Adressat und Paraineseform: Zur Intention von Hesiods »Werken und Tagen« 3525251858, 9783525251850


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Adressat und Paraineseform: Zur Intention von Hesiods »Werken und Tagen«
 3525251858, 9783525251850

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HYPOMNEMATA 86

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Hartmut Erbse/Christian Habicht Hugh Lloyd-Jones/Günther Patzig/Bruno Snell

HEFT 86

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

JENS-UWE SCHMIDT

Adressat und Paraineseform Zur Intention von Hesiods .Werken und Tagen'

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

ClP-KuTztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Schmidt, Jens-Uwe: Adressat und Paraineseform: zur Intention von Hesiods ,Werken und Tagen' / Jens-Uwe Schmidt. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1986. (Hypomnemata; H. 86) ISBN 3-525-25185-8 NE: GT

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Η 361 © Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1986 Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann-Satz GmbH &. Co. KG, Lemförde. Druck: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist Teil meines Habilitationsskriptums, das im Sommer 1983 der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld vorgelegt wurde; sie ist inzwischen leicht überarbeitet worden, seither erschienene Literatur konnte jedoch nicht mehr berücksichtigt werden. Der Verfasser weiß sich zu besonderem Dank verpflichtet: Frau Professor Elisabeth Gülich und den Herren Professoren Günter Berger, Reinhart Herzog und Jochen Martin für kritische Lektüre der Arbeit, den Herausgebern dieser Reihe für die Aufnahme des Beitrages unter die ,Hypomnemata' und für die Mühe, die sie dabei auf sich genommen haben, besonders den Herren Professoren Albrecht Dihle und Hartmut Erbse für wertvolle Hinweise und Anregungen; der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, ohne den die Arbeit nicht in dieser Form hätte erscheinen können. Dank gebührt nicht zuletzt dem Verlag für umsichtigen Rat und sorgsame Herstellung. Herrn Professor Jochen Martin, durch dessen kritische Anfragen die erneute Beschäftigung mit den Erga angestoßen wurde, sei auch an dieser Stelle für unschätzbare Anregungen in zahlreichen Gesprächen herzlich gedankt. Bielefeld im März 1986

Inhalt Vorbemerkung I.

II.

9

Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention der Erga

11

1. Die zwei Teile der Erga

12

2. Perses - eine reale Person?

19

3. Die Prozeßsituation

21

Die Adressaten

29

1. Die Adressaten des ersten Teils (1-285)

29

1.1 Die Zielgruppe der ersten Parainese (27-41) 1.2 Die Dikeparainese (213-85) 1.3 Adressat und Thema des Prooems (1-10)

29 33 41

2. Die Adressaten des zweiten Teils (286-617)

47

2.1 Perses als Adressat des zweiten Teils 2.2 Ein allgemeines ,Du' als Adressat 2.3 Adressat und Ziel der,Seefahrtsanweisungen'

47 52 71

III. Die zentralen Formen der Parainese in den Erga

80

1. Einführung

80

2. Die aufrüttelnde Parainese

84

3. Die Anleitungsparainese

90

4. Die Umstimmungsparainese

96

4.1 Vergleich ihrer Gestaltung bei Homer (Phoinix-Rede im J) und Hesiod (Dikeparainese) 4.2 Die Gestaltungsmittel der Umstimmungsparainese 4.2.1 Allegorische Argumentationen 4.2.2 Verheißung und Drohung 4.3 Der Widerspruch zwischen den /Verheißungen' in der Umstimmungsparainese und denen für das Eiserne Zeitalter . . .

5. Die parainetische Funktion der „mythologischen Exempla" in der Phoinix-Rede und bei Hesiod

96 102 102 104 110

118

8

Inhaltsverzeichnis

6. Zusammenfassung 6.1 Die vier Stufen der hesiodschen Parainese 6.2 Das Ziel der Phoinix-Rede und das Anliegen Hesiods 6.3 Die Vorstellung von δίκη bei Hesiod

121 121 121 125

Literatur

136

Sachregister

140

Verzeichnis griechischer Wörter

142

Stellenregister

143

Vorbemerkung Es mag abwegig erscheinen, nach den schier unendlichen Bemühungen um die Erga noch neue Indizien zu erwarten, die das Anliegen, das Hesiod mit seinen Erga verfolgte, überzeugender als bisher erkennbar machen. Dennoch möchte ich im folgenden den Versuch unternehmen, weitere Anhaltspunkte für die Intention der Erga an Hand der Frage zu gewinnen, wer in den einzelnen Partien der Erga eigentlich angesprochen wird. Dabei geht es mir nicht allein darum, den nominellen Adressaten zu ermitteln, sondern diejenige Person oder diejenigen Personen, deren Sache in den einzelnen Teilen verhandelt wird. Es soll also überlegt werden, wer sich von Hesiods Ausführungen jeweils angesprochen und betroffen fühlen mußte. Das kann durchaus der ausdrücklich angesprochene Adressat sein, aber er muß es nicht sein. Trotzdem bleibt in jedem Fall zunächst zu erwägen, welche Bezüge die einzelnen Ausführungen zu dem nominellen Adressaten haben. Sollte aber die Betroffenheit des angesprochenen Adressaten von der Sache, die verhandelt wird, abnehmen und deren Bezug auf einen anderen, ihm fernstehenden Personenkreis wahrscheinlich sein, so muß auch nach Gründen gesucht werden, die das Festhalten an dem nominellen Adressaten erklären können. Die auf diese Weise gewonnenen Indizien möchte ich dann in einem zweiten Teil überprüfen. Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, daß die Absichten, die sich über die Adressatensituation erkennen lassen, auch in der Art der Gestaltung der Erga ihren Niederschlag gefunden haben müssen. Konkret: Wenn es sich bei den Erga um ein ,parainetisches Gedicht' handelt, muß sich auch in der Art und Struktur der Parainese oder vielleicht auch nur bestimmter Parainesen das besondere Anliegen des Dichters spiegeln. Eine solche,Gegenprobe' scheint mir angesichts der langen Forschungsgeschichte der Erga notwendig. Aber sie bleibt natürlich unzureichend, da sich auch durch sie die Bedeutung der gewonnen Anhaltspunkte nur für einen Teil der immer wieder behandelten Probleme, die die Erga aufgeben, verifizieren läßt.

I Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention der Erga Für die Beantwortung der Frage nach dem Adressaten und der Intention der Erga scheint das Werk unübersehbare Anhaltspunkte zu bieten: Einmal sind die Erga - zumindest überwiegend - an eine bestimmte Person gerichtet, nämlich an den Bruder des Dichters, an Perses1, zum anderen spielt Hesiod an mehreren Stellen auf die Situation an, aus der heraus er sich an seinen Bruder wendet: Zwischen ihnen sind Erbstreitigkeiten anhängig, die sie auch schon vor Gericht geführt haben (34/7; 248 f.; 267ff.; 315f.). Wenn in dieser Situation Hesiod an seinen Bruder appelliert, seinen Sinn von Streit (27), Unrecht, Gewalt (213,275) und fremdem Eigentum (33 f.; 315 f.) abzuwenden, dann liegt die Annahme nahe, daß Hesiod mit Hilfe der Erga auf eine beide Seiten befriedigende Beendigung der Erbstreitigkeiten mit dem Bruder hinwirken will (vgl. 35f.). Diese Absicht scheint so mit Händen zu greifen, daß Kirchhoff bekanntlich am Ende des letzten Jahrhunderts 2 zu der Überzeugung kam, daß wir im ersten Teil der Erga (1-292) sogar verschiedene ,Lieder' vor uns hätten, die Hesiod verfaßt habe, um direkt auf den Ablauf eines Prozesses mit seinem Bruder zu seinen Gunsten Einfluß zu nehmen. Zweifellos beflügelt durch die Homer-Analyse3, glaubte Kirchhoff sogar, sechs ursprüngliche Prozeßlieder herauslösen und sie überdies zwei verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung zuweisen zu können 4 . Bei diesem besonde1 27; 213; 274; 286; 299; 397; 611; 633; 641 wird sein Name genannt; doch auch andere Ermahnungen (an die 2. Person) sind zweifellos an ihn gerichtet, ζ. B. 313ff. ; 335. Als, Adressat' wird hier also zunächst ganz formal die Person bezeichnet, die der Dichter bei seinen Ausführungen anspricht (vgl. auch die Könige 248). Das soll natürlich nicht heißen, daß Hesiod notwendig nur zu ihnen reden will; deshalb kann der ,Adressat' in einem weiteren Sinne auch den Kreis einschließen, an den Hesiods Ausführungen tendenziell gerichtet sind. Doch bleibt darüber hinaus zu prüfen, ob Hesiod auch über diesen fixierten Adressatenkreis hinaus jemanden ansprechen will, etwa um ihm Mitteilungen über seine Adressaten im engen oder weiteren Sinne zu machen. 2 A. Kirchhoff, Hesiods Mahnlieder an Perses, Berlin 1889. 3 Zur Hesiod-Analyse vgl. z.B. F. Susemihl, Zur Literatur des Hesiod (1864), in: Hesiod, hg. von E. Heitsch, Darmstadt 1966 = Wege der Forschung 44 (künftig = WdF) 2 f.; zu Susemihls eigener Position 12 ff. Den Anfang machte F. Thiersch, Über die Gedichte Hesiods, Denkschr. Königl. Ak. d. Wiss. München 1813. 4 Lied 1 bis 4 (11-48; 202-9 + 212; 213-247; 248-264) und 5/6 (270-85; 286-92) stammten jeweils aus einer Phase der Auseinandersetzung; Lied 7/8 (293-313; 314-694

12

I. Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention

ren Verständnis der Erga als ;Gebrauchsdichtung' sind Adressat und Intention also fest umrissen: Hesiod richtet seine „Ausführungen... an Perses und die Könige"5, um einen akzeptablen Prozeßausgang zu erreichen. Entsprechend gehören zu seinen Darstellungsmitteln vor allem Appell, Warnung, Ermahnung, Argumentation usw. Allerdings wäre mit der Anrede an Perses und bisweilen auch an die richtenden Könige die Bestimmung des Adressaten bzw. der Zielgruppe des Werkes noch nicht völlig abgeschlossen. Es müßte nämlich überlegt werden, ob und ggf. wie Hesiod mit seinen Appellen und Ermahnungen über die unmittelbar angesprochenen Personen hinaus auch die Öffentlichkeit einer solchen Gerichtsverhandlung einzubeziehen sucht, also die Anhänger der beiden Parteien und die große Zahl der Zuhörer6. Aber solche Überlegungen brauchen zumindest in diesem Zusammenhang noch nicht angestellt zu werden, da sich Kirchhoffs Ansatz nicht durchgesetzt hat. Das ist nicht allein in der ,Liedertheorie' begründet, sondern vielleicht noch mehr in der Tatsache, daß sich große Partien der Erga mit Kirchhoffs ,Prozeßliedern' einfach nicht verbinden ließen und von ihm deshalb auch als später eingeschobene ,zweite Schicht' ausgegliedert und einem,Redaktor' zugewiesen werden mußten. Diese,Stücke der zweiten Schicht' aber, das ist für unsere Fragestellung wichtig, weichen für Kirchhoff von denen der ersten Schicht vor allem durch ihre Intention und ihren Adressaten ab: Sie seien nämlich „durchweg allgemeiner Natur" 7 und,lehrhaften Inhalts' und dabei „nicht an Perses oder überhaupt an bestimmte Personen gerichtet".

1. Die zwei Teile der Erga Damit ist ein besonders schwieriges Problem der Erga berührt, nämlich die Frage, wieweit sie sich überhaupt als Einheit verstehen lassen8; für unsere Themenstellung schließt sich daran die Überlegung, ob wir nicht

in Teilen) soll dann sogar eine grundlegende Veränderung der Beziehungen zwischen den Brüdern voraussetzen, vgl. dazu S. 60 f. 5 Kirchhoff (Anm. 2) 33; das Vorhandensein eines festen Adressaten reicht alleine zur Bestimmung der Gattung sicher noch nicht aus,· doch vgl. M. Erren, Untersuchungen zum antiken Lehrgedicht, Diss. Freiburg 1956, besonders S. 24. 6 Zur Gerichtssituation vgl. die Darstellung auf dem Schild des Achilleus, Σ 497-508. 7 Kirchhoff (Anm. 2| 35. 8 Hinzu kommt noch die Frage nach der Echtheit der letzten Partien der Erga, der sogenannten ,Reinheitsvorschriften' (724-759) und der ; Tage' (764-825). Wilamowitz (Hesiods Erga, erklärt von U. v. W. Berlin 1928) hält beide Teile entschieden für unecht (Text S. 37f. ; Kommentar S. 132f.); seine Position stützt mit ausführlicher Argumenta-

1. Die zwei Teile der Erga

13

statt nach der Intention und den Adressaten der Erga vielmehr nach denen ihrer Teile zu suchen haben9. Doch diese Bedenken versucht schon die Feststellung von Friedländer aus dem Jahre 1913 auszuräumen, die heute wohl allgemeine Zustimmung gefunden hat: „Hesiods Erga sind in allem Wesentlichen die als Einheit gemeinte Dichtung eines Verfassers"10. Allerdings ist mit diesem Bekenntnis das Grundproblem der Einheit des Werkes zunächst nur auf eine andere Ebene gehoben, woran auch Friedländer keinen Zweifel ließ: „Und wie hat sich dieses Konglomerat von mythologischer Erzählung, Streitrede, Fabel, Spruchdichtung und Lehrvortrag im Geist des Mannes zu einer dichterischen Ganzheit fügen können? Es ist gut, sich einzugestehen, wie wenig wir in Wahrheit wissen und begreifen"11. Es ist sicher bemerkenswert, wieviele energische Versuche seither unternommen worden sind, den Einblick in das,Wesen' der Erga zu vertiefen und Kriterien für ihre Einheitlichkeit ausfindig zu machen. Auf der tdon H. Diller, Die dichterische Form von Hesiods Erga (Abh. Mainzer Ak. 1962) in WdF 239-274, hier 271-274; sie wird auch von uns den nachfolgenden Überlegungen zugrunde gelegt. Ich will aber nicht verhehlen, daß die Argumente der Gegenposition (etwa M. L. West, Hesiod's Works and Days, ed. with Proleg. and Comm., Oxford 1978, hier: zu 724-59 und 765-828, und P. Walcot, Greek Peasants, Ancient and Modern, Manchester 1970, 118f.) meiner Ansicht nach einer ausführlicheren Auseinandersetzung bedürften. Jedenfalls werden die fraglichen Teile desto eher für echt gehalten, je näher die Erga an die Weisheitsliteratur des Vorderen Orients herangerückt erscheinen. Dort hat man j a zufällig auch eine ausführliche Aufzählung,glücklicher und unglücklicher' Tage gefunden, dazu P. Walcot, Hesiod and the Didactic Literature of the Near East, REG 75.1962.31. 9 Vgl. ζ. Β. Κ. Bielohlawek, Hypotheke und Gnome, Phil.-Suppl. 32, Η 3 (1940) besonders 10 und 46f.: Der Aufbau der Erga sei „ein Ausnahmefall... in der Weltliteratur überhaupt", weil die Teile der Erga (Mahngedicht (1-326), Spruchdichtung und Lehrdichtung) „nach Gehalt und Gattung selbständige Stücke sind" (S. 10). Dabei liegt das Problem natürlich nicht in der offenkundigen Besonderheit der einzelnen Teile, sondern in deren Integration in ein Gesamtanliegen bzw. deren Einbeziehung in die,Ermahnung des Bruders'. - Eine gute Einführung in die Geschichte dieses Problems gibt W. Fuss, Versuch einer Analyse von Hesiods Έργα και' Ημέραι, Diss. Gießen 1910.3-22. Er betont zu Recht, daß die Einheit der Erga für das Altertum offenbar keine Frage war, auch nicht für die Verfasser der Scholien, obwohl sie ζ. T. das Prooem oder auch einzelne Versgruppen athetierten. ίο P. Friedländer, Ύποθήκαι, Η 48.1913,558 ff.; daraus,! Hesiod'jetzt in WdF 223-38, hier: 223; den Anfang in diese Richtung macht C. F. Ranke, De Hesiodi operibus et diebus commentatio, Göttingen 1838. 11 Ebd. 225; vgl. etwa auch: U. v. Wilamowitz (S. 12 Anm. 8) 146; J. Kerschensteiner, Zu Aufbau und Gedankenführung in Hesiods Erga, Η 79. 1944. 149-191, hier: 186; K. v. Fritz, Das Hesiodische in den Werken Hesiods, in: Fondation Hardt VII. 1962.1-47 (Diskuss 48-60), hier: 39; W. J. Verdenius, Aufbau und Absicht der Erga, in: Fondation Hardt VII.1962. 111-159, hier 155. Vgl. auch F. J. Teggart, The Argument of Hesiods Works and Days, Journ of the Hist, of Ideas. 8.1947.45-77.

14

I. Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention

einen Seite wurde die Einheit des Werkes über den Nachweis der kompositorischen Prinzipien gesucht12, auf der anderen Seite über die Entwicklung von Hesiods „individuellem Denken"13, wieder andere Untersuchungen galten der gattungsmäßigen Zugehörigkeit der Erga; diese konzentrierten sich vor allem auf einen Vergleich mit dem homerischen Epos, mit dem Hesiod nicht nur metrische Form und dichterische Sprache, sondern auch die wesentlichen Elemente parainetischer Rede gemein zu haben scheint14. Schließlich wurde der Zugang zum Verständnis der Erga in zunehmendem Maße auch über einen Vergleich mit der Weisheitsliteratur des Vorderen Orients gesucht. Diese von Dornseiff (1934)15 initiierten Bemühungen haben inzwischen ganz erstaunliche Ergebnisse zutage fördern können, gelang es doch, nicht nur für den zweiten Teil der Erga, sondern gerade auch für den ersten Teil zahlreiche Entsprechungen in verschiedenen Texten sowohl aus verschiedenen Zeiten (ab dem 2. Jahrtausend) als auch bei verschiedenen Völkern nachzuweisen 16 . Wenn sich die große Verwandtschaft Hesiods mit der Weisheitsliteratur des Vorderen Orients heute nicht mehr bestreiten läßt17 und sogar seine Abhängigkeit von ihr behauptet wird, so scheint mir doch auch über dieses Vergleichsmaterial das Problem, das das Verhältnis von Adressat und Intention aufgibt, noch nicht ausreichend gelöst zu sein.

12

Etwa das Kompositionsprinzip der Assoziation (Verdenius, S. 13 Anm. 11), die Verbindung des scheinbar Widersprüchlichen, Unzusammenhängenden oder sogar Unlogischen (v. Fritz, S. 13 Anm. 11: zuerst Ranke, S. 13 Anm. 10), den Aufbau aus einzelnen Bausteinen und Elementen (W. Nicolai, Hesiods Erga. Beobachtungen zum Aufbau, Heidelberg 1964). Vgl. auch P. Walcot, The Composition of the Works and Days, REG 74.1961.1-19, hier 15f. („... bound together by an increasingly skilful use of ringcomposition"). · 13 Besonders: J. Blusch, Formen und Inhalt von Hesiods individuellem Denken, Bonn 1970; aber natürlich zielen auch zahlreiche andere Abhandlungen (wenn nicht alle) gerade auf dieses Thema; ich verweise hier nur noch auf v. Fritz (S. 13 Anm. 11), W. Fuss (S. 13 Anm. 9) vgl. 25, Minna Sk. Jensen, Tradition and Individuality in Hesiod's Works and Days, Cl. et. Mediaev. 27.1966.1-27. 14 Besonders Diller (S. 13 Anm. 8), aber auch H. Munding, Hesiods Erga in ihrem Verhältnis zur Ilias, Frankfurt 1959. 15 F. Dornseiff, Hesiods Werke und Tage und das alte Morgenland, Phil.89.1934. 397-415 (jetzt = WdF 131-150). 16 Vor allem aus sumerischen, ägyptischen und israelitischen Texten, aber auch aus babylonischen und hethitischen. Eine gute Übersicht über die in Frage kommenden Paralleltexte zu den einzelnen Themen bietet Nicolai (S. 14 Anm. 12) 191 ff., vgl. besonders die Anm. 10 von S. 191 und Anm. 22 von S. 193. Ausführliche Vergleiche finden sich bei Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 13-36 und West in der Einleitung seines Kommentars (S. 13 Anm. 8; künftig zitiert als ,West'). Hingewiesen sei auch auf den Quellenanhang zu Η. H. Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit, Berlin 1966. " Vgl. West S. 3 ff., besonders S. 29.

1. Die zwei Teile der Erga

15

Einerseits k a n n m a n , w i e es a l l g e m e i n ü b l i c h ist, v o n d e n a n g e r e d e t e n A d r e s s a t e n a u s g e h e n u n d d a s Z i e l der Erga e n t s p r e c h e n d d a r i n sehen, Perses u n d die K ö n i g e 1 8 v o n der Fortsetzung eines u n g e r e c h t e n Prozesses o d e r a u c h v o n der Fortsetzung d e s U n r e c h t s d u r c h einen n e u e n Prozeß a b z u b r i n g e n 1 9 ; d a b e i stellt sich d a n n a l l e r d i n g s die Frage, w i e u n d a u c h w o d i e s e s m i t H i l f e der Erga erreicht w e r d e n sollte, vor a l l e m aber, w e l c h e R o l l e d a b e i der v o n K i r c h h o f f charakterisierten „ z w e i t e n Schicht", speziell d e m zweiten Teil der Erga, z u k ä m e . A u f der a n d e r e n Seite spricht vieles f ü r d i e T h e s e v o n W i l a m o w i t z , H e s i o d sei ein R h a p s o d e g e w e s e n u n d h a b e d i e s e s Lied vorgetragen, „ w o i m m e r m a n i h n h ö r e n w o l l t e " 2 0 ; d e s h a l b k ö n n e er d a s G e d i c h t nicht g e s c h r i e b e n h a b e n , „ u m auf d i e Richter u n d die G e g e n p a r t e i e i n z u w i r k e n " . W i l a m o w i t z ist seiner S a c h e so sicher, d a ß er s o g a r konstatiert: „ w e r d a s meint, m u ß es (sc: d a s G e d i c h t ) zerreißen" 2 1 . Bei d i e s e m V e r s t ä n d n i s s c h e i n e n d i e A k t u a l i t ä t der Situation, d i e pers ö n l i c h e B e t r o f f e n h e i t u n d A u f l e h n u n g d e s Dichters, d i e Ernsthaftigkeit

Eine genauere Eingrenzung des Personenkreises, der von Hesiod mit βασιλήες bezeichnet wird, will trotz vieler Versuche wegen der allzu spärlichen Angaben nicht gelingen, vgl. West zu 38; dagegen vgl. auch: Τ. A. Sinclair, Hesiod, Works and Days, London 1932 (Introduction, text, commentary) XVIIIf. Dennoch läßt sich sicher soviel sagen, daß es sich bei ihnen um Adlige handeln muß, in deren Händen die Gerichtsbarkeit' liegt, also um άνδρες δικάσπολοι. Zum Kreis der in Frage kommenden Adligen mögen zwei Odyssee-Stellen als Anhaltspunkte dienen: ο 386ff. ; λ 184ff. 19 Vgl. etwa Diller (S. 13 Anm. 8) 246; Entsprechendes gilt auch bei J. Kühns These (Eris und Dike. Untersuchungen zu Hesiods Έργα και Ήμέραι, Würzburger Jb.2.1947. 159-294], Hesiod selbst habe jetzt einen Prozeß gegen seinen Bruder in Gang gebracht und wolle mit seinem Gedicht den Bruder vom Meineid und die Richter von ungerechtfertigter Begünstigung abbringen, besonders 274ff. 2 0 |S. 12 Anm. 8; künftig nur zitiert mit, Wilamowitz') 134f. Um konkrete Vorstellungen bemüht sich auch in diesem Punkt Walcot, Greek Peasants (S. 13 Anm. 8; dieses Werk künftig ohne Kurztitel); er meint, wir könnten uns Hesiods Vorträge vor allem in der ,Lesche' oder ,Schmiede' vorstellen (15 und 30f.), an jenen Orten also, die Hesiod dem Bauern im Winter strikt zu meiden empfiehlt (493 f.). Nach Ausweis der Odyssee gehört der Sänger zum Fest; deshalb wird Phemios von den Freiern sogar zur fortwährenden Anwesenheit bei ihren ,Werbungsfestlichkeiten' gezwungen (α 153ff.), Demodokos aber, der von dem Phäakenkönig gerufen wird, nimmt nicht nur am Festmahl, sondern auch an den Wettkämpfen im Freien (Θ 105 ff.) teil. So wird auch Hesiod vielfach gerufen und eingeladen worden sein und entsprechend an den verschiedensten Orten und vor dem verschiedensten Publikum vorgetragen haben, und das nicht nur in Askra. Was ihn aber von den Sängern der homerischen Epen grundsätzlich unterscheidet, ist seine Unabhängigkeit; er hat j a auf jeden Fall mehr als auskömmlichen Landbesitz geerbt und ist deshalb nicht auf die Gaben seines Publikums angewiesen. Deshalb sind seine Aufenthalte in der ,Lesche' jedenfalls nur Gelegenheits- oder vielleicht sogar gezielte Besuche. 21 S. 135. 18

16

I. Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention

seiner Mahnungen an den Bruder und anderes so sehr an Bedeutung zu verlieren, daß es letztlich nur konsequent wäre, Perses, die Könige und die Erbstreitigkeiten gleichsam als Staffage zu verstehen, „als künstlerische Form, in die er (Hesiod) seine Ansprache kleidet, um sie wirksam zu machen" 22 . Dabei ändert sich dann neben der Zielgruppe einmal auch die ganze Intention: statt der Korrektur eines Rechtsverfahrens oder der Abwendung erwarteten Unrechts zielte das Werk jetzt auf allgemeine Unterweisung und Belehrung, sei es in der Art der altorientalischen Weisheitsliteratur, sei es auch aus dem Versuch, „die Welt und ihre Gesetze durch Reflexion zu ergründen"23, oder aus dem Ziel, methodisch die Frage zu beantworten, was wir tun könnten, „um unser Los zu verbessern"24. Allerdings erheben sich bei dieser Lösung wiederum Bedenken, ob denn nicht ein derartiges dichterisches Anliegen auch Auswirkungen auf die ganze Art der Darstellung haben müßte und nicht anstelle von Intervention und Agitation auch im ersten Teil das Bestreben zu informieren und zu überzeugen überwiegen müßte. Vielleicht kann eine Frage von Munding 25 zuspitzen, was dieser zweiten Position entgegengehalten wird: „Warum und wozu der revolutionäre, allem epischen Stil ins Gesicht schlagende personale Ausgangspunkt 26 des Gedichtes, da doch ein unmittelbar praktischer Anlaß dazu nicht besteht?" Die Vergleiche mit der vorderorientalischen Weisheitsliteratur haben gerade in diesem Punkte auf Entsprechungen geführt, die sowohl unser anstehendes Problem als auch die Frage nach der Einheit der Erga zu lösen scheinen. West, der in der Einleitung zu seinem Erga-Kommentar

22

W. Jaeger, Paideia, I (21936) 96f. ; vgl. auch Dornseiff (S. 14 Anm. 15) 133 und W. Marg, Hesiod. Sämtliche Gedichte, übers, und erläutert, Zürich/Stuttgart 1970.342f. 23 Kerschensteiner (S. 13 Anm. 11) 189f.; für sie bringt Hesiod „Göttermythos wie Alltagsleben der Menschen... in ein kosmisches System", herausgefordert durch die bitteren Erfahrungen im Streit mit seinem Bruder und den Königen um sein Erbe. Zu dieser Position vgl. schon Ranke (S. 13 Anm. 10), die Seiten: 27 f.; 32ff.; 45f.; Ähnlich auch M. Hoffmann, Die ethische Terminologie bei Homer, Hesiod und den alten Elegikern und Jambographen, (Diss.) Tübingen 1914.104. 24 H. Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 21962. 128. 2

= (S. 14 Anm. 14) 12 ff. Dieser ,Ausgangspunkt' ist freilich nach Jäger (S. 16 Anm. 22) 263 und Dornseiff |S. 14 Anm. 15) 134f. für die ύποθηκαι-Literatur typisch. Diese Beobachtung ist zweifellos zutreffend; aber die Zugehörigkeit der Erga zu dieser Literatur hat sich bisher keineswegs evident machen lassen, vgl. eindeutig Diller (S. 13 Anm. 8) 240ff. ; und ,die Anklagen' „wegen Beugung des Rechts" (Jäger 263, ausdrücklich anerkannt von Dornseiff 134) im ersten Teil bei Hesiod und bei Theognis lassen sich wirklich nicht ohne weiteres vergleichen: hier das geraubte Erbgut, dort der Verlust von Privilegien. Vgl. hierzu auch West 23 f. 26

1. Die zwei Teile der Erga

17

einen vorzüglichen Überblick über vergleichbare altorientalische Texte bietet (S. 3-30), hat dort auch auf Weisheitsliteratur aus Ägypten und Sumer hingewiesen, bei der die jeweiligen Unterweisungen in einen erzählenden Rahmen aktuellen Inhalts' hineingestellt sind. So werden die ,Lehren des Onchsheshonqy' aus dem Gefängnis erteilt, in das der P-RePriester (Onchsheshonqy) gebracht wurde, weil er dem Pharao eine Verschwörung gegen ihn nicht angezeigt hatte. Auf den Bericht von diesem Ereignis folgt offenbar zunächst eine Beschwerde wegen der Ungerechtigkeit der Einkerkerung (der Priester hatte immerhin die Verschwörer von ihrem Vorhaben abzubringen versucht), an die sich Anweisungen schließen („a string of precepts and gnomes"), die auf einen Bauern auf dem Lande ausgerichtet sind (West 12). Als weiteres Beispiel sind die assyrischen Lehren des weisen Schreibers Ahiqar anzuführen (West 13f.), dem Wesir des Königs Sennacherib, der bei diesem von seinem Adoptivsohn Nadin zu Unrecht wegen Verrats verleumdet wurde und diesen ,Sohn' dann je nach Überlieferungsvariante entweder vor seiner Entlarvung oder danach bei Besuchen im Gefängnis ,belehrt', wobei der Türhüter seine Worte mitschreibt. Während diese beiden Beispiele wohl nachhesiodisch sind27, sind „die Klagen oder Beschwerden des Bauern" aus Sumer sicher fast 1000 Jahre älter als die Erga. Dort berichtet die Rahmenerzählung, wie ein Wüstenbewohner auf dem Weg nach Herakleopolis von einem der Leute des ,Oberkämmerers' Rensi überfallen wurde. In der Stadt angekommen, trägt er bei diesem Rensi neun eindringliche Aufrufe vor, den Schuldigen zu bestrafen und den Forderungen der Gerechtigkeit zu entsprechen. Der Fall kommt schließlich auch dem König zu Ohren, der daraufhin die Gerechtigkeit wiederherstellt. Hier ist offenbar der Rahmenfall so dominant, daß auch West es für schwierig hält, eine scharfe Trennungslinie zwischen „narrative fiction" und „wisdom literature" (Zitat aus Barns bei West 12) zu ziehen. Anhand dieser Beispiele kann West nachweisen, daß es auch in der altorientalischen Weisheitsliteratur nicht nur die gewöhnliche Situation gegeben habe, wo ein Weiser einen Unerfahrenen und Führungsbedürftigen (Sohn oder Schüler) unterwiesen habe, sondern auch die, wo sich ein Opfer von Ungerechtigkeit auf der Suche nach Wiedergutmachung an eine andere Person wende28. Es läßt sich gewiß nicht bestreiten, daß West hier höchst bedeutsame Parallelen beigebracht hat, und es ist auch nicht völlig unwahrscheinlich, daß literarische Texte wie die angeführten ei-

27 28

Vgl. auch Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8), 15f. West 28.

18

I. Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention

nen Anstoß oder sogar das Modell für die Erga abgegeben haben. Aber die Überraschung über diese Entdeckungen darf nun andererseits unseren Blick nicht dafür trüben, daß diese Texte in einer Reihe wesentlicher Punkte mit den Erga gerade nicht übereinstimmen, und uns deshalb noch nicht das Recht geben, die Frage nach der besonderen Absicht der Erga und die Klärung des bezeichneten Widerspruchs zwischen Adressat und Intention als unerheblich beiseite zu lassen. Erstens findet sich in den Erga keine Erzählung, die einen ,Rahmen' konstituiert; zum anderen bringen jene Angaben, die man mit einem derartigen Rahmen am ehesten in Verbindung bringen könnte, weder einen eindeutigen,Vorspann', also etwa einen Bericht, wann und wie die Ereignisse ihren Anfang nahmen, noch eine Andeutung über deren Abschluß. Beides aber scheint für die jeweiligen Texte konstitutiv zu sein, also der ausgezogene Rahmen für die altorientalischen Texte, dessen Fehlen für die Erga. Wenn dort nämlich der Lehrende entweder selbst im Gefängnis gelandet ist oder den Schuldigen zur Unterweisung,hinter Schloß und Riegel' aufsucht, dann sind ihre Lehren in Ereignisse eingebettet, die bereits ihren gebührenden Abschluß gefunden haben, mit dem das Gute gesiegt hat und die Gerechtigkeit der herrscherlichen Gewalt manifest geworden ist (das gilt zumindest rückblickend auch für ,die Klagen des Bauern'). Die Ereignisse können deshalb als beglaubigendes Beispiel für die Gültigkeit und Berechtigung der überkommenen und allgemein bekannten Lehren dienen. Wenn dagegen Hesiod seine Mahnungen und Warnungen (vor allem des ersten Teils) vorträgt, kann der Hergang seines,Falles' gerade nicht zur Aktualisierung und erneuten Bestätigung immer schon gültiger Maximen und Lehren beitragen, sondern lediglich als Provokation verstanden werden, die Gültigkeit seiner Forderungen und Anweisungen anzuerkennen und künftig auch zu beachten. Wird also auf der einen Seite die Geltung bestehender Lehren durch die Rahmenereignisse bestätigt, so werden im anderen Falle (durch den vermeintlichen Rahmen) Forderungen erhoben und Anweisungen erteilt, deren Wert und Zweckmäßigkeit sich nicht unmittelbar beglaubigen lassen. Die Umstände, unter denen gelehrt wird, sind noch in anderer Hinsicht nicht vergleichbar. Die altorientalischen Beispiele nämlich bringen Belehrungen und Mahnungen, die von der höchsten Autorität (dem König) ausdrücklich gebilligt sind (Onchsheshonqy schreibt auf Tonscherben, die dem König täglich zur Begutachtung vorgelegt werden, ehe sie an den Sohn weitergeleitet werden dürfen, West 13) oder am Ende gebilligt werden (Rensi wird bestraft, Nadin landet wegen falscher Beschuldigung seines Onkels im Gefängnis); Hesiods Mahnungen zur Dike aber richten sich nicht nur an j ene selbst, die die höchste Autorität beanspruchen und darstellen, sondern wollen deren Entscheidungsgewalt außerdem noch

2. Perses - eine reale Person?

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einer neuen unbedingten Autorität unterstellen (nämlich der des Zeus)29. Mit ihrer Stellung also läßt sich nicht einmal die des Oberkämmerers Rensi vergleichen, der; wie der Schluß ganz deutlich macht, selbst noch abhängig und untergeordnet ist; deshalb kann Kritik an ihm etwa mit dem Ziel einer Rechtfertigung des Königs durchaus ihren traditionellen Platz haben. Schließlich ist auch die Adressatensituation nicht vergleichbar,· weder entspricht der Bruder einfach dem Sohn oder Adoptivsohn 30 und, wie gerade gezeigt, die Könige dem Oberkämmerer, noch findet sich ein entsprechender Adressatenwechsel in den orientalischen Texten; wenigstens kann auch West hierfür nur ein Beispiel aus Solons Elegien anführen31. So können uns die Parallelen aus der orientalischen Weisheitsliteratur, wie mir scheint, die Frage nach dem besonderen Anliegen Hesiods nicht abnehmen, vielmehr durch ihre überraschend weitreichenden Entsprechungen erst recht Anlaß geben, nach der Bedeutuiig der unverkennbaren hesiodschen Besonderheiten zu fragen32.

2. Perses - eine reale Person{

In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion um die,Realität' des Adressaten Perses. Es gibt nicht wenige Interpreten, die wie Dornseiff Perses für fiktiv halten, für ein „herausgegriffenes Muster von Lesern..., wie Hesiod sie sich wünscht"33. Dafür gibt es jedoch keinerlei Berechtigung. Zunächst hat West ein wichtiges Argument hervorgehoben (34): „... it would be exceptional for a pretend person to be addressed by one who is just who he seems to be namely Hesiod ..." Zum anderen steht einem fiktiven Verständnis von,Perses' auch - zumindest indirekt - die letzte biographische' Partie in den Erga entgegen. Dort erinnert Hesiod seinen Bruder an die Lebensumstände des Vaters (637ff.), an dessen

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Vergleichbares scheint sich allenfalls in dem babylonischen Hymnus auf den Sonnengott Shamash zu finden, vgl. dazu Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 23 ff. 30 Vgl. auch Walcots Versuch, eine Parallele aus dem ägyptischen Osiris-Mythos (ebd. S. 33f.) und vor allem durch die hethitische Erzählung von dem reichen Appu und seinen beiden Söhnen ,Gut und Böse' (ebd. 34ff.) beizubringen. Doch allgemeine Muster für Erbstreitigkeiten zwischen zwei Söhnen wird es genug gegeben haben, wie schon das A.T. deutlich macht. 31 West 23 f. 32 Vgl. hierzu Nicolais Position (S. 14 Anm. 12) 193 f.; sie muß allerdings hinsichtlich (der Einmaligkeit der Verbindung der beiden unterschiedlichen Teile' und ,der Besonderheit der Adressatensituation' nach Wests Ausführungen modifiziert werden. 33 Dornseiff (S. 14 Anm. 15) WdF 133.

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vergebliches Bemühen, durch Schiffshandel der Armut zu entrinnen (632 ff.), und an dessen Übersiedlung von Kyme in Aeolien nach Askra in Böotien, ihrem gemeinsamen Heimatort. Diese Angaben können, zumal in unmittelbarer Verbindung mit Hesiods „Lebensgeschichte als Dichter" (650ff. und 654ff.)34, sicher nicht einfach als aktualisierende Fiktion verstanden werden, und gehen zudem auch weit über die Individualisierung eines fiktiven Adressaten in der vergleichbaren Weisheitsliteratur hinaus. Damit ist natürlich, genau genommen, für die Realität der gerichtlichen Auseinandersetzung Hesiods mit seinem Bruder noch kein Nachweis erbracht, aber dadurch, daß sich eine biographische Partie der Erga als offensichtlich nichtfiktiv erweist, ist die Realitätsnähe anderer, inhaldich nahestehender biographischer Angaben immerhin wahrscheinlich35. So hat Nicolai36 sicher recht mit seiner Bemerkung: „Hesiod kann seinem Vater nicht einen nichtsnutzigen Sohn (Perses) anhängen, den es nie gegeben hat"37. Wenn aber Perses eine reale Person ist und damit auch den Erbstreitigkeiten Realität zukommt, dann sind wir dadurch praktisch auf das Ausgangsproblem zurückgeworfen, nämlich auf die Frage, wie Hesiod sein Gedicht, das sich an bestimmte Personen mit einem speziellen Anliegen (Abwendung ihm drohenden Unrechts) wendet, zugleich einer breiteren Öffentlichkeit vortragen und dabei vor allem auch Interesse finden konnte 38 . Denn soviel ist deutlich geworden, daß die an Perses und die Könige gerichteten Ermahnungen und Invektiven des ersten Teils nicht allein dazu dienen können, die Aufnahmebereitschaft für die von Hesiod vermittelte Lehre zu erhöhen oder überhaupt erst herzustellen. Zu viele und zu wesentliche Partien dieses ersten Teiles wie z.B. die Prophetie des Eisernen Zeitalters, der Ainos (202ff.), die große Mahnung an die Könige (248ff.), der verzweifelte Ruf nach einer ausgleichenden

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Zudem beglaubigt' durch die Anspielung auf die Theogonie, 22ff.: Erg. 658 ff. Die Gegenposition etwa bei Dornseiff (S. 14 Anm. 15) WdF 134ff. 36 (S. 14 Anm. 12) 194 Anm. 29. 37 Ein weiteres Argument bei West, 34, bezogen auf den Namen,Perses' und dessen Vorkommen in der Theogonie. Abwegig sind doch wohl die Argumente, die Ernest Will (Crise agraire? Ou recul de raristocratie? REG 78.1965.542-556, hier: 553) für die Realität des brüderlichen Streites vorträgt. 38 Diese Überlegung fehlt sehr oft, z.B. bei Kühn (S. 15 Anm. 19), der die Einheit der Erga in der Absicht Hesiods sieht, den Bruder zur Arbeit zu ermuntern, die ihn von materieller Not befreien und dadurch auch aus dem Zwang lösen werde, in dem bevorstehenden Prozeß einen Meineid zu schwören (275ff.)! Kann aber dann dieses ,Mahnlied' für andere noch interessant oder gar für sie gedacht sein? - Verbreitet ist auch die Meinung Bielohlaweks (S. 13 Anm. 9), Hesiod habe nach der ungerechten Erbteilung die Absicht, „den Bruder und die bestechlichen Richter vor aller Welt zu beschämen, zu rügen und wieder auf den rechten Weg zu bringen..." (46). 35

3. Die Prozeßsituation

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Gerechtigkeit (267ff.), lassen sich in ihrer Wirkung ja nicht auf die Herstellung,eines dramatischen Effektes'39 reduzieren, sondern sie sind auf unmittelbare Agitation angelegt.

3. Die Prozeßsituation Infolgedessen ist immer wieder nach Gründen gesucht worden40, die erklären, wieso sich Hesiod bei seiner Auseinandersetzung mit dem Bruder auch an ein breiteres Publikum wenden konnte oder wollte. Einer der ältesten und immer wieder stillschweigend vorausgesetzten Erklärungsversuche stammt von Kirchhoff. Nach seiner Meinung sei zumindest „ein Theil der Lieder" bestimmt gewesen, „vom Dichter selbst auf offener Straße in Askra oder Thespiae vor der zusammenlaufenden Menge vorgetragen zu werden, um für seine Sache beim gemeinen Manne zunächst Stimmung zu machen, und von da auf indirektem Wege erst" auf die eigentlich Gemeinten zu wirken41. Das schließt Kirchhoff daraus, daß Hesiod mit seiner „in das Allgemeine" ausweichenden „ausführlichen Schilderung der glückseligen Zustände", die in einer Gemeinde mit intakter Rechtssituation herrsche, auf seinen Bruder, „den ausgesprochenen Egoisten", nicht „den geringsten Eindruck" habe machen können. Abgesehen von dieser Begründung, wird seine These auch durch eine andere Beobachtung von ihm selbst unwahrscheinlich gemacht. Er hat nämlich festgestellt, daß Hesiod die konkrete Situation mit ihren Bedrohungen, um deretwillen er seine Mahnungen und Warnungen ausspricht, „meist nur andeutend" berührt 42 . In der Tat erfahren wir nicht einmal, worum der Streit eigentlich geht, ob um Land, Vieh, landwirtschaftliche Geräte oder andere Gegenstände, geschweige denn, welche Größe oder welchen Wert der Streitgegenstand hat; ebensowenig hören wir über dessen Bedeutung für den Betroffenen selbst, über dessen Lage und Abhängigkeit von dem gefährdeten Besitz43. Kirchhoff zog aus der Tatsache dieser geringen Situationshaltigkeit den Schluß, daß die Fakten selbst

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Jäger (S. 16 Anm. 22) I. 97. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die These von B. A. van Groningen (Hesiode et Perses, Mededelingen Ak. van Wetensch. Amsterdam (N.R.T.20) 6.1957.153-166), Hesiod ziele auf einen Appell an die Volksjustiz (155). 41 (S. 11 Anm. 2)'55f. 42 Ebd. 33. 43 Kühn glaubt hier doch wohl mehr zu fassen, als der Text hergibt (S. 15 Anm. 19) 275 f. 40

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offensichtlich „als den Beteiligten bekannt" vorausgesetzt werden44. Das hieße allerdings, daß der Adressatenkreis gerade sehr eng abzustecken und streng genommen, auf Perses, die Könige und einige Vertraute und Freunde zu beschränken ist. Von dieser Einschränkung her wird jedoch ziemlich unvorstellbar, daß Hesiod mit seinen Erga (oder Teilen von ihnen) auf den Gassen seines Heimatortes Nicht-Betroffene und Außenstehende zur Abwendung des ihm drohenden Unrechts aufrufen und in Bewegung bringen konnte oder wollte45. So ist offensichtlich geworden, wie schwer sich ein Adressatenkreis, der über die angesprochenen Personen hinausgeht, realisieren läßt, wenn man das Gedicht als Waffe in einem laufenden oder gegen einen bevorstehenden Prozeß ansieht. Daran ändert grundsätzlich wenig, wenn man, wie es in neuerer Zeit üblich geworden ist, annimmt, Hesiod stecke nicht mitten in, sondern vor einem Verfahren, und dieses sei nicht das erste46, sondern bereits das zweite. Der erste Prozeß sei nämlich bereits lange abgeschlossen und von Hesiod verloren worden, jetzt aber stehe ein zweites Verfahren bevor, das zwar von dem Bruder noch nicht tatsächlich in Gang gebracht, aber dem Dichter bereits angedroht sei, auf jeden Fall von ihm für die nahe Zukunft erwartet werde47. Unter dieser Voraussetzung also würde Hesiod versuchen, seinen Bruder von einem weiteren Prozeß und der Fortsetzung der ungerechten Bereicherung abzubringen. Zwar scheint bei diesem Ansatz nun eine Reihe von Widersprüchen oder Anstößen aufgehoben, die sich bei den übrigen Thesen zusätzlich ergeben. So bekommt Hesiod nun Anlaß, auch mit den Richtern wegen ihres

(S. 11 A n m . 2 ) 3 3 . Gegenteiliger Meinung ist ζ. B. Ed. Meyer, Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern (zuerst 1910], WdF 4 7 1 - 5 2 2 ; für ihn hat die Agitation sogar gewirkt: „Wie der Fortgang des Gedichtes zeigt, ist Hesiod später ein wohlhabender Mann im Besitz von Haus und Hof" (477). - Für ein Wirken ,auf den Gassen' bot zweifellos das Rechtsverfahren gar keinen Raum, da es offensichtlich in der Regel wenigstens keine verschiedenen Verhandlungstage gab, die einen Spielraum für eine Intervention in der Öffentlichkeit gelassen hätten. Beeinflußt werden konnten allerdings die gewöhnlich wohl zahlreichen Zuschauer, vgl. Ilias Σ 503 ff. Aber sie mußten entsprechend informiert werden. 44 45

4 6 Dieser Meinung ist jedoch Nicolai (S. 14 Anm. 12) 23 f. und nach ihm auch L. Lenz, Hesiods Prozesse, in: Dialogos, Festschr. H. Patzer, hg. v. J. Cobet (u.a.), Wiesbaden 1975.23-33: solange die alten Differenzen mit Perses nicht beigelegt seien, habe Hesiod hinreichend Anlaß . . . zur öffentlichen, gütlichen Paränese ad h o m i n e m . . . ' und empfinde das Publikum diese „als situationsgerecht und im ganzen kohärent". Hier erübrigt sich fast die Frage: welches Publikum und wann wurde es eingeweiht? 47

246.

Z.B.:Frankel(S. 1 6 A n m . 2 4 ) 125;v.Fritz(S. 13Anm. 11)38ff.,Diller|S. 1 3 A n m . 8 )

3. Die Prozeßsituation

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vorausgegangenen Unrechts scharf ins Gericht zu gehen 48 und entsprechend den Bruder noch entschiedener anzupacken. Gegenüber den Thesen, die von nur einem Prozeß ausgehen, einem abgeschlossenen oder einem anstehenden, hat dieser Ansatz zweifellos auch den Vorteil, daß er das Miteinander zweier Positionen, die Hesiod in dem Gedicht einnimmt, erklärt und begründet: Wegen des erlittenen Unrechts hat Hesiod Anlaß zu Empörung und Beschwerde, wegen des bevorstehenden neuerlichen Unrechts sieht er sich zu eindringlicher Mahnung und scharfer Warnung veranlaßt. Außerdem läßt sich aus dieser Situation die Hinzufügung allgemeiner oder grundsätzlicher Argumentationen vielleicht leichter verstehen als bei einer unmittelbaren Intervention in einem laufenden Verfahren oder einer späteren Abrechnung mit einem ungerechten Bruder. Doch auch bei diesem Interpretationsansatz sind wesentliche Einwände und Bedenken nicht aufgehoben: Weder wird verständlicher, warum Hesiod sich so wenig konkret äußert, zumal er unter diesen Umständen auch noch über alle Fakten des ersten Falles schweigt, noch wird ersichtlicher, warum er sich an die Öffentlichkeit wendet bzw. was er sich unter diesen Umständen und bei den sparsamen Informationen von ihr erhoffen kann. Hinzu kommt, daß auch jetzt die Zielgruppe des Werkes, selbst wenn Hesiod durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit den Bruder einschüchtern könnte, auf die ,Eingeweihten', also die mit dem Fall der Brüder schon Vertrauten, beschränkt bleiben müßte und das wären im günstigsten Fall „die Gassen von Askra und Thespiae". Diese Unvereinbarkeiten führen zwangsläufig dazu, die angenommene Aktualität eines (laufenden oder bevorstehenden) Rechtsverfahrens zu überdenken, da sich an der Realität des Adressaten offenbar nicht zweifeln läßt. Die wesentlichen Anhaltspunkte für den Stand der Erbauseinandersetzungen finden sich in dem ersten Teil der Erga, konkret in der Parainese der Verse 28-41. Dort versichert nämlich Hesiod seinem Bruder (34f.): „dir wird es aber nicht mehr ein zweites Mal möglich sein so zu handeln", nämlich (Vers 33) „Händel und Streit anzufachen um fremde Besitztümer". Erst die folgenden Angaben machen deutlich, daß es sich bei den „fremden Besitztümern" um Hesiods Eigentum handelt. Von diesem hat sich nämlich Perses nach der Teilung des Erbes zusätzliches Gut räuberisch angeeignet, wovon er wiederum einen nicht unbeträchtlichen Teil den „gabenfressenden Königen" abgetreten hat, οί τήνδε δίκην

4 8 Mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß die Attacken gegen die Richter in einem schwebenden Verfahren kaum als besonders geeignet angesehen werden könnten (Munding (S. 14 Anm. 14) bes. 18f.).

