische Handhabung der Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit durch die Kammern mit den dogmatischen Vorgaben der Senate sowie der Literatur zu deren Auslegung deckt. In diesem Bereich existiert kein Beschluss, der nähere Ausführungen zum Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit enthält. Der folgende Beschluss befasst sich mit dem besonderen Gewicht der Grundrechtsverletzung, einer Fallgruppe des Tatbestandsmerkmals angezeigt. a) Besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung Die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts gab einer Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 103 Belehrung ausländischer Beschuldigter über ihre Rechte nach Art. 36 Abs. 1 WÜK (BVerfGK 9, 174). 563 Verwerfung einer Berufung als unzulässig ohne vorherige Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 519 Abs. 3 ZPO a. F. (BVerfGK 3, 274); Verwerfung einer Anhörungsrüge im Zivilprozess als unzulässig – Vorrang der fachgerichtlichen Kontrolle bei Rüge einer Gehörsverletzung (BVerfGK 10, 397); fehlerhafte Verwerfung einer Anhörungsrüge im Arbeitsgerichtsprozess als unzulässig (BVerfGK 11, 13). 564 BVerfGK 3, 143; 7, 485. 565 BVerfGK 5, 269; 7, 325; 8, 376; 11, 435. 566 BVerfGK 5, 189; 11, 235. 567 BVerfGK 6, 79. 568 BVerfGK 10, 258.
VI. Die Justizgrundrechte
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Abs. 1 GG statt. Nachdem der Beschwerdeführer zunächst einen Mahnbescheid beantragt hatte, wurde der Rechtsstreit, nach Widerspruch des Schuldners, vor dem Amtsgericht weitergeführt. Der Beschwerdeführer begründete seinen Anspruch und bot zusätzlich Zeugenbeweis an. Der zuständige Richter forderte den Gerichtskostenvorschuss an und bestimmte mittels Verfügung vom 06.01.2005 die Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens569. Als am 17.01.2005 die Klageerwiderung eintraf, beschloss der Richter nach § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und gab dem Beschwerdeführer bis zum 25.02.2005 Zeit zur Erwiderung. Am 11.03.2005 wies der Richter die Klage mit Urteil ab, da der Beschwerdeführer trotz qualifizierten Bestreitens des Beklagten keinen Beweis angetreten habe. Es befand sich jedoch kein unterschriebenes Empfangsbekenntnis als Nachweis der bewirkten Zustellung in der Gerichtsakte570. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers erhob am 19.04.2005 Gehörsrüge, nahm am 25.04.2005 Einsicht in die Gerichtsakten und beantragte am 18.05.2005 die Übersendung des verfahrensleitenden Beschlusses sowie der Klageerwiderung571. Die Gehörsrüge wurde mit Beschluss vom 26.05.2005 zurückgewiesen, weil die Klageerwiderung dem Bevollmächtigten zugestellt und das Schreiben nicht an das Gericht zurückgesandt worden sei. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs komme daher nicht in Betracht. Schließlich verfügte der Richter die nun erhobene Gegenvorstellung zu den Akten572. Nach Auffassung der Kammer stellt die Klageabweisung, ohne vorherige Überprüfung des Zugangs der Klageerwiderung bei dem Beschwerdeführer, noch ein einfaches Versehen dar. Mit Erhebung der Gehörsrüge hätte sich dem Richter der Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufdrängen müssen573. Den Grundrechtsverstößen komme besonderes Gewicht zu. Sie beruhten auf einer groben Verkennung des durch die Verfassung gewährten Schutzes, auf einem leichtfertigen Umgang mit den grundrechtlich geschützten Positionen und verletzen damit in krasser Form rechtsstaatliche Grundsätze. Aus der fehlenden Korrektur und der fehlenden angemessenen Begründung anlässlich des erhobenen Rechtsmittels schloss die Kammer auf eine schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich geschützter Grundwerte574.
569 570 571 572 573 574
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
7, 7, 7, 7, 7, 7,
438, 438, 438, 438, 438, 438,
439. 439. 440. 440. 442. 442.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Fraglich ist, ob die praktische Handhabung der Fallgruppe des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung – Anknüpfungspunkt der Fallgruppe ist das Tatbestandsmerkmal angezeigt – mit der von der Senatsrechtsprechung und der Literatur entwickelten Auslegung hierzu übereinstimmt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird das Tatbestandsmerkmal angezeigt gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG durch die zwei Fallgruppen des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung und der existentiellen Betroffenheit des Beschwerdeführers mit ihren jeweiligen Fallgruppen konkretisiert. Eine der Fallgruppen des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung stellt der besonders krasse Verstoß dar, der wiederum drei Varianten enthält, nämlich die grobe Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes, den leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen und die krasse Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze575. Die Kammer differenziert nicht zwischen den drei Varianten, sondern zieht sie insgesamt zur Begründung des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung heran. In der Sache prüft sie die Variante der groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes, nach der einfache Versehen, organisatorische Fehler im Gerichtsbetrieb und unzureichende Abwägungen keine grobe Verkennung der Grundrechtslage darstellen576. Denn die Kammer qualifiziert die Klageabweisung ohne Überprüfung des Zugangs der Klageerwiderung als einfaches Versehen. Sowohl die fehlende Korrektur als auch die fehlende angemessene Begründung des erhobenen Rechtsmittels stuft sie hingegen als schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich geschützter Werte ein. Die Einordnung des Falles in diese Unterfallgruppe erfolgt somit aufgrund einer argumentativen Auseinandersetzung und nicht bloßer Feststellung. Es setzt sich die Tendenz fort, die sich schon bei den Kammerbeschlüssen im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn abgezeichnet hat. Dort erfolgte ebenfalls eine argumentative Zuordnung des Falles in diese Unterfallgruppe577. Zieht man den dortigen Fall578 vergleichend heran, lässt sich zudem ein Gleichlauf auf inhaltlicher Ebene feststellen. Vor dem Hintergrund der Unterbringung eines 13 Jahre alten Kindes in einer geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen den Willen der Eltern durch das Jugendamt hatten die zuständigen Gerichte 575 576 577 578
Siehe die Siehe die Siehe die BVerfGK
Ausführungen unter B. V. 1. c) aa). Ausführungen unter B. V. 1. c) aa). Ausführungen unter D. III. 1. d). 11, 323 ff.
VI. Die Justizgrundrechte
233
den Eltern nicht das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind entzogen, die Art der Unterbringungsmaßnahme nicht benannt und hörten die Eltern auch nicht persönlich an. Bedenken bestanden ebenso im Hinblick auf die Sachverhaltsaufklärung der zuständigen Gerichte, weil das Oberlandesgericht das betroffene Kind nicht persönlich anhörte und keine aktuelle Stellungnahme der Klinik zur Erforderlichkeit der Fortdauer der Unterbringung einholte. In beiden Fällen handelt es sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht nicht nur um einfache Versehen. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Im Folgenden wird wiederum untersucht, ob das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage tatsächlich erfüllt war. Grundlage der Untersuchung sind die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse in diesem Bereich. Es handelt sich um den Bereich mit der größten Anzahl von Verfassungsbeschwerden, wobei hier von den Entscheidungen ausgegangen wird, die in den Bänden 1 bis 13 von dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht worden sind. Den Fokus der Betrachtung bilden zum einen Art. 19 Abs. 4 GG bzw. der allgemeine Justizgewährungsanspruch als dessen zivilrechtliche Entsprechung und zum anderen Art. 103 Abs. 1 GG. Insbesondere Art. 103 Abs. 1 GG hat eine überragende praktische Bedeutung, da seine Verletzung am häufigsten gerügt wurde579. Seit Einführung des Anhörungsrügengesetzes 2005 ist die Zahl der Verfassungsbeschwerden jedoch rückläufig, die eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügen580. a) Der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt Während die einen Art. 19 Abs. 4 GG als „Krönung des Rechtsstaates“ oder als „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“ feierten, sahen die anderen schon die „Entfesselung der dritten Gewalt“ kommen oder warnten vor der „Hypertrophie der Justizstaatlichkeit“ bzw. vor dem „Rechtswegestaat“581. Die Vielgestaltigkeit der Verfassungsbeschwerden zu Art. 19 579 So der Bericht der Entlastungskommission, S. 63. Im Jahr 1995 fielen 2.725 Verfassungsbeschwerden in die Zuständigkeit des Ersten Senats, wovon insgesamt 1.309 – davon 245 ausschließlich – eine Verletzung des rechtlichen Gehörs rügten. 580 So Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Fn. 4; demnach sei, einer unveröffentlichten Statistik zufolge, die Zahl der Verfassungsbeschwerden im Zeitraum 2005 bis 2009 im Vergleich zum Zeitraum 1996 bis 2004 von durchschnittlich 395 pro Jahr auf durchschnittlich 260 pro Jahr gesunken. 581 Nachweise bei Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 24.
234
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Abs. 4 GG wurde schon zu Beginn erwähnt. Nachfolgend wird daher eine Auswahl von Kammerbeschlüssen vorgestellt, um auf diese Weise einen Einblick in die mit dem Grundrecht in Zusammenhang stehenden Problemkonstellationen zu geben. An dieser Stelle sei noch auf eine Auffälligkeit hingewiesen: Viele der Verfassungsbeschwerden zu Art. 19 Abs. 4 GG stammen von Strafgefangenen582, was sich wiederum auf die Auswahl der Kammerbeschlüsse niederschlägt. aa) BVerfGK 1, 107 Der Beschwerdeführer ist ausgebildeter Zimmermann und übt ein selbstständiges Gewerbe mit dem Gegenstand Innenausbau, Handel, Montage bzw. Demontage vorgefertigter Bauelemente aus583. Nachdem er dieses Gewerbe angemeldet hatte, verweigerte er der zuständigen Behörde die Einsicht in seine Unterlagen, sodass sie nicht klären konnte, ob er den Handwerksbetrieb führt. Als Konsequenz kündigte sie die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens an. Der Beschwerdeführer begehrte im Wege des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtschutzes die vorläufige Feststellung, dass er seine Tätigkeit ohne Meisterbrief und Eintragung in die Handwerksrolle ausüben dürfe, wobei er auch das Hauptsacheverfahren betrieb. Während das Verwaltungsgericht den Antrag ablehnte, weil dem Beschwerdeführer gegenüber der Bezirksregierung das Feststellungsinteresse fehle und gegenüber dem Landkreis eine hier unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache begehrt werde, verwies ihn das Oberverwaltungsgericht auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren584. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Wie das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, verlangt der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder die Durchsetzung seiner subjektiven öffentlichen Rechte gewährt, eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (. . .). Die Gewährleistung schließt einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen der Individualrechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt ein (. . .).“585 „Der hierin [Art. 19 Abs. 4 GG] verbürgte umfassende und effektive gerichtliche Schutz (. . .) wird illusorisch, wenn die Verwaltungsbehörden irreparable Maßnahmen durchführen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben.“ 582 BVerfGK 1, 201; 2, 196; 3, 147; 3, 264; 6, 291; 6, 344; 7, 403; 8, 118; 8, 319; 9, 390; 10, 509; 11, 54; 11, 262. 583 BVerfGK 1, 107. 584 Ebd. 585 BVerfGE 101, 106, 122; ähnlich BVerfGE 60, 253, 266.
VI. Die Justizgrundrechte
235
„Art. 19 Abs. 4 GG verbietet zwar keineswegs die Errichtung jeder Schranke vor dem Zugang zum Gericht (. . .). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Gewährleistung – den wirkungsvollen Rechtsschutz – verfolgen; sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (. . .). Das muss auch der Richter bei der Auslegung dieser Normen beachten; er darf den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren.“586
Nach Auffassung der Kammer wurde dem Beschwerdeführer durch die Fachgerichte der einstweilige Rechtsschutz vollständig verwehrt. Das Bußgeldverfahren gewährleiste hier keinen verfassungsrechtlich ausreichenden Rechtsschutz587. Die Klärung, ob der Beruf ohne Eintragung in die Handwerksrolle ausgeübt werden dürfe, könne nicht im Bußgeldverfahren erfolgen, da dies erhebliche Nachteile für die Betroffenen mit sich bringe588. bb) Ergebnis: Die Frage war nicht entschieden Das Grundrecht auf Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt aus Art. 19 Abs. 4 GG ist normgeprägt, das heißt, es bedarf der besonderen einfachrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber589. Hierin liegt eine Gemeinsamkeit mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG. Es stellt sich vor dem Hintergrund der einfachrechtlichen Normprägung im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG ebenso die Frage, ob die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe zu stellen sind, im Vergleich zu nicht normgeprägten Grundrechten geringer sind. Aus den gleichen Erwägungen, die im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG tragend waren, scheidet eine Absenkung der Anforderungen aus590. Die Entscheidung lässt sich möglicherweise auf den Maßstab stützen, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Errichtung von Schranken vor dem gerichtlichen Zugang generell verbiete, jedoch effektiver Rechtsschutz ermöglicht werden und dies für den Bürger auch zumutbar sein müsse. Aufgrund seiner allgemeinen Formulierungen ist dieser Maßstab nicht für eine Sub586
BVerfGE 77, 275, 284; ähnlich BVerfGE 10, 264, 268; 88, 118, 124. BVerfGK 1, 107, 108 f. 588 BVerfGK 1, 107, 109. 589 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 368; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 52; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rn. 1097; SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 5; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 79; Volkmann, StaatsR II, 2. Kap. § 8 Rn. 12; Kloepfer, VerfR, § 74 Rn. 4, bezeichnet Art. 19 Abs. 4 GG sogar als stark normgeprägt. 590 Siehe hierzu die Ausführungen unter D. III. 2. c) bb). 587
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
sumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel geeignet. Die Kammer greift im Rahmen ihrer Maßstäbe auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurück, um festzustellen, dass dem Beschwerdeführer der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nicht hätte verweigert werden dürfen591. Nicht der Senatsmaßstab trägt somit die Kammerentscheidung, sondern die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, da die Kammer sich im Wesentlichen auf sie stützt, um den Fall zu entscheiden. Die verwendete Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bildet hier den Zwischenschritt im Sinne der Formel von Mahrenholz. Sie schließt die Lücke zwischen den Senatsmaßstäben und dem konkreten Fall. Der entscheidungstragende Maßstab weist keine Konditionalstruktur auf, sondern entspricht, von seinem Aufbau her betrachtet, einem Prinzip. Eine Richtung für die Falllösung reicht somit aus. Diesem Erfordernis wird der Senatsmaßstab nicht gerecht, denn es wird keine Richtung für die fallentscheidende Frage aufgezeigt. Bei den hier maßgeblichen Fragen des Feststellungsbedürfnisses, der Vorwegnahme der Hauptsache und der Verweisung auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren handelt es sich um keine originär verfassungsrechtlichen Fragen. Vielmehr geht es um die Überprüfung der Auslegung einfachrechtlicher, nämlich prozessualer, Fragen am Maßstab der Verfassung, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe geringer sind als bei originär verfassungsrechtlichen. Dies vermag am gefundenen Ergebnis nichts zu ändern, denn der verwendete Maßstab ist dennoch zu unbestimmt. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war nicht erfüllt. cc) BVerfGK 1, 201 Der Beschwerdeführer, ein Strafgefangener, ist von ungewöhnlich kleiner Körpergröße. Nachdem er die ihm zugeteilte Arbeit verweigerte, weil ihm die Arbeitskleidung und die Schuhe zu groß waren, verhängte die Anstaltsleitung ihm gegenüber eine zweiwöchige Freizeitsperre als Disziplinarmaßnahme592. Als er sich weiterhin weigerte, die ihm zugeteilte Arbeit zu verrichten, wurde zusätzlich ein fünftägiger Arrest verhängt. Der Beschwerdeführer suchte daraufhin um vorläufigen Rechtsschutz vor der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts nach. Diese lehnte den Antrag ab, da die begehrte Anordnung die Hauptsache vorwegnehme und nur bei schweren bzw. unzumutbaren Nachteilen vorläufige Maßnahmen getroffen werden 591
BVerfGK 1, 107, 109; die Kammer nimmt BVerwGE 39, 247, 248 f. in Be-
zug. 592
BVerfGK 1, 201.
VI. Die Justizgrundrechte
237
könnten. Zudem führte das Gericht aus, dass die Hosenlänge durch Umschlagen verändert werden könne und es „durchaus heutigen modischen Vorstellungen entspricht, wenn der Schritt des Beinkleides bis zu den Kniekehlen reicht“593. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG statt. Sie nahm folgende Maßstäbe594 in Bezug: „Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (. . .). (. . .) Aus dieser grundsätzlichen Garantie folgt zugleich das Verfassungsgebot, möglichst zu verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung Tatsachen geschaffen werden, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sie sich bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweisen sollten (. . .).“595 „Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Verwaltungsprozess nicht schlechthin.“596 „Es verstößt zwar nicht gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn der Gesetzgeber im Bereich des Strafverfahrens und des Strafvollzuges – im Gegensatz zu der für die Anfechtung von Verwaltungsakten im Verwaltungsprozess geltenden Regelung (§ 80 VwGO) – die sofortige Vollziehung als Regel, die Aussetzung des Vollzuges als Ausnahme vorgesehen hat, weil er grundsätzlich den sofortigen Vollzug der angeordneten Maßnahmen aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses für geboten hält. Jedoch muss gewährleistet sein, dass der Betroffene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung oder aber das Interesse des Einzelnen an der Aussetzung der Vollstreckung bis zur Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme überwiegt. Bei dieser Abwägung fällt der Rechtsschutzanspruch des Bürgers umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Exekutive Unabänderliches bewirkt (. . .).“597 „Art. 19 Abs. 4 GG verbietet zwar keineswegs die Errichtung jeder Schranke vor dem Zugang zum Gericht (. . .). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Gewährleistung – den 593
BVerfGK 1, 201, 202. Die Maßstäbe BVerfGE 69, 315, 339 f.; 77, 381, 400 f. beziehen sich darauf, dass auch die Versagung vorläufigen Rechtschutzes Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein kann. Die Maßstäbe BVerfGE 69, 315, 340; 80, 40, 45; 104, 65, 70 f., beziehen sich auf die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache. Insgesamt handelt es sich um Fragen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Auf eine wörtliche Wiedergabe kann daher verzichtet werden. 595 BVerfGE 65, 1, 70; ähnlich BVerfGE 37, 150, 153. 596 BVerfGE 65, 1, 70. 597 BVerfGE 37, 150, 153; ähnlich BVerfGE 35, 382, 402. 594
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
wirkungsvollen Rechtsschutz – verfolgen; sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (. . .). Das muss auch der Richter bei der Auslegung dieser Normen beachten; er darf den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren.“598
Nach Auffassung der Kammer hat das Landgericht im Rahmen seiner Entscheidung nicht zwischen den Voraussetzungen der Aussetzungsanordnung nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG und den Voraussetzungen einer Vornahmeanordnung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG i. V. m. § 123 Abs. 1 VwGO differenziert. Das Gericht sei rechtsfehlerhaft von einer Vornahmeanordnung ausgegangen, obwohl eine Aussetzungsanordnung zu prüfen gewesen wäre599. In diesem Zusammenhang sei es unhaltbar, wenn der Erlass der Anordnung mit der Begründung abgelehnt würde, dass die Anordnung die Hauptsache vorwegnehme und die Voraussetzungen für eine vorweggenommene Entscheidung nicht vorliegen würden600. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Zwei Senatsmaßstäbe könnten dieses Ergebnis kumulativ tragen: Zum einen der Maßstab, dass dem Bürger die Möglichkeit zur Überprüfung der Frage offen steht, ob im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung sein Aussetzungsinteresse überwiegt. Zum anderen der Maßstab, nach dem Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Errichtung von Schranken vor dem gerichtlichen Zugang generell verbiete, jedoch effektiver Rechtsschutz ermöglicht werden und dies für den Bürger auch zumutbar sein müsse, was der Richter bei der Auslegung der Normen zu berücksichtigen habe. Insbesondere der erste Maßstab ist für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinne der Mahrenholzschen Formel geeignet. In sprachlich etwas abgewandelter Form findet er sich als Obersatz in Prüfungen zu Anträgen nach § 80 Abs. 5 VwGO wieder. Der zweite Maßstab ist etwas abstrakter formuliert als der erste, gewinnt aber in der Zusammenschau mit ihm Kontur. Er eignet sich ebenfalls für eine Subsumtion ohne Zwischenschritte in dieser Konstellation. Zwar nimmt die Kammer wieder andere Kammerentscheidungen in Bezug, doch handelt es sich dabei nicht um die Entscheidung tragende Maßstäbe601. Aufbautechnisch ist der erste Maßstab als Regel einzuordnen, denn er weist ein Konditionalschema auf. 598 599 600 601
BVerfGE 77, 275, 284; ähnlich BVerfGE 10, 264, 268; 88, 118, 124. BVerfGK 1, 201, 205. BVerfGK 1, 201, 206. BVerfGK 1, 201, 205 f.
VI. Die Justizgrundrechte
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Er muss daher konkret formuliert sein und eine Subsumtion zulassen. Bei dem zweiten Maßstab handelt es sich um ein Prinzip, sodass er nur eine Richtung für die Falllösung vorgeben muss. Diese Anforderungen werden erfüllt. Der erste Maßstab lässt bereits eine Subsumtion nach der Formel von Mahrenholz zu und der zweite gibt in Zusammenschau mit dem ersten zumindest eine Richtung für die Falllösung vor. Schließlich fließt in die Bewertung die Tatsache mit ein, dass es wiederum um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung geht und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. ee) BVerfGK 2, 196 Der Beschwerdeführer, ein Strafgefangener, wurde für drei Tage in einer sogenannten Trockenzelle untergebracht und gegen ihn wurde zusätzlich ein fünftägiger Arrest verhängt, nachdem er sich geweigert hatte, eine Urinprobe wegen des Verdachts von unerlaubtem Drogenkonsum abzugeben602. Die Strafvollstreckungskammer lehnte sowohl den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Disziplinarmaßnahme als auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit ab. Nach Aufhebung des Beschlusses wegen fehlender Tatsachenfeststellung durch das Oberlandesgericht lehnte die Kammer den Antrag, die Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme festzustellen, erneut als unbegründet ab. Die anschließende Rechtsbeschwerde war nach Ansicht des Oberlandesgerichts unzulässig, weil sie von einem anderen Strafgefangenen unter Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz verfasst worden war und somit nicht Gegenstand einer oberlandesgerichtlichen Überprüfung sein könne603. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG statt, dabei berief sie sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Art. 19 Abs. 4 GG verbietet zwar keineswegs die Errichtung jeder Schranke vor dem Zugang zum Gericht (. . .). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Gewährleistung – den wirkungsvollen Rechtsschutz – verfolgen; sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (. . .). Das muss auch der Richter bei der Auslegung dieser Normen beachten; er darf den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren.“604 602 603 604
BVerfGK 2, 196, 197. BVerfGK 2, 196, 198. BVerfGE 77, 275, 284; ähnlich BVerfGE 40, 237, 256.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Entscheidend ist insbesondere, dass der Zugang zu den Gerichten allen Bürgern auf möglichst gleichmäßige Weise eröffnet wird. Die Grundsätze über die Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln müssen sich daher durch ein besonderes Maß an Gleichheit, Klarheit und innerer Logik auszeichnen.“605 „Nach Art. 92 GG ist es Aufgabe der Gerichte, Rechtssachen mit verbindlicher Wirkung zu entscheiden, und zwar in Verfahren, in denen durch Gesetz die erforderlichen prozessualen Sicherungen gewährleistet sind und der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf rechtliches Gehör besteht (. . .). Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit ist daher typischerweise die letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren.“606
Nach Auffassung der Kammer können Verstöße gegen das Rechtsberatungsgesetz zu keiner Verkürzung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Antragstellers führen, denn das Gesetz enthalte selbst die jeweils gebotenen Sanktionen, wie zum Beispiel die Ahndung als Ordnungswidrigkeit607. Zudem handele nicht derjenige ordnungswidrig, der sich unter Verstoß gegen des Rechtsberatungsgesetz fremder Hilfe bediene. Verstöße gegen das Rechtsberatungsgesetz könnten vielmehr zum Ausschluss des Prozessbevollmächtigten führen608. Schließlich gebe es keinen prozessualen Grundsatz, dass nur rechtmäßig zustande gekommene Anträge zulässig seien609. ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden Als Stützen der Entscheidung kommen zwei Senatsmaßstäbe kumulativ in Betracht. Zum einen der Maßstab, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Errichtung von Schranken vor dem gerichtlichen Zugang generell verbiete, jedoch effektiver Rechtsschutz ermöglicht werden und dies für den Bürger auch zumutbar sein müsse, was der Richter bei der Auslegung der Normen zu berücksichtigen habe. Zum anderen der Maßstab, nach dem der Zugang zu den Gerichten allen Bürgern gleichmäßig eröffnet werde und die Grundsätze über Einlegung sowie Begründung von Rechtsmitteln gleich, klar bzw. logisch sein müssten. Der zuletzt genannte Maßstab lässt eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte zu. Äußert er sich doch sehr konkret zu den Anforderungen, die an die Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln zu stellen sind. Der erste Maßstab gewinnt wiederum nur in Verbindung mit dem zweiten Kontur und ermöglicht in diesem Zusammenhang die Subsumtion. Beide Maßstäbe sind Prinzipien und müssen für die Falllösung nur eine Richtung vorgeben. Diesem Erfordernis werden sie ge605 606 607 608 609
BVerfGE 74, 228, 234. BVerfGE 103, 111, 138. BVerfGK 2, 196, 199. BVerfGK 2, 196, 199 f. BVerfGK 2, 196, 201.
VI. Die Justizgrundrechte
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recht. Schließlich geht es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind geringer. Überspannt würden sie nämlich, erwartete man von ihnen, dass sie die Konsequenzen eines Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz bei der Erhebung von Rechtsmitteln detailliert regelten. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. gg) BVerfGK 6, 344 Der Beschwerdeführer, ein Strafgefangener, wurde am 21.10.2002 abgeschoben, nachdem er eine Freiheitsstrafe verbüßt hatte. Untergebracht war er in einer 7,78 Quadratmeter großen Zelle, die zusätzlich einen, durch einen Schamvorhang abgetrennten, WC- und Waschbereich hatte610. Eine Untersuchung des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt ergab, dass der Beschwerdeführer unter einer Angststörung mit Panikattacken litt und daher weiterhin in einer Zwei-Mann-Zelle unterzubringen sei. Am 09.07.2002 begehrte der Beschwerdeführer die gerichtliche Feststellung, dass seine Unterbringung menschenunwürdig sowie unzulässig sei und stellte zusätzlich einen Eilantrag nach § 114 StVollzG611. Beide Anträge scheiterten am 29.07.2003 vor dem Landgericht. Zwar sei die Unterbringung grenzwertig, dies werde jedoch durch die außergewöhnlich großen Raumhöhen des 100 Jahre alten Gebäudes ausgeglichen. Die hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht als unzulässig, da ein nachträgliches Interesse des Beschwerdeführers an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringung nicht existiere612. Weder bestehe Wiederholungsgefahr noch beschränke sich die Belastung des Beschwerdeführers nach dem Verfahrensablauf auf eine Zeit, in der eine gerichtliche Entscheidung nicht möglich sei. Schließlich liege auch keine Diskriminierung vor, die ein Rehabilitationsinteresse bedingen könne613. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr unter Bezugnahme auf folgende Senatsmaßstäbe statt: „Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (. . .). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen 610 611 612 613
BVerfGK 6, 344, 345. Ebd. BVerfGK 6, 344, 345. BVerfGK 6, 344, 346.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat (. . .).“614 „Mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutzes zu gewährleisten, ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (. . .). (. . .) Danach ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte bei Erledigung des Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses annehmen.“615 „Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Insofern entfällt das Rechtsschutzinteresse nicht, wohl aber ändert sich der Prozessgegenstand. Es ist allgemein anerkannt, dass ein Rechtsschutzinteresse fortbesteht, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an sich beendeten Eingriff zu beseitigen (. . .). Darüber hinaus kommt ein trotz Erledigung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tief greifender Grundrechtseingriffe in Betracht. Hierunter fallen vornehmlich solche, die schon das Grundgesetz – wie in den Fällen der Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 – unter Richtervorbehalt gestellt hat (. . .).“616
Nach Auffassung der Kammer kam aufgrund der Art und Weise der Unterbringung des Beschwerdeführers eine Verletzung seiner Menschenwürde in Frage, sodass es im Hinblick auf das Rechtsschutzinteresse auf keine weiteren Voraussetzungen ankomme617. Zudem trage das Argument, der Beschwerdeführer habe die Verlegung in einen Drei-Mann-Haftraum abgelehnt, die Verneinung des Rechtsschutzinteresses ebenfalls nicht. Denn die Bedingungen wären für den Beschwerdeführer in einem 12,5 Quadratmeter großen Raum, der mit drei Personen belegt ist, nicht besser als die jetzigen618. hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Entscheidung der Kammer tragen. Sie nimmt einen Maßstab in Bezug, der sich sehr ausführlich zu den Voraussetzungen des fortbestehenden Rechtsschutzinteresses äußert. Demnach bleibt es bei Wiederholungsgefahr, fortwirkender Beeinträchtigung durch einen beendeten Eingriff oder bei tief greifenden Grundrechtseingriffen 614 615 616 617 618
BVerfGE 104, 220, 231; ähnlich BVerfGE 35, 382, 401 f. BVerfGE 104, 220, 232. BVerfGE 104, 220, 232 f. BVerfGK 6, 344, 348. Ebd.
VI. Die Justizgrundrechte
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bestehen, wobei Letztere insbesondere bei Art. 13, 104 GG vorliegen. Dieser Maßstab erlaubt eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Eine mögliche Verletzung der Menschenwürde stellt einen tief greifenden Grundrechtseingriff dar. Es fällt daher nicht ins Gewicht, wenn die Kammer als Beleg dafür, dass bei möglichen Verletzungen der Menschenwürde bei Strafgefangenen durch die Unterbringung das Rechtsschutzinteresse fortbesteht, auf andere Kammerentscheidungen verweist619. Von seinem Aufbau her betrachtet entspricht der Maßstab einer Regel, weil ein Konditionalschema existiert. Es bleibt bei dem gefundenen Ergebnis zur Subsumierbarkeit, denn die Formel von Mahrenholz ist in diesem Bereich vorrangig. Schließlich handelt es sich um eine Frage, bei der es sowohl um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung geht als auch um eine originär verfassungsrechtliche. Daher ist sie beiden Kategorien zuzuordnen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass, infolge einer originär verfassungsrechtlichen Fragestellung, die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit hoch sind, erfüllt der Maßstab diese Anforderungen. Handelt es sich doch um die Kriterien, die in jedem Lehrbuch an das Fortbestehen des Feststellungsinteresses – trotz Erledigung – bei Fortsetzungsfeststellungsklagen gestellt werden620. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. ii) Bewertende Zusammenfassung Die Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich tendenziell geeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Sie sind überwiegend konkret formuliert. So insbesondere der Maßstab, der sich zum Grundsatz des sofortigen Vollzugs im Strafverfahren bzw. Strafvollzug äußert. Ebenso in diese Kategorie fällt der Maßstab zum Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses. Regeln und Prinzipien halten sich annähernd die Waage. jj) Inhaltliche Tendenzen Die Kammern vermögen in diesem Bereich im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insgesamt keine eigenen Akzente gegenüber den Senaten zu setzen. Es kann jedoch Folgendes festgehalten werden: Die Kammern steuern Tendenzen der Fachgerichte, Rechtsbehelfe bereits an der Zulässigkeit scheitern zu lassen, strikt entgegen. In drei der vorgestellten Beschlüsse war der Rechtsbehelf, aus Sicht der Fachgerichte, 619
BVerfGK 6, 344, 347 f. Statt vieler Hufen, VerwProzR, § 18 Rn. 47 ff., und Schenke, VerwProzR, Rn. 580 ff. 620
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
unzulässig. Sei es, dass das Feststellungsinteresse fehlte oder ein Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz den Rechtsbehelf unzulässig machte oder das Rechtschutzinteresse verneint wurde. Die zuständige Kammer nahm jeweils eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG an. Sie befinden sich mit dieser Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG auf einer Linie mit der Rechtsprechung der Senate, die eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle sowie keine unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den eingeräumten Instanzen postuliert. b) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch Während Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt ermöglicht, gewährleistet der allgemeine Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG diesen Schutz für den Zivilprozess. Es handelt sich somit um zwei Seiten der gleichen Medaille, da es in beiden Fällen um die Gewährung von effektivem Rechtsschutz geht621. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch geht über den Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG hinaus. Denn er gewährt Rechtsschutz gegen gerichtliche Entscheidungen und somit gegen Akte der Rechtsprechung, wenn die gerichtliche Entscheidung unter Verletzung eines Verfahrensgrundrechts (Art. 101 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG) ergangen ist622. Vor dem Hintergrund des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs erscheinen die Regelungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 ZPO problematisch623. Demnach können die zuständigen Gerichte, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen, eine Berufung durch einstimmigen, unanfechtbaren Beschluss zurückweisen. Diese Regelungen könnten den Zugang zur Revision erschweren bzw. verkürzen624. Nachfolgend werden zwei 621 Volkmann, StaatsR II, 2. Kap. § 7 Rn. 83, spricht vom allgemeinen Justizgewährungsanspruch als Pendant zu Art. 19 Abs. 4 GG in privatrechtlichen Streitigkeiten. Eine inhaltliche Parallelität nimmt auch Maurer, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 467, 493, an, ebenso Epping, Grundrechte, Rn. 937 und das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 117, 71, 122. Einschränkend jedoch Huber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 355, der einen verfassungsunmittelbaren Justizgewährungsanspruch nur im Rahmen des Untermaßverbotes und damit einen strukturellen Unterschied zu Art. 19 Abs. 4 GG annimmt. 622 BVerfGE 107, 395, 402 ff.; 108, 341, 347 ff.; Kloepfer, VerfR, § 74 Rn. 51 f. 623 § 522 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 ZPO lauten: (2) Das Berufungsgericht weist die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurück, wenn es davon überzeugt ist, dass 1. die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, 2. die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und 3. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert. (3) Der Beschluss nach Absatz 2 Satz 1 ist nicht anfechtbar.
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Kammerbeschlüsse untersucht, in denen sich das Bundesverfassungsgericht mit § 522 Abs. 2 ZPO befasst hat. aa) BVerfGE 5, 189 Die Beschwerdeführer, die wegen ihrer Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds mit einer Treuhandgesellschaft einen notariellen Geschäftsbesorgungsvertrag abgeschlossen hatten und für die, aufgrund der ebenfalls erteilten Vollmacht, Darlehensverträge abgeschlossen worden waren, gerieten mit der Zahlung der Darlehensraten in Rückstand. Da sich die Beschwerdeführer der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hatten, wollte die Bank aus der Unterwerfungsurkunde gegen sie vorgehen625. Die Beschwerdeführer scheiterten mit ihrer Klage, die Zwangsvollstreckung aus der notariellen Urkunde für unzulässig zu erklären, vor dem Landgericht, weil eine Rechtsscheinhaftung nach §§ 171 bis 173 BGB bestehe. Das Oberlandesgericht wies die Berufung, unter Bezugnahme auf Entscheidungen des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs und vorheriger Anhörung, nach § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Dies geschah trotz einer zuvor veröffentlichten Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs, in der mitgeteilt wurde, dass der II. Zivilsenat Bedenken gegen diese Rechtsprechung erhob. Das Oberlandesgericht wurde zuvor von Seiten der Beschwerdeführer schriftsätzlich auf diese Pressemitteilung hingewiesen. Kurz darauf wurde eine Entscheidung des II. Zivilsenats veröffentlicht, in der er sich nicht dieser Rechtsprechung des IV. und XI. Zivilsenats anschloss626. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs statt. Sie berief sich auf folgende Maßstäbe: „Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen nicht garantiert.“627 „Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ist auch für bürgerlich rechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten. Dieser muss die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes und eine verbindliche Entscheidung durch einen Richter ermöglichen. Eine Gewährleistung von Rechtsmittelzügen durch das Grundgesetz folgt indes hieraus nicht (. . .). Sie ergibt sich auch nicht aus Art. 95 GG.“628 624 Ausführlich zur Problematik des § 522 Abs. 2 ZPO, insbesondere zu den einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Maßstäben, Rensen, in: Rensen/Brink, S. 453 ff. 625 BVerfGK 5, 189, 190. 626 BVerfGK 5, 189, 190 f. 627 BVerfGE 107, 395, 402, jedoch im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG. 628 BVerfGE 54, 277, 291.
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„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (. . .).“629 „Das Rechtsstaatsprinzip fordert für das gerichtliche Verfahren einen wirkungsvollen Rechtsschutz des einzelnen Rechtsuchenden, andererseits aber auch die Herstellung von Rechtssicherheit, die voraussetzt, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (. . .).“630 „Gegen das Willkürverbot wird nicht bereits dann verstoßen, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren fehlerhaft sind. Hinzukommen muss vielmehr, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht. Dabei enthält die Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist im objektiven Sinne zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (. . .).“631
Nach Auffassung der Kammer musste sich aufgrund der Pressemitteilung dem Oberlandesgericht die Möglichkeit aufdrängen, dass der entscheidende Senat des Bundesgerichtshofs die Rechtslage anders beurteilt. Ferner hätte das Oberlandesgericht die Frage der Anwendbarkeit des § 522 Abs. 2 ZPO nach Hinweis auf die Pressemittelung neu erwägen müssen, insbesondere vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO632. Es wäre angezeigt gewesen, die Veröffentlichung des Urteils abzuwarten, um die Konsequenzen für den Fall einschätzen zu können. Daran ändere auch die Verpflichtung nichts, strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit zu klären633. Schließlich stelle sich das Vorgehen des Oberlandesgerichts bei objektiver Betrachtung als Ausschluss des Zugangs zur Revisionsinstanz dar634. bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Der allgemeine Justizgewährungsanspruch ist die zivilrechtliche Entsprechung von Art. 19 Abs. 4 GG und damit besteht eine weitestgehende inhaltliche Parallelität. Daraus folgt ebenso, dass der allgemeine Justizgewährungsanspruch der Ausgestaltung durch den einfachrechtlichen Gesetzgeber 629 630 631 632 633 634
BVerfGE 69, 381, 385; ähnlich BVerfGE 74, 228, 234. BVerfGE 88, 118, 124. BVerfGE 86, 59, 63. BVerfGK 5, 189, 193. BVerfGK 5, 189, 194. BVerfGK 5, 189, 195.
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bedarf. Mit anderen Worten, er ist normgeprägt635. Wie schon bei Art. 6 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 GG rechtfertigt die Tatsache der Normgeprägtheit an und für sich bei dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch nicht die Zugrundelegung anderer Bewertungskriterien im Hinblick auf die Senatsmaßstäbe636. Die Entscheidung lässt sich möglicherweise auf den Maßstab stützen, nach dem der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf637. Nach der Mahrenholzschen Formel ist eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nicht möglich. Dieser von der Kammer verwendete Maßstab lässt offen, wann eine ungerechtfertigte, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des Zugangs vorliegt. An anderer Stelle beantwortet das Bundesverfassungsgericht die Frage beispielhaft dahingehend, dass der Bürger prozessuale Fristen bis zu ihrer Grenze ausnutzen könne. Ferner dürften ihm Nachteile wegen von ihm nicht zu vertretender Verzögerungen auf postalischem Wege nicht erwachsen638. Selbst wenn man diese Konkretisierung bei der Auslegung des Maßstabs heranzieht, ist der Begriff des Sachgrundes hier zu weit und erlaubt keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte. Bei dem Maßstab handelt es sich jedoch um ein Prinzip und nicht um eine Regel, da die Konditionalstruktur fehlt. Es reicht daher aus, wenn der Maßstab eine Richtung für die Lösung des Falles vorgibt. Diesem Erfordernis wird der Maßstab gerecht, denn der Zugang ist unzumutbar erschwert, wenn sich keine Sachgründe zur Rechtfertigung anführen lassen, wozu ebenfalls eine Konstellation, wie der vorliegende Fall, gezählt werden kann. Hinzu kommt, dass es sich bei der fallentscheidenden Fragestellung um keine originär verfassungsrechtliche handelt. Es geht um die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO und damit um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung. Demnach sind die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe abgesenkt. Vor diesem Hintergrund dürfen die Anforderungen an den von der Kammer verwendeten Senatsmaßstab nicht überspannt werden. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden.
635 So Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 17; in diese Richtung gehend Maurer, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 467, 493. 636 Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. c) bb) und D. VI. 2. a) bb). 637 BVerfGE 69, 381, 385. 638 BVerfGE 69, 381, 385 f.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
cc) BVerfGK 11, 235 Zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kläger des Ausgangsverfahrens bestand ein Mietvertrag über Gewerberäume, die der Beschwerdeführer als Lager für Gastronomieeinrichtungen mietete. Nachdem der Kläger seiner mietvertraglichen Verpflichtung, ein Rolltor zu installieren, nicht nachkam und zudem die von dem Beschwerdeführer genutzte Rampe entfernte, minderte dieser die Miete639. Der Kläger siegte teilweise vor dem Landgericht mit einer Zahlungsklage in Höhe von 2329,85 e. Das Kammergericht wies die vom Beschwerdeführer eingelegte Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurück, nachdem es zuvor rechtliches Gehör gewährt hatte. Inhaltlich ging es davon aus, dass ausreichend Tatsachen vorgetragen werden müssten, die den Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung darlegten. Die Berufungsbegründung enthalte keinen Vortrag, der eine höhere Minderungsquote rechtfertige640. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs statt. Sie berief sich auf folgende Maßstäbe: „Aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz, der für den Bereich des Zivilprozesses durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleistet ist (. . .), folgt nicht ohne weiteres eine Pflicht, gerichtliche Entscheidungen mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen.“641 „Es ist Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen statthaft sein sollen; das Grundgesetz selbst trifft dazu keine Bestimmungen (. . .). Sieht er allerdings ein Rechtsmittel vor, so ist er in der Ausgestaltung der Zugangs- und Zulässigkeitsvorschriften nicht völlig frei. Insbesondere darf er den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (. . .). Diese Grundsätze gelten nicht nur im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, für das sie in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG eine besondere Stütze finden, sondern nach dem Rechtsstaatsprinzip auch im Verfahren vor den Zivilgerichten (. . .).“642
Nach Auffassung der Kammer kam eine Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO nicht in Betracht, da die tatbestandliche Voraussetzung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO nicht gegeben sei. Vielmehr liege eine Abweichung von einem tragenden Rechtssatz eines höherrangigen Gerichts vor643. Im Gegensatz zum Bundesgerichtshof weise das Kammerge639 640 641 642
BVerfGK 11, 235 f. BVerfGK 11, 235, 236. BVerfGE 93, 99, 107. BVerfGE 74, 228, 234.