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έθέλουσι δικάσσαι (39)49. In diesem letzten Zusatz wird nun das entscheidende Indiz für einen zweiten, auf jeden Fall einen bevorstehenden Prozeß gesehen. Es basiert auf der Überzeugung50, daß δίκη hier nur ,Prozeß' heißen könne. Diese Bedeutung ist schon für antike Erklärer51 nur eine von vieren, die δίκη bei Hesiod zeige. Neben,Rechtsverfahren' (39, 249, 269) bedeute es noch Rechtsspruch (Urteil: z.B. 224), Gericht (z.B. 9, 278f.) und,Sühne' (239,712). Schon Mazon hat in seinem Kommentar jedoch nachdrücklich bestritten, daß δίκη bei Homer und Hesiod an irgendeiner Stelle,Prozeß' bedeuten könne52. Tatsächlich läßt sich bei Homer für diese Bedeutung allenfalls an eine Stelle (Σ 508) denken, aber auch dort kann es nicht um einen ,Prozeß' gehen, den einer 'auf geradeste Weise' verkündet (ίθύντατα εΐποι), sondern nur um eine,Rechtslösung' oder einfach das Recht. Auch für die Bedeutung,Sühne' gibt es bei Homer keine wirkliche Parallele, da an der einzig möglichen Stelle (T 180) nicht die Sühne des Agamemnon, sondern der Rechtsanspruch Achills, den es durch einen förmlichen Rechtsakt zu erfüllen gilt, im Blickpunkt steht. So führt an unserer Stelle nichts auf die Bedeutung,Prozeß', vielmehr spricht hier (Vers 39), wie West hervorhebt53, die Verbindung von δίκη mit δικάζω eindeutig für die Bedeutung: richterliche Entscheidung, Urteilsspruch. Auch die beiden übrigen in diesem Zusammenhang angeführten Stellen erzwingen keineswegs die Bedeutung ,Prozeß' (249 und 269)54,

49

Über die Bedeutung von δωροφάγοι ist viel diskutiert worden,· für die Gegenposition zu unserem Verständnis („bestechungsgabenfressend") vgl. zuerst van Groningen (S. 21 Anm. 40) 5 f., der die Gaben als rechtmäßig unter Berufung auf J 155 f. verstehen will. In seine Richtung zielt auch M. Gargarin, Dike in the Works and Days, C1 Ph 68.1973.81-94, der glaubt, Hesiod dränge seinen Bruder zu einer gütlichen Einigung, weil für jenen sonst die von den Königen ,erhobenen Gebühren' zu teuer würden, 91 und Anm. 21. - Originell ist schließlich auch hier der Versuch Walcots, durch die Zustände bei heutigen Schafhirten in Griechenland sowohl das ,Fressen' als auch das ,Geschenkemachen' als griechischem Geist (φιλοτίμο) und der Situation der Beamten (arm und ungesichert) entsprechend in ihrer Bedeutung abzumildern. Allerdings waren die Richter-Könige offensichtlich nicht arm und auch die übrigen Einzelheiten warnen eher davor, die Situation in Askra auf gewöhnliche' Verhältnisse isolierter oder doch abgeschlossener Gruppen (eben der ,Sarakatsani') der Gegenwart zu reduzieren; Walcot (S. 13 Anm. 8) 103f. 50

So Nicolai (S. 14 Anm. 12) 23,· vgl. auch seine Übersicht über weitere Vertreter dieser Auffassung in Anm. 20 derselben Seite. si Vgl. Wilamowitz zu 218-24. 52 P. Mazon, Hesiode. Les travaux et les jours, Paris 1914.47. 53 152. 5t Vgl. Nicolai (S. 14 Anm. 12) 60f. und Anm. 101; dagegen Fuss (S. 13 Anm. 9) 49f. und Anm. 1 von S. 50.

3. Die Prozeßsituation

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sondern legen eher eine Bedeutung wie justice' nahe, wie sie Mazon auch für Vers 39 vorgeschlagen hat. Angesichts dieses Befundes bleiben die Anhaltspunkte für ein aktuelles Verfahren, bei dem es sich in der Tat, wie die Formulierungen ausweisen, nur um einen zweiten Prozeß handeln könnte, ganz auf die Bemerkung in Vers 34 beschränkt. Aber bei genauerem Zusehen wird deutlich, daß Hesiod auch dort nicht von einem drohenden oder gar laufenden Prozeß spricht, sondern im Gegenteil lediglich betont, daß eine Wiederholung des Unrechts 55 gerade für den Bruder unmöglich geworden sei, weil ihm inzwischen jegliche Mittel fehlen. Infolgedessen schlägt Hesiod nunmehr eine rasche Lösung ihres Streites ,durch gerade Rechtszuweisungen' vor (35f.). Allerdings ist mit dieser Klärung der Aussagen von Vers 39 und Vers 34 nicht jeder Hinweis auf einen Prozeß geleugnet. Unrecht muß auf jeden Fall geschehen sein, wenn der Bruder vor einer Wiederholung gewarnt oder ihm diese als unmöglich vorgestellt wird. Deutlich ist auch, daß dies nur unter der Entscheidungsgewalt der Könige geschehen sein kann, sonst ließe sich nicht verstehen, warum Perses sie immer wieder mit Gaben zu,ködern' suchte, und auch die späteren Anwürfe (202ff.) und Aufforderungen (248ff.; vgl. auch 267ff.) hätten keinen Aufhänger. Daher ist es nicht zu bestreiten, daß die Erga auf einen zurückliegenden Prozeß anspielen, den Hesiod zu Unrecht verloren hat. Damit ist einmal die Frage nach der Bedeutung dieses Prozesses für die Erga neu gestellt: Warum greift Hesiod überhaupt auf das vergangene Verfahren zurück, wenn er offensichtlich nicht die Absicht hat, seinetwegen jetzt mit dem Bruder abzurechnen? Und warum aktualisiert Hesiod diesen Prozeß, wenn es ihm gar nicht darum zu tun sein kann, mit ,Mahnliedern' auf die Beteiligten oder das Volk von Askra zugunsten eines noch ausstehenden Urteils einzuwirken? Da wir die Möglichkeit ausschließen mußten, daß Hesiod auf den Prozeß nur als lebendiges Kolorit für den Lehrgegenstand zurückgegriffen habe56, muß es auch einen konkreten Anlaß geben, der Hesiod das in diesem Prozeß erlittene Unrecht zur Grundlage für den ganzen ersten Teil seines Werkes machen läßt. Das werden wir zu berücksichtigen haben.

55

Abwegig Lenz (S. 22 Anm. 46] 25ff. ; nach seiner Meinung hat noch gar kein Rechtsverfahren stattgefunden; Hesiod drohe hier deshalb, „daß Perses kein zweites Mal mehr das tun können wird, was er im Augenblick zu erwägen scheint". Schon die von Lenz selbst angeführten Achill-Worte (Φ 42ff.) zeigen, daß ein drohender Verweis auf eine fehlende Möglichkeit zur Wiederholung gerade einen eingetretenen ersten Fall voraussetzen. 56 Vgl. oben S. 15 f.

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Die angenommene Prozeßsituation hat nun zum anderen auch beträchtliche Konsequenzen für das Verständnis der Adressaten. Wenn Hesiod die Könige in einem laufenden Verfahren anspräche, zielten seine Worte zunächst einmal auf sie, genau genommen sogar nur auf die an diesem Verfahren Beteiligten von ihnen, auch wenn er durch die Wendung an eine breitere Öffentlichkeit seinen Ermahnungen zusätzlichen Nachdruck zu verleihen suchte. Wenn er aber die Könige unabhängig von einem laufenden oder bevorstehenden Prozeß anspricht, dann bleiben Adressat und Zielgruppe nicht mehr nahezu identisch, sondern die Rede richtet sich, über die Könige hinaus, an die ganze (zuhörende) Bevölkerung, um sie - als Zeugen der Ermahnungen und Vorhaltungen an die Adresse der Könige - mit deren Willkür-Verhalten zu konfrontieren und über die fehlende Berechtigung zu einem solchen Vorgehen aufzuklären 57 . Auch Perses erhält als Adressat unter diesen Umständen eine andere Funktion: Während seine Anrede bei einem aktuellen Verfahren zuerst auf ihn selbst, dann auch auf etwaige Parteigänger oder Freunde zielte, wird sie in einer nicht derart aktuellen Situation zur Herausforderung an alle, sich mit der Person des Bruders auseinanderzusetzen. Denn Perses ist nicht einfach der Vertraute wie sonst in den Lehrgedichten58, das ,DU', mit dem sich der Hörer identifizieren, unterweisen oder einweihen lassen soll, sondern der Ungerechte, der Mensch auf dem falschen Weg, von dem sich der Zuhörer gerade distanzieren oder fernhalten muß. Freilich ist mit der Funktion des abschreckenden Beispiels die Rolle des Perses in den Erga noch nicht ausreichend gekennzeichnet: er ist immer noch,Bruder' geblieben und in dieser besonderen Beziehung auch angesprochen - wenn wir die Perses-Gestalt überhaupt richtig erfaßt haben. West bestreitet nämlich neuerdings in seinem Kommentar, daß wir es in den Erga mit einem einheitlichen Erscheinungsbild des Perses zu tun haben, und behauptet statt dessen, daß sich das Persesbild fortlaufend, und zwar der jeweiligen thematischen Situation entsprechend, wandle. Er kann sich dabei auf wesentliche Ergebnisse aus der Zeit der Liedertheorie stützen, nach denen in den Erga nicht nur verschiedene Mahnungen aus dem Verlauf eines Prozesses vereinigt sein sollen, sondern zugleich auch indirekt dessen Verlauf bzw. die Wirkung der Mahnungen 59 gespiegelt würden. Diese Indizien führen West allerdings

Vgl. auch West 24. Der Regelfall jedenfalls scheint ein Autoritätsverhältnis gewesen zu sein wie etwa das zwischen einem Vater in bedeutender Position (Wesir) und seinem Sohn, vgl. das Proverbienbuch im A.T., oder einem Weisen und seinem Schüler, vgl. Nicolai (S. 14 Anm. 12) 193f. und Anm. 26 von 194. Zu anderen Verhältnissen oben S. 15ff. 59 Vgl. oben S. 21 f. und Anm. 45. 57 58

3. Die Prozeßsituation

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nicht zu genauerem Einblick in das persönliche Verhältnis der Brüder oder den Ablauf des Streites, sondern zu Zweifeln, ob der Dichter bei seinen Anreden an ,Perses' auch wirklich die eine bestimmte Gestalt seines Bruders vor Augen gehabt habe. Denn Perses erscheine am Anfang (27ff.) zunächst als arm und säumig, weil er auf dem Marktplatz herumstehe und den öffentlichen Prozeßverhandlungen zuhöre, statt seinen Hof zu versorgen. Unmittelbar darauf aber entpuppe er sich selbst als der Streitsüchtige und Rechtsbeuger, der sich sogar an dem Gut des Bruders räuberisch bereichert habe60. Daß ihm trotzdem jetzt die Mittel zur Fortsetzung des Unrechts fehlen sollen, bleibe daher eigentlich unverständlich. Bei der nächsten Hinwendung an Perses (213 und 273) begegne uns dieser erstaunlicherweise erneut in Verbindung mit „dishonest litigation and corrupt judges" und ihm sei, nach der Warnung zu urteilen, der Weg zu weiterem Unrecht keineswegs mehr verschlossen. Nur wenige Verse später sei dann aus dem bedrohlichen Räuber und Rechtsverdreher wieder der arme, faule und einfältige Perses vom Anfang geworden (286ff.). Unmittelbar vor Beginn des Bauernkalenders (381) müsse man der Ansprache an ihn sogar entnehmen, daß der Bruder sich völlig gewandelt habe: „Perses is willing to turn over a new leaf"61. Freilich werde nun auch diese Vorstellung von Perses nicht etwa während des ganzen folgenden Teiles durchgehalten (383-617), sondern schon wenig später hätten wir einen Perses, „who is begging already", ein Bild, was aber ebenso rasch wieder verblasse. Den größten Bruch im Erscheinungsbild des Perses stelle schließlich die Vorstellung dar, die wir in den Seefahrtsanweisungen von ihm gewinnen müßten: Dort sei Perses sogar als erfolgreicher Mann vorgestellt, der so viel Überschuß produziert habe, daß er an Handel über See denken könne. Treffen diese Beobachtungen zu, so sind die Auswirkungen auf das Adressatenverständnis und die weiteren Rückschlüsse auf die Intention des Werkes nicht gering. Auf jeden Fall würden die Erga sehr viel näher an die,Lehrdichtung' herangerückt werden müssen als wir dieses bisher angenommen haben, aber auch die Frage nach der Aktualität des Gedichtes und der Bedeutung der agitatorischen' Partien wäre ganz neu zu stellen. Allerdings scheint mir die von West skizzierte widersprüchliche Vielfalt im Erscheinungsbild des Perses gar nicht vorzuliegen. Wests Beobachtungen, die auf die alten Anstöße zurückgreifen, verweisen jedoch auf Undeutlichkeiten, Veränderungen oder sogar Brüche im Adressatenbild,

60 61

West 37f. S. 39.

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I. Die problematische Spannung zwischen Adressat und Intention

deren genauere Untersuchung einen Teil der zahlreichen Ergaprobleme aufzulösen verspricht. Wir werden deshalb für die folgenden Analysen zu den Adressaten die Skizze von West zum Ausgangspunkt nehmen und unsere Überlegungen in zwei große Abschnitte gliedern, die im wesentlichen an den Themenbereichen ,Recht' und ; Arbeit' orientiert sind.

Π. Die

Adressaten

1. Die Adressaten des ersten Teils (1-285) 1.1 Die Zielgruppe der ersten Parainese (27-41) Schon in der ersten Parainese (27-41) wandelt sich das Bild von Perses nicht wirklich. Zwar lassen sich die Kennzeichen der Person und ihrer Lebensumstände nur schrittweise gewinnen, aber die einzelnen Teile fügen sich doch folgerichtig zueinander und erscheinen keineswegs erst in Hesiods Gedankengang ,allmählich verfertigt' („by Hesiods train of thought") ^ diese schrittweise Entfaltung entspricht vielmehr der Art, wie die Informationen für den Zuhörer in die Warnungen, Mahnungen und Erinnerungen an die Adresse des Bruders integriert werden 2 . Zunächst erscheint Perses hier belehrungs- und ermahnungsbedürftig (27), soll er sich doch die Ausführungen (ταΰτα) des Hesiod über die ältere Tochter der Nacht (17), ihre Macht und Wirkung, zu Herzen nehmen. Wenn aber diese neue Entdeckung des Hesiod 3 nunmehr so ausdrücklich seiner Beherzigung empfohlen wird, so soll er sich offensichtlich etwas einprägen, was er bisher unberücksichtigt gelassen hat: die segensreiche Wirkung der guten Eris, die zur Arbeit weckt (20) und zum Streben nach Reichtum anstachelt (21 )4. 1

West 37. Vgl. dazu gut Nicolai (S. 14, Anm. 12) 22 f. und Kühn (S. 15 Anm. 19) 274f. 3 Sie sind dem Bruder (und Hörer) bereits als ,Wahrheit' (V.10) angekündigt. - Zur , guten Eris' vgl. auch Leiva Petersen, Zur Geschichte der Personifikation in griechischer Dichtung und bildender Kunst, Diss. Frankfurt 1939 (erschienen: Würzburg-Aumühle), die zu Recht darauf hinweist, daß „das Bild der guten Eris im Gegensatz zu der verderblichen" durch besondere Züge nicht ausgezeichnet sei |12ff.). - Zu den beiden ErisBegriffen vgl. auch die wertvollen Ausführungen von W.-L. Liebermann, Die Hälfte mehr als das Ganze. Zu Hesiods Rechtfertigung der Werte, H.109.385-409, hier: 394ff. Liebermann berücksichtigt wohl zu wenig, daß erst Zeus die gute Eris ,in die Wurzeln der Erde' gesetzt und damit die durch und durch negative Beschaffenheit der Welt wieder entscheidend verändert hat. 4 Nicolai (S. 14 Anm. 12) 21 f. will ταϋτα auf die vorangegangene Partie insgesamt beziehen, also nicht speziell auf das Wirken der guten Eris. Doch dagegen vergleiche nur Vers 24b. - Zur Wertschätzung des Reichtums und seiner grundlegenden Bedeutung für Hesiods Argumentation vgl. auch Liebermann (S. 29 Anm. 3) 393ff.,· allerdings läßt sich daraus kaum ein,positiver Rang' für die Arbeit selbst sichern, da diese ausschließlich als ,gottverhängtes Mittel' zum Erfolg und dessen Bewahrung dargestellt wird. 2

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II. Die Adressaten

Nur wenn man sich diese Voraussetzung der Mahnung verdeutlicht, folgt ihr auch konsequent der negativ formulierte Wunsch, daß er sich doch durch die schlechte Eris nicht den Sinn von der Arbeit abziehen lassen möge (28). Wie in diesem Fall die böse Eris von der Arbeit abhalten kann, erläutert der folgende Vers (29): νείκε' όπιπεύοντ' άγορής έπακουόν έόντα. Nach herkömmlicher Auffassung dieses Verses wirkt bei Perses die böse Eris dadurch, daß er sich herumtreibt, „wo die Leute prozessieren, oder wo es sonst was zu hören gibt"5. Aber όπιπεύω bedeutet doch wohl mehr als ,herumlungern' und ,zugaffen', wie die Parallelen bei Homer zeigen. Dort ist das,Gaffen' oder,Ausschau halten nach etwas' eindeutig zielgerichtet: der Bettler lauert angeblich den Weibern auf, um sie zu bekommen (τ 67), der feige Krieger späht nach Durchschlupfen im Kampf, um zu entfliehen (Δ 371), der Zweikämpfer will nicht hinterhältig nach dem Gegner (H 243) ,spähen', um ihn zu überrumpeln. Entsprechend muß hier von Perses gesagt sein, daß er Ausschau hält nach Gelegenheiten νείκεα anzuzetteln und auszutragen, während er die Vorgänge bei Gerichtsverhandlungen auf dem Markt verfolgt. Das aber bedeutet, daß Perses schon in der ersten Mahnung (Verse 27-29) als arm und zugleich prozeß- bzw. streitsüchtig vorgestellt wird. Diese Mahnung an Perses wird mit einem allgemeingültigen Grundsatz bekräftigt (30-2): „Denn wenig Zeit hat zu Prozessen und Streitereien, wer zu Haus nicht Lebensunterhalt ausreichend für ein Jahr gespeichert hat". Soll aber dieser Grundsatz auch zur Begründung der Mahnung an Perses dienen, muß er dessen Situation mit einschließen: Perses hat also so wenig Lebensunterhalt daheim gespeichert, daß dieser für das nächste Jahr nicht ausreichen wird (31 f.); infolgedessen hat er eigentlich überhaupt keine Zeit, Rechtsstreitigkeiten anzuzetteln (νεικέων) oder an Rechtsverhandlungen teilzunehmen (άγορέων). Erst wenn er seinen Lebensunterhalt hinreichend gesichert habe, folgert Hesiod deshalb in bitterer Ironie, könnte er die Rechtshändel um fremdes Eigentum fortsetzen und weiter ausdehnen (33). Diese Bemerkung unterstreicht, daß zunächst einmal weitere Streitigkeiten um fremden Besitz deshalb den Ruin des Perses bedeuten, weil sein Lebensunterhalt schon für die Zeit des Prozessierens nicht ausreicht, für die Zukunft aber infolge der Abwesenheit des Perses vom Hof erst recht gefährdet ist. Im Folgenden wird der Spielraum zum Prozessieren noch von einer anderen Richtung her eingeengt. Die Mahnungen, die bisher zwar an die Adresse des Bruders gerichtet, aber eher allgemein und grundsätzlich

5

Nicolai (S. 14 Anm. 12) 23.

1. Die Adressaten des ersten Teils

31

formuliert waren, werden jetzt ganz persönlich (34bff.)6: „dir wird es überhaupt nicht noch ein zweites Mal möglich sein so zu handeln" fährt Hesiod plötzlich seinen Bruder an und schickt als Konsequenz die Aufforderung hinterdrein, ihren Streit auf der Stelle in beiderseitigem Interesse nach dem Maßstab gerechten Ausgleichs zu schlichten. Hier wird die fehlende Basis für weitere Streitigkeiten damit begründet, daß das gemeinsame Erbe bereits geteilt sei und für ihn auch beim Bruder, wo er sich ohnehin schon vieles andere zusätzlich räuberisch angeeignet habe, nichts mehr zu holen sei. Den Grund, warum durch diese räuberische Aneignung die Verhältnisse des Bruders nicht verbessert wurden, gibt Hesiod unmittelbar mit an, bzw. er macht ihn sogar zum eigentlichen Ziel seiner Aussage,... αρπάζων έφόρεις (38): Perses hat das unrechtmäßig erraffte Gut sogleich an die,Bestechungsgaben fressenden' Richter weitergetragen (38 f.), die bereit sind, diese Form von Rechtsausgleich richterlich ,abzusegnen', d. h. als Rechtsentscheid zu verkünden. Das aber bedeutet, daß der Arme nicht nur durch Prozessieren das Eigene vernachlässigt und dadurch zugrunderichtet, sondern auch durch unrechtmäßige Aneignung fremden Gutes diese Verluste nicht ausgleichen, geschweige denn sich bereichern kann, weil er zur Absicherung des Raubes den größten Teil an die Richter weiterleiten muß 7 . Sie, die,Bestechungsgaben fressenden Könige', die, wie es sonst ausdrücklich heißt, von Zeus eingesetzt und beauftragt sind (z. B. noch in der Theog. 80ff.), erscheinen hier als die einzigen Nutznießer des ungerechten Prozessierens. Sie stekken ja die,vielen anderen' Güter ein, die Perses Hesiod nach der Erbteilung geraubt hat. Wieviele Güter es sind oder aus welchem Geist sie sie einstecken, verdeutlicht indirekt das nachfolgende Urteil Hesiods über sie: Sie sind νήπιοι, Menschen, denen der richtige Einblick in die Zusammenhänge der Welt, das richtige Urteilsvermögen über angemessenes Handeln und ihre wahren,Vorteile' fehlt (40). ούδ' ΐσασιν.. ,8: sie wissen nämlich nicht, wirft Hesiod ihnen deshalb vor, wo ihre Gier ihre Grenze finden muß, um nicht das Gegenteil des Erstrebten zu bewirken, sie streben also nach allem Erreichbaren, denn sie haben keine Ahnung von den Gütern und Vorteilen der Genügsamkeit. Hesiod beläßt es hier noch 6

Zu diesem ,Umschlag' und seinem weiteren Vorkommen vgl. unten S. 86-90. Darauf kommt es an und nicht darauf, daß er „sein Vermögen, weil er die Arbeit scheute...", wieder verloren habe, Fuss (S. 13 Anm. 9) 31. 8 Liebermann (S.29 Anm.3) zeigt die zentrale Bedeutung dieser zunächst so rätselhaft und paradox erscheinenden Feststellung (besonders 395 u. 404): Sie betone, „daß das Entscheidende niemals der Besitz von Gütern sein kann ..., sondern allein die Weise ihres Erwerbs". Vielleicht ist mit dieser Formulierung Hesiods Akzent ein wenig verschoben: Hesiod will jedenfalls betonen, daß wichtig nicht nur der,Besitz von Gütern' sei, sondern zumal deren Bestand. Dieser aber sei bedingt durch die Art ihres Erwerbs. 7

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II. Die Adressaten

bei diesen Andeutungen über die Haltung der Richter und deren Folgen. Er begründet dadurch aber von der anderen Seite aus, warum von dem geraubten Gut so wenig in den Händen des Perses bleiben kann9. Die Situation des Perses erscheint also durchaus einheitlich: er ist arm10; statt zu arbeiten, versucht er es mit Prozessen und Aneignung von fremdem Gut. Aber dieses Tun ist zur Erfolglosigkeit verdammt, weil beim Prozessieren die eigene Arbeit vernachlässigt wird und die Aneignung von fremdem Besitz keinen Gewinn bringt, da dessen Hauptteil für die Bestechung der Richter aufgewendet werden muß. Die Zielgruppe dieser ersten Parainese geht dabei sicher über den unmittelbaren Adressaten hinaus; das verdeutlicht ihr Aufbau: Sie besteht aus einer mehr grundsätzlichen Warnung mit allgemeiner Argumentation, in der die Umrisse des angesprochenen Gegenübers (27) und seiner Situation indirekt mitgegeben werden, und einem persönlichen Teil, in dem Hesiod konkret auf Ereignisse zwischen ihm und seinem Bruder anspielt und deren Folgen warnend heraushebt. Durch die allgemeine Begründung des an Perses gerichteten Aufrufs wird der Adressatenkreis sogleich auf alle ausgeweitet, die wie Perses nicht genug zum Leben haben und ihr Heil oder einen Ausweg auf dem Marktplatz suchen. Sie bleiben in die Ermahnung einbezogen, als Hesiod seinem Bruder leidenschaftlich die Folgen seines Handelns vor Augen stellt. Denn durch die gewählte Reihenfolge11 macht Hesiod das Persönliche und Individuelle zum Teil der allgemeinen Argumentation bzw. besser: zum Beweisstück für deren Berechtigung. Das Schicksal des Perses konkretisiert die Folgen entsprechenden Handelns für alle. So läßt sich abschließend die Intention dieser ersten Parainese bestimmen: Sie ist darauf ausgerichtet, dem ,einfachen Mann' die Gefährlichkeit und Sinnlosigkeit von gerichtlichen Auseinandersetzungen, die zur Absicherung unrechtmäßiger Übergriffe und Aneignungen dienen sollen, vor Augen zu führen, um ihn auf diese Weise ganz vom Prozessieren und von Rechtsstreitereien abzubringen. Von dieser Intention her wird erst erkennbar, in welch weitreichendem

9 Auf keinen Fall liegt hier jedoch ein Bruch vor, weil Hesiod von seinem Hauptthema, „der adhortatio zur A r b e i t . . . durch den Gedanken des Prozesses" abweiche, so daß in V. 3 5 - 4 1 sogar der Zusammenhang verloren gehe (Kühn (S. 15 Anm. 19) 277) dns verhindert schon das ,γάρ'.

'" Dieses Wort bezeichnet natürlich nur sehr bedingt die Situation des Perses, ist er doch nicht besitz- und mittellos, sondern,vorratslos'. Daß er Land besitzt, beweist die Erbteilung, setzen aber auch alle Ermahnungen zur Arbeit voraus. 11 Die beschriebene Reihenfolge der Argumentation deutet auch an, wo der eigentliche Antrieb für Hesiods Mahnungen liegt: offensichtlich nicht in einer noch,frischen' Empörung über das Handeln des Bruders, sonst hätte sie sich wohl kaum so lange zurückdrängen lassen! Anders E. Will (S. 2 0 Anm. 37) 553f.

1. Die Adressaten des ersten Teils

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Sinne die Aufforderung an den Bruder, den Streit augenblicklich durch gerechte Rechtsentscheide beizulegen (35f.), das Zentrum der ganzen Parainese darstellt: Für den,Armen' bleibt in der Tat keine andere zuträgliche Möglichkeit, da in einem Streit um fremdes Gut für ihn unter keinen Umständen ein Vorteil oder Gewinn liegen kann. Deshalb werden hier die geraden Rechtsentscheide mit vollem Nachdruck als ,die besten' bezeichnet und ihre Herkunft von Zeus herausgehoben (36 )12.

1.2 Die Dikeparainese (213-85) Die nächste Begegnung mit Perses, durch eine Anrede (213) an ihn gekennzeichnet, läßt nun in der Tat den Eindruck entstehen, als habe sich seine Situation gewandelt. Hesiod hat unmittelbar vorher einen ausdrücklich an die Könige gerichteten (202) αίνος erzählt; und während man auf einen Abschluß des αίνος durch Deutung oder Formulierung einer Konsequenz für die Könige wartet, wendet sich Hesiod unvermittelt wieder an Perses: ΤΩ Πέρση, σύ δ' άκουε δίκης, μηδ' ϋβριν όφελλε (213). West hat zweifellos recht, daß solche Ermahnung Perses ganz in die Nähe der ungerechten Könige und ihres Verhaltens rückt und den Eindruck erweckt, er habe nun doch wieder Mittel zu Unrecht und Gewalttätigkeit, auch wenn man bedenken muß, daß beide Vorstellungen aus Äußerungen abgeleitet sind (34 f. und 213 f.), denen zuerst eine parainetische, nicht eine konstatierende Absicht zukommt, die also das Gegenüber zu einer bestimmten Einstellung oder einem bestimmten Verhalten erst veranlassen sollen. Dennoch ist die unterschiedliche Intention und Zielrichtung der Ermahnungen nicht zu verkennen, das läßt sich bereits an ihrer Art und ihrem Aufbau ablesen: Während nämlich am Anfang (27ff.) zunächst allgemein (30ff.), dann persönlich (34ff.) ermahnt und argumentiert wurde, fehlt hier der persönliche Teil ganz, und der allgemeine Teil verändert nach der lapidaren Begründung, daß Hybris für jeden Armen und Niederen (δειλω βροτω)13 schlimm sei, den Bezugskreis. Die Argumentation wendet sich nämlich von den Armen allgemein und Perses

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Hesiod scheint mir hier gerade nicht,moralisch' zu denken und zu argumentieren (Liebermann (S. 29 Anm. 3) 392ff.), sondern auf das ,richtige' und das meint, das erfolgreiche' Verhalten hin. Im Zentrum seiner Parainese steht zweifellos die ,TunErgehen-Argumentation'. 13 Ohne Begründung lehnt D. Kaufmann-Bühler, Hesiod und die Tisis in der Odyssee, H.84.1946.267-295, hier 271 „eine soziale Bedeutung", für δειλός und έσθλός ab und will sie statt dessen als ,stark' bzw. ,elend, schwach' fassen. - Richtig West zur Stelle.

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II. Die Adressaten

speziell fort und den Adligen und Reichen zu: Auch sie sind dem Wirkungsgesetz der Hybris unterworfen, durch die sie in άται verstrickt, schwer niedergedrückt werden (2,15 f.). Zwar könnten die folgenden Feststellungen wieder Hoch und Niedrig in gleicher Weise betreffen, nämlich daß der Weg zu den gerechten Dingen der ,stärkere' sei, daß Dike am Ende über Hybris die Oberhand behalte und der ,Tor' erst nach Leiden zur Erkenntnis komme (217-8), aber die nachfolgende Begründung (219-24) für diese Feststellungen macht ganz deutlich, daß hier trotzdem nicht neben den Adligen auch Perses und seine Standesgenossen wieder im Blick stehen, sondern ausschließlich die Adligen. Denn die letztlich überlegene Macht der Dike wird hier ganz speziell nur an den negativen Folgen aufgewiesen, die durch krumme Rechtssprüche (219) ausgelöst werden. Für diese,krummen Rechtssprüche' sind ganz allein die άνδρες δωροφάγοι (220 f.) verantwortlich, die die θέμιστες nicht rechtgemäß auslegen (221) und dadurch die Dike,schleifen' (220) und schließlich aus dem Lande vertreiben (224). Das aber sind allein die adligen Richter. So erscheint die Ermahnung des Perses mit ihrer lapidaren Begründung (213-214a) nur noch als Aufhänger für die nachfolgenden Ausführungen über die Konsequenzen von ύβρις für die adligen Richter (214bff.). Da auch die nächste Anrede an Perses (274ff.) unter entsprechenden Umständen erfolgt - wieder kommt die Adresse an ihn völlig unvermittelt, wieder enthält sie sowohl eine Aufforderung zum ,Gehorsam' gegenüber der δίκη als auch eine Mahnung, sich von ΰβρις bzw. Gewalt ganz loszusagen -, liegt auch hier die Annahme einer bloßen ,Aufhängerfunktion' nahe. Allerdings ist jetzt den Ermahnungen an Perses noch ein ,Merkappell' hinzugefügt, wie wir ihn vom Beginn der ersten Parainese her kennen (27); er könnte auf eine völlig andere Adressatensituation deuten. Aber zunächst einmal läßt der Zusammenhang schwer erkennen14, mit welchem Ziel dieser Appell hier vorgetragen wird, was sich Perses jetzt eigentlich einprägen soll. Soll er in sein Bewußtsein aufnehmen, daß Zeus alles sieht und daher auch den Zustand des Rechts in ihrer Stadt wahrnehmen und entsprechend ahnden wird? Oder soll er sich merken, daß Hesiod und sein Sohn keine Gerechten mehr sein wollen, wenn er, der Ungerechtere, den größeren Rechtsteil behalten wird? Eine äußerste Grenze für die Suche nach dem Inhalt dieses ταϋτα (274) stellt der Vers 263 dar: dieser wendet sich nämlich mit ähnlicher Zusammenfassung des Vorausgehenden (ταϋτα φυλασσόμενοι) warnend an die Könige. Folglich soll sich Perses zu Herzen nehmen, was in den Versen 265-73 heraus-

14

Vgl. West zu 274-5: der Appell sei weniger,suitable' als an der ersten Stelle.

1. Die Adressaten des ersten Teils

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gestellt wird. Dieses betrifft ihn vielleicht mit, in der Hauptsache aber geht es die Richter an: Sie sind für den Rechtszustand in der Stadt verantwortlich (267-9; vgl. 248ff.) und konsequenterweise ist es ihr Tun, welches das Auge des Zeus, sofern es ihm beliebt, wahrnehmen und demzufolge zur Verantwortung ziehen wird. Ebenso hängt Hesiods Absage an das Gerecht-Sein-Wollen primär an der Entscheidung der Richter: Diese bewirkt ja erst, daß der Ungerechte den höheren Rechtsanteil in Händen halten wird (272). Auch hier werden also hinter der Ermahnung des Bruders wieder massive Vorhaltungen und Warnungen an die Adresse der Richter-Könige erkennbar. Auf deren zentralen Punkt an dieser Stelle führt Hesiods herausfordernder Wunsch, daß er selbst im Umgang mit den Menschen 15 nicht mehr der Gerechte sein möge, wenn die Umkehrung der Werte nicht wieder aufgehoben werde (271 f.). Hesiod spielt mit dieser provozierenden Äußerung auf die zerrütteten Rechtsverhältnisse im Eisernen Zeitalter (vgl. 271 f.: 190-4) an. So gefährdet also will ihm die Rechtssituation in seiner πόλις und so fern die sühnende Hand des Zeus erscheinen, daß er sich damit den Zeichen jener Endzeit gegenüber sieht, wo die Herrschaft der Dike außer Kraft gesetzt sein wird (192f.) und die sie tragenden Kräfte (Αιδώς und Νέμεσις) die Welt der Menschen verlassen haben werden (197ff.). Dann wird, wie es jetzt scheint, Unrecht nicht mehr gesühnt, Gewalt aber allein geachtet und erfolgreich sein (190ff.). Doch Hesiod drängt diesen Gedanken an den Beginn der Endzeit des Eisernen Geschlechts energisch zurück: ist er doch zuversichtlich, daß Zeus „diese Werke noch nicht zur Erfüllung bringen wird" (273). Diese Zuversicht muß nun auch jenen Punkt darstellen, den Hesiod seinen ,Adressaten' zu Bewußtsein bringen will, nominell seinem Bruder Perses, in Wahrheit den eigentlich Verantwortlichen, den adligen Richtern. Ihnen vor allem wird hier deutlich gemacht, daß sie sich über die,Stunde' nicht täuschen sollen. Noch ist der Augenblick aller Wahrscheinlichkeit nach nicht angebrochen, wo Zeus, um das menschliche Geschlecht zu strafen und schließlich zu vernichten, zuläßt, daß der Ungerechte ungestraft den größeren Rechtsanteil hat, und es sich mehr lohnt, böse als gerecht zu sein. Denn gültig ist weiter der νόμος, den Zeus dem Menschen zugewiesen hat (276f.). Dieser νόμος ist dadurch bestimmt, daß unter den Menschen δίκη waltet (278), und wo sie wirksam und bestimmend ist, kann es nicht mehr wie überall unter den Tieren zugehen, die einander nachstellen und fressen (278a). Ein solcher Zustand, so bestimmt es der

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West zu 270-2.

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II. Die Adressaten

νόμος des Zeus, soll durch seine Gabe (279), die Dike, unter den Menschen überwunden sein und bleiben. Daß auch die Mitteilung dieses νόμος nicht vorwiegend an Perses, sondern an die Adligen gerichtet ist, erhellt allein der oft bemerkte16 Umstand, daß mit ihm auf die Fabel vom Habicht und der Nachtigall angespielt (209:278) und zugleich für sie eine Art Deutung nachgeliefert wird. So ist auch hier der Befund der gleiche: Unter der Anrede an Perses werden nachdrückliche Belehrungen und Ermahnungen an die Könige gerichtet. Die Frage verstärkt sich daher, was Hesiod wohl zu dieser versteckten Agitation veranlaßte; mit ihr zusammenhängen muß die auffallende Tatsache, daß Hesiod erst so viel später seiner Fabel einen derartig grundsätzlichen Kommentar hinzugefügt hat. Neben der Frage nach dem Anlaß für diese ,vorgeschobene' Anrede muß jedoch auch die nach ihrer Wirkung oder ihren Konsequenzen bedacht werden. Zunächst aber ist noch unklar, wie weit die verdeckten Ermahnungen und Warnungen an die Adligen reichen. Sie werden nämlich von Hesiod im folgenden (280ff.) anscheinend abrupt abgebrochen, als er begründet, wieso die Dike einen einzigartigen Wert darstellt (279bf.); dafür greift er hier nicht auf die Beschreibung des segensreichen Zustandes zurück, den ihre Bewahrung für die Menschen heraufführt (vgl. 225 ff.), sondern führt jetzt die individuellen Konsequenzen an, die die Förderung oder Beeinträchtigung der Dike nach sich ziehen. Wer nämlich zu ihrer Verwirklichung und Erhaltung beiträgt, indem er in den Verhandlungen ,die rechten Dinge' sagt, der empfängt von Zeus Segen (281). Wer dagegen vorsätzlich falsche Zeugnisse ablegt, dadurch die Wahrheit verdreht und darauf noch einen Meineid schwört, der verfällt, weil er das Recht schädigt, alsbald unheilbarer Verblendung17, und sein Geschlecht bleibt künftig erniedrigt zurück, ebenso wie derj enige, der seine Aussagen wahrheitsgemäß beeidet und seinen Eid hält, in seinen Nachkommen erhöht wird (285). Daß hier die δίκη als bei weitem das Beste für die Menschen bezeichnet werden kann (279f.), leuchtet unmittelbar ein, entscheidet

!6 Vgl. z.B. V. Fritz (S. 13 Anm. 11] 41 ff., besonders 43. 17 Überliefert ist der Ind: άάσθη in sämtlichen Hss (o +1); meines Erachtens wird auch deshalb mit έν δέ nicht der Nebensatz fortgesetzt (so West zu 283, 224 und 293), sondern der Nachsatz eingeleitet (wie auch V.23); nur so wird der doppelte Gedanke, den Hesiod hier zum Ausdruck bringen will, deutlich: wer die Wahrheit oder Unwahrheit vor Gericht sagt, hat selbst unmittelbare Folgen zu erwarten; die Beeidigung seiner Aussagen führt zu entsprechenden Konsequenzen, allerdings erst in der Zukunft, also für das Geschlecht.

1. Die Adressaten des ersten Teils

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sich doch an dem Verhalten ihr gegenüber das Wohlergehen des einzelnen und seines Geschlechtes18. Unklar ist allerdings, an wen die Formulierung dieser Konsequenz eigentlich gerichtet wird. Folgt man Wilamowitz19, dann wendet sich diese Partie an Perses und stellt „eine letzte Mahnung" an ihn dar, „von dem Prozesse abzustehen"20. Nach West dagegen21 spricht Hesiod jetzt „about true versus false testimony at a judicial hearing", und richtet entsprechend seine Warnung an beide Seiten der Streitenden vor Gericht mit ihren Zeugen und Eideshelfern. Damit ist sicher die Hauptstoßrichtung dieser Erklärung bezeichnet. Allerdings übersieht West m.E., daß die Formulierungen zumindest am Anfang (280f.) und Ende (285) so weit gefaßt sind, daß alle am Prozeß Beteiligten von ihnen eingeschlossen werden, gerade auch die Richter. Auch sie erhalten demnach den Segen des Zeus allein, wie jeder von ihnen bereit ist, τά δίκαια άγορεϋσαι / γιγνώσκων,22 und auch sie werden in dem sozialen Status ihres Geschlechts getroffen werden, wenn sie ihren (Richter-)Eid nicht halten23. So enthält diese Stelle immerhin auch eine verdeckte Warnung an die Richter24 und deutet wenigstens an, was bisher ganz offen gelassen war, daß auch sie für ihr Handeln persönliche Konsequenzen zu tragen haben. In diese Richtung weisen sonst vor allem die Sprichwörter von 265 f. Unsere Einzelanalyse hat also deutlich gemacht, daß sich die gesamte Partie von 202-285 zwar nominell teils an Perses, teils an die Könige richtet, tatsächlich aber vorrangig an die Adresse der Könige gesprochen ist und deren Handeln und dessen Konsequenzen zur Darstellung bringt25.

18

Zu den Segens- und Schadenswünschen der Eidesformel vgl. West zu 219 und Wilamowitz zu 218-225; zur alten Vorstellung von der Bestrafung des Meineidigen in der Unterwelt vgl. auch E. Rhode, Psyche, Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen, ( 2 1898-1980| Darmstadt I 64f. « Zu 278-285. 20 Diese These zeigt nur, wieviel von der genauen Bestimmung des ,Adressaten' abhängt. 21 Zu 280. 22 Zu άγορευειν von der Tätigkeit des Richters vgl. Theog. 86. 23 Zum Richtereid vgl. 219 und Wilamowitz zu 218-224. 24 Dazu paßt, daß an die,Niederen' Anweisungen zu (außergerichtlichem!) Verhalten noch gesondert gegeben werden: 320 ff. 25 Eine entgegengesetzte Auffassung von den Adressaten und der Gliederung dieses Teiles z.B. bei Gargarin (S. 24 Anm. 49) 81-94. Nach ihm richtet Hesiod die Hauptmahnung an Perses (213-47 (!) und 274-85) und lediglich eine allgemeine Mahnung zu gerechter Rechtsprechung an die Könige (248-62). Da Gargarin ein Ziel der Erga in der Aufforderung zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sieht (88ff.), ist es für ihn nicht überraschend, „that there is no mention of ϋβρις (or βίη) in the subsection adressed to the kings ... for it is not the task of kings to give up violence and submit to arbitra-

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II. Die Adressaten

Trifft dieses Verständnis der Dike-Partie zu, so erbringt es weitere Indizien für die Aktualität der Erga und ihre Intention, nicht gegen ein einzelnes Urteil, sondern die gesamte Art der Rechtsprechung zu intervenieren26. Zum anderen aber verdeutlicht unsere Einzelanalyse die dreifache Dimension des Adressaten bei Hesiod: Adressat ist also zunächst einmal die Person, an die Hesiod nominell seine Ausführungen richtet, darüber hinaus aber dann vor allem diejenige Gruppe, auf deren Tun oder Verhalten seine Ausführungen abzielen bzw. die sie thematisieren. Doch über ,Adressat' und ,Zielgruppe' hinaus haben Hesiods Ausführungen stets einen weiteren Bezugspunkt: die Zuhörer, die wir dabei nicht auf das Publikum bei einer Gerichtsverhandlung beschränken dürfen. Die beiden Anrufe an Perses (213 und 274) fallen also tatsächlich völlig aus der Reihe der übrigen Adressen an ihn heraus,· sie erwiesen sich als bloße Aufhänger für Ermahnungen und Warnungen an die Könige. Doch warum wird Perses dann allein und nicht etwa nur mit angeredet? Den Weg zur Beantwortung dieser Frage weist der Aussagehintergrund der Fabel. Trifft nämlich das Bild, das dort von den Adligen gezeichnet wird, zu, daß sie übermächtig sind wie unter den Vögeln die großen Raubvögel, daß sie ihre Macht rücksichtslos einsetzen und ihre Überlegenheit skrupellos ausnutzen und mit jedem tun können, was sie wollen, besonders aber mit dem, der sich mit ihnen anlegt, dann wird verständlich, was Hesiod hier wagt und wessen Zorn er sich dabei aussetzt27. Wie sehr die Willkür der Könige Realität und entsprechend gefürchtet war, können Beispiele aus der Ilias und Odyssee eindrücklich deutlich machen (vgl. A12 ff., 74 ff. oder 33 lff. ; β 229 ff. u. a.). In einer entsprechenden Situation richtet offenbar Hesiod seine schwerwiegenden Mahnungen und Angriffe gegen die Adligen an die Adresse des Bruders, um ihre Stoßrichtung zu tarnen und sich dadurch zu schützen. Das wird besonders deutlich im Anschluß an die Fabel (213f£), wo die fällige Ermahnung an die Könige unvermittelt an Perses gerichtet wird und die Folgen für die frevelhaften tion ..." (90). Gargarin hat damit den ,Prozeß mit dem Bruder' ebenso wie das Eiserne Zeitalter und die Fabel aus seiner Deutung der Erga ausgeschlossen. 26 Ein Beispiel für die Konsequenzen, zu denen sich der Interpret gezwungen sehen kann, wenn er den ersten Teil (mit beiden Mythen) fast ganz an Perses gerichtet sieht, findet sich auch bei Kühn (S. 15 Anm. 19) 270ff., besonders 272: Perses als Auslöser des Unterganges des fünften Menschengeschlechtes. 27 Dazu ausführlicher, der Verf., Hesiods Fabel vom Habicht und der Nachtigall, in: Wort und Dienst, 1983, 55-76. - Dieses Thema und Anliegen fällt mehr oder weniger unter den Tisch, wenn man Hesiod lediglich zweimal „durch den aktuellen Prozeß verleitet" von seinem Grundthema, Aufforderung des Bruders zur Arbeit', abweichen sieht wie Kühn (S. 15 Anm. 19) 277ff.

1. Die Adressaten des ersten Teils

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Könige als Teil der Argumentation für den Bruder formuliert sind: „Frevel ist schlimm für einen niederen Sterblichen und nicht einmal ein Adliger ist in der Lage, ihn leicht zu tragen..." Durch das Fortwirken der Anrede an Perses wird auch die zusammenfassende Drohung gegen den frevelhaften Adligen verschleiert: παθών δέ τε νήπιος έγνω (218). Ganz entsprechendes gilt für die zweite Stelle (274 f.). Wir haben schon darauf hingewiesen, daß unter der dortigen Anrede an Perses offensichtlich eine Kommentierung der Fabel nachgeliefert wird. Mit der Entwicklung des νόμος, den Zeus den Menschen verordnet hat und der das Verhalten der Menschen grundsätzlich von dem der Tiere untereinander absetzt, wird der Ideologie des Adels von dem Vorrecht des Edleren und dem Recht des Mächtigeren (207 f.) grundsätzlich der Boden entzogen: Wer wie sie handelt (208) und argumentiert (210f.|, verstößt gegen den Willen des Zeus, zerstört die von ihm gesetzte Ordnung und fällt auf die Stufe der Tiere zurück. Von einem,zeusgenährten König', dem der Gott die Rechtsvollmacht eingehändigt hat, kann da keine Rede mehr sein. Hesiod hat diesen schwersten Angriff, der weit über den Vorwurf einzelner Verletzungen des Rechts im Gerichtsverfahren hinausgeht, zusätzlich durch den nachfolgenden Teil verschleiert, der sich für das erste Hinhören ausschließlich an die streitenden Parteien eines Gerichtsverfahrens wendet (280-5)28. Allerdings bewirkt die nominelle Adressierung zentraler Aussagen über das Wesen und die Bestimmungen der Dike an den Bruder Perses nun nicht nur, daß die Zielrichtung der Aussagen verschleiert, sondern auch ihre Art verändert wird. Denn strenggenommen werden jetzt nicht den Königen sie betreffende Mitteilungen gemacht, sondern die Mitteilungen über sie erhalten der Bruder und damit alle Zuhörer. Entsprechend werden nicht zuerst die Könige an ihre Pflichten erinnert, sondern Perses und die Zuhörer über ihre eigenen Rechte informiert, über das, was ihnen tatsächlich nach dem Willen des Zeus zugestanden ist. Natürlich scheint durch diese Differenzierung lediglich eine Nuancierung gewonnen, aber damit doch immerhin ein deutliches Kriterium für den aufrüttelnden und herausfordernden Charakter der Erga, der darauf zielt, die Öffentlichkeit zu aktivieren. Hesiod spricht freilich in der von uns betrachteten Partie (202-85) die Könige nicht nur über Perses, sondern auch direkt an ; so kann gleichsam die Gegenprobe gemacht und geprüft werden, was er ihnen auch unmittelbar, gleichsam ins Gesicht zu sagen wagt. Hesiod wendet sich in zwei Abschnitten ausdrücklich an sie: 202-12 und 248-64. Im ersten Ab-

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Vgl. dazu oben S. 36 f.