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richt die Darlegungslast für den Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung dem Mieter zu und stütze seine Entscheidung auf die Nichterfüllung dieser Darlegungslast durch den Beschwerdeführer. Es weiche somit entscheidungserheblich von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ab644. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Diese Entscheidung lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, nach dem der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Zugangs- und Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht völlig frei ist, wenn er ein Rechtsmittel vorsieht. Vielmehr dürfe er den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise, erschweren. Entscheidungstragend ist somit der gleiche Maßstab, der schon den ersten Beschluss gestützt hat. Für die Bewertung kann folglich auf die dort gemachten Ausführungen vollumfänglich verwiesen werden. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war demnach bereits entschieden. c) Der Anspruch auf rechtliches Gehör Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör war der häufigste Gegenstand grundrechtlicher Rügen645. Gleichzeitig sorgten sie für einen hohen Prüfungsaufwand auf Seiten des Gerichts, weil sie den zuständigen Richtern die Einarbeitung in spezielle einfachrechtliche Materien sowie die Aufarbeitung umfangreicher Prozessakten abverlangten646. Um die Belastung in diesem Bereich zu reduzieren, wurden die Modelle der modifizierten Anhörungsrüge und der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde von der Entlastungskommission diskutiert647. Bereits im Rahmen der Entlastungsdiskussion Anfang der 80er Jahre wurde über die Einführung einer Anhörungsrüge diskutiert, neben der sogenannten Auskunftslösung648. Sie sollte als besonderer subsidiärer Rechtsbehelf in Verfahren vor den Gerichten der or643
BVerfGK 11, 235, 238 f. BVerfGK 11, 235, 240. 645 Siehe Teil D., Fn. 579 f. 646 So der Bericht der Entlastungskommission, S. 62. 647 Siehe die Ausführungen unter E. I. 648 Die Auskunftslösung sah vor, dass nach Eingang einer Verfassungsbeschwerde zu Art. 103 Abs. 1 GG das Bundesverfassungsgericht bei dem Gericht, dem der Verstoß vorgeworfen wurde, eine Stellungnahme einholen konnte. Auf diese Weise sollte ihm die zeitaufwendige Aufarbeitung des Sachverhalts erleichtert werden. Das Plenum sah hierin keine Entlastungswirkung, siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 71. 644
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dentlichen streitigen Zivilgerichtsbarkeit ausgestaltet werden und nach Abschluss eines Verfahrens durch rechtskräftiges Urteil erhoben werden können, wenn der Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verletzt wurde649. Die damalige Einführung scheiterte am Widerstand der Länder – insbesondere die Justizministerkonferenz widersprach der Einführung – die eine Mehrbelastung der Zivilgerichte befürchteten, die von den öffentlichen Haushalten nicht mehr aufgefangen werden könne650. Um das Bundesverfassungsgericht zu entlasten651, führte der Gesetzgeber im Rahmen der Reform zur Zivilprozessordnung zum 01.01.2002 eine Gehörsrüge ein652. Am 30.04.2003 stellte das Bundesverfassungsgericht in einem viel beachteten Plenarbeschluss Folgendes fest: Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall enthalte, in dem ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt653. Gleichzeitig wurde dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31.12.2004 eingeräumt, um Abhilfe zu schaffen654. Diesem Auftrag kam der Gesetzgeber mit dem Anhörungsrügengesetz vom 09.12.2004 nach655, das in sämtlichen Prozessordnungen zu Änderungen führte656. aa) BVerfGK 3, 274 Der Beschwerdeführer wehrt sich im Wege der Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung seines Wiedereinsetzungsantrags und die folgende Verwerfung seiner Berufung als unzulässig. Die von ihm per Telefax an das Gericht gesendete und dort fristgerecht eingegangene Berufungsbegründung umfasste insgesamt neun Seiten. Allerdings war die Seite fünf nur zur Hälfte lesbar und die Seite sechs fehlte ganz. Dies nahm das Landgericht zum Anlass, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, da die Begründung nicht formgerecht innerhalb der Frist des § 519 Abs. 2 ZPO a. F.657 einge649
Bericht der Entlastungskommission, S. 71. Bericht der Entlastungskommission, S. 72. 651 BT-Drucks. 14/4722, S. 63. 652 BGBl. I 2001, S. 1887 ff. 653 BVerfGE 107, 395 ff. 654 BVerfGE 107, 395, 418. 655 BGBl. I 2004, S. 3220 ff. 656 Bspw.: § 321a ZPO; § 33a StPO; § 152a VwGO; § 133a FGO; zur Gehörsrüge gemäß § 321 a ZPO nach dem Inkrafttreten des Anhörungsrügengesetzes siehe Rensen, MDR 2005, 181 ff.; zu den verfassungsprozessualen Problemen im Zusammenhang mit der Anhörungsrüge siehe Jost, in: Rensen/Brink, S. 59 ff. 657 Nun § 520 Abs. 2 ZPO. Die Norm lautet: (2) Die Frist für die Berufungsbegründung beträgt zwei Monate und beginnt mit der Zustellung des in vollständi650
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gangen sei und der Originalschriftsatz das Gericht erst nach Fristablauf erreicht habe658. Der Prozessbevollmächtigte hätte die fehlerhafte Übertragung erkennen und daher den Originalschriftsatz in den Gerichtsbriefkasten werfen können, weshalb eine Wiedereinsetzung am originären Anwaltsverschulden scheitere659. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG statt. Sie nahm dabei folgende Maßstäbe in Bezug: „Diese Vorschrift [Art. 103 Abs. 1 GG] gebietet, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip (BVerfGE 54, 277 [291]) folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (. . .). Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs muss aber den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben (BVerfGE 67, 208 [211])660. Die Verletzung solcher Bestimmungen stellt nicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, es sei denn, das Gericht hätte bei deren Auslegung und Anwendung die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt (. . .).“661 „Das Bundesverfassungsgericht hat es bisher ausdrücklich offengelassen, ob die fehlerhafte Anwendung einer einfachrechtlichen Präklusionsvorschrift stets eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs darstellt (. . .). Es hat jedoch wiederholt betont, dass diese Vorschriften strengen Ausnahmecharakter haben, weil sie sich zwangsläufig nachteilig auf das Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung auswirken (. . .) und einschneidende Folgen für die säumige Partei nach sich ziehen (. . .). Das legt es nahe, die Auslegung und Anwendung dieser das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften durch die Fachgerichte einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, als dies üblicherweise bei Anwendung einfachen Rechts geschieht. Dies ist schon wegen der Intensität des Eingriffs bei einer Präklusion geboten. Dem entspricht es, dass die verfassungsrechtliche Überprüfung nach der bisherigen Rechtsprechung über eine bloße Willkürkontrolle hinausgehen muss. So hat das Bundesverfassungsgericht Art. 103 Abs. 1 GG jedenfalls dann als verletzt angesehen, wenn die Rechtsanwendung offenkundig unrichtig war (. . .). Daneben ger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist kann auf Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden, wenn der Gegner einwilligt. Ohne Einwilligung kann die Frist um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. 658 BVerfGK 3, 274. 659 BVerfGK 3, 274, 275. 660 Das Bundesverfassungsgericht setzt sich dort mit den gesetzlichen Regelungen über die Zustellung von Schriftstücken im Zivilprozess auseinander. 661 BVerfGE 74, 228, 233.
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sind aber auch Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen worden (. . .). So ist die Präklusion dann als ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs beurteilt worden, wenn richterliches Fehlverhalten, namentlich eine unzulängliche Verfahrensleitung oder eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht, die Verzögerung mitverursacht hatte (. . .). Als verfassungswidrig wurde auch die missbräuchliche Anwendung einer Präklusionsvorschrift bewertet, wobei der Missbrauch in der Zurückweisung trotz erkennbar unzureichender Terminsvorbereitung gesehen wurde (. . .).“662
Die Kammer kommt zum Ergebnis, dass sich die Auffassung des Landgerichts nicht auf die §§ 519 b, 519 Abs. 2 und 3 ZPO a. F. stützen lasse. Nach dem Inhalt dieser Vorschriften komme es für die Zulässigkeit der Berufung verschuldensunabhängig darauf an, ob neben den sonstigen Fristund Formvorschriften die Begründung den im § 519 Abs. 3 ZPO a. F.663 abschließend bestimmten Inhalt habe. Das Landgericht habe ohne Prüfung des Mindestinhalts der Begründung die Berufung verworfen, was jeder rechtlichen Grundlage entbehre664. bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Ebenso wie Art. 6 Abs. 2, 19 Abs. 4 GG und der allgemeine Justizgewährungsanspruch ist auch der Anspruch auf rechtliches Gehör ein normgeprägtes grundrechtsgleiches Recht, das der Ausgestaltung durch den einfachrechtlichen Gesetzgeber bedarf665. Die Tatsache der Normgeprägtheit 662
BVerfGE 75, 302, 312. Nun § 520 Abs. 3 ZPO. Die Norm lautet: (3) Die Berufungsbegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Berufungsschrift enthalten ist, in einem Schriftsatz bei dem Berufungsgericht einzureichen. Die Berufungsbegründung muss enthalten: 1. die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderungen des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge); 2. die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt; 3. die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; 4. die Bezeichnung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie der Tatsachen, auf Grund derer die neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 zuzulassen sind. 664 BVerfGK 3, 274, 276. 665 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 14; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 15; Volkmann, StaatsR II, 2. Kap. § 8 Rn. 12; in diese Richtung gehend Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 8, der hier eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts verwendet, nach der Art. 103 Abs. 1 GG der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe; wohl auch Hufen, StaatsR II, § 21 Rn. 33 und 42; Kloepfer, VerfR, § 75 Rn. 37, spricht 663
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an und für sich rechtfertigt nicht die Zugrundelegung anderer Bewertungskriterien im Hinblick auf die Senatsmaßstäbe666. Die Entscheidung lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, der sich mit der fehlerhaften Anwendung einfachrechtlicher Präklusionsvorschriften, deren Folgen und dem Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts befasst. Dann müsste die vermeintlich nicht formgerechte Einreichung der Berufungsbegründung innerhalb der Frist tatbestandlich präkludiert werden können bzw. einen Fall der Präklusion darstellen. Denn der Senatsmaßstab befasst sich ausdrücklich nur mit Präklusionen. Es könnte sich hier um die Versäumung einer Prozesshandlung handeln. Der Begriff der Prozesshandlung erfasst alle auf eine prozessrechtliche Wirkung abzielenden, das heißt den Prozessablauf gestaltenden oder bestimmenden Handlungen der Parteien oder des Gerichts667. Die Prozesshandlungen der Parteien lassen sich unterscheiden in Anträge, Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie prozessgestaltende Erklärungen668. Gängig ist auch die Differenzierung nach den Wirkungen dieser Handlungen in Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen. Erstere sollen eine Tätigkeit des Gerichts auslösen, Letztere gestalten den Prozess unmittelbar um. Demnach zählen Anträge sowie Angriffs- und Verteidigungsmittel zu den Erwirkungshandlungen und die rechtsgestaltenden Prozesserklärungen zu den Bewirkungshandlungen669. Zu den Prozesshandlungen zählen insbesondere: Klage, Berufung, Revision, Einspruch, Nebenintervention, Anerkenntnis, Behaupten, Gestehen, Bestreiten, Beweisantritt, Anträge an das Gericht, Widerruf und Rücknahme von Prozesshandlungen, Verzicht und Empfangsbekenntnis670. Prozesshandlung ist jedoch ebenfalls die Einreichung der Berufungsbegründungsschrift innerhalb der Frist von zwei Monaten nach § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Dafür spricht, dass nach § 233 ZPO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt wird, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Nach § 230 ZPO führt nämlich die Versäumung einer Prozesshandlung zum Ausschluss der Partei mit der vorzunehmenden Provon einer starken Normprägung wie bei Art. 19 Abs. 4 GG; ebenso Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 I Rn. 27. 666 Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. c) bb) und D. VI. 2. a) bb). 667 Greger, in: Zöller, ZPO, Vor § 128 Rn. 14; ähnlich Rauscher, in: MüKo ZPO, Einl. Rn. 390; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, Einl. III Rn. 3; kritisch zur Einbeziehung von Maßnahmen und Entscheidungen des Gerichts Schellhammer, ZPO, Rn. 1242. 668 Schellhammer, ZPO, Rn. 1242. 669 Oberheim, ZPO, § 1 Rn. 13 ff.; siehe hierzu auch Greger, in: Zöller, ZPO, Vor § 128 Rn. 14; Rauscher, in: MüKo ZPO, Einl. Rn. 394 ff. 670 Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, Einl. III Rn. 4.
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zesshandlung. Die Möglichkeit auf Wiedereinsetzung für die versäumte Einreichung der Berufungsbegründungsschrift nach § 233 ZPO wäre überflüssig, wenn es sich nicht um eine Prozesshandlung handeln würde671. Es liegt somit eine präkludierbare Handlung vor und der Maßstab kommt, von seinem Anwendungsbereich her betrachtet, in Frage. Demnach führe nicht jede fehlerhafte Anwendung einer einfachrechtlichen Präklusionsvorschrift zu einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts sei jedoch strenger als üblicherweise bei einfachem Recht, da die Präklusion einschneidende Folgen für die säumige Partei habe. Die Kontrolle gehe über eine bloße Willkürkontrolle hinaus. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liege vor, wenn die Rechtsanwendung offenkundig fehlerhaft sei. Insbesondere stelle sich die Präklusion als Verstoß dar, wenn richterliches Fehlverhalten, in Form einer unzulänglichen Verfahrensleitung oder einer Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht, die Verzögerung mitverursache oder die Präklusionsvorschriften missbräuchlich verwendet würden672. Dieser Maßstab erlaubt eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinne der Mahrenholzschen Formel. Es handelt sich um richterliches Fehlverhalten, wenn das zuständige Gericht die Berufung verwirft, ohne zu prüfen, ob die Begründung den gesetzlich geforderten Mindestinhalt aufweist. Es handelt sich bei dem verwendeten Senatsmaßstab um eine Regel, da er nach dem Konditionalschema aufgebaut ist. Es reicht nicht aus, wenn er eine Richtung für die Falllösung vorgibt, sondern er muss subsumierbar sein. Dies ist vorliegend der Fall, da eine Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel möglich ist. Darüber hinaus geht es um die Überprüfung der Auslegung von einfachem Recht am Maßstab der Verfassung. Denn es dreht sich inhaltlich darum, ob die Berufungsbegründung formgerecht innerhalb der gesetzlichen Frist bei Gericht eingegangen ist. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der verwendeten Senatsmaßstäbe wiederum geringer sind als bei einer originär verfassungsrechtlichen Frage. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. cc) BVerfGK 6, 380 Der Beschwerdeführer ist Vater einer minderjährigen Tochter, mit der er ein Umgangsrecht besitzt, nachdem das Amtsgericht durch Beschluss beiden Eltern die elterliche Sorge entzogen und auf das Jugendamt übertragen hatte. Aus Anlass eines Antrags des Beschwerdeführers, diesen Beschluss 671 672
Siehe hierzu auch Gehrlein, in: MüKo ZPO, § 230 Rn. 5. BVerfGE 75, 302, 312.
VI. Die Justizgrundrechte
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zu ändern, ordnete das Amtsgericht durch einen unbegründeten Beweisbeschluss die Einholung eines schriftlichen psychiatrischen Gutachtens über die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers an, ohne diesen zuvor anzuhören673. Gleichzeitig lehnte es die in einem parallel geführten sorgerechtlichen Abänderungsverfahren beantragte Prozesskostenhilfe ab. Das Gericht hielt ihn nach wie vor für erziehungsunfähig und stufte ihn als Querulanten ein, da die Kindeseltern schon in der Vergangenheit eine Vielzahl von Verfahren angestrengt hätten und nun erneut vier Verfahren über Sorge- und Umgangsrechtsfragen anhängig seien. Zudem habe der Beschwerdeführer die sachliche Ebene längst verlassen und habe die Grenzen strafbaren Verhaltens mit seinen Beschuldigungen, wie zum Beispiel: Willkür, Rechtsmissbrauch, Rechtsbeugung, provokative Missachtung der Rechte, längst überschritten674. Die mit Beschwerden angegriffenen amtsgerichtlichen Beschlüsse wurden vom Oberlandesgericht nicht beanstandet. Bei ausgeprägtem Querulantenwahn könne es an der Geschäfts- und Prozessfähigkeit fehlen. Auf diesen Umstand weise das Amtsgericht ausführlich in dem Parallelverfahren hin, sodass es offenbleiben könne, ob das Amtsgericht dies auch im Beweisbeschluss hätte aufgreifen müssen675. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt unter Berufung auf folgende Senatsmaßstäbe676: „Das Grundgesetz sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art. 103 I GG (. . .) Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (. . .). Rechtliches Gehör sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert es, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden.“677 „Die Maßgeblichkeit der Rechtsschutzgarantie entfällt nicht allein deshalb, weil eine Partei schon in der vorangegangenen Instanz die Möglichkeit gehabt hat, sich zur Sache zu äußern. Art. 103 Abs. 1 GG enthält weiter gehende Garantien als die, sich irgendwie zur Sache einlassen zu können, so beispielsweise den Schutz vor einer Überraschungsentscheidung (. . .).“678 673
BVerfGK 6, 380 f. BVerfGK 6, 380, 381. 675 BVerfGK 6, 380, 382. 676 Die Maßstäbe BVerfGE 20, 336, 344; 107, 104, 133, beziehen sich auf die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, die Rechtssache an ein anderes Gericht zurückzuverweisen, um sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorzubeugen. Sie haben keinen Einfluss auf die inhaltliche Entscheidung gehabt. 677 BVerfGE 107, 395, 408 f. 674
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Nach Auffassung der Kammer hätte dem Beschwerdeführer im Rahmen einer persönlichen Anhörung die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, sich zu seiner Prozessfähigkeit zu äußern. Der Beschwerdeführer habe ohne richterlichen Hinweis nicht damit rechnen müssen, dass das Amtsgericht aufgrund seines Abänderungsantrags nun seine Prozessfähigkeit in Frage stelle, obwohl es sich anderweitig dazu schon geäußert habe679. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Kammer könnte ihre Entscheidung kumulativ auf beide Maßstäbe gestützt haben. Nach dem einen Maßstab sei der Einzelne nicht Objekt, sondern Subjekt der richterlichen Entscheidung und solle damit auf das Verfahren sowie sein Ergebnis Einfluss nehmen. Daher sichere das rechtliche Gehör den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung sowie das Recht, mit ihren Ausführungen bzw. Anträgen gehört zu werden. Nach dem anderen enthalte Art. 103 Abs. 1 GG weitere Garantien, insbesondere den Schutz vor einer Überraschungsentscheidung. Beide Maßstäbe ermöglichen eine direkte Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. So ergibt die Subsumtion, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Überraschungsentscheidung handelt, weil der Beschwerdeführer mit dem Beweisbeschluss zu seiner eigenen Prozessfähigkeit in diesem Verfahren nicht rechnen musste. Das Gericht hatte sich, jedenfalls in diesem Verfahren, zur Frage der Prozessfähigkeit zuvor nicht geäußert. Strukturell gesehen, handelt es sich um Prinzipien, denn es fehlt der Konditionalaufbau. Die Maßstäbe erfüllen jedoch die Anforderung, eine Richtung für die Fallentscheidung vorzugeben. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Überprüfung der Auslegung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung handelt. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe sind geringer als bei einer originär verfassungsrechtlichen Frage. Das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage war erfüllt. ee) BVerfGE 7, 485 Der Beschwerdeführerin wurde ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss über 34.527,16 DM am 16.08.2001 zugestellt, den der Kläger des Ausgangsverfahrens gegenüber W wegen einer Forderung aus einem Kauf678 679
BVerfGE 107, 395, 410. BVerfGK 6, 380, 383 f.
VI. Die Justizgrundrechte
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vertrag erwirkt hatte. W war bei der Beschwerdeführerin als Geschäftsführer bis zum 30.06.2001 beschäftigt. Als sie in den Folgemonaten keine Zahlungen an den Kläger leistete, erhob dieser Klage680. Er ging für die Berechnung des monatlich pfändbaren Betrages davon aus, dass W weiterhin faktischer Geschäftsführer der Beschwerdeführerin sei, da W sich am 19.02.2002 gegenüber einem Mitarbeiter der Firma B als Geschäftsführer vorgestellt habe. Die Beschwerdeführerin bestritt diesen Vortrag und bot als Beweis das Zeugnis des W an. Nachdem das Arbeitsgericht die Klage wegen mangelnder Substantiierung des Klägervortrags zur Höhe der Vergütung des W abgewiesen hatte, erließ das Landesarbeitsgericht im Rahmen der Berufungsverhandlung einen Beweisbeschluss zu dieser Fragestellung681. Es hörte hierzu zwar den Mitarbeiter der Firma B als Zeugen der Klägerseite, nicht aber W als Zeugen der Beschwerdeführerin auf Beklagtenseite, obwohl sie ihr Beweisangebot zuvor wiederholt hatte. Vielmehr gab das Landesarbeitsgericht der Klage in vollem Umfang statt. Ebenso lehnte es die Berichtigung seines Urteilstenors ab. Aus den Urteilsgründen ergab sich eine geringere Summe, als im Tenor ausgesprochen682. Als die im Anschluss erhobene Anhörungsrüge ebenfalls scheiterte, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG statt. Dabei verwendete sie folgende Senatsmaßstäbe: „Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (. . .). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (. . .). Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (. . .). Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (. . .), namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen (. . .). Deshalb müssen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (. . .).“683 „Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (. . .). In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung 680 681 682 683
BVerfGK 7, 485. BVerfGK 7, 485, 486. BVerfGK 7, 485, 486 f. BVerfGE 65, 293, 295 f.; ähnlich BVerfGE 70, 288, 293.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge.“684 „Art. 103 Abs. 1 GG bietet aber keinen Schutz dagegen, dass ein angebotener Beweis aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht erhoben wird.“685
Nach Auffassung der Kammer verletzt das Landesarbeitsgericht Art. 103 Abs. 1 GG, indem es den angebotenen Beweis zu einer entscheidungserheblichen Frage nicht erhoben habe. Das Gericht hätte dem Beweisantrag der Beschwerdeführerin nachgehen müssen, da es die Behauptung des Klägers zum Gegenstand des Beweisbeschlusses gemacht und den Zeugen des Klägers vernommen habe. Gründe des formellen oder materiellen Rechts, die gegen die Erhebung des angebotenen Zeugenbeweises sprächen, seien nicht ersichtlich bzw. vom Gericht auch nicht angeführt686. ff) Ergebnis: Die Frage war entschieden Möglicherweise lässt sich die Entscheidung kumulativ auf zwei Senatsmaßstäbe stützen. Nach dem ersten Maßstab soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung ohne Verfahrensfehler ergeht, die auf unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei beruhen. Daher gebiete Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Nach dem zweiten Maßstab biete Art. 103 Abs. 1 GG jedoch keinen Schutz vor der Nichterhebung eines angebotenen Beweises aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts. Beide Maßstäbe ermöglichen eine direkte Subsumtion im Sinne der Mahrenholzschen Formel. Der Sachverhalt des Falles lässt sich unter die Maßstäbe subsumieren. Das Landesarbeitsgericht hätte den Gegenbeweis erheben müssen, da es sich um einen Beweisantrag zu einer erheblichen Frage gehandelt hat. Zudem gab es weder Gründe des formellen oder materiellen Rechts, die es gerechtfertigt hätten, den Beweis nicht zu erheben. Den Maßstäben fehlt der Konditionalaufbau, sodass keine Regeln vorliegen. Vielmehr handelt es sich um Prinzipien, die eine Richtung für die Falllösung vorgeben müssen. Diese Anforderungen werden wiederum erfüllt. Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Senatsmaßstäbe seien aufgrund der starken einfachrechtlichen Bezüge inhaltlich zu unbestimmt, darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Fragestellung am Maßstab der Verfassung geht. Daher dürfen nicht die gleichen Anforderungen an die Maßstäbe gestellt werden, die 684 685 686
BVerfGE 60, 247, 249; ähnlich BVerfGE 60, 250, 252; 69, 145, 148. BVerfGE 85, 386, 404. BVerfGK 7, 485, 488 f.
VI. Die Justizgrundrechte
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für originär verfassungsrechtliche Fragen verwendet werden. Die Senatsmaßstäbe können schwerlich die inhaltliche Bestimmtheit der zivilprozessualen Beweisregeln aufweisen. Somit war die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. gg) BVerfGK 10, 7 Nachdem gegen den Beschwerdeführer aufgrund des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung, der Brandstiftung, Sachbeschädigung und Nötigung ermittelt wurde, ordnete das Amtsgericht die Wohnungsdurchsuchung an. Als die Verteidigerin Akteneinsicht begehrte, um die Beschwerde zu begründen, wurde diese nach § 147 Abs. 2 StPO zu diesem Zeitpunkt abgelehnt. Darüber hinaus verwarf das Landgericht die Beschwerde687. Der Beschwerdeführer beantragte die Nachholung rechtlichen Gehörs mit der Begründung, dass ihm bisher keine Akteneinsicht gewährt worden sei und er sich vor der Beschwerdeentscheidung – das Landgericht hatte zuvor die Beschwerde verworfen – nicht habe äußern können. Zwar wurde der Verteidigerin daraufhin eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt, jedoch wiederum keine Akteneinsicht gewährt. Ferner lehnte es das Gericht ab, mit seiner Entscheidung bis zum Zeitpunkt der Gewährung von Akteneinsicht zu warten, da im Ermittlungsverfahren zeitnah entschieden werden müsse und bestätigte den ersten Beschluss688. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Das rechtliche Gehör ist nicht nur das prozessuale Urrecht des Menschen, sondern ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist (. . .).“689 „Darüber hinaus fordert die Würde der Person, dass über ihr Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt wird; der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis zu nehmen (. . .).“690 „In diesen Entscheidungen [des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG] kommt zum Ausdruck, dass sowohl die Rechtsweggarantie als auch die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs jeweils dem gleichen Ziel, nämlich der Ge687 688 689 690
BVerfGK 10, 7, 8. Ebd. BVerfGE 55, 1, 6. BVerfGE 9, 89, 95.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
währleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, dienen. Das Gebot der Effektivität gilt danach nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht, sondern auch für das Recht, im Verfahren gehört zu werden.“691 „§ 33a StPO ist so auszulegen und anzuwenden, dass er jeden Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Beschlussverfahren erfasst.“692 „Der Ausweg, das Geheimnis lediglich dem Strafgericht zu offenbaren, bietet sich nicht, weil dies einen Verstoß gegen den in Art. 103 Abs. 1 GG gesicherten Anspruch auf rechtliches Gehör der Beteiligten begründen würde. Dieser Grundsatz ist unverzichtbar und gehört zum Kern einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung. Demgegenüber muss die grundsätzliche Entscheidungsbefugnis des Gerichts eine Einbuße erfahren und aus zwingenden Sachgründen einer verbindlichen Entscheidung durch die Behörde weichen.“693 „Wie der Vorsitzende des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme dargelegt hat, wirken Geheimhaltungsinteressen im Strafverfahren in dubio pro reo. Ein ‚in camera‘-Verfahren würde unter diesen Umständen den Rechtsschutz des Angeklagten verschlechtern.“694 „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt das Recht auf Gehör, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war. (. . .) Der Rechtsstaatsgedanke gebietet jedoch, dass der Betroffene in solchen Fällen [Anhörung vor Anordnung der Beschlagnahme] Gelegenheit erhält, sich nachträglich gegen die angeordnete Maßnahme zu wehren, durch die in einschneidender Weise in seine Rechtsstellung eingegriffen oder ihm ein bleibender rechtlicher Nachteil zugefügt wird, der nicht oder nicht vollständig wieder behoben werden kann.“695 „Das gewaltsame Eindringen staatlicher Organe in eine Wohnung und deren Durchsuchung bedeutet regelmäßig einen schweren Eingriff in die persönliche Lebenssphäre des Betroffenen.“696
Nach Auffassung der Kammer verstoßen die landgerichtlichen Beschlüsse gegen Art. 103 Abs. 1 GG, da dem Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt Akteneinsicht gewährt wurde und er sich zu den tatsächlichen Grundlagen der Entscheidungen nicht äußern konnte. Die Akteneinsicht des Beschuldigten diene auch dazu, überprüfen zu können, ob die bezeichneten Beweismittel vollständig bzw. richtig verwendet und beschrieben worden sind. Sie 691
BVerfGE 81, 123, 129. BVerfGE 42, 243, 250. 693 BVerfGE 57, 250, 288 f.; speziell zur Beweiserhebung durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss BVerfGE 67, 100, 133. 694 BVerfGE 101, 106, 130. 695 BVerfGE 18, 399, 404. 696 BVerfGE 51, 97, 107; ähnlich BVerfGE 96, 27, 40; 103, 142, 150 f. 692
VI. Die Justizgrundrechte
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diene ferner dazu, überprüfen zu können, ob ihre vom befassten Gericht dargelegte Bewertung bzw. Einordnung in den sachlichen sowie rechtlichen Zusammenhängen überzeuge oder sich andere Deutungen aufdrängten. Schließlich hätte das Landgericht mit seiner Entscheidung warten müssen, bis eine Akteneinsicht des Beschwerdeführers möglich war. Es gebe keine Begründung, warum seine Entscheidung unaufschiebbar gewesen sei697. hh) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Entscheidung lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, nach dem das Recht auf rechtliches Gehör verlangt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden können, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Zudem müsse der Betroffene die Möglichkeit haben, sich nachträglich gegen die angeordnete Maßnahme zu wehren, die einschneidend in seine Rechte eingreift bzw. ihm einen Nachteil zufügt. Der Maßstab erlaubt eine direkte Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinn der Mahrenholzschen Formel. Das Landgericht hat in seiner Beschwerdeentscheidung gerade Tatsachen und Beweismittel verwendet, zu denen sich der Beschwerdeführer nicht äußern konnte. Dem verwendeten Maßstab fehlt der konditionale Aufbau. Es handelt sich um ein Prinzip, das für die Falllösung eine Richtung vorgeben muss. Diesem Erfordernis wird der Maßstab gerecht. Schließlich geht es wiederum um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung. Überhöhte Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind daher nicht angezeigt. Vor diesem Hintergrund war die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. ii) BVerfGK 11, 9 Nach Beendigung des Wohnraummietvertrages verklagte die Vermieterin die Beschwerdeführer auf Zahlung rückständiger Miete, während die Beschwerdeführer widerklagend Rückzahlung der Kaution begehrten. Nachdem die Beschwerdeführer im Rahmen des Berufungsverfahrens die fehlende Vollmacht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gerügt hatten, legten diese eine schriftliche Vollmacht vor698. Mit der Begründung, dass die von der Klägerin an die Hausverwaltungsgesellschaft erteilte Vollmacht nicht die Erteilung einer Prozessvollmacht im Zusammenhang mit der Be697 698
BVerfGK 10, 7, 12. BVerfGK 11, 9 f.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
gründung und Beendigung von Mietverhältnissen umfasse, rügten die Beschwerdeführer erneut – mittels Schriftsatz, der zu den Akten genommen wurde – die fehlende Vollmacht. Trotzdem verurteilte das Landgericht die Beschwerdeführer zur teilweisen Zahlung. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin hätten unstreitig jeweils im Original eine Hausverwaltervollmacht zu Gunsten der Verwaltungsgesellschaft und eine von der Verwaltungsgesellschaft an die Prozessbevollmächtigten erteilte Prozessvollmacht vorgelegt699. Die gegen das Urteil erhobene Anhörungsrüge wies das Landgericht zurück. Die Beschwerdeführer hätten die Rüge konkludent zurückgenommen und im letzten Termin zur mündlichen Verhandlung auch nicht deutlich gemacht, dass weiterhin Bedenken bestünden, weshalb das Missbrauchsverbot greife700. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (. . .). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (. . .). Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (. . .). Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (. . .), namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen (. . .). Deshalb müssen, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (. . .).“701 „Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (. . .).“702
Die Kammer nimmt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör an, da das Landgericht wesentlichen und entscheidungserheblichen Sachvortrag der Beschwerdeführer nicht zur Kenntnis genommen habe. Fehle die Bevollmächtigung tatsächlich, hätte das Gericht keine Sachentscheidung treffen dürfen, sondern hätte den vollmachtlosen Vertreter entweder einst699 700 701 702
BVerfGK 11, 9, 10. Ebd. BVerfGE 65, 293, 295 f.; ähnlich BVerfGE 70, 288, 293. BVerfGK 86, 133, 146.
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weilen zur Prozessführung zulassen oder eine Frist zur Beibringung bestimmen und die Verhandlung vertagen müssen703. Das Landgericht habe die Frage der ordnungsgemäßen Bevollmächtigung als wesentlich eingestuft, weil es hierauf ausdrücklich in den Entscheidungsgründen eingegangen sei. Aufgrund der nochmals schriftsätzlich gerügten fehlenden Vollmacht habe das Landgericht nicht darauf abstellen dürfen, dass die Beschwerdeführer die Rüge in der Verhandlung nicht wiederum mündlich vorgetragen haben. Schließlich könne die Rüge der fehlenden Vollmacht in jeder Lage des Verfahrens erhoben werden704. jj) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Entscheidung könnten die beiden von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe kumulativ stützen. Es handelt sich zum einen um den Maßstab, nach dem das Gericht nach dem Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet ist, die Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, wobei es nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen ausdrücklich in den Entscheidungsgründen zu befassen. Zum anderen kommt der Maßstab in Betracht, nach dem auf eine Nichtberücksichtigung geschlossen werden kann, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei in den Entscheidungsgründen nicht eingeht, obwohl er von seinem Rechtsstandpunkt nicht unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war. Beide Maßstäbe erlauben eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Indem sich das Landgericht nicht mit den Konsequenzen, die sich aus einer möglichen fehlenden Bevollmächtigung ergeben, auseinandersetzte, nahm es wesentlichen Vortrag nicht zur Kenntnis. Die Maßstäbe weisen kein Konditionalschema auf und müssen als Prinzipien nur eine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorgeben, was hier ebenfalls zu bejahen ist. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Maßstäbe sind geringer, da es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Fragestellung am Maßstab der Verfassung geht. Somit war die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits beantwortet. kk) Bewertende Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich zu den vorgestellten Beschlüssen Folgendes festhalten: Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe sind, etwa im Vergleich zu den Maßstäben im Bereich der Freiheit der Person705, in703 704 705
BVerfGK 11, 9, 11 f. BVerfGK 11, 9, 12. Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. a) cc).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
haltlich sehr detailliert706. Hand in Hand mit detaillierten Maßstäben geht die Möglichkeit der Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinn der Mahrenholzschen Formel. Eine Ursache für diesen Detailreichtum dürfte in der Tatsache begründet liegen, dass gerade die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Gegenstand der meisten Verfassungsbeschwerden war707. Dies zwang das Gericht, sich vertiefter mit den im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 1 GG auftauchenden Problemen zu befassen. Eine weitere Ursache stellt die Normgeprägtheit des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Gibt es zwar einen verfassungsrechtlichen Gehalt dessen, was den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG ausmacht, ist dieser doch stark von der Ausgestaltung des einfachrechtlichen Gesetzgebers abhängig. Dies wirkt sich auf die Senatsmaßstäbe aus, die sehr tief in das einfache Recht vordringen. Etwa der Maßstab, nach dem § 33a StPO so auszulegen und anzuwenden ist, dass er jeden Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Beschlussverfahren erfasst708. Eng verzahnt mit der Problematik der Normgeprägtheit dieses grundrechtsgleichen Rechts ist die Frage, wann eine Verletzung des Grundrechts vorliegt und vorgelagert, wann ein Eingriff anzunehmen ist709. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang, dass nicht jede Verletzung einfachrechtlicher Vorschriften zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darstellt710. Verwendet das Gericht positive Formulierungen, wann ein Verstoß vorliegt, fallen folgende: Das Gericht müsse bei Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf recht706 Zu diesem Ergebnis kommt auch Mahrenholz, in: Festschrift für Zeidler, S. 1361, 1366, der in diesem Zusammenhang von einer hinreichend ausdifferenzierten Rechtsprechung der Senate zu Art. 103 Abs. 1 GG spricht. 707 Siehe Teil D., Fn. 579 f. 708 BVerfGE 42, 243, 250. 709 Siehe hierzu Hufen, StaatsR II, § 21 Rn. 46, der zur Bestimmung des Eingriffs auf die gleichen Begrifflichkeiten verweist, wie sie im Nachfolgenden zur Bestimmung einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG herangezogen werden. Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 1182, gehen davon aus, dass kein Eingriff anzunehmen ist, wenn das Fehlen des rechtlichen Gehörs für die gerichtliche Entscheidung unerheblich ist bzw. nicht darauf beruht oder das rechtliche Gehör in derselben Instanz oder der Rechtsmittelinstanz nachgeholt wurde; ähnlich Volkmann, StaatsR II, 2. Kap. § 8 Rn. 12, der im Wesentlichen auf die Ursächlichkeit, das Beruhen und die Heilungsmöglichkeiten abstellt; Kloepfer, VerfR, § 75 Rn. 47 ff., nimmt einen Eingriff an, wenn das Anhörungsrecht überhaupt nicht gewährt oder die Wahrnehmung seiner Schutzgehalte unrealisierbar gemacht wird. Da nicht jeder gerichtliche Verstoß gegen gehörspezifische Vorschriften eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG darstelle, müsse eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht vorliegen. Die konkrete Anwendung dürfe nicht zu einem Ergebnis führen, das – wäre es Inhalt eines Gesetzes – vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt werden würde, weil es gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoße. 710 BVerfGE 74, 228, 233.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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liches Gehör verkannt haben711; es müssten im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbingen nicht zur Kenntnis genommen wurde712. Diese Begrifflichkeiten sind recht vage und erlauben eine flexible Handhabung. Das Bundesverfassungsgericht wendet bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung von Vorschriften, die das rechtliche Gehör beschränken, einen strengeren Prüfungsmaßstab an, als dies normalerweise bei einfachem Recht geschieht713. Hierin liegt eine Abweichung von der Heckschen Formel714, in der die Aufgabenteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten zusammengefasst wird.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung Im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 trafen die Kammern des Bundesverfassungsgerichts insgesamt 194 Entscheidungen, die in diesen Bereich thematisch eingeordnet werden können715. Grundlage der nachfolgenden Untersuchung ist eine Auswahl von Beschlüssen, die sich im Schwerpunkt mit Rügen zu Art. 12, Art. 14 sowie Art. 33 Abs. 2 und 5 GG befassen. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Es stellt sich die Frage, ob die praktische Handhabung der Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit durch die Kammern mit den dogmatischen Vorgaben der Senate sowie der Literatur zu deren Auslegung übereinstimmen. Es findet sich in diesem Bereich kein Beschluss, der sich näher mit dem Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit beschäftigt. Nachfolgend werden zwei Nichtannahmebeschlüsse vorgestellt, die sich mit dem Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils befassen, da in diesem Bereich auf keine Annahmebzw. Stattgabebeschlüsse zurückgegriffen werden kann.
711 712 713 714 715
Ebd. BVerfGE 65, 293, 295 f. So ausdrücklich in BVerfGE 75, 302, 312. Siehe hierzu die Ausführungen unter C. III. 2. c). Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I. 6.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
a) Besonders schwerer Nachteil Der Kammerentscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer schloss zum 01.05.1990 mit einer Lebensversicherungs-Aktiengesellschaft einen Vertrag über eine kapitalbildende Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung ab, wobei die Laufzeit 40 Jahre und die Summe 150.000 DM betrug. Nachdem der Beschwerdeführer 16 Monatsraten in Höhe von jeweils 252,50 DM bzw. eine Gesamtsumme von 4.040 DM gezahlt hatte, wurde auf seinen Antrag die Versicherungssumme auf 10.000 DM und somit auch die Monatsraten auf 17,80 DM reduziert716. Zunächst ließ der Beschwerdeführer noch die Versicherung beitragsfrei stellen, wodurch sich die Versicherungssumme auf 1566 DM verringerte. Schließlich kündigte er den Versicherungsvertrag, worauf ihm 559,30 DM zuzüglich 22,80 DM an Überschussanteilen erstattet wurden. Diese Summe ergab sich auf Grundlage einer Berechnung des Deckungskapitals (Prämienreserve) nach dem versicherungsmathematischen Verfahren der Zillmerung717. Der Beschwerdeführer scheiterte vor den Fachgerichten mit seiner Stufenklage, mittels derer er zunächst Auskunft über die Grundlagen der Berechnung dieser Summe begehrte, um dann in einem zweiten Schritt einen höheren Rückzahlungsbetrag zu fordern. Die auf Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nahm die zuständige Kammer mit Beschluss vom 15.02.2006 nicht zur Entscheidung an, obwohl das landgerichtliche Urteil bereits vom 23.05.1996 stammte718. Jedoch ordnete sie die Erstattung der notwendigen Auslagen an. Die Kammer prüfte sehr ausführlich die Frage der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG, um sie, mit Hinweis auf eine zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des Ersten Senats vom 26.07.2005719, zu verneinen720. In dieser Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht Folgendes festgestellt: Der Gesetzgeber sei durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG verpflichtet, hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür vorzusehen, dass bei der Ermittlung eines bei Vertragsende zuzuteilenden Schlussüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt würden, die durch die Prämienzahlungen im Bereich der kapitalbildenden Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung geschaffen worden seien721. Im Rahmen der Prüfung der Durchsetzungsannahme beschäftigte 716 717 718 719 720 721
BVerfGK 7, 283, 284. Ebd. BVerfGK 7, 283. BVerfGE 114, 73 ff. BVerfGK 7, 283, 295 ff. BVerfGE 114, 73 (Leitsatz).
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
267
sich die Kammer mit dem Vorliegen eines besonders schweren Nachteils. Sie kam zu dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der neuen Rechtslage noch ein Betrag von ca. 1400 DM oder 715 e zu erstatten sei. Der Ausgang des Verfahrens sei für den Beschwerdeführer wegen der Höhe der Geldsumme von geringer materieller Bedeutung722. Die Kammer benutzte zwar nicht explizit den Begriff des besonders schweren Nachteils, inhaltlich ging es jedoch um diese Problematik. In einem weiteren Fall wurde dem Beschwerdeführer im Wege einer sofort vollziehbaren Untersagungs- und Einstellungsverfügung verboten, seine Annahmestelle zur Vermittlung von Sportwetten in Karlsruhe zu betreiben. Es handelte sich um Sportwetten mit festen Gewinnquoten, wobei das Wettunternehmen selbst in London ansässig war723. Obsiegte der Beschwerdeführer wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit der deutschen Rechtslage mit dem Gemeinschaftsrecht noch vor dem Verwaltungsgericht, gab der Verwaltungsgerichtshof der Beschwerde statt. Er stellte im Wesentlichen auf das aus § 284 StGB folgende Repressivverbot ab, das weder verfassungs- noch gemeinschaftsrechtlich zweifelhaft sei724. Die Werbung der staatlichen Toto-Lotto GmbH Baden-Württemberg verstoße selbst dann nicht gegen das gesetzgeberische Unwerturteil, wenn sie aggressiv sei, da sie ein geeignetes Mittel darstelle, um das gesellschaftliche Bewusstsein auf einen sozialpolitisch und ordnungsrechtlich vertretbaren Bereich des Glücksspiels zu lenken725. Die zuständige Kammer nahm die auf Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde durch Beschluss vom 04.07.2006 nicht zur Entscheidung an. Sie ordnete jedoch die Auslagenerstattung an. Wiederum erörterte die Kammer die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG, um sie im Ergebnis zu verneinen. Sie verwies auf eine Entscheidung des Ersten Senats vom 28. März 2006, in der festgestellt wurde, dass ein staatliches Monopol für Sportwetten mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG nur vereinbar sei, wenn es konsequent am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet sei726. Die Durchsetzungsannahme nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG scheiterte nach Auffassung der Kammer am fehlenden schweren Nachteil. Dies begründete sie mit folgenden Erwägungen: Zwar sei das baden-württembergische Staatslotteriegesetz aufgrund des Urteils vom 28.03.2006 722 723 724 725 726
BVerfGK 7, 283, 302. BVerfGK 8, 343, 344. Ebd. BVerfGK 8, 343, 345. BVerfGE 115, 276 (Leitsatz).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
ebenfalls nichtig, dennoch bleibe die private Vermittlung von Sportwetten für eine Übergangszeit verboten und könne ordnungsrechtlich untersagt werden. Dies gelte nur unter der Bedingung, dass das Land Baden-Württemberg unverzüglich damit beginne, das staatliche Wettmonopol am Ziel der Bekämpfung der Wettleidenschaft zu orientieren, was zu bejahen sei727. Vor diesem Hintergrund liege, trotz des Verstoßes gegen Grundrechte des Beschwerdeführers, kein schwerer Nachteil vor, auch weil die Geschäftstätigkeit des Beschwerdeführers bis zum Erlass des Urteils vom 28.03.2006 geduldet worden sei728. b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals des besonders schweren Nachteils müsste sich mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung decken. In den beiden vorgestellten Beschlüssen erfolgte die Annahme eines besonders schwerern Nachteils mittels einer inhaltlichen Auseinandersetzung und keiner schlichten Feststellung. Anders verfährt die zuständige Kammer bei Entscheidungen aus dem Bereich Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn im Zusammenhang mit dem Elternrecht. Dort wird in einem Satz festgestellt, dass die Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG für den Beschwerdeführer einen besonders schweren Nachteil darstelle und die Verfassungsbeschwerde daher anzunehmen sei729. Ebenso im Rahmen einer negativen Entscheidung, in der es um die Verkürzung des väterlichen Umgangsrechts ging, reicht der zuständigen Kammer ein Satz aus, um einen schweren Nachteil abzulehnen730. In dem ersten der gerade vorgestellten Beschlüsse berechnet die Kammer überschlägig den Betrag, den der Beschwerdeführer noch fordern könnte und verneint angesichts der Summe von 1400 DM oder 715 e den besonders schweren Nachteil. Mit diesem Ergebnis befindet sie sich im Einklang mit einer vertretenen Auffassung, nach der ein besonders schwerer Nachteil ab einem groben Richtwert von 5.000 e angenommen wird731. Es waren zudem keine Anhaltspunkte für die Annahme eines besonderen Härtefalls er727 728 729 730 731
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK Siehe die
8, 343, 347 f. 8, 343, 348. 7, 65, 70. 7, 279, 281. Ausführungen unter B. V. 1. c) cc).
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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sichtlich, der eine andere Bewertung verlangt hätte. Dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass 10.000 e für einen Sozialhilfeempfänger einen anderen Stellenwert haben als für einen Großkonzern, wie Zuck es formulierte732. Vergleicht man den Fall des Beschwerdeführers mit anderen, in denen ein besonders schwerer Nachteil angenommen wurde, etwa die Rufvernichtung oder die strafrechtliche Verurteilung, ergibt sich hier keine Übereinstimmung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt ein besonders schwerer Nachteil nicht vor, wenn die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis ebenfalls keinen Erfolg haben würde733. Dieses Kriterium kann nicht herangezogen werden, da die Verfassungsbeschwerde gerade am Fehlen des Tatbestandsmerkmals des besonders schweren Nachteils scheitert und nicht aus anderen Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat. Anderenfalls beginge man einen Zirkelschluss. Die Verneinung des Tatbestandsmerkmals durch die Kammer war somit zutreffend. Im zweiten Beschluss zu diesem Themenkomplex verneint die zuständige Kammer das Vorliegen eines besonders schweren Nachteils, weil dem Beschwerdeführer trotz Verletzung seiner Grundrechte wegen des fortgeltenden Verbots der Vermittlung privater Sportwetten in der Übergangszeit seine Geschäftstätigkeit nicht gestattet werden kann. Zwar nimmt die Kammer keine wertmäßige Bezifferung des wirtschaftlichen Nachteils vor, der allein deshalb geringer ausfallen dürfte, weil die Geschäftstätigkeit des Beschwerdeführers, zumindest bis zum Erlass des Urteils vom 28.03.2006, geduldet wurde. Doch befindet sie sich mit ihrer Ablehnung voll auf Linie der Senatsrechtsprechung. Demnach scheidet die Annahme eines besonders schweren Nachteils aus, wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde734. Wenn die Kammer die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aufheben und zurückverweisen würde, müsste dieser dennoch die sofort vollziehbare Untersagungs- und Einstellungsverfügung bestätigen. Denn aufgrund des Urteils des Ersten Senats vom 28.03.2006 besteht das Verbot privater Vermittlung von Sportwetten in der Übergangszeit fort. Im Ergebnis wäre dem Beschwerdeführer somit noch weniger geholfen, da er zusätzlich noch die Kosten zu tragen hätte.
732 733 734
Siehe Teil B., Fn. 288. Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c) cc). Ebd.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Das Prüfungsgebaren der Kammern bei den Nichtannahme- bzw. Stattgabebeschlüssen folgt dem bereits beschriebenen Muster. Sowohl bei den Nichtannahmebeschlüssen als auch bei den Annahme- bzw. Stattgabebeschlüssen gibt es drei Prüfungsvarianten735. Eine Besonderheit ist festzustellen: In einem Nichtannahmebeschluss wird im Zusammenhang mit der Prüfung der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG auf die Ausführungen in einer anderen Kammerentscheidung vom gleichen Tag zum identischen Thema – Erhebung von Studiengebühren für Langzeitstudierende in einem Zweitstudiengang – konkret verwiesen: „1. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Sie wirft keine Fragen auf, die sich nicht anhand der vom Bundesverfassungsgericht bereits entwickelten Maßstäbe beantworten lassen (vgl. BVerfGE 90, 22 [24 f.]). Die Kammer verweist dazu auf ihre Ausführungen in ihrem Beschluss vom heutigen Tage in dem Verfahren 1 BvR 170/01 unter II. 1.“736
Geht man diesem Verweis auf die Kammerentscheidung nach, stößt man in dieser auf eine Vielzahl von Senatsentscheidungen, die sich mit der Einschränkung der Berufsfreiheit durch ausbildungsbezogene Belastungen, Abgabenregelungen und Gebührenbemessung befassen737. Diese Vorgehensweise fällt zwar aus dem üblichen Muster, wirft aber keine Probleme auf, da lediglich ein zusätzliches Verweisungsglied in die Kette eingebaut wurde. Verweisen die Kammern grundsätzlich direkt auf die in Bezug genommenen Senatsentscheidungen, wenn sie die grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung prüfen, wird hier der Umweg über eine Kammerentscheidung gegangen, die dann ihrerseits auf die Senatsentscheidungen verweist. Im Folgenden wird das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG im Hinblick darauf näher betrachtet, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage in dem konkreten Fall tatsächlich bereits entschieden war.
735 736 737
Siehe hierzu die Ausführungen unter D. I. 1. und 2. BVerfGK 7, 477, 480; der Verweis richtet sich auf BVerfGK 7, 465. BVerfGK 7, 465, 471.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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a) Die Berufsfreiheit Die im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG gerügten Grundrechtsverletzungen stammen aus den Bereichen: Zulässigkeit von Werbung für eine berufliche Betätigung738, Erlaubnispflichtigkeit der Ausübung eines Berufs739 bzw. Zulässigkeit der Berufsausübung einer bestimmten Person740, Zugang zu einem Beruf741, Ende der Berufsausübung742 und Honorarfragen743. Nachfolgend werden Musterfälle vorgestellt, die sich mit den erwähnten Problemfeldern beschäftigen, wobei nicht alle Bereiche abgedeckt werden. aa) BVerfGK 1, 240 Die Beschwerdeführerin zu 1) ist Trägerin einer Gefäßklinik, der Beschwerdeführer zu 2) ihr Geschäftsführer. Im Internet warb die Beschwerdeführerin zu 1) auf ihrer Homepage unter der Überschrift: „Was wir für Sie tun können, hängt von dem ab was Sie haben“744. Unter dieser Überschrift waren fünf Krankheiten aufgeführt, die ihrerseits über einen Link jeweils zu einer weiteren Internetseite führten, auf der eine Beschreibung des Krankheitsbildes und der Behandlung folgte. Es konnten zudem Informationen über die behandelnden Ärzte und die Gefäßklinik selbst eingesehen 738 So ging es um die wettbewerbsrechtliche Verurteilung zur Unterlassung einer Klinikwerbung im Internet (BVerfGK 1, 240); die Werbung einer GmbH mit der Berufsbezeichnung Architekt (BVerfGK 4, 30); die berufsgerichtliche Auferlegung eines Bußgeldes wegen freiberuflicher Werbung in der Tagespresse (BVerfGK 6, 46); die Werbung einer Anwaltssozietät mit sog. Gegnerliste (BVerfGK 13, 51); die Werbung durch Versteigerung anwaltlicher Dienstleistungen in einem Internetauktionshaus, die nicht berufswidrig ist (BVerfGK 13, 286). 739 Erlaubnispflicht nach dem Heilpraktikergesetz – Bestrafung eines Wunderheilers (BVerfGK 3, 234). 740 Zur Frage des Umfangs erlaubter Rechtsberatung eines Inkassounternehmens (BVerfGK 4, 20). 741 Anwendbarkeit der „Landeskinderklausel“ bei der Besetzung von Notarstellen (BVerfGK 5, 205). 742 Etwa die Amtsenthebung eines Notars (BVerfGK 6, 156); die Anforderungen an die Begründung eines vorläufigen Berufsverbots gemäß § 132a StPO (BVerfGK 7, 110); den Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft bei Ernennung zum Kirchenbeamten auf Lebenszeit (BVerfGK 10, 416); die Untersagung der Vermittlung gewerblich veranstalteter Sportwetten vor dem Sportwettenurteil vom 28.03.2006 (BVerfGK 12, 428). 743 Beispielsweise ging es um die Wirksamkeit zahnärztlicher Honorarvereinbarungen mit von der Gebührenordnung für Zahnärzte abweichenden Gebührensätzen (BVerfGK 4, 144); die Unterschreitung des Mindesthonorars bei einem Architektenwettbewerb (BVerfGK 6, 254). 744 BVerfGK 1, 240, 241.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
werden. Schließlich waren Bestandteil der Werbung auch „10 wertvolle Tipps für ein venenbewußtes Leben“ und eine Beschreibung „Wie Sie uns finden können“745. Auf die Klage eines konkurrierenden Facharztes für Chirurgie verurteilte das Landgericht die Beschwerdeführer zur Unterlassung dieser Werbung wegen Verstoßes gegen § 12 Abs. 2 Satz 1 HWG746 und dem ärztlichen Standesrecht. Nachdem die Beschwerdeführer vor dem Oberlandesgericht gescheitert waren, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG statt. Sie berief sich auf folgende Senatsmaßstäbe: „Das Werbeverbot des § 21 Abs. 1 BO747 ist allerdings nur mit der Maßgabe als verfassungsmäßig betrachtet worden, dass nicht jede, sondern lediglich die berufswidrige Werbung verboten sei.“748 „Die Angabe rechtsförmlich erworbener fachlicher Qualifikationen ist ein herkömmliches Mittel der Ankündigung freiberuflicher Leistungen (. . .).“749 „In den eingeholten Stellungnahmen wird auf die Gefahr hingewiesen, dass sich Kranke leicht beeinflussen lassen; das ärztliche Werbeverbot diene dem Schutz der Bevölkerung, es wolle das Vertrauen der Patienten darauf erhalten, dass der Arzt nicht aus Gewinnstreben bestimmte Untersuchungen vornehme, Behandlungen vorsehe oder Medikamente verordne. Dies alles sind ausreichende Gründe für ein ärztliches Werbeverbot, so dass dahingestellt bleiben kann, ob auch bloße Schutzinteressen der Standesgenossen ausreichen könnten.“750 745
Ebd. § 12 Abs. 2 Satz 1 HWG (Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens) lautet: (2) Die Werbung für andere Mittel, Verfahren, Behandlungen oder Gegenstände außerhalb der Fachkreise darf sich nicht auf die Erkennung, Beseitigung oder Linderung dieser Krankheiten oder Leiden beziehen. 747 § 21 BO (Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg) lautete: (1) Jegliche Werbung und Anpreisung ist dem Arzt untersagt. Insbesondere ist es standesunwürdig, a) öffentliche Danksagungen oder anpreisende Veröffentlichungen zu veranlassen oder zuzulassen, b) (. . .) (2) und (3) (. . .) (4) Der Arzt darf nicht dulden, dass Berichte und Bildberichte mit werbendem Charakter über seine ärztliche Tätigkeit angefertigt und mit Verwendung seines Namens oder seiner Anschrift veröffentlicht werden (5) (. . .). Die aktuelle Vorschrift befindet sich in § 27 der Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte. Sie kann unter http://www.bundesaerztekammer.de eingesehen werden. 748 BVerfGE 85, 248, 257; ähnlich BVerfGE 71, 162, 174. 749 BVerfGE 82, 18, 28. 750 BVerfGE 71, 162, 174. 746
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„Wenn aber Ärzte befugt sind, sich trotz ihrer Eigenschaft als Freiberufler gewerblich auf dem Gebiet des Heilwesens zu betätigen, dann führt dies zwangsläufig zu einer Verquickung ärztlicher und gewerblicher Tätigkeiten mit der Folge, dass zwischen niedergelassenen Ärzten und ärztlichen Inhabern von Sanatorien – auch rechtlich relevante – Unterschiede entstehen und dass sich das Werbeverbot für die zweite Gruppe nicht mehr voll rechtfertigen lässt.“751 „Schon die bisherige Regelung enthält eine Ungleichbehandlung zwischen den beiden Berufsgruppen. Diese wird durch die zwischen ihnen bestehenden betriebswirtschaftlichen Unterschiede gerechtfertigt: Infolge des höheren sachlichen und personellen Aufwandes und der laufenden Betriebskosten wird die Gruppe der ärztlichen Inhaber von Sanatorien durch das in der Berufsordnung statuierte Verbot der mittelbaren Werbung typischerweise stärker belastet als die Gruppe der niedergelassenen Ärzte.“752 „Diese Norm [§ 6 Abs. 1 Arzneimittelgesetz] ist aber unter Berücksichtigung der Kompetenzzuweisung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG einschränkend auszulegen; der Bund ist nur befugt, die Herstellung solcher Arzneien gesetzlich oder im Verordnungswege zu regeln, die dazu bestimmt sind, in den Verkehr gebracht zu werden. Dazu gehören nicht Arzneimittel, die der Arzt selbst herstellt und beim Patienten anwendet.“753 „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“754
Nach Auffassung der Kammer werden die Grenzen des Art. 12 Abs. 1 GG für berufsrechtliche Werbeverbote außer Acht gelassen. Es handele sich bei der Überschrift „Was wir für Sie tun können, hängt von dem ab was Sie haben“ nicht um marktschreierische Werbung, sondern um eine einprägsame Überschrift für die aufgeführten Krankheitsbilder und ihre Behandlungsmethoden755. Die Schilderung der Krankheitsbilder sei sachlich und informativ, ebenso die Angaben zur Häufigkeit der Behandlungsmethoden. Die Gerichte hätten nicht berücksichtigt, dass für Kliniken nicht die gleichen Werbebeschränken gelten als für niedergelassene Ärzte. Schließlich befinde sich die Werbung auf einer passiven Internetplattform, die von den Patienten unaufgefordert gelesen werde756. 751 752 753 754 755
BVerfGE 71, 183, 196. BVerfGE 71, 183, 199. BVerfGE 103, 26, 33. BVerfGE 18, 85, 92 f. BVerfGK 1, 240, 243.
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bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die Entscheidung müsste sich auf die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe zurückführen lassen. Kumulativ entscheidungstragend sind im Wesentlichen zwei Feststellungen der Kammer, zum einen die Einstufung der Werbung als nicht berufswidrig und damit sachangemessen, zum anderen die Differenzierung zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärzten. Die Feststellung, dass berufswidrige Werbung verboten ist, lässt sich auf den ersten der oben zitierten Senatsmaßstäbe zurückführen. Nach Auffassung der Kammer liegt berufswidrige Werbung vor, wenn sie keine interessengerechte und sachangemessene Information darstelle, wobei auf die Interessenlage von Ärzten und Patienten abzustellen sei. Demnach sei Werbung sachangemessen, wenn sie den Patienten nicht verunsichere, sondern ihn befähige, von seinem freien Arzt- und Klinikwahlrecht sinnvoll Gebrauch zu machen757. Der von der Kammer in Bezug genommene Senatsmaßstab äußert sich jedoch nur allgemein zu den Schutzzwecken des ärztlichen Werbeverbots758. Er enthält keine Angaben darüber, wann die Werbung als berufswidrig anzusehen ist. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, lässt sich der von der Kammer zu entscheidende Sachverhalt nicht ohne weitere Zwischenschritte abstrakter Art unter den Senatsmaßstab subsumieren. Denn es bleibt unklar, wann eine Werbung berufswidrig ist. Der Senatsmaßstab ist als Prinzip einzuordnen, weil ihm der konditionale Aufbau fehlt. Prinzipien müssen eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Diesem Erfordernis wird der Maßstab nicht gerecht. Aus den allgemeinen Schutzzwecken des ärztlichen Werbeverbots lassen sich nicht die Voraussetzungen der berufswidrigen Werbung ableiten. Zwar handelt es sich um keine originär verfassungsrechtliche Frage, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit niedriger sind, doch vermag der verwendete Maßstab weder nach der Formel von Mahrenholz noch als Prinzip die Entscheidung inhaltlich zu tragen. Im Ergebnis hat nicht der Senat, sondern die Kammer entschieden, wann eine berufswidrige Werbung vorliegt und somit die Lücke zwischen dem Sachverhalt und dem Senatsmaßstab geschlossen. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob sich die zweite Feststellung auf Senatsmaßstäbe zurückführen lässt, da sie den Kammerbeschluss allein nicht tragen kann. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden.
756 757 758
BVerfGK 1, 240, 244. BVerfGK 1, 240, 242. BVerfGE 71, 162, 174.
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cc) BVerfGK 3, 234 Der Beschwerdeführer, der weder Arzt ist noch über eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz verfügt, behandelt schwerkranke Menschen durch „Handauflegen“. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen Verstoßes gegen § 5 Abs. 1 Heilpraktikergesetz. Demnach wird derjenige mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft, der ohne Erlaubnis die Heilkunde ausübt759. Das Amtsgericht sprach ihn zunächst frei, weil seine Tätigkeit keiner Erlaubnis bedürfe und weder gesundheitliche Schäden verursache noch gefährliche Auswirkungen habe. Im Wege der Sprungrevision hob das Oberlandesgericht das amtsgerichtliche Urteil mit der Begründung auf, dass es neben der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auch eine strafrechtliche Dimension des Heilkundebegriffs gebe. Es sei schon als Ausübung der Heilkunde anzusehen, wenn der Eindruck bei dem Behandelten erweckt werde, das Tun ziele darauf ab, ihn von Krankheit, Leiden und Körperschäden zu heilen oder ihm Erleichterung zu verschaffen760. Daraufhin verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz in 28 Fällen zu einer Geldstrafe von 250 Tagessätzen zu je 100 DM. Trotz des Hinweises, dass er eine Heilung oder Linderung nicht versprechen könne, habe er den Patienten gegenüber geäußert, helfen zu wollen. Sein Handeln habe zu mittelbaren Gefahren geführt, da für Patienten das Risiko bestanden habe, die gebotene ärztliche Behandlung zu spät oder gar nicht zu bekommen761. Nachdem sowohl die Berufung als auch die Revision aus Sicht des Beschwerdeführers scheiterten, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr, unter Bezugnahme der nachfolgenden Senatsmaßstäbe, wegen einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG statt: „Das Ziel des Gesetzes [Heilpraktikergesetz], die Volksgesundheit durch einen Erlaubniszwang für Heilbehandler ohne Bestallung zu schützen, ist durch Art. 12 Abs. 1 GG gedeckt. Es widerspricht daher nicht dem Grundgesetz. Bei der Gesundheit der Bevölkerung handelt es sich um ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut (. . .), zu dessen Schutz eine solche subjektive Berufszulassungsschranke nicht außer Verhältnis steht.“762 „Dass heilkundliche Tätigkeit grundsätzlich nicht erlaubnisfrei sein soll, hat im Hinblick auf die Volksgesundheit unterschiedslos seinen Sinn, gleichgültig welche 759 BVerfGK 3, 234, 235. Nach § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz ist Ausübung der Heilkunde jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird. 760 BVerfGK 3, 234, 236. 761 Ebd. 762 BVerfGE 78, 179, 192.
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Vor- oder Ausbildung der Bewerber aufweist. Es geht um eine präventive Kontrolle, die nicht nur die fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch die Eignung für den Heilkundeberuf im Allgemeinen erfasst.“763 „Solche Eingriffe [Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft] bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die ihrerseits den Anforderungen der Verfassung genügt. Sie sind nur zum Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsgutes und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (. . .).“764 „Die vom Oberlandesgericht angewandten Vorschriften bekämpfen allerdings nicht unmittelbar bestimmte Gesundheitsgefahren, sondern wollen lediglich der Verunsicherung von Kranken begegnen und ein Verständnis des Arztberufs verhindern, das langfristig negative Rückwirkungen auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung haben könnte. Dabei steht das Duldungsverbot seinerseits wieder nur vermittelt durch das Werbeverbot in Beziehung zum Gesundheitsschutz. Dadurch entfernt es sich von dem Schutzgut jedoch so weit, dass es jedenfalls nicht generell Vorrang vor der Berufsausübungsfreiheit beanspruchen kann.“765 „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.“766
Die Kammer kommt zu dem Ergebnis, dass die Gerichte die Tragweite des Art. 12 Abs. 1 GG verkannt haben, indem sie die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Ausübung der Heilkunde eingestuft und damit als erlaubnispflichtig angesehen haben. Die Erlaubnispflicht sei hier nicht geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, da sich die Heilertätigkeit des Beschwerdeführers, diagnoseunabhängig, einheitlich auf das „Handauflegen“ beschränke767. Der Beschwerdeführer vermeide bei den Patienten den Eindruck eines nach heilkundlichen Maßstäben Geprüften. Sogenannte Wunderheiler wirkten spirituell und weckten nicht die Erwartung auf heilkundlichen Bestand, da sie religiösen Riten näher stünden als der Medizin768. Zudem habe der Beschwerdeführer die Kranken darauf hingewiesen, dass seine Tätigkeit eine ärztliche Behandlung nicht ersetze. Schließlich hätte der Beschwerdeführer nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung seine Verurteilung nur abwenden können, wenn er die Heilpraktikerprüfung abgelegt hätte, was mit seiner Tätigkeit jedoch kaum in einem erkennbaren Zusammenhang stehe769. 763 764 765 766 767 768 769
BVerfGE 78, 179, 194. BVerfGE 93, 213, 235. BVerfGE 85, 248, 261. BVerfGE 92, 1, 12. BVerfGK 3, 234, 239. BVerfGK 3, 234, 239 f. BVerfGK 3, 234, 240 f.
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dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Der Kammerbeschluss lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, nach dem heilkundliche Tätigkeit grundsätzlich nicht erlaubnisfrei sein solle, es um eine präventive Kontrolle gehe, die nicht nur die fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erfasse, sondern auch die Eignung für den Heilkundeberuf im Allgemeinen. Der Maßstab enthält die Aussage, dass die heilkundliche Tätigkeit grundsätzlich nicht erlaubnisfrei sein soll. Daraus folgt umgekehrt, derjenige, der keine heilkundliche Tätigkeit ausübt, bedarf keiner Erlaubnis. Die fallentscheidende Frage ist demnach: Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit man von einer heilkundlichen Tätigkeit sprechen kann? Der Maßstab erlaubt keine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Der Kammer fehlen gerade Kriterien dafür, ob das „Handauflegen“ eine heilkundliche Tätigkeit darstellt oder nicht. Strukturell betrachtet handelt es sich um ein Prinzip. Es muss eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Diese Maßgabe wird nicht erfüllt. Denn der Maßstab lässt auch als Prinzip offen, unter welchen Voraussetzungen von einer heilkundlichen Tätigkeit ausgegangen werden kann. Zwar waren die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer, weil es sich nicht um eine originär verfassungsrechtliche Frage gehandelt hat, doch vermag dies am gefundenen Ergebnis nichts mehr zu ändern. Die vorliegende Fallkonstellation ist vergleichbar mit der in BVerfGK 1, 240. Dort fehlten der Kammer ebenfalls Kriterien für die Beantwortung der Frage, wann Werbung als berufswidrig anzusehen ist. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. ee) BVerfGK 4, 20 Die Beschwerdeführerin, Inhaberin eines Inkassounternehmens, sollte für eine Klientin eine Forderung im Mahnverfahren beitreiben. Nach Widerspruch des Schuldners fertigte sie zwei Schriftsätze an, in denen sie rechtlich und tatsächlich Stellung nahm. Die Schriftsätze wurden dem gegnerischen Prozessbevollmächtigten zusammen mit einer Vollmacht übermittelt, welche die Beschwerdeführerin zu allen zivilrechtlichen Maßnahmen, die der sachgerechten Beitreibung dienen, sowie zur Abgabe rechtsverbindlicher Erklärungen und zum Abschluss von Vergleichen ermächtigte770. Nachdem der Rechtsstreit noch durch gütliche Einigung im Mahnverfahren beigelegt wurde, erhob die Rechtsanwaltskammer aufgrund der Schriftsätze und der vorgelegten Vollmacht Klage auf Unterlassung gegen die Beschwerdeführerin. Die Fachgerichte gaben der Klage weitgehend statt, da 770
BVerfGK 4, 20, 21.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
ein Verstoß gegen Art. 1 § 1 Abs. 1 Nr. 5 RBerG771 und § 1 UWG772 vorliege. Die Vorgehensweise der Beschwerdeführerin sei als beratende Tätigkeit in einem anhängigen Gerichtsverfahren einzustufen. Die Vollmacht bringe zum Ausdruck, dass die Beschwerdeführerin die Vollmachtgeberin in Gerichtsverfahren vertreten wolle, was durch das Rechtsberatungsgesetz verboten sei und den Wettbewerb wesentlich beeinträchtige773. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde insoweit zur Entscheidung an, als die Gerichte der Beschwerdeführerin untersagten, in der Weise rechtsberatend tätig zu werden, wie dies in den Schreiben erfolgte und gab ihr wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG statt. Sie nahm folgende Senatsmaßstäbe in Bezug: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“774 „Dazu [Nichtbeachtung] kann es im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG insbesondere dann kommen, wenn bei Auslegung und Anwendung der Norm die typischen Merkmale einer Berufstätigkeit (. . .) nicht gewürdigt oder mit den entgegenstehenden Gemeinwohlinteressen grundrechtliche Belange (. . .) nicht in ein angemessenes Verhältnis gebracht worden sind (. . .).“775 „Zu diesen Gemeinwohlbelangen [die das Rechtsberatungsgesetz tragen] zählt neben dem Schutz der Rechtsuchenden auch der Schutz der Rechtspflege.“776 771
Art. 1 § 1 Nr. 5 RBerG lautete: (1) Die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten, einschließlich der Rechtsberatung und der Einziehung fremder oder zu Einziehungszwecken abgetretener Forderungen, darf geschäftsmäßig – ohne Unterschied zwischen haupt- und nebenberuflicher oder entgeltlicher und unentgeltlicher Tätigkeit – nur von Personen betrieben werden, denen dazu von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilt ist. Die Erlaubnis wird jeweils für einen Sachbereich erteilt: 5. Inkassounternehmern für die außergerichtliche Einziehung von Forderungen (Inkassobüros) (. . .). 772 § 1 UWG lautet: Dieses Gesetz dient dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmer vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Es schützt zugleich das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb. 773 BVerfGK 4, 20, 21. 774 BVerfGE 18, 85, 92 f. 775 BVerfGE 97, 12, 27. 776 BVerfGE 97, 12, 30.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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Nach Auffassung der Kammer fehle jede Auseinandersetzung der Gerichte mit dem Gegenstand der erteilten Erlaubnis vor dem Hintergrund von Art. 12 Abs. 1 GG und einer Überprüfung der Schriftsätze dahingehend, ob die Schutzzwecke des Rechtsberatungsgesetzes beeinträchtigt worden seien777. Die Schutzzwecke untersagten es Inhabern einer Inkassoerlaubnis nicht, gegenüber ihren Klienten Rechtsäußerungen im Hinblick auf die einzuziehenden Forderungen zu machen. Sie äußerten sich zum Geschäftsgegenstand und im Rahmen der ihnen erlaubten Tätigkeit. Es sei daher unerheblich, ob die Äußerungen gegenüber dem Vertragspartner oder dem Schuldner der Forderung erfolgten. Ohne Hinweise auf die Rechtslage, um den Schuldner zur Zahlung zu bewegen, sei eine effektive Inkassotätigkeit nicht möglich778. Es dürfe Rechtsberatung erfolgen, da die Inkassounternehmen gerade dem Erlaubnisvorbehalt von Art. 1 § 1 Abs. 1 Nr. 5 RBerG unterfielen. Dazu zähle auch die Geltendmachung von Ansprüchen mit Rechtsargumenten. Die Tätigkeit sei noch als außergerichtliche Streitbeilegung einzuordnen. Schließlich seien weder der Verbraucherschutz noch die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege beeinträchtigt779. ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Es kommen zwei Maßstäbe in Betracht, die die Kammerentscheidung tragen könnten. Zum einen der Maßstab, nach dem es zur Nichtbeachtung im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG insbesondere dann kommen kann, wenn bei Auslegung und Anwendung der Norm die typischen Merkmale einer Berufstätigkeit nicht gewürdigt oder mit den entgegenstehenden Gemeinwohlinteressen grundrechtliche Belange nicht in ein angemessenes Verhältnis gebracht worden sind. Zum anderen der Maßstab, nach dem zu den Gemeinwohlbelangen, die das Rechtsberatungsgesetz tragen, der Schutz der Rechtssuchenden und der Rechtspflege gehört. Beide Maßstäbe eignen sich nicht für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Aus den Maßstäben lässt sich nicht direkt ableiten, dass die Tätigkeit des Inkassounternehmen gegen Art. 1 § 1 Abs. 1 Nr. 5 RBerG verstößt. Von seinem Aufbau her betrachtet handelt es sich bei dem zuerst genannten Maßstab um eine Regel und bei dem zweiten um ein Prinzip. Regeln müssen subsumierbar sein. Zur Frage der Subsumierbarkeit beinhaltet die Formel von Mahrenholz die engeren Voraussetzungen, sodass diese Frage bereits negativ beantwortet wurde. Zwar ist der zweite Maßstab als Prinzip zu klassifizieren, doch gibt er keine Richtung für die Falllösung 777 778 779
BVerfGK 4, 20, 23 f. BVerfGK 4, 20, 24. BVerfGK 4, 20, 24 f.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
vor. Die allgemeinen Schutzzwecke des Rechtsberatungsgesetzes vermögen nicht zu beantworten, ob die Tätigkeit des Inkassounternehmens gegen eben dieses Gesetz verstößt. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle mehr, dass keine originär verfassungsrechtliche Frage vorliegt und die Anforderungen an die Bestimmtheit geringer sind. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war nicht beantwortet. gg) BVerfGK 6, 156 Der Beschwerdeführer wurde durch Bescheid des sächsischen Staatsministeriums der Justiz seines Amtes als Notar enthoben, nachdem über sein Vermögen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Eine Gläubigerversammlung beschloss jedoch die Fortführung des Notariats und beauftragte den Insolvenzverwalter mit der Erstellung eines Insolvenzplans780. Die Bestätigung des Plans durch das Insolvenzgericht veranlasste das Oberlandesgericht, den Bescheid wegen der zu erwartenden Sanierung des Notarvermögens aufzuheben und die Vollziehung der Amtsenthebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens auszusetzen. Der Bundesgerichtshof entsprach jedoch der sofortigen Beschwerde des Ministeriums. Der Beschwerdeführer sei zu Recht nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO781 seines Amtes enthoben worden, da er es unterlassen habe, einen Antrag nach § 50 Abs. 3 BNotO782 zu stellen und somit der Amtsenthebungsgrund bindend festgestellt sei. Zwar seien Umstände, die bis zum Ausspruch der Amtsenthebung eintreten würden, zu berücksichtigen, die Ergebnisse der Gläubigerversammlung hätten die Vermutung des Vermögensverfalls jedoch nicht entkräftet783. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer 780
BVerfGK 6, 156, 157. § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO lautet: (1) Der Notar ist seines Amtes zu entheben, 6. wenn er in Vermögensverfall geraten ist; ein Vermögensverfall wird vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Notars eröffnet oder der Notar in das vom Insolvenzgericht oder vom Vollstreckungsgericht zu führende Verzeichnis (§ 26 Abs. 2 der Insolvenzordnung, § 915 der Zivilprozessordnung) eingetragen ist. 782 § 50 Abs. 3 BNotO lautete: Die Amtsenthebung geschieht durch die Landesjustizverwaltung nach Anhörung der Notarkammer. Der Notar ist vorher zu hören. In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 5 bis 9 ist die Feststellung, ob die Voraussetzungen für die Amtsenthebung vorliegen, auf Antrag des Notars durch Entscheidung des Disziplinargerichts zu treffen; der Antrag ist nur innerhalb eines Monats zulässig, nachdem dem Notar eröffnet ist, dass und aus welchem Grund seine Amtsenthebung in Aussicht genommen ist. 783 BVerfGK 6, 156, 158. 781
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Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG statt. Im Rahmen der Prüfung zur grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG verweist die Kammer auf BVerfGE 110, 304, 321 bzw. BVerfGE 102, 197, 213 und verneint das Tatbestandsmerkmal. Während die erste Entscheidung sich mit der Frage der Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 GG auf den Beruf des Notars beschäftigt, geht es in der zweiten um die verfassungsrechtlich zulässige Reichweite von Eingriffen in die Berufsfreiheit. Die in Bezug genommenen Senatsmaßstäbe lauten: „Dass die Tätigkeit des Notars nach der Art der von ihm zu bewältigenden Aufgaben in einem öffentlichen Amt in sachlich bedingter Nähe zum öffentlichen Dienst steht, ermöglicht für diesen Beruf zwar grundsätzlich Sonderregelungen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass an die nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG gebotene gesetzliche Regelung geringere Anforderungen zu stellen wären als bei anderen Berufen. Allerdings kann die Nähe zum öffentlichen Dienst für den Inhalt der gesetzlichen Regelung Bedeutung erlangen (. . .). Lässt der Gesetzgeber unterschiedliche Ausgestaltungen desselben Berufs zu und ist die Ausübung eines öffentlichen Amtes im Haupt- und im Zweitberuf möglich, wirken sich solche Unterschiede nicht nur im Hinblick auf Regelungen der Berufsausübung aus (. . .), sondern vor allem im Hinblick auf die grundgesetzkonforme Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen und die verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkungen der Berufswahl.“784 „Eingriffe in dieses Recht sind nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG, der auch für Maßnahmen gilt, die die Freiheit der Berufswahl betreffen (. . .), nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung erlaubt, die den Anforderungen der Verfassung an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügt. Dies ist der Fall, wenn die eingreifende Norm kompetenzgemäß erlassen worden ist, durch hinreichende, der Art der betroffenen Betätigung und der Intensität des jeweiligen Eingriffs Rechnung tragende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht (. . .).“785
Innerhalb der Prüfung der Durchsetzungsannahme nach § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG werden keine weiteren Senatsmaßstäbe verwendet. Nach Auffassung der Kammer seien die Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften in den Entscheidungen nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar. Die Gleichstellung eines versäumten Antrags nach § 50 Abs. 3 Satz 3 BNotO mit einem erfolglos durchgeführten Vorschaltverfahren nehme dem Notar den vom Gesetzgeber erstrebten besonderen Schutz der Berufsfreiheit und belaste ihn mit der bindenden Feststellung des Amtsenthebungsgrundes, womit der Zweck des Vorschaltverfahrens in sein Gegenteil verkehrt werde786. Eine grundrechtsgeleitete – Art. 12 Abs. 1 GG 784 785 786
BVerfGE 110, 304, 321. BVerfGE 102, 197, 213. BVerfGK 6, 156, 160.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
verlange eine sorgfältige Prüfung, ob aufgrund der Umstände des Einzelfalls die Vermutung des Vermögensverfalls als widerlegt angesehen werden könne – Auslegung und Anwendung der einschlägigen Bestimmungen gebiete die Berücksichtigung der Ergebnisse der Gläubigerentscheidung. Die Anforderungen an eine Widerlegung der Vermutung nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO würden überspannt, wenn der Bundesgerichtshof davon ausginge, dass die Erfüllung des Insolvenzplans wegen unsicherer Fortführung der Notartätigkeit nicht absehbar sei. Die Amtsenthebung käme als Folge des Vermögensverfalls in Frage, nicht aber als Ursache787. hh) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Die Kammer verwendet bei der Prüfung der Durchsetzungsannahme keine Senatsmaßstäbe bzw. verweist nicht auf sie. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit noch nicht entschieden. Selbst wenn man auf die Senatsmaßstäbe abstellt, auf die die Kammer bei der Prüfung der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung Bezug nimmt, ergibt sich kein anderes Bild. Die allgemeinen Ausführungen zur Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 GG auf den Beruf des Notars und zu den Eingriffen in das Grundrecht sind nicht geeignet, eine direkte Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel zuzulassen. Es fehlen die Schritte zwischen den allgemeinen Ausführungen und der konkreten Frage, ob Vermögensverfall eingetreten ist. Strukturell betrachtet, handelt es sich bei dem Senatsmaßstab, der sich zu den Eingriffen äußert, um eine Regel, da ein konditionaler Aufbau vorliegt. Im Hinblick auf die Subsumierbarkeit bleibt es dennoch bei dem negativen Ergebnis, da die Formel von Mahrenholz die engeren Voraussetzungen beinhaltet. Der Maßstab, der sich zur Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 GG auf den Beruf des Notars verhält, ist als Prinzip einzustufen. Eine Richtung für die konkrete Falllösung vermag er nicht zu geben. Es spielt somit wiederum keine Rolle, dass es sich um keine originär verfassungsrechtliche Fragestellung handelt und die Anforderungen an die Bestimmtheit abgesenkt waren. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war noch nicht entschieden. ii) Bewertende Zusammenfassung Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind tendenziell nicht geeignet, eine Subsumtion nach der Mahrenholzschen Formel zuzulassen. Zum einen sind 787
BVerfGK 6, 156, 162 f.
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die Maßstäbe zu abstrakt oder unbestimmt. Etwa der Maßstab, nach dem eine Nichtbeachtung von Art. 12 Abs. 1 GG in Betracht kommt, wenn bei Auslegung und Anwendung der Norm die typischen Merkmale einer Berufstätigkeit nicht gewürdigt werden oder das Verhältnis von Gemeinwohlinteressen und grundrechtlichen Belangen nicht angemessen ist oder die Maßstäbe, die sich zur Anwendung von Art. 12 Abs. 1 GG auf den Beruf des Notars äußern. Zum anderen ist die mangelnde Eignung der Senatsmaßstäbe darauf zurückzuführen, dass der Bereich sehr stark einfachrechtlich reglementiert ist. Zu fast jedem Beruf gibt es ein oder mehrere Gesetze, die den Zugang und die Ausübung normieren. Den Fällen, die von den Kammern im Rahmen der Verfassungsbeschwerden zu entscheiden sind, liegen daher einfachrechtliche Detailfragen zugrunde. Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe enthalten hierzu überwiegend keine Aussagen. Den Kammern bleibt somit keine andere Wahl, als die Lücke zwischen den zu abstrakten Senatsmaßstäben und dem konkret zu entscheidenden Sachverhalt selbst zu schließen. Vor diesem Hintergrund vermögen die Senatsmaßstäbe, die aufbautechnisch als Prinzipien einzustufen sind, in der Regel auch keine Richtung für die Falllösung vorzugeben. Inhaltlich geht es um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die Bestimmtheit sind zwar geringer, dennoch ändert dies am jeweils gefundenen Ergebnis nichts. Es könnte auf den ersten Blick verwundern, dass die Senatsmaßstäbe die Kammerentscheidungen nicht tragen. Denn es handelt sich inhaltlich um sehr begrenzte Fragestellungen, vergleichbar mit der Situation bei Art. 13 Abs. 2 GG in Bezug auf die Anwendung und Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr im Verzug788. So geht es um die Zulässigkeit von Werbung durch Krankenhausträger oder die Erlaubnispflichtigkeit von Wunderheilern oder den Umfang erlaubter Rechtsberatung durch Inkassounternehmen oder die Frage, wann bei einem Notar Vermögensverfall eintritt. Obwohl es sich sowohl im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG als auch mit Art. 13 Abs. 2 GG um inhaltlich begrenzte Fragestellungen handelt, tragen nur die Maßstäbe zu Art. 13 Abs. 2 GG die Kammerbeschlüsse inhaltlich. Auf den zweiten Blick muss in Rechnung gestellt werden, dass zwar die Fragestellungen begrenzt sind, der Facettenreichtum bei Art. 12 Abs. 1 GG aber wesentlich höher ist. Denn bei Art. 13 Abs. 2 GG geht es immer nur um die Frage, ob in dem konkret zu entscheidenden Fall Gefahr im Verzug vorlag. Vor diesem Hintergrund vermag das Ergebnis nicht zu verwundern.
788
Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. b) cc).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
b) Der Schutz des Eigentums Die im Folgenden dargestellten Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse stammen aus den Bereichen Wohnungseigentum, ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen sowie Sicherungsmaßnahmen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren789. aa) BVerfGK 4, 333 Sowohl die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann als auch die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens sind Wohnungseigentümer einer aus drei Wohnungen bestehenden Wohnanlage mit zwei Gebäuden, denen jeweils Sondernutzungsrechte an gärtnerisch oder als Terrasse genutzten Grundstücksflächen vorgelagert sind. Die Antragsgegnerin begann mit den Fundamentarbeiten für den Bau eines unterkellerten Wintergartens, der von der Gebäudewand aus eine Tiefe von etwa fünf Metern in den Garten und eine Höhe von drei Metern aufweist, auf ihrer Sondernutzungsfläche, unmittelbar an der Grenze zur Sondernutzungsfläche der Beschwerdeführerin. Eine Baugenehmigung war ihr zuvor erteilt worden790. Nachdem das Amtsgericht dem Antrag auf Unterlassung der Bauarbeiten und Beseitigung der Fundamente stattgegeben hatte, hob das Landgericht diesen Beschluss auf und wies den Antrag zurück. Die Beschwerdeführerin werde nicht über das bei einem geordneten Zusammenleben unvermeidliche Maß im Sinne des § 14 Nr. 1 WEG791 hinaus beeinträchtigt, da keine nachteilige Veränderung des optischen Gesamteindrucks zu befürchten sei und der Wintergarten sich insgesamt einfüge. Zudem komme es auf die Wahrung der Abstandsflächen nach der bayerischen Bauordnung nicht an, weil § 22 Abs. 1 WEG792 nicht 789 Zum Schutz des Minderheitenaktionärs durch Art. 14 Abs. 1 GG siehe Rölike/ Tonner, in: Rensen/Brink, S. 199 ff. 790 BVerfGK 4, 333. 791 § 14 Nr. 1 WEG lautet: Jeder Wohnungseigentümer ist verpflichtet: 1. die im Sondereigentum stehenden Gebäudeteile so instand zu halten und von diesen sowie von dem gemeinschaftlichen Eigentum nur in solcher Weise Gebrauch zu machen, dass dadurch keinem der anderen Wohnungseigentümer über das bei einem geordneten Zusammenleben unvermeidliche Maß hinaus ein Nachteil erwächst. 792 § 22 Abs. 1 WEG lautet: Bauliche Veränderungen und Aufwendungen, die über die ordnungsmäßige Instandhaltung oder Instandsetzung des gemeinschaftlichen Eigentums hinausgehen, können beschlossen oder verlangt werden, wenn jeder Wohnungseigentümer zustimmt, dessen Rechte durch die Maßnahmen über das in § 14 Nr. 1 bestimmte Maß hinaus beeinträchtigt werden. Die Zustimmung ist nicht erforderlich, soweit die Rechte eines Wohnungseigentümers nicht in der in Satz 1 bezeichneten Weise beeinträchtigt werden.
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wirksam abbedungen worden sei. Als die Beschwerdeführerin vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht ebenfalls scheiterte, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Das danach [gemeint ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG] verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum, zu dem das dem einzelnen Rechtsträger durch das bürgerliche Recht zugeordnete Grundstückseigentum gehört (. . .), ist in seinem rechtlichen Gehalt durch Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet (. . .).“793 „Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (. . .) haben sich die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG innerhalb der Grenzen zu halten, die dem Gesetzgeber durch Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Eigentümerbefugnisse gezogen sind. Danach müssen Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Privateigentums sowie dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung gleichermaßen Rechnung tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Sie müssen vom geregelten Sachbereich her geboten sein und dürfen nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. Aufgabe der Gerichte ist es ferner, die im Gesetz auf verfassungsmäßiger Grundlage zum Ausdruck gekommene Interessenabwägung zu beachten und nachzuvollziehen (. . .).“794
Nach Auffassung der Kammer sei die Ausstrahlungswirkung von Art. 14 Abs. 1 GG bei der Auslegung des § 22 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 14 Nr. 1 WEG nicht beachtet worden. Wenn nachbarschützende baurechtliche Regelungen, so auch die Abstandsflächen, zwischen den Wohnungseigentümern keine Anwendung fänden, müsse der Schutz untereinander über eine Abwägung im Rahmen von § 22 Abs. 1 WEG stattfinden795. Die Schwelle der Beeinträchtigung nach § 22 Abs. 1 Satz 2 WEG sei niedrig anzusetzen. Beispielsweise sei die Anbringung von Außenspiegeln, Regenrinnen, Balkonverglasungen, Katzennetzen oder Markisen an der Fassade zustimmungspflichtig. Vor diesem Hintergrund liege eine erhebliche Umgestaltung vor. Eine abweichende Beurteilung stelle sehr hohe Anforderungen an die Tatsachenermittlung und Beweiswürdigung, denen das Landgericht aber nicht nachkomme796.
793 794 795 796
BVerfGE 98, 17, 35; ähnlich BVerfGE 52, 1, 30. BVerfGE 68, 361, 372 f. BVerfGK 4, 333, 337. BVerfGK 4, 333, 338.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG ist ein normgeprägtes Grundrecht, das der Ausgestaltung durch den einfachrechtlichen Gesetzgeber bedarf797. Die Tatsache der Normgeprägtheit an und für sich rechtfertigt nicht die Zugrundelegung anderer Bewertungskriterien im Hinblick auf die Senatsmaßstäbe798. Die Entscheidung müsste sich auf die verwendeten Senatsmaßstäbe stützen lassen. Die Senatsmaßstäbe stellen zum einen fest, dass sich das verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum, zu dem auch das Grundstückseigentum gehöre, durch Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers kennzeichne. Zum anderen geht es um die Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften im Sinne von Art. 14 Abs. 1 und 2 GG. Danach hätten sich die Gerichte innerhalb der Grenzen zu halten, die dem Gesetzgeber gezogen seien. Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse müssten der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Privateigentums sowie dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung gleichermaßen Rechnung tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Sie müssten vom geregelten Sachbereich her geboten sein und dürften nicht weitergehen, als der Schutzzweck reiche, dem die Regelung diene. Aufgabe der Gerichte sei es ferner, die im Gesetz auf verfassungsmäßiger Grundlage zum Ausdruck gekommene Interessenabwägung zu beachten und nachzuvollziehen. Beide Maßstäbe eignen sich nicht für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Es hilft bei der Beantwortung der durch den Fall aufgeworfenen Frage nicht weiter, wenn auf die Privatnützigkeit oder Verfügungsbefugnis des Eigentümers verwiesen wird, denn es fehlen die Zwischenschritte. Ebenso liegt der Fall beim zweiten Maßstab. Die Kammer greift zur Schließung der bestehenden Lücken auf die Rechtsprechung der Fachgerichte zurück, insbesondere die von ihr aufgezählten Beispiele zur Erläuterung der niedrigen Schwelle der Beeinträchtigung in § 22 Abs. 1 Satz 2 WEG. Die Maßstäbe sind strukturell betrachtet Prinzipien und müssen daher eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Die Aussage der Maßstäbe geht dahin, dass bei der Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften Art. 14 GG zu beachten sei. Dem Rechtsanwender wird damit nicht weitergeholfen oder eine Richtung aufgezeigt. Begriffe wie die Anerkennung des Privateigentums oder das Gebot einer sozialgerechten Ei797 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 29 ff.; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn. 25; Volkmann, StaatsR II, 5. Kap. § 17 Rn. 11; Kloepfer, VerfR, § 72 Rn. 16, spricht von einer besonders intensiven Prägung durch den Gesetzgeber. 798 Siehe die Ausführungen unter D. III. 2. c) bb) und D. VI. 2. a) bb).