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II. Die Adressaten

schnitt richtet Hesiod einen αίνος oder eine ,Fabel' an die Könige, im zweiten konfrontiert er sie mit Personifikationen oder ,Allegorien' aus dem Bereich der Rechtsprechung: der Göttin Dike und den alles überwachenden Rechtswächtern. An beiden Stellen also wählt Hesiod Formen indirekter Argumentation, parabolischer bzw. gleichnishafter Rede, die zwar durch die bildhafte Argumentation das Gegenüber besonders zwingend zu dem angestrebten Schluß geleiten, es ihm aber gerade selbst überlassen, diesen in voller Konsequenz auch auf das eigene Handeln zu übertragen. Dazu paßt, daß Hesiod an die Könige selbst keine konkreten Handlungsgebote oder -verböte wie an Perses richtet, sondern es bei der Aufforderung beläßt, ihr Tun und dessen Konsequenzen selbst zu beurteilen und zu bedenken (202; 248f.). Nur einmal läßt Hesiod diese Zurückhaltung fallen und ruft sie auf, ihre Rechtssprüche gerade auszurichten und sich alle krummen Entscheide restlos aus dem Sinn zu schlagen (263f). Aber diesen Aufruf richtet Hesiod eben nicht an alle Könige, sondern nur sozusagen an die schwarzen Schafe unter ihnen, nämlich die δωροφάγοι (264), die Bestechlichen. Deren Zahl ist, strenggenommen, auf jene Richter einschränkbar, die Hesiod um sein Recht gebracht haben. Dadurch bleibt diese Ermahnung ganz in dem Rahmen dessen, was Hesiod dieser Gruppe von Richtern auch sonst vorhält (37ff.; 220 ff.; v.a. aber auch 260 ff.)29. Doch auch hier ist die Zurückhaltung und Vorsicht des Hesiod unverkennbar. Zwar macht er ihnen den Vorwurf der Bestechlichkeit wie den der Rechtsbeugung, ja Rechtsvergewaltigung (260ff.), aber nirgends droht er den Königen selbst unverhüllt Konsequenzen für ihre Rechtsverletzungen und -Verdrehungen an. Diese Vorstellung wird hier vielmehr insoweit ferngehalten, daß selbst Dike, die Göttin, von ihrem Vater Vergeltung nicht an den Verursachern, die sie geschleift, geschädigt, verunglimpft haben, erfleht, sondern an dem Volk, dem diese Frevler vorstehen (vgl. ausdrücklich Vers 260 f., aber auch 222-24 und 240ff.). Bei dieser Vergeltungsbitte der Göttin muß allerdings noch bedacht werden, ob Hesiod hier wirklich bewußt verschleiert oder einfach an den überkommenen Vorstellungen festhält30. Denn für die Ilias, aber auch für die Odyssee ist es selbstverständlich, daß es den Mannen nach dem Verhalten ihres Führers,ergeht' (vgl. ζ. B.: A 50ff., 382ff. ; und die verschiedenen Stellen, wo Odysseus ausdrücklich die Verantwortung für den Untergang seiner Gefährten von sich abwälzt: ι 43ff. ; ι 172ff.; κ 28 ff.;

29

Vgl. dazu auch unten S. 96 ff. 30 Vgl. unten S. 104ff.

1. Die Adressaten des ersten Teils

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μ 263 ff.). Auf jeden Fall ist die Haltung Hesiods gegenüber den Königen durchgehend von großer Vorsicht und dem Bewußtsein vollkommener Ohnmacht gegenüber ihren Rechtsfreveln geprägt. Sie zieht sich durch den ganzen ersten Teil und zeichnet sich bereits im Prooem deutlich ab.

1.3 Adressat und Thema des Prooems (1-10) Hesiod beginnt die Erga mit einem Herbeiruf der Musen; sein Auftrag an sie, ihren Vater durch Gesang zu verherrlichen (1/2), geht unmittelbar in einen Hymnus auf die Allmacht des Zeus über, von der in gleicher Weise (3) Erfolg und Scheitern der Menschen abhängen. Der Hymnus gipfelt31 in der Versicherung, daß Zeus leicht den Ungerechten32 züchtigt und zurechtbiegt und dem Selbstherrlichen den Anlaß für seine Überhebung nimmt (κάρφει!). Es ist in diesem Zusammenhang nicht notwendig, die wechselvolle Geschichte der Prooemiums-Beurteilung nachzuzeichnen, zumal seine Echtheit und die Tatsache seiner Bedeutsamkeit nicht mehr umstritten zu sein scheinen33. Die Überlegungen konzentrieren sich jetzt im wesentlichen auf die Frage nach der Verbindung des Prooems mit dem übrigen Gedicht34. Bestimmend ist dabei auch heute die sozusagen zweigliedrige These von Wilamowitz geblieben |S. 39ff.): Einerseits: „Verse 1-10 sind geradezu ein Vorspruch, ohne jede Verbindung mit dem Folgenden", andererseits: „Nun ist aber der Vorspruch an Zeus keineswegs so bezie-

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Sicher nicht, wie Nicolai (S. 14 Anm. 12) 14 meint, in der Namensnennung von V.8, die seit V.3 schon mehrfach erfolgt ist. 32 Die Möglichkeit σκολιόν (V.7) als neutrum zu fassen, diskutiert West (zu 7). Doch der ganze Hymnus spricht von ,Personen', an denen sich die Macht des Zeus manifestiert. 33 Einen Überblick über die Geschichte des Prooem-Verständnisses vom Altertum bis zur ,Neuzeit' gibt St. Martin, Das Prooemium zu den Erga des Hesiodos, Progr. kgl. Gymn. Würzburg 1898. 3-17. Das Altertum hat offenbar das Prooem Hesiod überwiegend abgesprochen (vgl. auch Fuss (S. 13 Anm. 9) 26 und Anm. 3), seit Ranke (S. 13 Anm. 10) mehren sich die Stimmen der Zuerkennung. Zu diesen gehört gerade Martin selbst nicht; ausführliche sprachliche Vergleiche führen ihn zu dem Ergebnis: „das vorliegende Proömium d ü r f t e . . . um 300 v.Chr. zusammengestellt worden sein..." (65). Dagegen richtig etwa Wilamowitz, 31 ff. ; vgl. auch Diller (S. 13 Anm. 8) 248f. 34 Dieses Problem zielt letztlich auf die Frage nach der Art des Prooems: liegt hier ein ,Musenanruf' mit Themenangabe (wie in den homerischen Epen) oder ein austauschbarer Rhapsodenhymnus' (wie in den homerischen Hymnen) vor? Nach Bielohlawek (S. 13 Anm. 9) 21 ff. ist das Erga-Prooem „der Form nach . . . ein Rhapsodenprooimion", aber die Austauschbarkeit' sei wegen individueller Umbildung in gehaltlicher Richtung' ausgeschlossen (besonders 25f.).

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II. Die Adressaten

hungslos zu dem folgenden Gedicht wie die homerischen Prooimia, sondern von Taten des Zeus und von seinem göttlichen Wirken ist das Ganze voll.. ,"35. Die Verbindung zwischen Prooemium und Gedicht besteht also für Wilamowitz nicht darin, daß ein im Prooemium vorgegebenes Thema im folgenden entfaltet wird, sondern darin, daß das im Prooemium behandelte Thema in den nachfolgenden Darstellungen sich vielfältig bricht und spiegelt, bzw. einen durchgehenden Hintergrund abgibt, der einmal mehr, einmal weniger sichtbar wird. Der gleiche Ansatz bestimmt die Ausführungen von Diller zum Prooemium, auch wenn er die allgemeine Anwesenheit des Zeus in den Erga selbst noch stärker heraushebt: „Zeus als Wächter über die Bewahrung des Rechts, sein Recht und Unrecht sehendes und erfassendes Auge - das ist das Grundthema des Gedichts.. ,"36. Aber die Suche nach Verbindungen zwischen dem Prooem und den übrigen Teilen der Erga wird m.E. solange auf allgemeine Verbindungslinien und indirekte Zusammenhänge beschränkt bleiben, wie in die Überlegungen nicht die Besonderheiten dieses Prooems mit einbezogen werden, die immerhin als so befremdlich empfunden wurden, daß das Prooemium Hesiod auch immer wieder abgesprochen worden ist. Das Prooemium ist drei-, nicht vierteilig37 gebaut: Musenanruf (1/2), Verherrlichung des Zeus (3-8), Überleitung (9/10). Jeder dieser Teile weist bedeutsame Besonderheiten auf. Zunächst einmal ruft Hesiod die Musen aus dem Gebiet des Göttersitzes herbei, was durchaus nicht üblicher Bestandteil der Musenanrufe ist und ein vertrautes Verhältnis andeutet, wie es der Dichter im Theogonie-Prooemium schildert (2Iff). Dann gibt er ihnen auf, sozusagen ihr ureigenes Thema zu singen, nämlich ihren Vater zu rühmen. Ihn erfreuen sie nach der Darstellung der Theogonie nicht nur einfach durch Gesang, sondern sie singen ihm von seiner einzigartigen Macht und Herrschaft vor (Theog. 47-49; 70-76), freilich vor allem in der Götterrunde, nicht aber vor einer Versammlung von Menschen. So wird erst deutlich, wie groß der Anspruch ist, den Hesiod mit seinem Musenanruf stellt, und wie gewichtig die Beglaubigung, die er seinen Mitteilungen vorausschickt. Zu dieser aufwendigen Einleitung steht die nachfolgende Verherrlichung des Zeus in einem bemerkenswerten - und oft empfundenen Widerspruch. Über sechs Verse hin wird ein durchaus geläufiger Ge35

Ähnlich auch von Groningen (S. 21 Anm. 40) 64 und Nicolai (S. 14 Anm. 12) 14ff. (S. 13 Anm. 8) 248f. 37 So Nicolai (S. 14 Anm. 12) 13; er übersieht das γάρ in Vers 5 und unterteilt deshalb den Preis des Zeus (1=3-4, 11=5-8), was nicht unerhebliche Konsequenzen für das Verständnis hat. 36

1. Die Adressaten des ersten Teils

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danke der Götterhymnik in keineswegs überraschenden Variationen viereinhalb- bis fünfmal wiederholt. Für den homerischen Helden ist der Gedanke ganz vertraut, daß Zeus leicht jeden Helden stark oder schwach machen, seine άρετή heben oder verringern kann (vgl. Ο 490-3; Π 688-90 = P 176-8; Y 242 f.), ja die homerischen Menschen wissen überhaupt, daß es den Göttern ein Leichtes ist, sie zu erheben oder herabzudrücken (vgl. Π 211-12; oder ξ 188ff. ; ρ 322f.). In dieser mehrfachen Wiederholung ein und desselben Gedankens muß also die besondere Absicht der Verherrlichung des Zeus liegen 38 . Das bestätigt auch die formale Gestaltung dieser Wiederholungen, die allgemein als gelungen anerkannt wird. Durch diese massive Wiederholung erhält die Macht des Zeus etwas stark Bedrohendes: Jeder Mensch ist nur nach dem Willen des Zeus das, was er ist (3/4), denn Zeus hat spielend Macht über das Ergehen aller: der Reichen wie der Armen, der Hohen wie der Niedrigen, der Angesehenen wie der Verachteten, besonders aber der Rechtsbeuger und der Wohlhabenden hochfahrenden Sinnes 39 . Für Zeus ist es ein Leichtes, den Zustand eines jeden gerade in sein Gegenteil zu verkehren. Auf Grund dieser starken Herausstellung der Abhängigkeit und des Ausgeliefert-Seins kommt fast zwangsläufig der Gedanke auf, wie Absicherung und Vorbeugung möglich sind und welche Voraussetzungen für eine positive Veränderung bestehen 40 . Auf diese Weise ist dann das Prooemium mit den Ausführungen der Erga unmittelbar verbunden bzw. stellt zu ihnen ein notwendiges Komplement dar: Das Prooemium betont, was Zeus mit den Menschen tun kann, die Erga führen aus, wann und unter welchen Umständen er diese Mittel einsetzt. Nur die fünfte Variation (Vers 7f.) deutet auf bestimmte Kriterien für das göttliche Handeln: Unrecht und Überhebung können von Zeus leicht in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wenn auch diese Kriterien wie die Formulierung der Reaktion des Zeus (,leicht', aber nicht ,notwendig'!) ganz traditionell bleiben 41 , so ist doch unverkennbar, welches seiner Ziele Hesiod hier bereits im Visier hat und wem diese Drohung gilt. 3 8 Daß es andere Themen und Möglichkeiten gäbe, deutet der simple hom. Hymnus 23 zumindest an. 3 9 Vgl. auch Wilamowitz zur Stelle. 4 0 Anders Wilamowitz 42 f.: „An Zeus wird die Allmacht gepriesen, nicht die Gerechtigkeit . . . sein Wille ist frei, und die Menschen müssen sich fügen. Darum ist das Leben so schwer, wie Hesiod es schildern wird". - Unsere Darstellung soll dagegen zeigen, daß Hesiod diese Einstellung gerade überwinden will; denn solange der Mensch die Vorstellung hat, daß Zeus handelt, „wie er will", werden die Adligen ihn darin nachahmen! 4 1 Vgl. etwa: Π 688ff. ; Ρ 176-8, Ο 4 9 0 - 9 3 ; Υ 242; Od: π 211f. ; γ 231; ζ 188ff. ; ξ 44ff. Weiteres bei West zu den Versen.

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II. Die Adressaten

Das Prooemium wird nach Nicolai42 durch „Gebet an Zeus und Themaankündigung" (Verse 9/10) abgeschlossen43. Die Besonderheit dieses Teiles ist die betonte Gegenüberstellung von: τυνη • έγώ.. 44 zu Beginn von Vers 1045. Nach verbreiteter Ansicht stellt Hesiod auf diese Weise dem Gebet, Zeus „möge seiner Bitte Gehör schenken und mit seinem Recht eingreifen in die Sprüche der Richter"46, damit ihm sein Recht werde, die Versicherung gegenüber, „er werde seinerseits dem Perses die Wahrheit sagen"47, und so ,sein Möglichstes' dazutun. Allerdings gibt es für diesen unmittelbaren Bezug auf Hesiods eigenes Rechtsverfahren hier keinerlei Anhaltspunkte. Diese Deutung kann nur mit Hilfe späterer Aussagen und auch nur unter einem spezifischen Verständnis dieser Aussagen48 in das Prooemium zurückprojeziert werden. Zunächst einmal bezeichnet Hesiod hier nur die mit einiger Zuversicht geäußerte Absicht, einem speziellen Adressaten (Perses) wahre Eröffnungen zu machen, und sie steht, wie der betonte Gegensatz am Versanfang verdeutlicht, in einem bestimmten Verhältnis zu dem erbetenen Handeln des Zeus. Während der Gott die Rechtsentscheide mit Hilfe des Rechts49 zurechtbiegen, also das Handeln der adligen Richter korrigieren soll, will Hesiod selbst nur Perses, dem Prozeßgegner, Zusammenhänge und Hintergründe eröffnen, für die allerdings der Wahrheitsanspruch nicht eingeschränkt wird. Wie die Aufforderung an Zeus deutlich macht, bedarf das Walten der adligen Richter dringend einer Korrektur; sie orientieren ihre Urteile nicht an der δίκη. Doch kann Hesiod - das hebt die Gegenüberstellung heraus - diese 42

(S. 14 Anm. 12] 2. O. Becker (Das Bild des Weges, H.-Einzelschr. 4.1937) hält sicher zu Uniecht auch Vers 9 für „einen Aufruf an seinen Bruder Perses: ,hör und sieh'"... |86). 44 Sie wird oft tatsächlich mit Wendungen aus den hom. Hymnen gleichgestellt (ζ. B. Nicolai (S. 14Anm. 12) 15), die in ihren Abschlußformeln ein antithetisches σύ μεν-έγώ δέ (αύτάρ έγώ) haben (z.B. Nr.: 5,9,18,19,25,27,30.) Diese Wendungen dienen dazu, den zuvor besungenen Gott ,zu verabschieden' und zugleich den Übergang des Sängers zu seinem eigentlichen Thema anzukündigen: ,du, gehab dich wohl, ich aber gehe nun zu einem anderen Thema über' (vgl. z.B. 9,18,31). Aber bei Hesiod handelt es sich gerade nicht um eine solche Verabschiedung, sondern um eine,Aufgabenteilung'. Sie hat auch keine Entsprechung in der zweiten Variante der Abschlußformeln der hom. Hymnen: ,ich aber werde von dir und anderen singen', wie sie ζ. B. vorliegt in h. H.: 19.48 f.; 25.6 f.; 28.17f. ; 10.4-6. 45 „Die Herbheit,... daß der Dichter sich der Gottheit gegenüberstelle," darf gerade nicht künstlich herabgemildert werden wie bei Fuss (S. 13 Anm. 9) 27f. « Nicolai (S. 14 Anm. 12) 14. 47 Nicolai ebd. 16. 48 Nämlich daß ein Prozeß anstehe, wie es Nicolai ja auch annimmt. 49 δίκη: ist hier sicher nicht leicht exakt wiederzugeben (vgl. später unten S. 129 f.), aber für Wendungen wie „in gerechter Weise" fehlen rechtfertigende Anhaltspunkte, vgl. Hoffmann (S. 16 Anm. 23) 106. 43

1. Die Adressaten des ersten Teils

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Aufgabe nur Zeus überlassen, und das sicher nicht, weil ihm hier der rechte Einblick in die Zusammenhänge oder ein spezielles Wissen fehlte50, sondern weil er so sehr im Bann der Macht und Willkür dieser Männer steht, daß er direkt nur zu seinem Bruder, dem Standesgenossen, zu sprechen wagt. Freilich will er nicht Perses „ins Gewissen reden"51 und ihn von dem speziellen Unrechtsprozeß abziehen, sondern an seine Adresse alles das richten, was er von den Musen weiß, eben die wahren Seinszusammenhänge (vgl. Theog. 27f.), und sie sollen dann ohne Zweifel nicht nur Perses, sondern möglichst viele von Unrecht und falschem Weg abbringen. In diesen Zusammenhang fügt sich nun auch die Bitte von 9a: Vernimm, indem du deine Augen und Ohren öffnest' (auftust)! Nach Nicolai52 fordert Hesiod Zeus mit diesen Worten auf, „seiner Bitte Gehör zu schenken", nach Diller53, ,in den Erga anwesend zu bleiben, zu sehen und zu hören...'. Auffallend ist sicher, daß alle drei Verben in 9a ohne Ergänzungen stehen; denn so bleibt zunächst offen, was Zeus eigentlich ,vernehmen' soll,durch Hinblicken und Hinhören'. Die übliche Verwendungsweise54 legt vielleicht nahe, zu κλϋθι ein ,μευ' zu ergänzen (vgl. etwa A 37, β 229), aber obligatorisch ist diese Ergänzung gewiß nicht, und sie wird hier zudem durch die beigefügten Partizipien erschwert, die dann eine entsprechende Ergänzung erfahren müßten 55 . Doch dieser Ergänzung stehen nicht nur grammatische Schwierigkeiten (zumindest ΐδών bedürfte eines Akkusativs), sondern auch inhaltliche (wo sonst und wozu soll Zeus einen Bittenden,sehen und hören', um ihn zu erhören?) entgegen. M.E. gibt es daher nur zwei Möglichkeiten, das inhaltliche Ziel von ίδών άϊών τε zu klären: Entweder sind die Verben hier ergänzungslos gebraucht und Zeus wird durch sie allgemein aufgefordert, seine Aufmerksamkeit zu öffnen, d.h., er „selbst soll sehen und hören und mit Gerechtigkeit Richtersprüche gerade machen"56. Oder das betont ans Versende gestellte θέμιστας ist gemeinsames Objekt aller Verben57 von Vers 9: (Erhöre mich). „Vernimm und richte dein Auge und Ohr auf die 50 51

Vgl. zu den Konsequenzen seiner Weihe durch die Musen Erg 660 ff. Meyer (S. 22 Anm. 45) 471 Anm. 1; dagegen zurecht Diller (S. 13 Anm. 8) 249 Anm.

17. 52 (S. 14 Anm. 12) 14. 53 Ebd. 248. 54 Dazu West zu 9. 55 So Nicolai (S. 14 Anm. 12) 16. 56 Wilamowitz zu 9; er weist daraufhin, daß άιών Aorist ist (vgl. weiter West zu 9). Die Aoriste hier aber stehen allein schon Dillers These entgegen. 57 Allenfalls mit der eben genannten Ausnahme von κλϋθι.

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II. Die Adressaten

Richtersprüche, durch δίκη aber richte sie (immer wieder) gerade!" Beide Möglichkeiten enthalten letztlich den gleichen Aufruf an Zeus: Er soll sein Augenmerk richten auf die Ereignisse im Bereich der Rechtsprechung. Wenn aber Zeus dazu so ausdrücklich aufgefordert wird, dann macht Hesiod dadurch nicht nur deutlich, wie sehr die Rechtsverhältnisse im argen liegen, sondern auch, worin dieses in der Hauptsache begründet liegt: in der fehlenden Aufmerksamkeit und Beachtung durch Zeus58. Damit also Unrecht und Fehlurteile korrigiert und bestraft werden, bedarf es vor allem ihrer Wahrnehmung durch Zeus, danach greift er zuverlässig ein59. So enthält die Aufforderung zur Wahrnehmung auf dem Hintergrund von Vers 7 auch den konkreten Aufruf, die ungerechten Richter zu strafen und,ihren hochfahrenden Sinn in sich zusammenstürzen zu lassen'. Schon hier wird also die Intention Hesiods durchaus faßbar und zugleich deutlich, wie geschickt sie von Anfang an getarnt und ,verpackt' ist60. Dabei bleibt die Frage bestehen, mit welcher Absicht sich Hesiod bei der Verfolgung dieses Zieles auf das zurückliegende Gerichtsverfahren61 gegen ihn selbst beruft und aus welchem Grunde er dabei auf die Ausbreitung von wirkungsvollen Fakten verzichtete oder auch verzichten konnte. Obwohl Hesiod mit seinen Hinweisen auf das ihm zugefügte Unrecht kaum auf ein laufendes oder bevorstehendes Verfahren gegen ihn erfolgreich einzuwirken vermochte, konnten ihm diese Hinweise auf seinen persönlichen Rechtsfall doch vortrefflich als Alibi dienen und rechtfertigen, daß er es unternimmt, gegen die Verbiegung und Vergewaltigung des Rechts überhaupt Beschwerde zu führen. Solange Hesiod nämlich für sein eigenes Recht kämpft oder sich über das ihm zugefügte Unrecht beklagt, beschränken sich seine Angriffe vorgeblich auf die wenigen an dem Prozeß beteiligten und bestechlichen Richter. Und selbst die Invektiven gegen das herrschende,Recht' müßten durch den Eindruck, sie entstammten der Empörung eines zu Unrecht Geschädigten, abgemildert werden. Insofern trifft die alte These, in den 58 Die eingeschränkte Wahrnehmung des Zeus ist in der Ilias eine geläufige Vorstellung: vgl. Ν 1 ff. 233 ff. Hesiod schaltet sie hinsichtlich der Rechtsprechung entschieden aus: durch Dike, die sich bei ihm über Verletzungen beklagt, und vor allem die unsterblichen Wächter, 30000 an der Zahl (249ff.). 59 Diese Erwartung formuliert Hesiod auch 26 7 ff. 60 Freilich ganz und gar nicht in der Art wie Nestor, der Standesgenosse, seine Kritik an Agamemnon ,verpackt': z.B. J 96ff. 61 Ein solches ganz auszuschließen, führt zu Konsequenzen wie sie bei Lenz (S. 22 Anm. 46) 30 formuliert sind: „... zweitens setzt er... Eignung der... Träger der Rechtspflege durch argumentierende Kritik an ihrem vermuteten mangelhaften Rechtsverständnis in Zweifel."

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Versen 39, 249, 269 habe δίκη die Bedeutung ,Prozeß'62, durchaus einen wesentlichen Punkt: mit τήνδε δίκην wird an allen drei Stellen vordergründig auf den konkreten Rechtsausgleich63, also das ungerechte Urteil gegen Hesiod, angespielt, hintergründig aber das im ganzen Lande pervertierte Rechtswesen angegriffen. Zu einer derartigen,Tarnung' bedurfte es zusätzlich sicher keiner aufreizenden Fakten, dagegen hätten diese durchaus von der grundsätzlichen Ausrichtung des Anliegens ablenken können. Der Verweis auf das selbst erlittene Unrecht und das Drängen auf einen,geraden' Ausgleich (34f.; 267ff.) geschehen also ganz im Dienste der Agitation gegen die allgemeinen Verhältnisse; sie hat eine Veränderung der Rechtssituation zum Ziel und richtet sich sowohl an die Adresse der Richtenden als auch an die der Prozessierenden, zielt aber zweifellos auf die gesamte (adlige und bäuerliche) Bevölkerung. Der Nachweis der Einheitlichkeit des ersten Teils mag durch unsere Ausführungen, auch wenn die Einbeziehung der Mythen noch fehlt, erbracht sein. Für die Einheitlichkeit des zweiten Teils und zumal der gesamten Erga sind allerdings noch keine besonderen Anhaltspunkte sichtbar geworden. Auch hier sollen die Überlegungen zu den Adressaten weiterführen.

2. Die Adressaten des zweiten Teils (286-617) 2.1 Perses als Adressat des zweiten Teils Der zweite Teil beginnt mit überraschenden Veränderungen; Hesiod versichert plötzlich seinem Bruder, daß sein Sinn auf das für jenen Vorteilhafte und Taugliche ausgerichtet sei und daß er ihm dieses jetzt mitteilen wolle, redet ihn aber zugleich auffallend herabsetzend an: „überaus törichter Perses" (286). Die beteuernde Ankündigung des Hesiod erinnert an das Programm, das er im Prooem angekündigt hatte (V 10), nämlich Perses „wahre Dinge" zu sagen; dieses wird hier offenbar modifiziert und von der Darstellung ,der allgemeinen Seinsgegebenheiten', auf die des ,Richtigen und Guten' für Perses eingeschränkt. Daß es jetzt um ihn und seine Angelegenheiten gehen soll, bestätigt auch die Anrede; durch sie gibt Hesiod außerdem zu erkennen, daß er das zur Sprache

62 63

Vgl. oben S. 24. Zum δίκη-Begriff vgl. unten S. 125-135.

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II. Die Adressaten

bringen will, was sein Bruder falsch einschätzt und nicht begreift und entsprechend bisher versäumt oder verfehlt hat. Dieses Vorhaben verbunden mit der ausdrücklichen Betonung der wohlwollenden Gesinnung führt fast zwangsläufig zu der Überlegung, ob sich hier nicht das Verhältnis der Brüder verändert darstellt. Wilamowitz z.B. ist fest davon überzeugt, daß Hesiod mit seinen vorangegangenen Ermahnungen bei dem Bruder Erfolg hatte und daher im folgenden das darstelle, „womit sich Perses nun abgeben wird.. ,"64. Wenn dieses Verständnis der brüderlichen Beziehungen zutrifft, sind die Konsequenzen für den Adressaten und die Intention des zweiten Teils beträchtlich: Perses wäre dann nicht mehr der ,aus der Art Geschlagene', der dem Bruder fernsteht, ihn sogar bedroht, der aber zugleich auch selbst bedroht ist und aus beiden Gründen unbedingt zu Umkehr und Besinnung gebracht werden muß, sondern Perses wäre, da bereits umgekehrt, für Rat und Belehrung geöffnet und so als Adressat nicht mehr das abschrekkende Beispiel, sondern gleichsam ein ,Lehrling' oder Jungbauer'. Entsprechend zielte die Darstellung dann nicht mehr auf Veränderung und Umkehr, sondern auf Information, Unterweisung und Anleitung. Welche Folgen diese Veränderung weiter für das Verständnis der Erga als Einheit haben müßte, ist leicht einzusehen. Aber zunächst einmal ist zu berücksichtigen, daß Hesiod durch die Gestaltung des ersten Abschnittes in diesem neuen Teil deutlich gemacht hat, wo der Bezugspunkt zwischen den beiden Teilen seines Gedichtes liegen soll. Mit dem berühmten Bild von den zwei Wegen nämlich knüpft Hesiod unüberhörbar an die Beschreibung der guten und der bösen Eris vom Anfang des Epos (11-26) an. Wie Zeus die gute Eris in die „Wurzeln der Erde" gepflanzt hat (17-19), die den Menschen zur Arbeit anstachelt (20) und über sie zu Reichtum (23f.) führt, so haben die Götter vor die άρετή, den Wohlstand, den Schweiß gesetzt (289) bzw. einen langen, steilen und anfangs steinigen Weg (290f.)65. Und wie Hesiod am Anfang den Bruder mahnte, die Wirkung der guten Eris zu beherzigen (27)66 und sich nicht durch die böse Eris von der Arbeit abhalten zu lassen (28 f.), so fordert er ihn hier auf, seiner Ermahnung (in dem Bild von den zwei Wegen) immer eingedenk zu sein (298) und ruft ihn mit allem Nachdruck zur Arbeit (299f.). Ganz entsprechend wird auch beide Male der Zwang zur Arbeit begründet: durch Entbehrung und Hunger (31 f.: 299 f.), und die Verheißung für sie formuliert: als Segen der Demeter (32: 300ff.). 64

S. 152f.; vgl. auch oben S. 11 Anm. 4. Zur Vorstellung vom Weg durch die Arbeit als ,Weg zur άρετή' ist auch Becker (S. 44 Anm. 43) 57-59 zu vergleichen. 66 Vgl. ausführlicher oben S. 29ff. 65

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Die Übereinstimmungen dieser beiden Einleitungspartien reichen bis in den Aufbau hinein: In beiden Fällen folgt der Darstellung, wie die Welt durch die Götter eingerichtet ist (zwei Endes 11-26; zwei Wege 286-292), eine eindringliche Parainese. Diese argumentiert zunächst grundsätzlich (Arbeit statt Prozesse - Arbeit statt Drohnenleben), dann persönlich (,du hast keine zweite Möglichkeit mehr zum Prozessieren' - ,so wie es um deine Verhältnisse steht, bietet sich nur noch Arbeit als Ausweg an'). Durch diese derart weitreichende Entsprechung macht Hesiod also deutlich, wo er mit den folgenden Ausführungen wieder anknüpfen will: Bei der ersten Ermahnung des Perses unmittelbar im Anschluß an das Prooem. Dort hatte er Leute wie Perses eindringlich vor Prozessen gewarnt, weil zur Teilnahme an Rechtshändeln und Prozessen nur Zeit habe, wer seinen Hof erfolgreich versorgt habe (30-32), und weil sie selbst vor allem im Falle des Sieges von der Übervorteilung des Gegners keinen Gewinn erwarten dürften (33ff.). Die Folgen aus Rechtsbruch, Meineid und falschen Aussagen vor Gericht für den Einzelnen wie die Gemeinschaft hat Hesiod deutlich gezeigt; er will sich jetzt offenbar der zweiten Seite der einleitenden Argumentation zuwenden und zeigen, wie wenig Zeit in der Tat die Arbeit auf dem Hof für Prozeßsucht und Streitereien läßt. Wenn dieses das Thema des zweiten Teils der Erga ist, kann sich das Verhältnis der Brüder nicht entscheidend gewandelt haben. Das unterstellt auch die veränderte Anrede gerade nicht: μέγα νήπιε Πέρση. Sie ist einmal herabsetzend und zeigt dadurch, daß Perses in Hesiods Augen nicht einsichtiger ist; sie ist andererseits provozierend und bestätigt dadurch unsere These, daß Perses auch zur Annahme von Rat und Einsicht erst noch bereit gemacht werden muß 67 . Das also soll der folgende Teil leisten, und dieser ist jetzt offenbar auf den Unverstand von Perses und Leuten wie er so eingestellt, wie es der erste Teil auf den der Könige war, die ja auch am Anfang herausfordernd als νήπιοι (40) bezeichnet wurden. Hesiod weist dann auch den Bruder im folgenden noch mehrfach auf seinen,Unverstand' oder seinen fehlenden Einblick' hin und sieht dieses wie am Anfang in zweifacher Hinsicht begründet, durch seine Einstellung zu fremdem Eigentum (315, 335) und zur Arbeit (397, 633, 646). Die neue Anredeform signalisiert also eindeutig, daß sich die Zielrichtung der Erga verändert hat und daß Perses nunmehr wieder zum zentralen Adressaten geworden ist. Wenn er aber jetzt sozusagen in seine eigentliche Adressatenrolle eintritt und Hesiod sich den spezifischen Verhaltensanweisungen für ihn

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Das unterstreichen besonders auch die Verse 293-297.

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II. Die Adressaten

zuwendet, dann liegt es gewiß nahe zu erwarten, daß sich nun sein Erscheinungsbild nicht mehr ändern und auch kein weiterer Adressat mehr auftreten wird. Beide Erwartungen lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres als erfüllt bezeichnen. West glaubt sogar, daß sich die Erscheinung von Perses im zweiten Teil besonders stark und oft verändere: Vom arbeitsscheuen Müßiggänger zum Menschen, der sich bessern und neu anfangen wolle (das müsse man der Tatsache der an ihn gerichteten technical instructions' entnehmen), vom Armen in der Rolle des Bettelnden zurück zum Arbeitswilligen und von dort weiter zum erfolgreichen Mann, den die Seefahrtsanweisungen notwendig voraussetzten. In welcher Weise das Erscheinungsbild des Adressaten über Art und Ziel der Erga Aufschluß geben kann, haben wir oben überlegt; in unserem Zusammenhang kommt dem Bild des Adressaten zusätzliche Bedeutung zu, weil wir aus anderen Indizien gefolgert haben, daß der zweite Teil jetzt in besonderer Weise auf den Bruder und dessen Umstimmung ausgerichtet ist 68 . Μ. E. wird diese Schlußfolgerung durch das Erscheinungsbild des Perses gar nicht in Frage gestellt; denn es lassen sich weder ein Wechsel im Erscheinungsbild des Perses noch eine Entwicklung seiner materiellen Verhältnisse aus dem Text selbst evident machen. Wie wir gezeigt haben, knüpft der zweite Teil ausdrücklich beim Beginn der Erga wieder an und greift auch eindeutig auf das Perses-Bild des Anfangs zurück: Perses erscheint weiter (und wieder) untätig (299f; 314f.), von Hunger und Not bedroht (299 ff.), in ärmlichen Verhältnissen (314,317) und auf der Suche nach Gelegenheiten, zu fremdem Eigentum zu kommen (315). Für Hesiod sind die Konsequenzen unverändert: Perses muß endlich arbeiten (298 ff.). Dieses Bild muß sich auch durch die Ermahnungen von 381 f. nicht notwendig ändern. Mit ihnen schließt Hesiod das Vorangegangene ab (ώδ' έρδειν) und bereitet zugleich das Kommende vor 69 : έργον έπ' έργω: wenn dem Bruder, wie es für ihn offenkundig ist, an Reichtum liege, dann könne er diesen nur auf ehrbare Weise (320 ff.) und durch Arbeit und noch einmal Arbeit (383ff.) erwerben. Diese Wendung geht also gerade „sehr real" von Perses' Bereicherungsabsichten aus und versucht diese wie bisher von der falschen Bahn fort und in die richtige, bisher verschmähte Bahn hineinzulenken. In dieses Bild paßt auch anstandslos hinein, daß Perses eines Tages sogar bei seinem Bruder betteln mußte (396f.). Denn damit verändern sich die Vorstellungen von seiner materiellen Situation nicht, wohl aber Das betont zurecht nachdrücklich Kühn (S. 15 Anm. 19) 262 ff. «» Gut Nicolai (S. 14 Anm. 12) 87f. 68

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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die von den Beziehungen der beiden Brüder zueinander. Der Rechtsstreit kann also nicht zum totalen Abbruch der brüderlichen Beziehungen geführt haben; diese Einsicht ließ sich bereits aus der ersten Parainese gewinnen, der Aufforderung des Hesiod, den Streit „schiedlich" beizulegen (35 f.). Unvorbereitet kommt allerdings die Bekanntgabe dieses Ereignisses: doch darf dieser Umstand allein noch nicht zu Rückschlüssen auf die Einheitlichkeit des Perses-Bildes verwendet werden; denn der Hinweis auf das Betteln des Bruders ist Bestandteil einer an diesen gerichteten Parainese und deshalb nicht zuerst an den Gesetzen eines zusammenhängenden und schrittweise informierenden Berichtes, sondern an dem Bedarf eines möglichst eindrucksvollen Beweismittels aus der Vergangenheit („sonst wird es dir gehen wie damals") zu messen. Dieses parainetische Mittel wendet Hesiod im übrigen nicht nur hier, sondern bereits am Anfang an, als er dem Bruder ebenso überraschend „das eine wenigstens mit Sicherheit prophezeit", daß er auf keinen Fall seine ungerechten Prozeßstreitereien gegen ihn noch einmal werde aufnehmen können (34 f.)70. Das Streben des Perses nach Reichtum soll sich nun nach West am Ende der Erga (618ff.) wenigstens in gewissem Umfang erfüllt haben. Er kommt zu dieser These durch die Annahme, daß Perses nur von einer Überproduktion aus habe Seehandel betreiben können 71 . Das scheint mir allerdings nicht ohne Weiteres zwingend zu sein. Denn dem steht einmal der Vergleich mit dem Vater entgegen: wenn dieser nämlich über die bloße Tatsache, daß auch er zur See gefahren ist, hinausgeht, woran kein Zweifel sein kann (631 f.), und wenn weiter für den Seehandel des Vaters die gleichen Voraussetzungen gelten wie für das Vorhaben des Perses, nämlich eine Überschußproduktion, dann läßt sich kaum mehr verstehen, wieso er eigentlich Kyme mit dem so wenig attraktiven Thespiai (640) vertauscht hat. Und noch weniger läßt sich einsehen, wie dann Hesiod zu der Formulierung der Gründe für die Umsiedlung (634b, 637/38: „auf der Flucht vor der bösen Armut") gekommen ist. Aber auch die Mahnung des Hesjod gilt es in diesem Zusammenhang zu bedenken, nicht den ganzen βίος ins Schiff zu verladen, sondern den größeren Teil zurückzulassen (689f.). Beides scheint mir darauf zu deuten, daß der Bauer im Spätsommer (gelegentlich im Vorfrühjahr) Handel mit seinem βίος trieb, das aber heißt, mit den Erträgen der Felder, von denen er selbst leben muß. Indem er also seine Ernte zu Waren macht, mit denen er jenseits des Meeres handelt, erhofft er sich einen Überschuß, wenn er die zurückgebrachten Waren in der Heimat gegen Erntegut zurücktauscht. 70 71

Charakteristisch ist das ώς: vgl. 396, 633; hierzu ausführlicher unten S. 85 ff. S. 40. - Zu den,Seefahrtsanweisungen' ausführlicher unten S. 71-76.

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II. Die Adressaten

Nur unter diesen Voraussetzungen haben markante Äußerungen des Hesiod über seinen Bruder wie μέγα νήπιε (633), άεσίφρων (646) χρέα τε προφυγεΐν και λιμόν (647) noch ihren Sinn und müssen nicht wie bei West als mechanische Wiederholungen (647) oder als „formality" (633) entkräftet werden. Dieses scheint auch deshalb nicht berechtigt, weil Hesiod mit seinen Anreden an Perses insgesamt sparsam umgeht (viermal im zweiten Teil und zweimal in den Seefahrtsanweisungen) und zumal die erweiterte Anredeform nur in bedeutsamem Zusammenhang Verwendung findet72. So aber ist das Ergebnis eindeutig: Hesiod hält bis zum Schluß an dem Bruder als Adressaten fest, und dessen Bild läßt Veränderungen weder in seinem Verhalten noch in seiner materiellen Situation erkennen. Damit werden alle Versuche hinfällig, aus der Vorstellung, die Situation des Bruders wandle sich im Laufe der Erga, entweder biographische Einzelheiten oder ein versöhnliches Ende der Erga zu konstruieren. Weder also erfahren wir, wie die Ermahnungen und Vorhaltungen des Hesiod auf den Bruder gewirkt haben, noch wird dem allgemeinen Gerechtigkeitsbedürfnis genüge geleistet, das befriedigt scheint, wenn die ausgleichende Gerechtigkeit des Zeus wenigstens darin sichtbar würde, daß Perses am Ende des Werkes völlig heruntergekommen und verarmt wäre oder wenigstens zu einem bescheidenen Wohlstand erst gelangt wäre, nachdem er sich von allem Unrecht losgesagt und zur Arbeit bekehrt hätte. Auf der anderen Seite bedeutet das Festhalten an Perses als Adressaten auch, daß der Bauernkalender nicht einfach als an alle Bauern gerichtet73 verstanden werden kann. Wohl kann Perses auch hier gleichsam als ,Aufhänger' für Ermahnungen an andere dienen, aber diese können nicht einfach unspezifiziert bleiben, sondern müssen mit Perses in Zusammenhang stehen und durch den besonderen Gegenstand der Darstellung als Ansprechpartner oder Zielgruppe faßbar sein. Diese Bedingungen aber erfüllen ,die Bauern' nur dann, wenn man ihnen unterstellen will, daß sie alle nicht arbeiten wollten. Nun scheint allerdings ein derart allgemeiner, unspezifizierter Adressat im zweiten Teil an vielen Stellen angesprochen zu werden.

2.2 Ein allgemeines ,Du' als Adressat

Wie nämlich schon längst beobachtet worden ist, tritt Perses in diesem zweiten Teil über weite Strecken aus dem Blickfeld, während sich Hesiods 72 73

Vgl. oben S. 49. So Nicolai (S. 14 Anm. 12) 90f.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Mahnungen und Anweisungen lediglich an ein allgemeines ,Du' oder ,man' richten74. West sieht dieses zuerst nach der Arbeitsparainese (317ff.); also Während des Vortrags der moralischen Grundforderungen und der an sie angeschlossenen Spruchreihen (317-381), eintreten, dann im Bauernkalender, und zwar beginnend mit der Warnung vor erneutem Zwang zur Bettelei (405-608), und schließlich vom Abschluß der Seefahrtsanweisungen an bis zum Schluß. Angesichts dieser umfangreichen Partien ohne spezifischen Adressaten drängt sich vielleicht trotz unserer bisherigen Überlegungen der Gedanke auf, ob nicht Perses im zweiten Teil der Erga aus seiner spezifischen Rolle des ersten Teils entlassen und seinerseits in die Position des allgemeinen Adressaten hineingezogen sein könnte. Dieses würde zweifellos dem Gebrauch des Adressaten in der Lehrdichtung auch im Vorderen Orient entsprechen. Von den Abschnitten des zweiten Teiles sind drei an Perses direkt gerichtet: die grundsätzliche Ermahnung zur Arbeit (286-316: 286, 299, 314), die Vorstellung der Hauptzeiten der Landarbeit mit anschließender Mahnung, diese genau einzuhalten (381-403/4: 380,396,397,403) und der Abschluß des Bauernjahres mit der Aufforderung zur Weinlese (609-17:611). Von den 331 Versen des zweiten Teils bis zu den Seefahrtsanweisungen sind dieses gerade 61, also noch nicht einmal der fünfte Teil. Trotzdem lassen sie ganz deutlich werden, daß der Persesgestalt auch im zweiten Teil nichts von ihrer spezifischen Haltung und den besonderen Umständen, die ihre Lebenssituation bestimmen, genommen ist. Wir haben dieses ausführlich dargestellt und gezeigt, daß das Zentrum der genannten Partien Parainesen sind, die Perses gerade aus seiner besonderen Situation heraushelfen sollen. Nun geht die oben angestellte Rechnung über die auf Perses bezogenen Partien insofern nicht auf, als sie völlig unberücksichtigt läßt, daß bei einem persönlichen und in bestimmten Umständen beschriebenen Adressaten auch eine Anrede mit ,Du' automatisch auf ihn weiter bezogen wird, solange die Verbindung nicht durch abweichende Umstände unterbrochen wird oder durch längere Aussagen mit unspezifischen Zügen allmählich verblaßt. Das Adressatenproblem des zweiten Teils der Erga wird also erst ganz erkennbar, wenn geprüft ist, in welchen Partien Perses als spezifische Person auch durch ein ,Du' präsent gehalten wird und in welchen dieses nicht geschieht. So werden etwa die Grundanweisungen zur rechten Vorbereitung

74 Das übersieht Kühn (S. 15Anm. 19) offenbar völlig, der den zweiten Teil insgesamt an Perses gerichtet sieht (S. 270).

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II. Die Adressaten

(405-413) sicher als an Perses gerichtet wahrgenommen, weil sie unmittelbar an eine persönliche Ermahnung an ihn anschließen und auf diese auch inhaltlich deutlich Bezug nehmen (408: 399f.; 409: 392ff.). Eine andere Partie ruft durch ihr nachdrücklich gesetztes ,Du' den Bruder Perses in Erinnerung, weil sie unmittelbar in seine Situation hineingesprochen erscheint und Hesiod dieses mit besonderem Engagement tut: Dieses geschieht in der parainetischen Partie, die dem Aufruf zum rechtzeitigen Beginnen mit dem Pflügen und Säen folgt (471-492). Hier wird die Heilung der elenden Situation des Perses verheißen: zu 475 f. vgl. 30 ff.; 477: 396ff. ; 478: 399ff. u.a. Weitere Partien können schließlich über bestimmte Wendungen an Perses und seine Situation erinnern, so wahrscheinlich der Hinweis auf den Hauptzweck aller Ratschläge und Aufforderungen zum Handeln: ϊνα / δφρα . . . βιότου (δέ) τεήν πιμπλησι καλίην (299 ff.). Dieser Gedanke ist von Anfang an mit Perses verbunden (31 f.), weiterhin unmittelbaren Anrufen an ihn beigefügt (301 u. 307) und legt deshalb an anderen Stellen den Gedanken an ihn nahe: 461 bei der Aufforderung zum rechtzeitigen Pflügen und Säen und 577 bei der Aufforderung zu ungesäumter Erntearbeit. Zu diesen Wendungen könnte hier unter Umständen auch die Aufforderung gehören, sich die Ausführungen des Bruders zu merken oder zu Herzen zu nehmen, obwohl sie sonst eine feste Formel der Lehrdichtung ist (etwa Parm. frg B2 [Diels] 1; Β 6. 2 u.a.). Aber sie begleitet hier bereits die erste Adresse an Perses (27), tritt auch noch an anderen Stellen in Verbindung mit einer Anrede an Perses auf (274, 298), kann an einer weiteren Stelle nur auf ihn bezogen werden (107) und ruft deshalb vielleicht auch für sich die Ausrichtung des Gesprochenen auf Perses in Erinnerung (491), zumal sie nur eine unter zahlreichen Assoziationen in der besagten Partie wäre. Aber die Assoziation des Adressaten über feste Wendungen bleibt problematisch, zumal eine Reihe von ihnen formelhaft gebraucht wird und gerade Bestandteil der allgemein formulierten Ausführungen ist: vgl. einerseits μεμνημένος (298,641,616,623; aber: 422; 711; 728) andererseits Formeln wie ώς γαρ αμεινον oder Entsprechendes (424,433,438,570 u. a.) oder auch ώς σε κελεύω (367, 536). Eine behutsame Anwendung dieser Kriterien ergibt nun, daß auch folgende Partien als an Perses gerichtet angesehen werden können: a) „der volksthümliche Catechismus althellenischer Moral"75 (320-41: vgl. 335 u. 341 f.). " Kirchoff (S. 11 Anm. 2] 62f.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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b) die Aufforderung, sich auf die Zeit zum Pflügen und zur Aussaat zu richten und diese genau einzuhalten, verbunden mit der Warnung vor den Folgen eines Versäumnisses (448-92, vgl. 475ff., 491 f.). c) die Ermahnung zur rechtzeitigen und energischen Einbringung der Ernte (571-81, vgl. 577). Wenn sich vielleicht auch nicht alle Partien ganz eindeutig und überzeugend zuweisen lassen, - das gilt für die Parainese vor der Anweisung zum Pflügen (448-60, wohl allgemein ausgerichtet) und die Aufforderung zum Dreschen und Sichern der Ernte (597-608; wohl ebenfalls allgemein adressiert, auf Perses könnte nur 605 weisen), - so ergibt sich doch ein im ganzen klares Bild; den Gedanken an Perses lassen eindeutig zurücktreten: 1) die großen Spruchpartien, zumal die Spruchreihen vor dem Bauernkalender (342-80) 76 , 2) die Anweisungen zum richtigen Holzschlagen und vorbereitenden Gerätebau (414-47), 3) die Mahnungen zum verantwortlichen Verhalten in der Winterzeit, die Beschreibung des Leidens in der ganzen Natur, die Anweisungen für die richtige Ausstaffierung in der Kälte (504-63) und die Vorsicht bei Arbeiten im Freien, 4) aber auch die Wünsche und Anweisungen für die Rast im Sommer nach der Ernte (582-96). 76

Die Sprüche (342-80 und 695-723) haben seit je großes Kopfzerbrechen bereitet und sind entsprechend auch nicht selten athetiert worden (F. Leo, Hesiodea, 1894 in: Kl. Schriften II, Rom 1960.343-63; hier 359f.), scheinen sie doch in einem Gedicht von so hohem poetischen Rang, wie ihn die Mythen oder die Vorstellungen von der Dike oder die Beschreibung des Wintersturmes repräsentieren, keinen Platz zu haben. Intensivere Beschäftigung mit den Sprüchen, vor allem durch Friedländer (S. 13 Anm. 10), haben sichtbar gemacht, daß diese Sprüche keineswegs einfach lose gereiht, sondern so aneinandergefügt sind, „daß eine niemals . . . unterbrochene Reihe von der Mahnung „Arbeite!" (299) zu der Mahnung „Arbeite so!" (382) hinführt" |Friedländer, bes. 234-236). Inhaltlich werden sie durchaus als „eine Ergänzung des Bauern- und Schiffahrtskalenders" (Nicolai 78ff.) anerkannt. Aber was mir wichtig scheint, liegt doch noch in einer anderen Richtung: Hesiod versucht hier offenbar noch einmal die für ihn entscheidenden Kriterien des Handelns über das vertraute und überkommene Spruchgut sozusagen aus der Perspektive des Alltäglichen in seiner Relevanz und fraglosen Gültigkeit sichtbar zu machen: Nicht αιδώς als Orientierung an einer ,vornehmen' Öffentlichkeit ist gefordert, sondern Rücksicht und Achtung gegenüber dem Nachbarn, keine Verschwendung und Großzügigkeit als Ausweis des eigenen Wohlstands, sondern strikte Orientierung an dem Prinzip der Gegenseitigkeit: dem Geber geben...! Dazu gehört eine sparsame Haushaltsführung, die sich von der Demonstration nach außen befreit und sich auf das Auskommen, die Unabhängigkeit konzentriert. Raub oder auch nur die geringste Form der Selbstbedienung' gefährdet die nachbarlichen Beziehungen, ja führt notwendig ins Unheil (vgl. 352 und 348).