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gentumsordnung machen es nicht besser. Die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist zwar eine konkretere Anweisung, doch fehlen Kriterien für die Abwägung und was in diese einzustellen ist. Vor diesem Hintergrund fällt es nicht mehr ins Gewicht, dass es sich um keine originär verfassungsrechtliche Fragestellung handelt und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war nicht bereits entschieden. cc) BVerfGK 5, 50 Die Beschwerdeführer, Eigentümer eines landwirtschaftlich genutzten Grundstücks, sind aufgrund einer Befugnis, die durch eine beschränkt persönliche Dienstbarkeit gesichert ist, gegenüber der Beklagten des Ausgangsverfahrens verpflichtet, deren Nutzung des Grundstücks zu dulden. Die Nutzung umfasst die Inanspruchnahme des Grundstücks zum Einlegen, Belassen und Betreiben einer Erdgasleitung sowie ihrem Zubehör in einem zehn Meter breiten Schutzstreifen. Hinzu kommt die Unterlassung aller Maßnahmen, die den Bestand und den Betrieb der Leitungen sowie ihres Zubehörs gefährden könnten799. Gegen den Willen der Beschwerdeführer wurden zwei Leerrohre zur Aufnahme von Lichtwellenleiterkabeln neben das sich schon in der Erde befindende Gasrohr gelegt. In diese Leerrohre wurden später vier Kabel für externe Kommunikationszwecke eingelassen und nach einiger Zeit weitere Schutzrohrbündel verlegt. Die Beschwerdeführer erhoben vor dem Landgericht Klage und begehrten die Beseitigung der zwei Schutzrohre, die Feststellung der Schadensersatzpflichtigkeit sowie die Zahlung eines Entgelts für die rechtswidrige Inanspruchnahme des Grundstücks, hilfsweise die Zahlung von 10.000 DM als Ausgleich für die erweiterte Benutzung zu Telekommunikationszwecken und ein Nutzungsentgelt von 480 DM monatlich800. Das Landgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass der Schutzstreifen schon bisher zu Telekommunikationszwecken genutzt worden sei, da im Jahr 1973 zwei Kupferkabel verlegt wurden, wovon eines der internen Sprachtelefonie diente. Das Oberlandesgericht bejahte eine Duldungspflicht der Beschwerdeführer nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG a. F.801 und gewährte lediglich einen Ausgleich in Höhe von 288 DM 799
BVerfGK 5, 50, 51. Ebd. 801 § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG a. F. lautete: (1) Der Eigentümer eines Grundstücks, das nicht ein Verkehrsweg im Sinne des § 50 Abs. 1 Satz 2 ist, kann die Errichtung, den Betrieb und die Erneuerung von Telekommunikationslinien auf seinem Grundstück insoweit nicht verbieten, als 1. auf dem Grundstück eine durch ein Recht gesicherte Leitung oder Anlage auch für die Errichtung, den Betrieb und die Erneuerung einer Telekommunikations800
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
gemäß § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG a. F.802. Für die Bemessung der Höhe der Ausgleichszahlung orientierte sich das Gericht an dem Entgelt, das nach den jeweiligen Marktverhältnissen für die Einräumung eines Leitungsrechts zu allgemeinen Telekommunikationszwecken zu zahlen sei. Grundlage war eine Vereinbarung des bayerischen Bauernverbands, die die Zahlung eines einmaligen Betrages von 3 DM pro laufenden Meter Kabeltrasse vorsah803. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG insoweit statt, als über den Ausgleichsanspruch nach § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG a. F. entschieden wurde. Sie berief sich dabei auf folgende Senatsmaßstäbe804: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (. . .). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.“805 „Die von Art. 14 Abs. 1 GG geforderte ‚volle‘ Entschädigung [bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen] darf jedenfalls nicht unter dem Verkehrswert liegen. Dieser kann bei börsenorientierten Unternehmen nicht ohne Rücksicht auf den Börsenkurs festgesetzt werden. Was unter ‚voller Entschädigung‘ zu verstehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht im Feldmühle-Urteil nicht näher definiert. Es steht aber fest, dass von Verfassungs wegen die grundrechtlich relevante Einbuße vollständig kompensiert werden muss. Auszugleichen ist, was dem Minderheitsaktionär an Eigentum im Sinn von Art. 14 Abs. 1 GG verloren geht.“806
Nach Auffassung der Kammer wurde bei der Auslegung von § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG a. F. der Maßstab des Art. 14 Abs. 1 GG verkannt. § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG a. F. komme eine Ausgleichfunktion für die Inhalts- und linie genutzt und hierdurch die Nutzbarkeit des Grundstücks nicht zusätzlich eingeschränkt wird oder 2. (. . .) 802 § 57 Abs. 2 Satz 2 TKG a. F. lautete: Für eine erweiterte Nutzung zu Zwecken der Telekommunikation kann darüber hinaus ein einmaliger Ausgleich in Geld verlangt werden, sofern bisher keine Leitungswege vorhanden waren, die zu Zwecken der Telekommunikation genutzt werden konnten. 803 BVerfGK 5, 50, 51 f. 804 Der Maßstab BVerfGE 24, 367, 421, bezieht sich auf die Enteignungsentschädigung und spielt hier keine Rolle, da es sich um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung handelt. 805 BVerfGE 18, 85, 92 f. 806 BVerfGE 100, 289, 305.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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Schrankenbestimmung des § 57 Abs. 1 Nr. 1 TKG a. F. zu807. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass der Schutzstreifen zuvor für betriebsinterne Sprachtelefonie genutzt worden sei. Die Heranziehung der Vereinbarung des Bauernverbands zur Bestimmung der Höhe des Ausgleichs komme nicht in Frage, da diese nur für die Nachverlegung von Kabeln i. S. d. § 57 TKG greife. Die grundrechtlich relevante Einbuße werde auf diese Weise nicht vollständig kompensiert. Vielmehr habe sich das marktübliche Entgelt am freien Markt zu orientieren808. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Das Ergebnis lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, wonach die von Art. 14 Abs. 1 GG geforderte volle Entschädigung bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen jedenfalls nicht unter dem Verkehrswert liegen darf, wobei die grundrechtlich relevante Einbuße vollständig kompensiert werden muss. Dieser Maßstab erlaubt eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Duldungspflicht der Beschwerdeführer nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 TGK a. F. stellt zunächst eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums am Grundstück dar. Diese ist ausgleichspflichtig nach § 57 Abs. 2 Satz 2 TGK a. F. Die grundrechtlich relevante Einbuße muss vollständig kompensiert werden, wobei die Entschädigung nicht unter dem Verkehrswert liegen darf. Im konkreten Einzelfall muss von der Kammer überprüft werden, ob die Entschädigung unter dem Verkehrswert liegt. Es sind keine Lücken zwischen dem Senatsmaßstab und dem zu entscheidenden Fall vorhanden. Der entscheidungstragende Maßstab ist ein Prinzip und muss eine Richtung für die Falllösung vorgeben. Dieses Kriterium wird erfüllt. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt oder es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassungs geht. Selbst wenn von einer originär verfassungsrechtlichen Frage ausgegangen würde und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit nicht geringer wären, erfüllt der verwendete Senatsmaßstab diese Kriterien. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden.
807 808
BVerfGK 5, 50, 54. BVerfGK 5, 50, 55.
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ee) BVerfGK 5, 217 Das Amtsgericht erließ im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wegen Betrugs gegen die Beschwerdeführerin folgenden „Beschluss“: „In der Ermittlungssache gegen T., . . ., wegen Betruges, zu Gunsten des Landes Nordrhein-Westfalen, vertreten durch den Leitenden Oberstaatsanwalt in Köln, gemäß den §§ 73 Abs. 1 Satz 2, 73a Abs. 1 StGB, 111b II, 111d, 111e Abs. 1, 162 StPO i. V. m. § 263 StGB zur Sicherung der den Verletzten aus der Straftat erwachsenen, zivilrechtlichen Ansprüchen, den dinglichen Arrest in Höhe von e 7758,69 in das Vermögen der Beschuldigten T. zu beantragen.“809
Die Beschwerdeführerin war Geschäftsführerin der T GmbH, die ihrerseits in drei Verfahren, bei denen es um die Zahlung von Maklerlohn bzw. Rückzahlung von Maklercourtage ging, Partei war. Die T GmbH obsiegte, weil die Beschwerdeführerin vortrug, zwischen ihr und T bzw. den von ihm geführten Unternehmen gebe es keine wirtschaftlichen Verknüpfungen. Die Beschwerdeführerin verschwieg aber, dass T ihr vormaliger Ehemann, einen Anteil von 26.000 DM des Stammkapitals von 50.000 DM an der T GmbH gehalten habe, bevor er diesen an seine damalige Ehefrau T übertrug. Diese übertrug ihrerseits den Anteil an die Beschwerdeführerin, die nun alle Anteile hielt und sie dem T zur Übernahme anbot. Darüber hinaus bestand zwischen T und der T GmbH ein Beratervertrag, aus dem T monatlich 2.500 DM erhielt. Schließlich schuldete die T GmbH dem T im Falle eines Konkurses oder Vergleichsverfahrens 30.000 DM810. In dem amtsgerichtlichen Beschluss, in dem eine Lösungssumme festgesetzt wurde, ging das Gericht davon aus, die Beschwerdeführerin sei verdächtig, durch Falschangaben für die T. GmbH günstige Urteile und einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft zu haben. Es könne davon ausgegangen werden, dass die erlangten Gelder nicht mehr individuell im Vermögen der T. GmbH oder der Beschwerdeführerin existierten, weshalb die Beschwerdeführerin nach § 73a StGB als Gesamtschuldnerin Wertersatz zu leisten habe811. Nachdem zwischenzeitlich Forderungspfändungen erfolgt waren, verwarf das Landgericht die Beschwerde. Der Geldvorteil sei an die Beschwerdeführerin als wirtschaftliche Mitinhaberin weitergegeben worden und sie sei die im Ergebnis Begünstigte812. Die zuständige Kammer nahm 809 810 811
BVerfGK 5, 217, 218. Ebd. Ebd.
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die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Der Vorbehalt richterlicher Entscheidung zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz. Richter können auf Grund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer ausschließlichen Bindung an das Gesetz die Rechte der Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren (. . .). Das gilt auch mit Blick auf die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Abwägung der sich bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis gegenüberstehenden Rechtspositionen. Die Abwägung hängt entscheidend von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Es ist die Aufgabe und Pflicht des Ermittlungsrichters, sich eigenverantwortlich ein Urteil zu bilden und nicht etwa die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Übermittlung der Verbindungsdaten nach einer nur pauschalen Überprüfung einfach gegenzuzeichnen. Zur richterlichen Einzelentscheidung gehören eine sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall. Schematisch vorgenommene Anordnungen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht. Die richterliche Anordnung des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis muss den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen sich der Eingriff halten muss (. . .).“813
Nach Auffassung der Kammer weist die Entscheidungsformel des Beschlusses auf eine grob unzureichende und der verfahrensmäßigen Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG nicht gerecht werdende richterliche Leistung hin. Es handele sich hier nicht um eine Entscheidung, sondern um einen Antrag814. Inhaltlich gesehen könne der Vermögenszuwachs seitens des Täters nicht einfach aus der Tatsache geschlossen werden, dass dieser als Beauftragter, Vertreter oder Organ einer juristischen Person gehandelt habe und der Vorteil in das Vermögen dieser juristischen Person geflossen sei. Zwischen beiden Vermögensmassen sei zu unterscheiden815. Die Norm des § 73 Abs. 1 und 3 StGB biete zudem keine Stütze für die pauschale Annahme eines Vermögensvorteils beim Organ der durch die Tat begünstigten Gesellschaft oder einer gesamtschuldnerischen Haftung. Es bedürfe zur Begründung einer Verfallsanordnung oder Sicherungsmaßnahme vielmehr einer über die faktische Verfügungsgewalt hinausgehende Feststellung, ob der als Organ handelnde Täter selbst etwas erlangte, was seine Vermögensbilanz geändert habe816. 812
BVerfGK 5, 217, 218 f. BVerfGE 107, 299, 325; in BVerfGE 15, 275, 282; 84, 34, 49; 101, 106, 123, geht es um die nicht bestehende Bindung der Gerichte an die tatsächlichen Feststellungen der Verwaltungsbehörden im Verwaltungsverfahren. 814 BVerfGK 5, 217, 221. 815 Ebd. 816 BVerfGK 5, 217, 221 f. 813
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ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung tragen. Die Kammer bemängelte in ihrem Beschluss zum einen die fehlerhafte Entscheidungsformel des Amtsgerichts und zum anderen die fehlende Trennung zwischen den Vermögensmassen der juristischen Person und ihrem Beauftragten, Vertreter oder Organ. Der Kammerbeschluss stützt sich somit auf einen formalen und einen materiellen Grund, wobei beide unabhängig voneinander die Entscheidung insgesamt tragen können. Die Kammer verwendet einen Senatsmaßstab, dessen inhaltliche Aussagen sich auf das Fernmeldegeheimnis beziehen. In dem hier von der Kammer zu entscheidenden Fall geht es hingegen um eine mögliche Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG. Mit anderen Worten versucht die Kammer mit Maßstäben zu Art. 10 Abs. 1 GG einen Fall zu Art. 14 Abs. 1 GG zu lösen. Die Übertragung von Maßstäben von einem Grundrecht auf ein anderes ist Aufgabe der Senate. Der Maßstab kann daher für die Entscheidung nicht herangezogen werden, unabhängig von seinem Inhalt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. Es ergibt sich jedoch eine andere Bewertung, wenn man den Maßstab trotzdem heranzieht. Er enthält zum einen Aussagen zum Vorbehalt der richterlichen Entscheidung im Hinblick auf eine vorbeugende Kontrolle durch eine neutrale Instanz. Zum anderen geht es um die Abwägung zwischen dem Fernmeldegeheimnis und den gegenüberstehenden Rechtspositionen bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis. Der Richter habe sich bei Anträgen der Staatsanwaltschaft ein eigenes Urteil zu bilden und nicht pauschal zu prüfen bzw. gegenzuzeichnen. Wendet man die Mahrenholzsche Formel an, lässt sich zumindest der die Entscheidung tragende formale Grund ohne weitere Zwischenschritte unter den Senatsmaßstab subsumieren. Die Kammer geht davon aus, dass die fehlerhafte Entscheidungsformel auf keine eigenständige Prüfung des Gerichts schließen lässt und daher Art. 14 Abs. 1 GG verletzt ist817. Nichts anderes ergibt sich aus dem Senatsmaßstab. Strukturell betrachtet, handelt es sich um ein Prinzip. Es wird eine Richtung für die Falllösung vorgegeben, denn eine pauschale Prüfung oder Gegenzeichnung kommt nicht in Frage. Die Art und Weise der richterlichen Prüfung ist als Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung einzuordnen mit der Konsequenz, dass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind. Diesem Erfordernis wird der Maßstab gerecht. Bei Anwendung der Formel von Mahrenholz lässt sich der von der Kammer angeführte materielle Grund nicht ohne abstrakte Zwischenschritte aus 817
BVerfGK 5, 217, 221.
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dem Senatsmaßstab ableiten. Nicht ohne Grund greift die Kammer auf Maßstäbe anderer Kammerentscheidungen zurückgreift, um die Lücke zwischen dem Senatsmaßstab und dem konkret zu entscheidenden Sachverhalt zu schließen. Die Feststellung, nach der die pauschale Annahme eines Vermögensvorteils, auch beim Organ der durch die Tat begünstigten Gesellschaft oder einer gesamtschuldnerischen Haftung in Bezug auf eine Verfallsanordnung, in § 73 Abs. 1 und 3 StGB keine Stütze finde und eine so begründete Arrestanordnung gegen Art. 14 Abs. 1 GG verstoße, stammt aus einem Kammerbeschluss818. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei dem Maßstab strukturell gesehen um ein Prinzip handelt, vermag er keine Richtung für die Lösung des Falles aufzuzeigen. Die eingangs aufgeworfene Rechtsfrage, die sich mit der Anordnung des dinglichen Arrests beschäftigt, vermag das Prinzip nicht zu beantworten. Trotz niedrigerer Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit, weil es sich um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung handelt, ist der Senatsmaßstab nicht geeignet, den materiellen Grund inhaltlich zu tragen. Zum Schluss bleibt noch die Frage offen, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden war. Der verwendete Senatsmaßstab trägt zumindest den formalen Grund. Nach Sinn und Zweck des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist es Aufgabe der Kammern, die Verfassungsbeschwerden nach den Vorgaben der Senate zu entscheiden. Es handelt sich nur um einen Vollzug der Senatsrechtsprechung im konkreten Einzelfall. Dem widerspricht es, wenn die Kammern die Rechtsprechung der Senate zu einem Grundrecht auf ein anderes übertragen. Das ist kein Nachvollzug. Somit bleibt es bei dem zunächst angenommenen Ergebnis. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. gg) Bewertende Zusammenfassung Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind nur teilweise geeignet, eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel zuzulassen. Zwar bilden die Maßstäbe, die sich mit ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen befassen, eine Ausnahme, dennoch bleibt der Gesamteindruck bestehen. Hierfür existieren mehrere Gründe. Zum einen befassen sich die Maßstäbe mit dem Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts. Da er jedoch bei allen Grundrechten verwendet wird und auch inhaltlich einige Untiefen enthält, bietet er keine Hilfe für die Entscheidung der Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit 818
BVerfGK 5, 217, 221 f., verweist auf ihn.
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Art. 14 Abs. 1 GG. Zum anderen ist der Maßstab, der sich mit den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 und 2 GG an die Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften befasst, inhaltlich zu abstrakt formuliert, um eine direkte Subsumtion zuzulassen. Schließlich ist in diesem Bereich, wie schon im Bereich von Art. 12 Abs. 1 GG festgestellt819, eine sehr starke einfachrechtliche Reglementierung zu beobachten. Die Kammern müssen sich demzufolge vertiefter mit einfachrechtlichen Fragen befassen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass die Senatsmaßstäbe, die abstrakter gehalten sind, die Entscheidung nicht ohne Zwischenschritte tragen können. Ein ähnlich ambivalentes Ergebnis stellt sich ein, wenn man untersucht, ob die Senatsmaßstäbe als Prinzipien geeignet sind, eine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorzugeben. c) Die Grundrechte der Beamten Die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse der Kammern in diesem Bereich beschäftigen sich fast ausschließlich mit beamten- oder richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren. Grundlage ist Art. 33 Abs. 2 GG, der allen Deutschen gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gewährt. Art. 33 Abs. 2 GG normiert das sogenannte Leistungsprinzip für den öffentlichen Dienst820. Anknüpfungspunkte der Rügen sind etwa die Verletzung des Leistungsprinzips durch zu häufige Vergabe der Bestnote und anschließende Auswahl des Bewerbers für eine Beförderungsstelle nach dem Dienstalter821, die Vergabe einer Beförderungsstelle im Rahmen von Bleibeverhandlungen822, der Vergleich von Beurteilungen zweier Bewerber mit unterschiedlichen Statusämtern823, die Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Konkurrentenstreit824 oder die Festlegung des Anforderungsprofils bei der Vergabe eines Beförderungsdienstpostens825. Die aufgezählten Beispiele machen deutlich, mit welchem Einfallsreichtum die Dienstherren agieren, um ihre Wunschkandidaten durchzusetzen, auch unter Missachtung des Leistungsprinzips. Es existiert zudem ein Beschluss, der sich mit einem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG be819
Siehe die Ausführungen unter D. VII. 2. a) ii). Siehe ausführlich zum Leistungsprinzip, insbesondere zur historischen Entwicklung, zum Zweck, zum normativen Gehalt und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Schumacher, in: Rensen/Brink, S. 227, 230 ff. 821 BVerfGK 1, 292. 822 BVerfGK 9, 1. 823 BVerfGK 10, 474. 824 BVerfGK 11, 398. 825 BVerfGK 12, 265. 820
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fasst, nämlich der Fürsorgepflicht des Dienstherrn826. Dieser Beschluss und eine Entscheidung zum beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit – exemplarisch für alle anderen Beschlüsse zu dieser Thematik – werden im Folgenden näher untersucht. aa) BVerfGK 1, 292 Der Beschwerdeführer, ein Regierungsamtsrat der Besoldungsgruppe A 12 BBesO im Dienst des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, unterlag mit seiner Bewerbung auf eine Beförderungsstelle in seinem Ministerium. Das Verwaltungsgericht entsprach seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, weil alle 21 Bewerber um die Stelle – unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung – mit der Höchstnote beurteilt worden waren und es somit an der erforderlichen Grundlage für die Bestenauslese fehle. Es verstoße gegen den Leistungsgrundsatz, wenn die Stelle allein nach dem Beförderungsdienstalter vergeben werde827. Nachdem das Oberverwaltungsgericht der Beschwerde des Ministeriums entsprochen und den Antrag des Beschwerdeführers abgelehnt hatte, gab die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss statt. Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erneut ab, da eine Verletzung des Leistungsgrundsatzes nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die dienstliche Beurteilung aller Bewerber mit derselben Note lasse nicht den Schluss auf die Rechtswidrigkeit aller Beurteilungen zu. Ferner strebe das Ministerium eine Änderung seiner Beurteilungspraxis an828. Die 1. Kammer des Zweiten Senats nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 i. V. m. Art. 33 Abs. 2 GG statt. Sie nahm folgende Senatsmaßstäbe in Bezug: „Zu der Rüge schließlich, die §§ 11–18 G 131 verletzen den Art. 33 Abs. 2 GG (. . .), ist die Beschwerdeführerin aus § 91 BVerfGG nicht befugt; denn Art. 33 Abs. 2 GG gibt nur dem Einzelnen ein Recht gegen den Staat, berührt aber das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden nicht.“829 „Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle.“830 826 827 828 829 830
BVerfGK 5, 250. BVerfGK 1, 292, 293. Ebd. BVerfGE 1, 167, 184. BVerfGE 35, 263, 274.
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„Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.“831 „Er [der Richter] muss das Verfahrensrecht in einer Weise auslegen und anwenden, die dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Rechnung trägt.“832 „Die Verwaltungsgerichte haben die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hier davon abhängig gemacht, dass der Beschwerdeführer das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes glaubhaft macht. Dies entspricht einer verwaltungsgerichtlichen Praxis, die verfassungsrechtlich unbedenklich ist.“833
Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs zu Lasten des Beschwerdeführers überspannt worden seien. Nach der ständigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sei die dienstliche Beurteilung vorrangige Grundlage für die Entscheidung über das dienstliche Fortkommen des Beamten, da sie zuverlässige Aussagen über Eignung, Befähigung und fachliche Leistung enthalte. Es werde der im Beförderungsauswahlverfahren bestehende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung aus Art. 33 Abs. 2 GG verletzt, wenn die Beurteilungspraxis ohne sachlichen Grund nicht hinreichend zwischen den zu Beurteilenden differenziere834. Es deute auf eine mit Art. 33 Abs. 2 GG unvereinbare Beurteilungspraxis hin, wenn eine große Anzahl der Beförderungsbewerber mit der Bestnote beurteilt worden sei. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs würden überspannt, wenn der Beschwerdeführer noch zusätzlich weitere Gesichtspunkte vortragen müsste. Nur der Dienstherr selbst habe Informationen über das Zustandekommen der Beurteilungen835. Differenzierungen auf der höheren Ebene der Behördenhierarchie seien nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Bediensteten bereits nach dem Prinzip der Bestenauslese angestellt worden seien836.
831 832 833 834 835 836
BVerfGE 79, 69, 75. BVerfGE 97, 298, 315. BVerfGE 79, 69, 74. BVerfGK 1, 292, 296 f. BVerfGK 1, 292, 297 f. BVerfGK 1, 292, 298.
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bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung stützen. Der Beschluss wird im Wesentlichen von zwei Gründen getragen: Zum einen die überspannten Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs, zum anderen die Verletzung des Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (Bewerbungsverfahrensanspruch). Beide Gründe müssen sich jedoch auf Senatsmaßstäbe zurückführen lassen können. Der erste Grund lässt sich möglicherweise kumulativ auf zwei Maßstäbe stützen: Art. 19 Abs. 4 GG gewähre nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger habe einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Ferner sei es verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Verwaltungsgerichte die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes abhängig machten. Es kann jedoch dahinstehen, ob diese Senatsmaßstäbe den ersten Grund tragen, wenn es keine Basis für den zweiten gibt. Beide Gründe können den Beschluss nur kumulativ tragen. Denn der formale Aspekt der überspannten Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs lässt sich nicht isoliert von dem materiellen Aspekt, der Verletzung des Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, betrachten. Der formelle Aspekt betrifft die Frage der Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG und der materielle die Verletzung von Art. 33 Abs. 2 GG. Mit anderen Worten ist Art. 19 Abs. 4 GG die Hülse und Art. 33 Abs. 2 GG der Inhalt. Der von der Kammer verwendete Senatsmaßstab, nach dem Art. 33 Abs. 2 GG dem Einzelnen ein Recht gegen den Staat einräume, ist nach der Mahrenholzschen Formel für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte ungeeignet. Jedenfalls lässt sich aus ihm nicht ohne Zwischenschritte ableiten, dass der Bewerber gegenüber der Einstellungsbehörde einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat. Dieses Ergebnis wird zusätzlich durch die Argumentation der Kammer selbst untermauert. Sie verweist im Rahmen ihrer Maßstäbe auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, um ihre eigene Entscheidung zu stützen. So insbesondere zur Herleitung des Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bzw. seiner Sicherung837 und zur Bedeutung der dienstlichen Beurteilungen für das Fortkommen der Beamten838. Somit trägt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Subsumtion der Kammer sowie den Kammerbeschluss selbst. Von der Struktur her betrachtet, entspricht der Senatsmaßstab zwar einem Prinzip, doch lässt sich aus ihm keine Richtung für 837 838
BVerfGK 1, 292, 295. BVerfGK 1, 292, 296 f.
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die Lösung des Falles ableiten. Schließlich handelt es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage. Denn der Zugang jedes Deutschen zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung sowie fachlicher Leistung wird in Art. 33 Abs. 2 GG explizit geregelt. Die Beamtengesetze des Bundes und einiger Länder verwenden diese Begriffe ebenfalls wörtlich839. Bei originär verfassungsrechtlichen Fragen sind die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit von Senatsmaßstäben höher. Diesen gesteigerten Anforderungen kann der verwendete Maßstab erst recht nicht genügen. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG war noch nicht entschieden. cc) BVerfGK 5, 250 Der Beschwerdeführer, Regierungsdirektor im Justizdienst des Landes Rheinland-Pfalz, war stellvertretender Leiter der Justizvollzugsanstalt D und wurde durch Verfügung des zuständigen Ministeriums bis auf weiteres in die Justizvollzugsanstalt W abgeordnet. Nachdem der Widerspruch zurückgewiesen wurde, ordnete das Verwaltungsgericht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an840. Aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers, die mittels einer fachärztlichen Bescheinigung und eines Attests nachgewiesen wurden, sei die Entscheidung fehlerhaft. Insbesondere ergebe sich aus dem Attest, dass bereits die Ankündigung der Abordnung zu einer starken Zuspitzung der Symptomatik geführt habe und beim Vollzug der Abordnung prognostisch mit einer nachhaltigen gesundheitlichen Verschlechterung zu rechnen sei. Das Oberverwaltungsgericht hob den verwaltungsgerichtlichen Beschluss auf und lehnte den Antrag ab. Auch eine etwaige psychische Erkrankung des Beschwerdeführers könne den gesetzlichen Wertungsvorrang zu Gunsten des Sofortvollzugs der Abordnung nicht umkehren. Auf der Leitungsebene einer Justizvollzugsanstalt sei eine reibungslose und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwingend erforderlich841. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 33 Abs. 5 GG statt. Sie verwendete dabei folgende Senatsmaßstäbe: „Zu den hergebrachten und nicht nur zu berücksichtigenden, sondern zu beachtenden Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) gehört hier der 839 Etwa § 9 Satz 1 BBG, § 10 LBG Rheinland-Pfalz, § 8 Abs. 1 Hessisches Beamtengesetz, § 11 Abs. 1 LBG Baden-Württemberg, § 8 Abs. 1 Niedersächsisches Beamtengesetz. 840 BVerfGK 5, 250, 251. 841 Ebd.
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Grundsatz der Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber dem Beamten. Das ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt (. . .).“842 „Der Grundsatz der Fürsorgepflicht verpflichtet den Dienstherrn, den Beamten gegen unberechtigte Anwürfe in Schutz zu nehmen, ihn entsprechend seiner Eignung und Leistung zu fördern, bei seinen Entscheidungen die wohlverstandenen Interessen des Beamten in gebührender Weise zu berücksichtigen. Was danach der Dienstherr dem Beamten schuldet, lässt sich nur im Einzelfall genauer konkretisieren.“843
Nach Auffassung der Kammer verkenne das Oberverwaltungsgericht die sich aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebende Berücksichtigungspflicht, wenn es die Meinung vertrete, dass selbst eine etwaige psychische Erkrankung den gesetzlichen Wertungsvorrang zu Gunsten des Sofortvollzugs der Abordnung nicht umkehre. Es fehle an einer Abwägung zwischen den Belangen des Beamten und den dienstlichen Bedürfnissen844. An dieser Bewertung änderten auch die derzeitigen Aufgaben des Beschwerdeführers nichts. Der Dienstherr habe eine besondere Dringlichkeit der Abordnung nicht gesehen, da zwischen Erhalt und Wirksamwerden der Abordnung fünfeinhalb Monate liegen. Zwar könne möglicherweise die Entfernung des Beschwerdeführers aus seinem konkret funktionalen Amt gerechtfertigt werden, über die Zumutbarkeit der Abordnung in die andere Justizvollzugsanstalt sei damit noch keine Aussage getroffen845. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Entscheidung der Kammer lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, nach dem der Grundsatz der Fürsorgepflicht den Dienstherrn anhalte, den Beamten gegen unberechtigte Anwürfe in Schutz zu nehmen, ihn entsprechend seiner Eignung und Leistung zu fördern, bei seinen Entscheidungen die wohlverstandenen Interessen des Beamten in gebührender Weise zu berücksichtigen. Was danach der Dienstherr dem Beamten schulde, lasse sich nur im Einzelfall genauer konkretisieren. Dieser Maßstab eignet sich für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Bei Entscheidungen des Dienstherrn sind die Interessen des Beamten zu berücksichtigen, also auch gesundheitliche Beeinträchtigungen bei Versetzungen. Der Verweis der Kammer auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dient an dieser Stelle nicht der Lückenfüllung zwischen dem Senatsmaßstab und der konkreten 842 843 844 845
BVerfGE 43, 154, 165. BVerfGE 43, 154, 165 f. BVerfGK 5, 250, 253. Ebd.
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Entscheidung846. Strukturell betrachtet, handelt es sich bei dem verwendeten Maßstab um ein Prinzip, das eine Richtung für die Falllösung vorgeben muss. Diese Voraussetzung wird erfüllt. Die Interessen des Beamten sind bei jeder Entscheidung zu berücksichtigen. Ob es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt oder um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, kann an dieser Stelle offen bleiben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine originär verfassungsrechtliche Frage vorliegt und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit höher sind, erfüllt der Senatsmaßstab dieses Kriterium. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit bereits entschieden. ee) Bewertende Zusammenfassung Insgesamt sind die verwendeten Senatsmaßstäbe überwiegend nicht geeignet, die Kammerbeschlüsse im Rahmen der Konkurrentenstreitverfahren inhaltlich zu tragen. Im Gegensatz dazu sind die Maßstäbe, die sich mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn beschäftigen, inhaltlich konkret genug, um eine Entscheidung tragen zu können. Hervorgehoben sei der Maßstab, der einzelne Aspekte der Fürsorgepflicht aufzählt. Jedoch setzt sich die beschriebene Tendenz hinsichtlich der Konkurrentenstreitverfahren bei den Senatsmaßtäben zu Art. 33 Abs. 2 GG fort. Aufgrund der fehlenden oder unvollständigen Maßstäbe in diesem Bereich greifen die Kammern vielfach auf Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen oder die fachgerichtliche Rechtsprechung zurück, um die Lücke zu schließen. Diese Feststellungen werden durch die nachfolgenden Beschlüsse gestützt. Die Kammer gab einer Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG statt, weil im Rahmen eines richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahrens dem ausgewählten Bewerber nach Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtschutzes die Ernennungsurkunde überreicht wurde, obwohl der Beschwerdeführer bereits Verfassungsbeschwerde erhoben hatte. Der gerichtliche Rechtsschutz des Beschwerdeführers werde unzumutbar erschwert, wenn der Dienstherr die Gründe für die Auswahlentscheidung erstmals im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren darlege847. Der Kammerbeschluss wird von diesen zwei Gründen getragen. Im Hinblick auf die zu schnelle Überreichung der Ernennungsurkunde geht die Kammer von sich aus der Verfahrensabhängigkeit des Anspruchs des Beförderungsbewerbers aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren aus, 846 847
BVerfGK 5, 250, 253. BVerfGK 11, 398, 402.
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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damit der gerichtliche Rechtsschutz nicht vereitelt oder unzumutbar erschwert werde und verweist auf die Senatsrechtsprechung848. Zwar geht der Senat in der in Bezug genommenen Entscheidung von den beschriebenen Vorwirkungen aus, führt sie jedoch auf Art. 19 Abs. 4 GG zurück849. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist bei diesem Maßstab nicht möglich. Es bleibt unklar, wie das vorgelagerte Verwaltungsverfahren ausgestaltet werden muss, damit der Rechtsschutz nicht vereitelt oder unzumutbar erschwert wird. Die Lücke zwischen dem Senatsmaßstab und der konkreten Entscheidung wird vielmehr durch Maßstäbe aus anderen Kammerbeschlüssen gefüllt. Der Maßstab, nach dem der Dienstherr verpflichtet ist, den unterlegenen Bewerber rechtzeitig von der geplanten Ernennung des Mitbewerbers zu unterrichten, stammt aus einem Kammerbeschluss850. Ebenso der Maßstab, nach dem die umgehende Ernennung des Mitbewerbers eine verfassungsgerichtliche Eilentscheidung verhindert851. Zumindest diese Erwägung der Kammer lässt sich nicht auf Senatsmaßstäbe zurückführen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei diesem Maßstab um ein Prinzip handelt, vermag er keine Richtung für die Falllösung vorzugeben. Hinzu kommt, dass es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage handelt und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit erhöht waren. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit noch nicht entschieden. Einer weiteren Verfassungsbeschwerde gab die Kammer wegen Verletzung der Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG statt, weil die Beschwerdeführerin, eine Leitende Regierungsdirektorin beim Bundesnachrichtendienst (Besoldungsgruppe A 16), bei der Besetzung des Dienstprostens eines Unterabteilungsleiters (Besoldungsgruppe B 3) gegenüber einem Soldaten unterlag und das erstinstanzlich zuständige Bundesverwaltungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen hatte. Das Gericht verkenne die Ausstrahlungswirkung von Art. 33 Abs. 2 GG, wenn es davon ausgehe, dass der von der Beschwerdeführerin gerügte Verstoß gegen Art. 87a Abs. 2 GG sie nicht in eigenen Rechten verletzte852. Die Kammer verweist im Rahmen ihrer rechtlichen Ausführungen zu der relevanten Grundrechtsverletzung auf keinen Senatsmaßstab, sondern bezieht sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie auf andere Kammerbeschlüsse853. Eine solche Vorgehensweise genügt nicht den Anforderungen von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. 848 849 850 851 852
BVerfGK 11, 398, 402. BVerfGE 61, 82, 110. BVerfGK 12, 398, 402. Ebd. BVerfGK 12, 265, 268.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
In einem weiteren Fall ging die zuständige Kammer von einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG aus, weil die Stellenvergabe einer C3-Professur im Rahmen von Bleibeverhandlungen erfolgte. Die Kammer verwies in diesem Zusammenhang auf die Senatsrechtsprechung zum hergebrachten Grundsatz des Hochschullehrerbeamtenrechts, wonach die Rechtsstellung der Professoren durch Sonderzusagen in Form von Berufungsvereinbarungen bestimmt werde854. Abgesehen davon, dass der Senat in der in Bezug genommenen Entscheidung offen lässt, ob es einen derartigen Grundsatz überhaupt gibt, geht es inhaltlich um Besoldungsund Ausstattungsfragen, nicht jedoch um die Vergabe eines höherwertigen Amtes855. Nach Auffassung der Kammer setzt der verwaltungsgerichtliche Eilrechtsschutz zur Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs voraus, dass eine Auswahl zumindest als möglich erscheine und verweist auf BVerfGK 1, 292856. Zum einen handelt es sich nicht um einen Senatsmaßstab, zum anderen lässt sich BVerfGK 1, 292, seinerseits nicht auf Senatsmaßstäbe zurückführen857. Im Rahmen eines richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahrens ging die Kammer von einer Verletzung von Art. 33 Abs. 2 GG aus, weil dem Vizepräsidenten des Thüringer Oberlandesgerichts (Besoldungsgruppe R 4) gegenüber dem Vizepräsidenten des Thüringer Landesarbeitsgerichts (Besoldungsgruppe R 3 mit Zulage) bei der Besetzung der Präsidentenstelle des Landesarbeitsgerichts der Vorzug gegeben wurde858. Hintergrund war, dass dem vorgezogenen Bewerber, wegen seines höheren Statusamtes, im Bereich der Rechtsprechung ein Leistungs- und Eignungsvorsprung zukomme, obwohl beide gleich beurteilt worden waren. Die Kammer sah hier eine zu schematische Anwendung des Grundsatzes nach dem, bei formal gleicher Bewertung, die Bewertung des höheren Statusamtes besser sei859. Sie nahm auf die Senatsrechtsprechung Bezug, wonach die Prüfung von Ablehnungsbescheiden auf die Willkürkontrolle beschränkt bleibe, weil es im Beamtenrecht keinen Anspruch auf Übernahme in das Beamtenverhältnis gebe und durch eine Aufhebung die Verwaltung allenfalls genötigt werde, erneut zu entscheiden860. Des Weiteren wird auf den Senatsmaßstab verwiesen, nach 853
BVerfGK 12, 265, 268 ff. BVerfGK 9, 1, 5. 855 BVerfGE 43, 242, 277 f. 856 BVerfGK 9, 1, 6; hinter dem Verweis auf BVerfG, DÖD 2003, S. 17, 18, verbirgt sich BVerfGK 1, 292. 857 Siehe die Ausführungen unter D. VII. 2. c) bb). 858 Die Kammer nahm zusätzlich noch eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG an, die an dieser Stelle vernachlässigt werden kann. 859 BVerfGK 10, 474, 478. 860 BVerfGK 10, 474, 477. 854
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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dem der Beamte durch die Verleihung eines höheren Amtes aus der Gruppe derjenigen herausgehoben wird, die vorher mit ihm das geringer eingestufte Amt innehatten. Zudem seien mit dem höheren Amt gesteigerte Anforderungen und mehr Verantwortung verbunden861. Die zu schematische Anwendung des oben genannten Grundsatzes war hier entscheidungstragend. Dieser Grundsatz stammt aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung862. Nach Auffassung der Kammer sei diese Rechtsprechung grundsätzlich mit den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar. Ein Verweis auf entsprechende Senatsrechtsprechung findet sich nicht. Vielmehr wird auf den letzten der beiden genannten Maßstäbe verwiesen, der sich dazu in keiner Weise verhält863. Das gefundene Ergebnis lässt sich nicht auf die von der Kammer verwendeten Senatsmaßstäbe zurückführen. Weder nach der Formel von Mahrenholz noch nach der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien. Weiterhin ist festzustellen, dass zum Rechtsweg im Rahmen von Konkurrentenstreitverfahren864 faktisch auch die Verfassungsbeschwerde sowie der verfassungsgerichtliche Eilrechtsschutz zählen865. Der unterlegene Bewerber kann seine Rechte in der Regel nur im einstweiligen Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten wahren, da wegen dem Grundsatz der Ämterstabilität eine Ernennung nicht rückgängig gemacht werden kann. Scheitert er vor dem Verwaltungsgericht, bleibt ihm noch die Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht. Eine Befassung des Bundesverwaltungsgerichts kommt im einstweiligen Rechtsschutz nicht in Frage866. Letzte Möglichkeit ist die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde. Vereitelt der Dienstherr den Rechtsschutz des unterlegenen Bewerbers, insbesondere den verfassungsgerichtlichen, kann dieser seinen Bewerbungsverfahrensanspruch trotz einer vollzogenen Ernennung des Konkurrenten weiterverfolgen, wie die Kammer861
BVerfGK 10, 474, 478. Siehe die Nachweise in BVerfGK 10, 474, 478. 863 BVerfGK 10, 474, 478. 864 Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten im Rahmen von beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren, insbesondere zur Konkurrentenklage, siehe etwa ausführlich Laubinger, ZBR, 2010, 289 ff., und 332 ff.; Munding, DVBl. 2011, 1512 ff.; Schenke, in: Festschrift für Schnapp, 655 ff.; Schnellenbach, Beamtenrecht, § 3 Rn. 44 ff., und Rn. 77 ff.; Wichmann, in: Wind/Schimana/Wichmann/Langer, Rn. 313 ff.; Wittkowski, NJW 1993, 817 ff. 865 Siehe hierzu Hufen, StaatsR II, § 36 Rn. 14; Munding, DVBl. 2011, 1512, 1519. Laubinger, ZBR, 2010, 289, 302, stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Verfassungsbeschwerde mehr und mehr vom außerordentlichen Rechtsbehelf zum ordentlichen Rechtsmittel mutiere. 866 Laubinger, ZBR, 2010, 289, 299 und 340, hält dies für keinen wünschenswerten Zustand. Er tritt im Rahmen von beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren für eine Verlagerung des Rechtsschutzes auf die Auswahlentscheidung und somit den Weg über das Hauptsacheverfahren ein, um dem Bundesverwaltungsgericht den Platz einzuräumen, der ihm gebühre und den das Bundesverfassungsgericht usurpiert habe. 862
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
rechtsprechung zeigt. Als nach Abschluss des Eilverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht der übergangene Bewerber unterlag, erfolgte in mehreren Fällen sehr zeitnah die Übergabe der Ernennungsurkunde an den Konkurrenten, obwohl Verfassungsbeschwerde erhoben867 bzw. angekündigt868 worden war. In den Fällen, in denen die Beschwerdeführer bereits Verfassungsbeschwerde erhoben hatten, als die Ernennung erfolgte, führte die Kammer aus, dass dem unterlegenen Bewerber faktisch die Möglichkeit genommen wurde, die Besetzung durch eine verfassungsgerichtliche Eilentscheidung zu verhindern. Daher folge aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 33 Abs. 2 GG die Möglichkeit des Beschwerdeführers, den Bewerbungsverfahrensanspruch im Wege der Verfassungsbeschwerde weiterzuverfolgen869. In dem Fall, in dem der Bewerber Verfassungsbeschwerde für den Fall angekündigt hatte, das er im fachgerichtlichen Eilverfahren unterliegen würde und die Ernennung dennoch unmittelbar danach erfolgte, verwies die Kammer zwar auf die einschlägigen Kammerentscheidungen, nahm die Verfassungsbeschwerde aber nicht zur Entscheidung an870. Sie habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, da ihr der Grundsatz der Subsidiarität entgegenstehe. Aufgrund der unmittelbaren Ernennung sei der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt und könne seine Rechte im Rahmen der Hauptsacheklage vor den Verwaltungsgerichten weiterverfolgen. Mit diesem Schachzug spielte die Kammer den Ball zurück ins Feld der Fachgerichtsbarkeit, um „zunächst den Verwaltungsgerichten die Möglichkeit zu geben, effektiven Rechtsschutz zu gewähren und die Folgen des Verfassungsverstoßes in die Systematik des Verwaltungsprozessrechts und des Beamtenrechts einzufügen“871. Da es sich um einen Nichtannahmebeschluss und damit um keine Sachentscheidung handelte, entfaltete die Entscheidung keine Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG. Sowohl das Verwaltungsgericht Koblenz als auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz wiesen die Klage ab872. Der Kläger hatte im Wesentlichen beantragt, die Ernennung des Mitbewerbers aufzuheben und ihn zu ernennen, hilfsweise die Rechtswidrigkeit der Ernennung festzustellen, weiter hilfsweise seine Rechtsverletzung 867
BVerfGK 5, 205; 11, 398. BVerfGK 12, 206. 869 BVerfGK 5, 205, 210 f.; ebenso BVerfGK 11, 398, 402. 870 Es ging um die Besetzung der Stelle des Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz. Der Beschwerdeführer unterlag im einstweiligen Rechtsschutz sowohl vor dem Verwaltungsgericht Koblenz (VG Koblenz, 25. April 2007, Az: 6 L 258/07.KO, Beschluss) als auch vor dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (NVwZ 2008, 99 ff.). 871 BVerfGK 12, 206, 209. 872 VG Koblenz, 01. Juli 2008, Az: 6 K 1816/07.KO, Urteil; das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ist abgedruckt in DVBl. 2009, 659 ff. 868
VII. Die Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung
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durch Aushändigung der Ernennungsurkunde festzustellen. Während das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers, die Ernennung aufzuheben und ihn zu ernennen, für zulässig, aber unbegründet hielt, stufte das Oberverwaltungsgericht, im Rahmen der zulässigen Berufung, sämtliche Klageanträge als unzulässig ein873. Erst das Bundesverwaltungsgericht hob die Ernennung auf und verpflichtete das Land Rheinland-Pfalz unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats, erneut zu entscheiden874. Ein Paukenschlag, wie Schenke zutreffend festgestellt hat875 und sicherlich keine Sternstunde für die rheinland-pfälzische Verwaltungsgerichtsbarkeit, um es vorsichtig auszudrücken. Nach der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts bleibt der Grundsatz der Ämterstabilität grundsätzlich gewahrt. Eine Anfechtung der Ernennung sei nicht geboten, wenn der unterlegene Bewerber zuvor die Möglichkeit hatte, seine Rechtsschutzmöglichkeiten zur gerichtlichen Nachprüfung der Auswahlentscheidung auszuschöpfen876. Der Dienstherr müsse die gerichtliche Nachprüfung ermöglichen, indem er dem unterlegenen Bewerber seine Entscheidung mitteile und mit der Ernennung eine angemessene Zeit warte. Nehme der Bewerber die Gerichte in Anspruch, müsse der Dienstherr bis zum Abschluss des Verfahrens warten; hierzu zähle ebenso das Bundesverfassungsgericht877. Ein unterlegener Bewerber könne seinen Bewerbungsverfahrensanspruch im Wege der Anfechtungsklage gegen die Ernennung weiterverfolgen, wenn er unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG daran gehindert worden sei, seine Rechtsschutzmöglichkeiten vor der Ernennung auszuschöpfen878. Das Bundesverwaltungsgericht ist damit auf die Linie der Kammern eingeschwenkt. Aufgrund des Fingerzeigs aus Karlsruhe war es dem Bundesverwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren möglich, sich zu einer für das Beamtenrecht elementaren Materie zu äußern. Es zeigt sich wiederum die Tendenz, dass die Kammern des Bundesverfassungsgerichts, in dem Fall, in dem aufgrund der prozessrechtlichen Gestaltung die Bundesgerichte nicht angerufen werden können, für eine Rechtsvereinheitlichung sorgen879. Diese Neigung offenbarte sich bereits beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Zusammenhang mit der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs880 und der Versammlungsfreiheit881. 873
DVBl. 2009, 659, 660. Das Urteil ist u. a. abgedruckt in NJW 2011, 695 ff; NVwZ 2011, 358 ff. 875 Schenke, NVwZ 2011, 321. 876 BVerwG NVwZ 2011, 358, 361. 877 BVerwG NVwZ 2011, 358, 361. 878 BVerwG NVwZ 2011, 358, 360. 879 Für die beamtenrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren Laubinger, ZBR, 2010, 289, 299; Schenke, NVwZ 2011, 321, 327. 880 Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb) (11). 881 Siehe die Ausführungen unter D. V. 2. a) hh). 874
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
VIII. Die Gleichheitsrechte Im Untersuchungszeitraum von Januar 2003 bis Mai 2008 trafen die Kammern des Bundesverfassungsgerichts insgesamt 98 Entscheidungen, die in diesen Bereich thematisch eingeordnet werden können882. Der weit überwiegende Anteil der Verfassungsbeschwerden dreht sich um Verletzungen von Art. 3 Abs. 1 GG im Allgemeinen und Versagungen von Prozesskostenhilfe im Besonderen883. Es existieren in diesem Zusammenhang zudem Verfassungsbeschwerden, die sich mit der willkürlichen Auslegung einfachrechtlicher Normen befassen884. Vereinzelt finden sich auch Verfassungsbeschwerden, die die speziellen Gleichheitsrechte zum Gegenstand haben. So ging es im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 2 GG um die Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Begründung eines Ausbildungsverhältnisses885 oder die Erteilung eines Dienstleistungszeugnisses während der Erprobungszeit am Oberlandesgericht886; im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG um die Frage, ob Dolmetscherkosten für die Übersetzung von Telefonüberwachungsprotokollen und von privater Post des Inhaftierten, die im Ermittlungs- und Hauptverfahren entstanden sind, von ihm selbst oder vom Staat zu tragen sind887. Um den Zugang von behinderten Kindern in die Integrationsgruppe des örtlichen Kindergartens drehte es sich im Rahmen von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG888. 1. Die Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtliche Begründetheit Die Untersuchung befasst sich an dieser Stelle mit der Frage der Übereinstimmung der praktischen Handhabung der Tatbestandsmerkmale angezeigt und offensichtlicher Begründetheit mit den dogmatischen Vorgaben zu deren Auslegung. Es findet sich in diesem Bereich kein Beschluss, der sich näher mit dem Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit beschäftigt. Nachfolgend werden zwei Beschlüsse vorgestellt, die sich mit dem Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils und der existentiellen Betroffenheit befassen, wobei es sich im letzten Fall um einen Nichtannahmebeschluss handelt. 882
Zur genauen Aufschlüsselung siehe Anhang I, 7. BVerfGK 1, 22; 1, 111; 1, 314; 2, 275; 2, 279; 6, 25; 9, 437; 10, 84; 11, 93; 12, 290. 884 BVerfGK 1, 194; 4, 93; 4, 339; 6, 239; 9, 263; 12, 148; 12, 298. 885 BVerfGK 9, 218. 886 BVerfGK 11, 281. 887 BVerfGK 2, 36. 888 BVerfGK 7, 269. 883
VIII. Die Gleichheitsrechte
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a) Besonders schwerer Nachteil Der Kammerentscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwerdeführer bekamen im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens für 180.100 e den Zuschlag für ein Grundstück. Nachdem die Schuldner den Zuschlagsbeschluss mit der sofortigen Beschwerde angegriffen hatten, übersandte das Landgericht den Beschwerdeführern eine ergänzende Beschwerdebegründung zur Kenntnis und Stellungnahme, woraufhin sie die Zurückweisung der Beschwerde beantragten889. In seiner Entscheidung hob das Landgericht den Zuschlagsbeschluss auf und legte den Beschwerdeführern die Kosten auf. Den Beschwerdewert setzte es auf 180.100 e fest. Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde, da das Gericht seine Fürsorgepflicht und den Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt habe, indem es nicht auf das Kostenrisiko der Hinzuziehung hingewiesen habe890. Zudem betrieben die Beschwerdeführer die Räumung des ersteigerten Grundstücks aufgrund des ursprünglich bestehenden Zuschlagsbeschlusses. Die Schuldner wehrten sich gegen die Räumung mit einem Antrag nach § 765a ZPO auf Vollstreckungsschutz. Als das Amtsgericht den Antrag ablehnte, erhoben die Schuldner wiederum sofortige Beschwerde. Mit Bekanntwerden der Tatsache, dass das Landgericht den Zuschlagsbeschluss schon vor der amtsgerichtlichen Ablehnung des Antrags aufgehoben hatte, erklärten die Schuldner und die Beschwerdeführer die Beschwerde für erledigt. Das Landgericht legte den Beschwerdeführern wiederum die Kosten auf, da die Schuldner ohne Erledigung obsiegt hätten. Hiergegen erhoben die Beschwerdeführer wiederum Verfassungsbeschwerde891. Die zuständige Kammer nahm im ersten Fall die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG statt. Nach Auffassung der Kammer handelte das Landgericht willkürlich, indem es die Beschwerdeführer nicht nach § 139 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass sie mit Kosten belastet werden könnten, wenn sie Anträge stellen892. Die Annahme sei zur Vermeidung eines besonders schweren Nachteils aufgrund des hohen Gegenstandswertes angezeigt893. Im zweiten Fall stützte die Kammer die Nichtannahme zum einen auf das Fehlen des besonders schweren Nachteils angesichts eines Beschwerdewerts von 3000 e und zum anderen auf die mangelnde Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde. 889 890 891 892 893
BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK
5, 5, 5, 5, 5,
10, 10, 10, 10, 10,
11. 11 f. 12. 13 ff. 12.
308
D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
b) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals des besonders schweren Nachteils müsste mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung übereinstimmen. In dem Beschluss, der zwei Verfassungsbeschwerden beinhaltet, nahm die Kammer bezüglich einer Beschwerde einen besonders schweren Nachteil an. Die Verurteilung zu einer Geldleistung im Besonderen und das Erleiden eines wirtschaftlichen Nachteils im Allgemeinen kann einen besonders schweren Nachteil darstellen. Abstrakte Grenzen in Form von EuroBeträgen lassen sich hier nicht angeben, da es auf den konkreten Einzelfall ankommt, wobei als grober Richtwert 5.000 e gelten sollen894. Im Rahmen der einen Verfassungsbeschwerde wird nur mitgeteilt, dass das Gericht den Beschwerdewert auf 180.100 e festgesetzt und den Beschwerdeführern die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die außergerichtlichen Kosten der Schuldner auferlegt hat, wobei die Entscheidung gerichtskostenfrei erginge. Angesichts eines Beschwerdewerts von 180.100 e, der erheblich über dem Richtwert von 5.000 e liegt, kann von einem besonders schweren Nachteil ausgegangen werden. Im Rahmen der anderen Verfassungsbeschwerde verneint die Kammer den besonders schweren Nachteil bezüglich eines Beschwerdewerts von 3.000 e. Mit dieser Entscheidung orientiert sie sich zutreffend am Richtwert. Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals und die praktische Handhabung stimmen überein. c) Existentielle Betroffenheit Die Kammer hatte über den nachfolgenden Fall zu entscheiden: Die Beschwerdeführer greifen mit ihrer u. a. auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde unmittelbar Art. 4 und 5 des Haushaltsbegleitgesetzes 2006 an. Es sieht eine Erhöhung des Umsatzsteuernormalsatzes und des Versicherungsteuersatzes von 16% auf 19% zum 01.01.2007 vor. Die Familie der Beschwerdeführer, ein Ehepaar und sechs Kinder, haben ein Jahresnettoeinkommen von ca. 53.400 e. Die zusätzliche Belastung durch die Mehrwertsteuererhöhung beziffern sie auf ca. 68 e bis 73 e pro Monat895. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, da sie keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung habe, was detailliert geprüft wurde896. Zudem verneinte die Kammer eine 894 895
Siehe die Ausführungen unter B. V. 1 c) cc). BVerfGK 13, 31, 32.
VIII. Die Gleichheitsrechte
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Durchsetzungsannahme aufgrund der fehlenden existentiellen Betroffenheit. Die angegebene finanzielle Mehrbelastung sei angesichts des Jahresnettoeinkommens nicht ausreichend und darüber hinaus nichts ersichtlich, was eine existentielle Betroffenheit rechtfertige897. d) Verhältnis zwischen dogmatischen Vorgaben und praktischer Handhabung Es gilt zu überprüfen, ob die praktische Handhabung der Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit – Anknüpfungspunkt der Fallgruppe ist das Tatbestandsmerkmal angezeigt – mit der von der Senatsrechtsprechung und der Literatur entwickelten Auslegung hierzu übereinstimmt. Es haben sich Unterfallgruppen herausgebildet, bei denen von einer existentiellen Betroffenheit ausgegangen werden kann: Die strafrechtliche Verurteilung des Betroffenen, wobei es auf den Schuldspruch ankommt; die Verletzung des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; die Versagung des Asylrechts und die Beendigung von Wohnraummietverhältnissen898. Es handelt sich um Kasuistik aus der Senats- und Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Kammer begründete die fehlende existentielle Betroffenheit mit der Erwägung, dass die angegebene finanzielle Mehrbelastung von ca. 68 e bis 73 e pro Monat angesichts des Jahresnettoeinkommens nicht ausreichend sei. Die verwendete Argumentation trägt jedoch eher die Verneinung des besonders schweren Nachteils. Wirtschaftliche oder finanzielle Aspekte wurden von den Kammern tendenziell unter dieser Begrifflichkeit behandelt899. Im Ergebnis zutreffend, passt hier die Begründung nicht. 2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage An dieser Stelle wird das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage i. S. d. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG im Hinblick darauf untersucht, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage in dem konkreten Fall tatsächlich bereits entschieden war. Im Fokus der Analyse stehen sowohl im Rahmen des allgemeinen als auch bei den besonderen Gleichheitssätzen und Differenzierungsverboten die Annahme- bzw. Stattgabebeschlüsse der Kammern. Bei den speziellen Gleichheitssätzen existiert jedoch nicht immer ein solcher, sodass im Zu896 897 898 899
BVerfGK BVerfGK Siehe die Siehe die
13, 31, 33. 13, 31, 35. Ausführungen unter B. V. 1 c) bb). Ausführungen unter B. V. 1. c) cc) und D. VII. 1. b).
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
sammenhang mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf einen begründeten Nichtannahmebeschluss zurückgegriffen wurde, um die Untersuchungsbasis zu verbreitern. a) Der allgemeine Gleichheitssatz Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes werden zum einen die Beschlüsse näher untersucht, die sich mit der Gewährung von Prozesskostenhilfe befassen, da es sich um ein für die Praxis besonders relevantes Gebiet handelt900. Zum anderen bilden Entscheidungen zur willkürlichen Auslegung von Normen einen Schwerpunkt. Die Handhabung der Anforderungen an die willkürliche Rechtsauslegung der Fachgerichte durch die Kammern lässt Rückschlüsse auf den Prüfungsmaßstab und die damit zusammenhängende Aufgabenverteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit zu. Anknüpfungspunkt für die Untersuchung ist jeweils ein Musterfall. aa) BVerfGK 2, 275 Die Beschwerdeführerin ist Mutter eines Kindes, mit dessen Vater sie zu keinem Zeitpunkt verheiratet war. Nachdem der Vater sich weigerte, Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Abs. 2 BGB auch nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes zu zahlen, beantragte die Beschwerdeführerin Prozesskostenhilfe, um ihr Begehren gerichtlich durchsetzen zu können901. Durch Beschluss vom 08.07.2002 wies das Amtsgericht den Antrag zurück, da die bestehende Befristung des Unterhaltsanspruchs auf drei Jahre, außer bei grober Unbilligkeit, nach herrschender Meinung, der sich das Gericht anschließe, verfassungskonform sei. Die Beschwerde wies das Oberlandesgericht zurück, weil es die Begrenzung in § 1615 l Abs. 2 BGB ebenfalls für nicht verfassungswidrig halte902. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtschutzes (. . .). Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz ge900 Dafür spricht nicht zuletzt die vergleichsweise hohe Anzahl von Kammerbeschlüssen, die sich mit der Thematik befassen, vgl. Teil D., Fn. 883. 901 BVerfGK 2, 275, 276. 902 Ebd.
VIII. Die Gleichheitsrechte
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gen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet.“903 „Der Unbemittelte braucht nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (. . .). Es ist demnach verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.“904 „Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird.“905
Nach Auffassung der Kammer haben die Gerichte die Anforderungen an die Erfolgsaussicht überspannt und den Anspruch auf Rechtschutzgleichheit verkannt. Die maßgebliche Frage der Verfassungswidrigkeit des § 1615 l BGB sei weder einfach noch eindeutig zu entscheiden und eigne sich daher nicht für eine Entscheidung im summarischen Verfahren der Prozesskostenhilfe. Die Gerichte hätten diese Frage zum Nachteil der Beschwerdeführerin im Verfahren der Prozesskostenhilfe entschieden, obwohl sie die Frage der Verfassungswidrigkeit erkannt hätten und wussten, dass sie höchstrichterlich noch nicht entschieden war906. Die Beschwerdeführerin sei zum einen der Möglichkeiten in einem Hauptsacheverfahren und zum anderen im Wege der Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtswegs eine mittelbare Überprüfung der Norm zu erreichen, beraubt worden907. bb) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Diese Kammerentscheidung lässt sich möglicherweise auf den Senatsmaßstab stützen, dass eine Überschreitung des fachgerichtlichen Entscheidungsspielraums dann vorliegt, wenn ein Auslegungsmaßstab gewählt wird, der einer unbemittelten Partei die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert, was der Fall ist, wenn die Anforderungen an die Erfolgsaussicht überspannt werden. Dieser Maßstab erlaubt keine 903 904 905 906 907
BVerfGE 81, 347, 356; ähnlich BVerfGE 9, 124; 10, 264, 270. BVerfGE 81, 347, 357. BVerfGE 81, 347, 358. BVerfGK 2, 275, 278. Ebd.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Es bleibt offen, wann die Anforderungen überspannt werden. Anders gewendet fehlen die Zwischenschritte bzw. die Kammer erwähnt sie in diesem Beschluss nicht. Strukturell gesehen, handelt es sich bei dem verwendeten Maßstab um eine Regel, da er nach dem Konditionalschema aufgebaut ist. Eine Subsumtion ist jedoch nicht möglich, wie schon anhand der Formel von Mahrenholz festgestellt wurde, weil offen ist, wann die Anforderungen überspannt werden. Es handelt sich zudem im Kern um eine originär verfassungsrechtliche Frage, die es zu beantworten gilt, nämlich die Verfassungskonformität von § 1615 l BGB. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe waren somit nicht abgesenkt. Ein anderer Kammerbeschluss, der sich mit der Höhe des Selbstbedarfs bei Unterhaltsansprüchen nach § 1615 l BGB beschäftigt, verweist hingegen auf Senatsmaßstäbe, die sich zur Frage der überspannten Anforderungen äußern908: „Daher braucht Prozesskostenhilfe nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als ‚schwierig‘ erscheint. Liegt diese Voraussetzung dagegen vor, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten. (. . .) Ein Fachgericht, das § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfe-Verfahren ‚durchentschieden‘ werden können, verkennt damit die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit.“909
Demnach ist Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn es sich um eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage handelt, die höchstrichterlich ungeklärt und schwierig ist. Dieser Senatsmaßstab würde die Kammerentscheidung inhaltlich tragen. Er wird in dem hier zu beurteilenden Beschluss von der Kammer, im Rahmen der Darlegung ihrer verwendeten Senatsmaßstäbe, jedoch nicht in Bezug genommen. Es bleibt somit bei dem festgestellten Ergebnis, dass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage, zumindest nach den von der Kammer in ihrem Beschluss konkret verwendeten Senatsmaßstäben, noch nicht entschieden war.
908 909
BVerfGK 2, 279, 281. BVerfGE 81, 347, 359.
VIII. Die Gleichheitsrechte
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cc) BVerfGK 12, 298 Der Beschwerdeführer ist Kraftfahrzeug-Sachverständiger und erstellte in dieser Eigenschaft für Unfallgeschädigte Gutachten über die Höhe von Unfallschäden, wobei er seine Vergütung nicht nach Stunden abrechnete, sondern pauschal mit Bezug auf die Höhe des Gesamtschadens. Nachdem er sich in drei Fällen (1 BvR 1605/06, 1 BvR 1680/06 und 1 BvR 3034/06) zur Sicherung seines Vergütungsanspruchs den Schadensersatzanspruch der Auftraggeber gegen den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer der Unfallgegner hatte abtreten lassen, ging er aus diesen vor und erhob im vierten Fall (1 BvR 911/07) Klage gegen den Auftraggeber. In keinem Fall wurde der Berufungswert nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Höhe von 600 e überschritten910. Alle Klagen wurden durch das Amtsgericht abgewiesen, da die Berechnung des Honorars unsubstantiiert und die Forderung nicht fällig sei. Zudem könne ein Sachverständiger die Leistung nur nach Zeitaufwand verlangen. In den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1605/06 und 1 BvR 1680/06 wurde bei den angegriffenen Urteilen auf den Tatbestand verzichtet, weil das Urteil nicht berufungsfähig sei. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3034/06 geht das angefochtene Urteil nicht auf die Zulassung der Berufung ein, obwohl dies ausdrücklich beantragt wurde. Ein Antrag auf Urteilsergänzung wurde abgewiesen911. Im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 911/07 ließ das Amtsgericht die Berufung nicht zu. Zum einen sei der Berufungswert nicht erreicht und zum anderen sei durch die Zulassung der Berufung eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung nicht zu erwarten912. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gab ihnen wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG statt. Sie berief sich auf folgenden Senatsmaßstab: „Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (. . .).“913
Nach Auffassung der Kammer verstoßen die amtsgerichtlichen Urteile gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da sie in Bezug auf § 511 Abs. 4 ZPO unter keinem 910 911 912 913
BVerfGK 12, 298 f. BVerfGK 12, 298, 299. BVerfGK 12, 298, 300. BVerfGE 96, 189, 203.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar seien. Einerseits sei der Berufungswert von 600 e nicht erreicht worden. Anderseits hätten die Gerichte erster Instanz eine Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet bzw. wäre das erkennende Gericht von einer obergerichtlichen Rechtsprechung abgewichen, nämlich Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Berechnung der Vergütung von Sachverständigen auch anhand der Schadenshöhe914. Das Amtsgericht habe, obwohl vom Beschwerdeführer auf entsprechende Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ausdrücklich hingewiesen, abweichend entschieden und sich mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht auseinandergesetzt. Die Nichtzulassung der Berufung erweise sich als schlechterdings unvertretbar und damit objektiv willkürlich, insbesondere mit der bereits erläuternden Verfahrensweise des Amtsgerichts in den jeweiligen Urteilen915. dd) Ergebnis: Die Frage war entschieden Dieses Ergebnis lässt sich möglicherweise auf den von der Kammer verwendeten Senatsmaßstab stützen, dass ein Richterspruch nur dann willkürlich ist, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Der Senat stellte zusätzlich objektive Kriterien auf, anhand derer die Willkür zu beurteilen ist und konkretisierte den Maßstab auf diese Weise weiter. So reiche fehlerhafte Rechtsanwendung nicht aus. Vielmehr müsse eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder ihr Inhalt krass missdeutet worden sein. Eine willkürliche Missdeutung liege nicht vor, wenn sich das Gericht mit der Rechtslage eingehend auseinandersetze und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehre. Der Senatsmaßstab erlaubt eine direkte Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Zwischenschritte werden nämlich vom Senat gleich mitgeliefert. Der von der Kammer zu entscheidende Fall lässt sich aufgrund dieser Zwischenschritte mühelos unter den Maßstab subsumieren. Der Senatsmaßstab ist nach dem Konditionalschema aufgebaut, sodass es sich um eine Regel handelt. Es muss folglich eine Subsumtion möglich sein. Diese Anforderung wird erfüllt. Schließlich handelt es sich im Kern um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, zu deren Beantwortung der Senatsmaßstab herangezogen worden ist. Es geht primär um die Anwendung und Auslegung einfachen Rechts, hier § 511 Abs. 4 ZPO. Nur wenn diese offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder ihr Inhalt krass missdeutet wurde, handelte das Gericht objektiv willkürlich. Die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit der Se914 915
BVerfGK 12, 298, 301. BVerfGK 12, 298, 302.
VIII. Die Gleichheitsrechte
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natsmaßstäbe zu stellen sind, entsprechen einem niedrigeren Niveau als bei einer originär verfassungsrechtlichen; sie werden jedoch erst recht erfüllt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war bereits entschieden. ee) Bewertende Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich zu den von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäben, in Bezug auf die Problematik der Prozesskostenhilfe, festhalten, dass sie in hohem Maße inhaltlich konkret formuliert sind. Das gilt insbesondere für den Maßstab, der sich zur Frage der überspannten Anforderungen an die Erfolgsaussichten detailliert äußert. Die Fragestellung ist jedoch recht begrenzt, etwa vergleichbar mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG. Es kann daher nicht verwundern, dass die Senatsmaßstäbe in diesem Bereich dazu geeignet sind, die Kammerentscheidungen zu tragen. Etwas komplizierter stellt sich die Situation bei dem relevanten Senatsmaßstab zur Willkürprüfung dar. Auf den ersten Blick ist er inhaltlich bestimmt. Nimmt man ihn bezüglich der abstrakten Zwischenschritte genauer unter die Lupe, scheint die zunächst angenommene Bestimmtheit zu verschwimmen. Denn es stellt sich die Frage, wann eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm krass missdeutet wurde. Bei der Beantwortung geht es im Grunde um die Aufgabenverteilung zwischen den Fachgerichten und dem Bundesverfassungsgericht, mit anderen Worten um den Prüfungsmaßstab. In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Fragen von Bedeutung: Erstens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Willkürkontrolle des Art. 3 Abs. 1 GG die Kompetenz einfachrechtliche Entscheidungen zu überprüfen und zweitens, wie weit reicht sie? Die zuerst aufgeworfene Frage wird unterschiedlich beantwortet. So wird gerade mit Hinweis auf die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts eine Überprüfungsmöglichkeit einfachrechtlicher Entscheidungen verneint. Es sei keine Rechtsprechungsvereinheitlichungsinstanz oder Notinstanz für als krass empfundene Fälle916. Die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen sei auf spezifisch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte beschränkt. Solange eine fachgerichtliche Entscheidung nicht inhaltlich mit materiellen Grundrechten unvereinbar sei, habe eine verfassungsgerichtliche Inhaltskontrolle zu unterbleiben917. Als Argumente für 916
Rennert, NJW 1991, 12, 15 f. Rennert, NJW 1991, 12, 18. Eine allgemeine Gerechtigkeitskontrolle in dem Sinn, dass ein Verstoß gegen Verfahrensrecht oder materielles Recht eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG darstelle, wenn die Auslegung oder Anwendung des Rechts bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sei und sich daher der Schluss aufdränge, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhe, sei abzulehnen, Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 61. Die 917
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
diese Auffassung werden genannt: Die klare Trennung von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit918, die Vermeidung von Abgrenzungsproblemen zwischen fehlerhaften und unhaltbaren einfachrechtlichen Entscheidungen919 sowie die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts920. Dem steht die Auffassung gegenüber, nach der dem Bundesverfassungsgericht zwar keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle obliege, es jedoch bei sachlich unhaltbaren einfachrechtlichen Entscheidungen eingreifen dürfe921. Anders formuliert, ist die Willkürprüfung keine Richtigkeitsprüfung anhand des einfachen Rechts, sondern eine Vertretbarkeitskontrolle. Als Maßstab für diese Kontrolle könnten die Auslegungsmethoden herangezogen werden. Wiesen sämtliche Auslegungsmethoden in eine Richtung und entscheide das Fachgericht dennoch anders, sei dies ein Hinweis für die Unvertretbarkeit922. Die Belastung eines Gerichts dürfe keine Auswirkungen auf das Ausmaß seiner Kompetenzen haben923. Ebenso seien Abgrenzungsprobleme kein Argument, nicht die zutreffende juristische Lösung zu finden. Die genannten Argumente der anderen Auffassung seien formaler Natur und enthielten keine substantiierte Begründung924. Es sei von der Verfassung nicht beabsichtigt, wenn die Willkür-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts generell ablehnend und für eine konsequente Grundrechtsanwendung Kirchberg, NJW 1987, 1988 ff. 918 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 282. Nach von Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, S. 148, führt die Reduzierung des Gleichheitssatzes auf ein Verbot richterlicher Willkür zu einer teilweisen Deckung von einfachem und Verfassungsrecht. Dies sei systemwidrig, da die Bereiche zu trennen seien. 919 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 282 f.; von Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, S. 153, spricht in diesem Zusammenhang von der Willkürlichkeit der Willkürkontrolle, angesichts der vom Bundesverfassungsgericht angewandten unbestimmten Kriterien und seines weiten Entscheidungsermessens. 920 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 283. 921 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 280 ff., mit beachtlichen Argumenten; Düwel, Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts, S. 180 und 185, befürwortet eine verfassungsgerichtliche Willkürkontrolle nur in den Fällen, in denen die Verfahrensgrundrechte nicht greifen. Die individualschützende Funktion der Verfassungsbeschwerde rechtfertige die Kontrolle und Aufhebung von Entscheidungen ohne nachvollziehbare Begründung oder wegen eindeutiger Missachtung gesetzlicher Regelungsanordnungen; von Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, S. 172, befürwortet eine Willkürkontrolle im Sinn eines garantierten, grundrechtlich abgesicherten Anspruchs auf einen Mindeststandart richtiger Rechtsanwendung; Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 300, gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Aufhebung von Gerichtsurteilen bei Auslegungs- und Anwendungsfehlern zwar seinen selbst gesetzten Prüfungsumfang überschreite, dafür aber nicht zu kritisieren sei. 922 Roth, AöR 121 (1996), S. 544, 575 f. 923 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 283, und von Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, S. 163 ff. 924 Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 284.
VIII. Die Gleichheitsrechte
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Fachgerichte sachlich unhaltbare Entscheidungen träfen und damit ihre Kompetenz überschritten, Fragen des einfachen Rechts in vertretbaren Rahmen zu lösen. Das Grundgesetz schließe nicht aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einfachrechtlichen Fragen befasse. Vor dem Hintergrund der Herrschaft des Rechts und der Bindung aller staatlichen Instanzen an dieses könne die verfassungsrechtliche Kontrolle nicht irrelevant sein925. Dem ist zuzustimmen. Folgt man dieser Meinung und bejaht eine Prüfungskompetenz bei sachlich unhaltbaren einfachrechtlichen Entscheidungen, hat man die zweite aufgeworfene Frage, die sich mit dem Umfang der Kompetenz beschäftigte, ebenfalls beantwortet. Lehnt man hingegen eine Prüfungskompetenz ab, erledigt sich auch die Frage ihres Umfangs. In jedem Fall bleibt es bei der auf den ersten Blick angenommen Bestimmtheit des Maßstabs. Sehr vertieft mit einfachrechtlichen Fragestellungen befasst sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung über Verfassungsbeschwerden, in denen es inhaltlich um die Ablehnung von Prozesskostenhilfe geht. Dies hängt damit zusammen, dass das Gericht in seiner eigenen Rechtsprechung die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Wesentlichen von den hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtverfolgung- oder Verteidigung abhängig macht926 und die Prozessordnungen sich daran orientieren927. Die Kammern müssen sich somit zu den Erfolgsaussichten in den Beschlüssen äußern. Vergleichbare Tendenzen in Bezug auf eine sehr vertiefte Beschäftigung mit einfachrechtlichen Fragen zeigten sich schon beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Zusammenhang mit der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs928. Inhaltlich lässt sich über den Musterfall zur Prozesskostenhilfe hinaus Folgendes feststellen: Die Fachgerichte neigen dazu, schwierige und ungeklärte Rechtsfragen im Verfahren der Prozesskostenhilfe durchzuentscheiden929 oder die Beweiswürdigung vorwegzunehmen, wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine begrenzte Beweisantizipation zulässig ist930. Im Vergleich zu anderen Bereichen entsprechen die Maßstäbe mehr Regeln als Prinzipien, strukturell betrachtet.
925
Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, S. 284 f. BVerfGE 81, 347, 357. 927 Siehe § 114 ZPO. Auf die §§ 114 ff. ZPO verweisen etwa § 11 Abs. 3 ArbGG, §§ 172 Abs. 3 Satz 2, 379 Abs. 3 und 404 Abs. 5 StPO, § 166 VwGO oder § 142 Abs. 1 FGO. 928 Siehe die Ausführungen unter D. II. 2. a) bb) (11). 929 Siehe hierzu BVerfGK 1, 22; 2, 279; 12, 290. 930 BVerfGK 1, 111. 926
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
b) Die besonderen Gleichheitssätze und Differenzierungsverbote Die Darstellung der besonderen Gleichheitssätze und Differenzierungsverbote beschränkt sich auf Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, da Art. 33 Abs. 2 GG schon im Rahmen der Grundrechte der Beamten erörtert wurde. Im Folgenden wird jeweils ein Beschluss vorgestellt, der sich mit der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, der Benachteiligung aufgrund der Sprache sowie der Benachteiligung behinderter Menschen befasst. aa) BVerfGK 9, 218 Die Beschwerdeführerin bewarb sich um eine Lehrstelle als „Eurokauffrau“ bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens, von deren Existenz sie über eine Internetseite der Agentur für Arbeit erfahren hatte. Die Internetseite konnte unter der Überschrift „Offene Ausbildungsstellen“ bei Verwendung des Suchbegriffs „Industriekauffrau“ aufgerufen werden, nannte die Beklagte als Ausbildungsbetrieb und enthielt den Hinweis einer Bevorzugung männlicher Bewerber931. Als die Beklagte ihr mitteilte, dass der Ausbildungsplatz bereits anderweitig besetzt sei, erhob die Beschwerdeführerin Klage vor dem Arbeitsgericht mit dem Ziel, eine Entschädigung von drei Monatsgehältern zu erhalten. Gestützt wurde das Begehren auf § 611a Abs. 2 und 3 BGB a. F.932. Die Beklagte trug vor, der Hinweis, nach dem 931
BVerfGK 9, 218, 218 f. § 611a BGB in der gültigen Fassung bis zum 31.12.2001 lautete: (1) Der Arbeitgeber darf einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme, insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses, beim beruflichen Aufstieg, bei einer Weisung oder einer Kündigung, nicht wegen seines Geschlechts benachteiligen. Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts ist jedoch zulässig, soweit eine Vereinbarung oder eine Maßnahme die Art der vom Arbeitnehmer auszuübenden Tätigkeit zum Gegenstand hat und ein bestimmtes Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für diese Tätigkeit ist. Wenn im Streitfall der Arbeitnehmer Tatsachen glaubhaft macht, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen, trägt der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass nicht auf das Geschlecht bezogene, sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen oder das Geschlecht unverzichtbare Voraussetzung für die auszuübende Tätigkeit ist. (2) Verstößt der Arbeitgeber gegen das in Absatz 1 geregelte Benachteiligungsverbot bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, so kann der hierdurch benachteiligte Bewerber eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen; ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses besteht nicht. (3) Wäre der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden, so hat der Arbeitgeber eine angemessene Entschädigung in Höhe von höchstens drei Monatsverdiensten zu leisten. Als Monatsverdienst gilt, was dem Bewerber bei regelmäßiger Arbeitszeit in dem Monat, in dem das Arbeitsverhältnis hätte begründet werden sollen, an Geld- und Sachbezügen zugestanden hätte. (. . .) 932
VIII. Die Gleichheitsrechte
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männliche Bewerber bevorzugt würden, habe nicht sie veranlasst, sondern sei von der Agentur eigenmächtig hinzugefügt worden. Es liege keine Benachteiligung der Beschwerdeführerin vor, weil die Stelle zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung schon mit einer Frau besetzt gewesen sei. Schließlich habe sich die Beschwerdeführerin als „Eurokauffrau“ beworben, obwohl es sich um eine Ausbildungsstelle zur Industriekauffrau gehandelt habe933. Nachdem die Beschwerdeführerin vor den Arbeitsgerichten gescheitert war, nahm die zuständige Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 2 GG teilweise statt, wobei sie folgende Senatsmaßstäbe verwendete: „Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind an das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen mit Art. 3 Abs. 3 GG nur vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind (. . .). Art. 3 Abs. 2 GG enthält daneben keine weitergehenden oder speziellen Anforderungen. Sein über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichender Regelungsgehalt besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (. . .). Das ist inzwischen durch die Anfügung von Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG ausdrücklich klargestellt worden.“934 „Der Satz ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen. Er zielt auf Angleichung der Lebensverhältnisse (. . .).“935 „Der Erreichung dieser von Art. 3 Abs. 2 GG gesetzten Ziele dient auch § 611a BGB. Er erstreckt das Diskriminierungsverbot auf private Arbeitsbeziehungen und unternimmt es, Frauen gleiche Chancen im Beruf, insbesondere bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses, zu sichern.“936 „§ 611a BGB ist danach im Lichte des Art. 3 Abs. 2 GG so auszulegen und anzuwenden, dass Arbeitssuchende bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses wirksam vor Benachteiligungen wegen des Geschlechts geschützt werden.“937 933
BVerfGK 9, 218, 219. BVerfGE 92, 91, 109. 935 BVerfGE 89, 276, 285. Dieser Beschluss des Ersten Senats stammt vom 16.11.1993. Die damalige Fassung von § 611a BGB unterschied sich im Hinblick auf die Fassung bis zum 31.12.2001 u. a. beim zweiten Absatz, während der erste Absatz deckungsgleich war. Der abweichende zweite Absatz des § 611a BGB lautete: (2) Ist ein Arbeitsverhältnis wegen eines von dem Arbeitgeber zu vertretenden Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 nicht begründet worden, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der Arbeitnehmer dadurch erleidet, dass er darauf vertraut, die Begründung des Arbeitsverhältnisses werde nicht wegen eines solchen Verstoßes unterbleiben. Satz 1 gilt beim beruflichen Aufstieg entsprechend, wenn auf den Aufstieg kein Anspruch besteht. 936 Ebd. 937 BVerfGE 89, 276. 934
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
„Ließe man bei Einstellungsentscheidungen eine Würdigung der vorangegangenen Verfahrensschritte außer Acht, könnte der Arbeitgeber eine Diskriminierung im vorausgegangenen Verfahren schon dadurch folgenlos machen, dass er nachträglich sachliche Gründe für seine Einstellungsentscheidung angibt. Er hätte es damit in der Hand, durch geeignete Verfahrensgestaltung die Chancen von Bewerbern, die er wegen ihres Geschlechts als weniger geeignet einstuft, so zu mindern, dass seine abschließende Entscheidung praktisch unangreifbar wird.“938 „In verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise ist das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beschwerdeführerin Tatsachen glaubhaft gemacht hat, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten lassen (§ 611a Abs. 1 Satz 3 BGB). Es hätte allerdings nahegelegen, in diesem Zusammenhang auch die nicht geschlechtsneutral abgefasste Ausschreibung in Betracht zu ziehen.“939 „Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift ist Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Dieses kontrolliert vielmehr nur, ob bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt ist (. . .). Das ist allerdings nicht nur bei der Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Normen möglich, sondern auch bei Normen, die der Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes erlassen hat (. . .). Bei Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen, ist das maßgebende Grundrecht dann verletzt, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im Einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert.“940
Nach Auffassung der Kammer habe das Landesarbeitsgericht den Schutzzweck von Art. 3 Abs. 2 GG bei der Auslegung und Anwendung von § 611a BGB grundlegend verfehlt. Die Beschwerdeführerin habe mit der Ausschreibung im Internet Tatsachen glaubhaft gemacht, die eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten ließen. Das Landesarbeitsgericht habe den falschen Anknüpfungspunkt für die benachteiligende Maßnahme gewählt, da es nicht die Zurückweisung der Bewerbung genommen habe, sondern die Aufnahme des Hinweises, dass männliche Bewerber bevorzugt werden941. Zudem habe das Gericht den Verantwortungsbereich der Beklagten für die Stellenausschreibung zu eng gezogen, indem es den Tatbestand des § 611a BGB deshalb verneinte, weil die Beklagte die Aufnahme des Hinweises nicht gewollt habe. Dies erlaube dem Arbeitgeber, seine Verantwortung bezüglich Stellenausschreibungen auf Dritte abzuwälzen, was den Indizwert einer Stellenausschreibung aushebele. Der Arbeitgeber könne die Gesetzmäßigkeit der Ausschreibung überwachen und ihn treffe bei der Fremdausschreibung eine entsprechende Fürsorgepflicht942. 938 939 940 941
BVerfGE 89, 276, 288. BVerfGE 89, 276, 287. BVerfGE 89, 276, 285 f. BVerfGK 9, 218, 222 f.
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bb) Ergebnis: Die Frage war entschieden Die Kammerentscheidung lässt sich möglicherweise kumulativ auf zwei Senatsmaßstäbe stützen. Zum einen den Maßstab, nach dem § 611a BGB vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 2 GG so auszulegen ist, dass Arbeitssuchende bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses wirksam vor Benachteiligungen wegen des Geschlechts geschützt werden. Zum anderen den Maßstab, dass auch die Verfahrensschritte bei der Einstellungsentscheidung des Arbeitgebers zu berücksichtigen sind, damit dieser Diskriminierungen in diesem Bereich nicht nachträglich durch sachliche Gründe rechtfertigen und seine Entscheidung so unangreifbar machen kann. Insbesondere der letzte Maßstab eignet sich für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Benachteiligung vorliegt, muss demnach ebenso berücksichtigt werden, dass der Hinweis über die Bevorzugung männlicher Bewerber bei der Anzeige vorhanden war, obwohl der Arbeitgeber dies nicht veranlasst hatte. Betrachtet man zusätzlich noch den anderen Maßstab zur Auslegung des § 611a BGB, ergibt sich eine Benachteiligung gemäß § 611a Abs. 1 BGB. Nicht ins Gewicht fällt vor diesem Hintergrund der Verweis der Kammern auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in der eine Sorgfaltspflicht zur Überwachung des Arbeitgebers bei Fremdausschreibungen angenommen wird943. Handelt es sich doch nur um eine einfachrechtliche Konkretisierung der Auslegung von § 611a BGB. Die beiden Maßstäbe sind strukturell gesehen Prinzipien ohne Konditionalaufbau. Eine Richtungsvorgabe für die Falllösung ist somit ausreichend. Diese Voraussetzung wird erfüllt. Ferner geht es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, nämlich die Auslegung von § 611a BGB, sodass die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe geringer sind. Genauer gesagt, konkretisiert § 611a BGB auf einfachrechtlicher Ebene die Anforderungen von Art. 3 Abs. 2 GG, wie das Bundesverfassungsgericht selbst festgestellt hat944. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war somit bereits entschieden. cc) BVerfGK 2, 36 Der Beschwerdeführer, ein tschechischer Staatsangehöriger ohne Deutschkenntnisse, wurde nach der Untersuchungshaft kostenpflichtig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Es entstanden Kosten für die Übersetzung im 942 943 944
BVerfGK 9, 218, 223. BVerfGK 9, 218, 223. BVerfGE 89, 276, 285.
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Rahmen einer Telefonüberwachung aufgezeichneter Gespräche in Höhe von 8.747,53 DM sowie für die Briefe, die der Beschwerdeführer an seine Familie während der Untersuchungshaft schrieb, in Höhe von 11.494,20 DM. Diese Kosten stellte ihm die Staatsanwaltschaft nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens in Rechnung. Dem Beschwerdeführer war nur bekannt, dass der Schriftverkehr überwacht wurde, nicht aber, dass er Kosten verursachte. Das Landgericht stufte die Telefonüberwachungskosten als Auslagen der Staatskasse ein, die der Beschwerdeführer zu tragen habe. Ebenso müsse er die Übersetzungskosten der Briefe tragen, da es sich nicht um Erklärungen und Schriftstücke handele, die für seine Verteidigung erforderlich seien und damit Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK nicht greife. Die zuständige Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr wegen einer Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG teilweise statt. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe945: „Das Geschlecht darf grundsätzlich – ebenso wie die anderen in Absatz 3 genannten Merkmale – nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt.“946 „Fehlt es an zwingenden Gründen für eine Ungleichbehandlung, lässt sich diese nur noch im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht legitimieren.“947 „Zureichender Grund für die Auferlegung der Gebühr ist in Strafsachen, dass der Verurteilte durch sein Verhalten Anlass gegeben hat, dass das – Kosten verursachende – Gerichtsverfahren durchgeführt werden musste.“948 „Diese Verfassungsgarantien [Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG] verlangen, bei der Bewertung der brieflichen Äußerungen eines Untersuchungsgefangenen die Bedeutung des Eltern-Kind-Verhältnisses, wie es sich im konkreten Fall darstellt, zu berücksichtigen und alle Feststellungen, die der richterlichen Antwort auf die entscheidende Frage nach der Gefährdung der Anstaltsordnung zugrunde liegen, im Lichte der angesprochenen Grundrechte zu würdigen.“949 „Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist seit jeher eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt. Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung obliegen den Organen der Strafrechtspflege, die zu diesem Zweck unter den gesetzlich be945 Die Kammer (BVerfGK 2, 36, 39) stellt den Senatsmaßstab auf, dass auch mangelnde Sprachkenntnisse grundsätzlich dem Diskriminierungsverbot unterfallen können und verweist auf BVerfGE 39, 334, 368. Dort findet sich der in Bezug genommene Maßstab jedoch nicht. 946 BVerfGE 85, 191, 206. 947 BVerfGE 92, 91, 109. 948 BVerfGE 18, 302, 304. 949 BVerfGE 57, 170, 179.
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stimmten Voraussetzungen Strafverfahren einzuleiten und durchzuführen sowie erkannte Strafen zu vollstrecken haben.“950 „Aus der Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates um des Rechtsgüterschutzes Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmig geordneten Verfahren durchzusetzen und damit dem vom Gewicht der Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten, ergibt sich ferner, dass dem Strafprozess von Verfassungs wegen die Aufgabe gestellt ist, das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf (. . .), zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen.“951 „Das Bundesverfassungsgericht hat keine Bedenken, dass § 119 Abs. 3 StPO952 eine verfassungsrechtlich zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen bildet (. . .). Es hat entschieden, dass der Briefverkehr eines Untersuchungsgefangenen der richterlichen Kontrolle unterworfen werden kann, um eine Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen zu verhindern (. . .).“953 „Der Ausländer hat im Verfahren vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland die gleichen prozessualen Grundrechte sowie den gleichen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz wie jeder Deutsche (. . .). Das folgt nicht erst aus Art. 3 Abs. 3 GG, der die Benachteiligung aus Gründen der Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft verbietet, sondern unmittelbar aus diesen prozessualen Grundrechten selbst, die, ebenso wie das Recht auf ein faires Verfahren als wesentlicher Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens (. . .), für jedermann gelten.“954 „Dies [das Recht auf ein faires Verfahren] verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Angeklagten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können.“955
Nach Auffassung der Kammer ist zwischen der Brief- bzw. Besuchskontrolle und der Telefonüberwachung zu differenzieren, da Letztere deutsche Beschuldigte oder ausländische, aber der deutschen Sprache mächtige Beschuldigte, die fremdsprachige Telefonate führen, ebenso treffen könnten956. Es könne dem Zweck der Untersuchungshaft zuwiderlaufen, wenn der Briefverkehr des Untersuchungsgefangenen einen unverhältnismäßigen Aufwand bei der Kontrolle notwendig mache, wobei hierunter auch Übersetzungskosten fielen. Nicht in jedem Fall sei eine Übersetzung erforderlich 950 951 952 953 954 955 956
BVerfGE 51, 324, 343. BVerfGE 57, 250, 275. Zum Wortlaut der Vorschrift siehe Teil D., Fn. 96. BVerfGE 57, 170, 177. BVerfGE 40, 95, 98 f. BVerfGE 64, 135, 145. BVerfGK 2, 36, 41.