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II. Die Adressaten

Dieses Ergebnis ist zweifellos überraschend und das umso mehr, weil Perses zu Beginn des zweiten Teils so eindeutig ins Zentrum der Ausführungen gerückt worden ist. Wie also im ersten Teil Perses und die Könige als Adressaten abwechselten, so jetzt Perses und ein allgemeines Du. Aber nicht nur die Tatsache dieses Wechsels ist erstaunlich, sondern mehr noch sind es die Stellen, an denen er eintritt. Sollten denn nicht die Freuden eines Sommerfestes gerade Perses verlockend vor Augen gestellt werden? Anhaltspunkte für Kriterien, nach denen die einzelnen Partien ,adressiert' sind, ergibt ein Überblick über die Themen der an Perses gerichteten Teile. Es sind dies die Mahnungen zur Arbeit (grundsätzlich: 286-92, konkret 298-316, 392-404), die Ermahnungen zum rechtzeitigen Anpacken der Arbeit (306 f., 491 f., 641 f.), dann die allgemeine Anweisung für die Landarbeit (383-92) und dazu die speziellen Aufrufe zu den einzelnen Arbeiten (448, 571, (597), 609), weiter natürlich die mahnenden Hinweise auf die bedrohlichen Umstände der gegenwärtigen Situation des Bruders (312-16; 395-404) und schließlich die allgemeinen Anweisungen für ein rechtes und deshalb sühnefreies Verhalten (320-41). Das Ergebnis ist eindeutig: Die an Perses gerichteten Partien sind auf jene Themen unmittelbar bezogen, die seit Beginn der Erga mit ihm verbunden sind: Rechttun und Arbeit. Sie enthalten die Aufrufe zum Arbeiten, die Ermahnungen zur Rechtzeitigkeit, fast (448-57) alle Warnungen vor Versäumnissen und Lässigkeit in der Arbeit und insbesondere vor den Folgen von Unrecht und Gewalt. Diese Partien sind von den übrigen nun nicht nur thematisch, sondern auch nach Art und Aufbau unterschieden. In ihrem Zentrum stehen Ermahnungen und Warnungen, die sich gewöhnlich einer Zeitbestimmung und einer knappen Handlungsanweisung anschließen. So nehmen z.B. die Zeitangaben (383; 385-7) und die Grundanweisungen für die Felderbestellung (384; 391 f.) knapp sieben Verse ein, während ihnen eine Parainese von fast sechzehn Versen gegenübersteht. Ähnlich folgen der Zeitangabe für die Ernte (571/2) und dem Aufruf zu ihrem raschen Beginn (573 und 576) mehr als doppelt so viele Verse der Ermahnung zu Eile und frühem Anfang mit den entsprechenden Begründungen. Nicht anders verhält es sich bei den übrigen Aufrufen zu bestimmten Arbeiten oder bei der Grundanweisung für die Vorbereitung und Ausrüstung des Hofes77. In den allgemein

77 Dabei sind alle diese Anweisungen vom fachlichen Standpunkt aus gesehen so banal, daß für Walcot (S. 13 Anm. 8) die Anweisungen des Bauernkalenders auf „total idiots" (20ff.) abgestellt sein müßten, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit E. Friedls Beobachtung sehen wolle, daß die Griechen auch heute noch über die alltäglichsten Dinge Rat und Unterweisung auszubreiten liebten. Das hätten sie dann mit dem ganzen Vorderen Orient gemein; diese Beobachtung hat sicher ihre Berechtigung;

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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adressierten Partien dagegen liegt das Schwergewicht auf der Darstellung und der konkreten Anleitung, etwa, welche Hölzer vorzubereiten und für welches Gerät sie geeignet sind (422-436) oder wessen es zu einer genußvollen Entspannung bedarf (588-96) und was alles schutzlos dem eisigen Wintersturm ausgeliefert ist (507-535). Dabei treten auch an den Stellen, wo konkrete Anweisungen gegeben werden (342-80; 420-46; 536-60), die argumentativen und mahnenden Teile auffallend zurück. In der Regel werden nur noch Begründungen in ihrer einfachsten Form hinzugefügt, entweder als Angabe eines Zweckes (vgl. besonders 536-60) oder eines Grundes (vgl. besonders 520-46), und diese sind darüber hinaus noch auf bestimmte Formeln reduziert (vgl. 426, 429, 433, 435; 570)78. Doch die allgemein adressierten Partien weichen von den an Perses gerichteten nicht nur in Inhalt, Aufbau und Argumentationsform ab, sondern unterscheiden sich von ihnen gerade auch durch die Situation, in der der Adressat vorgestellt wird. So wird in den Sprüchen z.B. vorausgesetzt, daß der Adressat ein normal situierter Bauer ist, der andere zum Mahl laden (342), Bittenden helfen (353), vor allem aber Gaben vergelten und Geliehenes zurückzahlen kann und dessen Scheuer durch die Habgier von aufgeputzten Weibern gefährdet ist (373 ff.)79. Ein entsprechendes Bild ließe sich auch bei den Anweisungen für die Winterzeit als Voraussetzung skizzieren, allein anhand der Materialien, die für die empfohlene Herstellung von Schutzkleidung vorhanden sein müssen,· ebenso setzt die Sommerrast, da sie nicht als Lohn verheißen („dann wirst du..."), sondern der Adressat sozusagen zu ihrer Durchführung angeleitet wird (vgl. 589,592,596), einen Bauern voraus, der seinen Hof wohl bestellt hat. Wäre also z.B. die Sommerrast zu Perses gesprochen, so würde sie in der Tat anzeigen, daß dieser inzwischen erfolgreich sein Leben zum Besseren gewendet hat. Das aber ist nicht der Fall; vielmehr kommt das zeitweilige

sie kann jedoch hier über eine Angabe des allgemeinen Rahmens hinaus, in dem solche Anweisungen vorgetragen und weitergegeben werden, nichts austragen, wenn man nicht für die Interpretation den Erga-Teil von dem Dike-Teil isolieren will (eine Konsequenz, die auch sonst bei Walcot vernachlässigt zu sein scheint). Das aber scheint uns nicht erlaubt; vielmehr ist u.E. die Ermahnung zur Arbeit nur ein Teil des hesiodschen Vorhabens, das seinen Kernpunkt in der δίκη hat. Da Hesiod diese aber nur sehr begrenzt unterstützen kann, sucht er die Interessenten für Prozesse zu Arbeit und Unabhängigkeit aufzurufen. - Zur allgemeinen Charakteristik des zweiten Teils der Erga vgl. etwa W. Richter, Die Landwirtschaft im homerischen Zeitalter, Göttingen 1968, Kap. H, S. 105: „man muß in Rechnung stellen, daß sein (sc: Hesiods] Lehrgedicht alles andere als ein systematisches Lehrbuch der Landwirtschaft ist". 78 Begründungen können sogar ganz fehlen (609-17) oder fast ganz (597-608). 79 Hier finden sich naturgemäß die meisten Entsprechungen zur Weisheitsliteratur des Vorderen Orients, vgl. besonders Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 28 ff.

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II. Die Adressaten

Zurücktreten des Perses als Adressat der Aufrechterhaltung seiner Identität zustatten. Das Nebeneinander so unterschiedlicher Partien im zweiten Teil der Erga hängt einmal sicher mit der Art der Quellen zusammen, die Hesiod zur Verfügung standen. Daß Hesiod überhaupt auf ein gewisses Material zurückgreifen konnte, haben besonders die Vergleiche mit der didaktischen Literatur des Vorderen Orients erkennen lassen80. Doch machen darüber hinaus etwa die Sprüche, die Hesiod in großer Zahl aneinanderreiht, die Formelhaftigkeit der Argumentation und das Unspezifische des Adressaten zumindest für die allgemein adressierten Partien wahrscheinlich, daß Hesiod auch regelrechte,Vorlagen' benutzt haben kann 81 . Doch gilt dies auch für die an Perses gerichteten Partien, wenigstens für die Zeitangaben nach dem Sternenkalender und das Grundgerüst des Arbeitsjahres, das in knappster Form auf der kleinen Steintafel von Gezer (Palästina) gefunden wurde82 und das in ausführlicherer Entsprechung offensichtlich in den Anweisungen eines sumerischen Bauern an seinen Sohn vorliegt83. Die Differenzierung der oben beschriebenen Partien hängt darum wahrscheinlich weniger mit der unterschiedlichen Art der /Vorlagen' zusammen, die Hesiod zur Verfügung standen, als mit deren Benutzung durch ihn. Wie das Festhalten an dem speziellen Adressaten beweist, muß diese Benutzung dadurch gekennzeichnet sein, daß Hesiod weisheitliche oder überhaupt didaktische Literatur aus dem landwirtschaftlichen Bereich an eine bestimmte Person adressierte, mit dem Ziel, diese in einer speziellen Situation zu ermahnen und zu belehren84. Wenn dafür aber ein knapper Überblick über die anstehenden Aufgaben mit entsprechender Anlei-

Die Literatur ist genannt S. 14 Anm. 16. Vgl. Wests These, daß Hesiod möglicherweise „is following an Ionian tradition of paraenetic poetry" (27ff.). 8 2 Vgl. Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 22f. 8 3 Walcot ebd. 20 ff; hier wie bei vielen sumerischen Beispielen kann sich der Vergleich nur auf Berichte über die Texte stützen, die S. N. Kramer in seinem Buch: From the tablets of Sumer, 1956 (dt, München 1959), gegeben hat. 8 4 Das entspräche weitgehend dem Umgang der altisraelitischen Prophetie mit der Weisheit; vgl. dazu etwa G. v. Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970.86 ff. Die traditionelle Auffassung des zweiten Teils als,reines Lehrgedicht' („der Arbeitskalender lehrt, wie zu arbeiten ist"), vertritt besonders eindeutig Bielohlawek (S. 13 Anm. 9) 12 ff. Doch gilt es nicht nur zu bedenken, welche Lehrinhalte Hesiod dabei konkret vorträgt, sondern auch welchen Menschen unter seinen Zeitgenossen Hesiod mit ihnen noch zu unterrichten hoffte; denn „im Grunde war . . . j edermann,Landwirt', einerlei ob er zum Adel zählte oder ein kleiner Hintersasse war" (Richter (S. 57 Anm. 77) Kap. H. S. 6), das heißt, „jeder... konnte die Herden versorgen, pflügen, säen und graben", M. J. Finley, The World of Odysseus, H978, dt, München 1979.56. 80 81

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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tung, wie etwa in den Anweisungen für das Weinbeschneiden (568ff.) und -lesen (609ff.) oder das Dreschen und Einkellern (597-608), nicht genügte, sondern noch dazu umfangreiche Parainesen notwendig waren85, dann müssen Hesiods Ermahnungen auf ein Umdenken im Bereich des Grundsätzlichen und damit auf die Veränderung von Lebensprinzipien ausgerichtet sein. So zeigt schon der grundsätzliche Aufruf zur Arbeit mit seiner ausführlichen Argumentation, daß Hesiod nicht einfach darum zu tun ist, eine lethargische Haltung oder ein Übermaß an Bequemlichkeit zu überwinden, und daß wir uns Perses deshalb nicht einfach nur, wie man oft gemeint hat, als faulen Strick oder arbeitsscheuen Müßiggänger vorstellen dürfen86, sondern in ihm einen Menschen zu sehen haben, der aus einer bestimmten Überzeugung handelt87. Diese muß sich in Hesiods Argumentation spiegeln, wenn er so ausdrücklich betont, daß nicht Arbeit, sondern Untätigkeit Schande bedeutet (311), daß nicht der,Untätige' und damit ist hier fast der,Arbeitsfreie' gemeint, sondern der Arbeitende den Unsterblichen um vieles lieber sei (309), daß sich Menschen, die wie Drohnen ihr Leben hinbringen, sogar den besonderen Unwillen der Götter zuziehen (303-306), ja, daß den Weg zu hohem Rang und Ansehen gerade die Arbeit darstelle (313). Hinter diesen Mahnungen wird so als Gegenposition die Überzeugung sichtbar, daß für jeden, der etwas auf sich hält (29988), Arbeit Schande sei, ein Kennzeichen von Armut und Minderwertigkeit89., Arbeit' meint in diesem Zusammenhang, wie schon

85

Diese finden sich, soweit wir es sehen können, in den sumerischen Bauernanweisungen gerade nicht, vgl. Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 22. 86 Vgl. z.B. Hoffmann (S. 16 Anm. 23) U l f . 87 Die Macht, die diese Überzeugung trägt, hat eindrucksvoll Walcot (S. 13 Anm. 8) sichtbar gemacht: „philotimo" (bes. 59f.). Nach seinen Ausführungen ist es sogar nicht übertrieben, von einer Verfallenheit der Griechen an die Forderungen von Prestige, Ehre und Ansehen zu sprechen; auf j eden Fall vermittelt erst seine Auswertung der soziologischen Untersuchungen den Philologen einen ausreichenden Eindruck, welchen Aufwandes an Argumentation und welcher Schärfe der Ermahnung es wohl bedarf, um auch nur die Hoffnung zu begründen, auf die Maßstäbe einer,Schamkultur' verändernd einzuwirken. 88 δΐον γένος, ,du königlicher Sproß' soll offenbar ironisch auf den falschen Anspruch anspielen, den Perses durch sein Verhalten stellt. Zum niederen Stand des Perses vgl. West zu 299,· doch ist über den Stand des Bruders erstaunlich viel spekuliert, und Unwahrscheinlichstes kombiniert worden, vgl. z.B. Wilamowitz zu 299. 89 Aufschlußreich sind auch hier die Beispiele, die Walcot (S. 13Anm.8| aus soziologischer Literatur zusammengetragen hat; sie vermögen allerdings in diesem Zusammenhang nur einen allgemeinen Anschauungsrahmen abzustecken. Denn einmal gibt es zu der vorausgesetzten Situation, daß bestimmte Menschen im Arbeiten-Müssen schon eine soziale Deklassierung sehen, in den verglichenen Dörfern und Gemeinschaften der

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II. Die Adressaten

das Bild von den zwei Wegen kenntlich macht, nicht nur gelegentliche Anstrengung und Mühe oder einfach die Fertigkeit in allen anfallenden Tätigkeiten, die, wie Strasburger90 deutlich gezeigt hat, der homerische Adel durchaus besitzt, sondern fortwährende Arbeitslast und Arbeitsverpflichtung. ,Arbeit' in diesem Sinne, das ist traditionelle aristokratische Überzeugung91, kommt nur dem κακός und δειλός (wie 214) zu, nicht aber einem Menschen, der sich zu άρετή und κϋδος berufen fühlt (313). Dieser Einstellung also hält Hesiod sein Wissen entgegen, daß die Götter zur άρετή gerade keinen anderen Weg eröffnet haben als den über die Arbeit; er hat die Zuverlässigkeit seines Wissens bereits gerechtfertigt durch seine Gestaltung des Prometheus-Mythos (42-105), er aktualisiert sie hier in dem Bild von den zwei Wegen (286-92). Hesiods Argumentation zielt offenbar auf die Überwindung einer Haltung, die begründet und geschützt ist durch ein überkommenes Wertoder Rangverständnis und die feste Vorstellung von dem, was jedem zukommt, was jedem angemessen ist und was nicht 92 . Da solche Wertkriterien für den einzelnen nur maßstabsetzend sein können, wenn ihnen allgemeine Anerkennung entgegengebracht wird, richtet sich der an Perses adressierte Angriff auf sie zugleich gegen alle, die sich dem gleichen Wertsystem verpflichtet fühlen. Dieses wird noch

Gegenwart keine Parallele; zum anderen vernachlässigt Walcot hier wie auch sonst die parainetische Situation fast völlig. Das führt etwa dazu, daß er die αιδώς des Perses in einen viel zu weit gefaßten Rahmen (die ,Demut' der Frau) einzuordnen sucht (57ff.). 9 0 Wie es Odysseus (allerdings als Bettler) im Pflügen und Mähen mit jedem aufnehmen will (σ 365-375); vgl. dazu gut: Η Strasburger, Der soziologische Aspekt der homerischen Epen, Gymn. 60. 1953. 97-114, hier besonders 103ff.; vgl. auch Walcot (S. 13 Anm. 8) 18f.; aber beiden gegenüber ist es wichtig festzuhalten, daß z.B. von Telemach keine Teilnahme an der Landarbeit berichtet wird und daß das riesige Gut des Odysseus (vgl. die Aufzählung des Eumaios ξ 99ff.) trotzdem erstaunlich gedeiht. Mag Telemach in die Verwaltung immerhin eingeschaltet sein, so ist der Unterschied zu dem Bauern, den Hesiod rühmt und im Auge hat, zweifellos grundlegend, ähnlich wie der zu den Vorstellungen des Bruders. Sicher können sogar Hera und Athene ihre Pferde anschirren und versorgen (Strasburger 105), aber sie tun dieses nur in besonderen Situationen (Θ 381 ff.; Ν 23 ff. (Poseidon)), sonst übernehmen andere Götter für sie diese Aufgabe: das Ausschirren und Füttern etwa die Hören (Θ 432ff.) oder Iris (E 368 ff.), den Wagenbau Hebe (E 722ff.) ; vgl. auch Richter (S. 57 Anm. 77) 6ff. 91 Das zeigt allein das Wortfeld: weiter Strasburger ebd. 97 ff. Finley (S. 58 Anm. 84) 72: „Dies ist die große Trennungslinie zwischen denjenigen, die gezwungen waren zu arbeiten, und denen, die es nicht waren." Vgl. auch ders., The Ancient Economy, 1973, dt, München 2 1980.38. 9 2 Vgl. hierzu auch Kühn (S. 15 Anm. 19) 281 ff., der aber die Brüder doch wohl zu weit voneinander trennt, auf jeden Fall Perses in einem Lebenswandel (bei dem „Gelage, Feste und Frauen keine geringe Rolle" spielen) und in einem Lebensgefühl (Abenteuerlust) sieht, wofür es in den Erga keine Anhaltspunkte (auch keine ex negativo) gibt.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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deutlicher durch die folgende Warnung vor einem falschen Verständnis der αιδώς (317-319). Wie umstritten diese Verse auch sein mögen, sowohl im Blick auf Überlieferung (etwa κομίζει 317, die Echtheit von 318) und Komposition (stand 319 ursprünglich vor 318? gibt es überhaupt einen Anschluß nach hinten und nach vorne?) als auch auf ihren Gehalt (Verhältnis von 317 zu ρ 347, Bestimmung des αίδώς-Begriffes), so wird doch soviel allgemein anerkannt, daß Hesiod mit ihnen auf die Wurzel der ,Fehlhaltung' des Bruders zielt. Allerdings stellt schon die Tatsache, daß Hesiod hier die αιδώς als ,untauglich' für arme Menschen bezeichnet, nachdem er nur etwa 100 Verse vorher ihre existentielle' Bedeutung für die Gemeinschaft der Menschen so nachdrücklich hervorgehoben hat (197ff.; besonders 201), die Interpretation vor schwierige Probleme. Sie führen vielleicht sogar mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu der Überlegung, ob nicht Hesiod hier den Begriff der αιδώς in ähnlicher Weise in einen positiven und einen negativen Teil zerlegt hat, wie er es unzweideutig bei der Eris (11 ff.), wahrscheinlich auch bei der Vorstellung vom ζήλος (vgl.: 23,312 (ζηλόω) mit 195: ζήλος... δυσκέλαδος κακοχάρτος.. vgl. V. 28) getan hat 93 . In diese Richtung scheint auch der Vers 318 zu weisen, der ja von einem ,gewaltigen Schaden und Nutzen' spricht, den die αιδώς verursacht; allerdings verursacht beides, wie die Wiederaufnahme des Wortes αιδώς zu Beginn von Vers 318 besonders heraushebt 94 , die eine αιδώς, nicht jeweils ihre „böse" oder „gute" Hälfte. Daher hat West sicher recht (zu 317), wenn er Indizien für eine Begriffsspaltung der αιδώς leugnet 95 . Doch damit sind die genannten Probleme nicht gelöst, und entsprechend fordern die Verse 317-19 zu immer neuen Versuchen heraus, die in ihnen vorliegende Mahnung Hesiods in den Zusammenhang der Erga einzuordnen 96 . Dabei scheint wenigstens soviel jetzt allgemein anerkannt zu sein, daß die Äußerungen über die αιδώς durchaus an ihre jetzige Stelle ,passen', sich sogar so unmittelbar in die Gedankenführung einfügen, daß auf jeden Fall zum Vorausgehenden nicht einmal ein,Sinneinschnitt' festzustellen ist 97 . Wurde dort nämlich betont, daß Arbeit keine Schande sei (311), vielmehr zu Anerkennung und Ruhm führe (313), so wird diese Überzeugung jetzt noch weiter zugespitzt: „αιδώς aber ist nicht tauglich, 9 3 So z.B. zuletzt D. B. Claus, Defining moral terms in Works and Days, TA Ph A 107.1977.73-84, hier: 82 ff. 94 Zur Form dieser Wiederaufnahme Beispiele bei West (zu 318). 9 5 So schon Wilamowitz zu 317-19. 96 Vgl. etwa Nicolai (S. 14Anm. 12)und seine Verweise auf unterschiedliche Lösungsversuche: 74ff und besonders Anmerkungen 147 u. 148. 9 7 Vgl. dagegen noch Rzach in seiner Ausgabe,· einen ,Sinneinschnitt' nach 319 konstatiert Nicolai (S. 14 Anm. 12] 69 und 73 ff. trotz entgegenstehender Indizien (S. 74) und etwa West (vgl. Text S. 111); richtig schon Fuss (S. 13 Anm. 9) 55/6 Anm. 7.

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II. Die Adressaten

einen armen (notleidenden) Menschen zu versorgen'" (317)98. Diese Worte also bestätigen nicht nur, daß Arbeit keine Schande ist, sondern verwerfen das Kriterium ,Schande' überhaupt als untauglich für den armen Menschen, zumindest soweit es sich um das ,κομίζειν' handelt. Zum tieferen Verständnis dieser Aussage führt ein Vergleich mit dem Odyssee-Vers (p 347), den Hesiod hier zitiert. Er hat ihn leicht abgewandelt: statt κεχρημένω άνδρι παρεϊναι (ρ 347, vgl. auch die Fassung desselben Gedankens bei der Wiedergabe durch Eumaios: ρ 352) sagt Hesiod: κεχρημένον άνδρα κομίζειν. Dieser Abwandlung wird offenbar zunehmend größeres Gewicht beigemessen. McKay" und nach ihm Claus100 jedenfalls sehen den Eingriff als so gravierend an, daß für sie Hesiods Formulierung nur noch als „flatly sarcastic"101 verstanden werden kann, vorausgesetzt, Hesiod habe den Boden der homerischen Aussage nicht verlassen wollen. Aber die Konsequenz, die etwa Claus aus dieser Annahme zieht: „αιδώς in its ordinary social setting can be distinguished from αιδώς as it is perceived b y . . . a man who is truly αίδοΐος" (S. 82), läßt sich schwerlich halten, schon weil sie praktisch die ,wahre αιδώς' von der Angst vor Prestigeeinbuße abkoppelt und dadurch den Rahmen der ,Schamethik' sprengt101. In der Odyssee benutzt Telemach die erwähnte Mahnung (,es ist nicht gut, daß αιδώς bei einem notleidenden Menschen vorhanden ist'), um seiner Aufforderung an den Bettler Odysseus, rings zu allen Freiern zu treten und bei ihnen zu betteln, Nachdruck zu verleihen. Dort macht also der Zusammenhang ganz eindeutig, auf welche Situation sich die Mahnung bezieht (erbetteln des Lebensunterhaltes) und welcher Personenkreis mit κεχρημένος άνήρ bezeichnet wird (der der Bettler, vgl. auch 352: άνδρί προΐκτη). Zugleich wird aus den Umständen deutlich, was unter αιδώς hier zu verstehen ist: Es müssen vor allem die ,Achtung' oder der ,Respekt' vor Höherstehenden sein, die den Bettler hindern, diese um eine Gabe anzugehen,· denn die Scheu oder Scham des Bettlers, die er wegen seiner Situation vor der Öffentlichkeit überhaupt empfinden mag, sind j a bereits weitgehend durch den Gang zum Hause der Reichen und das Sich-Niederlassen auf der Türschwelle in zerrissenen Kleidern (p 336 ff.) 98

Zu κομίζειν statt κομίζει, das außer durch Stobaeus jetzt auch durch 3 Pap. bezeugt ist (Π 11, Π 19, Π 33) vgl. gut West (Text S. 111; Komm, zu 317), dort auch der Vergleich mit Erg. 500, wo er ebenfalls wohl zu recht κομίζειν lesen will. Zur Gegenposition vgl. etwa Wilamowitz zu 317-19. » K. J. McKay, Ambivalent ΑΙΔΩΣ in Hesiod, AJPh 84.1963.17-27. "» WieAnm. 93 S. 61. Claus ebd. 80. 102 Vgl. dazu besonders Claus ebd. 84 und dagegen die eindrucksvolle Darstellung des Prestigedenkens und seine Auswirkungen unter den Bauern des antiken wie modernen Griechenlands bei Walcot (S. 13 Anm. 8).

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überwunden. Diese Auffassung wird indirekt durch den späteren Vorwurf des Antinoos bestätigt (445-52), Odysseus sei ein ,ganz dreister (θαρσαλέος) und respektloser (αναιδής) Bettler', vor allem aber durch den von Penelope geäußerten Unwillen über das Nicht-Erscheinen des von ihr gerufenen Bettlers (557ff.). Sie will wissen, ob er entweder sich vor j emandem scheue, weil er vor ihm ungebührlich Angst bekommen habe, oder ob er noch aus einem anderen Grunde Scheu vor jemandem empfinde im Palast, daß er nicht gekommen sei. Wenn Hesiod die auf den Bettler bezogene Mahnung des Telemach (p 347) an seinen Bruder Perses richtet, dann richtet er sie an einen veränderten Personenkreis - sein Bruder istgewiß kein αλήτης (ρ 478), aber auch kein προΐκτης (ρ 352,449) - und er verwendet sie in einer andersgearteten Situation (sein Bruder soll sich nicht zum Betteln überwinden), mit einer veränderten Bedeutung von αιδώς; denn zum ,Respekt' oder zur Achtung' vor Höherstehenden ist zweifellos im Zusammenhang der Erga weniger Anlaß als zur Scheu vor dem Urteil der anderen, zur Angst vor dem Verlust von Ansehen und Geltung. Angesichts dieser Unterschiede ist nach dem Verbindungsstück' zu fragen, das dieses Zitat veranlaßt oder für Hesiod besonders nahegelegt hat. Es ist offenbar in der Grundüberzeugung zu suchen, aus der heraus diese Mahnungen überhaupt erhoben werden können. Sie wird besonders deutlich von Penelope am Ende ihrer oben besprochenen Worte (p 576ff.), und zwar zur Rechtfertigung ihres Unwillens, formuliert: ,Schlecht (untauglich) ist ein Bettler (ein Mann ohne Wohnsitz), den Scham leitet' (αίδοΐος: 578). Diese Feststellung bedeutet, daß αιδώς einen Bettler nicht nur schädigt, sondern ihn auch vor anderen als ,schlecht', als unbrauchbar und übel ausweist. So enthält diese Feststellung zugleich die Konsequenz, daß einem Bettler αιδώς als Motiv seines Handelns überhaupt nicht zukommt oder zugestanden wird. Dieses aber muß nun auch jener Punkt sein, den Hesiod seinem Bruder mit dem,Zitat' vor Augen führen will, nämlich daß einem notleidenden Menschen wie ihm αιδώς nicht nur schadet, sondern als Rechtfertigungsgrund seines Handelns überhaupt nicht zukommt. Allerdings wird damit noch nicht verständlich, warum Hesiod παρεΐναι (c.Dat.) in κομίζειν (c.Akk.) geändert hat. Es muß dafür zunächst die vorliegende Bedeutung von κομίζειν geklärt werden. Diese läßt sich aus zahlreichen Beispielen der Odyssee, wo ebenfalls κομίζειν mit einem Akkusativ der Person verbunden ist, eindeutig bestimmen, κομίζειν bedeutet an diesen Stellen jeweils: „sich um jemanden (besonders einen Fremden) kümmern, ihn versorgen, bewirten"103. Da κομίζειν an den angeführten 103

Od ο 546; ρ 111; σ 321; υ 68; Erg: 500; das Med. (393, 600) mit Ak der Sache bedeutet etwa:,besorgen, versehen'.

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II. Die Adressaten

Stellen (Anm. 103) jeweils noch durch andere Wörter umschrieben wird (etwa ο 543 durch: ένδυκέως φιλέειν και τιέμεν, vgl. auch p i l l f.; oder σ 323 durch παΐδα δέ ώς άτίταλλε), ist die Bezeichnung eines /vollständigen Versorgens' oder aufmerksamen Unterhaltens' jedem Zweifel entzogen. Daraus ergibt sich für den Hesiod-Vers folgende Bedeutung: αιδώς ist nicht tauglich, einen notleidenden Menschen zu unterhalten, das meint, ihn zu bewirten oder zu ernähren. Diese Klärung führt zunächst auf ein überraschendes Ergebnis: Hesiod hat durch die Änderung sein ,Zitat' gar nicht eigentlich verändert, sondern eher seiner ursprünglichen Bedeutung, die vor allem durch den Kontext bestimmt war, wieder angenähert. Auch bei ihm geht es um die Untauglichkeit der αιδώς, wenn es gilt, sich mit dem Nötigsten zu versorgen und sich den Lebensunterhalt zu beschaffen. Solange dieser nicht gesichert ist, kann für keinen Menschen αιδώς tauglich sein und schon gar nicht einen Geltungsgrund für ein bestimmtes Verhalten abgeben. Auf der anderen Seite grenzt Hesiod sicher den Geltungsbereich seines ,Zitates' durch die vorgenommene Änderung ein. Während παρεΐναι, ohne die Definition durch den ursprünglichen Kontext, zu verstehen gibt, daß αιδώς dem Notleidenden überhaupt im Wege steht und von ihm völlig aufgegeben werden sollte, schränkt κομίζειν dieses ausdrücklich auf Anstrengungen für die Sicherung des Lebensunterhaltes ein. Hesiod schafft sich dadurch offenbar den Raum, den er für die Verbindung der beiden Bereiche, in denen er αιδώς wirksam sieht, benötigt. Auch wenn einem armen Menschen αιδώς als Motiv des Handelns oder besser Darbens nicht zugestanden wird, so wird sie doch in anderer Hinsicht gerade auch von ihm gefordert, nämlich in der Einstellung und dem Verhalten den Mitmenschen gegenüber, in der,Achtung' ihrer jeweiligen Ansprüche oder Rechte. Auf eine derartige Ambivalenz der αιδώς zielt offensichtlich schon der Vers 318, mit dem Hesiod an die Mahnung von 317 den Hinweis fügt, daß es sich dabei um die αιδώς handelt, ,die dem Menschen sowohl gewaltig schadet wie auch nützt'. Aus dem Vorangegangenen wird dabei unmittelbar verständlich, inwiefern die αιδώς schadet und ins Unglück führt; doch macht der Zusammenhang nicht ohne weiteres deutlich, wo der Bereich des Nutzens liegt. Hier soll offenbar der nachfolgende Vers (319) weiterführen, der die doppelte Wirkung der αιδώς speziell auf Not und Armut einschränkt, ihre Entsprechung aber bei Wohlergehen und Segen als θάρσος bestimmt. Über das θάρσος muß also ebenfalls ausgesagt sein, daß es den Menschen „sowohl gewaltig schadet als auch nützt"104. Diese 104

Diese Ambivalenz von θάρσος wird im allgemeinen nicht gesehen, Wilamowitz z.B. versteht θάρσος ganz negativ (zu 317-19), Fuss (S. 13 Anm. 9) 55f. Anm. 7 aus-

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Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Verhaltensweisen, die beide sowohl schaden als auch nützen, legt eine wechselweise Ersetzung des jeweils negativen Bereichs durch den positiven des Gegenbegriffes nahe: die Armut müßte sich für die Sicherung des Lebensunterhaltes aus der αιδώς lösen und sich stattdessen des θάρσος bedienen, genauso wie es Antinoos dem Bettler Odysseus vorwirft: er sei θαρσαλέος und αναιδής (ρ 449), der Wohlstand dagegen müßte sich zur Sicherung des Reichtums auf die αιδώς besinnen, was etwa die Reaktion der Freier auf den Frevel des Antinoos exemplifizieren kann (vgl. ρ 481-487). Doch Hesiod überläßt die Bestimmung des Bereichs, in dem αιδώς ,gewaltig nützt', nicht dieser Andeutung durch die Gegenüberstellung der beiden ambivalenten Verhaltensweisen, sondern legt im unmittelbaren Anschluß (320ff.) fest, wo die Aufgabe oder Verletzung der αιδώς für jeden Menschen notwendig bittere Folgen haben wird: nämlich wenn es um den Besitz anderer geht, den man ihnen unter keinen Umständen weder mit Gewalt noch mit Betrug entreißen darf, und wenn es um die Schutzwürdigkeit bestimmter Personen geht (der Waisen, Eltern, Bittflehenden, Fremden), die an sich jeder Willkür hilflos ausgeliefert sind. In diesen Fällen, wie überhaupt in der Verehrung der Götter (336ff.), nützt αιδώς gewaltig, weil sie den Menschen und sein Geschlecht vor den vergeltenden Strafen der Götter bewahrt (325f.; 333f.; 340f.), ja darüber hinaus zu Besitzstandsmehrung kommen läßt (341). Hesiod geht es hier also nicht um eine Neubestimmung des αίδώςBegriffes, schon gar nicht um die Trennung von „social and personal morality" (Claus 84), sondern um die Eingrenzung des Einflusses, den die αιδώς auf das menschliche Handeln ausüben sollte. Dafür werden keine neuen Kriterien ausgebildet, sondern Hesiod wendet nur die überkommenen konsequent und rigoros an. Wie es dem Bettler im Palast des Odysseus nicht zukommt, erwartete oder geforderte Handlungen aus αιδώς zu unterlassen, so spricht Hesiod auch dem Bruder den Anspruch auf αιδώς ab, solange er seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend gesichert hat105. Da er ihn damit aber ausdrücklich nicht zugleich von den Forderungen der αιδώς überhaupt entbindet, bleibt für den Bruder, wenn er nicht völlig auf die Stufe des Bettlers absinken will, allein die Arbeit als Ausweg. Wenn diese Schlußfolgerungen berechtigt sind, läßt sich der Anlaß für die am Anfang gegeißelte Prozeßsucht solcher Leute wie Perses noch schließlich positiv. Weitere Hinweise bei Nicolai (S. 14 Anm. 12) 75 Anm. 149. Richtig Diller (S. 13 Anm. 8) 267 Anm. 41, vgl. auch 255 f. mit Anm. 24. 105 Keineswegs ermuntert er ihn aber zu „gesundem Egoismus", Fuss (S. 13 Anm. 9) 55/6 Anm. 7.

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II. Die Adressaten

genauer bestimmen. Diese liegt nicht - wenigstens nicht notwendig - in der ,Unart' und Streitlust dieser Leute begründet, sondern in der Konsequenz ihres Wertbewußtseins bzw. der damit gestellten Ansprüche. Da sie von dem Ertrag ihrer Felder ohne Aufsicht und Mithilfe offensichtlich nicht (oder nicht mehr) leben können106, versuchen sie dem Statusverlust durch Aneignung fremden Eigentums zu entgehen. Offensichtlich bedeutete zwar die regelmäßige Teilnahme an der Arbeit, nicht aber eine dauernde Verwicklung in Gerichtsverhandlungen eine Einbuße an Ansehen und Geltung. Das geschieht ganz in Übereinstimmung mit der aristokratischen Ideologie vom Recht des Stärkeren, dessen Überlegenheit und Macht sich auch vor Gericht manifestieren kann. Ebenso argumentiert Hesiod mit der Parainese im Anschluß an ,das Grundgesetz der Landarbeit' in eine ganz bestimmte Richtung. Er legt jetzt offensichtlich das Hauptgewicht darauf, daß ,alle Werke der Demeter' ,zu ihrer Zeit' besorgt werden müssen (392ff.). Bei Mißachtung der Zeiten drohen böse Konsequenzen: der Bettelgang zu anderen Häusern, zunächst allein, dann sogar mit Weib und Kind, und die Vergeblichkeit allen Bittens (394ff. ; 399ff.). Wie schon die Erwähnung der Demeter nahelegt107, knüpft Hesiod hier an die Ermahnungen der ersten Parainese (28ff.) an. Dort hatte er vor jeder Form der Beteiligung an den Gerichtsverhandlungen auf dem Markt gewarnt, weil dieses Treiben voraussetze, daß die ,Frucht der Demeter' bereits im Haus gespeichert sei, und zwar ausreichend für ein ganzes Jahr. Jetzt wendet er sich aus der Perspektive der anstehenden Landarbeit gegen alle Verletzungen der gebotenen Arbeitstermine, weil sie notwendig Verluste, ja leere Scheuern zur Folge hätten. Diese Terminverstöße haben ihre Ursache in dem verfehlten Engagement des Bruders auf dem Marktplatz. Wendete sich also die Arbeitsparainese gegen die grundsätzliche Haltung, die Scham vor dem Odium arbeiten zu müssen, so wendet sich diese Parainese sozusagen gegen die Konsequenzen der ,Ersatzbeschäftigung': gegen die Vernachlässigung der bäuerlichen Arbeiten bzw. gegen die Bewirtschaftung des Hofes im Rahmen derjenigen Zeit, die die Aktivitäten auf dem Marktplatz noch übriglassen. Es kommt also Hesiod nicht nur auf die Bereitschaft zur Arbeit an, sondern ebenso auf den absoluten Vorrang der

1 0 6 Nach verbreiteter Überzeugung wird „erst bei Hesiod eine fortschreitende soziale und wirtschaftliche Verschlechterung sichtbar..., die zu einer Verschiebung der Gewichte innerhalb der Landwirtschaft führt und vor allem zur Intensivierung des Ackerbaus zwingt", Richter (S. 57 Anm. 77) 5mitAnm. 10; dort auch weitere Literatur zu dieser Annahme. Doch bleibt festzuhalten, daß neue Methoden oder ,neue' Einsichten für den Ackerbau bei Hesiod nicht vorgetragen werden.

Sonst: 32; 300; 465 f. ; 597.

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Arbeit vor allen anderen Beschäftigungen und Interessen. Auch deshalb betont er noch einmal, daß Arbeit den Sterblichen von den Göttern als ihr Teil zugewiesen sei (398ff.). Dazu gehört nun auch, wie die große Parainese im Anschluß an die Anweisungen zum Säen und Pflügen verdeutlicht, die Anerkennung und peinliche Beachtung der angemessenen Ordnung und der Abläufe der einzelnen Arbeiten108 (471 ff.). Wie Beispiele an anderen Stellen zeigen (vgl. 439ff. ; 444ff. ; 465ff., 469ff. ; 480ff.), ist damit sicher wesentlich mehr gemeint als nur die genaue Beachtung des Termins, auch wenn das negative Beispiel hier (479ff.) den Fall der zu späten Aussaat betrifft109. Hesiod liegt also daran, den Bruder außer zur Arbeit überhaupt auch zu pünktlicher Arbeit und zu ihrer sachgerechten und ordnungsgemäßen Ausführung zu veranlassen. Dadurch werden die beiden Ziele seiner eindringlichen Mahnungen erkennbar: er strebt eine uneingeschränkte Konzentration des einzelnen auf die ländlichen Arbeiten an und möchte ihn dadurch zu Erfolgen führen, die seine Unabhängigkeit herstellen und sichern. Hierin liegt neben der Agitation gegen die Rechtsverhältnisse (1. Teil) das zweite große Anliegen des Hesiod, das also erst der 2. Teil der Erga zur vollen Entfaltung bringt. Dieses besondere Anliegen begründet nun auch das Festhalten an dem Bruder als Adressaten gerade da, wo er nicht allein Ziel der Ermahnungen und Appelle ist, die zwar an ihn gerichtet werden, aber eine ganze Gruppe oder Schicht der damaligen Bevölkerung meinen. Insofern kommt dem Bruder Perses im zweiten Teil wohl eine andere, aber eine doch nicht ganz unähnliche Funktion zu wie im ersten Teil. Trifft unsere Situationsbeschreibung zu, dann will Hesiod mit den an Perses gerichteten Partien jene ganze Gruppe zur Änderung ihres Wertverständnisses und zur Anpassung ihres Verhaltens an das durch die Lebenssituation Gebotene und vom Zustand der Welt her Unerläßliche aufrufen. Wenn aber ein Aufruf zur Überwindung bestehender Normen die Adressaten überhaupt betreffen und wachrütteln soll, bedarf es zweifellos heftiger Attacken, wie sie wirkungsvoll nur gegen konkrete Personen aus einem gegebenen Anlaß heraus vorgetragen werden können (vgl.: μέγα νήπιε Πέρση), d. h. es bedarf der schonungslosen Bloßstellung der betroffenen Person in ihrer wahren,

108 Ein,neues' Verständnis von Arbeit („ein großes Stück Wirklichkeit ist bis zu Ende zu durchdringen") erkennt hier Becker (S. 44 Anm. 43) 51 f.; die Gefahr, daß Hesiod von diesem Ansatz aus völlig mißverstanden werden kann, ist wohl offenkundig. 109 Die Art, wie hier die Wirkungen von Ordnung und Nachlässigkeit einander gegenübergestellt werden, erinnert an die Auswirkungen von δίκη und Ungerechtigkeit (225-247).

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II. Die Adressaten

hoffnungslosen Situation, und es bedarf einer ebenso rückhaltlosen Aufdeckung, wohin die kritisierte Haltung das Gegenüber schon gebracht hat: man denke nur, der ,erhabene Sproß' (299), der sich zu arbeiten zu schade, zu herausgehoben wähnt, als Bettler bei dem - verletzten und bestohlenen! - Bruder oder - eindrucksvoller noch - mit Weib und Kindern auf Bettelgang zum N a c h b a r n . . . Schon diese Beispiele machen deudich, wieviel die Mahnungen und Warnungen des Hesiod an Gewicht gewinnen, wenn sie sich auf einen realen Fall und dessen konkrete Lebensumstände stützen können. Darüber hinaus kann der persönliche Fall dem Dichter eine Rechtfertigung liefern, sich überhaupt in die Angelegenheiten dieser,Herren' einzumischen', und speziell der Bruder, an den die Mahnungen ja gerichtet sind, ihm als Beglaubigung dienen, daß seine Ratschläge und Forderungen das Beste sind, was er dem Nahestehenden raten kann (285); dabei verdeutlicht der Bruder, der Erbe des Vaters ist wie der Dichter selbst und also vom gleichen Stand, letztlich die solidarische Gesinnung des Dichters, für den mithin dieselben Maßstäbe gelten wie für den angeredeten Bruder. Wenn die Situation und die Bedeutung des Hauptadressaten in den Erga so richtig skizziert und ausgewertet worden ist, dann dient die Auseinandersetzung mit dem Bruder einer doppelten Mahnung: an die adligen Richter, die δίκη wiederherzustellen und vor allem fortan unversehrt zu lassen, und an die Leute wie Perses, endlich die,Realität' und die ihnen von den Göttern zugewiesene Aufgabe (397f.) anzuerkennen, das heißt, ihre Versorgung durch ihrer eigenen Hände Arbeit zu sichern und nicht durch den Versuch, sich fremdes Gut unrechtmäßig anzueignen. Die Befolgung dieser Appelle auf beiden Seiten hätte bedeutsame Konsequenzen: sie höbe einmal die fortlaufenden Anschläge auf den Besitz der Mitbauern auf, machte andererseits aber die Bestechung der Richter überflüssig. So wäre die unrechtmäßige Bereicherung, die nur zu Lasten der schwächeren Bauern, aber fast ganz zum Vorteil der Adligen verläuft, aufgehoben,· zugleich wäre jedem Stand das Seine zugewiesen (ertragreiche Bestellung der Felder - Rechtsprechung zur Erhaltung der Dike), aber auch das Seine gesichert (Land - Rechtshoheit) 110 .

110 Eine Agrarkrise' im Sinne einer Bedrohung der kleinen und mittleren Bauern, deren Land sich der Adel mit Hilfe der Justiz anzueignen suche, leugnet Ernest Will (S. 20 Anm. 37]. Denn eine Agrarkrise sei vor allem dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch mit seiner Arbeit nicht mehr erfolgreich sein könne. Hesiod aber verheiße gerade das Gegenteil. Vgl. zu einer Agrarkrise als Anlaß für die Erga auch Ed. Will, Aux origines du regime foncier grec: Homere, Hesiode et l'arriere-plan mycenien REA 59.1957.12-24 (eine Agrarkrise sei durch Land- bzw. Erbteilung auf Grund der Auflö-

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Freilich ist hierbei die Bedeutung des sogenannten Adressatenwechsels, also des mehrfachen Überganges von Perses zum allgemeinen „Du", noch nicht sichtbar geworden. Hier leistet die oben angestellte Überlegung, daß so die Identität des Bruders gewahrt bleibe, nur wenig. Wie wir gesehen haben, wechselt der Adressat dort, wo Hesiod den Bereich der Aufrufe zur Arbeit und zur rechtzeitigen Erfüllung ihrer Grundformen (458-92; 371-81; 609-17) verläßt. Wie wir weiter gesehen haben, verändert sich mit dem Wechsel auch die Position des Adressaten: aus dem mittellosen und zur Arbeit nicht bereiten Bruder wird ein durchschnittlich situierter Bauer, der die nachbarschaftlichen Beziehungen wechselseitig gestalten, sein Gesinde und sein Vieh heil durch den Winter bringen und seine Ernte im Sommer genießen kann. Durch diese Verschiebung werden Perses und seine,Standesgenossen' nur noch mittelbar angesprochen, und zwar über den Kreis, dem Hesiod sie auch gerne eingefügt oder wieder angeschlossen sähe. Im Blick auf Perses stellen diese Partien darum eine Vorgabe dar, die ihn weiter zur Übernahme seiner Pflichten herausfordern kann. Mit der Sprechsituation (Hesiod wendet sich nicht mehr an den Bruder, sondern die,Mitbauern') ändert sich nun auch die Sprechweise, und mit ihr entsprechend der Gegenstand: während die Aufrufe zu Eile, Sorgfalt, Pünktlichkeit und Frühbeginn mahnen 111 , geben die allgemein adressierten Partien detaillierte Anweisungen zur konkreten Vorbereitung auf Zeiten des Bedarfs oder der Not und Ratschläge, wie eine geschickte Einstellung auf bestimmte widrige Umstände auszusehen hat. So öffnen gerade diese Partien den Blick für die Fülle der Pflichten und Gefahren, denen sich der Mensch - über die konkreten Feldarbeiten hinaus - gegenübersieht. Wenn Hesiod diese Anweisungen nicht an Perses, sondern allgemein sozusagen an die Arbeitswilligen, nämlich die Bauern, richtet, dann unterstreicht er noch einmal, daß es für den Menschen nicht nur auf das Arbeiten überhaupt, auch nicht allein auf recht-

sung der Großfamilie bzw. der,Klans' ausgelöst worden) und M. Detienne, Crise agraire et attitude religieuse chez Hesiode, Latom. 68.1963.23. 111 Ein Vergleich mit den sumerischen Bauernanweisungen scheint anzudeuten, daß bei Hesiod die fachlichen Informationen in den an Perses gerichteten Abschnitten eher kürzer sind; vgl. Walcot, Didactic Literature (S. 13 Anm. 8) 20ff. und konkret die Vorbereitung des Bodens für die Aufnahme der Saat (21). Hier scheint mir Walcots berechtigter Hinweis auf den großen zeitlichen Abstand und die „different patterns of economy" (22) keine Erklärung zu bieten. Vgl. im übrigen die bedächtige Zusammenfassung seines Vergleichs: 22. Wie allgemein Hesiod im übrigen in seinen Ausführungen geblieben ist, können Richters (S. 57 Anm. 77) Abschnitte über die ,Zubereitung des Bodens' (mit Düngung, Bewässerung u.a. 100-107) und die ,Aussaat, Ernte und Bergung der Kornfrucht' (118-123) verdeutlichen.