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und die pauschale Anordnung der Übersetzung sei grundsätzlich unzulässig, was die Strafverfolgungsbehörden zu berücksichtigen hätten. Der Inhaftierte sei vor der Weiterleitung an einen Dolmetscher darauf hinzuweisen, dass er für die entstehenden Kosten in Anspruch genommen werden könne, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese Aufwendungen zu sparen957. Es liege ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vor, weil eine pauschale Anordnung zur Übersetzung erfolgt und der Beschwerdeführer nicht auf die Kosten hingewiesen worden sei958. Im Hinblick auf die Abwälzung der Kosten für die Telefonüberwachung liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. Es sei verfassungsrechtlich nicht geboten, den nicht direkt anwendbaren Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK so weit auszudehnen, dass jede Inanspruchnahme von Dolmetschern gegenüber fremdsprachigen Beschuldigten unentgeltlich erfolgen müsse959. dd) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Fraglich ist, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Entscheidung der Kammer tragen. Es kam entscheidend darauf an, ob es eine Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darstellt, wenn dem fremdsprachigen Angeklagten im Ermittlungs- und Hauptsacheverfahren entstandene Dolmetscherkosten für die Übersetzung von Telefonüberwachungsprotokollen und von privater Post nach § 464 StPO960 auferlegt wurden. Lassen sich zunächst noch Senatsmaßstäbe finden, auf die die Kammer die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und die Sicherung des Verfahrens, als kollidierendes Verfassungsrecht, stützen kann, wird dies für die von ihr angenommene Unzulässigkeit der pauschalen Übersetzung bzw. die Hinweispflicht schwer. In Betracht kommt der Maßstab, nach dem der Briefverkehr eines Untersuchungsgefangenen der richterlichen Kontrolle unterworfen werden kann, um eine Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen zu verhindern. Dieser Maßstab enthält allerdings keine Angaben über die Kostentragung bei Übersetzungen von privater Korrespon957
BVerfGK 2, 36, 42. BVerfGK 2, 36, 43. 959 BVerfGK 2, 36, 43 f. 960 § 464 Abs. 1 und 2 StPO lauten: (1) Jedes Urteil, jeder Strafbefehl und jede eine Untersuchung einstellende Entscheidung muss darüber Bestimmung treffen, von wem die Kosten des Verfahrens zu tragen sind. (2) Die Entscheidung darüber, wer die notwendigen Auslagen trägt, trifft das Gericht in dem Urteil oder in dem Beschluss, der das Verfahren abschließt. (3) (. . .) 958
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denz bei Häftlingen. Die Kammer äußert sich dennoch über die Tragung von Dolmetscherkosten im Rahmen des Besuchs- und Briefverkehrs und verweist auf fachgerichtliche Rechtsprechung: Insbesondere ein unverhältnismäßiger Kontrollaufwand des Briefverkehrs könne dem Zweck der Untersuchungshaft zuwiderlaufen961. Daraus leitet sie die Unzulässigkeit der pauschalen Übersetzung des Schriftverkehrs her. Die Hinweispflicht bezüglich der Kostentragung lässt sich weder auf einen Senatsmaßstab noch auf fachgerichtliche Rechtsprechung zurückführen. Insgesamt fehlt es an Maßstäben, die die vorliegende Kammerentscheidung tragen. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. ee) BVerfGK 7, 269 Die Beschwerdeführerinnen, die beide an einer Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit) leiden, begehrten im Wege des einstweiligen Rechtschutzes vor dem Verwaltungsgericht die Träger der Kinder- und Jugendhilfe zu verpflichten, sie vorläufig für das Kindergartenjahr 2005/2006 in die Integrationsgruppe des örtlichen Kindergartens aufzunehmen sowie die Kosten zu tragen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab, da die Kinder, als wesentlich behindert und leistungsberechtigt im Sinn des § 53 Abs. 1 SGB XII962, nach § 12 Abs. 2 des Niedersächsischen Kindertagesstättengesetzes963 Anspruch auf einen Platz in einer teilstationären Einrich961
BVerfGK 2, 36, 42. § 53 Abs. 1 SGB XII lautet: (1) Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. § 2 Abs. 1 SGB IX lautet: (1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. 963 § 12 Abs. 1 und 2 Kindertagesstättengesetz Niedersachsen lauten: (1) Jedes Kind hat nach Maßgabe des § 24 des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII) einen Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Der Anspruch richtet sich auf einen Platz in einer Vormittagsgruppe eines Kindergartens oder einer dem Kindergarten entsprechenden Kleinen Kindertagesstätte. Der Anspruch ist gegenüber dem örtlichen Träger geltend zu machen, in dessen Gebiet sich das Kind nach Maßgabe des § 86 SGB VIII gewöhnlich aufhält. Er ist möglichst ortsnah zu erfüllen. Der Anspruch richtet sich nicht auf eine bestimmte Grundrichtung der Erziehung. 962
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tung hätten964. Der Anspruch könne durch einen Platz in einem Sonderkindergarten erfüllt werden, wenn in einem Regelkindergarten mit einer integrativen Gruppe, der auch eine teilstationäre Einrichtung sei, kein Platz mehr sei, was hier zutreffe. Das Oberverwaltungsgericht wies die Beschwerde zurück, weil die Beschwerdeführerinnen sich mit ihrem bisherigen Vorbringen in Widerspruch setzten, indem sie selbst von ihrer Hilfsbedürftigkeit nach § 12 Abs. 1 Kindertagesstättengesetz ausgingen und nun mit ihrem Antrag primär die Aufnahme in einen Regelkindergarten begehrten965. Die zuständige Kammer nahm die auf eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Sie verwendete folgende Senatsmaßstäbe: „Mit Rücksicht darauf ist der Staat nach Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG grundsätzlich gehalten, für behinderte Kinder und Jugendliche schulische Einrichtungen bereitzuhalten, die auch ihnen eine sachgerechte schulische Erziehung, Bildung und Ausbildung ermöglichen. Art und Intensität der Behinderung sowie den Anforderungen der Schulart und Unterrichtsstufe ist dabei unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes der pädagogisch-wissenschaftlichen Erkenntnis Rechnung zu tragen. Nach dem gegenwärtigen pädagogischen Erkenntnisstand ließe sich ein genereller Ausschluss der Möglichkeit einer gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von behinderten Schülern mit nichtbehinderten derzeit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.“966 „Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass nach diesem Konzept die zielgleiche wie die zieldifferente integrative Erziehung und Unterrichtung unter den Vorbehalt des organisatorisch, personell und von den sächlichen Voraussetzungen her Möglichen gestellt ist (. . .).“967
Nach Auffassung der Kammer entsprechen § 12 i. V. m. § 3 Abs. 6 des niedersächsischen Kindertagesstättengesetzes968 den genannten verfassungs(2) Bedürfen Kinder, die wesentlich behindert im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und leistungsberechtigt gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII sind, infolge ihrer Behinderung der Hilfe in einer teilstationären Einrichtung, so haben sie einen Anspruch auf einen Platz in einer solchen Einrichtung. 964 BVerfGK 7, 269. 965 BVerfGK 7, 269 f. 966 BVerfGE 96, 288, 304. 967 BVerfGE 96, 288, 305. 968 § 3 Abs. 6 Kindertagesstättengesetz Niedersachsen lautet: (6) Kinder, die wesentlich behindert im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) und leistungsberechtigt gemäß § 53 Abs. 1 des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs – Sozialhilfe – (SGB XII) sind, sollen nach Möglichkeit in einer ortsnahen Kindertagesstätte (§ 1 Abs. 2 Nrn. 1 und 2) gemeinsam mit nicht behinderten Kindern in einer Gruppe betreut werden. Hierauf wirken das Land, die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (örtliche Träger) und die Gemeinden hin, die die Förderung der Kinder in Tageseinrichtungen nach § 13 des Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (AG KJHG) wahrnehmen.
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rechtlichen Maßstäben. Es liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 1 GG aufgrund der Tatsache vor, dass der Anspruch auf einen Kindergartenplatz nach § 24 SGB VIII969 für behinderte Kinder von vorneherein nur auf eine teilstationäre Einrichtung beschränkt sei. Der Begriff wesentliche Beeinträchtigung sei der verfassungsgemäßen Auslegung zugänglich und könne damit Kindern, deren Behinderung einer Aufnahme in den Regelkindergarten nicht entgegensteht, diesen Zugang ermöglichen, indem die Behinderung als unwesentlich eingestuft werde970. Die Anwendung und Auslegung von § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz verletzte nicht Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die Gerichte hätten das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufnahme der Beschwerdeführerinnen in einen Regelkindergarten verneint, da dort alle Plätze belegt seien und eine wesentliche Behinderung vorliege, die der Aufnahme entgegenstehe. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Schließlich sei das Risiko von Knochenbrüchen in einem heilpädagogischen Kindergarten aufgrund intensiverer Betreuung geringer971. ff) Ergebnis: Die Frage war noch nicht entschieden Die verwendeten Senatsmaßstäbe müssten die Kammerentscheidung tragen. Es handelt sich um einen begründeten Nichtannahmebeschluss. Die Kammer verneinte sowohl die Grundsatzannahme als auch die Durchsetzungsannahme. Letztere, weil die Verfassungsbeschwerde zumindest unbegründet sei. Sie stützt ihre Entscheidung jedoch auf Senatsmaßstäbe, die sich, wie sie selbst angibt, auf die schulische Erziehung und nicht etwa auf Kindergartenplätze beziehen972. Sie überträgt somit die Maßstäbe des Senats vom Bereich schulischer Erziehung auf den Bereich Kindergarten. Dies ist Aufgabe der Senate und nicht der Kammern. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. Selbst wenn man eine Übertragung für zulässig halten würde, bliebe das Ergebnis gleich. Die Kammer verwendet nur zwei Senatsmaßstäbe. Beide eignen sich nicht für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Der erste Maßstab ist eine Aufgabenzuweisung an den Staat, der zweite beinhaltet die Begrenzung dieser Zuweisung. Sowohl der eine als auch der an969 § 24 Abs. 1 SGB VIII lautet: (1) Ein Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass für diese Altersgruppe ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen oder ergänzend Förderung in Kindertagespflege zur Verfügung steht. 970 BVerfGK 7, 269, 272. 971 BVerfGK 7, 269, 274 f. 972 BVerfGK 7, 269, 271 f.
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dere sind inhaltlich nicht konkret genug formuliert, insbesondere, um das von der Kammer gefundene Ergebnis zu tragen. Strukturell betrachtet, handelt es sich um Prinzipien. Eine Richtung für die konkrete Falllösung wird nicht vorgeben, denn aus dem Maßstab lässt sich nur ableiten, dass der Staat auch für die Entwicklung behinderter Kinder und Jugendlicher Sorge zu tragen hat. Es handelt sich zwar um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit sind somit geringer. Jedoch sind die Maßstäbe so weit formuliert, dass sich über sie jedes beliebige Ergebnis rechtfertigen lässt. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war noch nicht entschieden. gg) Bewertende Zusammenfassung Insgesamt sind die weit überwiegend als Prinzipien ausgestalteten Senatsmaßstäbe in diesem Bereich tendenziell nicht geeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Geben die Maßstäbe zu Art. 3 Abs. 2 GG noch detaillierte Hinweise zur Auslegung und Anwendung von § 611a BGB, werden sie bei Art. 3 Abs. 3 GG wesentlich abstrakter und unbestimmter. Hier ist jedoch zwischen der Ebene des Schutzbereichs und der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs zu differenzieren. Maßstäbe, die sich inhaltlich zum Schutzbereich äußern, sind bestimmt. So etwa der Maßstab, nach dem das Geschlecht, wie alle in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale, nicht Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung sein können, auch wenn die Regelung nicht auf eine Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern andere Ziele verfolgt. Auf Rechtfertigungsebene tritt die Abstraktheit und Unbestimmtheit der Maßstäbe zu Tage, wie anhand der vorgestellten Beschlüsse bereits erläutert. hh) Inhaltliche Tendenzen Inhaltlich bleibt festzuhalten, dass die Kammern sich streng an die Rechtsprechung des Ersten Senats halten und die besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 3 GG als relative Differenzierungsverbote interpretieren, die durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden können973.
973 In BVerfGK 2, 36, 39 ff., nimmt die Kammer im Rahmen der verwendeten Senatsmaßstäbe ausdrücklich Bezug auf BVerfGE 85, 191, 206; 97, 35, 43. In diesen Entscheidungen schloss sich der Erste Senat der Auslegung an, die die Differenzierungsverbote als relativ interpretiert. Ebenso wird auf BVerfGE 92, 91, 109, verwiesen, wonach Beschränkungen durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich sind.
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Hintergrund ist ein dogmatischer Streit über die Auslegung der Differenzierungsverbote, der sich an der Interpretation des Tatbestandsmerkmals „wegen“ festmachen lässt. Einerseits werden die in Art. 3 Abs. 3 GG aufgezählten Merkmale als absolute Anknüpfungsverbote verstanden, mit denen unmittelbar keine Ungleichbehandlung gerechtfertigt bzw. begründet werden kann. Sie wirken absolut und können nicht durchbrochen werden974. Andererseits führt diese Auslegung zu einem engen Anwendungsbereich der Differenzierungsverbote. Um diese Konsequenz zu verhindern, werden sie als relative Anknüpfungsverbote für Differenzierungen interpretiert. Relativ in dem Sinn, dass nicht nur die unmittelbare Anknüpfung an die Differenzierungsverbote erfasst wird, sondern auch faktische oder mittelbare Diskriminierungen975. Dieses Verständnis vergrößert zwar den Anwendungsbereich, muss aber im Gegenzug Durchbrechungen zulassen. Eine Einschränkung soll durch die verfassungsimmanenten Schranken in Frage kommen976. Im Zusammenhang mit der Wirkungsweise der Differenzierungsverbote – absolut oder relativ – werden die Begrifflichkeiten Kausalität und Finalität verwendet. Kausalität bedeutet in diesem Kontext, dass ein Merkmal des Art. 3 Abs. 3 GG nicht unmittelbar Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Regelung sein darf bzw. muss, wobei nicht jedes Kausalitätsverhältnis ausgeschlossen ist977. Demgegenüber hat eine Regelung finalen Charakter, wenn es gerade ihr Zweck ist, nach einer der Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG zu differenzieren978. In dem Stattgabebeschluss979 zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen der Übersetzungskosten für die Briefkontrolle ging die Kammer von einem relativen Differenzierungsverbot aus. Die Fachgerichte hatten die Abwälzung 974
Sachs, in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 182 Rn. 73 ff. Michael/Morlok, GR, Rn. 809; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 255; ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 119, der von indirekten Ungleichbehandlungen spricht. 976 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 254; für die Auslegung als relative Differenzierungsverbote in dem genannten Sinn wohl auch Volkmann, StaatsR II, 6. Kap. § 19 Rn. 72. 977 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 379; Manssen, StaatsR II, Rn. 817 f.; Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3 Rn. 138 f., verstehen das Kausalitätserfordernis in dem Sinn, dass der Kausalzusammenhang zwischen einer Person, die unter die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG falle und der daraus folgenden latenten Determination unterbrochen werden müsse. Michael/Morlok, GR, Rn. 815, gehen im Zusammenhang mit der Kausalität von einer zweistufigen Prüfung aus. Während auf der ersten Stufe zu untersuchen sei, ob der Staat direkt oder indirekt an eines der Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG anknüpfe, komme es auf der zweiten Stufe darauf an, ob diese Ungleichbehandlung ausnahmsweise zu rechtfertigen sei. 978 Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 121. 979 BVerfGK 2, 36 ff. 975
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der Übersetzungskosten auf § 464 StPO980 gestützt. Diese Norm differenziert aber nicht unmittelbar nach einem der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale, genauer gesagt der Sprache. Davon geht ebenso die Kammer aus, sie sieht aber die Abwälzung und damit die Differenzierung als unmittelbare Folge der mangelnden Sprachkenntnisse an981. Somit erkennt sie neben unmittelbaren auch faktische oder mittelbare Diskriminierungen an. Anders stellt sich die Situation bei dem Nichtannahmebeschluss982 zu Art. 3 Abs. 3 GG in Bezug auf den Anspruch auf den Kindergartenplatz dar. Die fallentscheidende Norm des § 12 Abs. 2 Kindertagesstättengesetz983 knüpft zwar unmittelbar an das Merkmal der Behinderung an, verbindet damit jedoch keine Nachteile, sondern gewährt einen Vorteil, nämlich den Anspruch auf Zugang zu einer teilstationären Einrichtung984. Es fehlt damit bereits an einer Diskriminierung. In diesem Bereich werden keine eigenen Akzente durch die Kammern gesetzt.
IX. Bewertende Zusammenfassung zur Entscheidungspraxis Im Folgenden geht es darum, die in den einzelnen Bereichen festgestellten Ergebnisse zueinander in Relation zu setzten. Der Fokus liegt dabei auf den Ergebnissen, die im Zusammenhang mit dem Tatbestandsmerkmal der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage gefunden wurden. 1. Die Tatbestandsmerkmale des Angezeigtseins und der offensichtlichen Begründetheit Eine Überprüfung des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit war nicht möglich, da sich in keinem Kammerbeschluss nähere Ausführungen hierzu befanden. In jedem der sieben Bereiche finden sich vereinzelt Kammerbeschlüsse, die das Tatbestandsmerkmal angezeigt erläutern. Teilweise wird das Vorliegen schlicht festgestellt. So geschehen beim Merkmal des besonders schweren Nachteils im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Teilweise findet eine argumentative Einordnung statt. Etwa beim Merkmal besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 GG. 980
Siehe Teil D., Fn. 960. BVerfGK 2, 36, 40. 982 BVerfGK 7, 269 ff. 983 Siehe Teil D., Fn. 963. 984 So auch BVerfGK 7, 269, 273. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbiete Benachteiligungen, die an eine Behinderung anknüpfen. Bevorzugungen mit dem Ziel der Angleichung der Verhältnisse von Nichtbehinderten und Behinderten seien erlaubt. 981
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Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals angezeigt deckte sich in der Regel mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung.
2. Die bereits entschiedene maßgebliche verfassungsrechtliche Frage Die Untersuchung zur praktischen Handhabung des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage bildet den Schwerpunkt. Hier ist von besonderem Interesse, ob die Kammer überhaupt Senatsmaßstäbe verwendet, ob diese die konkrete Entscheidung tragen, ob es Bereiche gibt, in denen das Netz der Maßstäbe enger oder weiter ist. Um die Darstellung zu strukturieren, werden die Ergebnisse im Zusammenhang mit den jeweiligen Grundrechten erläutert.
a) Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht Die verwendeten Senatsmaßstäbe zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht im Spannungsverhältnis zu Art. 5 Abs. 1 GG sind tendenziell nicht geeignet, die Kammerentscheidungen zu tragen. Es fehlen insbesondere Kriterien für die Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Meinungsfreiheit. Jedenfalls werden sie von den Kammern nicht angeführt. Die Kammern nutzen diesen Freiraum, um in diesem Bereich eigene Akzente zu setzen. Einige Kammerentscheidungen drehten sich inhaltlich um das Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs. Im Hinblick auf die Frage, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die konkrete Kammerentscheidung inhaltlich tragen, zeigt sich ein tendenziell ambivalentes Bild. Zwar vermögen die Maßstäbe bei Anwendung der Mahrenholzschen Formel die weit überwiegende Mehrheit der vorgestellten Kammerentscheidungen nicht zu tragen. Diese Feststellung wird durch die Neigung der Kammern bestätigt, die Lücken zwischen den Senatsmaßstäben und der konkreten Kammerentscheidung durch Maßstäbe aus anderen Kammerbeschlüssen zu füllen. Als Prinzipien können die Senatsmaßstäbe jedoch in einigen Fällen eine Richtung für die Falllösung vorgeben und so zu einer Kompensation beitragen. Für Ausgleich sorgt auch die Tatsache, dass es sich inhaltlich um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung handelte. So waren nämlich die Anforderungen an die Bestimmtheit der Maßstäbe geringer.
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Die Kammern steigen, obwohl sie auf den eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts verweisen und das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein normgeprägtes Grundrecht ist, sehr tief in die einfachrechtliche Prüfung des Strafvollzugsgesetzes ein. Sie geraten daher tendenziell in die Rolle einer Superrevisionsinstanz. Ursache ist u. a. das Fehlen einer einheitlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung, da der Bundesgerichtshof aufgrund der prozessrechtlichen Ausgestaltung nicht angerufen werden kann. Für den Gefangenen ist die beschriebene Neigung der Kammern durchaus positiv. Das sehr tiefe Eindringen in das einfache Recht ist wiederum der Tatsache geschuldet, dass es bei den von den Kammern zu entscheidenden Fällen inhaltlich um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragen am Maßstab der Verfassung geht. b) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind tendenziell nicht geeignet, die Kammerentscheidungen inhaltlich zu tragen. Während die Maßstäbe den Umfang des Schutzbereichs noch ausreichend zu beschreiben vermögen, fehlen hinreichende Leitlinien für die Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten, insbesondere, was in die Abwägung einzustellen ist und was die Gewichtung anbelangt. Die Senatsmaßstäbe, die strukturell betrachtet Prinzipien sind, überwiegen bei weitem. c) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Die Kammer greift sowohl die verfassungsrechtlichen Maßstäbe als auch die abstrakten Zwischenschritte aus einer fast identischen Senatsentscheidung auf, um ihren Fall zu entscheiden. Nach der von Mahrenholz entwickelten Formel kommt man bei dieser Konstellation zum Ergebnis, dass die zitierten verfassungsrechtlichen Maßstäbe aufgrund der vorhandenen Zwischenschritte des Senats eine Kammerentscheidung tragen. Zum gleichen Ergebnis kommt man bei der Anwendung der beiden anderen Bewertungskriterien. d) Freiheit der Person Die Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich lückenhaft. Aufgrund ihrer hohen Abstraktionsebene sind sie schwer geeignet, eine direkte Subsumtion im Sinne der Mahrenholzschen Formel zuzulassen. Strukturell gesehen, halten sich bei den Senatsmaßstäben Prinzipien und Regeln fast die Waage. Inhaltlich geht es um originär verfassungsrechtliche Fragen, wie
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die Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsanspruch des Staates und dem Freiheitsanspruch des Bürgers sowie Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot in Strafsachen. Der in allen Entscheidungen relevante Senatsmaßstab, der sich zu der Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsanspruch des Staates und dem Freiheitsanspruch des Bürgers äußert, erweist sich nach allen Bewertungskriterien als ungeeignet, die Kammerentscheidungen inhaltlich zu tragen. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage war folglich noch nicht entschieden. Dennoch entscheiden die Kammern und ergänzen den Maßstab um Abwägungskriterien. So greifen die Kammern zur Überprüfung der fachgerichtlichen Abwägung auf die Abwägungsfehlerlehre zurück, die aus der Bauleitplanung bekannt ist. Wann ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Strafsachen vorliegt, ist abstrakt schwer zu beantworten. Mangels verfassungsrechtlicher Vorgaben der Senate verwenden die Kammern fachgerichtliche Rechtsprechung, um die Lücke zu schließen. Im Ergebnis läuft es auf eine Prüfung des Einzelfalls hinaus. Die Kammern prägen in diesem Bereich die verfassungsrechtliche Rechtsprechung maßgeblich. e) Unverletzlichkeit der Wohnung Der Zweite Senat hat in einer Entscheidung explizit die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug nach Art. 13 Abs. 2 GG geklärt. Aufgrund der sehr ausdifferenzierten Senatsrechtsprechung existieren inhaltlich detaillierte Maßstäbe, was sich wiederum auf das Vorliegen der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage im Sinn des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auswirkt. Denn es gibt in diesem Bereich keine inhaltlichen Untiefen. Es darf allerdings nicht verkannt werden, dass es sich zum einen um eine sehr eingegrenzte Fragestellung handelt. Zum anderen ähneln sich die Sachverhalte in diesem Bereich, da es fast immer um Durchsuchungen nach §§ 102, 103 StPO geht. f) Elternrecht Für den Bereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG lässt sich festhalten, dass es einerseits inhaltlich konkret formulierte Senatsmaßstäbe gibt, insbesondere solche, die sich zu einer Rechtsfrage verhalten. Sie erfüllen die Kriterien der Mahrenholzschen Formel. Auf der anderen Seite muss konstatiert werden, dass viele Maßstäbe eher abstrakt gehalten sind und eine direkte Subsumtion schwer zulassen. Es handelt sich häufig um inhaltliche Beschreibungen des Elternrechts oder Aufgabenzuweisungen an den Staat, die aber bei der konkreten Entscheidung nicht weiterhelfen. Die über-
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wiegende Mehrzahl der Senatsmaßstäbe sind als Prinzipien einzustufen, die eine Richtung für die Falllösung vorzugeben vermögen. Hinzu kommt, dass es häufig um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung geht und die Anforderungen in die inhaltliche Bestimmtheit geringer sind. Die zu Art. 6 Abs. 2 GG verwendeten Senatsmaßstäbe reichen tendenziell aus, um die Entscheidungskompetenz der Kammern nach § 93c Abs. 1 Satz 1 GG in den vorgestellten Beschlüssen zu begründen. g) Religionsfreiheit Während die Senatsmaßstäbe, die sich mit dem Schutzbereich der Religionsfreiheit beschäftigen, ohne weiteres für die direkte Subsumtion nach der Formel von Mahrenholz geeignet sind, trifft dies nicht für die fallentscheidende Frage der Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und dem staatlichen Erziehungsauftrag zu. Indiziell dafür ist auch die Tatsache, dass die Kammern im Rahmen ihrer Maßstäbe nicht auf Senatsmaßstäbe, sondern auf andere Kammerentscheidungen zurückgreifen. Bei den von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäben handelt es sich, von ihrem Aufbau her betrachtet, weit überwiegend um Prinzipien. Eine Richtung für die Falllösung vermögen sie vereinzelt vorzugeben. Die Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und dem staatlichen Erziehungsauftrag ist eine originär verfassungsrechtliche Frage. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe sind somit nicht geringer. In diesem Bereich sind die Senatsmaßstäbe tendenziell ungeeignet, die Kammerentscheidungen inhaltlich zu tragen. Die Kammern nutzen die sich bietenden Freiräume für eigene Akzente. h) Wissenschaftsfreiheit In diesem Bereich sind die Senatsmaßstäbe im Wesentlichen konkret formuliert. Sie eigenen sich daher für eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Annahme der direkten Subsumierbarkeit wird im Grundsatz durch die Kammerentscheidungen selbst untermauert. Die Kammern greifen in der Regel nicht auf Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen zurück, um bestehende Lücken in den Senatsmaßstäben zu schließen985. Ferner ist festzustellen, dass die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, von ihrem Aufbau her betrachtet, ausnahmslos Prinzipien sind. Sie müssen für den zu entscheidenden Fall lediglich eine Richtung vorgeben. Diese Auf985
Eine Ausnahme bildet BVerfGK 12, 440.
IX. Bewertende Zusammenfassung zur Entscheidungspraxis
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gabe erfüllen die Maßstäbe. In den Kammerbeschlüssen geht es zudem überwiegend um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragen am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit der Senatsmaßstäbe sind geringer. Vor diesem Hintergrund sind die Senatsmaßstäbe tendenziell geeignet, die Kammerentscheidungen zu tragen. i) Versammlungsfreiheit Dieser Bereich zeichnet sich durch ein quantitativ und qualitativ dichtes Netz von Senatsmaßstäben aus. Eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel ist aufgrund der inhaltlich konkreten Formulierungen überwiegend möglich. Es finden sich Definitionen zur Versammlung, zur Unfriedlichkeit und zur öffentlichen Ordnung. Ferner existieren detaillierte Angaben darüber, was beispielsweise das versammlungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht umfasst, wie die Anmeldepflicht aus § 14 VersG bei Spontanversammlungen zu handhaben ist oder wann eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinn des § 15 Abs. 1 VersG anzunehmen ist. Dennoch zeigt sich auch in diesem Bereich die verbreitete Neigung der Kammern, Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen zu verwenden. Hier ist sie aber Ausdruck für die ausgeprägte Kasuistik, die Hand in Hand mit einer starken Durchdringung der dogmatischen Strukturen geht. Dies ist ebenfalls darauf zurückzuführen, dass für die versammlungsrechtlichen Fälle fast ausschließlich die 1. Kammer des Ersten Senats zuständig ist. Die Kammer knüpft bei ihren Entscheidungen an ihre Rechtsprechung in zeitlich vorangegangenen Entscheidungen an, entwickelt sie weiter und verweist natürlich auf sie. Die überwiegende Mehrheit der verwendeten Senatsmaßstäbe weist kein Konditionalschema auf und entspricht einem Prinzip. Eine Richtung für die Falllösung vermögen sie in der Regel vorzugeben. Die Senatsmaßstäbe sind tendenziell geeignet, die Kammerentscheidungen im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen verfassungsrechtlichen Frage zu tragen. Vor diesem Hintergrund haben die Kammern keine Möglichkeit, eigene inhaltliche Akzente gegenüber den Senaten zu setzen. Die Kammern geraten auch in diesem Bereich in die Rolle einer Superrevisionsinstanz, da das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der prozessrechtlichen Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes nicht angerufen werden kann. Zudem wird stellenweise eine sehr vertiefte Prüfung einfachrechtlicher Fragestellungen durchgeführt.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
j) Meinungsfreiheit Die Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich inhaltlich konkret genug formuliert, um die Kammerentscheidungen zu tragen. Es lassen sich Maßstäbe finden, die sich detailliert zur Behandlung von Tatsachenbehauptungen äußern, zum Vorliegen einer Schmähkritik oder zur Rolle der Meinungsfreiheit bei der Auslegung der §§ 185 ff. StGB. Der Maßstab, der sich mit der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre beschäftigt, enthält auch Abwägungskriterien. Das Netz der Senatsmaßstäbe ist in diesem Bereich quantitativ und qualitativ eng geknüpft. Die weit überwiegende Anzahl der verwendeten Senatsmaßstäbe enthält kein Konditionalschema und ist als Prinzip einzustufen. Diese müssen nur eine Richtung für die Falllösung vorgeben und erfüllen diese Maßgabe auch. Es lässt sich hier insgesamt eine Parallele zu den Maßstäben zum Versammlungsrecht ziehen. Die Kammern steigen teilweise sehr tief in die Prüfung einfachrechtlicher Fragen ein, obwohl die Meinungsfreiheit kein normgeprägtes Grundrecht ist und die Anrufung des Bundesgerichtshofs aufgrund der Verfahrensausgestaltung möglich ist. k) Der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt Die Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich tendenziell geeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Sie sind überwiegend konkret formuliert, sodass eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel möglich ist. Dies gilt insbesondere für den Maßstab, der sich zum Grundsatz des sofortigen Vollzugs im Strafverfahren bzw. Strafvollzug äußert. Ebenso in diese Kategorie fällt der Maßstab zum Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses. Regeln und Prinzipien halten sich annähernd die Waage. Die Prinzipien vermögen eine Richtung für den Fall vorzugeben. Inhaltlich ging es in der Regel um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragen am Maßstab der Verfassung. l) Der allgemeine Justizgewährungsanspruch Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich zwar nicht geeignet, eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Formel von Mahrenholz zuzulassen. Strukturell betrachtet, handelt es sich aber in der Regel um Prinzipien, die eine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorgeben können. Zusätzlich ist in Rechnung zu stellen, dass es sich inhaltlich um die Überprüfung von einfachrechtlichen Fragen am Maßstab der Verfassung handelt und somit die Anforderungen an die Bestimmtheit der
IX. Bewertende Zusammenfassung zur Entscheidungspraxis
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Maßstäbe geringer sind. Die Senatsmaßstäbe sind im Ergebnis tendenziell geeignet, die Kammerentscheidungen zu tragen. m) Der Anspruch auf rechtliches Gehör Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe sind, etwa im Vergleich zu Bereichen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, inhaltlich sehr konkret formuliert. Hand in Hand mit konkret formulierten Maßstäben geht die Möglichkeit der Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte im Sinn der Mahrenholzschen Formel. Eine Ursache für die konkret formulierten Maßstäbe liegt in der Tatsache begründet, dass gerade die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Gegenstand der meisten Verfassungsbeschwerden ist. Eine weitere Ursache stellt die Normgeprägtheit des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Gibt es zwar einen verfassungsrechtlichen Gehalt dessen, was den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG ausmacht, ist dieser doch stark von der Ausgestaltung des einfachrechtlichen Gesetzgebers abhängig. Dies wirkt sich ebenfalls auf die Senatsmaßstäbe aus, die sehr tief in das einfache Recht eindringen. Des Weiteren handelt es sich bei den Maßstäben weit überwiegend um Prinzipien. Eine Richtung für die Falllösung vermögen sie aufzuzeigen. In den zu entscheidenden Verfassungsbeschwerden ging es in der Regel inhaltlich um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung mit der Konsequenz, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit geringer waren. Die Senatsmaßstäbe tragen in diesem Bereich die Kammerentscheidungen im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage. n) Die Berufsfreiheit Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich tendenziell ungeeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Zum einen sind sie zu abstrakt. Zum anderen ist die mangelnde Eignung der Senatsmaßstäbe darauf zurückzuführen, dass der Bereich sehr stark einfachrechtlich reglementiert ist. Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe enthalten zu einfachrechtlichen Detailfragen überwiegend keine Aussagen. Den Kammern bleibt keine andere Wahl, als die Lücke zwischen ihnen und dem konkret zu entscheidenden Sachverhalt selbst zu schließen. Vor diesem Hintergrund vermögen die Senatsmaßstäbe, die aufbautechnisch als Prinzipien einzustufen sind, in der Regel auch keine Richtung für die Falllösung vorzugeben. Inhaltlich geht es um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung. Die Anforderungen an die Bestimmtheit sind zwar geringer, dennoch ändert dies am jeweils gefundenen Ergebnis nichts.
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D. Die Entscheidungspraxis der Kammern im Annahmeverfahren
o) Der Schutz des Eigentums In diesem Bereich gibt es kein eindeutiges Ergebnis im Hinblick auf die Frage, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Kammerentscheidungen tragen. Die Maßstäbe sind nur teilweise geeignet, eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel zuzulassen, wobei die Maßstäbe, die sich mit ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen befassen, eine Ausnahme bilden. Ursächlich für diesen Eindruck ist die Tatsache, dass die Maßstäbe inhaltlich zu allgemein oder abstrakt sind. Zu nennen wäre etwa der Maßstab, der sich zum Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts äußert, oder der Maßstab, der sich mit den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 und 2 GG an die Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften befasst. Schließlich ist eine starke einfachrechtliche Reglementierung zu beobachten, die zur Konsequenz hat, dass sich die Kammern vertiefter mit einfachrechtlichen Fragen befassen müssen. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass die Senatsmaßstäbe, die abstrakter gehalten sind, die Entscheidung nicht ohne Zwischenschritte tragen können. Ähnlich ambivalent ist das Ergebnis, wenn man untersucht, ob die Senatsmaßstäbe als Prinzipien geeignet sind, eine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorzugeben. p) Die Grundrechte der Beamten Die verwendeten Senatsmaßstäbe sind überwiegend nicht geeignet, die Kammerbeschlüsse im Rahmen der Konkurrentenstreitverfahren inhaltlich zu tragen. Bei Anwendung der Formel von Mahrenholz kommt man zum Ergebnis, dass eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nicht möglich ist. Gestützt wird dieses Ergebnis durch den Umstand, dass die Kammern vielfach auf Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen oder die fachgerichtliche Rechtsprechung zurückgreifen, um die Lücke zu schließen. Zwar sind die Maßstäbe überwiegend als Prinzipien einzuordnen, sie vermögen aber dennoch keine Richtung für den zu entscheidenden Fall vorzugeben. Ursächlich hierfür ist auch die Tatsache, dass es inhaltlich teilweise um originär verfassungsrechtliche Fragestellungen geht und die Anforderungen an die inhaltliche Bestimmtheit somit erhöht waren. Es existiert sogar ein Beschluss, in dem keine Senatsmaßstäbe in Bezug genommen werden, sondern nur Maßstäbe aus anderen Kammerentscheidungen verwendet werden986. Im Gegensatz dazu sind die Maßstäbe, die sich mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn beschäftigen, inhaltlich konkret genug, um eine Entscheidung tragen zu können. 986
Siehe die Ausführungen unter D. VII. 2. c) ee).
IX. Bewertende Zusammenfassung zur Entscheidungspraxis
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Es zeigt sich wiederum die Tendenz, dass die Kammern des Bundesverfassungsgerichts in dem Fall, in dem aufgrund der prozessrechtlichen Gestaltung die Bundesgerichte nicht angerufen werden können, für eine Rechtsvereinheitlichung sorgen. Sie schlüpfen in die Rolle einer Superrevisionsinstanz. q) Der allgemeine Gleichheitssatz Im Hinblick auf die Frage, ob die verwendeten Senatsmaßstäbe die Kammerentscheidung tragen, ist in diesem Bereich zu differenzieren. Die Maßstäbe, die die Problematik der Prozesskostenhilfe behandeln, sind inhaltlich konkret formuliert. Das gilt insbesondere für den Maßstab, der sich zur Frage der überspannten Anforderungen an die Erfolgsaussichten detailliert äußert. Er erlaubt eine Subsumtion ohne abstrakte Zwischenschritte nach der Mahrenholzschen Formel. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien tritt in diesem Bereich etwas in den Hintergrund, da die Senatsmaßstäbe überwiegend als Regeln einzustufen sind. Für die Frage der Subsumierbarkeit ist jedoch die Formel von Mahrenholz vorrangig. Es handelt sich bei der Problematik der Prozesskostenhilfe um eine recht begrenzte Fragestellung, etwa vergleichbar mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug in Art. 13 Abs. 2 GG. Insgesamt vermögen die Maßstäbe die Kammerentscheidungen zu tragen, die sich inhaltlich mit der Prozesskostenhilfe befassen. Im Ergebnis gilt diese Feststellung auch für den Senatsmaßstab zur Willkürprüfung. Sehr vertieft mit einfachrechtlichen Fragestellungen befasst sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung über Verfassungsbeschwerden, in denen es inhaltlich um die Ablehnung von Prozesskostenhilfe geht. Dies hängt damit zusammen, dass das Gericht in seiner eigenen Rechtsprechung die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Wesentlichen von den hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtverfolgungoder Verteidigung abhängig macht und die Prozessordnungen sich daran orientieren. Die Kammern müssen sich somit zu den Erfolgsaussichten in den Beschlüssen äußern. r) Die besonderen Gleichheitssätze und Differenzierungsverbote Die Senatsmaßstäbe sind in diesem Bereich tendenziell nicht geeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Während die Maßstäbe zu Art. 3 Abs. 2 GG noch detaillierte Hinweise zur Auslegung und Anwendung von § 611a BGB geben, werden sie bei Art. 3 Abs. 3 GG wesentlich abstrakter. Hier ist jedoch zwischen der Ebene des Schutzbereichs und der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs zu differenzieren. Nur die Maßstäbe, die sich inhaltlich zum Schutzbereich äußern, sind konkret.
E. Die Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes „Ein anderes Thema erscheint mir indes wichtig und dringlich, es ist in die Zukunft gerichtet: die Überlastung des BVerfG. So, wie sich die Arbeitssituation des Gerichts derzeit und in absehbarer Zukunft darstellt, kann es nicht weitergehen. Nicht erst in der Ferne droht dem Gericht ein Kollaps von innen her, er steht vielmehr im Sinne einer unmittelbar drohenden Gefahr konkret bevor.“1
Im vierten Teil der Arbeit geht es darum, die jahrzehntelangen Bemühungen zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt jedoch auf der Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Die im Rahmen dieser Diskussion erörterten Vorschläge bilden zusammen mit den Untersuchungsergebnissen im dritten Teil (D.) der Arbeit die Grundlage eines weiteren Verbesserungsvorschlags. Die Diskussion über die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts ist so alt wie das Gericht selbst. Im Fokus der Betrachtung standen dabei schon immer die Verfassungsbeschwerde und das jeweilige Annahmeverfahren. Das ist nicht verwunderlich, denn fast 97% der vom Gericht zu bearbeitenden Verfahren haben Verfassungsbeschwerden zum Gegenstand2. Die Kenntnis der Diskussion im Allgemeinen und nach der letzten Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes3 im Besonderen dient dem Verständnis der Ausgestaltung des aktuellen Annahmeverfahrens. Die Entlastungsdiskussion ist ein klassisches „U-Boot-Thema“, sie taucht auf, insbesondere im Vorfeld einer Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes oder eines sprunghaften Anstiegs der Verfassungsbeschwerdeeingänge, verschwindet dann für einige Zeit aus der Wahrnehmung, um dann erneut wieder aufzutauchen. Schon kurz nach der einfachgesetzlichen Einführung der Verfassungsbeschwerde im Jahr 1951 ließ sich dieser Mechanismus beobachten. Im Schrifttum wurde die Frage gestellt, ob die Verfassungsbeschwerde nicht ein Einfallstor für querulatorische Veranlagung sei, für die in Deutschland vielleicht mehr Anfälligkeit bestehe als anderswo4. Denn seit das Bundes1 So Böckenförde in seiner Abschiedsrede als Richter des Bundesverfassungsgerichts am 15.05.1996, Böckenförde, ZRP 1996, 281, 282. 2 Siehe die Ausführungen unter A. I. 3 Siehe das fünfte Gesetz Änderungsgesetz zum BVerfGG vom 02.08.1993 (BGBl. I, S. 1442 ff.).
E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
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verfassungsgericht seine Arbeit am 07.09.1951 begonnen hatte, waren bis zum 01.05.1952 bereits 791 Verfassungsbeschwerden erhoben worden5. 1980 wurde erneut über Entlastungsmöglichkeiten nachgedacht. Die Zahl der Eingänge bei Gericht war seit 1975 sprunghaft angestiegen. Von 1979 bis 1981 wurden 3000 Verfahren anhängig, im Jahr 1982 gingen 3586 Sachen ein, darunter 3508 Verfassungsbeschwerden6. Inhaltlich ging es bei den Vorschlägen um die Einführung eines Anwaltszwangs, eines Gerichtskostenzwangs, einer Anhörungsrüge, die Wiederbelebung der mündlichen Verhandlung im Verfassungsbeschwerdeverfahren und die Aufstockung der wissenschaftlichen Mitarbeiter7. Mitursächlich für den erneuten Beginn der Diskussion war sicherlich die Abschiedsrede von Böckenförde als Richter des Bundesverfassungsgerichts am 15.05.1996. Wie das Eingangszitat belegt, beklagte er die enorme Arbeitsbelastung der Richter angesichts der ständig gestiegenen Anzahl von Verfassungsbeschwerden. Er rechnete modellhaft vor, dass jeder Richter am Tag 47,5 Kammerfälle zu bearbeiten habe, was aus seiner Sicht natürlich barer Unsinn sei8. Er kritisierte zwar die aktuelle Situation, nahm sie aber zum Anlass, einen Vorschlag zur Verbesserung zu machen. Wirksame Abhilfe sei nicht mehr durch eine Detailmaßnahme zu erlangen, sondern nur noch durch eine grundlegende Reform des Annahmeverfahrens hin zu einem freien Verfahren nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court9. Böckenförde war sich der Tatsache bewusst, dass die Verwirklichung eines solchen Verfahrens mit dem Zurücktreten des individualschützenden Charakters der Verfassungsbeschwerde hinter ihre objektive Funktion erkauft werden müsste10. In der Folgezeit wurde eine lebhafte Debatte über die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts und die richtige Ausgestaltung des Annahmeverfahrens bei Verfassungsbeschwerden geführt. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Annahmeverfahrens11 wurde bereits das Spektrum der Möglichkeiten zur Ausgestaltung dieses Verfahrens aufgezeigt, wobei dort die verfassungsrechtlichen Bezüge im Vordergrund standen. Im Folgenden geht es um die Ausgestaltung des 4
Zweigert, JZ 1952, 321. Ebd. 6 Faller, in: Festschrift für Benda, S. 43. 7 Benda, NJW 1980, 2097, 2101 ff.; siehe hierzu auch Faller, in: Festschrift für Benda, S. 61. 8 Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 282. 9 Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 283, schlug folgende gesetzliche Regelung vor: Der Senat nimmt eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, wenn mindestens drei Richter der Auffassung sind, dass die Entscheidung für den Grundrechtsschutz von (besonderer) Bedeutung ist. Kommt eine solche Übereinstimmung nicht zustande, ist die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen. 10 Ebd. 11 Siehe die Ausführungen unter B. II. 5
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
Annahmeverfahrens speziell unter Entlastungsgesichtspunkten im Bereich der Verfassungsbeschwerden.