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II. Die Adressaten

zeitiges Arbeiten, sondern mindestens ebenso sehr auf kundiges und vorsorgendes Arbeiten ankommt. Dadurch macht er zugleich deutlich, daß auch der sich mühende Bauer noch vielfältiger Kenntnisse über die Gefahren und Schwierigkeiten seiner Umwelt bedarf, um erfolgreich arbeiten zu können. Hinter den sozialen Problemen bzw. dem Statusproblem von Leuten wie Perses werden so als eigentliche Schwierigkeiten, die alle beherrschen, die widrigen Bedingungen des Daseins erkennbar, unter denen jeder seine Arbeit zu leisten und seinen Lebensunterhalt zu erringen und zu sichern hat. Diese Bedingungen reichen von den Unbilden der Witterung112 (Frost, Wintersturm, Nebel, sengende Hitze) bis hin zu den Besonderheiten der Mitmenschen und einzelner (446) Mitarbeiter und deren Auswirkungen (444f.). Mit dieser Einbettung der Parainese an Perses gibt Hesiod seiner eigenen Weltsicht vollständige Konturen. Denn so werden die Nöte und Gefahren sichtbar, die nach dem Betrugsversuch des Prometheus dem Menschen ja für alle Zeit verheißen sind und in der Verborgenheit des βίος ihren signifikanten Ausdruck gefunden haben. Der verborgene Lebensunterhalt ist aber sicher nicht allein durch Rechtzeitigkeit und Ordnungssinn jeweils wieder ,hervorzugraben', sondern dazu bedarf es vielfältiger Anstrengungen und Vorsorgen. So zeigt sich, daß die Verheißungen an Perses, die ihn erst in seinem Bewußtsein umkehren sollen, in mancher Hinsicht optimistischer und eindeutiger klingen, als es die vorgegebene Weltsituation in Wahrheit zuläßt. Der Adressatenwechsel hat hier darum auch die Aufgabe, gleichsam in Vorder- und Hintergrund zu differenzieren und so die Ermahnungen und Verheißungen an den Bruder in den Gesamtrahmen der bäuerlichen und der menschlichen Welt hineinzustellen. Entsprechendes findet sich übrigens auch im Bereich der Dike. Da sich die in diesem Zusammenhang gemachten Ermahnungen vor allem an die Richter wenden, erscheint das Wohlergehen und Leiden der Gemeinschaft ganz abhängig von ihrer Rechtszuweisung. In den Anweisungen an Perses wird dann der außergerichtliche Bereich des „Rechttuns" nachgeholt; auch hier haben Unrechtstaten ihre ganz konkreten Auswirkungen (325f.; 333f. ; 340f.), aber sie drohen eben unabhängig von dem

in Walcot (wie S. 13 Anm. 8) 26f. will Hesiods ,grausiges' Winterbild durch ein Erlebnis von Bent auf Naxos einleuchtender machen. Aber Hesiod empfiehlt ja gerade, die Winterzeit weder im ,Kaffeehaus' noch im Bett zu verbringen, sondern weiter zu arbeiten, im Haus (495| und auch draußen (547ff.(, nur mit entsprechender Ausrüstung (536ff.) und Vorsicht (554-ff.)- - Zum griechischen ,Winter' vgl. auch Richter (S. 57 Anm. 77] 89.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Zustand der Dike; und ihre Ursachen können nicht (oder doch nicht notwendig) zur öffentlichen Sache gemacht werden.

2.3 Adressat und Ziel

der,Seefahrtsanweisungen'

Ein besonderes Problem für das entwickelte Anliegen der Erga scheinen die sogenannten ,Seefahrtsanweisungen' darzustellen113. Wenn Hesiod mit seinen Ermahnungen zur Landarbeit die Haltung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verändern möchte, wobei die Sorge um ihre Höfe diese Gruppe unabhängiger und dadurch zugleich weniger anfällig für Rechtsübergriffe oder Rechtsmißbräuche machen soll, dann läßt sich schwer einsehen, wie dieses Ziel durch ,Seefahrtsanweisungen' unterstützt werden kann. Diese Bedenken werden noch dadurch verstärkt, daß die Selbständigkeit dieses Teiles vielfach hervorgehoben114 und seine allgemeine Ausrichtung auf alle, „die solche Seefahrt betreiben", betont wird 115 . Für die so skizzierte Position erscheint dieser Abschnitt durch Perses' vorgebliche oder reale Absicht veranlaßt, Seehandel zu treiben, mehr aber noch durch Hesiods Bedürfnis, „von seiner asiatischen Herkunft und seinem Erfolg in Chalkis zu reden.. ," 116 . Wenn die Veranlassung der,Seefahrtsanweisungen' so zutreffend bestimmt ist, fügen sie sich allerdings nur schwer in die angenommene Geschlossenheit der Erga ein und müssen zudem auch deren Charakter nicht unbeträchtlich verändern. Doch so viel läßt schon ein erster flüchtiger Blick erkennen, daß die ,Seefahrtsanweisungen' nicht etwa ein ,gesonderter Abschnitt' in dem Sinne sind, daß sie eine Alternative zur Landarbeit vorstellten, etwa indem sie Anweisungen für die harte Arbeit der Fischer oder Schiffer vortrügen117. Vielmehr geben die,Seefahrtsanweisungen', worauf schon die ausdrückliche Adressierung an Perses deutet (618, 630ff.), lediglich

1 1 3 „Warum Hesiod an den Landwirtschaftskalender einen Schiffahrtskalender angeschlossen hat, das wird - gesetzt er wußte es selbst - sein Geheimnis bleiben", Nicolai (S. 14 Anm. 12) 123. 1 1 4 Vgl. Wilamowitz 112; besonders L. L. Albertsen, Das Lehrgedicht, Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur, Aarhus 1967.43: „Gleichsam als eine Ergänzung zu diesem idealen Jahresablauf zu Lande folgt eine ähnlich disponierte Lehre von der Schiffahrt..." 1 1 5 W. Marg |S. 16 Anm. 22) 364. 1 1 6 Wilamowitz 145; dieser Anlaß wird besonders herausgehoben von Walcot |S. 13 Anm. 8). 1 1 7 Es sind aber auch keine Lehren für eine eigenständige ,Art des Gelderwerbs', Diller (S. 13 Anm. 8] 270 f. - Zu dem sehr begrenzten Ausbau des Handels unter den Griechen der archaischen Zeit vgl. Finley (S. 58 Anm. 84) 67ff. ; besonders 71f.

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II. Die Adressaten

Hinweise für ,Gelegenheitsfahrer'. Bei genauerem Zusehen zeigt sich sogar, daß sie allein auf die Nebentätigkeit des Bauern als Kauffahrer ausgerichtet sind118 (vgl. 623 f.; 641 f.); mit dieser Ausrichtung aber fügen sie sich zumindest thematisch durchaus in den bisherigen Rahmen ein. Weitere Anhaltspunkte für die Funktion der ,Seefahrtsanweisungen' innerhalb der Erga bieten die zahlreichen Besonderheiten wie die Erwähnung des Vaters, der eigenen Erfolge, die Charakteristik des Heimatdorfes, die bisher vornehmlich aus der erklärten Abneigung Hesiods gegen die Seefahrt119 oder aber aus seinem Bedürfnis nach Selbstdarstellung (vgl. unten Anm. 124, S. 74) erklärt wurden 120 . Die ,Seefahrtsanweisungen' gliedern sich offensichtlich in drei Teile, wie die verschiedenen Anläufe zur Formulierung erfolgversprechender Anleitungen (618ff.; 646ff. ; 653ff.) nahelegen. Schon dieses mehrfache Hinausschieben der angekündigten oder doch angesteuerten Empfehlungen ist auffallend; es deutet an, daß Hesiod offenbar besorgt ist, daß seine Anleitungen auch richtig aufgenommen und verstanden werden. Gleich zu Beginn also überrascht uns Hesiod dadurch, daß er nach Thema- (618) und Zeitangabe (619-20) nicht wie im Bauernkalender das ,Grundgesetz der Seefahrt' vorträgt, sondern die Aufforderung, die Schiffe an Land zu bringen und an die anstehende Feldarbeit zu denken (621-623). Hesiod beginnt statt mit Anweisungen für Ausfahrt und Verhalten auf See mit Instruktionen für ein sachgerechtes Winterlager (624-629); dieses kann durchaus in gewisser Parallele zum Bauernkalender (Wintersaat und Holzfällen) gesehen werden, aber bedeutsam bleibt, daß hier das Element der Vorbereitung und Zurüstung für die kommenden Aufgaben fehlt. An die Ausführungen zum Winterlager schließt sich die Mahnung, selbst geduldig auf die Zeit zu warten, die für die Schiffahrt günstig ist, dann aber das Schiff zu wassern und zu beladen; erneut steuert Hesiod hier also auf die Angabe der günstigen Fahrenszeit und ihre richtige Nutzung los, doch kommt er abermals und wieder höchst überraschend vom eingeschlagenen Weg ab und erinnert statt dessen seinen Bruder an ihren Vater, der auch immer wieder zur See gefahren sei (633ff.). Dieses geschieht allerdings unter bemerkenswerten Umständen: Einmal redet Hesiod seinen Bruder hier wieder in der schon bekannten, herabsetzen-

118 Anders Wilamowitz 145; wichtig Marg (S. 16 Anm. 22) 364f ; Nicolai (S. 14 Anm. 12) 123 f. Z.B. Wilamowitz 145. 120 Dazu gehört in weiterem Sinne wohl auch die These, Hesiod habe hier die ,Sphragis' in sein Werk einfügen wollen, ein öfter behandelter Gegenstand, vgl. Nicolai (S. 14 Anm. 12) 125ff., worum natürlich Hesiod auch zu tun sein kann.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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den und zugleich provozierenden Form an121: μέγα νήπιε Πέρση. Daß diese Anrede hier nicht ; mechanisch' wiederholt122 wird, zeigt auf der anderen Seite der Punkt des Umbruchs; denn Hesiod sagt nicht: ,und stich in See wie einst unser Vater', sondern: ϊν' οικαδε κέρδος άρηαι / ώς περ έμός τε πατήρ και σ ό ς . . .

Der Vergleichspunkt ist also der Gewinn, den der Vater, wie sich im folgenden schrittweise herausstellt, gerade nicht nach Hause gebracht hat! Aus Mangel an Lebensunterhalt, betont Hesiod (634b), ist der Vater in See gegangen, aus Mangel an Gewinnen bei der Seefahrt hat er sich schließlich in Askra niedergelassen (635f.). Dieser Grund ist Hesiod so wichtig, daß er ihn noch einmal nachdrücklich herausstellt (637f.): ,auf der Flucht nicht vor Überfluß, Reichtum, Segen, sondern vor der schrecklichen Armut...'. Der erste Teil der ,Seefahrtsanweisungen' gibt sich somit als massive Warnung vor der Hoffnung auf Gewinne beim Seehandel, ja als entschiedene Demonstration seiner Erfolglosigkeit zu erkennen. Diese wird durch die folgende Bemerkung Hesiods über seinen Heimatort noch verschärft (639f.). Hesiods berühmte Kritik an Askra hat man entweder als besonderen Ausdruck seines Pessimismusses oder sogar als Indiz dafür sehen wollen, daß Hesiod ... „selbst von Askra fortgezogen" sei, und ,es nun besser' habe123. Aber zunächst einmal gehört sie in den Zusammenhang der Aussage über das Schicksal des Vaters. Die Armseligkeit von Askra macht erst eigentlich deutlich, vor welcher Not der Vater geflohen sein muß, als er Kyme und vor allem den Seehandel zugunsten dieses Flekkens aufgab: ,übel im Winter, peinigend im Sommer, niemals zuträglich'. Auch hier also haben Hesiods persönliche Äußerungen vor allem eine parainetische Funktion; zugleich beglaubigen sie seine Warnung an dem eindrucksvollen Beispiel seiner eigenen und des Bruders Existenz in Askra. Nach einer solchen Warnung können wir vielleicht gar keine Ausführungen mehr zu günstigen äußeren Bedingungen für die Seefahrt erwarten. Doch macht Hesiod, nachdem er den Bruder noch einmal an die Beachtung der rechten Zeit für alle Arbeiten, zumal die der Seefahrt gemahnt hat, abermals einen Anlauf, die μέτρα θαλάσσης aufzuweisen (648), da Perses nun einmal seine Hoffnungen auf den Seehandel gesetzt habe (646f.). Allerdings wird die Erwartung auch jetzt nicht erfüllt; was folgt, ist das völlig überraschende Eingeständnis, daß Hesiod in über121

Vgl. 286 und dazu oben S. 49 f. West 40. 123 wilamowitz 115; noch spekulativer ist die These, Hesiod habe den zweiten Teil in ,Naupaktos' gedichtet, so Fuss (S. 13 Anm. 9) 24f. 122

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II. Die Adressaten

haupt keinem Punkte, weder in der Seefahrt noch im Umgang mit Schiffen, Sachkenntnisse erworben habe (649). Schlimmer noch: Er kennt die Seefahrt gar nicht aus eigener Anschauung, von einem kleinen Abstecher nach Euboia abgesehen (650-53). Doch auch bei dieser Fahrt ging es nicht etwa um Transport von Waren und Handel, sondern um die Anfahrt zu Wettspielen, bei denen er im,Singkampf' den ersten Preis erworben habe. Diese Erwähnung seines Sieges ist immer wieder als unverkennbares Indiz gewertet worden, daß es hier Hesiod nicht mehr um Seefahrt und richtige Anleitung zu ihr gehe, sondern allein um ihn selbst, das Berichten von seinen Taten124 oder die,Siegelung' seines Werkes125. Doch bleibt zu allererst zu fragen, was der Wettkampf auf Euboia mit den,Seefahrtsanweisungen' zu tun haben kann. Hesiod gewinnt bei ihm einen Dreifuß, den er den Musen des Helikon weiht, die ihn erst, wie er in der Theogonie ausführlich berichtet (22-35), vom Hirten zum Dichter berufen und,geweiht' haben. Diese sind es, die den völlig unerfahrenen Dichter (660) dennoch in das vorliegende Thema eingewiesen haben, so daß er in der Lage ist, den Ζηνδς νόον (661) zu künden, also seinen ,Sinn', seine Einstellung und Planung. Mit der,einzigen kleinen Fahrt nach Chalkis' demonstriert also Hesiod einmal die Vorbildlichkeit seines eigenen Verhaltens, insofern er fast völlig auf jede ungewisse Entfernung aus der Heimat verzichtet hat, andererseits beglaubigt er mit dem Ergebnis dieser kurzen Reise geradezu seine Berechtigung zu Mahnung und Unterweisung126. Denn wie sein Sieg bei den Wettspielen ein Beweis für die Gunst der Musen ist, so ist die Weihe des Siegespreises zumindest Ausdruck, wenn nicht Garant des weiterhin ungebrochenen Verhältnisses zu den Göttinnen. Auf diese Weise aber ist sein Anspruch legitimiert, nicht nur auf unerfahrenem Gebiet Wesentliches zu künden, sondern dabei sogar den νόον des Zeus zu eröffnen (vgl. 1 ff.). Mit diesem Anspruch ist das Anliegen des Hesiod einerseits gewaltig eingegrenzt - es kann ihm nicht darum zu tun sein, Sachkenntnisse auszubreiten -, andererseits ist es auf eine neue, höchste Ebene gehoben: den ,Sinn' des Zeus im Hinblick auf die Seefahrt mitzuteilen und auszulegen127.

124

Walcot (S. 13 Anm. 8) 21 ff. Vgl. Nicolai (S. 14 Anm. 12) 127 ff., und oben S. 72 Anm. 120. 126 Anders Albertsen (S. 71 Anm. 114) 43 f.; durch den biographischen Exkurs' gebe Hesiod zu, „daß er von der Schiffahrt wenig versteht. Er schreibt nur darüber, weil es seine Aufgabe ist, Verse zu dichten." 127 Ich glaube deswegen gerade nicht, „daß sich schon der erste Verfasser eines Lehrgedichtes gelehrter gibt, als er es verantworten kann ...", Albertsen ebd. 44; andererseits scheint es mir völlig überzogen, den νόος des Zeus zur „Vernunft selbst" hochzu125

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Das geschieht nun im dritten Teil der,Seefahrtsanweisungen' (653-694) ·, hier gibt Hesiod endlich die günstigen Zeiten für die Schiffahrt an (663-665 und 678-681). Aber wer nun erwartet, daß Hesiod längere Einheiten aus der überhaupt schiffbaren Zeit (10. März-11. November) als geeignet anführt, sieht sich erneut getäuscht. Zwar sind für Hesiod die Zeit von Anfang August bis Anfang September (Weinlese 674) und von Mitte April an Fahrenszeiten, aber er selbst will überhaupt nur die erstere empfehlen (663-5), und rät von der zweiten (im April) sogar mit solchem Nachdruck (z.B. 687a) ab, daß dem Hörer die Lust an der Seefahrt gänzlich vergehen muß. In diese Richtung weist auch die Empfehlung des Augusttermins: Von den fünfzehn Versen, in denen diese Zeit vorgestellt wird, machen lediglich vier dem Hörer Mut und flößen ihm Vertrauen ein, die übrigen Verse (vor allem sieben) tragen auch hier Bedenken und Warnungen vor (667-669; 674-677). Vielleicht kennzeichnen den Tenor der ,Seefahrtsanweisungen' am eindrücklichsten die Verse 671/72, die Aufbruch und Rückkehr (nicht Willkommen und Abschied) sozusagen in einen Augenblick zusammenziehen: „Ziehe das Schiff ins Meer, verstaue die ganze Ladung und betreibe möglichst schnell nach Hause zurückzukehren!" Die Besonderheiten' der,Seefahrtsanweisungen' haben deren Funktionen innerhalb der Erga hinreichend deutlich werden lassen. Hesiod geht es hier also nicht darum, einen zusätzlichen Bereich des Lebens auszuf alten und in seine belehrende Darstellung aufzunehmen, sondern allein darum, sein Anliegen gegen eine weitere mögliche Gefährdung abzuschirmen. Offensichtlich war der Seehandel oder auch die ,Seefahrt' überhaupt eine verbreitete Tätigkeit128, die die Männer wie die Gerichtsverhandlungen auf dem Markt in ihren Bann zu schlagen vermochte und sie damit ebenfalls der eigentlichen Aufgabe zu entziehen drohte. Wenn etwa die Fahrenszeit im Frühjahr nur unwesentlich ausgedehnt wurde, war schon der rechtzeitige Beginn mit der Ernte gefährdet. Hesiod verfolgt entsprechend mit seinen,Seefahrtsanweisungen' das Ziel, die Abwesenheit des Bauern vom Hof auf ein Minimum zu beschränken und auf eine Zeitspanne einzugrenzen, während der die Landarbeit nicht gefährdet ist. Dieses leistet am eindeutigsten der Augusttermin, da dann die Ernte eingebracht, gedroschen und gesichert ist (571-608), die Herrichtung der Felder aber noch nicht bevorsteht (448ff.)129.

stilisieren, zu jener „Metis, die er sich einverleibt hat (Th. 890ff.|", wie es H. Neitzel, Homerrezeption bei Hesiod, Bonn 1975.116f. tut. 128 Reiche Anschauung bietet ja die Odyssee, dazu gut Walcot (S. 13 Anm. 8) 85 f. 129 Vgl. auch Nicolai (S. 14 Anm. 12) 124.

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II. Die Adressaten

Die,Seefahrtsanweisungen' erweisen sich also als eindringliche Mahnung, die Seefahrt nicht zur Gefahr für die Landwirtschaft werden zu lassen, und entsprechen insofern tatsächlich genau dem ,νόος' des Zeus. Nach seiner Einrichtung der Welt (42 ff.) durch das Verbergen des Lebensunterhaltes ist der Mensch zur Arbeit gezwungen, vor allem zur Arbeit auf dem Felde. Daß Seefahrt auch zu ganz anderen Zeiten als den von Hesiod ins Auge gefaßten verhältnismäßig oder sogar vergleichbar gefahrlos betrieben werden konnte, bedarf wohl keiner ausdrücklichen Erwähnung, ebenso wenig wie die Selbstverständlichkeit, daß ein ,musengeweihter' Sänger eines Seefahrervolkes, selbst wenn er in einiger Entfernung von der Küste lebt, mehr über Schiffe, Fahrt, Landen, Ankerplätze zu lehren weiß, als Hesiod hier bietet. Zusammenfassung

Blicken wir von hier aus noch einmal auf unsere Überlegungen zu den Adressaten der beiden Teile der Erga zurück, so heben sich als Ergebnisse heraus: 1. Die durchgehende Hinwendung des Dichters an den realen (nicht fiktiven) Adressaten Perses; dessen einheitliches Erscheinungsbild; sein zeitweiliges Vortreten vor die (in Wahrheit angesprochenen) Könige bzw. Zurücktreten hinter ein allgemeines Du. 2. Die besondere Aktualität des Gedichtes, die nicht durch das Schweben oder Bevorstehen eines Prozesses, sondern durch die damalige drückende Rechtssituation bedingt ist; diese bleibt, entsprechend ihrer Konkretion im Fall des Perses, durchgehend als Hintergrund der Ausführungen gegenwärtig. 3. Die komplementäre Ergänzung der Intention der beiden Teile der Erga, die nicht auf wissenschaftliche' Belehrung, sondern über Beschwörung und Drohung auf eine Veränderung von Verhaltensprinzipien und Lebensbedingungen abzielen. Überraschend ist nun allerdings, daß fast alle diese Ergebnisse in offenem oder gebrochenem Widerspruch zu dem stehen, was die griechischen und römischen Verfasser von Lehrgedichten in der Nachfolge Hesiods, die sich seit hellenistischer Zeit zum Teil ausdrücklich auf ihn berufen130, und sogar die deutschen Autoren vom 17. bis 19. Jahrhundert als 130

Z.B. Arat durch zahlreiche Anspielungen von Beginn seines Werkes an (V.16), Vergil dagegen (Georg.II.176) direkt. Vgl. auch B. Effe, Dichtung und Lehre, Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977 (Zetemata 69) 21 und Anm. 33.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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Kriterien dieser Gattung Hesiods Werk direkt oder indirekt entnommen und als verbindlich angesehen haben. Das hat L. Albertsen131 in seiner Arbeit über die .antikisierende Sachepik der neueren deutschen Literatur' eindrucksvoll gezeigt. Er entwickelt dort konsequenterweise die Charakteristika des ,Lehrgedichts' aus den Erga Hesiods, und zwar so, wie sie offensichtlich von den,klassizistischen' 132 deutschen Dichtern verstanden und rezipiert worden sind. Er weist zunächst auf Kriterien133 wie den Hexameter (1), die antiheroische Grundhaltung (2) („das erste und vornehmste ethische Element des Lehrgedichts", S. 41), das Fehlen einer Handlung (3), die,direkt didaktische' Darstellung, bei der „Hauptinhalt und Didaktik... eine einheitliche Schicht" bildeten (4), und die besondere Darstellungsform des Hauptgegenstandes hin, der nicht in einzelnen Kernsätzen eines alten Weisen', sondern in einem ,kunstvollen System von Wahrheiten'134 dargeboten werde (5), wenn auch oft technisch ungenau' und ,wissenschafdich veraltet' (6). Albertsen betont dann konkret135, daß der Hauptteil der Erga eine Lehre von der Landwirtschaft sei, die ,um die Mitte des Gedichtes' einsetze. An dieser Tatsache manifestiert sich für ihn ein weiteres Charakteristikum des Lehrgedichts (7): es stellt eine Einheit aus verschiedenen Teilen dar, die oft ,lose disponiert' und vor allem durch Exkurse und Parasitärgattungen aufgelockert seien. Zu diesen ,Parasitärgattungen' gehört für Albertsen bereits das Prooem, vor allem aber der ganze erste Teil (offenbar bis 380), der eine „Präambel" darstelle, „in der Perses davon überzeugt werden soll, daß friedliche Arbeit besser sei als kriegerische Rechtsstreitigkeiten"136. In diesem ersten Teil fänden sich dann wiederum ,drei große parasitäre Erzählungen' - die beiden Mythen und die Fabel -, die ,das an sich handlungslose Gedicht durch parasitäre Handlung' ausschmückten. Auch im zweiten Teil gebe es ,parasitäre Gebilde' wie die ,prunkhaften Gemälde' der Jahreszeiten. Schließlich finde sich im Seefahrtskalender ein autobiographischer Exkurs', der zu den „Rosinen im nahrhaften Kuchen" (S. 47) gehöre. Ein weiteres Charakteristikum des Lehrgedichts sei der Beginn mit „anlaßbedingten, rhetorischen Streit- oder Lobdichtungen", aus denen sich dennoch die Darstellung des Dichters zu allgemeiner Gültigkeit

131

Wies. 71 Anm. 114. Zu diesem Ausdruck, mit dem Albertsen die Abhängigkeit der deutschen Dichter von den römischen Vorbildern bezeichnen will, vgl. ebd. 7 f. 133 Zu diesem Überblick vgl. die Seiten 41-44 und 54-57. 134 Nach Sulzers Definition, vgl. dazu Albertsen ebd. 21. 13 s Ebd. 4Iff. 136 Ebd. 42. 132

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II. Die Adressaten

erhebe. Ein besonderes Verhältnis bestehe schließlich zwischen dem Dichter und seinem,Informanten' (einem „übernatürlichen Wesen", der ,Welt' oder dem literarischen Vorgänger') und dem Dichter und seinem Adressaten (einem Rauschenden Schüler', der nach der Belehrung weiter auf die Welt wirke). Wir haben diesen Überblick hier soweit ausgezogen, um den Abstand deutlich zu machen, der zwischen dem uralten Verständnis der Erga als „Lehrgedicht" und unseren Ergebnissen sowohl der Form wie dem Anliegen nach besteht. Es ist daher auch nicht nötig, jetzt noch einmal unsere Vorstellungen vom Aufbau, von der parainetischen Funktion aller Teile, von der höchst aktuellen, nicht,rhetorischen' Ausgangssituation und anderem zu entfalten. Nur soviel sei noch angemerkt, daß ein derartiges Verhältnis zwischen ,Präambel' und ,Hauptteil', wie es das Verständnis der Erga als ,Lehrgedicht' voraussetzen muß, nämlich 5:3 (genauer: 380:235 Versen) wohl nicht noch einmal zu finden sein dürfte, aber auch unabhängig davon die Frage nach dem Anlaß provoziert. Für die Fehleinschätzung' der Erga durch die Nachfolger Hesiods137 haben wir schließlich einen möglichen Grund genannt: Den Zwang des Dichters zur Verschleierung seines Anliegens und seiner eigentlichen Zielgruppe im DikeTeil. Nun dürfen unsere Ausführungen nicht dahingehend mißverstanden werden, als wären die Erga nicht auch sonst schon in ihrer ,parainetischen Form' erkannt 138 und von der Lehrdichtung abgerückt worden139. Allerdings ist damit noch nicht verbunden, daß die Erga auch vom /Lehrgedicht' getrennt werden. Denn solange der Anlaß,aktuell' (auf Streitigkeiten mit dem Bruder und deren Abwendung bezogen) und entsprechend die Intention,speziell' verstanden werden, muß das von Albertsen aufgezeigte Grundmodell eines (jetzt allerdings parainetisch verstandenen) Vor-Teils und eines,lehrhaften' Hauptteiles im wesentlichen erhalten bleiben. Das bestätigt die Intentionsbestimmung der Erga durch Diller: „Nach den grundsätzlichen Mahnungen folgen die technischen Vorschriften über die Landwirtschaft... und die Seefahrt.. ."14°. „Denn mit seinen Mahnungen habe sich Hesiod selbst die Pflicht auferlegt, Perses zu

137 Hesiod kann also durchaus mit vollem Recht als Begründer des ,Lehrgedichts' bezeichnet werden, wenn man nur damit nicht automatisch seine Wirkung und seine eigene Absicht in-eins-gesetzt sieht. 138 Besonders von Diller (S. 13 Anm. 8). 139 Zuletzt von Effe (S. 76 Anm. 130) 24 Anm. 35. Zur Definition von,Lehrgedicht' vgl. Effe 10 f.: es sei eingeengt „auf poetische Darstellungen eines bestimmten, systematisierten fachwissenschaftlichen Stoffes ..." 14 0 Diller |S. 13 Anm. 8) 247.

2. Die Adressaten des zweiten Teils

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zeigen, wie man es denn nun anstellen müsse, u m . . . zum Gedeihen zu gelangen"141. Die Einsicht in die parainetische Form der Erga führt also noch nicht notwendig zu einer eindeutigen Bestimmung ihrer Intention. Infolgedessen sollen im folgenden Hesiods,zentrale parainetische Mittel' daraufhin untersucht werden, ob sich über ihre Form oder Struktur Anhaltspunkte für die Intention Hesiods gewinnen lassen.

141

Diller ebd. 266.

III. Die zentralen Formen der Parainese in den Erga 1. Einführung Wenn unser oben entwickeltes Verständnis der Erga zutrifft, dann müßte sich dieses nicht nur aus der parainetischen Form des Gedichtes ableiten, sondern auch an der besonderen formalen Gestaltung der einzelnen Parainesen überprüfen lassen. Für die Bestimmung von Art und Form der Erga war Jaegers Bemerkung aus dem ersten Band der Paideia1 wegweisend: „Die Erga sind ... eine einzige verselbständigte und zum Epos erweiterte ,Rede' ermahnenden Charakters. Die lange Lehrrede des Phoinix im neunten Buch der Ilias kommt dem schon recht nahe". Allerdings ist der Vergleich mit der Phoinix-Rede doch wohl auf den ersten Teil der Erga (bis 285) zu beschränken. So jedenfalls haben es die Interpreten, die Jaegers Anregung aufgenommen und ausgebaut haben2, verstanden. Für sie findet der zweite Teil der Erga seine Entsprechung in den Anweisungen des Nestor, die er seinem Sohn Antilochos vor dem Wagenrennen anläßlich der Leichenspiele zu Ehren des Patroklos (Ψ 306-348) gibt. Jaegers Hinweis hat freilich zunächst einmal die ,Neoanalytiker' veranlaßt3, durch einen Vergleich des J mit Hesiod neue Indizien für die Entstehungsgeschichte der Presbeia zu suchen. So ist z.B. für M. Noe 4 neben sprachlichen Indizien5 gerade die gedankliche Verwandtschaft der Phoinix-Rede mit den Erga Hesiods ein Beweis, daß diese Rede ursprünglich nicht zum J (Presbeia) gehört haben könne 6 . In der Litai-Allegorie handle es sich nämlich um eine,ethische Personifikation' (S. 34), deren „weltanschaulicher Gehalt... ganz unzweideutig auf die Begriffe Schuld und Sühne" hinweise7. Dieses Motiv aber gehe nicht durch die Ilias 1

Jaeger (S. 16 Anm. 22) 100f., dazu 101, Anm. 1. 2 Z.B. Munding (S. 14 Anm. 14) 5Iff. oder Diller (S. 13 Anm. 8) 268ff. 3 Zum J und seinen Problemen vgl. jetzt die Übersicht von A. Heubeck, Die homerische Frage, Darmstadt 1974, bes. 71-77 und die dort angeführte Literatur. 4 M. Noe, Phoinix, Ilias und Homer. Untersuchungen zum neunten Gesang der Ilias, Leipzig 1940. 5 Ebd. 3 ff.; Noe sieht zumal in der Vorbereitung der Presbeia zahlreiche sprachliche Übereinstimmungen mit der Odyssee. 6 Zum Vergleich mit Hesiod bes. 34ff. ? Ebd. 51.

1. Einführung

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hindurch, sondern herrsche nur in diesem einen Gedankenkomplex, eben der Phoinix-Rede (S. 42) 8 . So erweise sich die Phoinix-Rede als Teil der jüngsten Ausgestaltung der Ilias, die vermutlich der ältere Homer selbst vorgenommen habe. Dieses aber sei, wie die Nähe zu Hesiod beweise, zu einer Zeit geschehen, wo auch die Werke des (unbekannten) Odyssee-Dichters und Hesiods gerade vorlagen, so daß wechselseitige Abhängigkeit und sogar Beeinflussung verständlich würden9. Munding hat dann in der Verwandtschaft zwischen der Phoinix-Rede und den Erga Hesiods ein wichtiges Indiz für seine These gesehen, daß zwischen dem Ilias-Dichter und Hesiod ein Dichterwettstreit stattgefunden haben müsse10; diesen habe zunächst Hesiod damit begonnen, daß er den Beutestreit der Ilias durch seinen Erbstreit zu übertrumpfen versuchte; doch Homer habe dann seinerseits die Herausforderung angenommen und auf Hesiods Erga reagiert. Wir können uns in diesem Zusammenhang gewiß nicht auf das weite Feld der Homer-Analyse einlassen11, und müßten es auch nur, wenn für die Bestimmung der Abhängigkeit oder möglichen Beeinflussung des Ilias-Dichters Homer durch Hesiod zwingende neue Kriterien gewonnen würden. Dazu geben jedoch weder Mundings Ergebnisse Anlaß, über dessen allzu,spekulative' Vergleiche Diller das Notwendige gesagt hat12, noch die Ergebnisse von Margarethe Noe, obgleich sie durchaus Zustimmung oder Nachfolger gefunden hat 13 . Doch sind auch genügend Ein8 Es scheint, als habe damals schon H. Gundert M. Noe auf die Einseitigkeit ihrer Thesen hingewiesen (vgl. 36 Anm. 5 oder 45 Anm. 1 u. a.), allerdings anscheinend ohne zu überzeugen. Deshalb soll diese Einseitigkeit hier noch einmal an einem Beispiel angedeutet werden. Für Noe ist „Achill... an den Folgen seiner Weigerung nach den Worten des Phoinix schuldig, weil er sich, genau wie Aigisthos, nicht an die göttliche Norm hält" (47). Hier werden zwei verschiedene Ereignisfolgen miteinander gleichgesetzt: Die Freveltat des Aigisth sühnen die Götter durch seinen Tod; die Versöhnungsverweigerung Achills verursacht eine Einbuße im persönlichen Bereich, nämlich den Verlust an Ehre. In diesem Fall aber, auch wenn der Ereignisablauf durch das Wirken göttlicher Mächte verdeutlicht bzw. als unausweichlich erwiesen wird, geht es nicht um einen Schuld-Sühne-, sondern um einen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der in der aristokratischen Ethik auch sonst eine große Rolle spielt: vgl. die Anweisung des Peleus: J 254ff., besonders 257f., eine (Begründung', die Noe unberücksichtigt läßt (39f.). 9 Besonders ebd. 103 ff. 10 Daß Munding gar nicht merke, in welcher Tradition er mit seinem mehr literarischen' als,aktuellen' Verständnis der Erga stehe (nämlich dem von Dornseiff begründeten) bemängelt F. Krafft, Vergleichende Untersuchungen zu Homer und Hesiod, Göttingen 1963 (= Hypomn. 6) 92 f. 11 Vgl. die Zusammenfassung bei Heubeck (S. 80 Anm. 3) 71 ff. Diller (S. 13 Anm. 8) 244f. 13 Am entschiedensten wohl W. Theiler in: Die Dichter der Ilias (zuerst in der Festschrift für E. Tieche, 1947), jetzt in: Untersuchungen zur antiken Literatur (= Kl. Sehr.) Berlin 1970. 15ff.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

wände vorgetragen worden, die eine Abhängigkeit Homers von Hesiod im vorliegenden Falle weiterhin unwahrscheinlich erscheinen lassen. Wir brauchen sie hier nicht im einzelnen zu referieren14. Doch soll zur Sicherung unserer Ausgangsthese, daß Hesiod mit seinen Erga dem ,Abschluß' der Ilias folgt, wenigstens auf die Konsequenzen hingewiesen werden, die eine Isolierung der Phoinix-Rede nach sich ziehen würde. Allgemein anerkannt ist sicher, daß die Phoinix-Rede Achill den Weg ebnet, seinen Heimfahrt-Beschluß (J 356ff.) zu korrigieren15. Aber viel wesentlicher ist die Tatsache, daß die Meleager-Erzählung das Modell abgibt, an dem Achill die Umstände seines Bleibens orientiert: Wie Meleager wird er erst bereit sein, wieder in die Kämpfe einzugreifen, wenn seine eigenen Schiffe und Zelte gefährdet sind (J 649-655). Offensichtlich wird nach seiner Meinung erst so, genau wie bei Meleager, die Einzigartigkeit seines Heldentums und seiner Bedeutung für die Griechen voll erkennbar. Achill verkehrt durch diesen Entschlüß die Intention der Meleager-Erzählung vollkommen; er glaubt offenbar die in ihr enthaltene massive Warnung abtun zu können, weil er sich durch die Zusage des Zeus (J 608ff.) vor entsprechenden Konsequenzen hinreichend gesichert sieht. Sein in dieser Situation gefaßter Entschlüß bestimmt nun entscheidend den Ablauf der späteren Ereignisse,· denn Achill schickt unter Berufung auf diesen Entschlüß (Π 60ff.) im Augenblick der höchsten Gefahr Patroklos an seiner Stelle aus und entsprechend diesen in den Tod. Das aber heißt: Die gesamte nachfolgende Achillhandlung, deren Ausgangspunkt durchaus im Bewußtsein gehalten wird16, dient der Illustration der uneingeschränkten Beispielhaftigkeit der Meleager-Erzählung und damit der Richtigkeit der Ate-Allegorie17. Je schwieriger sich

14 Weitere ,Nachfolger' und ,Gegner' der Noeschen Thesen werden bei Heubeck (S. 80 Anm. 3) 72 aufgezählt. 15 Z.B. Wilamowitz, Die Ilias und Homer, Berlin 21920. 65. 16 Vgl. die Erwartung des Achill im Λ (608ff.): Jetzt werden mich bald die Achaier kniefällig anflehen' - wie Greise, Freunde, Eltern und schließlich die eigene Ehefrau den Meleager! (=J574ff.|. 17 Man hat schon früh |La Roche, Die Erzählung des Phoinix vom Meleagros, Progr. Lud.-Gymn. München 1859) geglaubt, in der Meleager-Erzählung das Gestaltungsmodell des Ilias-Dichters für den Groll des Achill vor sich zu haben. Diese Frage braucht für den vorliegenden Zusammenhang nicht weiter bedacht zu werden. Freilich deuten unsere Überlegungen darauf, daß nicht die Meleager-Erzählung, die in ihrer wahrscheinlich ursprünglichen Fassung (Holzscheitmotiv) für Homer völlig ungeeignet war, diesen zur Gestaltung der Achill-Menis angeregt hat, sondern deren Plan zur Umgestaltung der Meleager-Erzählung, da sie nur so zum Paradeigma seiner Handlung werden konnte. Vgl. dazu gut: W. Schadewaldt, Iliasstudien, Darmstadt 3 1966.139ff. und weiteres bei Heubeck (S. 80 Anm. 3) 74-77.

1. Einführung

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aber die Phoinix-Rede aus dem Ganzen der Ilias herausbrechen läßt18, desto weniger ist man veranlaßt, an eine Beeinflussung Homers durch Hesiod zu denken. Damit ist allerdings über eine dritte Möglichkeit, die jetzt West in seinem Kommentar (S. 25ff.) vorgetragen hat, noch nichts ausgemacht. Nach West lassen sich die Abhängigkeitsverhältnisse keineswegs nur so verstehen, daß entweder Homer oder Hesiod der Gebende war, sondern es lasse sich bei den vielfältigen Berührungspunkten mit der altorientalischen Weisheitsliteratur, die sich in Hesiods Werken finden, durchaus denken, daß es vor oder neben der epischen Dichtung auch eine parainetische Dichtung in Ionien gegeben habe, die der Literatur des Vorderen Orients nahe verwandt oder zumindest durch sie beeinflußt gewesen sei. Wenn dieses zutreffe, dann könne sie unabhängig sowohl die parainetischen Reden Homers wie die Erga geprägt haben. Diller hat darum, soweit es um gegenseitige Abhängigkeit geht, mit einigem Recht die Diskussion um die Entsprechungen zwischen Ilias und Erga wieder ganz auf das Verständnis der Erga konzentriert. Er bemüht sich nachzuweisen, daß wir „die verschiedenen Formen, in denen Hesiod den Perses... zu überzeugen versucht, schon in den Reden der Ilias vorgebildet"19 finden. Dieses gelingt ihm, weil er sich wie schon Munding nicht mehr auf das J der Ilias und Übereinstimmungen zwischen den Erga und der Phoinix-Rede beschränkt, sondern für jeden einzelnen der von ihm ausgegliederten Abschnitte der hesiodischen Parainese20 nach Entsprechungen in der Ilias sucht. So glaubt er, daß der Anfang der Erga (11-41) dem Rededuell zwischen Achill und Aineas im Y (176-258) ähnlich sei und folglich eine „Herausforderungsrede" darstelle21. Oder daß in den Erzählungen von Prometheus und den Weltaltern „mythologische Exempla" vorlägen, wie sie sich auch in der Meleager-Geschichte (J 524ff.), der Erzählung von der Täuschung des Zeus durch die Ate (T 86 ff.) und in der Niobe-Erzählung (Ω 602 ff.) fänden und die in entsprechender Weise zum „Exemplum für die behauptete allgemeine Wahrheit" dienten. Weiter sieht er den Ainos (202-12) als Parallele zu dem berühmten Ainos aus der Odyssee (ξ 462 ff.)22 und schließlich den 6. Teil, „direkte Warnungen an Perses und an die Könige" (213-84)23, an die Phoinix-Rede 18 Hierzu gut: D. Motzkus, Untersuchungen zum 9. Buch der Ilias unter besonderer Berücksichtigung der Phoinix-Gestalt, Diss. Hamburg 1964 und K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961. 233-242. (S. 13 Anm. 8| 259. 20 Vgl. seine Übersicht, ebd. 247. 21 Ebd. 253. 22 Dazu vgl. aber Verf., Hesiods Fabel (S. 38 Anm. 27) 59ff. 23 Diller (S. 13 Anm. 8) 247.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

im J angelehnt. Zwar will auch Diller sicher nicht behaupten, daß alle verglichenen Bauelemente wie Herausforderungsrede, Ainos oder mythologische Exempla auch in Aufbau und Gedankenführung vergleichbar sind, aber seiner Meinung nach ist offenbar ein Vergleich schon dann berechtigt, wenn in den entsprechenden Partien auffallend ähnliche Bausteine' wie Allegorien24 oder Gnomen Verwendung finden. Selbst wenn die gezeigten Entsprechungen überzeugen, hat Diller damit noch nicht Jaegers Behauptung erwiesen, daß die Erga die Erweiterung einer konkreten homerischen Redeform seien, sondern nur, daß die Parainese der Erga aus Elementen und Bausteinen zusammengesetzt ist, die auch bei Homer in parainetischem Zusammenhang Verwendung finden. In dieser Form spräche Dillers Ergebnis am ehesten noch für die skizzierte These von West, daß man nämlich hinter Homer und Hesiod mit einer ,ionischen Tradition parainetischer Dichtung' zu rechnen habe. Unabhängig davon ist unser Ziel, zunächst zu prüfen, ob es in der Ilias vergleichbare parainetische Modelle oder Strategien gibt, ob sich diese auf ähnliche Situationen wie in den Erga beziehen und ob daraus schließlich zusätzliche Anhaltspunkte für die Intention der Erga zu gewinnen sind. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird auch eine erste Stellungnahme zu Wests These erbringen, insofern sie an einigen zentralen Punkten ein Maß an Entsprechung sichtbar machen wird, das den Gedanken an ein gemeinsames ,Vorbild' statt direkter Beeinflussung zurücktreten lassen muß. Doch soll damit über die Möglichkeit, daß es vor Homer und Hesiod eine parainetische Dichtungstradition im ionischen Bereich gegeben hat, keineswegs endgültig befunden werden und auch „the ingrained belief that epic comes before everything else" (West Anm. 2 zu S. 27) nicht voreilig gestützt werden.

2. Die aufrüttelnde Parainese An einer Stelle hat der Vergleich mit der Ilias Diller zu Rückschlüssen auf den Charakter und die Intention dieser Partie der Erga geführt. Er sieht „eine Reihe interessanter Übereinstimmungen" zwischen der Eingangspartie der Erga (11-41) und dem Streitgespräch zwischen Achill und Aineas im Y (176-258). Neben einigen Einzelübereinstimmungen, die sich allerdings nicht auf diese Partie der Erga beziehen25, nennt Diller in der Hauptsache drei Kriterien für die Vergleichbarkeit: einmal, daß es für

μ Diller, ebd. 253 ff. " Sondern auf V.3 und V.218.

2. Die aufrüttelnde Parainese

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beide, Aineas wie Hesiod, „zwei Möglichkeiten, eine Auseinandersetzung zu entscheiden", gebe, zum anderen, daß sie beide nach derjenigen verlangten, die sie für die bessere hielten, „weil sie vor Zeus gilt", und schließlich, daß sie beide mit deren Verwirklichung auch sogleich begännen. Wie nämlich „Aineas die Entscheidung der Waffen nach dem Willen des Zeus dem Zank der Worte vorzieht... und sogleich zum Kampf mit der Waffe... übergeht", so ziehe Hesiod die Entscheidung nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit dem Hader in einem auf Übervorteilung zielenden Verfahren vor und beginne seinerseits sogleich, dem Bruder die von Zeus gesetzte Weltordnung zu erklären. Aus dieser Entsprechung zieht Diller dann den Schluß, daß die Eingangspartie der Erga „eine Streitund Herausforderungsrede" darstelle und noch nicht zur „Mahnrede, zur Parainese im eigentlichen Sinne" des übrigen Gedichtes gehöre. Freilich deutet schon die Konzentration der von Diller angeführten Vergleichspunkte auf die Aineas-Rede darauf hin, daß es sich bei der hesiodschen Partie nicht um eine der Iliasstelle vergleichbare Herausforderungsrede handeln kann, da diese dort von Achill vorgetragen wird. Aber auch die Form der Ablehnungs- und Behauptungsrede, wie sie die Antwort des Aineas darstellt, kann nicht als Modell für die in Frage stehende Partie der Erga herangezogen werden; denn zunächst einmal stehen Aineas und Hesiod gar nicht in vergleichbarer Weise vor Alternativen: Für Aineas geht es nach der Herausforderung durch Achill um die Entscheidung, ob er den Kampf mit ihm aufnehmen oder sich durch dessen Worte einschüchtern und mit dem Stigma des Schwächeren in den Schutz der geschlossenen Formation zurücktreiben lassen will (vgl. Y 196-8). Für Hesiod geht es dagegen überhaupt nicht um eine Entscheidung, schon gar nicht um die Entscheidung, ob er einen Prozeß auf sich nehmen oder sich prozeßlos der Übermacht des Ungerechten fügen soll26, sondern allein darum, das Gegenüber für einen dritten Weg, für die Anwendung und Achtung der Dike zu gewinnen. Ähnlich erweisen sich dann auch die übrigen Kriterien Dillers als nicht wirklich zutreffend: So lassen sich die Hinweise auf Zeus (Y 242-44: Erg. 36) nicht miteinander in Beziehung setzen. Bei Homer dient der Hinweis auf die Fähigkeit des Zeus, jeden Menschen zu erheben und zu erniedrigen, und auf sein Belieben, diese Macht auch auszuüben, der Stärkung des Kämpfers, der sich so auch dem Überlegenen gegenüber nicht chancenlos sieht. Wenn sich dagegen Hesiod für die Herkunft der,geraden Rechtsentscheide' auf Zeus beruft, will er damit einen Maßstab setzen, der eindeutig ist und für Belieben oder Hoffnung gerade keinen Spielraum mehr läßt.

26

Ein Prozeß steht ohnehin gar nicht an, vgl. oben S. 25.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Auch Dillers drittes Kriterium bietet keine zusätzlichen Anhaltspunkte für eine Vergleichbarkeit der beiden Reden; denn während sich Aineas unmittelbar zum Kampf wendet (Y 259ff.) ; beginnt Hesiod keineswegs mit der Darstellung von Notwendigkeit und Segen der Gerechtigkeit, sondern mit der Rechtfertigung seiner Aufforderung zur Arbeit (42 ff.). Schließlich kann auch Dillers Ausweitung des Vergleichs über die AineasRede hinaus auf das ganze Gespräch (S. 253) den Grad der Ähnlichkeit nicht erhöhen, und die Achill-Rede allein dies erst recht nicht leisten. Schon ein flüchtiger Blick auf diese zeigt den großen Unterschied in Aufbau, Strategie und Ziel. Die Rede Achills ist von aufreizenden Fragen bestimmt (178-79; 179-81,· 184-186; 188-90); er will zunächst von einem der großen troischen Kämpfer (!) wissen, warum er so weit vor den großen Heerhaufen getreten ist, überlegt dann die denkbaren Motive (179ff. ; 184ff.), um sie sofort höhnisch als völlig unrealistisch abzuweisen. Die nächste Frage zielt auf die Vergangenheit: ob Aineas schon vergessen habe...? Am Ende steht die dringende Warnung, sich wieder zurückzuziehen. Sicher hätte Hesiod den Bruder auch auf Achill'sche Manier herausfordern können 27 , dann allerdings nur ihn allein, zu einem speziellen Handeln in seiner persönlichen Situation. Da er aber eine völlig andere Form gewählt hat, gibt er damit eben auch eine unterschiedliche Intention zu erkennen. Diese ausgedehnte Gegenüberstellung und Abhebung unterschiedlicher Redeformen soll nun helfen, die Besonderheiten der aufrüttelnden Parainese bei Hesiod kenntlich zu machen. Diese findet sich nicht nur am Anfang, sondern noch an drei weiteren zentralen Stellen der Erga, und zwar in der Grundsatzermahnung zur Arbeit (286-316), der Mahnung zur Beachtung der Grundregeln der Landbestellung (383-404) und in der Grundanweisung für die Seefahrt (618-45). Sie weist folgende spezifische Kennzeichen auf: 1. Nach einer besonderen Ankündigung (10; 286; 381; 618) 2. beginnt sie jeweils mit der Darstellung einer besonderen Gegebenheit des menschlichen Daseins (11-26; 287-92) oder mit der Bezeichnung des Grundgebotes eines ganzen Arbeitsbereiches (383-92; 618-23). 3. Ein zweiter Teil bringt dann die persönlich adressierte (27; 299; 397;

2 7 Er hätte ihn ebenso höhnisch fragen können: warum hast du den Prozeß begonnen? Haben dir die Richter versprochen, daß du reich würdest, wenn du mich beraubtest? Oder haben sie dir zugesichert, daß du soviel dazu bekämst, daß du nicht mehr arbeiten mußt? Darauf könnten der Hohn über die Unwirklichkeit dieser Erwartung, die Erinnerung an das Ereignis der Vergangenheit und die Aufforderung zur Schlichtung folgen.

2. Die aufrüttelnde Parainese

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633) Parainese, die zunächst allgemeingültige Argumente vorträgt (27-41; 298-316; 392-404; 624-40), 4. dann aber überraschend ins ganz Persönliche umschlägt (34ff.; 314ff. ; 396ff.; 633ff.); 5. die zentrale Aufforderung zum Handeln erscheint nicht am Ende sozusagen als Konsequenz der Ermahnung, sondern wird bereits in der Mitte, und zwar in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Umbruch, vorgetragen (35f.; 299f.; 398f.; 631 f.). Schon die Vorbereitung der Parainese durch eine Art ,Ankündigung' weist auf ihre herausragende Bedeutung; sie erscheint jeweils zu Beginn der zentralen Abschnitte zum Thema ,Arbeit' und dient offenbar dazu, besondere Akzente zu setzen. Das Einsetzen dieser Partien mit der Mitteilung des Grundsätzlichen statt dieses als Begründung und Bekräftigung auf die Handlungsanweisung folgen zu lassen, kennzeichnet das allgemeine Ziel dieser Parainese: sie soll das mitgeteilte Grundsätzliche in seiner Bedeutung für jeden einzelnen sichtbar machen, es für ihn konkretisieren. Dazu paßt, was wir bereits oben28 hinsichtlich der Zielgruppe aus der Abfolge der Argumentation geschlossen haben: Die Parainese wendet sich nicht allein an die Person, die sie unmittelbar anspricht (wie Achill und Aineas in ihren Reden), sondern an alle, die gleichermaßen betroffen sind. Der Umbruch in der Argumentation (Teil 4) führt auf eine weitere Besonderheit dieser Parainese, ihren aufrüttelnden Charakter. Dieser wird hervorgerufen durch die Mittel der Überraschung und der personenbezogenen Aktualisierung (34; 314; 396; 633). An dem oben29 ausführlich betrachteten Abschnitt (Vers 11-41) kann noch einmal deutlich gemacht werden, mit welchem Ziel sich Hesiod dieses Aufrüttelungseffektes bedient. Er versucht dort, seinen Bruder von weiteren Rechtsstreitigkeiten abzubringen; doch tut er es nicht mit Hilfe geläufiger Argumente wie ζ. B. des Sprichwortes von der Grube, in die der Gräber selber fällt (265 f.), oder des zu erwartenden Zornes der Götter, sondern durch die schockierende Eröffnung, daß der Bruder, gewandt und beschlagen (28 f.) in Rechtshändeln und Prozeßstreitereien, plötzlich selbst nicht mehr in der Lage ist, einen Rechtsstreit durchzuführen (33 ff.), und das, obgleich er doch gegen seinen Bruder Hesiod so erfolgreich das Recht verbogen und gebeugt hat (37f.). So fordert der Umbruch in der Parainese dazu heraus, auf die Folgen zu sehen. Leute wie Perses sollen begreifen, daß für ihresgleichen bei Rechtshändeln überhaupt nichts außer Einbußen an dem bereits vorhandenen Besitz (30-2)30 herauskom28 S. 32. w S. 29 ff. 30 Ausführlicher oben S. 3Iff.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

men kann, auch wenn ihr Verlauf noch so günstig wäre. Der Umbrucheffekt dient also Hesiod zur Vermittlung neuer Einsichten bzw. zur Herausforderung des Gegenübers, die negativen Konsequenzen seines Handelns wahrzunehmen. Die übrigen Stellen bestätigen diese Absicht: Die schlimmen Folgen bei Verletzungen der richtigen Saat- und Erntezeiten, zu denen die Teilnahme oder das ,Spionieren' des Bauern bei Prozessen führen muß, werden durch die überraschende Erwähnung der Bettelei des Perses bei seinem Bruder ins Bewußtsein gerückt (396 ff.). Ähnlich schockierend wirkt der Verweis auf die Tätigkeit des Vaters, unmittelbar nachdem Hesiod dem Bruder die genaue Einhaltung der Schiffahrtszeit als Voraussetzung für Gewinne beim Seehandel vor Augen gestellt hat (630ff.); denn der Seehandel des Vaters hat diesen gerade nicht zu Erfolg und ausreichendem Gewinn gelangen lassen31. In etwas anderer Form schließlich wird die Scham vor Schande durch Arbeit ad absurdum geführt, nämlich dadurch, daß dem Bruder öffentlich dargelegt wird, wie seine materiellen Verhältnisse (und die der Leute seines Schlages) doch nur noch Arbeit als Ausweg zulassen (314ff.), also ohnehin keine Möglichkeit mehr für Scham und Vermeidung von Schande bieten (317ff.)32. Die Form dieser Parainese spiegelt also wiederum die Absicht des Hesiod, auf die Vorstellungen seiner Zeit von den Grundbedingungen 31

Vgl. S. 13; nach Walcot (S. 72ff. Anm. 8) ist die Erwähnung des Vaters hier höchst überraschend, da er ein, Versager' gewesen sei und außerdem zu den von Achill im λ der Odyssee am niedrigsten eingestuften μετανάσται gehört habe (23). Aber aus dem Drang des modernen Griechen zur Selbstdarstellung, die auch die Taten der Familienmitglieder einschließt, werde die Erwähnung des Vaters verständlich, nur müsse er, wo nichts Positives zu berichten sei, eben sogleich zum,Angriff' übergehen und so „he attacks by stressing something positiv, his father's daring" (22). Hier zeigen sich weitere Gefahren der fruchtbaren Untersuchungen Walcots: Sie versuchen allzu viel von einem bestimmten Wesenszug aus zu erfassen, ohne daß Zusammenhang und Einzelbemerkung dazu immer ausreichende Anhaltspunkte bieten: So dürfen hier gewiß Prestigedenken und Geltungsbedürfnis nicht die Suche nach der Aussageabsicht Hesiods vorschnell abkürzen. In den gesamten Erga habe ich keinen Punkt gefunden, der Hesiod wegen seiner eigenen Reputation zu schaffen machte. 32 Die Bedeutung dieses öffentlichen Hinweises läßt Walcots Darstellung (S. 13 Anm. 8] ermessen, die eindrucksvolle Beispiele gibt, wie ganz die Griechen „were... racked by the demands of a fiercely competitive society" (93). Ein Beispiel bildet eine arme Hirtenfamilie unter den Sarakatsani, die immer erst Tage nach ihren Stammesgenossen zur Sommerweide aufbrach, um die geringe Zahl ihrer Schafe niemanden wahrnehmen zu lassen und sich so der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch muß vor einer allzu weitgehenden Gleichsetzung gewarnt werden; denn anders als in der Kravara kann in Askra die Schande der Armut allein noch nicht den handlungsbestimmenden Faktor ausmachen, sonst hätte wohl ein öffentlicher Hinweis statt der zahlreichen Parainesen die gleiche Wirkung getan.

2. Die aufrüttelnde Parainese

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menschlichen Daseins korrigierend einzuwirken und ihnen die falschen Voraussetzungen ihres Handelns und zugleich die Möglichkeiten erfolgreicher Korrekturen ins Bewußtsein zu führen. Dieses Bemühen muß seinen Anlaß in den oben dargelegten Zuständen der Zeit haben. Die Verwendung der beschriebenen Paraineseform an zentralen Stellen des Werkes unterstützt auch unser Verständnis von der Einheit des Gedichtes. Denn zumindest diese Partien sind ja gleichen Zielen zuzuordnen und halten so das Werk in Thema und Intention zusammen 33 . Der sogenannte Bauernkalender wird auf diese Weise ebenfalls als Bestandteil der Parainese gekennzeichnet; ihm kann daher keine Eigenständigkeit im Sinne eines gesonderten zweiten Teils mit technischen Anweisungen' und allgemeiner Lehrfunktion zukommen. So haben sich schon hier für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage (S. 75 f.) deutliche Anhaltspunkte ergeben: Hesiod hat offenbar belehrende Ausführungen zum Bestandteil seines Gedichtes gemacht, um so sein auf Veränderung und Umdenken zielendes Anliegen auch von der Umsetzung in die Realität her zu unterstützen. Das werden die folgenden Untersuchungen weiter verdeutlichen. Effe hat deshalb sicher zurecht die Erga nicht unter die,Lehrgedichte' als ,poetische Darstellungen... systematisierten fachwissenschaftlichen Stoffes' eingereiht34. Andererseits erscheint Dillers Verständnis der Erga als „parainetisches Gedicht"35 nur dann berechtigt, wenn diese Kennzeichnung die Erga nicht zugleich auf die Erteilung ,νοη Ratschlägen für eine bestimmte Lebensführung' 36 einengt. Viel aufschlußreicher für die Charakterisierung auch der Erga scheinen mir die Tendenzen zu sein, die Effe für die moderne Lehrdichtung konstatiert: Das Didaktische sei dort in einem weitern Sinne zu verstehen37, nämlich „als Versuch direkter Einflußnahme des Autors auf das Denken und Handeln des Rezipienten", also des Hörers, wenn wir uns auf Hesiods Zeiten beziehen. Zwar bleibt „der gravierendste Unterschied" zur modernen Literatur bestehen, daß an die Stelle der Vermittlung,eines festen statischen Wissens' „heute in der Regel der bewußt agitatorische Aufruf getreten ist"38, aber er verringert sich erheblich, wenn man erkennt, daß ,die Vermittlung eines

33 Einseitig ist deshalb wohl auch Walcots These zur Einheit des Gedichtes: „a curious mixture" (S. 13 Anm. 8) 118. 34 (S. 76 Anm. 130) 11 und 24 Anm. 35. 35 (S. 13 Anm. 8| 243. 36 So Effe (S. 76 Anm. 130) 24 Anm. 35. Ebd. 11 f. 38 Vgl. Effes interessanten Hinweis auf die Fragmente von Brechts Versuch, das Lehrgedicht des Lukrez fortzusetzen (S. 76 Anm. 130), 12 Anm. 7.

90

III. Die zentralen Formen der Parainese

statischen Wissens', wie gezeigt wurde, ganz im Dienste eines agitatorischen Aufrufs' steht39. Es ist deshalb sicher nicht leicht, eine angemessene Bezeichnung für das ,Gebilde Erga' zu finden. Ich möchte trotz aller Bedenken unter Zuhilfenahme eines Terminus aus der mittelhochdeutschen Literatur von „weisheitlich-episierender Spruchdichtung" sprechen, um dadurch sowohl das Aktuelle, Herausfordernde als auch die Reihung von unterschiedlichsten ,Kleinformen' wie deren Vereinigung zur epischen Großform zu kennzeichnen.

3. Die

Anleitungspaiainese

Die reine Lehrhaftigkeit des zweiten Teils der Erga wird freilich immer wieder behauptet und in neuerer Zeit, was für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist, durch den Vergleich mit einer Rede aus der Ilias gerechtfertigt. Auch die „technischen Vorschriften für die Landarbeit... (381-617)", versichert etwa Diller40, hätten „in der Ilias bereits ihr Vorbild", nämlich in Nestors Rede ,bei den Leichenspielen für Patroklos' (Ψ 306-348). Für Munding reicht die Anlehnung Hesiods an dieses Vorbild sogar über den ganzen zweiten Teil der Erga bis hin zum Schluß (286-827)41. Den zentralen Aufhänger für diesen Vergleich liefert „jene in der Ilias einzigartige Häufung von Vorschriften im Imperativischen Infinitiv"42 - es sind insgesamt fünf aber auch der Gebrauch der Anapher (Ψ 315-18; Erga z.B.: 317-9) und der „Einsatz mit adhortativem άλλά"43 (Erga 298,335 u.a.: Ψ 313) sowie die Ermahnung zur Beachtung des καιρός, die in beiden Fällen zugrundeliege, werden als Indizien für die Parallele angeführt.

39

Als entschiedene Gegenposition sei noch einmal auf Walcot (S. 13 Anm. 8) verwiesen, der bekennt (102): „I have never believed in Hesiod the political revolutionary...". Auf die Beschuldigung des Adels solle man nicht zu großes Gewicht legen, denn Entsprechendes finde sich noch heute unter den ,Sarakatsani', griechischen Schafhirten. So überraschend seine Hinweise auf die Bezeichnung der Behörden als „phagades" und die moderne Einstellung zu Aufmerksamkeiten und Präsenten' sind, so bergen sie doch die Gefahr in sich, das Ziel und das Gewicht der hesiodschen Aussagen abzubiegen: Für ihn gehören Bestechung' und ,Gaben' gerade nicht zum Rechtsverfahren, wie die Tatsache zeigt, daß gerade sie die Vernichtung der Stadt durch Zeus auszulösen drohen (238 ff). 40 (S. 13 Anm. 8)270. 41 Munding (S. 14 Anm. 14) 68ff. 42 Munding ebd. 75. "3 Diller (S. 13 Anm. 8) 268.

3. D i e Anleitungsparainese

91

Freilich ist durch die Aufzählung einzelner Entsprechungen zunächst wiederum nur erwiesen, daß vergleichbare sprachliche Formen (dazu hier eines Grundgedankens) in der Ilias Verwendung finden, nicht aber, daß diese auch in entsprechender Funktion Bestandteile einer vergleichbaren ; Rede' sind. Ein großes Hindernis für den Vergleich stellt allein schon der Umfang der beiden,Reden' dar, denn der zweite Teil der Erga hat wenigstens die sechsfache Länge der Nestor-Rede (43 Verse: 240 Versen), nach Munding sogar fast den zwölffachen Umfang. Für Diller „bleibt dadurch... besonders viel Raum für selbständige Gestaltung durch Hesiod"44; durch diesen Spielraum wird die Vergleichbarkeit auf jeden Fall erheblich eingeschränkt. Nach Munding führt zwar die Häufung „von über hundert Bauernvorschriften" zur „Metabasis in das Genos der reinen Katalogdichtung", doch ist dadurch für ihn die „Parallele des formalen Aufbaus zwischen der Rede an Antilochos und Erga II"45 nicht betroffen, da die Ausweitung vorwiegend durch „Polymerisation"46 (vor allem: Ψ 334-343 = Erg. 336-825) zustandekomme. Wir brauchen hier die Unwahrscheinlichkeiten 47 in dieser Gegenüberstellung Mundings nicht im einzelnen aufzuzeigen, zumal wir oben bereits48 die unterschiedlichen Partien des zweiten Teils und ihre Strukturen ausführlich behandelt haben. Doch soll damit die Bedeutung der Nestor-Rede für das Verständnis der Erga keineswegs schon abgetan sein, sondern lediglich eine pauschale Gleichsetzung an Hand einiger Entsprechungen und eine gewaltsame Parallelisierung bis in die Einzelheiten hinein als unzureichend zurückgewiesen werden. Selbst wenn diese Vergleiche zuträfen, müßte ihrer Auswertung doch noch erst eine sorgfältige Analyse der Nestor-Rede nach Form und Inhalt vorausgehen. Auf keinen Fall kann sie einfach als „Traktat über das Wagenrennen" verstanden werden, wie Munding dieses mit Berufung auf von der Mühll und in Reprojektion seines Ergaverständnisses will49. Denn soviel zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Situation' der Rede, daß es sich nicht um einen ,Traktat' handeln kann; hier will ein bestimmter Vater seinem längst sachkundigen Sohn (Ψ 306-9; 311 f.) nur noch einige Hinweise und taktische Ratschläge für seine spezielle Situation vor einem Rennen geben. 44

Ebd. 270. « (S. 14 A n m . 14) 67i. 46 Ebd. 71. 47 Munding stellt völlig Fremdartiges zueinander: zur Grundbestimmung des guten und schlechten Wagenlenkers (Ψ 3 1 9 - 2 5 ) die Warnung vor Raub, vor Verletzung der Gebote des Zeus und die gesamte Spruchsammlung (342-380), oder die sieben Infinitive v o m Wenden an der Säule mit den Versen Erga 3 3 6 - 8 2 5 . 48 Vgl. oben S. 52 ff. 4 ' Ebd. 6 4 f .

92

III. Die zentralen Formen der Parainese

Die Nestor-Rede zeigt einen klaren dreiteiligen Bau: (1) am Anfang steht die Vorbereitung und Aufschließung des erwachsenen Sohnes für die ,klugen Tips' des Vaters (306-318); es folgen (2) die einzelnen Empfehlungen, Tips und Hinweise: für das grundsätzlich richtige Verhalten des Wagenlenkers, zumal wenn er langsame Pferde lenkt (319-325), für die Art der Wendemarke und ihre Besonderheiten (326-333) und für das An- und Umfahren der Wendesäule (334-343). Im dritten Teil wird nach der erfolgreichen Umfahrung der Wendemarke ungefährdete (Sieges-) Fahrt bis zum Ziel verheißen (344-349). Schon der Aufbau der Rede macht also deutlich, daß es sich hier nicht einfach um /technische Anweisungen' handeln kann,· denn die eigentliche Anweisung, das richtige Wenden an der Markierung, macht nur etwa zehn der knapp vierzig Verse dieser Rede aus. Selbst wenn man die allgemeine Richtschnur für das verständige Wagenlenken hinzunehmen will, füllen die Anweisungen immer noch erst knapp die Hälfte der Verse. Zu den unmittelbaren,Anweisungen' kommen also Ausführungen über die Bedeutung der μήτις für den Wagenlenker, zumal den mit unterlegenen Pferden, die genaue Beschreibung der hier von Achill benutzten Wendesäule und die Erfolgsverheißung. Dadurch wird die Rede des Nestor in zweifacher Hinsicht näher gekennzeichnet: Sie ist parainetischen Charakters und auf eine ganz konkrete Situation bezogen, das Wagenrennen anläßlich der Leichenspiele zu Ehren des Patroklos. Allein die Einzelheiten der Beschreibung der,Säule' verbieten es, diese als allgemeine Anleitung zum Auswählen geeigneter Wendemarken' zu verstehen. Hinzu kommt nun vor allem eine bedeutende thematische Einengung: Es werden keine Anleitungen gegeben, wie ein Rosselenker etwa die Kräfte der Pferde einteilen, wo und wie am besten überholen, wann die Peitsche verstärkt einsetzen soll, sondern es werden lediglich Anweisungen für einen, vielleicht den zentralen Punkt des Wagenrennens gegeben: das Wenden. Alles andere wird ausgespart, und nicht nur hier, sondern auch bei dem allgemeinen Hinweis auf kluges Lenken, der sich ebenfalls im wesentlichen auf das richtige Heranfahren an die Wendemarke bezieht (322-325). Wichtig ist dabei, daß alles andere in der vorgegebenen Situation auch ausgespart werden kann, weil Antilochos bereits ein guter Wagenlenker ist (306 ff.). Hinzu kommt noch ein Weiteres: Nestor greift auch das Wendemanöver nicht als das Wichtigste am Wagenrennen überhaupt heraus, sondern als die einzige Stelle, wo auch ein Fahrer mit unterlegenen Pferden seine Chance hat: es ist also von demjenigen Teil des Rennens die Rede, der Antilochos den Zugang zu den begehrten Preisen eröffnen soll (314). Wenn dadurch auch faktisch das Wendemanöver dem kundigen Lenker überhaupt empfohlen wird, so sind Anlaß und Ziel doch in die konkrete Situation fest eingebunden. Die

3. Die Anleitungsparainese

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Nestor-Rede trägt also in parainetischer Form Anleitungen für geschicktes, überlegtes, erfolgreiches Verhalten an einem oder sogar dem zentralen Punkt eines ganzen Bereiches vor: wir wollen diese Redeform deshalb ,Anleitungsparainese' nennen. Vielleicht ist es wichtig, noch einmal festzuhalten, daß der Imperativische Infinitiv für diese Redeform keineswegs das entscheidende Indiz ausmacht. Denn der Imperativische Infinitiv findet sich in der Ilias auch an anderer Stelle, er tritt potentiell überall dort auf, wo das bloße Auffordern, jemanden zu etwas Drängen, ihn Aufrufen oder Warnen sozusagen überschritten wird und konkrete Instruktionen oder Anweisungen gegeben werden. Dieses gilt etwa für die Anweisungen des Helenos an seine Mutter für die Bittprozession (Z 87 ff.; hier ersetzt der Infinitiv sogar den Imperativ der dritten Person) oder die Verhaltensanleitung für Patroklos (Λ 788 f.); am ausführlichsten bedienen sich in der Odyssee die Anweisungen der Nausikaa für den Fremden ((289-315) und die Instruktionen der Kirke für die Unterweltsfahrt und die Totenbeschwörung (κ 507-540) des Imperativischen Infinitivs50. Das Auftreten dieses Infinitivs bei Hesiod (ab 336) kann also allein noch kein ausreichendes Kriterium für die Einheitlichkeit der nachfolgenden Partien sein. Ein ganz anderes Instrument stellt demgegenüber die Struktur der,Anleitungsparainese' dar ; wir wollen sie deshalb noch einmal kurz skizzieren: Sie zielt auf einen zentralen Punkt, wobei sie zunächst das richtige Verhalten in allgemeiner Form als Gegenüberstellung von ,falsch' und ,richtig' formuliert (Ψ 319-25), dann ,Zeichen' beschreibt als Orientierung und Punkt besonderer Aufmerksamkeit (326-333), darauf die konkreten Anweisungen zum Handeln (Wenden) folgen läßt (334-343; mit neuerlicher besonderer Warnung) und deren genauer Beachtung schließlich den Erfolg verheißt (344-348). Bei dieser Strukturbeschreibung haben wir den ersten Teil, die Vorbereitung, zunächst unberücksichtigt gelassen, da sie vor allem durch das Verhältnis der Gesprächspartner zueinander und die offene oder ablehnende Haltung des Gegenübers bestimmt ist. Die auf den Teil 2 und 3 beschränkte Struktur der Anleitungsparainese findet sich nun in der Tat im Bauernkalender der Erga, und zwar ausschließlich in den an Perses gerichteten Partien51. Sie zeigen einmal zusammengefügt diese Struktur (a), sind aber auch einzeln von ihr im wesentlichen bestimmt (b i; b2).

50

Dieser kann auch mit dem Imperativ der dritten Person wechseln: Erg 370,373 u. a.; vgl. auch die Anweisungen Nestors im Δ 303-309. 51 Vgl. oben S. 52ff.

94

III. Die zentralen Formen der Parainese

a: 1. allgemeines Gesetz (pos. und neg.: 388-395); 2. die Zeichen (der Sterne für die richtige Zeit: 383-387 usw.); 3. die konkreten Anweisungen für die ,Wenden' (Säen: 448-92; Ernten 571-81); 4. Verheißung von Erfolg: Sommerrast (582-96). bf. Säen/Pflügen 1. Zeitzeichen 448-451 (vgl. 450!); 2. allgemeines Gesetz: der Vorbereitete - der Unvorbereitete: 451-457; 3. Anweisungen 459-71; 4. Verheißungen 471-78. b2: Ernte (hier allerdings sehr verkürzt bzw. ansatzweise) 1. Zeitzeichen 571-2; 2. Warnung 574/5; 578-81; 3. Anweisung 573, 576; 4. ,Verheißung' 577b. Dieses Ergebnis sichert die bisher gewonnenen Erkenntnisse über den Bauernkalender weiter ab: In ihm geht es, zumindest in den bezeichneten Partien, nicht um eine Ausbreitung bäuerlicher Tätigkeit, wie besonders ein kurzer Blick in die Georgica Vergils deutlich machen kann, sondern um die Herausstellung des Punktes, der für das Gegenüber entscheidend ist. Das Drängen auf seine Berücksichtigung steht so sehr im Vordergrund, daß Hesiod hier in der Angabe von Details weit hinter Nestors Beschreibung des Wendemanövers zurückbleibt. Im Zentrum der Anleitungsparainese steht die bestimmte Person, die in ihrer konkreten Situation zu erfolgreichem Handeln veranlaßt werden soll. Wir haben bisher den Vorbereitungsteil in der Nestorrede ausgespart, obwohl er offensichtlich Parallelen zu der allgemeinen Arbeitsparainese bei Hesiod aufweist: den wiederholten Hinweis auf die Bedeutung der μήτις bzw. die Unangebrachtheit von αιδώς (313-318; Erg. 317-319), die Hervorhebung, wie wichtig es ist, einen Rat zu haben oder zu bekommen und anzunehmen, die Herstellung einer Vertrauenssituation als Ausgangspunkt für die Anleitung (306 ff.; Erg. 286)52; doch der weitere Vorstoß in die Gesprächssituation und deren Auswertung für Hesiod scheinen mir hier durch die besondere Darstellungsweise des Ψ unmöglich gemacht. Man hat längst erkannt, daß die Wettspiele eine heitere, teilweise burleske Spiegelung des zurückliegenden bitterernsten Iliasgesche52

Das άλλ' betrifft hier allerdings nicht vergleichbare Aufforderungen: dem, Arbeite' müßte ein ,Fahre kontrolliert' entsprechen.

3. Die Anleitungsparainese

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hens sind: Achill bringt Streitende auseinander, tröstet ,Entehrte', bietet dem Oberkönig kampflos den 1. Preis, um nur einige Beispiele zu nennen. Und in diese heiter-tiefsinnige Spiegelung gehört nun auch die Vorbereitung und der Verlauf des Wagenrennens. Wieder nämlich gibt Nestor den entscheidenden Rat (wie A 256ff., J 96ff. und vor allem Λ 794ff.), wieder ist diesem kein Erfolg beschieden, liegt doch offensichdich Antilochos nach der letzten Wende an vorletzter Stelle, genau wie es der Schnelligkeit seiner Pferde entspricht; und erneut führt sein Rat nahezu ins Verderben: wie Patroklos sich letzdich auf seine Anregung hin (Π 36ff.) den ,Tod erbettelte', so hätte Antilochus, vor lauter Ausrichtung auf das κέρδος, die τέχνη und μητις fast sich und Menelaos in Lebensgefahr gestürzt (Ψ 425 ff.)53. Trotzdem geht hier alles heiter wie im Märchen oder der Komödie aus: Antilochos behält, weil er sich besinnt und geständig ist, den unverdienten 2. Preis, Nestor wird für seine,Verdienste' mit einem Sonderpreis ausgezeichnet... Angesichts dieser vielfältigen Spiegelungen scheint es mir völlig unzureichend, bei dem Vergleich mit Hesiod lediglich den Unterschied in der Ausgangssituation zu berücksichtigen: die ,Gelehrigkeit' des Antilochos und die Einfalt und mangelnde Bereitschaft des Perses. Während etwa die Anapher der αιδώς bei Hesiod auf das zentrale Motiv des Widerstandes führt, steht die formal entsprechende Hervorhebung der μήτις im Dienste der ironischen Aufdeckung ihrer Erfolg- oder sogar Heillosigkeit. Wenn man schließlich fragen will, ob es denn für die großen Anweisungspartien in den Erga, den Gerätebau und die Herstellung der Winterkleidung, keine Vergleichsmöglichkeiten in der Ilias gibt, so seien zwei Hinweise gestattet. Ich kann für diese Anweisungsfolgen, die ich als ,Instruktionsreden' bezeichnen möchte, keine formale, sondern nur eine inhaltliche Entsprechung angeben. Die Herstellung der Winterkleidung stellt eine (komische) Anlehnung an die Bekleidungs- und Rüstungsbeschreibungen in der Ilias dar (vgl. Β 42ff., Κ 21 ff.,· Κ131 ff.): zwei Gewänder, bei Kälte mit doppeltem Einschlag (K133 f.), Sandalen, dazu bei Kälte noch ein Fell (K 23) und die ,Lederkappe' auf dem Kopf (vgl. auch die Filzkappe im Helm des Meriones: Κ 265) gehören zur festen Ausrüstung der homerischen Helden. Die Aufzählung der Geräte aber, die vorsorgend beim Holzfällen bedacht werden wollen, erinnert mich an die Beschreibung der Montage der Streitwagen (vgl. Ε 720-732; besonders Ω 265ff.).

53 Die entscheidenden Anspielungen machen dieses totale Fiasko des Rates ganz deutlich: vgl. nur: 415: 315ff. ; 416: 323; 426: 320f. ; 585: 312; 590: 315ff.

96

III. Die zentralen Formen der Parainese

4. Die

Umstimmungsparainese

4.1 Vergleich ihrer Gestaltung hei Homer (Phoinix-Rede im J) und Hesiod (Dikeparainese) Die aufrüttelnde Parainese' und die ; Anweisungsparainese' sind nicht die einzigen parainetischen Formen von Bedeutung in den Erga. Auf eine weitere führt der schon mehrfach vorgenommene Vergleich der PhoinixRede im J der Ilias (434-605) mit der großen Dikeparainese in den Erga (213-85). Auf die Verwandtschaft dieser beiden Reden weisen eine Reihe erstaunlich weitreichender Parallelen, wie die Verwendung von Allegorien'54 in der Parainese und die nachdrückliche Gegenüberstellung der Konsequenzen, die Achtung oder Mißachtung der vergöttlichten Mächte (Λιταί / Άτη: "Ορκος, Δίκη) nach sich ziehen muß 55 . Weiter ist auch die Art, wie die vergöttlichten Mächte auf ihre Mißachtung oder Mißhandlung reagieren, entsprechend dargestellt: Sie suchen Zuflucht bei ihrem Vater Zeus und flehen ihn um Bestrafung ihrer Verletzer an56 (J 510-12; Erg. 256-62). Erstaunlich ist nun, daß diese weitreichenden Parallelen in den konkreten Ermahnungen (J 496-605; Erg. 213-85) keine Entsprechung in den Partien haben, die ihnen vorausgeschickt sind, um ihre Aufnahme vorzubereiten und ihre Wirksamkeit zu erhöhen. Diese weichen, abgesehen von der allgemeinen Vorbereitungsfunktion, sowohl im Inhalt wie in der speziellen Intention völlig voneinander ab. In der Ilias nämlich beschreibt Phoinix ausführlich seinen Weg an den Hof von Achills Vater Peleus, seine herausragende Stellung dort und vor allem sein besonderes Verhältnis zu Achill selbst (J 434-445,485-495). Er will auf diese Weise zunächst einmal seine totale Solidarität mit seinem Gegenüber herausstellen, dann aber über die Erlebnisse in seiner Jugend auch auf seine Erfahrung verweisen, um so auf doppeltem Wege den Boden für die Warnung und Umstimmung des Erzürnten zu bereiten57. In den Erga geht der Parainese unmittelbar der Ainos von Habicht und Nachtigall voraus; dieser ist mit der Vision von der Zerrüttung der Verhältnisse im Eisernen Zeitalter unmittelbar verbunden, denn er deckt, auch wenn dies nicht explizit geschieht, ihre Ursachen auf58. Deshalb ist

54

Zur Problematik des Begriffs gut Diller (S. 13 Anm. 8) 254f. 55 Diller ebd. 265 f. 56 Vgl. etwa: Munding |S. 14 Anm. 14) 98 ff. (= Anhang II), Diller (S. 13 Anm. 8) 255 ff. 57 Zur Komposition der Phoinixrede allgemein vgl. D. Lohmann, Die Komposition der Reden in der Ilias, Berlin 1970. 245 ff. 58 Abwegig ist deshalb die Ansicht Kühns (S. 15 Anm. 19) 286 f.: Der Weltalter-Mythos ist seiner Meinung nach an Perses gerichtet, warne diesen vor einem Meineid in dem

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es sicher nicht unberechtigt, den ganzen Weltalter-Mythos mit zum vorbereitenden Teil der Parainese zu zählen. Auch Hesiod will zweifellos so den Boden für die Aufnahme seiner Warnungen und Mahnungen bereiten, allerdings, entgegengesetzt zu Phönix, mit düsteren Visionen und Drohungen, mit Bloßstellung und Anklage, so daß das Verhältnis zum ermahnten Gegenüber geradezu konträr erscheint. Um so beachtenswerter wird die Verwendung offensichtlich vergleichbarer parainetischer Mittel, die sogar noch ein bedeutendes Stück über die oben aufgeführten Parallelen hinausgehen. Die beiden Parainesen (J 496-526; Erg. 213-84) sind durch Anrufe an das Gegenüber und mit ihnen verbundene Appelle gegliedert. Diese treten drei- bzw. viermal auf (J: 496f.; 513f.; 522 f.; 600f.59; Erg.: 213; 248; 263; 274); drei dieser Anrufe stimmen in Stellung (Versanfang) und Einsatz (άλλ' bzw. ώ...) überein; sie markieren offensichtlich jeweils Neueinsätze. So werden wir auf eine dreigliedrige Parainese geführt; ihr erster Teil istbei Homer und Hesiod völlig gleich gebaut: am Anfang stehen jeweils Anrufung und Appell; letzterer ist zusammengesetzt aus Aufforderung und Verbot (J 496-97a ; Erg. 213a und b) und wird unterstrichen durch einen Hinweis auf seinen weiten Geltungsbereich (,sogar die Götter selbst' J 497b-98; ,nicht einmal ein Adliger' 213/4); anschließend wird die Berechtigung für diesen Hinweis erbracht: sie lassen sich nämlich umstimmen, wenn die Menschen sie durch Opfer versöhnen (499-501), bzw.: den Folgen von Freveltaten kann nicht einmal ein Reicher entgehen, weil Dike, wenigstens aufs Ende gesehen, mächtiger ist (214-218). Dem Nachweis der Berechtigung und Gültigkeit des Appells folgt seine tiefere Begründung durch Allegorien (Litai, die Versöhnungsbitten, sind Töchter des Zeus: J 502-7, Dike und Horkos göttliche Mächte der Vergeltung); diese sollen feste Abläufe menschlichen Handelns, vor allem aber die Zwangsläufigkeit, mit der bestimmte Konsequenzen aus dem jeweiligen Handeln folgen, verdeutlichen; das leisten sie dadurch, daß sie bildlich vorführen, wie in dem menschlichen Handeln göttliche Mächte betroffen und dadurch deren Reaktionen (eben die ,Folgen') herausgefordert werden 60 . Scharf werden anschließend die Konsequenzen einander gegenübergestellt, die den Menschen aus der anstehenden Prozeß und zeige ihm drohend (Eisernes Zeitalter), was er mit einem Meineid auslösen werde. Der Ainos sei dann das „Komplement zur Ansprache an den Bruder" im Mythos und deshalb ausdrücklich an die Könige gerichtet. 59 Deutlich abgesetzt von den Anrufen der Vorbereitung: dort findet sich Name mit Attribut: 434, 485,494 oder φίλον τέκος: 437, 444; vgl. 601. 60 Vgl. Becker (S. 44 Anm. 43) 180: sie sind „der versinnlichte Ausdruck für die denkerisch erfaßten Mächte, die im Geschehen wirken". Dies gilt gerade aber auch für die Litai-Allegorie im J (anders Becker, 179 Anm. 70), allerdings vom Blickpunkt der Litai aus, die ja überhaupt erst nach geschehener Ate wirksam werden können.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Behandlung dieser Mächte erwachsen: werden Litai bzw. Dike geachtet, folgen Segen und Beistand, werden sie dagegen verletzt, Ate und Vernichtung (J 508-12; Erg. 225-47)61. Das Maß der Übereinstimmung in diesem ersten Teil der Parainese ist also überraschend hoch, auch wenn Unterschiede im einzelnen bemerkenswert bleiben. So ist hier einmal die Reaktion der göttlichen Mächte auf ihre Mißhandlung unterschiedlich dargestellt: die abgewiesenen Bitten begeben sich zu Zeus und flehen diesen an, daß ihren Mißachter nun seinerseits Ate begleiten solle, damit er Schaden erleide und büße (J 510-12). Horkos und Dike dagegen reagieren an dieser Stelle auf ihre Verletzung direkt, ohne Umweg über den Vater Zeus: Horkos hält sogleich - durch das unmittelbare Wirksamwerden der Selbstverfluchungen beim Eidschwur - mit den ungerechten Rechtsentscheiden, wie es heißt,,gleichen Schritt', Dike aber, wenn sie geschleift wird, wohin es den bestechungsgabenfressenden Richtern durch ihre krummen Auslegungen des Rechts beliebt, geht diesen hinterdrein, während sie das Volk und die Gaue der Menschen beklagt, unsichtbar, in Nebel gehüllt, und bringt den Menschen Unheil, die sie vertrieben und nicht recht zugewiesen haben (219-224). Dieser unterschiedliche Ablauf der Vergeltung führt auf eine zweite bedeutsame Abweichung, das Ziel der Vergeltung. Wie die Litai nur für ihren Verletzer Unheil (Ate) erflehen, wendet sich bei Hesiod Horkos ausschließlich gegen die Eidbrüchigen selbst; Dike dagegen trifft, wenn sie ihren Verletzern Böses bringt (223f.), immer auch das ganze Volk mit, weshalb sie es bereits auf dem Weg zur Vergeltung ,beklagt' (222)62. Dieser Unterschied zwischen individueller und genereller Betroffenheit oder Haftung gilt nun nicht nur für die Bestrafung, sondern auch für die 61

Zur Form der Gegenüberstellung dieser Konsequenzen, vgl. Diller (S. 13 Anm. 8) 254ff; wesentlich für den parainetischen Charakter dieser Gegenüberstellungen ist die Hervorhebung der Wahlmöglichkeit für den Menschen. - Völlig verkannt scheint mir die parainetische Funktion der Allegorie im J bei Lohmann (S. 96 Anm. 57), wenn er behauptet: „... die Allegorie der Litai (502/12)" sei „eine reine Digression, die den Apell an Achill zwar bildhafter macht, streng genommen, aber entbehrlich wäre und sicher nicht vermißt würde, hätte der Dichter auf sie verzichtet" (267). Entsprechend abwegig erscheinen mir die Konsequenzen, die er aus dieser These zieht, nämlich hinsichtlich der teilweisen Priorität der Nestorrede aus dem Λ vor der Phoinixrede und hinsichtlich der Abfassung der Phoinixrede, die „in 2 Etappen ausgearbeitet" sein soll (269f.). 62 Nach West zur Stelle liegt hier kein einheitliches Bild vor: κλαίουσα sei ergänzungslos mit έπεται verbunden, zu dem die Akk. als Richtungsangaben gehörten: ,über Stadt und Gaue hin'. So würde noch das Schleifen der Dike näher ausgeführt und erst im folgenden (223 f.) von der Vergeltung gesprochen; aber der so entstehende Wechsel oder Einschnitt bedürfte doch wohl irgendeiner Kennzeichnung, eines neuen Hauptverbs oder wenigstens einer absetzenden Partikel.

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Belohnung (vgl. besonders Erg. 225-47). Der Segen der Dike gilt nicht nur ihren ,Sachwaltern' oder ,Zuweisern' (wie J 508f.), sondern der ganzen Gemeinschaft (227)63. Diese beiden Unterschiede nun, die ganz verschiedene Ursachen haben 64 und entsprechend auch für sich ausgewertet werden müssen, schränken jedoch das oben entwickelte Maß an Übereinstimmung zwischen den beiden Parainesen in struktureller und strategischer Hinsicht nicht ein. Allerdings fällt auf, daß sich diese große Übereinstimmung in dem ersten Teil der Parainese in ihrem zweiten und dritten Teil nicht fortsetzt. In der Ilias erfolgt jetzt nach der grundsätzlichen Ermahnung die Übertragung auf den konkreten Fall: die Achtung der Litai erfordert eine Annahme der Geschenke des Agamemnon und ein Eingehen auf die Bitten der,besten und befreundetsten Männer', die Agamemnons Versöhnungsangebot überbringen (J 519ff.)65. Anstelle dieser Anwendung der allgemeinen Argumentation auf eine konkrete Situation erfolgt bei Hesiod ein Adressatenwechsel - statt Perses werden die Könige angerufen. Der Wechsel ist verbunden mit einem knappen Aufruf an sie, sich auf die im Lande praktizierte Rechtsauslegung bzw. auf die übliche Behandlung der Dike' zu besinnen, und mit einer ausführlichen Begründung für die Dringlichkeit dieser Besinnung. Diese Begründung erfolgt erneut mit Hilfe von Allegorien, und zwar einerseits der Vorstellung von 30000 unsterblichen ,Wächtern des Zeus', die die Rechtsprechung überwachen (249-55), und andererseits einem neuen Bild von Dike (256f.), die jetzt als Tochter des Zeus vorgestellt wird und entsprechend verändert auf Mißhandlungen reagiert (258-62). Dabei ist auffallend, daß dieser Teil der Allegorie im Gegensatz zu der ersten Fassung (220-24)66 nun ganz parallel zu der Litai-Allegorie in der Phoinix-Rede gestaltet ist: Hier wird also auch Dike, wie die Litai, Tochter des Zeus genannt (256), hier wird sie wie jene in einem ganzen Vers zusätzlich in ihrem Wesen vorgestellt (mit drei Attributen genau wie die Litai im J, vgl. J 503: Erg 257), hier werden endlich die Reaktionen der Zeustöchter parallel beschrieben: werden sie mißachtet bzw. verletzt (510: 259), so

63 ,Ειη gut griechischer Gedanke', wie immer wieder mit Hinweis etwa auf den 1. Gesang der Ilias festgestellt wird: vgl. z.B.Kerschensteiner (S. 13 Anm. 11| 176 Anm. 2 oder Kaufmann-Bühler (S. 33 Anm. 13) 267f. M Vgl. unten die Seiten lOOff. und 104ff. 65 Auf keinen Fall darf man wie Lohmann (S. 96 Anm. 57, 252ff.| die Verse 515-523 ausscheiden, wenn man nicht einen massiven Eingriff in die parainetische Struktur der Rede vornehmen will. Hier scheint mir - bei allem Verdienst - die Gefahr der Lohmannschen Untersuchungen zu liegen, daß sie zwar überzeugend die Grundelemente der homerischen Reden herausarbeiten, deren jeweilige Verwendung und strategische Einbindung aber viel zu wenig differenzieren. 6« Vgl. oben S. 98.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

eilen sie zu ihrem Vater (511:259) und führen dort Beschwerde (511:260), damit die Verletzung gebüßt werde (512:260b f.). Die erflehte Sühne soll allerdings auch hier nach der Bitte der Dike nicht allein den Schuldigen treffen (J 512), sondern die ganze Bevölkerung (δήμος: 261) der Gemeinde, der die Verursacher zugehören und vorstehen (260f.). Formal deutet diese Wiederholung der allegorischen Argumentation sozusagen mit einer Nachlieferung der im ersten Teil vermißten Übereinstimmungen mit dem J auf eine Verdoppelung des ersten Teils der homerischen Parainese durch Hesiod. Diese Annahme bestätigt das folgende (265-73), das den zum zweiten Teil der Parainese gehörigen dritten Abschnitt, also die,Konsequenzen', bildet bzw. thematisiert: zunächst droht Hesiod mit dem bekannten Sprichwort (,wer anderen eine Grube gräbt') jedwedem Anschlag auf die Dike, dann fordert er Zeus auf, endlich die verkehrte Rechtssituation in seinem Lande wahrzunehmen, und das heißt, die sühnenden Strafen zu vollstrecken67. Vielleicht läßt nun diese Doppelung einer parainetischen Grundform unter gleichzeitigem Adressatenwechsel noch einmal den Gedanken an eine getrennte Ermahnung, zunächst an Perses, dann an die Könige, und an den aktuellen Anlaß (das anlaufende Rechtsverfahren) aufkommen. Doch der Vergleich mit der Phoinix-Rede schließt ein aktuelles Rechtsverfahren mit Sicherheit aus: die Anwendung auf die konkrete Situation durch Phoinix (J 513 ff. = 2. Teil) ist bei Hesiod gerade durch eine Wiederholung des grundsätzlichen Teils68 ersetzt. Aber auch für eine unterschiedliche Zielrichtung der Ermahnungen69 ergeben sich durch die Analyse der parainetischen Form keine neuen Indizien. Inhaltlich richtet sich nämlich die erste Mahnung in gleicher Weise ganz auf das Handeln der Könige (214ff.; 220ff.): sie schleifen die Dike, sie führen sie durch ihre Entscheide, wohin sie wollen, sie vertreiben sie aus ihren Gefilden und sie weisen sie nicht,gerade' zu (224), die Vergeltung aber trifft mit ihnen auch ihr Land (220)70. Der Wechsel in der äußeren Adressierung gibt Hesiod, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit, die Könige unterschiedlich scharf zu attackieren. Im ersten Teil, der an Perses gerichtet ist, werden (indirekt) den Adligen selbst für Freveltat (2,15 ff.) und Rechtsbeugung (223f.) schlimme Folgen verheißen, im zweiten Teil bleibt die Vergeltung für ihre άτασθαλίαι (261) hinter der Sühne für den ganzen δήμος verborgen. In der Dike-Allegorie 67

Vgl. dazu V. 9 f. und oben S. 43 ff. Dazu ausführlicher unten S. 102 f. 69 Vgl. die Überlegungen anläßlich der Betrachtung der Adressatenwechsel, oben S. 33 ff. 70 Vgl. oben S. 98 f. mit Anm. 62 zu Wests Auffassung. 68

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kehrt sich allerdings dieses Verhältnis fast um ; hier erhält die mit der Ilias übereinstimmende Fassung ihr volles Gewicht offenbar erst dadurch, daß sie direkt an die Könige gerichtet wird. Denn wenn Hesiod dort Dike zur Tochter des Zeus macht (vgl. schon Theog. 901 f.), trifft er damit unmittelbar das Selbstverständnis der Könige. Sofern nämlich Dike nicht nur eine Tochter des Zeus ist 71 , sondern auch von ihm besonders geachtet und überhaupt von allen Göttern geehrt und anerkannt wird (226f.), kommt ,ihr', d.h. den in ihrem ,Wesen' verkörperten Ansprüchen, höchste Geltung und Verpflichtung zu. Alles menschliche Handeln aber, das diese mißachtet oder gar zuschanden macht, setzt sich notwendig in Widerspruch zu Zeus. Dieser Widerspruch ist von so grundsätzlicher Art, daß ihm gegenüber alle Ansprüche ihre Berechtigung verlieren, die aus dem Bewußtsein erwachsen, von Zeus eingesetzt und mit der Richtergewalt belehnt zu sein. Die Autorität und der Schutz des Zeus kommen den Königen demnach nur so lange zu, wie sie seine Tochter achten und deren Herrschaft aufzurichten helfen. Ein Argument gegen die Aufspaltung der Dikeparainese in einen gegen Perses und einen gegen die Könige gerichteten Teil bietet in gewisser Hinsicht auch das abschließende Stück (274-85) der von uns betrachteten Parainese (213-85). Es weicht noch weiter von der in der PhoinixRede gewählten Strategie ab und verwendet jetzt statt dessen, wiederum an Perses adressiert, ein drittes Mal die am Anfang beschriebene Form. Wenn man also den Adressaten der einzelnen Teile nur nach den expliziten Anreden festlegen wollte, müßte man unterstellen, daß Hesiod in seinem Bruder den geeigneten Adressaten für grundsätzliche Ausführungen zur Verbesserung der Rechtssituation sieht, nicht aber die rechtsprechenden Richter. Phoinix setzt im dritten Teil seine große Mahnrede an Achill mit einer Beispiel-Erzählung aus alten Zeiten fort und beschließt diese mit einem eindringlichen Appell zum rechtzeitigen Einlenken (J 600 ff.). Hesiod dagegen beginnt seinen dritten Teil mit einem erneuten Anruf und Appell an den Bruder (274f.), begründet diesen allgemein mit der Wiedergabe des νόμος, den Zeus den Menschen zugeordnet' oder zugewiesen hat, und schließt daran als dritten Abschnitt die Konsequenzen, die dem Einzelnen aus der konkreten Beachtung dieses νόμος vor Gericht erwachsen (280-5). Auch dieser Teil der Parainese weist also die charakteristische Dreiteilung auf, er unterscheidet sich von den beiden vorangegangenen im wesentlichen dadurch, daß sich Hesiod im mittleren Abschnitt

71 Wie etwa auch Aphrodite bei Homer und Artemis, an deren Mißgeschick er j edoch eher mäßige Anteilnahme zeigt.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

nicht der allegorischen Darstellung, sondern einer bildhaften Formulierung zur Verdeutlichung des Wesens und Wirkens der Dike bedient: Zeus gab den Tieren die Ordnung, einander zu jagen und zu fressen, den Menschen aber gab er die Dike. Das Ergebnis des Vergleichs zwischen der Phoinix-Rede und der DikeParainese ist eindeutig: Hesiod hat seine große Parainese an die Könige in auffallender Parallele zum J der Ilias gestaltet, freilich nur den ersten Teil der dortigen Parainese übernommen, dafür aber die diesen bestimmende Grundform dreimal hintereinander verwendet; er ist also Homer nicht darin gefolgt, die grundsätzliche Mahnung auf eine konkrete Situation zu übertragen und vor einer falschen Anwendung des Geforderten zu warnen. Dieses Ergebnis bestätigt zunächst erneut unsere These, daß es Hesiod nicht um eine Beeinflussung eines aktuellen Verfahrens geht. Es bestätigt weiter unsere Vorstellung von den Umständen, unter denen Hesiod seine Mahnungen vorgetragen hat: sie müssen für eine Besinnung und Änderung derart verschlossen gewesen sein, daß es dieses dreifachen Ansturms auf die Grundeinstellung der führenden Schicht seiner Zeit bedurfte, um überhaupt zu Hoffnungen auf einen Anstoß zu berechtigen.