I. Entlastungsvorschläge Im Sommer 1996 setzte der damalige Bundesminister der Justiz SchmidtJortzig eine Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts ein12. Die Kommission, die aufgrund ihres Vorsitzenden auch Benda-Kommission genannt wurde, erhielt die Aufgabe, „alle denkbaren Maßnahmen für eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen und effiziente Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Dabei sollten auch tiefgreifendere Entlastungsmaßnahmen des verfassungsgerichtlichen Verfahrens unter Einschluss von Verfassungsänderungen diskutiert werden. (. . .). Im Vordergrund der Bemühungen zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts wird das Verfassungsbeschwerdeverfahren stehen“13. Die Kommission gab im Jahr 1997 vor dem Hintergrund des zitierten Arbeitsauftrags folgende Empfehlungen zur Entlastung des Gerichts im Bereich der Verfassungsbeschwerden14 – nach ihrer Ansicht geht die größte Belastung des Gerichts von den Verfassungsbeschwerden aus, die 97 bis 98% der eingehenden Verfahren ausmachten – ab: Mit zehn zu eins Stimmen schlug sie zur Entlastung die Einführung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen vor15. Dem Ge12 Der Kommission gehörten folgende elf Mitglieder an: Ernst Benda, Präsident des BVerfG a.D., als Vorsitzender, Wolfgang Heyde, Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz, als stellvertretender Vorsitzender, Wolf-Dieter Eckart, Ministerialdirigent im Justizministerium Baden-Württemberg, Rainer Faupel, Staatssekretär im Ministerium der Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Karin Graßhof, Richterin des BVerfG, Dieter Grimm, Richter des BVerfG, Gustav Lichtenberger, Vorsitzender Richter am OLG, Generalsekretär und Richter des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Alfred Rinken, Vizepräsident des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, Ernst-Hasso Ritter, Staatssekretär des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, Kurt Schelter, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und Helmut Steinberger, Richter des BVerfG a.D., siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 13. 13 Bericht der Entlastungskommission, S. 14. 14 Die Kommission erörterte auch Entlastungsmöglichkeiten im Bereich der anderen Verfahrensarten, das heißt der abstrakten Normenkontrolle, des Art. 93 Abs. 2 GG, der Wahlprüfung, der Grundrechtsverwirkung und dem Parteienverbot. Zudem wurden die Freistellung eines durch Großverfahren überlasteten Berichterstatters diskutiert und Überlegungen zum Prüfungsgegenstand und zur Prüfungsintensität angestellt, siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 112 ff. 15 Für die Einführung eines freien Annahmeverfahrens nach dem U.S.-amerikanischen Vorbild Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 283, und Wahl/Wieland, JZ 1996, 1137, 1140 ff., wobei für Letztere das U.S.-amerikanische Modell zwar als Vorbild dienen könne, es aber auf die Besonderheiten in Deutschland angepasst werden müsse. So dürfe der subjektive Rechtsschutz des Bürgers im Rahmen der
I. Entlastungsvorschläge
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richt solle von Verfassungs wegen eine Auswahlkompetenz eingeräumt werden. Bei seiner Auswahlentscheidung solle es sich an der besonderen Bedeutung der Entscheidung des Gerichts für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte orientieren. Die Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde solle beim Senat liegen und die Zuständigkeit der Kammern entfallen. Die Verfassungsbeschwerde sei zur Entscheidung angenommen, wenn drei Richter sich dafür aussprächen. In einem vereinfachten Verfahren sollten Verfassungsbeschwerden herausgefiltert werden, die nicht für eine Annahme in Frage kämen. Diese Filteraufgabe erfolge durch einen Berichterstatter und einen Mitberichterstatter. Wenn sich beide gegen die Annahme aussprächen und kein anderes Senatsmitglied innerhalb einer Frist widerspreche, sei die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen. Der weite Ermessensspielraum solle das Gericht von einer vertieften Prüfung der Erfolgsaussichten entlasten und es in die Lage versetzen, sein Entscheidungsprogramm nach pflichtgemäßem Ermessen selbst zu bestimmen16. Die Kommission schlug folgende gesetzliche Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vor: „§ 93a wird wie folgt gefasst: Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen. Dabei berücksichtigt es, ob seine Entscheidung für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist § 93b wird wie folgt gefasst: (1) Über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde entscheidet der Senat. Eine Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung angenommen, wenn mindestens drei Richter für die Annahme stimmen. (2) Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen, wenn sich der Berichterstatter und der Mitberichterstatter gegen die Annahme aussprechen und kein weiteres Mitglied des Senats diesem Vorschlag binnen einer vom Senat zu bestimmenden Frist widerspricht oder wenn im Senat weniger als drei Richter für die Annahme stimmen. (3) Das Bundesverfassungsgericht unterrichtet den Beschwerdeführer über die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde.“17 Verfassungsbeschwerde nicht vollständig geopfert werden. Er müsse vielmehr so verstanden werden, dass es sich nicht mehr um einen Anspruch des Einzelnen handele, sondern als genereller Auftrag und institutionelle Aufgabe des Gerichts. Der Individualschutz werde dem Grunde nach gewährt, wobei das Gericht selbst zu entscheiden habe, in welchen Fällen dies für die Durchsetzung der Grundrechte erforderlich sei. 16 Bericht der Entlastungskommission, S. 14. Der Kommissionsvorschlag der senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen wird im Bericht der Entlastungskommission ausführlich ab S. 42 erläutert. 17 Bericht der Entlastungskommission, S. 57.
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
Ferner vertrat die Kommission mit neun zu zwei Stimmen die Auffassung, dass zur Einführung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen eine Verfassungsänderung erforderlich ist18. In diesem Zusammenhang machte sie folgenden Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes: „Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b des Grundgesetzes werden aufgehoben. Art. 93 Abs. 2 des Grundgesetzes wird wie folgt gefasst: (1) (. . .) (2) Das BVerfG kann zur Entscheidung annehmen 1. Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein; 2. Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landesgesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann. Dabei berücksichtigt es, ob seine Entscheidung für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist. Der jetzige Absatz 2 des Art. 93 des Grundgesetzes wird Absatz 3. In Art. 94 Abs. 2 des Grundgesetzes werden die Worte ‚(. . .) und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen‘ gestrichen.“19
Die Kommission stellte ferner fest, dass eine erhebliche Anzahl der Verfassungsbeschwerden die Verletzung von Verfahrensgrundrechten, insbesondere Art. 103 Abs. 1 GG, durch die Fachgerichte rügten20. Um die Belastung in diesem Bereich zu reduzieren, wurden die Modelle der modifizierten Anhörungsrüge und der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde diskutiert. Das Modell der modifizierten Anhörungsrüge sah vor, im Bereich der nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen der Fachgerichte Rechtsmittel zur Korrektur verfassungsrechtlich relevanter Verfahrensfehler einzuführen. Zudem sollten die Revisionsvorschriften in der Zivilprozessordnung und dem Arbeitsgerichtsgesetz dergestalt ergänzt werden, dass die Revision bei Verfahrensmängeln grundsätzlich ermöglicht und in der Zivilprozessordnung zusätzlich die Nichtannahmebeschwerde eingeführt wird21. Die Kommission hat sich mit acht zu drei Stimmen gegen dieses Modell ausgesprochen, da es zu einer erheblichen Mehrbelastung der Fachgerichte führe, ohne das 18 Bericht der Entlastungskommission, S. 55 f. Siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. II. 5. 19 Bericht der Entlastungskommission, S. 56. 20 So der Bericht der Entlastungskommission, S. 62 ff. 21 Bericht der Entlastungskommission, S. 16 f. Ausführlich zur Konzeption der modifizierten Anhörungsrüge siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 73 f.
I. Entlastungsvorschläge
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Bundesverfassungsgericht entsprechend zu entlasten22. Hinter dem Modell der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde verbarg sich Folgendes: Die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden, die eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten zum Gegenstand haben, sollte den obersten Landesgerichten und den obersten Gerichtshöfen des Bundes zur im Grundsatz abschließenden Entscheidung übertragen werden23. Die Kommission lehnte diesen Vorschlag mit neun zu zwei Stimmen ab, da er die Verfassungsbeschwerde auf dem Gebiet der Verfahrensgrundrechte materiell beseitige24. Weiterhin sprach sich die Kommission einstimmig gegen eine stärkere Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte bei der Entscheidung über Verfassungsbeschwerden aus25. Sowohl die Auffangzuständigkeit des Bun22
Bericht der Entlastungskommission, S. 17. Ausführlich zur Ablehnung der modifizierten Anhörungsrüge siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 74 ff. Zustimmend Anzenberger, 3. Teil, 2. Kapitel, S. 105, der ebenfalls auf die von der Entlastungskommission angeführte Unvereinbarkeit mit dem in der ZPO geregelten Revisionssystem abstellt. 23 Es handelt sich um den Vorschlag des Kommissionsmitglieds Graßhof, den sie in ihrem Sondervotum ausführlich beschreibt, siehe den Bericht der Kommission, S. 139 ff. 24 Bericht der Entlastungskommission S. 16 f.; ausführlich zur Ablehnung der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 79 ff. Zustimmend Anzenberger, 3. Teil, 2. Kapitel, S. 105 f., der sich der Argumentation der Entlastungskommission anschließt. Für das Modell der Verfahrensgrundrechtsbeschwerde als Lösungsansatz spricht sich hingegen Klein, in: Festgabe für Graßhof, S. 366, 387, aus. 25 Zu den Befugnissen der Landesverfassungsgerichte in diesem Kontext siehe Lemhöfer, NJW 1996, 1714, 1722. Er bildet vier Fallgruppen. Soweit das Landesverfassungsgericht die Anwendung von Landesrecht in einem landesrechtlich geordneten Gerichtsverfahren überprüfe, würden dem keine bundesrechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Soweit das Landesverfassungsgericht die Anwendung von Landesrecht in einem bundesrechtlich geordneten Verfahren überprüfe, bestünden unter dem Gesichtspunkt des länderfreundlichen Verhaltens keine Bedenken. Denn der Bund habe trotz des abschließenden Charakters seiner Prozessordnungen den Ländern die Möglichkeit zur Kontrolle einzuräumen. Soweit das Landesverfassungsgericht die Anwendung von Bundesrecht in einem bundesrechtlich geordneten Verfahren überprüfe, sei dies unzulässig. Denn materiell könne die Landesverfassung keine Gegenstände der Bundesgesetzgebung regeln und ihren allgemeinen Grundsätzen keine Geltung für diese Gegenstände beilegen, sodass dem Landesverfassungsgericht der Prüfungsmaßstab fehle. Zudem seien auch die Prozessordnungen in diesem Bereich abschließend und erlaubten keine Durchbrechung. Soweit das Landesverfassungsgericht die Anwendung von Bundesrecht in einem landesrechtlich geordneten Verfahren prüfe, sei das ebenfalls, aufgrund der mangelnden Geltung der Landesverfassung für Gegenstände der Bundesgesetzgebung, unzulässig. Kritisch zu einer stärkeren Einbindung der Landesverfassungsgerichte Schneider, NJW 1996, 1517 f. Er sieht zunächst das Problem darin, dass nicht alle Länder eine Verfassungsbeschwerde zulassen würden. Ferner muss nach seiner Ansicht eine Subsidiaritätsklausel für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts geschaffen wer-
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
desverfassungsgerichts für den Fall, dass eine Verfassungsbeschwerde zu einem Landesverfassungsgericht nicht möglich ist, („absolute Subsidiarität“) als auch eine Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte in den vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zu erschöpfenden Rechtsweg („relative Subsidiarität“) seien keine geeigneten Maßnahmen. Hauptargumente gegen eine stärkere Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte waren unter anderen die Gefährdung der Homogenität der Verfassungsrechtsprechung, eine Verquickung der Verfassungsräume von Bund und Ländern, strukturelle Defizite der Landesverfassungsgerichte, die für eine solche Aufgabe nicht gerüstet seien26 und die fehlende Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere bei dem Modell der relativen Subsidiarität27. Es wurde jedoch die Streichung von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Variante 3 GG empfohlen, da für die Entscheidung der Streitigkeiten innerhalb eines Landes die Landesverfassungsgerichte zuständig seien28. Erörtert wurden auch Änderungen in der Struktur und Organisation des Bundesverfassungsgerichts selbst. In diesem Zusammenhang ging es um eine Erhöhung der Richterzahl in den Senaten, die Bildung eines Dritten Senats, der als Staatsgerichtshof fungieren sollte, die Erhöhung der Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Einrichtung einer sogenannten Verfassungsanwaltschaft beim Bundesverfassungsgericht. Die Kommission befürwortete keine der genannten Maßnahmen29. den. Das Hauptproblem sieht er darin, dass es dann Aufgabe der Landesverfassungsgerichte sei festzustellen, ob eine Verletzung eines inhaltsgleichen Grundrechts, vorher müssen die Grundrechte der Länder dem Grundgesetz angeglichen werden, vorliegt. Damit entschieden sie über den Sinngehalt und die Tragweite der Bundesgrundrechte mit. 26 Zustimmend Zuck, ZRP 1997, 95, 98; ebenso Schneider, NJW 1996, 1517, 1518. 27 Siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 17; ausführliche Darstellung der Konzeption und die Gründe ihrer Ablehnung siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 85 ff. Siehe ebenfalls Klein, in: Festgabe für Graßhof, S. 366, 376, der sich der Argumentation der Entlastungskommission anschließt. 28 Bericht der Entlastungskommission, S. 17; ausführlich zur Konzeption und ihrer Befürwortung siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 93 ff. 29 Bericht der Entlastungskommission, S. 18. Ausführlich zu den Veränderungen der Struktur und der Organisation des Gerichts siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 96 ff. Die Bundesregierung sprach sich in ihrer Begründung zum fünften Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes BT-Drucks. 12/3628, S. 9 f., ebenso gegen die Errichtung eines dritten Senats oder die Erhöhung der Richterzahl aus. Ihr Hauptargument war die Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung des Grundgesetzes. Sie äußert sich auch kritisch gegenüber der Schaffung einer Verfassungsanwaltschaft. Insbesondere sei es aus ihrer Sicht schwierig, geeignete Personen zu finden, die nur Verfassungsbeschwerden im „Massenverfahren“ bearbeiten wollten. Anzenberger, 3. Teil, 3. Kapitel, S. 116, spricht sich ebenfalls gegen die Schaffung einer Verfassungs- oder Grundrechtsanwaltschaft
I. Entlastungsvorschläge
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Schließlich diskutierte die Kommission über eine Erhöhung der Zugangsschwelle zum Gericht durch anwaltliche Vertretung und Gebührenregelungen. So ging es u. a. um die Einführung eines allgemeinen Anwaltszwangs, einer Rechtsanwaltschaft beim Bundesverfassungsgericht, eines Fachanwalts für Verfassungsrecht und die Beschränkung der Postulationsfähigkeit auf verfassungsrechtlich besonders qualifizierte Spezialanwälte. Im Rahmen der Gebührenregelungen standen zur Diskussion die Einführung einer Nichtannahmegebühr, einer Eingangsgebühr und die Erhöhung des Gebührenrahmens für die Missbrauchsgebühr. Die Kommission empfahl hier keine Änderung der bestehenden Rechtslage30. Während die Kommission mit der Einführung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen einen Systemwechsel vollziehen wollte, gab es ebenfalls Stimmen, die sich für die Beibehaltung des gegenwärtigen Annahmeverfahrens bei effektiverer Ausgestaltung ausgesprochen haben31. Es aus. Eine solche Institution sei der deutschen Gerichtstradition fremd und trage die Gefahr der Verselbständigung und Unkontrollierbarkeit in sich. Die Tätigkeit der Verfassungsanwälte sei im Wesentlichen mit der Arbeit der jetzigen wissenschaftlichen Mitarbeiter vergleichbar und bestehe in der Vorbereitung einer Entscheidung durch den Berichterstatter. Anders Mahrenholz, ZRP 1997, 129, 131 ff., der sich für strukturelle bzw. organisatorische Änderungen, wie die Ausgliederung von Zuständigkeiten des Gerichts, insbesondere der Anhörungsrüge auf die jeweiligen Gerichtszweige, die Errichtung eines eigenen Landesverfassungsgerichts in Schleswig-Holstein, den Fortfall der Zuständigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 4 GG, die Ausgliederung der Aufgaben der Staatsgerichtsbarkeit auf einen dritten Senat sowie die Abschaffung der Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, der Präsidenten- und Richteranklage, einsetzt. Auch Zuck, ZRP 1997, 95, 97 f., spricht sich für die Schaffung eines dritten Senats aus. Er stellt sich die Aufteilung dergestalt vor, dass zwei Senate die Bearbeitung von Verfassungsbeschwerden erledigen und einer für die Aufgaben des Staatsgerichtshofs zuständig ist. Die Einführung einer Verfassungsanwaltschaft lehnt er ab. Besetzte man die Verfassungsanwaltschaft mit Richtern, stelle dies eine Erweiterung des Gerichts dar, besetzte man die Stellen mit Beamten, sei dies eine Erweiterung der Befugnisse der Präsidialräte. Für beide müsse die Verfassung geändert werden. Klein, in: Festschrift für Stern, S. 1135, 1151, Fn. 90, spricht sich für die Schaffung eines Staatsgerichtshofs aus, der für Verfahren mit einem großen investigativen Aufwand, wie diejenigen nach Art. 18 und 21 Abs. 2 GG, zuständig sein soll. 30 Bericht der Entlastungskommission, S. 18. Ausführlich zu den Vertretungsregelungen und Gebühren siehe den Bericht der Entlastungskommission, S. 104 ff. Gegen eine Erschwerung des Zugangs zum BVerfG spricht sich ebenfalls Anzenberger, 3. Teil, 4. Kapitel, S. 125, aus. Eine Erschwerung des Zugangs führe zu einer Beeinträchtigung der demokratischen Partizipationsfunktion der Verfassungsbeschwerde, sodass die damit verbundenen Bürgerrechte eingeschränkt und ungleich verteilt würden, ohne eine Entlastung des Gerichts zu bewirken. Ablehnend gegenüber der Einführung eines Fachanwalts für Verfassungsrecht äußert sich ebenfalls Zuck, ZRP 1997, 95, 99. Die Schaffung einer Fachanwaltschaft für Verfassungsrecht scheitere am fehlenden Bedarf aus Sicht der Anwaltschaft.
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
wurden im Wesentlichen folgende Argumente gegen die Einführung vorgetragen: Bei einem freien Annahmeverfahren nach Ermessen sei unklar, welchen Bindungen das eingeräumte Ermessen unterliegen würde, da es kein freies Ermessen gebe32. Zudem könne ein freies Annahmeverfahren dazu führen, dass die Selektivität der Entscheidungen des Gerichts, im Hinblick auf die Möglichkeit anderer Entscheidungen zu anderen Fällen, viel stärker unter nichtrechtlichen Gesichtspunkten gesehen werde wie parteipolitischen Aspekten, Rechts/Links-Schema, Minderheitenbevorzugung oder -vernachlässigung und Schichtenspezifizität33. Gegen die Einführung des freien Annahmeverfahrens nach dem Vorbild des U.S. Supreme Court am Bundesverfassungsgericht spreche schließlich die unterschiedliche Stellung beider Gerichte. Während der U.S. Supreme Court in erster Linie ein Revisionsgericht sei, zusätzlichen Grundrechtsschutz biete und insoweit lediglich die vorinstanzliche Fachgerichtsbarkeit ergänze, sei die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht ein außerordentlicher Rechtsbehelf, da sie außerhalb des Instanzenzugs stehe und vor allem dem Individualschutz diene34. Das gegenwärtige Annahmeverfahren sei defizitär umgesetzt, denn die bestehende gesetzliche Lage zwinge nicht, jede Verfassungsbeschwerde auf ihre Erfolgsaussichten zu überprüfen. Dies sei nur erforderlich, wenn die Annahmevoraussetzungen vorlägen35. Das Verfahren des Allgemeinen Registers, das als ein auf die Rechtslage hinweisender Filter fungiert, solle auf 31 Albers, ZRP 1997, 198 ff.; Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 152 ff.; Schneider, NJW 1996, 2630 ff. Für die Beibehaltung des bestehenden Systems bei gezielter Anwendung der Verfahrensvorschriften wohl auch Jeager, EuGRZ 2003, 149 (151 ff.), die die Vorzüge des Berichterstatter- und Kammersystems beschreibt. Gegen den Kommissionsvorschlag einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen spricht sich Klein, in: Festgabe für Graßhof, S. 366, 387, aus. 32 Albers, ZRP 1997, 198, 200; kritisch zu der von der Entlastungskommission vorgeschlagenen Formulierung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen auch Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 151. Die Formulierung bringe keine Vorteile, sondern laufe Gefahr, die Grenzen und Konturen des verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriffs zu verwischen. 33 Albers, ZRP 1997, 198, 201. 34 Schneider, NJW 1996, 2630, 2631. 35 Ebd. Ähnlich Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 153, der den Unterschied zwischen einem Vorprüfungs- und einem Annahmeverfahren gerade darin sieht, dass bei Letzterem Zulässigkeits- und/oder Begründetheitsfragen nicht zum Gegenstand der Entscheidung gemacht werden. Maatsch, in: Emmenegger/Wiedmann, S. 31, 34 f., hält die Prüfung der Erfolgsaussichten für sinnvoll, wenn sie ohne weiteres auf der Hand liegen und die Nichtannahme rechtfertigen. In anderen Konstellationen sei die Prüfung beklagenswert, da diese Praxis an der Systematik des Gesetzes vorbeigehe, das Entlastungspotential nicht optimal ausschöpfe und zu einer Verschleierung des Charakters von Nichtannahmeentscheidungen beitrage.
II. Konsequenzen der Entlastungsdiskussion
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die Annahmevoraussetzungen des § 93a BVerfGG ausgerichtet werden. Die sogenannten Belehrungsschreiben sollten den Beschwerdeführer nicht über die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde informieren, sondern über die Voraussetzungen der Annahme einer Verfassungsbeschwerde36. Die Effektivität in den Kammern könne durch eine Abkehr vom reinen Umlaufverfahren zu einer Mischung aus Besprechung und Umlauf gesteigert werden. Die hohe Fluktuation bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern trage nicht zum effektiven Arbeiten bei37. Das Gericht müsse seine Darstellung überdenken, wonach es das Bild einer sich sorgenden Institution pflege. Dies wecke Erwartungen beim Bürger, die nachher nicht erfüllt werden könnten38. Das Gericht lege eine zu „extensive Arbeitsweise“ an den Tag. Die Begründungen sollten kürzer und mehr auf die Fallfrage zugeschnitten sein39. Es müsse nicht bei jedem Fehlurteil eingreifen. Schließlich könne auch ein „zurückhaltenderes“ Verständnis der Grundrechte, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit bei Art. 2 Abs. 1 GG, zu einer Entlastung führen40.
II. Konsequenzen der Entlastungsdiskussion Die Empfehlungen der Entlastungskommission und die Vorschläge im Schrifttum führten nicht zu einer weiteren Novelle41. Weder wurde das Grundgesetz geändert noch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Vielmehr blieb es bei der aktuellen Ausgestaltung. Das Bundesverfassungsgericht in Gestalt des Ersten Senats griff aber den Vorschlag der Kommission auf. Neben der Behandlung nach geltendem Recht wurde einige Monate probeweise im Ersten Senat über die Annahme der Verfassungsbeschwerden nach Ermessen entschieden. Die Ergebnisse blieben innerhalb des Gerichts 36
Albers, ZRP 1997, 198, 202. Zustimmend Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 154, der zusätzlich noch eine Umgestaltung des vom Gericht veröffentlichen „Merkblatts“ in diese Richtung anregt. 37 Albers, ZRP 1997, 198, 202. Zustimmend Jeager, EuGRZ 2003, 149, 153, die die wissenschaftlichen Mitarbeiter im dritten Jahr als am effizientesten einstuft. 38 Albers, ZRP 1997, 198, 202. 39 Schneider, NJW 1996, 2630, 2631; zustimmend Zuck, ZRP 1997, 95, 97, der auf eine Entscheidung in der NJW 1996, 2717, verweist, in der die Unzulässigkeit eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG auf rund drei Zeitschriftenseiten belegt wird. 40 Schneider, NJW 1996, 2630, 2631; ebenso Zuck, ZRP 1997, 95, 98, und wohl auch Anzenberger, 3. Teil, 6. Kapitel, S. 157 f. Siehe hierzu auch Scholz, in: Festschrift für Stern, S. 1201, 1213 ff., der sich ähnlich äußert. 41 Zur Entwicklung und Vorgeschichte des sogenannten Anhörungsrügengesetzes siehe die Ausführungen unter D. VI. 2. c). Der Erlass dieses Gesetzes war keine unmittelbare Folge der Vorschläge der Entlastungskommission.
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
und die Fälle wurden anschließend nach geltendem Recht behandelt42. Die frühere Verfassungsrichterin im Ersten Senat Jaeger bescheinigt dem Modell der Kommission danach keinen spürbaren Entlastungseffekt. So habe der Senat während der Probezeit monatlich etwa 200 jeweils von einem Berichterstatter und einem Mitberichterstatter begutachtete Verfahren den anderen sechs Senatsmitgliedern zur Prüfung zugeleitet. Die Aktenflut sei unbeschreiblich gewesen für ein Vorprüfungsverfahren, das höchstens ein Viertel der Arbeitskraft in Anspruch nehmen dürfe, wenn der Schwerpunkt bei der Senatsarbeit und der Entscheidung grundsätzlicher Fragen liegen solle. Der Senat habe wöchentlich über die Annahme oder Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden beraten. Die Erledigung von 190 der genannten 200 Fälle sei kein Problem gewesen, weil sie nicht mündlich besprochen worden seien. Die verbleibenden 10 Fälle erforderten jedoch echte Beratung, worauf sich alle Richter hätten vorbereiten müssen. Die Richter müssten sich somit in verfassungsrechtlichen Fragen auf allen Rechtsgebieten vorbereiten, auch in die, die sonst in den anderen Kammern behandelt würden. Dies habe eine längere Vorbereitung in der eigenen Studierstube und eine längere Beratungszeit im Senat zur Folge. Gehe man von einer Diskussionszeit von 30 Minuten pro Sache aus, ergebe die Befassung mit dem Annahmeverfahren schon fünf Beratungsstunden im Senat. Jaeger sieht den Vorteil dieses Verfahrens darin, dass alle Senatsmitglieder den Fall bereits kennen würden, wenn er in die eigentliche Schlussberatung gehe. Für sie überwiegen jedoch die Nachteile bei weitem, da die Vorbereitung der eigenen Fälle für die Kammer oder für den Senat in etwa gleich viel Zeit in Anspruch nehme, die Durchsicht aber auf weitaus weniger Verfahren reduziert werde, wenn das Annahmeverfahren auf die Kammern verlagert sei43.
III. Lösungsvorschlag Die sich in der letzten Diskussion befindlichen Vorschläge zur Reform des Annahmeverfahrens waren im Wesentlichen die sogenannte senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen und die Beibehaltung des Annahmeverfahrens in seiner bisherigen Gestalt, wobei seine Effizienz durch Änderungen innerhalb des Ablaufs erhöht werden sollte. Der Vorschlag von Böckenförde, ein freies Annahmeverfahren nach dem Vorbild des U.S. Supreme Courts einzuführen, geht inhaltlich in die gleiche Richtung wie eine senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen44, sodass der Fokus der weiteren Darstellung auf diesem Verfahren liegt. 42 43
Jeager, EuGRZ 2003, 149, 151. Jeager, EuGRZ 2003, 149, 151 f.
III. Lösungsvorschlag
351
Die Vor- und Nachteile beider Ausgestaltungen sowie die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen wurden bereits ausführlich erörtert45. An dieser Stelle soll daher nur auf die wesentlichen Punkte eingegangen werden46. Die effizientere Ausgestaltung des bisherigen Annahmeverfahrens hat den Vorteil, dass der rechtliche Rahmen nicht verändert werden muss. Eine Verfassungsänderung oder eine Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ist nicht erforderlich. Auf den ersten Blick werden im Rahmen dieses Vorschlags beide Funktionen der Verfassungsbeschwerde erhalten, nämlich die Wahrung des objektiven Verfassungsrechts (objektive Funktion) und der Schutz der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Bürgers (subjektive Funktion)47. Angesichts der Flut von Verfassungsbeschwerden, die jährlich das Bundesverfassungsgericht erreichen und die ständig weiter steigt48, darf jedoch bezweifelt werden, ob solche Detailmaßnahmen Abhilfe schaffen können49. Die Einführung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen oder eines freien Annahmeverfahrens stellt einen Systemwechsel dar. Sie bedarf nach umstrittener, aber zutreffender Auffassung einer Verfassungsänderung50. Zusätzlich wird durch ein solches Verfahren die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde stark relativiert, da das Gericht nicht mehr über jede Beschwerde entscheiden muss. Unter Entlastungsgesichtspunkten ist der Nutzen der senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen ebenfalls umstritten51. Die Lösung könnte in einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen liegen. Das bisherige Kammersystem am Bundesverfassungsgericht bleibt bestehen. Der Vorschlag der Entlastungskommission, nach welchem dem Gericht von Verfassungs wegen eine Auswahlkompetenz über die zu entscheidenden Verfassungsbeschwerden eingeräumt werden soll52, wird dergestalt modifiziert, dass diese Kompetenz den Kammern übertragen wird. Mit anderen Worten läge die Entscheidung allein bei den Kammern. Sie müssen sich bei der Auswahlentscheidung an der besonderen Bedeutung der Entscheidung des Gerichts für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte orientieren. Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, wenn sich alle drei Rich44
Siehe die Ausführungen unter E. I. Siehe die Ausführungen unter E. I. und II. sowie B. II. 46 Siehe die Ausführungen unter B. II. sowie E. I. und II. 47 Siehe die Ausführungen unter B. II. 1. 48 Siehe hierzu die Jahresstatistiken unter http://www.Bundesverfassungsgericht. de/Organisation.html. 49 So schon Böckenförde, ZRP 1996, S. 281, 283. 50 Siehe die Ausführungen unter B. II. 5. 51 Siehe die Ausführungen unter E. II. 52 Siehe die Ausführungen unter E. I. 45
352
E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
ter der Kammer dafür aussprechen. Im Hinblick auf die ausschließliche Entscheidungszuständigkeit der Kammern ist eine Ausnahme zu machen. Wie nach der bisher geltenden Regelung bleiben Entscheidungen, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 BVerfGG aussprechen, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar, unvereinbar oder nichtig ist, dem Senat vorbehalten53. Entsprechendes gilt für einstweilige Anordnungen, mit denen die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird. Als Grund kann zum einen die Bedeutung von solchen Rechtsnormentscheidungen für die Rechtsordnung genannt werden54 und zum anderen die Tatsache, dass die Rechtsauffassung von drei Richtern einer Kammer sich nicht notwendigerweise mit der Meinung der übrigen Richter innerhalb des Senats decken muss. Anderenfalls hätten es drei von acht Richtern des Senats, der die jeweiligen Kammern bildet, in der Hand, eine Minderheitsposition gegen die Mehrheit durchzusetzen. Ist die Zuständigkeit des Senats begründet, müssen sich mindestens drei Richter für die Annahme aussprechen. Insoweit kann an die aktuelle Regelung in § 93d Abs. 3 Satz 2 BVerfGG angeknüpft werden. Um für eine zusätzliche Entlastung zu sorgen, wird der Vorschlag der Kommission, der ein vereinfachtes Verfahren zur Herausfilterung derjenigen Verfassungsbeschwerden vorsieht, die nicht für eine Annahme geeignet sind, auf die Kammer übertragen. Der jeweils zuständige Berichterstatter sichtet die Verfassungsbeschwerden. Stuft er die Verfassungsbeschwerde als nicht annahmewürdig ein, leitet er sie dem Mitberichterstatter zu. Teilt auch dieser die Auffassung des Berichterstatters, ist die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, wenn kein anderes Mitglied der Kammer widerspricht. Ist dies der Fall, müssen sich die Mitglieder der Kammer auf eine gemeinsame Entscheidung einigen. Unabhängig davon, wie sich die Kammer entscheidet, ist der Beschluss kurz zu begründen. Die Auffassung von Kischel, die einen verfassungsrechtlich verankerten Begründungszwang auch für letztinstanzliche Urteile bzw. Beschlüsse vorsieht, ist vorzugswürdig55. § 15a BVerfGG bleibt in seiner bisherigen Form bestehen. Um zu verhindern, dass die Rechtsprechung der einzelnen Kammern zu weit auseinander driftet, muss eine Regelung in § 16 BVerfGG aufgenommen 53 In der aktuellen Formulierung des § 93c Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ist keine Rede davon, dass den Senaten auch der Ausspruch vorbehalten bleibt, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar ist. Wohingegen § 31 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG zwischen der Vereinbarkeits-, Unvereinbarkeits- und Nichtigerklärung differenziert. Dies erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, wobei eine inhaltliche Abweichung nicht beabsichtigt war, siehe Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93c Rn. 22; ähnlich Schemmer, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 93c Rn. 15 ff.; Zuck, in: Lechner/ Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 16. 54 Siehe Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 93c Rn. 16. 55 Siehe die Ausführungen unter B. IV. 3. c) und e).
III. Lösungsvorschlag
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werden, wonach der Senat anzurufen ist, wenn eine Kammer bei einer Rechtsfrage von der Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will. Angerufen werden muss der Senat, dessen Richter die beteiligten Kammern bilden. Gehören die Richter der beteiligten Kammern unterschiedlichen Senaten an, muss das Plenum des Bundesverfassungsgerichts entscheiden. So wird eine Bevorzugung des einen Senats auf Kosten des anderen verhindert und die Einheitlichkeit der Verfassungsrechtsprechung sichergestellt. Die bisher bestehende Praxis der Belehrungsschreiben durch die Präsidialräte im Verfahren des Allgemeinen Registers56 könnte auch für das System einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen dergestalt genutzt werden, dass überprüft wird, ob es bei der Entscheidung für die Annahme einer Verfassungsbeschwerde um die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage geht oder der Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist. Entscheidet man sich für die Nutzung in diesem Sinne, sollte es eine entsprechende Normierung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geben, um eine ausreichende gesetzliche Grundlage zu schaffen57. Auf der Grundlage des Vorschlags der Entlastungskommission zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes58 könnte die gesetzliche Formulierung wie folgt lauten: § 16 wird wie folgt gefasst: (1) Will ein Senat in einer Rechtsmeinung von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber das Plenum des Bundesverfassungsgerichts. (2) Will eine Kammer in einer Rechtsmeinung von der in einer Entscheidung einer anderen Kammer enthaltenen Rechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber der Senat, aus dessen Mitgliedern die beteiligten Kammern gebildet wurden. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts entscheidet, wenn die Mitglieder der Kammern nicht alle demselben Senat angehören. (3) Es ist beschlussfähig, wenn von jedem Senat zwei Drittel seiner Richter anwesend sind. § 93a wird wie folgt gefasst: Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen. Dabei berücksichtigt es, ob seine Entscheidung für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist. § 93b wird wie folgt gefasst: (1) Über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde entscheiden die Kammern. Eine Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung angenommen, wenn alle Richter der Kammer für die Annahme stimmen. 56 57 58
Siehe hierzu die Ausführungen unter B. IV. 1. sowie B. IV. 1 b) und e). Siehe hierzu auch die Ausführungen unter B. IV. 1 e). Siehe die Ausführungen unter E. I.
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
(2) Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen, wenn sich der Berichterstatter und der Mitberichterstatter gegen die Annahme aussprechen und kein weiteres Mitglied der Kammer diesem Vorschlag binnen einer von der Kammer zu bestimmenden Frist widerspricht. Widerspricht ein Mitglied der Kammer, muss sich die Kammer einstimmig für oder gegen eine Annahme entscheiden. § 93c wird wie folgt gefasst: (1) Die Entscheidung der Kammer ergeht ohne mündliche Verhandlung. Sie steht einer Entscheidung des Senats gleich und ist unanfechtbar. Die Entscheidung ist kurz zu begründen. (2) Auf das Verfahren finden § 94 Abs. 2 und 3 sowie § 95 Abs. 1 und 2 Anwendung. (3) Die Kammer kann alle das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffenden Entscheidungen erlassen. Eine Entscheidung, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 ausspricht, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder nichtig ist, bleibt dem Senat vorbehalten. Eine einstweilige Anordnung, mit der die Anwendung eines Gesetzes ganz oder teilweise ausgesetzt wird, kann nur der Senat treffen; § 32 Abs. 7 bleibt unberührt. Der Senat entscheidet auch in den Fällen des § 32 Abs. 3. (4) Die Annahme durch den Senat ist beschlossen, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen.
Alle weiteren Regelungen müssten aufgehoben bzw. angepasst werden. Neben dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz müsste auch das Grundgesetz geändert werden. Hierzu kann mit einer Einschränkung auf die Vorschläge der Entlastungskommission verwiesen werden59. Der Vorschlag, nach dem in Art. 94 Abs. 2 GG die Worte „. . . und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen“ gestrichen werden soll, wird nicht übernommen, da anderenfalls die verfassungsrechtliche Grundlage zweifelhaft ist. Sicherlich muss auch diese Lösung Einwänden begegnen. Zunächst dürfte die politische Umsetzung schwerer sein, da für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig ist. An dem Erfordernis einer Verfassungsänderung ist indes nicht zu rütteln. Die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde wird ebenfalls relativiert. Der Bürger hat keinen Anspruch mehr darauf, dass über seine Verfassungsbeschwerde entschieden wird. Fraglich ist jedoch, ob nur die Einführung einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen – dasselbe gilt für die Einführung einer senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen – eine Relativierung der subjektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde nach sich zieht. Bereits die Ausgestaltung des derzeitigen Annahmeverfahrens führt tatsächlich zu einer Relativierung. Aufgrund der offenen Formulierung der einzelnen Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen existieren erhebliche 59
Siehe die Ausführungen unter E. I.
III. Lösungsvorschlag
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Entscheidungsspielräume des Gerichts dahingehend, ob es eine erhobene Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annimmt60. Man könnte es auch so ausdrücken, dass die derzeitige Ausgestaltung des Annahmeverfahrens die subjektive Funktion der Verfassungsbeschwerde verdeckt relativiert, während dies bei einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen offen und für jeden ersichtlich geschieht. Somit trägt das Argument, dass durch eine effizientere Ausgestaltung des bisherigen Annahmeverfahrens beide Funktionen der Verfassungsbeschwerde erhalten bleiben, bei näherer Betrachtung nicht. Die ausschließliche Zuständigkeit der Kammern und die Anpassung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen mögen ebenfalls kritikwürdig sein. Ein Blick in die Statistiken des Bundesverfassungsgerichts verrät, dass bereits jetzt die Kammern den Löwenanteil der Verfassungsbeschwerden entscheiden, wohingegen die Anzahl der Beschwerden über die die Senate entscheiden marginal ist. Faktisch entscheiden die Kammern nahezu ausschließlich. Zudem vermochte das Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage die Probleme, die sich aus der Abgrenzung der Kammer- bzw. Senatszuständigkeit ergaben, ohnehin nur teilweise zu lösen, wie die Untersuchung gezeigt hat. So gab es Bereiche, in denen die Senatsmaßstäbe tendenziell dazu geeignet waren, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen und Bereiche, in denen sie dies nicht vermochten61. Die Konsequenz war jedoch nicht, dass die Senate in diesen Fällen entschieden. Vielmehr gestaltete es sich so, dass die Kammern diese Fälle trotzdem entschieden, obwohl die Kammerzuständigkeit nicht gegeben war. Im Hinblick auf die Anpassung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen ist bezogen auf das Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen Begründetheit allein die Formulierung rechtspolitisch unglücklich gewählt. Die Untersuchung ergab zudem, dass kein Kammerbeschluss sich näher zu diesem Merkmal geäußert hat. Demzufolge kann die praktische Bedeutung nur als marginal eingestuft werden62. Schließlich könnten die Rechtsprechung und die in der Literatur vertretenen Ansichten zum Tatbestandsmerkmal angezeigt auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung übertragen werden. Es bestehen somit keine durchgreifenden Bedenken gegen die Aufhebung und Anpassung der bisherigen Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen. Das Entlastungspotential der senatsgesteuerten Annahme nach Ermessen ist umstritten. So nehme bei dem von der Entlastungskommission vorgeschlagenen Modell die Vorbereitung der Fälle für die Kammer oder für 60 61 62
Siehe die Ausführungen unter B. V. Siehe die Ausführungen unter D. IX. 2. und F. Siehe die Ausführungen unter D. IX. 1.
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E. Entlastungsdiskussion nach der letzten Novelle des BVerfGG
den Senat in etwa gleich viel Zeit in Anspruch, was nachteilig sei. Die Durchsicht werde hingegen auf weitaus weniger Verfahren reduziert, wenn das Annahmeverfahren auf die Kammern verlagert sei63. Im Rahmen der bisherigen Ausgestaltung des Annahmeverfahrens sorgt allein die Tatsache für Entlastung, dass die Kammern nur mit drei Richtern besetzt sind, die sich auf eine gemeinsame Entscheidung einigen müssen. Denn die Kammern wurden gebildet, um der ständig steigenden Anzahl von Verfassungsbeschwerden Herr zu werden und die Senate zu entlasten. Haben die Kammern nun zusätzlich eine Auswahlkompetenz, dürfte sich eine weitere Entlastung einstellen. Die kammergesteuerte Annahme nach Ermessen kombiniert somit die Vorteile des bisherigen Annahmeverfahrens mit den Vorteilen eines freien Annahmeverfahrens.
63
Siehe die Ausführungen unter E. II.
F. Schlussbetrachtung Die Untersuchung des Annahmeverfahrens im Allgemeinen und die praktische Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen im Besonderen brachte folgende Ergebnisse: Es besteht ein Widerspruch zwischen der gesetzlichen Konzeption des Annahmeverfahrens in den §§ 93a ff. BVerfGG, nach der die Kammern nur für den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung im Rahmen der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde zuständig sind und der Praxis. In dieser entscheiden die Kammern den weit überwiegenden Teil der Verfassungsbeschwerden und haben auf sie den ersten Zugriff. Innerhalb des praktischen Ablaufs prüfen sie zuerst die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG und leiten die Verfassungsbeschwerde an den Senat weiter, wenn sie grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Mit anderen Worten: Die praktisch enorme Bedeutung und der tatsächliche Einfluss der Kammern entsprechen nicht der vom Gesetz vorgesehenen untergeordneten Position gegenüber den Senaten. Der beschriebene Widerspruch setzt sich bei der praktischen Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen durch die Kammern fort. Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG anzunehmen, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist, was auch der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Ferner muss nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sein. Schließlich muss die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet sein. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es zu verhindern, dass sich neben der Rechtsprechung der Senate noch eine Kammerrechtsprechung, eine Verfassungsjudikatur minderen Ranges, entwickelt, die weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen ist1. Eine Überprüfung des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit war nicht möglich. Es verlangt im Kern eine Prognoseentscheidung, wie der Senat anstelle der Kammer den Fall entscheiden würde. Den Richtern wird hier ein Spielraum eröffnet. Diese Prognoseentscheidung kann nur 1
Siehe Teil B., Fn. 224.
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F. Schlussbetrachtung
überprüft werden, wenn die Richter ihre Erwägungen in der Entscheidung mitgeteilt haben. Kein Kammerbeschluss hat sich näher hierzu eingelassen. Das Tatbestandsmerkmal angezeigt gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die zwei Fallgruppen des besonderen Gewichts der Grundrechtsverletzung und der existentiellen Betroffenheit des Beschwerdeführers mit ihren jeweiligen Unterfallgruppen konkretisiert2. Das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG stellt keine eigenständige Fallgruppe dar, sondern geht insoweit auf in der Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit, einer Fallgruppe des Tatbestandsmerkmals angezeigt. Ihm kommt aber als Gradmesser eigenständige Bedeutung zu. Es stellt auf die Schwere der eintretenden Folgen auf Seiten des Beschwerdeführers ab, wenn ihm die Entscheidung zur Sache versagt wird3. In jedem der sieben Bereiche finden sich vereinzelt Kammerbeschlüsse, die das Tatbestandsmerkmal erläutern. Die praktische Handhabung deckte sich fast ausnahmslos mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung. Komplexer sind die Feststellungen zum letzten Tatbestandsmerkmal der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage. An dieser Stelle setzt sich der eingangs beschriebene Widerspruch fort. Nach der gesetzlichen Konzeption dürfen die Kammern eine Verfassungsbeschwerde nur annehmen und ihr stattgeben, wenn der Senat die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage schon entschieden hat. Die Senate stellen demnach die verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf, anhand derer die Kammern über die Verfassungsbeschwerde entscheiden. Es kommt somit entscheidend darauf an, ob dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Daran schließt sich die Frage an, unter welchen Voraussetzungen das Tatbestandsmerkmal verwirklicht ist, was den Fokus auf die Auslegung richtet. Zur Überprüfung der aufgeworfenen Frage wurde folgendes Raster herangezogen: Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe wurden zunächst anhand der Mahrenholzschen Formel darauf überprüft, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Demnach kam es darauf an, ob der zu entscheidende Sachverhalt ohne Zwischenschritte abstrakter Art unter die verwendeten Senatsmaßstäbe subsumiert werden konnte. War dies möglich, war auch die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Die beiden anderen Bewertungskriterien dienten in diesem Fall noch einer Stimmigkeitskontrolle. War hingegen eine direkte Subsumtion nicht möglich, kam es darauf an, ob es sich bei dem Senatsmaßstab um 2 3
Siehe die Ausführungen unter B. V. 1. c). Siehe hierzu die Ausführungen unter B. V. 1. c) cc).