4.2 Die Gestaltungsmittel

der

Umstimmungsparainese

Hesiod hat nun seine Ermahnungen nicht einfach in drei Anläufen wiederholt, sondern diese so gestaltet, daß dabei das zentrale Phänomen, die Dike, aus verschiedenen Perspektiven provozierend ausgeleuchtet wird. Dieses geschieht außer in den allegorischen Argumentationen (den jeweils 2. Abschnitten) vor allem da, wo die,Konsequenzen' entfaltet werden (also in den 3. Abschnitten). 4.2.1 Allegorische Argumentationen In den mittleren Abschnitten seiner Parainese kennzeichnet Hesiod einerseits den gegenwärtigen Zustand der Dike, andererseits ihre letztlich überlegene Macht. Mit der ersten Allegorie (219-24) macht er die Gefahren, die der Dike gegenwärtig drohen, eindrücklich sichtbar. Dieses erreicht Hesiod dadurch, daß er die Behandlung der Dike durch die Richter unüberhörbar an die Behandlung der Nachtigall durch den Habicht anklingen läßt: beide werden mit Gewalt,entführt', die Nachtigall in den Klauen des Habichts (204f.) in die hohen Lüfte (204), die Dike von den bestochenen Richtern geschleift, wohin es diesen in den Sinn kommt (220), und schließlich aus dem Lande getrieben (224); beide sind also dem

4. Die Umstimmungsparainese

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Belieben ihrer Entführer ausgesetzt (207f.: 220), die über ihr Ergehen entscheiden' (209:221). Entsprechend werden beide für zu gering gehalten, sich mit den Überlegenen messen zu dürfen und ihrem eigenen Anspruch Respekt verschaffen zu können (210f.: 224b). Offenkundig dient also die allegorische Argumentation Hesiod dazu, die Brutalität der,Habichtsgesinnung' herauszuheben, mit der die Übergriffe auf das Recht durchgeführt und dessen Austreibung aus dem Lande vollzogen wird. Freilich ist die Dike keine Nachtigall, und so stellt Hesiod neben die Mißhandlungen, denen Dike ausgesetzt ist, das Unheil, das den Menschen aus diesen droht (222ff.). Mit der allegorischen Argumentation im zweiten Teil (249-62) will Hesiod den Nachweis führen, daß Dike die mächtigsten Mittel zur Verfügung stehen, die ihr angetanen Mißhandlungen zu vergelten und zu sühnen. Mit dem Bild von der Tochter, die sich neben ihren Vater Zeus setzt und sich bei ihm über eine Vergewaltigung beklagt, um ihn zur Vollstreckung der Buße zu veranlassen, werden die traditionellen Vorstellungen von der Rechtsaufsicht des Zeus um ein bedeutsames Stück erweitert. Wie das Prooem noch einmal verdeutlicht hat72, herrschte bisher zwischen der Macht des Zeus, die den Ungerechten leicht zurechtbiegt', und dem Einsatz dieser Macht überall da, wo Unrecht geschieht, keine zuverlässige Übereinstimmung 73 . Dieses schien besonders dadurch bedingt, daß Zeus nicht alle Fälle wirklich zur Kenntnis kommen (9f.). Davon darf der Mensch fortan nicht mehr ausgehen, eine ,Chance' kann er sich nicht mehr ausrechnen, denn Zeus erhält nunmehr von jeglicher Beugung des Rechts Kenntnis, sei es durch seine Tochter Dike, sei es durch die 30000 von ihm eingesetzten Wächter (249-54)74. In der,allegorischen' Argumentation des dritten Teiles (276-280) geht es Hesiod um die Bedeutung, die Zeus seiner Tochter Dike für die Welt der Menschen zugewiesen hat: diese ist so grundlegend, daß durch Dike der Lebensraum der Menschen erst eigentlich konstituiert, das heißt von den Bereichen der übrigen Lebewesen (277) und dem in ihnen ohne Ausnahme herrschenden ,Gesetz' (278) abgehoben wird. Entsprechend muß ihr Wesen die Gegenmacht zur Herrschaft des Faustrechts und zur Ordnung der Gemeinschaft nach den Gesetzen der Stärke darstellen. Welch frontalen Angriff diese von Zeus erlassene und durch seine

72

'Vgl. oben S. 41 ff. Das scheint mir der für Hesiod entscheidende Punkt zu sein, nicht umgekehrt (Kaufmann-Bühler (S. 33 Anm. 13) 267). 74 Vgl. die Vorstufe zu dieser Vorstellung etwa in Od. ρ 485-487. 73

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Tochter verkörperte Ordnung auf die Herrenmoral der Adligen darstellt, haben wir oben gekennzeichnet. 4.2.2 Verheißung und Drohung Die dritten Abschnitte der Paraineseteile stellen verheißend und drohend die Folgen heraus, die aus einer Respektierung bzw. Mißachtung der Dike resultieren. Im ersten Teil geht es um die Folgen, die sich aus der Art der Rechtszuweisung für den Zustand der ganzen Gemeinschaft ergeben; im dritten Teil werden die Konsequenzen dargestellt, die für jeden einzelnen, der an einer Gerichtsverhandlung beteiligt ist, aus seinem Verhalten erwachsen. Der mittlere Teil deutet an, welche Folgen sich ergeben müßten, wenn die Vergeltung des Unrechts durch Zeus dauerhaft ausbliebe: „Dann möchte weder ich noch mein Sohn ferner der Gerechte sein..." (270f.). Das Zentrum der Segensverheißungen oder Strafandrohungen liegt zweifellos in der Gegenüberstellung der Zustände, die in den Städten durch die Wahrung oder die Mißachtung des Rechts ausgelöst werden (225-47). Darauf deutet schon der Umfang dieser Partie, durch den die Entsprechung in der Phoinix-Rede um ein vielfaches übertroffen wird, darauf weist vor allem der inhaltliche Unterschied, der zu der entsprechenden Partie im J der Ilias besteht. Während Phoinix die Vor- und Nachteile einander gegenüberstellt, die die Versöhnungsbitten dem Einzelnen je nach seiner Reaktion auf sie bringen, geht es Hesiod um Wohl oder Wehe der ganzen Gemeinschaft 75 , die beide von der Handhabung der Rechtsprechung abhängen. Also nicht dem rechtlichen Verhalten des einzelnen Menschen kommt für das Ergehen der Gemeinschaft die Hauptbedeutung zu, sondern der Art der Rechtsprechung. Entsprechend fällt auch das richterliche Verhalten nicht zuerst und vor allem auf die beteiligten Richter selbst zurück, sondern auf die Gesamtheit der Bevölkerung. Dazu gehört dann auch, daß die Verheißungen eindeutig an die Richterkönige gerichtet sind:,denjenigen blüht die Stadt, die die Rechtsentscheide Fremden und Einheimischen gerade zuweisen und die Bahn des Rechten um keinen Deut verlassen'. Ist diese Bedingung erfüllt, so wird ihnen für sich (vgl. 228: αύτοΐς 230; 232) und die Gemeinschaft umfassender Segen verheißen: Ihre Stadt blüht sowohl in ihren Menschen (227b), der Jugend (228), der Art der Nachkommen (235), als auch in ihren Lebensbedingungen (230 f.), der Arbeit, den Ernten, Vorräten und Festen, kurz sie blüht in allen Bereichen (236), Leid aber (228 f.), Not (230) und Zwang zu Risiko (236f.) sind von ihr ferngehalten. 75

Vgl. oben S. 98 ff. mit Anm. 63.

4. Die Umstimmungsparainese

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Solche Segnungen erinnern unmittelbar an die Zustände des Goldenen Zeitalters, an dessen Beschreibung (109-126) auch einige Wendungen oder Vorstellungen unmittelbar anklingen: so der Gedanke an Feste (231: 115) und den Genuß der Erträge ihrer Felder (έργα νέμονται: 231:119), aber auch die Vorstellung von den reichen Gaben des Ackerlandes (232/37: 117f.) und den Zuständen, die durch und durch gut sind (236: 116f.). Trotz dieser Anklänge bleiben die Unterschiede zum Goldenen Zeitalter jedoch grundlegend76. Die Menschen lebten damals nämlich ,sorgenfreien Sinnes wie die Götter' (112), das heißt konkret: für sie gab es kein drückendes Altern, sie blieben also während ihres Lebens uneingeschränkt im Besitz ihrer Kräfte und Fähigkeiten (114), und sie starben dazu eines sanften Todes, dem kein langes Siechtum vorausging und den keine Schmerzen begleiteten (116). Sie genossen dazu den überreichen Segen der Erde, den diese von selbst, ohne ihr Zutun fortlaufend bereitstellte (118), und so brachten sie ihre Tage hin in ununterbrochener Freude an Festen und Gelagen (115). Von ihnen also kann man im vollen Sinne des Wortes sagen: sie lebten außerhalb aller Anstrengungen, allen Leides und Kummers und aller sonst denkbaren Übel (113/115), was von den Menschen der gerechten' Stadt sicherlich nicht gilt. Gerade dieser Unterschied ist bedeutsam, um das Anliegen Hesiods zu verstehen. Wenn er nämlich der Gerechtigkeit sozusagen ein neues Goldenes Zeitalter verheißen und damit zwar eine überwältigende, aber deshalb auch ferne und utopische Belohnung versprochen hätte77, dann hätte er wohl einer menschlichen ,Ur'-Sehnsucht Gestalt gegeben, aber zur Sinnesänderung und zur Verwirklichung dieser Zustände hätte er gerade nicht aufgerufen, eher noch die fehlende Bereitschaft zu Änderungen entschuldigt. Da aber nun sein Bild der gesegneten Stadt von den Goldenen Zeiten so weit unterschieden ist, muß es Hesiod darum gehen, die Realisierbarkeit dieser Zustände herauszustellen und damit zu ihrer Verwirklichung herauszufordern. Diese Schlußfolgerung scheint allerdings durch die Tatsache wieder eingeschränkt zu werden, daß Hesiods Verheißungen eine 76

Dagegen ζ. B. Fuss (S. 13 Anm. 9) 47 und Anm. 2. Das verkennt auch Neitzel (S. 75 Anm. 127) 57ff. und 79ff. völlig. Das ist offenbar in seinem Verständnis von Vers 231 begründet: „vom Gedeihen umsorgte Felder genießen sie" (S. 61), das er ausführlich rechtfertigt. Aber weder leuchtet der Bezug von θαλίης auf μεμηλότα ein (statt auf ein zu ergänzendes αύτοΐς) noch das inhaltliche Ergebnis: Hesiod würde dann zwei völlig entsprechende Aussagen aneinanderreihen: e V. 231 und 232. Dafür kann jedenfalls die Wiederholung von 232 in 237 (S. 68) keine Rechtfertigung bieten, da die Aussage da eine neue Funktion erhalten hat, nämlich die völlige Freistellung von der Schiffahrt zu begründen. 77 Das ist die Überzeugung von Kerschensteiner (S. 13 Anm. 11) 176.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Reihe idealisierender Züge tragen, wie sie traditionell zu den Zuständen unter idealen Herrschern oder bei idealen Völkern gehören78. Zur Illustration wird hier mit Vorliebe die Passage aus der Odyssee herangezogen79, in der der Bettler Odysseus den einzigartigen Ruhm der Penelope mit dem eines ehrbaren Königs vergleicht, ,der voller Gottesfurcht gute Rechtsverhältnisse hochhält, dem das Land Weizen und Gerste trägt, dem die Bäume schwer unter ihren Früchten lasten, dem die Tiere fortlaufend Nachwuchs gebären, dem das Meer Fische darreicht wegen seiner guten Regierung und unter dem die Völker gedeihen' (i 1 0 7 - 1 1 5 ) .

Die Übereinstimmungen mit Hesiods gerechter' Stadt sind weitreichend und so eindeutig, daß sie nicht einzeln herausgestellt werden müssen. Um so bedeutsamer ist der Unterschied; dieser ist vor allem in der andersgearteten Perspektive der Aussage begründet: bei Hesiod geht es nicht mehr um den Ruhm eines Königs, dessen Gerechtigkeitssinn herausragt und dessen Länder blühen, sondern um die Leistung der Richter, die auf den Zustand der Stadt unmittelbar zurückwirkt. Aus dem weitgehenden Nebeneinander der einzelnen Segenszustände bei Homer 80 ist so ein striktes und durchgehendes Abhängigkeitsverhältnis geworden. Dadurch ist der Eindruck, als könne eine derart günstige und - wie der Vergleich mit Penelopes Ruhm nahelegt - einmalige Konstellation eigentlich nur zufällig eintreten, überwunden; stattdessen werden die Voraussetzungen angegeben, bei deren Erfüllung sich der gesegnete Zustand jederzeit verwirklichen läßt. Entsprechend stehen bei Hesiod nicht der König oder die Könige mit seinen oder ihren Ländern im Zentrum, sondern die Bevölkerung, deren Felder und Herden gesegnet sind und sie vor Hunger und Unheil bewahren. Zu dieser neuen Sichtweise Hesiods, die die strenge Achtung der Dike 7 8 Vgl. dazu besonders B. Gatz, Weltalter, Goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967 (= Spudasmata 16), hier besonders 189ff ; vgl. auch West zu 225-47. 7 9 Etwa Kerschensteiner (S. 13 Anm. 11) 174ff. Ausführlich versucht Neitzel (S. 75 Anm. 127) diese Stelle aus dem Zusammenhang der Odyssee zu deuten; in ihr zeige Odysseus Penelope verdeckt an: „Odysseus ist gekommen und umhegt dich". Zu dieser Art von Interpretation vgl. die Rez. von E. Heitsch, Gymn. 8 3 . 1 9 7 6 . 4 7 4 . - Der OdysseeStelle sollte man die Verheißungen des Demeterhymnus (h. H.30] an die Seite stellen, wo eine bedingungslose Reihung von Verheißungen vorliegt, wenigstens, soweit es das menschliche Verhalten angeht. 8 0 Einen Ansatz zur Begründung bietet immerhin τ 113 f., im Demeterhymnus (h.H. 30) gibt es Entsprechendes nicht. Abwegig Neitzel (S. 75 Anm. 127) 78: „Hesiod schildert uns genau dasselbe, was auch der Odysseedichter meint". Vgl. auch S. 67. - Vgl. zur hier vorliegenden „charakteristischen Umgestaltung... eines Segensliedes" auch KaufmannBühler |S. 33 Anm. 13) 268.

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nicht als Begleitumstand, sondern als unabdingbare Voraussetzung einer gesegneten Zeit erkennt, fügt sich auch die Angabe der Mittel, mit denen eine intakte Rechtssituation solche Zustände herbeiführen kann. Bei Hesiod haben nämlich die von ihm verheißenen Segnungen alle ihren realen Grund in dem Frieden80", den die uneingeschränkte Bewährung der Dike herbeiführt (228). Dieser ist, da Zeus gegen die Stadt des Rechts niemals einen ,schmerzensreichen Krieg verhängt' (228f.), zugleich ein Frieden im Innern wie nach außen. Aus solch umfassendem Frieden erwachsen unmittelbar die Blüte der Jugend (228), da sie von der Axt des Streites wie der „Sichel des Krieges" (vgl. Τ 221 ff.) verschont bleibt, und damit die Blüte der gesamten Bevölkerung, aber auch der Segen der Ernten und Erträge, die weder Raub noch Brandschatzung gefährden. In diesen Zusammenhang scheint mir nun auch eine Angabe zu gehören, die auf den ersten Blick wie ein Relikt aus den idealen Zuständen der Goldenen Zeit aussieht, die Ankündigung nämlich, daß die Eiche dann ,in den Bergen im Wipfel Eicheln, im Stamm Bienen' (232f.) trage81. Es ist über dieses Angebot viel nachgesonnen worden, weil wohl Honig, aber keineswegs Eicheln als erlesene Kostbarkeit angesehen worden sind82. Doch geht es hier offensichtlich gar nicht, wie sonst in den Beschreibungen idealer Zeiten, um Güter, die die,Natur' (Erde) plötzlich von sich aus bietet, während sie sie sonst den Menschen nur unter Arbeit und Anstrengung gewährt, sondern um,wilde' Erträge, die die Erde immer ohne menschliches Zutun gedeihen läßt. Das Hauptgewicht des zweiten Satzes dieser Aussage liegt daher offenbar auf οΰρεσιν (hervorgehoben durch das korrespondierende δέ); es zeigt an, daß den Menschen auch aus den Bergen Erträge zuwachsen, weil diese immer nur im Schutz eines solchen Friedens zugänglich sind83. So ist es also ein doppelter Frieden, der alle Güter zugänglich macht (250f.) und der erst Ruhe und Muße bietet zum Fest (231). Wenn Hesiod hier zum ersten Mal konsequent das Ergehen menschlicher Gemeinschaft von der Verwirklichung der Dike abhängig macht, ist er zweifellos noch ein bedeutendes Stück von der Schärfe und Folgerichtigkeit entfernt, mit denen Solon die sozialen Vorgänge und die Zwangs-

80a

Vgl. auch Neitzel (S. 75 Anm. 127) 61 f. Zum Fortwirken dieser Vorstellung und ihrer Umgestaltung vgl. Kerschensteiner (S. 13 Anm. 11) 176 Anm. 1. Freilich konnte diese Umgestaltung doch wohl nur entstehen, wenn Hesiods Angabe auf dem Hintergrund der Zustände in ,goldenen' Zeiten gesehen wurde. 82 Vgl. West zur Stelle. 83 So verstehe ich im übrigen auch die Angabe in der Odyssee, daß das Meer,Fische darreicht' τ 113 f. 81

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läufigkeit ihres Ablaufs erkannt und beschrieben hat. Das ist von Werner Jaeger zurecht herausgestellt worden 84 . Für Solon hängt das Gedeihen einer Stadt nicht mehr unmittelbar von der Aufrichtung und Achtung der Dike ab, sondern für beides muß überhaupt erst durch die εύνομίη, die gute soziale Ordnung, die Voraussetzung geschaffen werden (frg. 3 (D) 32ff.). Denn sie entzieht den Wurzeln von Unrecht (33), Hochmut (34) und Gewalttätigkeit (37) wirklich den Boden und ermöglicht dadurch, daß alle Dinge in der Gemeinschaft,wohlgeordnet und vollkommen zueinander passend' (V.32) werden. Hesiod setzt im Vergleich zu Solon mit seiner Diagnose auf einer späteren Stufe an, wenn er den Zustand des Ausgleichs wesentlich von dem Handeln der Richter abhängig sieht 85 , und kann entsprechend seine Verheißungen auch direkter auf den Endzustand der zu erreichenden Segnungen ausrichten. Neu und unmittelbar zu Solon führend ist bei Hesiod allerdings die Verheißung, daß der Mensch bzw. die Richter in der Lage sind, einen Zustand zu schaffen, der auch die Anerkennung des Zeus finden, auf j eden Fall von ihm unbeeinträchtigt bleiben (228 f.) wird. Ganz anders ist nun das Gegenbild, die Situation der ,ungerechten' Stadt, bei Hesiod begründet (Erg. 238-247). Dort werden alle Folgen, die die Verletzung der Dike nach sich zieht, ausdrücklich als Strafen und Vergeltungen des Zeus bezeichnet (239,242,245, 247) und insofern von Jaeger zurecht als bloße „Schrecken des Himmels" 86 eingestuft. Hier ist also der Abstand zu Solon wesentlich grundlegender, für den die Folgen der Dike-Verletzung87 nicht nur sämtlich „immanenter Natur" und „soziale Leiden" sind 88 , sondern auch als zwangsläufig aufeinanderfolgende Glieder einer Unheilskette vorgestellt werden 89 . Die Strafen werden bei Hesiod in zwei Formen angedroht: einmal sendet Zeus vom Himmel als schweres Leid ,Hungersnot zugleich und 8 4 Wieweit dabei eine Bindung an traditionelle Vorstellungen oder ein neues Bewußtsein vom segnenden Wirken der Götter eine Rolle spielen, kann hier außer Betracht bleiben. Vgl. jedoch auch unten zur Darstellungsweise im Eisernen Zeitalter, S. 110 ff. 8 5 Dazu unten S. 114 ff. 8 6 W. Jäger, Solons Eunomie, Sb. Preuß. Ak. d. Wiss. Berlin 1926 (jetzt in: Antike Lyrik, hg. v. W. Eisenhut (= ars interpretandi II) Darmstadt 1970. 9 - 3 1 ; danach im folgenden zitiert), hier 24. 8 7 Doch ist zu beachten, daß sich die Verheißungen, die der Eunomie bei Solon und der intakten Dike bei Hesiod gelten, nicht ohne Weiteres vergleichen lassen (Jäger ebd. 24f.); denn Solon hat die Voraussetzungen für den Frieden im Innern im Auge, Hesiod aber sieht diese mit der Dike erfüllt und blickt nun auf deren Konsequenzen für das Wohlergehen der Menschen. 8 8 Jäger ebd. 24. 8 9 Ausführlicher der Verf., Normenwandel in der griechischen Antike von der Aristokratie zur Demokratie, AU 2.1983. 4 5 - 7 0 .

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Seuche'; die Völker kommen um (243), die Frauen aber gebären nicht mehr und die Häuser schwinden dahin (244); ein andermal vernichtet Zeus ein großes Heer dieser ungerechten Menschen, oder er nimmt ihnen die Stadtbefestigung weg oder raubt ihnen ein Geschwader auf See (245-47). Neben der fortlaufenden Hervorhebung, daß diese Strafen von Zeus ausgehen und seinem Ratschluß entsprechen, fällt auf, daß sie offenbar alternativ verstanden sind (245b), zumindest nicht alle in jedem Fall eintreten und somit zwangsläufig aufeinander folgen. Dadurch sind hier nicht einmal Ansätze zu erkennen, daß sich für Hesiod die Strafen aus ihrer Verursachung folgerichtig entwickeln. Die hier vorliegende Vorstellung über den Zusammenhang von Rechtsverletzung und Sühne kann ein Vergleich mit dem vielzitierten Gleichnis vom Sturzregen aus dem 16. Buch der Ilias deutlicher machen. Das Gleichnis ist in diesem Zusammenhang immer wieder herangezogen worden, teils um die Vorbereitung von Hesiods Rechtsdenken aufzuzeigen90, teils um Thesen der Abhängigkeit des einen Dichters vom anderen zu erhärten91. Zeus läßt in dem Gleichnis die Wassermassen losbrechen, weil er über die Rechtsbeugung von Richtern erzürnt ist, die gewalttätig auf dem Marktplatz die Satzungen schief92 ausgelegt haben, und zerstört durch die Überschwemmungen die Feldarbeit der Menschen (Π 392). Hier rächt Zeus also an der ganzen Gemeinschaft die Verletzung seines Auftrages, den er gleichsam durch die Überantwortung der Satzungen an die Könige erteilt hat, und er rächt sie durch ein Naturereignis, das mit der Rechtsverletzung selbst keinen erkennbaren Zusammenhang aufweist. So bleibt für den Menschen unvorhersehbar, welche Art von Strafe jeweils auf die Verletzung des Rechts von Zeus verhängt und folgen wird. Desgleichen bleibt vom Vergehen selbst her im Grunde unverständlich, warum der Frevel einzelner (der adligen Richter) Strafe für alle Bewohner der Gemeinschaft zur Folge hat. 90 Für Wilamowitz (zur Stelle) zeigt sich hier, „wie stark auf Hesiod auch innerlich gewirkt hat, daß er bei Homer einmal ein göttliches Strafgericht fand." Strikt betont die Abhängigkeit Hesiods von diesem Gleichnis auch Schadewaldt (S. 82 Anm. 17) 118, Anm. 1. Vgl. weiter A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern '1957/8. 68 f. (= 21963. 88f.). 91 Wobei das einmalige Auftreten bei Homer schon dazu verführt, es als Indiz für seine Abhängigkeit von Hesiod zu deuten, vgl. Munding (S. 14 Anm. 14) 97 ff., oder einfach als Interpolation auszuscheiden, vgl. V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum, Leipzig 1921.69f.; fortführend Walter Nestle, Odyssee-Interpretationen I, H.77.1942. 65 f. mit Anm. 2. 92 Hier doch wohl prädikativ zu verstehen.

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Bei Hesiod ist dies insofern verständlicher geworden, als die bei ihm angedrohten Strafen sämtlich - wenigstens potentiell - ,immanenter Natur' sind, d. h. sie können auch aus Streit, Hader und Krieg unmittelbar erwachsen. Aber damit ist das Verhältnis von Vergehen und Strafe noch nicht grundsätzlich anders gesehen als in dem homerischen Gleichnis. Denn auch für Hesiod liegt das Schwergewicht der Aussage darauf, daß Zeus es ist, der Strafen bei Rechtsverletzungen (238) verhängt, daß diese sehr schwer (242) sind und daß sie selbst dann alle treffen, wenn sie nur durch einen einzigen verursacht werden (240f.). Dieses Ergebnis ist aus mehreren Gründen überraschend, einmal wegen des gewissen Kontrastes zu der Darstellung der Segnungen in der gerechten' Stadt, obwohl sich dieser auch sonst zwischen der Verheißung von Segen und der Ankündigung von Strafen findet93; dann durch die beschriebene Abweichung von der Phoinix-Rede, wo zwar die Strafe auch von Zeus kommt (J 511 f.), aber der Einzelne genau mit dem Unheil geschlagen wird, dessen Wiedergutmachung er sich verweigert. Überraschend ist dieses Ergebnis jedoch vor allem, weil Hesiod offenbar die Voraussetzungen für ein intaktes Gemeinwesen so genau erkannt hatte, daß er an anderer Stelle, in der Darstellung des Eisernen Zeitalters, die Folgen ihrer Verletzung als zwangsläufige Progression der Zerstörung beschreiben konnte (182-201 )94. 4.3 Der Widerspruch zwischen den .Verheißungen'in der Umstimmungsparainese und denen für das Eiserne Zeitalter Das Unheil und die bösen Folgen, die dem eisernen Geschlecht am Ende des Weltalter-Mythos verheißen werden, entwickeln sich nämlich gerade ohne Zutun des Zeus oder anderer Götter95 und breiten sich einer zwangsläufigen Gesetzmäßigkeit folgend aus. Ausgangspunkt ist eine Entwicklung im privaten Bereich, die zur völligen Aufhebung der natürlichen (verwandtschaftlichen) und freundschaftlichen Bindungen führt und in einer frühzeitigen Entehrung und Verstoßung der Eltern gipfelt (182-188). Teilweise parallel zu dieser privaten Entwicklung (189ff.) schwindet die Hochachtung vor Eidestreue, Redlichkeit und Rechtschaffenheit (190f.), und steigt das Ansehen von Frevlern und Verbrechern (191 f.). So gerät die Dike zwangsläufig unter die Herrschaft der Fäuste (192f.), Aidos aber schwindet aus den Sinnen und geht schließlich ganz verloren. Damit Vgl. Od. τ 109 ff; Ii. J 5 0 8 - 5 1 2 usw. Das wird allgemein übersehen, vgl. Kaufmann-Bühler (S. 33 Anm. 13) 267 f. »5 Vgl. unten S. 114f. 93

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steht der Weg offen für eine weitere Verkehrung gesellschaftlicher Ordnung, wo der Gemeine den Edlen schädigt durch falsche Aussagen und unberechtigte Ansprüche, die er noch dazu mit einem Eid bekräftigt (193f.). Ist dieser ,Damm' erst einmal gebrochen, führt die Entwicklung zwangsläufig weiter zur allgemeinen Ausbreitung von Mißgunst und Neid, die von schrecklichem Aufruhr (196a),,Freude am Bösen und Haß, der die Blicke verzerrt und entstellt' (195 f.), begleitet ist. Auf dieser Stufe der Entwicklung (και τότε 197) machen sich ,Aidos und Nemesis'unsichtbar und verlassen die Menschen; dann sind auch die letzten Reste der Achtung vor den Mitmenschen und der Empörung über unerhörte Handlungsweisen verloren gegangen. Die Folgen sind eindeutig: gegen das Gemeine, Zerstörerische, Gewalttätige gibt es keine Abwehrkräfte und keinen Schutz mehr, das Leben der Menschen aber beherrschen nur noch Leid und Schmerz (200f.). Es ist viel zu wenig beachtet worden, wie nahe Hesiod hier der Vorstellungsweise des Solon kommt und daß entsprechend der eigentliche Vergleichspunkt für die Folgen schwerer Verstöße gegen die Dike in einer Gemeinschaft (bzw. gegen εύνομίη) zwischen Hesiod und Solon hier zu suchen ist. Dabei zeigt sich dann, daß die bei Solon genannten Folgen der Verletzung der Dike: „Parteihader, Versammlungen, die den Haß schüren und die Stadt zerrütten, Tyrannis, Schuldsklaverei, Mithineinziehen auch des friedliebenden Bürgers . . . in den Strudel des öffentlichen Unglücks" zwar konsequenter und differenzierter „soziale Leiden" bezeichnen 96 , aber im ganzen eine sehr ähnliche Verlaufsform des Unheils aufzeigen. Auf jeden Fall werden beide Male Ereignisse geschildert, die in Gang kommen, wenn die Voraussetzungen für die Dike aufgelöst sind. Entsprechend werden dadurch der innere Zusammenhang der Konsequenzen erkennbar und der Grund für die Betroffenheit aller Bürger verständlich. Diese Ähnlichkeit verstärkt noch die Frage, wie es bei Hesiod überhaupt zu einem Nebeneinander derartig unterschiedlicher Erklärungsund Darstellungsweisen der Vergeltungen für Rechtsverletzungen kommen konnte. Einen Anhaltspunkt für die Lösung dieses Problems bieten die Strafen, die nach Hesiod die,ungerechte' Stadttreffen (238 ff.). Bei jeder einzelnen Strafe wird nämlich betont, daß es Zeus selbst ist, der sie verhängt, der mit ihnen sühnend auf das Unrecht reagiert und der durch sie die gesamte Bevölkerung heimsucht. Daher können die einzelnen Strafen zwar als immanente Folgen eines aus Unrecht resultierenden Streits und Krieges verstanden werden, sind aber offensichtlich von Hesiod selbst nicht aus

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Jäger (S. 16 Anm. 86) 24f.

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diesen Gründen angeführt und auch im ganzen nicht mit Rücksicht auf einen folgerichtigen Zusammenhang angeordnet worden. Infolgedessen muß es Hesiod in der Dike-Parainese ganz allein um das Handeln des Zeus gehen, um die Zuverlässigkeit seines Eingreifens und die Strenge seiner Vergeltung. Dieses Ergebnis stimmt zu den Beobachtungen, die wir an den mittleren Abschnitten der Parainese, der sogenannten allegorischen Argumentation, gemacht haben. Dort wurde einmal die Information des Zeus über jedes Unrecht garantiert', und zum anderen dessen Bestrafung als Antwort auf die Beschwerde seiner Tochter Dike mit Sicherheit in Aussicht gestellt97. Wenn die ausnahmslose Vergeltung von Unrecht durch Zeus so nachdrücklich abgesichert werden muß, dann enthüllt Hesiod dadurch seine Überzeugung, daß es zur Aufrichtung des Rechts in seiner Zeit zunächst einmal eines Anwaltes bedürfte, der in der Lage wäre, das Recht gegen seine menschlichen,Anwälte' in Schutz zu nehmen: sollte also die Rechtspraxis der Mächtigen gebrochen werden, mußten sie auf einen Mächtigeren stoßen98, der sie zu Zurückhaltung und Achtung seiner Ansprüche veranlassen konnte 99 . Wie Kalchas, der den Grund für die im Heer wütende Pest aufdecken soll, sogar als Seher nur dadurch vor der Rache des schuldigen Königs Agamemnon geschützt werden kann, daß ein anderer Mächtiger (Achill) ihm seinen Schutz zusichert (A 74ff.), so können nach Hesiods Meinung die Schwächeren vor dem Zugriff der Mächtigen (der adligen Richter) nur noch durch den Einspruch des Zeus selbst geschützt werden; diesen sucht der Dichter durch die Hinweise auf die göttliche Tochter Dike, auf den νόμος des Zeus und die Realität seiner Strafen zur Geltung zu bringen.

97 Doch kommt Dike hier sicher nicht die Funktion einer ,Mittlerin' zu wie den Heiligen nach den Vorstellungen der griechischen Schafhirten, Walcot (S. 13 Anm. 8) 109. Ihre Funktion ist offensichtlich viel ,objektiver' und zwangsläufiger und wird gerade völlig unabhängig vom Menschen ausgelöst. Auch ist sie keine Vermittlerin von menschlichen Anliegen bei Zeus. 98 Walcot möchte auch Hesiods Einstellung zu Zeus nach der heutigen Vorstellung der Sarakatsani zu Gott deuten, ebd. 108ff.: „Zeus has his two aspects, being a god of mercy and a god of revenge; the intermediaries are his daughter Dike, Nemesis... and Aidos . . . the equivalent... of the saints of modern Greece." Ob die Vergleichbarkeit zutreffend ist oder überhaupt in dieser allgemeinen Fassung noch etwas austrägt, ist mir zweifelhaft. 99 Kaufmann-Bühler (S. 33 Anm. 13) siehtden Abstand zwischen Odyssee und Hesiod zu grundsätzlich (279): „So gilt für die Tisis des Epos wie für jeden Streit und Kampf des Epos: der Schwache muß sich fügen. Die Distanz zu Hesiod läßt sich deutlich fassen." Diese Distanz kann in dem gemeinten Umfang also allenfalls Proklamation und Anspruch, nicht aber auch die Realität betreffen. Vgl. außerdem die differenzierte Lösung des Zeus für den Streit zwischen den Hinterbliebenen der Freier und Odysseus und seinem Sohn: ω 48Iff.; dabei sei hier von dem ,Alter' dieser Stelle abgesehen.

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Gerade das Recht des Stärkeren also und das Vorrecht des Edleren, dem sich die Adligen ganz verpflichtet fühlen, fordert die Demonstration der göttlichen Überlegenheit und der Unabdingbarkeit ihrer Forderungen heraus. Diese Absicht macht verständlich, daß bei der Darstellung der Folgen für die ungerechte Stadt der,weithinblickende Zeus', der ,KronosSohn', der ,Olympier' „in seinen einsichtigen Ratschlüssen" immer wieder als Urheber der Strafen herausgestellt wird, und zu dieser Absicht paßt auch die Entschiedenheit, mit der das Eintreffen der Strafen und ihrer gewaltigen Auswirkungen angesagt werden100. Wenn nun verheißen wird, daß diese Segnungen und ebenso die Strafen und Verheerungen nicht ohne Ursache oder nach undurchdringlichem göttlichem Ratschluß, sondern als Folge des menschlichen Verhaltens eintreten, dann wirken diese Ankündigungen sicher nicht nur auf die Könige warnend. Vielmehr eröffnen sie auch dem Volk die Ursachen seiner katastrophalen Verhältnisse und rufen es dadurch zu Besinnung und Gegenwehr auf. Hesiod verharrt hier einerseits gewiß in der traditionellen Anschauung, daß das Ergehen des Volkes ganz von dem Verhalten seines Führers abhängt, wie die Neugier und erst recht die Geschenkegier des Odysseus (i 228ff.) seine Gefährten der Brutalität des Kyklopen ausliefert oder Agamemnons Eigennutz und Geltungssucht wie auch der Ehrgeiz des Achill ,unendlich viele Seelen der Achaier in den Hades' treibt. Andererseits verändert Hesiod diese Abhängigkeit hier grundsätzlich, wenn er sie ganz auf das Verhalten der Könige Dike gegenüber beschränkt. Denn dieses Verhalten meint nicht generell ihr Recht- oder Unrechttun, sondern konkret ihr Verhalten bei der Rechtsprechung: Damit eröffnet Hesiod dem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft bisher ungekannte Möglichkeiten der Einflußnahme auf das ,herrscherliche' Verhalten, sofern er sich nämlich aller unlauteren Mittel enthält oder aber überhaupt nicht erst Anlaß zu Gerichtsverhandlungen gibt, und bürdet ihm zugleich einen Teil der Verantwortung für den Zustand der Gemeinschaft mit auf. 100

Einen vorzüglichen Einblick in die Zustände, gegen die sich hier Hesiod zur Wehr zu setzen sucht, gibt Kaufmann-Bühler, ebd. 274 ff. Allerdings sind bei ihm Verständnis und Umstände der Tisis im späteren Epos wohl ein wenig einseitig gesehen, wenn er die Rache ausschließlich vom Einzelnen und seiner Macht abhängen sieht (274ff). Sühne und Strafe vollzögen die Götter nur, wo ihre Bereiche (z.B. im Gastrecht) unmittelbar betroffen seien (279ff.). Anderer Ansicht ist hier F. Solmsen, Hesiod und Aeschylos, New York 1949, besonders 94 Anm. 79, und die von ihm angeführten Stellen sind nicht wirklich entkräftet: vgl. nur ξ 82 ff., (wobei die Furcht, die die Seeräuber befällt, natürlich der Furcht des Odysseus bei den Kikonen entspricht 139 ff.) φ 413; ψ 63 ff. u. a. Auf jeden Fall bleibt zu bedenken, daß das Aigisth-Motiv nicht auf den ersten Gesang beschränkt ist und daß schon der Beistand der Götter den Charakter eines ,Urteils' oder einer ,moralischen' Stellungnahme hat.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Die strenge Wache des Zeus über das Recht wirft nun allerdings beim Blick auf das Eiserne Zeitalter' im Weltalter-Mythos neue Fragen auf: wie kann es überhaupt zu dem dort angekündigten Niedergang kommen, wenn Zeus doch jede Rechtsbeugung unnachsichtig straft, aber auch jede Verletzung seiner ,Grundgebote' streng verfolgt (320ff.; besonders 327-41)? Verhindert denn diese Strenge des Zeus nicht, daß sich das Unrecht derartig ausbreitet? Hier scheinen die Interpreten Recht zu bekommen, die bei Hesiod große Abstriche hinsichtlich der Stringenz seiner Darstellung machen wollen101; denn eine,sinnvolle Gesamtaussage' will sich hier auch nicht hinter nur vordergründigen' Widersprüchen 102 ausmachen lassen, da sich zwei Entwicklungsformen von Unrecht gegenüberstehen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: nach der einen Vorstellung zeugt das Unrecht immer wieder neues größeres Unrecht, bis es kein Recht mehr gibt, nach der anderen Vorstellung wird j edes Unrecht durch Strafe und in deren Gefolge durch Not, Elend und Leid ausgeglichen, so daß neues,Recht' ermöglicht wird. Man darf allerdings nicht übersehen, daß auch im Eisernen Zeitalter die Reaktion der Götter zunächst nicht ausbleibt (176 ff.) und daß sie die Menschen offenbar solange mit Vergeltung heimsuchen (174-78), bis der Niedergang eine bestimmte Schwelle überschritten hat und unaufhaltsam wird. Diese Schwelle ist anscheinend mit der Auflösung der,Grundgebote des Zeus'103, die die zwischenmenschlichen Beziehungen im außergerichtlichen Bereich festlegen, markiert (184b): Vater und Kinder, Gastfreunde, Gefährten und Geschwister werden dann keinerlei Verpflichtung mehr zu Solidarität oder Rücksicht aufeinander spüren (182-88), und das bedeutet, daß sie das Wissen um die Forderungen der Götter und um die Strafen, die auf ihrer Verletzung stehen, verloren haben (187). Die zunehmende Verwilderung der Rechtsverhältnisse führt also zur Auflösung der natürlichen' Bindungen, mit der die völlige Durchsetzung des Faustrechts einhergeht. Diese Entwicklung wird dann zwangsläufig von der einzelnen Gemeinschaft auf andere überspringen und vor allem deren Auseinandersetzung untereinander bestimmen (189). Hesiod betrachtet demnach die Entwicklung des Rechts auf zweierlei Ebenen. Auszugehen ist von der,Ordnung', die Zeus den Menschen zugewiesen hat (276ff.), als oberstem Prinzip: diese Ordnung wird vor allem durch seine ιοί vgl. v o n Fritz ($. 13 Anm. 11) 37 ff., bes. 43 f. oder B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 41975. 53f.: Hesiod sei „kein systematischer Denker". 102 v. Fritz ebd. 45-47; vgl. auch Verdenius (S. 13 Anm. 11) besonders 126 ff. 103 Diese werden vor dem Bauernkalender Perses noch einmal als unerläßliche Maßstäbe für die αιδώς auch des Armen vor Augen geführt (327ff.).

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Tochter Dike verkörpert, der hier bedeutsamerweise auch das ,Recht' der ξεΐνοι (225) unterstellt ist, aber sie reicht durch die ,Grundforderungen' des Zeus noch über den Herrschaftsbereich der Dike hinaus. Auf der ersten Ebene werden Verletzungen dieser Ordnung jeweils streng gesühnt, um deren Geltung ganz wiederherzustellen. Dabei ist zwar auch jeder einzeln, Gemeiner wie Edler, von Vergeltung bedroht, aber in der Hauptsache sind alle dadurch mitbetroffen, daß das Ergehen der ganzen Gemeinschaft von der Achtung der Dike bzw. dem Grad der Verwirklichung der Ordnung abhängt104. Auf der zweiten Ebene geht es nicht mehr um einzelne Verstöße oder Verbrechen, auch nicht mehr um einzelne Gemeinschaften, sondern um die allgemeine Mißachtung der ,Grundforderungen' und parallel dazu um die Zerstörung der Dike und damit um die Auflösung der zeusgewährten Ordnung überhaupt (197-200). Diese Auflösung führt entsprechend nicht mehr zu Einzelkorrekturen durch Zeus, sondern zu einer ,Generalbereinigung' durch ihn: das (einst menschliche) Geschlecht wird von Zeus beseitigt und durch ein neues Menschengeschlecht ersetzt werden (180f.). Diese zwei Ebenen der Rechtszustände schließen also einander nicht aus, sondern stellen sogar zwei zueinander gehörende Stadien der Entwicklung dar. Sie spiegeln den tiefen Einblick des Hesiod in das Wesen der Dike: auf der einen Seite sieht er die Auswirkung jedes einzelnen Unrechts auf den Zusammenhalt und die Ordnung des Ganzen und die Notwendigkeit seiner angemessenen Sühnung, um die Störung des Gleichgewichtes wieder aufzuheben. Auf der anderen Seite erkennt er die begrenzte Korrigierbarkeit oder mangelnde Eindämmbarkeit des Unrechts, wenn erst einmal die Bereitschaft zu Rücksicht und gegenseitiger Achtung aufgehoben sind. Dieser Einblick in den Zusammenhang der hesiodschen Argumentation macht nun auch deren durch und durch parainetischen Charakter ganz sichtbar. Hesiod führt seine Warnung vor Gewalt und Unrecht über die Androhung von speziellen Formen der Sühne und Vergeltung für den einzelnen wie die Gemeinschaft weit hinaus. Denn die von Zeus zu erwartenden Strafen suchen zwar eine Gemeinschaft ganz entsetzlich heim, aber sie rauben ihr nicht die Aussicht auf eine gesegnetere Zukunft, im Gegenteil, sie wecken sogar die Zuversicht, daß Not und Elend nur Durchgangsstufen zu besseren Zeiten sind. Mit dem Anbruch des letzten Stadiums des Eisernen Zeitalters aber stehen die Menschen vor einer 104 Nur für diesen Bereich stimmt also ganz, was Kaufmann-Bühler (S. 33 Anm. 13) für Hesiod allgemein feststellt (2,68f.): „Wichtig ist, daß die Strafe in jedem Falle auf ein bewußtes Eingreifen der göttlichen Macht zurückgeführt wird. Zeus nimmt dem geschädigten Menschen gewissermaßen die Rache ab."

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III. Die zentralen Formen der Parainese

ganz und gar düsteren Zukunft, hinter der es für sie keine Hoffnung mehr gibt105. Nun weist zwar das unterschiedliche Tempus, das in den beiden Abschnitten (182-201; 225-47) verwendet wird, daraufhin, daß bisher erst, wie immer schon, die Ereignisfolge auf der ersten Ebene in Kraft und wirksam ist (Tempus: Gnomischer Aorist) und die Entwicklung auf der zweiten Ebene noch in der Zukunft liegt (Tempus: Futur); aber Hesiod macht durch die anschließende Beschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse in seinem Ainos (202-12) unmißverständlich deutlich, daß der Anbruch der letzten Zeit ganz unmittelbar bevorsteht. Ja, die ausstehende Sühne für das Unrecht, das Hesiod von seinem Bruder (184!) zugefügt worden ist und durch die Richter nicht beglichen wurde, läßt die bange Befürchtung aufkommen, daß Zeus bereits mit dem Eingriff in den Ablauf der menschlichen Ereignisse zur Wiederherstellung des Rechts zögere. So machen erst die beiden zunächst unvereinbar erscheinenden Verheißungen zusammen deutlich, an welchem Punkt sich die gegenwärtige Situation befindet. Es steht sozusagen auf des Messers Schneide, ob die Menschen auf den Weg des Rechtsausgleichs zurückfinden und sich die Verheißungen der gerechten Stadt erhalten oder ob sie dem Bann der Rechtsauflösung verfallen und unaufhaltsam ihrer Gesamtvernichtung entgegengehen. Das menschliche Geschlecht steht für Hesiod also ganz ähnlich wie für Solon gar nicht vor einem Vernichtungsplan der Götter oder des Zeus, sondern vor einer eigenen Entscheidung über seine Zukunft. Die Entscheidung für eine bessere Zukunft aber setzt eine Einfügung der Habichte in die Ordnung des Zeus bzw. eine Überwindung des Rechts des Stärkeren voraus. Nun scheinen allerdings die Entwicklungen in den einzelnen Weltaltern für eine derartige Entscheidung keinen Spielraum zu lassen, da sie ganz entsprechend den von Zeus bei der Schaffung des jeweiligen Geschlechts gemachten Vorgaben verlaufen. So kündigt Hesiod auch für das Eiserne Geschlecht mit Bestimmtheit an, daß Zeus es vernichten wird (180), und gibt dafür auch einen Zeitpunkt an: ,Wenn die Menschen schon mit grauen Schläfen geboren werden'. Diese Angabe ist immer wieder als - allerdings von Hesiod entstellte - Entsprechung zur Situation

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Alle Gedanken an einen zyklischen Ablauf der Weltalter sind bei Hesiod sicher strikt fernzuhalten, jedenfalls ist die Annahme, auf das Eiserne Zeitalter folge vielleicht wieder ein Goldenes (so Heitsch in seinem Kommentar zu Xenophanes, Die Fragmente, München-Zürich 1983.137) für Hesiod und sein Geschlecht völlig irrelevant, da diese Entwicklung für sie keinerlei Hoffnung bedeuten kann. Zur Stützung dieser Annahme kann auch V. 174 f. nicht ins Feld geführt werden: so E. R. Dodds, The Ancient Concepts of Progress, 1973, dt. 1977.11 ff.