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eine Regel oder ein Prinzip handelte. Lag eine Regel vor, bei der es sich um nichts anderes als eine Norm mit Tatbestand und Rechtsfolge handelte, blieb es bei dem festgestellten Ergebnis nach der Mahrenholzschen Formel, da sie in Bezug auf die Frage der Subsumierbarkeit spezieller war. Während die Tatsache, dass es sich bei den Senatsmaßstäben um Regeln handelt, nur besagt, dass sie subsumierbar sein müssen, besagt die Formel von Mahrenholz, unter welchen Bedingungen subsumiert werden kann. Lag hingegen ein Prinzip vor, war maßgeblich, ob eine Richtung für die Falllösung in dem Sinn aufgezeigt wurde, dass Werte und Ziele im Rahmen der Rechtsanwendung durch die Kammern berücksichtigt werden konnten. Wurden diese Voraussetzungen erfüllt, war die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. War sowohl nach der Mahrenholzschen Formel als auch nach der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage noch nicht entschieden, kam das dritte Bewertungskriterium ins Spiel. Handelte es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage, musste der Senatsmaßstab, auf den die Kammer ihre Entscheidung stützte, so bestimmt sein, dass er inhaltlich trug. Ging es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, waren die inhaltlichen Anforderungen geringer. Das Kriterium verschob die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit zu stellen waren, nach oben oder unten. So wurde das Ergebnis beeinflusst, das anhand der Formel von Mahrenholz oder der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien gefunden wurde. Auf der Grundlage dieser Bewertungsmaßstäbe zeigte sich, dass es zum einen Bereiche gibt, in denen die Senatsmaßstäbe tendenziell geeignet sind, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Namentlich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn bei Art. 13 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 6 Abs. 2 GG, im Bereich der Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit bei Art. 5 Abs. 3 GG, im Bereich des Schutzes der Kommunikation und politischen Beteiligung bei Art. 8 Abs. 1 GG und der Meinungsfreiheit, im Bereich der Justizgrundrechte bei Art. 19 Abs. 4 GG, dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch sowie dem Anspruch auf rechtliches Gehör, im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bei Art. 33 Abs. 5 GG und im Bereich der Gleichheitsrechte bei dem allgemeinen Gleichheitssatz. Ein tendenziell ambivalentes Bild zeigte sich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit bei Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG im Spannungsverhältnis zur Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs und im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bei Art. 14 Abs. 1 GG. In den anderen Bereichen waren die Senatsmaßstäbe hingegen tendenziell ungeeignet, die Kammerentscheidungen zu tragen. Es handelte
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F. Schlussbetrachtung
sich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Spannungsverhältnis zu den Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG, im Bereich des Schutzes der Persönlichkeit im weiteren Sinn um Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, im Bereich der Religions-, Gewissensund Wissenschaftsfreiheit um Art. 4 Abs. 1 GG, im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung um Art. 12 Abs. 1 sowie Art. 33 Abs. 2 GG und im Bereich der Gleichheitsrechte um die besonderen Gleichheitssätze bzw. Differenzierungsverbote. Während die Senatsmaßstäbe auf der Ebene des Schutzbereichs tendenziell noch inhaltlich konkret sind, ändert sich das auf der Ebene der Rechtfertigung. Dort fehlen häufig Leitlinien für die Abwägung, etwa beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung, bei Art. 3 Abs. 3 oder Art. 4 Abs. 1 GG. Insbesondere bei Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 1 GG nutzen die Kammern die inhaltlichen Lücken der Senatsmaßstäbe, um eigene Akzente zu setzen. Das Postulat nach Leitlinien für die Abwägung überspannt nicht die Anforderungen an die Senatsmaßstäbe, da es durchaus solche gibt, wie die Drei-Stufen-Theorie bei Art. 12 Abs. 1 GG und die Sphärentheorie im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zeigen. Bei rechtlich enger umgrenzten Fragestellungen, etwa der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug bei Art. 13 Abs. 2 GG oder der Gewährung von Prozesskostenhilfe, sind die Maßstäbe inhaltlich eher ausreichend als bei weiter gefassten Problemkonstellationen. Die Anwendung der Mahrenholzschen Formel hat gezeigt, dass die Kammern dazu neigen, die inhaltliche Lücke zwischen den verwendeten Senatsmaßstäben und dem konkret zu entscheidenden Fall mit Maßstäben aus der Rechtsprechung der Obergerichte oder der anderen Kammern zu schließen. Diese Vorgehensweise widerspricht dem Sinn und Zweck von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, weil in diesem Fall nicht die Senatsmaßstäbe den Kammerbeschluss tragen. Nicht selten lassen sich ganze Verweisungsketten finden, wovon sich keine einzige Entscheidung auf einen Senatsmaßstab zurückführen lässt. Diese „Verweisungskarussells“ verschleiern, dass es keine inhaltlich ausreichenden Senatsmaßstäbe in einem bestimmten Bereich gibt und die Kammern autonom entscheiden. Die Einteilung der Senatsmaßstäbe in Prinzipien und Regeln hat ergeben, dass die Anzahl der Prinzipien überwiegt. Konsequenz daraus ist wiederum, dass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist, wenn der Senatsmaßstab eine Richtung für die Falllösung vorgibt. In der Regel weichen diese Ergebnisse nicht von dem Ergebnis ab, das bereits die Anwendung der Formel von Mahrenholz ergeben hat. In den von den Kammern zu entscheidenden Fällen ging es überwiegend um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragen am Maßstab der Verfassung. Hier zeigt sich eine weitere Problematik. Auf der einen Seite
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steigen die Kammern sehr vertieft in die Prüfung einfachrechtlicher Fragestellungen ein. Auf der anderen Seite stehen ihnen Senatsmaßstäbe zur Verfügung, die bestenfalls eine grobe Richtung für die Falllösung erkennen lassen. Dies zwingt die Kammern dazu, die Lücken selbst zu füllen. Eng verzahnt mit der stellenweise vertieften Prüfung einfachrechtlicher Fragen ist die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Superrevisionsinstanz. Die Untersuchung ergab, dass die Kammern, entgegen der Darstellung des Gerichts, in Teilbereichen doch die Funktionen eines Revisionsgerichts wahrnehmen. Dafür spricht bereits die Tatsache, dass die Kammern die Tatsachenfeststellungen in den angegriffenen Entscheidungen ihrer eigenen Entscheidung im Rahmen des Eilrechtsschutzes zugrunde legen4. Eine typische Ausgestaltung aller Revisionsverfahren, da es nur noch um Rechtsfragen geht. Aufgrund der prozessrechtlichen Ausgestaltung sind die Bundesgerichte unzuständig bei Rechtsbehelfen von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, im vorläufigen Rechtsschutz nach der Verwaltungsgerichtsordnung anlässlich versammlungsrechtlicher Streitigkeiten und im Zusammenhang mit beamten- oder richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren. Die Kammern füllen dieses Vakuum und wirken dem Auseinanderdriften der Rechtsprechung entgegen. Der Widerspruch zwischen der gesetzlichen Konzeption und der Praxis im Hinblick auf die Rolle der Kammern ist lösbar. Er erfordert nur ein Eingreifen des Gesetzgebers. Die abstrakte Beantwortung der Frage, wann die verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist, gestaltet sich als äußerst schwer bis unmöglich. Sie wird insbesondere dadurch erschwert, dass es sich eben um eine verfassungsrechtliche Frage handelt. Die Verfassung ist eine Rahmenordnung, deren Normen fragmentarisch und oft nur skizzenhaft bleiben5. Es ist daher problematisch, wenn sich die Zuständigkeitsverteilung zwischen Senaten und Kammern mittelbar an dieser Rahmenordnung orientiert. In praktischer Hinsicht darf nicht verkannt werden, dass die Kammern, angesichts der Flut von Verfassungsbeschwerden, bereits am Limit ihrer Kapazitäten arbeiten. Die Senate wären erst Recht nicht in der Lage, der Situation Herr zu werden. Die konkrete Beantwortung der Frage, wann die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist, fällt leichter, wenn auf den Einzelfall abgestellt wird. Das Prüfungsschema, das neben der Mahrenholzschen Formel die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien sowie zwischen einer originär verfassungsrechtlichen bzw. einfachrechtlichen Frage beinhaltet, kann dem Rechtsanwender helfen. Es handelt sich um einen Verbesserungsvorschlag, der das bestehende System nicht in Frage stellt. 4 5
Siehe etwa BVerfGK 8, 195, 198. Volkmann, StaatsR II, 1. Kap. § 1 Rn. 39.
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Die Lösung für den beschriebenen Widerspruch zwischen gesetzlicher Konzeption und Praxis, für das Problem der Zuständigkeitsverteilung sowie der drohenden Überlastung des Gerichts durch die Flut von Verfassungsbeschwerden, liegt in dem vorgestellten Modell einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen6. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Systemwechsel. Die zu Beginn der Arbeit aufgeworfene Frage, ob den Kammern alle Macht zukommt, kann dahingehend beantwortet werden, dass es auf die Perspektive ankommt. Stellt man auf die gesetzliche Konzeption der §§ 93a ff. BVerfGG ab, lautet die Antwort: Nein. Wählt man als Bezugspunkt die Praxis: Tendenziell ja. Führt man das Verfahren einer kammergesteuerten Annahme nach Ermessen ein: Uneingeschränkt ja.
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Siehe die Ausführungen unter E. III.
G. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen 1. Es besteht ein Widerspruch zwischen der gesetzlichen Konzeption des Annahmeverfahrens in den §§ 93a ff. BVerfGG, nach der die Kammern nur für den Nachvollzug der Senatsrechtsprechung im Rahmen der Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde zuständig sind, und der Praxis. In dieser entscheiden die Kammern den weit überwiegenden Teil der Verfassungsbeschwerden und haben auf sie den ersten Zugriff. Innerhalb des praktischen Ablaufs prüfen sie zuerst die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG und leiten die Verfassungsbeschwerde an den Senat weiter, wenn sie grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat. 2. Die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden in den Kammern lag im Zeitraum von 2003 bis 2008 einschließlich zwischen 1,45% und 2,26%; in den Senaten lag sie zwischen 48,78% und 73,52%. Die Veröffentlichungsquote der Verfassungsbeschwerden in den Bänden zu den Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben von dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, variiert zwischen 2,22% und 3,33%, bezogen auf die Gesamtzahl aller Verfassungsbeschwerden. 3. Die Untersuchung der Kammerbeschlüsse im Hinblick auf die praktische Handhabung der Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen fand in sieben thematisch zusammenpassenden Grundrechtsbereichen statt. Es handelte sich um die Bereiche Schutz der Persönlichkeit des Menschen im engeren (insgesamt 52 Entscheidungen) und weiteren Sinn (insgesamt 165 Entscheidungen), Religions- und Gewissensfreiheit (insgesamt 16 Entscheidungen), Kommunikationsgrundrechte (insgesamt 72 Entscheidungen), Justizgrundrechte (insgesamt 212 Entscheidungen), Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung (insgesamt 194 Entscheidungen), Gleichheitsrechte und schließlich politische Beteiligungsrechte (insgesamt 98 Entscheidungen). Grundlage der Untersuchung waren die Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in den Bänden 1 bis 13 vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts von Januar 2003 bis Mai 2008 herausgegeben wurden. 4. Zu Beginn der rechtlichen Ausführungen in den Nichtannahmebeschlüssen nehmen die Kammern zu den Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen in drei Varianten Stellung. Die erste zeichnet sich dadurch aus, dass lediglich mit Hinweis auf § 93a Abs. 2 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde wegen mangelnder Erfolgsaussicht nicht angenommen wird. Va-
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G. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen
riante zwei geht zumindest auf die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG dergestalt ein, dass der gesetzliche Wortlaut wiedergegeben und das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale verneint wird. Variante drei verweist im Rahmen der Prüfung des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG auf die nach Ansicht der Kammer einschlägigen Senatsmaßstäbe und verneint im Hinblick auf die Prüfung des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG wiederum das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. 5. In den Beschlüssen, in denen der Beschwerdeführer obsiegt, nehmen die Kammern im Rahmen der rechtlichen Ausführungen zu den Voraussetzungen der Annahme- bzw. Stattgabe ebenfalls in drei Varianten Stellung. Bei Variante eins stellen sie fest, dass sie die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG – teilweise aus dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang – stattgeben. Dann erfolgt eine Bezugnahme auf das in dem konkreten Fall verletzte Grundrecht und die Aussage, dass die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung dieses Grundrechts angezeigt sei. Die Feststellung der Annahme und die Bezugnahme auf das verletzte Grundrecht werden häufig miteinander verknüpft. Schließlich erwähnen sie das Vorliegen der Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung. Teilweise wird der Hinweis auf das Vorliegen der Voraussetzungen oder das verletzte Grundrecht weggelassen. In Variante zwei stellen die Kammern zu Beginn die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung fest in dem gerade beschriebenen Sinn. Dann benennen sie gegebenenfalls das verletzte Grundrecht und zählen schließlich die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zumindest – teilweise unvollständig – auf. Eine dritte und letzte Prüfungsvariante ist mit der zuletzt dargestellten deckungsgleich bis auf die Tatsache, dass die Kammern im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auf die nach ihrer Ansicht einschlägige Senatsentscheidung bzw. die Senatsmaßstäbe verweisen. 6. Eine Überprüfung der praktischen Handhabung des Tatbestandsmerkmals der offensichtlichen Begründetheit in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG durch die Kammern war nicht möglich. Es verlangt im Kern eine Prognoseentscheidung, wie der Senat anstelle der Kammer den Fall entscheiden würde. Den Richtern wird hier ein Spielraum eröffnet. Diese Prognoseentscheidung kann nur überprüft werden, wenn die Richter ihre Erwägungen in der Entscheidung mitgeteilt haben. Kein Kammerbeschluss hat sich näher hierzu eingelassen. 7. Das Tatbestandsmerkmal angezeigt gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die zwei Fallgruppen des besonderen Gewichts der Grundrechtsver-
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letzung und der existentiellen Betroffenheit des Beschwerdeführers mit ihren jeweiligen Unterfallgruppen konkretisiert. Das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Nachteils in § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG stellt keine eigenständige Fallgruppe dar, sondern geht insoweit auf in der Fallgruppe der existentiellen Betroffenheit, einer Fallgruppe des Tatbestandsmerkmals angezeigt. Ihm kommt aber als Gradmesser eigenständige Bedeutung zu. Es stellt auf die Schwere der eintretenden Folgen auf Seiten des Beschwerdeführers ab, wenn ihm die Entscheidung zur Sache versagt wird. In jedem der sieben Bereiche finden sich vereinzelt Kammerbeschlüsse, die das Tatbestandsmerkmal erläutern. Teilweise wird das Vorliegen des Merkmals schlicht festgestellt. So geschehen beim Merkmal besonders schwerer Nachteil im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn. Teilweise findet eine argumentative Einordnung statt. Etwa beim Merkmal besonders Gewicht der Grundrechtsverletzung im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 GG. Die praktische Handhabung des Tatbestandsmerkmals angezeigt deckte sich fast ausnahmslos mit der von der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur entwickelten Auslegung. 8. Die Überprüfung der praktischen Handhabung des Tatbestandsmerkmals der bereits entschiedenen maßgeblichen verfassungsrechtlichen Frage in § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG kann auf der Grundlage von folgendem Raster erfolgen: Die von den Kammern verwendeten Senatsmaßstäbe werden zunächst anhand der Mahrenholzschen Formel darauf überprüft, ob die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist. Demnach kommt es darauf an, ob der zu entscheidende Sachverhalt ohne Zwischenschritte abstrakter Art unter die verwendeten Senatsmaßstäbe subsumiert werden kann. Ist dies möglich, ist auch die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Die beiden anderen Bewertungskriterien dienen in diesem Fall noch einer Stimmigkeitskontrolle. Ist hingegen eine direkte Subsumtion nicht möglich, kommt es darauf an, ob es sich bei dem Senatsmaßstab um eine Regel oder ein Prinzip handelt. Liegt eine Regel vor, bei der es sich um nichts anderes als eine Norm mit Tatbestand und Rechtsfolge handelt, bleibt es bei dem festgestellten Ergebnis nach der Mahrenholzschen Formel, da sie in Bezug auf die Frage der Subsumierbarkeit spezieller ist. Während die Tatsache, dass es sich bei den Senatsmaßstäben um Regeln handelt, nur besagt, dass sie subsumierbar sein müssen, besagt die Formel von Mahrenholz, unter welchen Bedingungen subsumiert werden kann. Liegt hingegen ein Prinzip vor, ist maßgeblich, ob eine Richtung für die Falllösung in dem Sinn aufgezeigt wird, dass Werte und Ziele im Rahmen der Rechtsanwendung durch die Kammern berücksichtigt werden können. Werden diese Voraussetzungen erfüllt, ist die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage be-
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G. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen
reits entschieden. Ist sowohl nach der Mahrenholzschen Formel als auch nach der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage noch nicht entschieden, kommt das dritte Bewertungskriterium ins Spiel. Handelt es sich um eine originär verfassungsrechtliche Frage, muss der Senatsmaßstab, auf den die Kammer ihre Entscheidung stützt, so bestimmt sein, dass er inhaltlich trifft. Geht es um die Überprüfung einer einfachrechtlichen Frage am Maßstab der Verfassung, sind die inhaltlichen Anforderungen geringer. Das Kriterium verschiebt die Anforderungen, die an die inhaltliche Bestimmtheit zu stellen sind, nach oben oder unten. So wird das Ergebnis beeinflusst, das anhand der Formel von Mahrenholz oder der Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien gefunden wurde. 9. Auf der Grundlage des Prüfungsrasters zeigte sich, dass es Bereiche gibt, in denen die Senatsmaßstäbe tendenziell geeignet sind, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Namentlich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, im Bereich des Schutzes der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn bei Art. 13 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 6 Abs. 2 GG, im Bereich der Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit bei Art. 5 Abs. 3 GG, im Bereich des Schutzes der Kommunikation und politischen Beteiligung bei Art. 8 Abs. 1 GG und der Meinungsfreiheit, im Bereich der Justizgrundrechte bei Art. 19 Abs. 4 GG, dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch sowie dem Anspruch auf rechtliches Gehör, im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bei Art. 33 Abs. 5 GG und im Bereich der Gleichheitsrechte bei dem allgemeinen Gleichheitssatz. 10. Ein tendenziell ambivalentes Bild zeigte sich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit bei Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG im Spannungsverhältnis zur Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs und im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung bei Art. 14 Abs. 1 GG. 11. In den folgenden Bereichen waren die Senatsmaßstäbe tendenziell ungeeignet, die Kammerbeschlüsse inhaltlich zu tragen. Es handelte sich im Bereich des Schutzes des Kerns der menschlichen Persönlichkeit um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Spannungsverhältnis zu den Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG, im Bereich des Schutzes der Persönlichkeit im weiteren Sinn um Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, im Bereich der Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit um Art. 4 Abs. 1 GG, im Bereich der Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung um Art. 12 Abs. 1 sowie Art. 33 Abs. 2 GG und im Bereich der Gleichheitsrechte um die besonderen Gleichheitssätze bzw. Differenzierungsverbote.
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12. Die Senatsmaßstäbe sind auf der Ebene des Schutzbereichs tendenziell inhaltlich konkret. Dies ändert sich auf der Ebene der Rechtfertigung. Dort fehlen häufig Leitlinien für die Abwägung, etwa beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung, bei Art. 3 Abs. 3 oder Art. 4 Abs. 1 GG. Insbesondere bei Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 1 GG nutzen die Kammern die inhaltlichen Lücken der Senatsmaßstäbe, um eigene Akzente zu setzen. Das Postulat nach Leitlinien überspannt nicht die Anforderungen an die Senatsmaßstäbe, da es durchaus solche gibt, wie die Drei-Stufen-Theorie bei Art. 12 Abs. 1 GG und die Sphärentheorie im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zeigen. Bei rechtlich enger umgrenzten Fragestellungen, etwa der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Gefahr im Verzug bei Art. 13 Abs. 2 GG oder der Gewährung von Prozesskostenhilfe, sind die Maßstäbe inhaltlich eher ausreichend als bei weiter gefassten Problemkonstellationen. 13. Die Anwendung der Formel von Mahrenholz hat gezeigt, dass die Kammern dazu neigen, die inhaltliche Lücke zwischen den verwendeten Senatsmaßstäben und dem konkret zu entscheidenden Fall mit Maßstäben aus der Rechtsprechung der Obergerichte oder der anderen Kammern zu schließen. Diese Vorgehensweise widerspricht dem Sinn und Zweck von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, weil in diesem Fall nicht die Senatsmaßstäbe den Kammerbeschluss tragen. 14. Die Einteilung der Senatsmaßstäbe in Prinzipien und Regeln hat ergeben, dass die Anzahl der Prinzipien überwiegt. Konsequenz daraus ist, dass die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden ist, wenn der Senatsmaßstab eine Richtung für die Falllösung vorgibt. In der Regel weichen die Ergebnisse nicht von dem Ergebnis ab, das bereits die Anwendung der Mahrenholzschen Formel ergeben hat. 15. Bei den von den Kammern zu entscheidenden Fällen ging es überwiegend um die Überprüfung einfachrechtlicher Fragestellungen am Maßstab der Verfassung. Dies führt dazu, dass sie sehr vertieft in die Prüfung einfachrechtlicher Fragestellungen einsteigen. Ihnen stehen aber teilweise Senatsmaßstäbe zur Verfügung, die bestenfalls eine grobe Richtung für die Falllösung erkennen lassen. Dies zwingt die Kammern dazu, die Lücken selbst zu füllen. 16. Die Untersuchung ergab, dass die Kammern, entgegen der Darstellung des Gerichts, in Teilbereichen doch die Funktionen eines Revisionsgerichts wahrnehmen. Dafür spricht bereits die Tatsache, dass die Kammern die Tatsachenfeststellungen in den angegriffenen Entscheidungen ihren Entscheidungen im Rahmen des Eilrechtsschutzes zugrunde legen. Eine typische Ausgestaltung aller Revisionsverfahren, da es nur noch um Rechtsfragen geht. Aufgrund der prozessrechtlichen Ausgestaltung sind die Bundes-
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gerichte unzuständig bei Rechtsbehelfen von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, im vorläufigen Rechtsschutz nach der Verwaltungsgerichtsordnung anlässlich versammlungsrechtlicher Streitigkeiten und im Zusammenhang mit beamten- oder richterrechtlichen Konkurrentenstreitverfahren. Die Kammern füllen dieses Vakuum und wirken dem Auseinanderdriften der Rechtsprechung entgegen. 17. Die Umstellung des bisherigen Annahmeverfahrens auf eine kammergesteuerte Annahme nach Ermessen löst zum einen die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen der Zuständigkeit von Senaten bzw. Kammern und sorgt für einen zusätzlichen Entlastungseffekt für das notorisch überbeanspruchte Bundesverfassungsgericht. Zudem beendet sie den bestehenden Widerspruch zwischen der gesetzlichen Konzeption des Annahmeverfahrens und der Praxis durch die Kammern. Demnach bleibt das bisherige Kammersystem bestehen. Die Kammern sind ausschließlich für eine Entscheidung über Verfassungsbeschwerden zuständig und bekommen eine Auswahlkompetenz eingeräumt. Bei der Auswahlentscheidung müssen sie sich an der besonderen Bedeutung der Entscheidung des Gerichts für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte orientieren. Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, wenn sich alle drei Richter der Kammer dafür aussprechen. Der jeweils zuständige Berichterstatter sichtet die Verfassungsbeschwerden. Stuft er sie als nicht annahmewürdig ein, leitet er sie dem Mitberichterstatter zu. Teilt auch dieser die Auffassung des Berichterstatters, ist die Verfassungsbeschwerde nicht angenommen. Um zu verhindern, dass die Rechtsprechung der einzelnen Kammern zu weit auseinander driftet, wird eine Regelung in § 16 BVerfGG aufgenommen, wonach der Senat anzurufen ist, wenn eine Kammer bei einer Rechtsfrage von der Entscheidung einer anderen Kammer abweichen will. Die Vorteile des bisherigen Annahmeverfahrens werden mit den Vorteilen eines freien Annahmeverfahrens kombiniert.
Anhang I Entscheidungen und Zuordnungen
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
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1. Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 6 Entscheidungen (BVerfGK 1, 53; 1, 100; 1, 122; 1, 167; 1, 285; 1, 172). Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 2 Entscheidungen (BVerfGK 2, 102; 2, 318). Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 2 Entscheidungen (BVerfGK 3, 49; 3, 319). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 1 Entscheidung (BVerfGK 4, 283). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 3 Entscheidungen (BVerfGK 5, 32; 5, 60; 5, 146). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 2 Entscheidungen (BVerfGK 6, 5; 6, 144). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 5 Entscheidungen (BVerfGK 7, 120; 7, 168; 7, 217; 7, 276; 7, 397). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 5 Entscheidungen (BVerfGK 8, 36; 8, 205; 8, 313; 8, 363; 8, 165). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 7 Entscheidungen (BVerfGK 9, 48; 9, 54; 9, 92; 9, 231; 9, 325; 9, 353; 9, 83). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 5 Entscheidungen (BVerfGK 10, 374; 10, 389; 10, 499; 10, 330; 10, 134). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 1 Entscheidung (BVerfGK 11, 405). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 7 Entscheidungen (BVerfGK 12, 60; 12, 85; 12, 95; 12, 378; 12, 410; 12, 417; 12, 422). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 6 Entscheidungen (BVerfGK 13, 49; 13, 67; 13, 115; 13, 137; 13, 336; 13, 472). 2. Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 19 Entscheidungen (BVerfGK 1, 13; 1, 15; 1, 45; 1, 51; 1, 65; 1, 103; 1, 117; 1, 126; 1, 140; 1, 145; 1, 158; 1, 173; 1, 214; 1, 269; 1, 298; 1, 316; 1, 120; 1, 156; 1, 245). Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 16 Entscheidungen (BVerfGK 2, 16; 2, 55; 2, 78; 2, 82; 2, 144; 2, 165; 2, 176; 2, 185; 2, 190; 2, 239; 2, 254; 2, 258; 2, 310; 2, 337; 2, 118; 2, 119). Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 14 Entscheidungen (BVerfGK 3, 1; 3, 4; 3, 27; 3, 55; 3, 112; 3, 128; 3, 153; 3, 159; 3, 208; 3, 247; 3, 306; 3, 314; 3, 324; 3, 348). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 6 Entscheidungen (BVerfGK 4, 176; 4, 267; 4, 303; 4, 323; 4, 227; 4, 259).
372
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 16 Entscheidungen (BVerfGK 5, 17; 5, 40; 5, 56; 5, 67; 5, 74; 5, 84; 5, 109; 5, 161; 5, 186; 5, 230; 5, 254; 5, 266; 5, 289; 5, 347; 5, 363; 5, 365). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 18 Entscheidungen (BVerfGK 6, 13; 6, 57; 6, 61; 6, 119; 6, 153; 6, 213; 6, 242; 6, 260; 6, 295; 6, 316; 6, 323; 6, 353; 6, 360; 6, 364; 6, 384; 6, 68; 6, 178; 6, 326). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 12 Entscheidungen (BVerfGK 7, 21; 7, 49; 7, 61; 7, 65; 7, 87; 7, 140; 7, 239; 7, 279; 7, 312; 7, 392; 7, 421; 7, 432). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 11 Entscheidungen (BVerfGK 8, 1; 8, 84; 8, 211; 8, 219; 8, 225; 8, 249; 8, 260; 8, 307; 8, 332; 8, 408; 8, 183). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 16 Entscheidungen (BVerfGK 9, 62; 9, 97; 9, 108; 9, 132; 9, 143; 9, 149; 9, 198; 9, 259; 9, 274; 9, 287, 9, 306; 9, 339; 9, 365; 9, 406; 9, 381; 9, 399). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 8 Entscheidungen (BVerfGK 10, 16; 10, 216; 10, 283; 10, 294; 10, 519; 10, 544; 10, 159; 10, 403). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 12 Entscheidungen (BVerfGK 11, 1; 11, 33; 11, 88; 11, 119; 11, 146; 11, 179; 11, 208; 11, 286; 11, 323; 11, 383; 11, 388; 11, 164). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 5 Entscheidungen (BVerfGK 12, 37; 12, 45; 12, 166; 12, 210; 12, 472). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 12 Entscheidungen (BVerfGK 13, 26; 13, 119; 13, 128; 13, 211; 13, 390; 13, 400; 13, 409; 13, 487; 13, 516; 13, 557; 13, 562; 13, 482). 3. Religions-, Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 1 Entscheidung (BVerfGK 1, 141). Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 2 Entscheidungen (BVerfGK 2, 22; 2, 29). Band 3: Keine Entscheidung. Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 1 Entscheidung (BVerfGK 4, 54). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 3 Entscheidungen (BVerfGK 5, 135; 5, 175; 5, 223). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 1 Entscheidung (BVerfGK 6, 92). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 1 Entscheidung (BVerfGK 7, 320). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 1 Entscheidung (BVerfGK 8, 151). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 1 Entscheidung (BVerfGK 9, 371). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 1 Entscheidung (BVerfGK 10, 423). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 1 Entscheidung (BVerfGK 11, 128).
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
373
Band 12 (August 2007 bis November 2007): 3 Entscheidungen (BVerfGK 12, 17; 12, 308; 12, 440). Band 13 Keine Entscheidung. 4. Schutz der Kommunikation und politischen Beteiligung Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 8 Entscheidungen (BVerfGK 1, 62; 1, 95; 1, 136; 1, 235; 1, 289; 1, 320; 1, 327; 1, 343). Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 4 Entscheidungen (BVerfGK 2, 1; 2, 11; 2, 231; 2, 325). Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 4 Entscheidungen (BVerfGK 3, 77; 3, 97; 3, 105; 3, 300). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 4 Entscheidungen (BVerfGK 4, 60; 4, 154; 4, 200; 4, 305). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 1 Entscheidung (BVerfGK 5, 179). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 3 Entscheidungen (BVerfGK 6, 64; 6, 101; 6, 104). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 6 Entscheidungen (BVerfGK 7, 1; 7, 12; 7, 221; 7, 229; 7, 452; 7, 133). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 8 Entscheidungen (BVerfGK 8, 53; 8, 79; 8, 89; 8, 107; 8, 159; 8, 173; 8, 178; 8, 195). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 4 Entscheidungen (BVerfGK 9, 245; 9, 317; 9, 442; 9, 447). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 12 Entscheidungen (BVerfGK 10, 1; 10, 6; 10, 153; 10, 167; 10, 250; 10, 265; 10, 312; 10, 383; 10, 435; 10, 485; 10, 493; 10, 363). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 9 Entscheidungen (BVerfGK 11, 21; 11, 29; 11, 82; 11, 102; 11, 298; 11, 362; 11, 409; 11, 478; 11, 474). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 4 Entscheidungen (BVerfGK 12, 119; 12, 272; 12, 354; 12, 280). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 5 Entscheidungen (BVerfGK 13, 1; 13, 82; 13, 97; 13, 163; 13, 430). 5. Justizgrundrechte Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 20 Entscheidungen (BVerfGK 1, 1; 1, 3; 1, 8; 1, 26; 1, 32; 1, 58; 1, 69; 1, 86; 1, 87; 1, 101; 1, 107; 1, 110; 1, 189; 1, 201; 1, 207; 1, 211; 1, 217; 1, 331; 1, 337; 1, 340).
374
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 17 Entscheidungen (BVerfGK 2, 14; 2, 27; 2, 33; 2, 45; 2, 51; 2, 70; 2, 97; 2, 107; 2, 140; 2, 149; 2, 174; 2, 196; 2, 202; 2, 207; 2, 213; 2, 261; 2, 223). Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 18 Entscheidungen (BVerfGK 3, 20; 3, 135; 3, 143; 3, 147; 3, 165; 3, 169; 3, 181; 3, 192; 3, 197; 3, 207; 3, 222; 3, 264; 3, 274; 3, 297; 3, 302; 3, 329; 3, 331; 3, 355). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 18 Entscheidungen (BVerfGK 4, 1; 4, 19; 4, 36; 4, 49; 4, 66; 4, 69; 4, 72; 4, 83; 4, 87; 4, 102; 4, 105; 4, 112; 4, 116; 4, 119; 4, 137; 4, 171; 4, 243; 4, 287). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 13 Entscheidungen (BVerfGK 5, 7; 5, 45; 5, 101; 5, 142; 5, 155; 5, 189; 5, 196; 5, 237; 5, 269; 5, 316; 5, 328; 5, 337; 5, 369). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 15 Entscheidungen (BVerfGK 6, 1; 6, 53; 6, 72; 6, 79; 6, 88; 6, 148; 6, 197; 6, 206; 6, 235; 6, 284; 6, 291; 6, 303; 6, 334; 6, 344; 6, 380). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 15 Entscheidungen (BVerfGK 7, 71; 7, 83; 7, 185; 7, 198; 7, 205; 7, 258; 7, 260; 7, 263; 7, 325; 7, 346; 7, 350; 7, 403; 7, 417; 7, 438; 7, 485). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 16 Entscheidungen (BVerfGK 8, 10; 8, 49; 8, 64; 8, 118; 8, 136; 8, 169; 8, 266; 8, 271; 8, 275; 8, 280; 8, 285; 8, 303; 8, 319; 8, 355; 8, 376; 8, 401). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 16 Entscheidungen (BVerfGK 9, 13; 9, 22; 9, 37; 9, 43; 9, 46; 9, 169; 9, 174; 9, 211; 9, 225; 9, 282; 9, 295; 9, 390; 9, 420; 9, 425; 9, 449; 9, 460). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 19 Entscheidungen (BVerfGK 10, 7; 10, 19; 10, 41; 10, 94; 10, 125; 10, 129; 10, 142; 10, 148; 10, 195; 10, 208; 10, 244; 10, 258; 10, 270; 10, 275; 10, 309; 10, 360; 10, 397; 10, 442; 10, 509). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 16 Entscheidungen (BVerfGK 11, 9; 11, 13; 11, 48; 11, 54; 11, 62; 11, 153; 11, 203; 11, 215; 11, 235; 11, 241; 11, 262; 11, 337; 11, 369; 11, 420; 11, 435; 11, 461). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 11 Entscheidungen (BVerfGK 12, 33; 12, 111; 12, 126; 12, 139; 12, 158; 12, 227; 12, 303; 12, 341; 12, 346; 12, 374; 12, 402). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 17 Entscheidungen (BVerfGK 13, 7; 13, 64; 13, 72; 13, 147; 13, 171; 13, 218; 13, 231; 13, 246; 13, 345; 13, 348; 13, 382; 13, 438; 13, 496; 13, 506; 13, 544; 13, 569; 13, 572). 6. Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 15 Entscheidungen (BVerfGK 1, 18; 1, 28; 1, 40; 1, 55; 1, 60; 1, 66; 1, 83; 1, 238; 1, 240; 1, 249; 1, 259; 1, 265; 1, 292; 1, 303; 1, 308).
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
375
Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 7 Entscheidungen (BVerfGK 2, 75; 2, 89; 2, 179; 2, 266; 2, 283; 2, 298; 2, 305). Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 10 Entscheidungen (BVerfGK 3, 39; 3, 63; 3, 74; 3, 234; 3, 241; 3, 259; 3, 270; 3, 277; 3, 337; 3, 367). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 17 Entscheidungen (BVerfGK 4, 20; 4, 26; 4, 30; 4, 42; 4, 46; 4, 78; 4, 131; 4, 144; 4, 210; 4, 219; 4, 223; 4, 272; 4, 298; 4, 313; 4, 317; 4, 333; 4, 356). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 14 Entscheidungen (BVerfGK 5, 1; 5, 25; 5, 50; 5, 91; 5, 125; 5, 129; 5, 170; 5, 205; 5, 217; 5, 228; 5, 245; 5, 250; 5, 292; 5, 356). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 19 Entscheidungen (BVerfGK 6, 28; 6, 38; 6, 46; 6, 83; 6, 114; 6, 126; 6, 130; 6, 156; 6, 164; 6, 182; 6, 193; 6, 254; 6, 266; 6, 273; 6, 276; 6, 290; 6, 349; 6, 368; 6, 399). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 15 Entscheidungen (BVerfGK 7, 110; 7, 117; 7, 124; 7, 163; 7, 202; 7, 283; 7, 303; 7, 357; 7, 401; 7, 410; 7, 443; 7, 448; 7, 458; 7, 465; 7, 477). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 16 Entscheidungen (BVerfGK 8, 15; 8, 143; 8, 232; 8, 239; 8, 244; 8, 338; 8, 343; 8, 349; 8, 368; 8, 372; 8, 395; 8, 418; 8, 319; 8, 355; 8, 376; 8, 401). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 11 Entscheidungen (BVerfGK 9, 1; 9, 8; 9, 18; 9, 28; 9, 160; 9, 203; 9, 291; 9, 314; 9, 330; 9, 430; 9, 453). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 27 Entscheidungen (BVerfGK 10, 13; 10, 48; 10, 59; 10, 66; 10, 79; 10, 90; 10, 99; 10, 105; 10, 116; 10, 180; 10, 186; 10, 203; 10, 227; 10, 234; 10, 263; 10, 288; 10, 319; 10, 322; 10, 346; 10, 355; 10, 416; 10, 450; 10, 464; 10, 474; 10, 482; 10, 525; 10, 535). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 8 Entscheidungen (BVerfGK 11, 130; 11, 189; 11, 253; 11, 312; 11, 352; 11, 398; 11, 445; 11, 465). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 17 Entscheidungen (BVerfGK 12, 1; 12, 26; 12, 72; 12, 106; 12, 132; 12, 184; 12, 189; 12, 206; 12, 244; 12, 253; 12, 265; 12, 284; 12, 364; 12, 371; 12, 383; 12, 428; 12, 460). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 22 Entscheidungen (BVerfGK 13, 35; 13, 51; 13, 58; 13, 154; 13, 181; 13, 205; 13, 242; 13, 256; 13, 262; 13, 278; 13, 286; 13, 294; 13, 303; 13, 354; 13, 372; 13, 418; 13, 442; 13, 501; 13, 521; 13, 531; 13, 551; 13, 576). 7. Gleichheitsgrundrechte Es ergibt sich folgende Einzelverteilung: Band 1 (Januar 2003 bis August 2003): 14 Entscheidungen (BVerfGK 1, 22; 1, 48; 1, 72; 1, 81; 1, 111; 1, 178; 1, 182; 1, 184; 1, 188; 1, 194; 1, 198; 1, 223; 1, 227; 1, 314). Band 2 (September 2003 bis Februar 2004): 7 Entscheidungen (BVerfGK 2, 36; 2, 120; 2, 131; 2, 136; 2, 275; 2, 279; 2, 330).
376
Anhang I: Entscheidungen und Zuordnungen
Band 3 (März 2004 bis Juli 2004): 12 Entscheidungen (BVerfGK 3, 15; 3, 90; 3, 101; 3, 123; 3, 127; 3, 174; 3, 178; 3, 185; 3, 213; 3, 229; 3, 256; 3, 310). Band 4 (August 2004 bis Dezember 2004): 13 Entscheidungen (BVerfGK 4, 12; 4, 17; 4, 75; 4, 93; 4, 95; 4, 99; 4, 161; 4, 166; 4, 203; 4, 215; 4, 281; 4, 339; 4, 349). Band 5 (Januar 2005 bis Juni 2005): 4 Entscheidungen (BVerfGK 5, 10; 5, 71; 5, 132; 5, 340). Band 6 (Januar 2005 bis November 2005): 6 Entscheidungen (BVerfGK 6, 20; 6, 25; 6, 136; 6, 171; 6, 239; 6, 371). Band 7 (Dezember 2005 bis März 2006): 3 Entscheidungen (BVerfGK 7, 135; 7, 269; 7, 363). Band 8 (April 2006 bis Juli 2006): 5 Entscheidungen (BVerfGK 8, 46; 8, 59; 8, 126; 8, 213; 8, 388). Band 9 (August 2006 bis November 2006): 8 Entscheidungen (BVerfGK 9, 118; 9, 123; 9, 128; 9, 155; 9, 218; 9, 263; 9, 412; 9, 437). Band 10 (Dezember 2006 bis März 2007): 3 Entscheidungen (BVerfGK 10, 84; 10, 340; 10, 553). Band 11 (April 2007 bis Juli 2007): 5 Entscheidungen (BVerfGK 11, 93; 11, 268; 11, 281; 11, 373; 11, 391). Band 12 (August 2007 bis November 2007): 8 Entscheidungen (BVerfGK 12, 81; 12, 104; 12, 148; 12, 169; 12, 290; 12, 298; 12, 394; 12, 453). Band 13 (Dezember 2007 bis Mai 2008): 10 Entscheidungen (BVerfGK 13, 31; 13, 108; 13, 189; 13, 201; 13, 276; 13, 406; 13, 431; 13, 449; 13, 455; 13, 583).
Anhang II Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens
Kammer
Nichtannahme – § 93b S. 1 BVerfGG – Es fehlt eine Vss. des § 93c I 1 BVerfGG
Verfahrensregister (BvR)
Verfassungsbeschwerde
Nichtannahme
Stattgabe § 93c I 1 BVerfGG: 1. Vss. des § 93a II b BVerfGG (Annahme und Stattgabe fallen zusammen) 2. Maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden 3. Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet
Annahme Nur Durchsetzungsannahme § 93a II b BVerfGG
Stattgabe
Stattgabe
Durchsetzungsannahme § 93a II b BVerfGG
Zurückweisung
Annahme
Grundsatzannahme § 93a II a BVerfGG
Senat
Bürger wünscht Übertragung (§ 61 II GOBVerfG) Berichterstatter (Verfassungsrichter)
Allgemeines Register (AR)
Justizverwaltungsangelegenheit
Präsidialrat (Beamter mit Befähigung zum Richteramt)
Eingabe an das BVerfG
Anhang II: Der praktische Ablauf des Annahmeverfahrens 379
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Sachwortverzeichnis Allgemeines Register 47 Annahme- bzw. Stattgabevoraussetzungen – angezeigt 71 – besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung 73 – besonders schwerer Nachteil 76 – existentielle Betroffenheit 75 – maßgebliche verfassungsrechtliche Frage 67 – offensichtliche Begründetheit 69 – unbestimmte Rechtsbegriffe 62 Annahmeverfahren – Ablauf 47 – begründete Nichtannahmebschlüsse als Steuerungsinstrument 60 – Charakter 43 – Durchsetzungsannahme 44 – Entwicklung 23–24, 26–28, 30–31 – Gesetzesakzessorietät 42 – gesetzliche Grundlagen 42 – grundgesetzliche Ermächtigung 36 – Grundsatzannahme 44 – grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung 78 – Justizverwaltungsangelegenheit 48 – Kammerbefugnisse 45 – Kammerquorum 51 – Kammersache 50 – keine Begründungspflicht für Nichtannahmebeschlüsse 58 – Probleme der Zuständigkeitsverteilung 53 – Senatsakzessorietät der Kammern 19 – Senatsquorum 52 – Senatssache 51
– Votum 49 – Zahlen 85 Belehrungsverfahren siehe Vorverfahren nach der Geschäftsordnung 48 Benda-Kommission 342 Berichterstatter 49 besonderes Gewicht der Grundrechtsverletzung – Justizgrundrechte 231–232 – Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn 145, 147 besonders schwerer Nachteil – Freiheit der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung 267–268 – Gleichheitsrechte 307–308 – Schutz der menschlichen Persönlichkeit im weiteren Sinn 144–145 – Schutz des Kerns der menschlichen Persönlichkeit 109 Bestimmtheitsgebot 98 Eigentumsgarantie siehe maßgebliche verfassungsrechtliche Frage – Schutz des Eigentums 286 einstweilige Anordnung – Begründetheit 200 – Doppelhypothese 201 – Zulässigkeit 199 existentielle Betroffenheit – Gleichheitsrechte 309 freies Annahmeverfahren siehe senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen 39 Geschäftsverteilung 24–26, 48
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Sachwortverzeichnis
Hecksche Formel 98 Imperativentheorie 94 kammergesteuerte Annahme nach Ermessen – einfachgesetzliche Regelung 353 – grundgesetzliche Regelung 354 – Modell 351 Konditionalschema 94 Mahrenholzsche Formel 68, 88 maßgebliche verfassungsrechtliche Frage – allgemeiner Gleichheitssatz 310, 313, 315, 339 – allgemeiner Justizgewährungsanspruch 244–246, 248 – allgemeines Persönlichkeitsrecht 110–111, 114, 116–117, 119, 122, 124, 126, 129, 132, 331 – Anspruch auf rechtliches Gehör 250, 252, 337 – Berufsfreiheit 117, 271–272, 275, 278, 281, 283, 337 – besonderer Gleichheitssatz 318–320, 328, 339 – Bewertungskriterien 88, 92, 97 – Differenzierungsverbote 322, 324, 327–328, 339 – Elternrecht 147–148, 161, 164, 166, 169, 177, 268, 333 – Freiheit der Person 149, 263, 332 – Leistungsprinzip 294, 296–297, 300 – Meinungsfreiheit 217–218, 220, 223, 225–226, 228, 336 – Persönlichkeitsrecht 118 – Prüfungsschema 100 – Recht auf informationelle Selbstbestimmung 132, 134, 136–137, 332 – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit 140, 332
– Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt 233–235, 237, 239, 244, 336 – Religionsfreiheit 172, 174, 177, 184–185, 334 – Schutz des Eigentums 284–286, 288–289, 291–292, 294 – Unverletzlichkeit der Wohnung 156, 333 – Versammlungsfreiheit 198, 205, 209, 212, 335 – Wissenschaftsfreiheit 186, 188, 191, 193–194, 334 Präsidialrat 47, 56, 63 Prinzipientheorie 95 Rechtsnorm 93 Reformvorschläge – Änderungen in der Struktur und Organisation 346 – effektivere Ausgestaltung des bestehenden Verfahrens 347 – Einbeziehung der Landesverfassungsgerichte 345 – kammergesteuerte Annahme nach Ermessen siehe kammergesteuerte Annahme nach Ermessen 351 – modifizierte Anhörungsrüge 344 – senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen siehe senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen 342 – Verfahrensgrundrechtsbeschwerde 345 senatsgesteuerte Annahme nach Ermessen – einfachgesetzliche Regelung 343 – grundgesetzliche Regelung 344 – Modell 342 – Praxistest 349 Senatsmaßstäbe 92 U.S. Supreme Court 31
Sachwortverzeichnis vereinfachtes Verwerfungsverfahren 25–26 Verfahrensregister 47 Verfassungsbeschwerde – außerordentlicher Rechtsbehelf 34 – Erfolgsquote 86 – objektive Funktion 35 – subjektive Funktion 35
Vorprüfungsausschüsse 25, 27 Vorprüfungsverfahren 24 Vorverfahren nach der Geschäftsordnung 48 wissenschaftliche Mitarbeiter 55, 63 writ of certiorari-Verfahren 31
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