4. Die Umstimmungsparainese

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im Silbernen Zeitalter aufgefaßt worden: wie dort die Depravation mit einer überlangen Kindheit und entsprechend langwährender Torheit beginne, so ende sie schließlich mit dem Gegenteil, einem überlangen Alter des Menschen, das schon bei der Geburt begonnen habe. Allerdings sind diese Umstände keineswegs parallel formuliert; während der Mensch des Silbernen Zeitalters mit der Anlage zu hundertjähriger Kindheit und Unmündigkeit offenbar geboren wird bzw. von Anfang an ausgestattet ist (127ff.), wird mit der totalen Vergreisung des Menschen im Eisernen Zeitalter die Entwicklung bezeichnet, die das Geschlecht durchlaufen haben muß, um von Zeus gleichfalls vernichtet zu werden. Wenn man also nicht kurzerhand Vers 180 f. athetiert, findet man den Spielraum, der dem Eisernen Geschlecht eingeräumt ist, ausdrücklich bezeichnet. Denn die,Vergreisung des Menschen' ist, wie die vorausgegangene Interpretation zu zeigen versuchte, nicht festgelegt oder,vorgeschrieben', sondern erst die Folge der Zerstörung der von Zeus gewährten Ordnung. Sieht man genauer hin, so gibt es einen Entscheidungsspielraum nicht nur für das Eiserne Geschlecht, sondern ebenso für das Silberne (133 ff.); es war jedoch nicht bereit, diesen vorteilhaft zu nutzen, so daß Zeus schließlich eingreifen mußte. Wenn das Eiserne Geschlecht seinen Spielraum nicht bald nutzt und sich weiter gegen die Unterordnung unter die Dike entscheidet, wird die Entscheidung plötzlich irreparabel sein. Angesichts dieser Möglichkeit erhält das Schweigen bzw. die Reaktionslosigkeit des Zeus nun etwas ungeheuer Bedrohendes. Galt beides bisher als Ausdruck seines Willens, der für Menschen immer undurchschaubar bleiben mußte, so wird sein Schweigen jetzt zum Signal der Katastrophe, zum Zeichen des Anbruchs der grausigen, unentrinnbaren Endperiode für das Eiserne Geschlecht106. Zeus wird dann das Eiserne Geschlecht wie die mißratenen vor ihm entweder von der Erde nehmen (13/ff.} oder sich selbst gegenseitig unter die Erde bringen lassen (152ff.), wie es die Menschen des Bronzenen Geschlechts taten, denen „die mit Stöhnen reichverbundenen Werke des Ares und frevelhafte Taten am Herzen lagen" (145 f.).,Namenlos' gingen sie deshalb in die ,modrige Behausung' des ,grausigen Hades' (153f.). Dem Eisernen Geschlecht wird es gewiß nicht besser gehen: das mag zwar für den gemeinen Mann ziemlich bedeutungslos sein, kommt ihm doch ohnehin nichts anderes zu,· aber für den Edlen bedeutet es Verlust von Ruhm und Andenken unter den folgenden Generationen der Menschen, und das heißt für ihn nicht weniger, als das Ziel seines Lebens und 106

Deshalb sind auch alle Spekulationen darüber, daß Hesiod wohl Recht bekommen haben müsse, weil er sonst sein Gedicht auf Zeus nicht hätte schreiben können (vgl. Wilamowitz 133f.), abwegig.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Strebens gänzlich zu verfehlen. So zielt auch dieser Aspekt der WeltalterErzählung warnend in Richtung auf die Adligen: sie verspielen durch ihr Verhalten die Möglichkeiten zu einer Erfüllung ihres Lebens durch eine ruhmvolle Fortexistenz unter den späteren Geschlechtern.

5. Die paiainetische Funktion der „mythologischen Exempla" in der Phoinix-Rede und bei Hesiod Diller hat also zweifellos recht, daß die mythischen Erzählungen in der Ilias und bei Hesiod „parainetisch gemeint" sind 1 0 7 und daß sie grundsätzlich allgemeine Wahrheiten' verdeutlichen sollen. Doch folgt daraus noch nicht notwendig, daß beide Erzählungen in ihrer parainetischen Funktion wirklich vergleichbar sind. Jedenfalls muß zunächst einmal berücksichtigt werden, daß diese Erzählungen keine einander entsprechenden Positionen in den Parainesen haben, zu denen sie gehören. So geht die Weltalter-Erzählung den eigentlichen Ermahnungen voraus, die Meleager-Erzählung aber schließt sich unmittelbar an sie an oder fügt sich sogar in sie ein. Deshalb kann wohl die Meleager-Geschichte ,die allegorisch verdeutlichten Grundsätze' an einem Beispiel aus der Vergangenheit zur Anschauung bringen108,· die Weltalter-Erzählung aber müßte eigentlich in einem anderen Verhältnis zu der ihr erst folgenden allegorischen Argumentation stehen. Doch wesentlicher noch ist der Unterschied, der durch Art und Inhalt der beiden Erzählungen gegeben i s t Während Phoinix von einem einzelnen Ereignis aus der Vergangenheit erzählt, das einen jungen Helden in einer ähnlichen Situation zeigt wie sein Gegenüber, beschreibt Hesiod Leben und Untergang der menschlichen Geschlechter von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Infolgedessen ist der Grad der Übertragbarkeit und unmittelbaren Anwendbarkeit der beiden Erzählungen völlig verschieden. Achill sieht sich einem Helden der bewunderten und für ihn vorbildlichen Vergangenheit gegenüber, dem ähnlich übel mitgespielt worden ist wie ihm. Deshalb könnte er sich mit diesem identifizieren und den Ablauf der erzählten Ereignisse unmittelbar als Anleitung für die Entscheidung verwenden, die in der konkreten Situation von ihm gefordert wird. In dieser Weise hat Hesiod die Weltalter-Erzählung gerade nicht eingesetzt, berichtet sie doch nicht von einzelnen Personen oder von einem konkreten Ereignis, das so oder ähnlich auch Hesiods Gegenüber betroffen hat und deshalb zur unmittel107 Diller (S. 13 Anm. 8) 263; vgl. schon Eva Sachs, Die Meleagererzählung in der Ilias, Phil. 88.1933.24ff., die feststellt, daß die Erzählung argumentiere', we Diller ebd. 258 f.

5. Die parainetische Funktion der „mythologischen Exempla"

119

baren Umsetzung herausfordert, sondern von dem Ergehen ganzer Menschengeschlechter' und dieses in einem zusammenhängenden Überblick vom Anfang bis zur Gegenwart und deren wahrscheinlicher Fortsetzung in der Zukunft. Infolgedessen zielt diese Erzählung nicht auf konkrete Handlungsanleitung durch einen möglichst entsprechenden ,Fall' und seine Folgen, sondern auf Einblick in unabänderliche Entwicklungen oder Ereigniszusammenhänge und dadurch auf eine generelle Veränderung einer herrschenden Einstellung und dementsprechend alles künftigen Verhaltens. Die parainetischen Funktionen der beiden Erzählungen sind also sehr verschieden. Versucht man diese nun konkret zu bestimmen, so zeigt sich zunächst, daß auch die Meleager-Erzählung nicht einfach nur eine,Umsetzung der allgemeinen Wahrheit der Allegorie in ein anschauliches Beispiel' ist109; zwar wird sie in diesem Sinne von Phoinix angekündigt (J 524ff.), nämlich als ein Beispiel für die Bereitschaft der Helden der Vorzeit, Versöhnungsgaben anzunehmen und sich durch Worte umstimmen zu lassen,· aber sie löst diese Ankündigung nicht ein, sondern verdeutlicht stattdessen an dem Verhalten des Meleager, wann das Einlenken seinen Vorteil für den Nachgebenden verloren hat, nämlich dann, wenn ihm gar keine andere Wahl mehr bleibt, ohne sich selbst und das Seine zu gefährden oder sogar zu zerstören. Die Meleager-Erzählung soll also gar nicht zusätzlich noch ein anschauliches Beispiel vortragen, sondern die bisherigen Ermahnungen weiter zuspitzen; sie fordert Achill nicht nur auf, nachzugeben und sich versöhnen zu lassen, sondern dieses sofort zu tun, weil kein Raum mehr für eine weitere oder spätere Versöhnung bleibe. Die Bedeutung der Erzählung von den Weltaltern kann in dieser Richtung nicht gesucht werden, schon weil sie nicht auf Ermahnungen folgt, die sie weiter zuspitzen oder nuancieren könnte. Ihre parainetische Funktion liegt sicher einmal darin, an den Geschehnissen „in den einzelnen Zeitaltern beispielhaft... die Folgen eines Lebens nach den Grundsätzen der Hybris und der Dike"110 zu zeigen. Dabei geht es aber nicht um den Einzelnen, sein Verhalten und sein Ergehen, sondern um das aller Menschen in einer bestimmten Epoche. Wie sie sich - Generation um Generation - zu Frömmigkeit und Gerechtigkeit gestellt haben, so ist das Dasein in ihrer Epoche verlaufen, entsprechend hat sie Ausdehnung und Ende gefunden. Damit steht zwar die Menschheit der jeweiligen Epoche im Zentrum, aber ihr Leben erscheint doch eingebunden in den Willen der Götter und vor allem bestimmt durch die Reaktionen des Zeus auf ihr

109 110

So die These von Diller, ebd. 258 f. Diller ebd. 263.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Handeln. Dadurch demonstriert die Weltalter-Erzählung, besonders an den Geschlechtern der Menschen, die noch in der Erinnerung lebendig sind, auch wie Zeus seit Antritt seiner Herrschaft (128, aber 137ff.) auf Unrecht und Frevel reagiert hat111: Er hat beides unnachsichtig vergolten. Diese Demonstration dient nun sicher der Veranschaulichung einer bedeutsamen Realität oder „Wahrheit", aber nicht in dem Sinne, daß diese Wahrheit immer schon bekannt gewesen oder auch nur zuvor als These formuliert worden wäre. Vielmehr bedient sich Hesiod, um eine neue Weltsicht zu entfalten und zumal deren Gültigkeit zu beglaubigen, des Mythos, an dessen Wahrheitsgehalt zu seiner Zeit sicher noch keinerlei Zweifel bestanden112, was auch die übrige Verwendung des Mythos in seinem Werk belegt. Wie uns die Betrachtung des Prooems noch einmal verdeutlicht hat113, bestand bisher durchaus schon die Vorstellung, daß Zeus alles Unrecht und alle Freveltaten vergelten könne, nur nicht, daß er dieses auch notwendig tue. Ansätze von einer strengen und konsequenten Sühnung der Frevel durch Zeus finden sich verstärkt in der Odyssee. Beliebt ist der Hinweis auf die Worte des Eumaios (ξ 80-92), aber die ganze Freier-Handlung und auch das immer wieder anklingende Atridenmotiv (etwa: α 32ff. ; 293ff. ; γ 194-310; δ 512-37; λ 405-34; ω 93-97) gehören in diesen Zusammenhang. Allerdings bleibt daneben die überkommene Vorstellung, daß die Sühnung des Unrechts in den Willen der Götter gestellt ist, durchaus in Kraft (ζ. Β. β 143 f.; γ 211 ff.; ρ 46 ff.; ρ 475 f.). Der Weltalter-Mythos greift nun nicht einfach diese Ansätze auf und baut sie aus, indem er zeigt, wie konsequent schon in der Vergangenheit alles Unrecht geahndet wurde, sondern die Erzählung eröffnet in dem Handeln des Zeus eine völlig neue Dimension: Seine Vergeltung richtet sich nicht nur gegen den einzelnen Täter, auch nicht allein gegen die Gemeinschaft des Frevlers, sondern sie betrifft schließlich die ganze Menschheit einer Epoche. Auf diese Weise wird durch den Blick auf das Schicksal der früheren Geschlechter, das teilweise (Bronzenes, heroisches Geschlecht) durch die überkommenen Erzählungen noch nachprüfbar ist, zugleich eine beispiellose Rechtfertigung des Göttlichen bzw. des Zeus geleistet: was an Einzelerweisen seiner Überwachung und Vergeltung des Rechts gefehlt haben mag, ist in das Ergehen und Ende des ganzen Geschlechts eingegangen und insofern nicht versäumt oder verlo111 Diller ebd. 261: „Zwischen dem rechtlichen Verhalten der Geschlechter und ihrem endlichen Schicksal besteht eine deutliche Relation." 112 Vgl. etwa H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1968. 68ff., zur Einstellung selbst des Thukydides zum troischen Mythos. »3 Oben S. 45 f.

6. Zusammenfassung

121

ren. Damit aber hat Hesiod die Gerechtigkeit des Zeus gerade auch für jene Zeiten erwiesen, wo sie traditionell im Zwielicht erschien.

6. Zusammenfassung 6.1 Die vier Stufen der hesiodschen Parainese Die Bestimmung der parainetischen Funktion der Weltalter-Erzählung hat zugleich sichtbar werden lassen, über welche Schritte Hesiod den Erfolg seiner Parainese zu erreichen sucht; dabei zeigt sich, daß der Dikebereich dieselbe Abfolge aufweist wie der Arbeitsbereich: 1. Durch eine mythologische Erzählung stellt Hesiod dar, wie die gegenwärtige Welt der Menschen beschaffen ist (42-105; 106-201); durch sie läßt er erkennen, wie diese Beschaffenheit veranlaßt und begründet ist, und durch sie verwirft er jede anderslautende Vorstellung als irreführend und schädlich. Denn er macht auch deutlich, wo das Leben des Menschen enden wird, wenn er diese Lebensbedingungen nicht akzeptiert oder sogar nach deren Veränderung strebt (105; 180 f.). 2. Die derart festgelegte Struktur der Welt verdeutlicht Hesiod weiter durch die Einführung göttlicher Mächte (Erides - Dike), die sie verkörpern und überwachen. 3. Auf der Grundlage dieser doppelten Argumentation ruft er dann die Menschen seiner Zeit zu Besinnung und Umkehr auf. 4. Dabei stellt Hesiod den Menschen eindringlich ihre Möglichkeiten vor Augen, über deren Realisierung sie durch ihr Verhalten selbst zu entscheiden haben (225-47; 287-92).

6.2 Das Ziel der Phoinix-Rede und das Anliegen Hesiods Von diesem Punkt aus soll noch einmal ein Blick auf das Verhältnis der Dikeparainese zur Rede des Phoinix im J der Ilias geworfen werden. Das Ergebnis des vorausliegenden Vergleichs war eindeutig: Hpiod hat sich in seiner Parainese unzweifelhaft an die Phoinix-Rede angeschlossen, freilich nur einen der drei parainetischen Teile übernommen, und zwar den grundsätzlichen, diesen aber dreifach verwendet. Die Bedeutung dieser Anlehnung läßt sich auch daran messen, daß in der Phoinix-Rede keineswegs die einzige Form parainetischen Redens in der Ilias vorliegt, sondern daß sich im Gegenteil dort sogar sehr unterschiedliche Formen

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III. Die zentralen Formen der Parainese

finden lassen, zumal wenn man die verschiedenen Arten der Kampfparainese in die Betrachtung miteinbezieht114. Doch nicht nur aus diesen vielfältigen Formen ragt die Phoinix-Rede als etwas Unvergleichbares heraus, sie ist auch einzigartig unter den Reden, in denen mythologische Exempla (Niobe Ω 599-620, Täuschung des Zeus Τ 95-131) oder allegorische Argumentationen (Ate, Τ 95ff.) verwendet werden. So liegt etwa in Agamemnons Rede im Τ (78-144), wo sogar beide Mittel, Exemplum wie Allegorie, aufgeboten sind, sicher eine ,Umstimmungsrede' vor115. Wenn auch Achill selbst bereits seinen Groll aufgekündigt hat (T 65 ff.) und deshalb nicht mehr umgestimmt zu werden braucht, so zielt Agamemnon mit der Allegorie von der Ate (T 91 -4) und der sich anschließenden mythologischen Erzählung von der Verblendung des Zeus doch weniger auf Achill als auf das Heer, dem er so seine eigene Schuldlosigkeit an dessen Katastrophe erweisen will116. Aber wie anders verläuft dieser Umstimmungsversuch 117 ! Er ist in erster Linie auf Entschuldigung und Selbstrechtfertigung ausgerichtet und geschieht so indirekt, daß zu ihm nicht einmal ein Aufforderungs- bzw. Verbotsteil (ein Rest Τ139), geschweige denn die Konfrontation mit den Konsequenzen des Handelns gehören. Auch die Umstimmungsparainese des Achill im Ω (602ff.), die sich des Niobe-Mythos bedient, hat keine vergleichbare Struktur118. Dort will Achill seinen ,Gast' Priamos zum gemeinsamen Mahl bewegen, bevor dessen Hauptsehnsucht, den Leichnam des Sohnes gesehen und ausge-

114 Zur Kampfparainese allgemein vgl. J. Latacz, Kampfparänese, Kampfdarstellung und Kampfwirklichkeit in der Ilias, bei Kallinos und Tyrtaios, München 1977 (= Zetemata 66). Ich versuche im folgenden eine Reihe verschiedenartiger Kampfparainesen, belegt jeweils mit nur wenigen Beispielen, aufzuführen. Es kann mir dabei nicht um Vollständigkeit gehen, sondern um einen Eindruck von den vorhandenen Möglichkeiten, die Hesiod in den Erga nicht genutzt hat: (a) Aufmunterungsparainese (N 95-124; Β 284-332; Τ 216ff.) ; (b) Aufruf zum Kampf (Π 269-74; Ο 425-8; Ζ 111-5; Λ 286-90) hier liegt eine gewisse Vergleichbarkeit mit Erga 298-302 vor; (c) Widerstandsappell (M 269-76; Ν 232-38); |d) Flehrede als Bitte um Widerstand (O 661-6; Π 492-501); (e) Drohrede (O 347-51); (f) Schimpfrede, gekennzeichnet durch Fragen, Ironie, Schmähvergleiche (O 731-41; Π 538-47; Δ 242-49; Ρ 142-68 u.a.). 115 Jedenfalls sind die beiden Reden nicht durch einen unterschiedlichen Ate-Begriff getrennt, wie Noe (S. 80 Anm. 4) 41 ff. meint, nur weil jeweils andere Aspekte des Ate-Verlaufs im Blick stehen: Agamemnon spricht im Τ von der Ate, die den Versöhnungsbitten vorausgeht, Phoinix vor allem von der nachträglichen Gefährdung des Geschädigten durch sie. 116 Vgl. auch Diller (S. 13 Anm. 8) 254. 117 Vgl. die Ausgangssituation: Τ 78-82. 118 Auch dann nicht, wenn man der Phoinixrede gleich die ganze Partie (Ω 486-618) gegenüberstellt, Noe (S. 80 Anm. 4) 58 ff.

6. Zusammenfassung

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löst erhalten zu haben (Ω 553-558), erfüllt ist. Für diese Aufforderung bedarf es weder einer allegorischen Argumentation noch einer Verheißung guter oder böser Folgen. Ähnlich weisen auch die übrigen Umstimmungsreden, die überwiegend von Nestor119 oder Odysseus vorgetragen werden, von gewissen Ansätzen in einer Odysseus-Rede abgesehen (T 155ff.)120, keine mit der Phoinix-Rede vergleichbaren Strukturen auf. Nicht umsonst ist der große Unterschied zwischen den beiden Umstimmungsreden im J, der des Phoinix und der des Odysseus, schon immer gespürt und die OdysseusRede sogar als,verpatzter' Einstieg beurteilt worden. Tatsächlich schätzt Odysseus dort den Groll des Achill völlig falsch ein; das spiegelt sich formal in der alternativen Gegenüberstellung zweier Umstimmungsargumentationen. Odysseus versucht zunächst über das Geschenkangebot des Agamemnon, dann, unter ausdrücklichem Verzicht auf dieses, Achill dadurch zum Wiedereingriff in die Kämpfe zu bewegen, daß er ihm die Gefährdung des Heeres und der Schiffe (J 229-246) nachdrücklich vor Augen führt, an ihn als,großherzigen Retter' appelliert (J 247-251 ; 301 ff.) und ihm den ruhmvollen Sieg über Hektor in Aussicht stellt (303 ff.). Die Schwäche der Umstimmungsrede des Odysseus zeigt sich unmittelbar in der leidenschaftlichen Absage, die sie bei Achill herausfordert. Auf der von Odysseus vorgeschlagenen Grundlage will er mit den Achaiern überhaupt nichts mehr zu tun haben, sondern lieber in die Heimat und den Reichtum des väterlichen Palastes zurückkehren. Gerade auf dem Hintergrund dieses Umstimmungsversuches durch Odysseus läßt sich nun das Spezifische der Phoinix-Rede gut erkennen121. Soweit dabei seine Parainese auf eine konkrete Situation und eine spezifische Zielrichtung ausgerichtet ist, lassen sich daraus dann auch Rückschlüsse auf Hesiods Rolle und Aufgabenstellung gewinnen, da er ja die Struktur dieser speziellen Parainese übernommen hat. 119

Als Umstimmungsparainese weist die Phoinixrede gerade nicht „nahezu die gleiche Komposition und Thematik" auf „wie die... Nestorrede im 11. Buch", Lohmann (S. 96 Anm. 57) 263ff., fehlen ihr doch gerade die von uns oben S. 96ff. entwickelten spezifischen Elemente; auch der parainetische Einsatz des Exemplum läßt sich nicht wirklich vergleichen. 120 Diese Rede (T 155-83), mit der Odysseus im ersten Teil Achill zur Geduld mahnt und davor warnt, die Truppen ohne Mahlzeit in den Kampf ziehen zu lassen (155-172), weist folgende Übereinstimmungen auf: Verbot (155 f.[/Aufforderung (160), Begründung (157-9), Konsequenzen (162-170), zweite Aufforderung (171f.); ihr fehlen allerdings die allegorische Argumentation und die Mitbetroffenheit des Ermahnten in den Konsequenzen. 121 Ganz anders Noe (S. 80 Anm. 4), nach deren Meinung der Unterschied der beiden Reden in der Stellung zur Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln liegt (39 ff.).

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III. Die zentralen Formen der Parainese

Phoinix versucht also zunächst122, die vehemente Absage des Achill an Agamemnon und seine von Odysseus ausgebreiteten Angebote dadurch aufzufangen, daß er Achills Blick von der Not der Achaier und vor allem dem Verhalten Agamemnons fort und auf ihn selbst zurückzulenken sich bemüht; angesichts der Versöhnungsangebote des Agamemnon gehe es nun um keinen anderen so sehr wie um Achill selbst: jetzt stehe mehr noch als das Wohl der Griechen das des Gegenübers, Achills, auf dem Spiel. Seinen eindringlichen Umstimmungsversuch unternimmt Phoinix also in einer völlig blockierten Situation, in der alles auf Messers Schneide steht; er trägt ihn in voller Solidarität mit dem Gegenüber speziell aus der Position des Älteren vor, des Erfahrenen, der viel erlebt und erblickt hat, und er trägt ihn heran an einen, der sich in sein Recht verrannt hat und das Maß des ihm Zukommenden aus dem Blick verloren hat. In ähnlicher Situation also muß sich Hesiod befunden haben, als er zu den entsprechenden Umstimmungsmitteln griff123. Auch er sieht sich in den Richtern Überlegenen und Mächtigen gegenüber, die sich durch die Einsetzung durch Zeus gesichert, bei ihrem Vorgehen durch ihn legitimiert und zu Schiedsrichtern in den Streitigkeiten der Mitbürger aufgerufen fühlen. Auch er weiß sich ihnen gegenüber in der Position des Erfahrenen, Weiterblickenden (vgl. Iff. und 654ff.). Entsprechend muß also auch sein Ziel sein, ihnen deutlich zu machen, daß es bei der Ausübung der Dike in erster Linie um sie selbst, um ihr Wohl, ihr Gedeihen und ihren Ruhm geht. Das versucht Hesiod in dreifachem Anlauf zu erreichen. Auf das verschiedenartige Kommunikationsverhältnis zwischen Hesiod und den Königen einerseits und Phoinix und Achill andererseits haben wir oben hingewiesen124. Es findet seine besondere Kennzeichnung durch den Vorspann (J 434-95; Erg. 106-201) und den dritten Teil der Parainese. Vielleicht sollte an dieser Stelle wenigstens auf eine Konsequenz des hesiodschen Anliegens hingewiesen werden, die auch in der PhoinixRede gewissermaßen angelegt ist: Die Auseinandersetzung mit dem Adel begünstigt eine Entwicklung in monotheistischer Richtung, bzw. die Ausbildung einer starken Führungsstellung des Zeus. Diese Tendenz ist auch 122 Wenn Lohmann (S. 96 Anm. 57,246 ff.) Phoinix ganz in die Rolle des greisen Vaters, bzw. dessen Stellvertreters sieht, so hat er eine parainetische Absicht des Phoinix zur Realität gemacht und das Verhältnis zwischen beiden nicht unwesendich verändert. 123 Natürlich dürfen die Unterschiede nicht vergessen werden, die wir zumal für den Vorspann, aber auch die Teile 2 und 3 konstatiert haben. Vgl. den folgenden Hinweis. 124 ObenS. 96 f. und 102.

6. Zusammenfassung

125

in der Ilias in Ansätzen zu erkennen, resultiert dort aber eher aus entgegengesetztem Anliegen. Homer zielt offenbar darauf, die Position des Königs zu stärken und darum dessen Anspruch auf Grund seiner Einsetzung durch Zeus bedingungslos zu betonen (vgl. z.B. Β 198ff.). Hesiod geht es zwar auch nicht darum, diesen Anspruch grundsätzlich aufzuheben, aber es liegt ihm daran, ihn unabdingbar den Forderungen einer gerechten und allwissenden Gottesgestalt unterzuordnen, die eine für alle Menschen in gleicher Weise gültige Ordnung aufrichtet und jede Verletzung oder jeden Verstoß gegen sie unnachsichtig straft.

6.3 Die Vorstellung von δίκη bei Hesiod

Was allerdings Hesiod nun mit ,Dike' exakt bezeichnen will und welche Macht er in ihr verkörpert sieht, haben wir bisher allenfalls indirekt geklärt. Jedenfalls hat sich uns eindeutig bisher nur soviel ergeben125, daß Zeus durch sie den grundlegenden Unterschied zur Tierwelt konstituiert und dadurch zugleich ein Bollwerk gegen die Herrschaft der Fäuste bzw. gegen Rechtsansprüche, die sich allein auf Macht und Stärke gründen, aufgerichtet hat126. Andererseits zeigte die Mahnung zur richtigen Form der αιδώς (oben S. 64ff.), daß Diebstahl, Betrug, Frevel an den Eltern oder Fremden nicht notwendig als Verletzungen der δίκη angesehen werden127. Für die konkrete Bestimmung des Wesens der Dike scheint uns zunächst die Überlegung wichtig, daß die Vorstellung von Dike als göttlicher Macht und Tochter des Zeus128 kaum wesentlich von dem Bedeutungsgehalt abweichen kann, der δίκη in den Erga überhaupt zukommt 129 . An125

Vgl. oben S. 101 f. Offenbar geht es aber bei Hesiod nicht einfach um den Gegensatz von Macht oder δίκη (= „law, legal process") als Entscheidungsformen für Streitigkeiten, sondern, wie der Rechtsstreit mit dem Bruder zeigt, um Probleme im Rechtsverfahren selbst. Das übersieht Gargarin (S. 24 Anm. 49) in seiner wertvollen Untersuchung. Entsprechend gilt für ihn alle Rechtsmahnung dem Bruder, nämlich ein „peaceful settlement" ihrer Streitigkeiten zuzulassen |88ff.). 127 Dazu gut Gargarin, ebd. 81. 128 Zur Personifikation' vgl. L. Petersen (S. 29 Anm. 3), die zurecht hervorhebt, daß diese Personifikationen wie Dike erst möglich sind, „weil die Götter gegeben sind, und weil das Personifizierte an ihrer Form und ihrem Wesen teilhat..." (7). 129 Vgl. gut Gargarin (S. 24 Anm. 49) 81. - Berechtigt ist zweifellos die Forderung von Claus (S. 61 Anm. 93) 73f., die Bedeutung von δίκη nicht allein von den Einzelstellen aus zu entwickeln. Doch stützt er seine Überlegungen nach einem Überblick über den Dike-Teil und die richtige Schlußfolgerung, daß es sich um ein Dike-Konzept handle (75), dann doch wieder in der Hauptsache auf eine Stelle: 270-2, die er zudem aus ihrem Bezugsfeld (Eisernes Zeitalter) isoliert. Sicher ist das Gegeneinander von δίκη und 126

126

III. Die zentralen Formen der Parainese

dernfalls würde entweder das göttliche Wesen oder dessen Bezug zur Realität schwer, jedenfalls nicht unmittelbar verständlich. Daher sollte die Bestimmung von Δίκη bei einer Betrachtung des Gebrauchs von δίκη in den Erga überhaupt ansetzen130. Einen ersten Anhaltspunkt bietet bereits die Tatsache, daß δίκη nur in ganz bestimmten Partien der Erga auftritt, nämlich am Anfang (1-40) und in der sogenannten Dikeparainese (108- 284)131. Dadurch wird ein unmittelbarer Bezug von δίκη auf das Handeln der Richter angezeigt und inhaltlich eine Nähe zu Bedeutungen wie ,Urteil, Rechtsverfahren, Rechtsentscheid' oder ähnlichem nahegelegt. Den zweiten Anhaltspunkt bietet die auffallende Verwendung von δίκη außer im Singular auch im Plural. Für den Pluralgebrauch ist eine bestimmte Bedeutung einfacher zu sichern, weil die Pluralformen fast durchgehend mit einer näheren Bestimmung verbunden sind, überwiegend132 mit den Adjektiven: ίθύς oder σκολιός (36; 219; 221; 225; 250; 264; dazu Theog. 86), und außerdem in einem durchsichtigen Kontext stehen wie z.B. 35£:διακρινώμεθα νεΐκος/ίθείησι δίκης... oder 221: σκολιης δέ δίκης κρίνωσι θέμιστας. Beides zusammen sichert für den Plural die Bedeutung: „Rechtsentscheide" oder „Rechtszuweisungen"133. Dabei geht es jedoch nicht notwendig um eine Mehrzahl von Fällen, die entschieden werden, wie 39 deutlich zeigt, sondern der Plural steht auch für die Entscheidung eines einzelnen Verfahrens. Dadurch wird sein eigentlicher Anlaß deutlich, nämlich zu bezeichnen, daß in einem Prozeß immer zwei Rechtszuweisungen erfolgen, eine an jede der beiden streitenden Parteien.,Krumme oder gerade Rechtszuweisungen' enthalten also

άδικώτερος in 272 provozierend (76f.: „incongruous and ironic"), aber die dieser Provokation zugrundeliegende Verkehrung von δίκη tritt nicht erst hier auf, sondern wird seit der Vision des Eisernen Zeitalters in immer neuen Bildern herausgestellt: die Richter als Habichte, Dike geschleift von den Fäusten der Richter, Aidos und Nemesis in Mäntel gehüllt, beim endgültigen Abschied usw., so daß 270-2 für sich die vermeintlichen Ansätze zur Abstraktion nicht rechtfertigen können (vgl. 78 und besonders 83 f.). 130 Richtiger natürlich noch vor den Erga, also bei den homerischen Epen. Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen von Gargarin (S. 24 Anm. 49) 82f., wo auch das etymologische Problem ausgebreitet wird (81 f.). Eine wichtige Ergänzung zu seinen Ausführungen bringt M. W. Dickie, Dike as a moral term in Homer and Hesiod, Cl Ph 73.1978.91-101; er bezieht vor allem die Begriffe αΐσιμοςωκΐ ϋβρις in seine Überlegungen ein und kann so zeigen, daß das ,Moralische' aus dem δίκη-Begriff auch Hesiods nicht völlig ausgeklammert werden darf. 131 Die einzige Ausnahme: V 712. 131 An den übrigen Stellen sind die Plural-Formen mit Verben entsprechender Bedeutung verbunden: 262: παρακλίνωσιν; 263; ιθύνετε. 133 Vgl. Hoffmann (S. 16 Anm. 23) 106f.

6. Zusammenfassung

127

immer schon eine plurale Aussage, die dann auch weiter auf eine Mehrzahl von Fällen ausgedehnt werden kann. Für die Bestimmung der Bedeutung von δίκη im Singular drängt sich so geradezu die Schlußfolgerung auf, daß der Singular den einen Teil der Rechtszuweisung bezeichnet oder auch den der einzelnen Partei zukommenden Rechtsanspruch und seine Zuweisung, wie z.b. Diller δίκη verstehen will134. Aber diese Bedeutungen lassen sich wegen ihrer Festlegung auf einen Teilaspekt des Rechtsverfahrens nur schwer organisch zu einer Gesamtvorstellung verbinden, die zu Recht als göttliches Wesen und Wirken vorgestellt werden kann. Außerdem würden diese Bedeutungen auch zu einer Reihe von Bildern, in denen zentrale Aussagen über die Dike gemacht werden, nicht passen, so etwa zu der Vorstellung: δίκην έξελαυνειν (224), und zwar aus dem ganzen Land, oder δίκην... δικάσσαι (39), τήνδε δίκην πόλις έντός έέργει (269). Doch auch die Überlegung, der Singular könne das ganze Rechtsverfahren gleichsam zusammenfassen und deshalb die reale irdische „Rechtsentscheidung", die menschliche „Justiz"135 bedeuten, erfüllt weder die Forderung nach einer durchgehenden Grundbedeutung an allen Stellen der Erga (vgl. mit notwendig abweichender Bedeutung: 220, 239, 259, 272, 278) noch nach einem bruchlosen Zusammenhang mit der Vorstellung von Δίκη als Tochter des Zeus. Es ist deshalb nicht völlig unverständlich, wenn Wilamowitz fordert136, man müsse „dem archaischen Dichter zugestehen, daß er die Bedeutungsunterschiede nicht beobachtet, die unsere Logik in dem Wort δίκη macht", und dementsprechend bei der Bedeutungsbestimmung vorgeht137: „δίκη, die über die ΰβρις siegt, ist Recht und Gerechtigkeit, in έξελθοϋσα ist es der Rechtshandel". So bekommt das Wort δίκη in den Erga für ihn eine große Bedeutungsbreite, die von ,Prozeß',,Rechtshandel' über,Urteil' bis zu Gerechtigkeit reicht138 und die „die Interpretation" an den Einzelstellen jeweils festzulegen hat. Wie aus der bisherigen Überprüfung einzelner Bedeutungsvorschläge an konkreten Stellen schon deutlich wurde, hat Hesiod δίκη nicht nur als Tochter des Zeus dargestellt, sondern ihr Wirken oder Leiden überhaupt mit höchst eindrucksvollen Metaphern bezeichnet. So spricht er z.B.

134 (S. 13 Anm. 8) 256, vgl. auch Becker (S. 44 Anm. 43) 85 ff., der δίκη, seiner Etymologie entsprechend, als „Weise, Weisung" und dann,Spruch' verstehen will. 135 So z.B. B. Jäger (S. 16 Anm. 86) 22 f.; Munding (S. 14 Anm. 14) 23 Anm. 17. 136 S. 65 ff. ™ Zu 217. 138 Ähnlich Hoffmann (S. 16 Anm. 23) 106.

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III. Die zentralen Formen der Parainese

davon, daß sie ,weint' (222) oder daß sie ,geschleift wird' (220). Gerade diesen Bildern aber liegen Anschauungen zugrunde, die sich mit einigen der von Wilamowitz ins Auge gefaßten Bedeutungen nur schwer verbinden lassen. Deshalb empfiehlt es sich, zunächst einmal die Vorstellungen genauer zu bestimmen, die diese bildlichen Formulierungen hervorrufen. Auf der einen Seite erscheint Δίκη als Person, als Tochter des Zeus und ehrbare Jungfrau, die bei den Göttern des Himmels hohe Ehre und Ansehen genießt (256 f.), die aber bei den Menschen schwere Mißhandlungen erleiden muß: Sie wird geschmäht (258) und geschädigt (258), geschleift (220) und aus dem Lande getrieben (224). Aber sie ist nicht wehrlos; wenn sie auch über ihre Mißhandlung noch so betroffen ist, so folgt sie doch unsichtbar (223a) ihren Verächtern und bringt ihnen Unheil (223b), ja setzt sich, noch eindrucksvoller, zu ihrem Vater Zeus und beklagt sich bei ihm über den Sinn der ungerechten Menschen, um ihn zum Vollzug der Vergeltung zu veranlassen (260ff.). Auf der anderen Seite erscheint δίκη als νόμος, als ,Ordnung', die Zeus den Menschen zugewiesen hat (276) und die das Beste darstellt, was es für sie geben kann (279); sie kann von einer Stadt in ihren Mauern geborgen (269), von Richtern zugewiesen (224), von Zeus strafend verhängt werden, auf sie sollen der Bruder und die Richter hören und nach ihr sich richten (213, 216ff.). Der Überblick über diese Vorstellungsbereiche von Δίκη und δίκη macht unmittelbar deutlich, daß in beiden Fällen keine konkreten Vorgänge der Rechtsprechung wie,Rechtsverfahren, Urteil, Rechtsanspruch, Buße' zugrundeliegen können, sondern nur ein allgemeiner und umfassender Begriff, der sowohl allegorisiert wie abstrakt die gleiche Vorstellung evoziert, etwa eine wie die von Wilamowitz genannten:,Recht' oder /Gerechtigkeit' 139 . Sie können vertrieben, geschleift, geschädigt werden, und sie können sich in einer Stadt befinden, dem Frevel überlegen sein, freilich eignen sich diese Bedeutungen, wie Wilamowitz hervorhebt, nicht für alle δίκη-Stellen; zum Beweis nennt er ές τέλος έξελθοΰσα (218a) 140 . Entscheidender noch ist ein ganz anderer Einwand gegen diese Bedeutungen, den Munding 141 - allerdings ungewollt - vorträgt: „Es liegt in der Notwendigkeit der Sache, daß der passive Rechtsbegriff Hesiods im Grunde außerordentlich abstrakt bleibt. Was Hesiod konkret vorschwebt, kann j a zunächst nichts weiter als eine richterliche Entscheidung sein, die Ansprüche wie die des Perses für ungültig erklären würde...". Worauf die δίκη des Hesiod demnach zielt, wäre eine Auslegung der Satzungen frei

Vgl. auch Petersen (S. 29 Anm. 3) 13f. Vgl. oben S. 127. i « Munding |S. 14 Anm. 14) 23f. 139 140

6. Zusammenfassung

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von jeder Beeinflussung durch Bestechungen oder falsche Eide142. Munding nennt diese, von Hesiod vermeintlich geforderte, Rechtsprechung nicht zufällig „die ideale Rechtsprechung"143, und sie setzte in der Tat ideale Menschen als Richter voraus, die ohne jede Befangenheit die beiderseitigen Ansprüche prüften und abwögen, und dazu noch ideale Streitverhältnisse, in denen die Position des Rechts eindeutig auszumachen wäre und falsche Beglaubigungen durch Eide offen zutage lägen. Dieser Rechtsprechung mag es dann auch möglich sein, Goldene Zeiten für die Menschen herbeizuführen wie in dem genannten Beispiel aus der Odyssee (τ 109ff.) oder bei den dort beschriebenen Randvölkern, freilich unter der Voraussetzung, daß der ideale Herrscher selbst erst von den Göttern den Menschen geschenkt werden müßte. Dieses sind die Implikationen, die das genannte und verbreitete Verständnis von Hesiods δίκη-Forderung enthält. Wenn Hesiod also keine konkreten Bedingungen nennt, die bei einem,geraden Rechtsentscheid' erfüllt sein müssen, bleiben seine Forderungen in der Tat so ,abstrakt', daß sie schwerlich einen Einfluß auf die Wirklichkeit ausüben oder gar Anlaß zur Veränderung der Realitäten geben können. Jedenfalls würde das Urteil über die Gerechtigkeit einer Entscheidung ganz in die außerirdische Sphäre, d. h. in die Aufsicht des Zeus verlagert, so daß das Unrecht außer im Schuldbewußtsein des Einzelnen nur noch in seinen Konsequenzen (Strafen des Zeus) erkennbar wäre. Einen Anhaltspunkt könnte nicht einmal der ρόθος, das ,Protestgemurmel', wenn Dike ,geschleift wird' (220), bieten. Mögliche Konsequenzen der Annahme, daß Hesiod derartig abstrakt und grundsätzlich zur Gerechtigkeit auffordere, kann das Ergebnis von Munding verdeutlichen: für ihn geht es Hesiod weder um den Einfluß auf ein konkretes Rechtsverfahren144 noch auf die allgemeinen Umstände, sondern neben einer vorbeugenden Warnung an den Bruder, „der sich noch streitlustig zeigt"145, in erster Linie um eine literarische Auseinandersetzung mit Homer, dessen Beutestreit er durch die Gestaltung seines Erbstreites, und zumal dessen gerechter Schlichtung, übertreffen wolle. Ein Weg aus diesen Schwierigkeiten läßt sich finden, wenn auch für das Verständnis der δίκη bei Hesiod die Nähe seiner Dikeparainese zur Rede 142

So auch schon Hoffmann (S. 16 Anm. 23) 106. - Vgl. auch Snell (S. 114 Anm. 101) 52: „Das Recht, an das Hesiod glaubt, ist die unerschütterliche Ordnung, die unbedingt gilt und dafür sorgt, daß schließlich der Gute seinen Lohn und der Ungerechte seine Strafe findet." Doch vgl. dagegen auch W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Frankfurt 1978. 107ff. i« Ebd. 12 ff. i« Ebd. 8. i« Ebd. 16.

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des Phoinix im J bedacht wird. Dann muß nämlich auch Dike in ähnlicher Weise wie ihren Schwestern, den Litai, die Funktion zukommen, der Verwirklichung eines Versöhnungs- oder Ausgleichszustandes zu dienen bzw. sogar, wie der Singular-Gebrauch nahelegt, diesen selbst zu verkörpern146. Werden nun bei diesem Ansatz die oben entwickelten Vorstellungen und Schlußfolgerungen147 berücksichtigt, so kann sich meines Erachtens für δίκη nur die Bedeutung ,Rechtsausgleich' ergeben148. Er bezeichnet nämlich sowohl einen Zustand (= das Recht ist ausgeglichen), den die Göttin verkörpert, als auch einen Vorgang (= das Recht wird ausgeglichen), der als Rechtsverfahren das Ziel verfolgt, den Zustand des Ausgleichs wiederherzustellen. Dieser ,Rechtsausgleich' kann nun einmal geschädigt, geschleift, aus dem Lande vertrieben werden, oder aber ,klagen' über erlittenes Unrecht, ,unsichtbar werden' und böse Folgen bringen; dieser Rechtsausgleich kann andererseits in einem öffentlichen Verfahren angestrengt und wiederhergestellt werden, wenn die Richter beiden Seiten nach ,den überkommenen Satzungen' den Ausgleich zuweisen und sich dafür an dem tatsächlich feststellbaren Ungleichgewicht orientieren,· dieser Rechtsausgleich kann schließlich von Zeus selbst vorgenommen werden, wenn δίκη in einer Gemeinschaft oder durch eine Gemeinschaft schwerwiegend gestört worden ist (238 ff.). Die Rechtszuweisungen der Richter aber können ,ίθεΐαι':,gerade', d.h. lotrecht, oder ,σκολιαί':,krumme', d.h. mit,scheelem' (= schiefem) Winkel gemessene sein, wobei die Attribute, die sonst den Kurs eines Schiffes oder den Lauf eines Pferdes bezeichnen, hier die Richtung der Bahn angeben, die von den einzelnen Urteilen aus auf die δίκη zuläuft 149 . Unabhängig von der Herkunft dieser Vorstellung, ist die Nähe der so, als ,Rechtsausgleich', verstandenen Dike zu den homerischen Litai evident, ist doch das Wirken beider Mächte darauf gerichtet, den Vollzug der Rache und die mit Gewalt betriebene Vergeltung einzuschränken. Während allerdings die Litai erst eine Möglichkeit für den Einzelnen darstellen, den Ablauf wechselseitiger Vergeltung und Rache entweder von 146 Gut zeigt Petersen (S. 29 Anm. 3) 8ff., daß die von Zeus gezeugten Mächte wie Eunomie und Dike zu ihm gehören und seine τιμαί darstellen, „daß es Hesiod darauf ankam, (sc: durch sie) Ordnung und Seinsfülle der Zeusherrschaft auszudrücken" (10f.|. 147 Vgl. oben S. 125 ff. we Vgl. Gargarin (S. 24 Anm. 49) 88: „δίκη still operates only in the domain of the legal process." Nach seiner Meinung kommt δίκη sowohl die Bedeutung „legal process, law" als auch „punishment for the violation of this process" zu. 149 Für die Vorstellung von der ,Bahn' verweist Becker (S. 44 Anm. 43) 86 zurecht vor allem auf V.226: παρεκβαίνουσιν. Mit dem ,Ziehen einer Grenzlinie' oder ,eines Trennungsstriches' sieht Gargarin (S. 24 Anm. 49) 82 ff., Verfahren und Beiwort verbunden. Doch dann ist wohl eher an das Bild von dem Zünglein an der Waage zu denken.

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vornherein zu vermeiden oder wenigstens später noch zu unterbrechen, ist Dike gleichsam die Institutionalisierung dieser Möglichkeit als Regelfall150. Bei dieser Bedeutung von δίκη wird nun anschaulich, wieso Gewalt (275) oder Frevel (213) den ;Rechtsausgleich' schädigen, aufheben und aus dem Lande vertreiben können und daß jeder gestörte /Rechtsausgleich' notwendig für die Gemeinschaft schlimme Folgen hat, weil er zur Fortsetzung des Streits oder zur Durchsetzung der verletzten oder auch nur vermeintlich verletzten Ansprüche mit Gewalt führt und so immer mehr Unbeteiligte in seine Verwicklungen hineinzieht151. Durch diese Zusammenhänge werden auch die weiteren Einzelangaben oder -bilder verständlich, nämlich daß die Urteile der ungerechten Richter nicht nur den oder die Einzelnen und sie selbst treffen, sondern die ganze Gemeinschaft, daß deshalb die scheidende Dike die Stadt und die Wohnsitze der Völker beklagt (223) und daß, aufs Ende gesehen, die Wahrung des ,Rechtsausgleichs' dem Erfolg durch ΰβρις überlegen ist (216ff.), selbst wenn nach einer Freveltat zunächst keine Racheakte folgen, weil das erlittene Unrecht das Opfer für einige Zeit zur Ruhe zwingt, bis es seine Kräfte zur Vergeltung wieder erholt hat152. Wenn nun dieses Verständnis von δίκη bei Hesiod überzeugt und wenn weiterhin anerkannt wird, daß es gerade auch an umstrittenen Stellen wie 39 (249, 269) eine sinnvolle Lösung bietet, so bleibt doch das Problem, daß die Aufforderung zum Rechtsausgleich für die Richter ebensowenig konkrete Anweisungen zu enthalten scheint, wie die grundsätzliche Aufforderung, ,gerecht' zu richten. Doch daß die Verpflichtung der Richter zum Rechtsausgleich sehr wohl eine konkrete Forderung an sie stellt, läßt sich dem Prooem der Theogonie und einer schwer verständlichen Angabe bei der Schildbeschreibung Homers (Σ 507f.) entnehmen 153 . Im Prooem der Theogonie 150

Zu Recht stellt etwa A. Steinwenter, Die Streitbeendigung durch Urteil, Schiedsspruch und Vergleich nach griechischem Rechte, München 21971.29f., fest:... „daß die Rechtsprechung jener Epochen, die den Gedichten Homers und Hesiods zugrunde liegen, ihrem Wesen nach nichts andres als Schiedsgerichtsbarkeit gewesen sei." 151 Dazu besonders K. Latte, Der Rechtsgedanke im archaischen Griechentum, A. u. A. 2.1946.66 ff. Das Rechtsverfahren der homerischen Zeit beruht bekanntlich im wesenlichen auf dem Prinzip der Selbsthilfe, vgl. Steinwenter ebd. 3 ff. 152 Vgl. etwa die Situation in Pylos: Λ 685ff. 153 Zu ihrer Diskussion vgl. auch Η. H. Pflüger, Die Gerichtsszene auf dem Schilde des Achilleus, H.77.1942.140-148; Pflügers Ansatz ist durchaus weiterführend, aber für eine überzeugende Lösung muß er noch zu weit über die auf dem Schilde dargestellte Szene hinausgreifen (vgl. etwa seine Vorstellung vom,Versöhnungsmahl', das anschließend noch zu feiern sei, 147f.). - Zur weiteren Diskussion dieser Szene vgl. etwa: G. Gilbert, Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des griechischen Gerichtsverfahrens

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wird nämlich überraschenderweise eine besondere Nähe der Musen zu den Königen herausgestellt. So ist Kalliope ,die vortrefflichste unter den neun Schwestern' (79), begleitet sie doch sogar die ehrbaren Könige (80). Ja, es gilt für die,zeusgenährten Könige', wie sie hier unverändert heißen, allgemein: „Welchem von ihnen die Musen ihre Gunst gewähren..., dem gießen sie lieblichen Seim auf die Zunge und aus dessen Mund strömen sanfteingehende Worte" (81-84). Diese Verheißung mag zunächst nicht besonders verwundern, heißt es doch auch von Nestor (A 247ff.), ,νοη seiner Zunge fließe die Rede süßer als Honig', aber bemerkenswert ist die Herkunft der königlichen Redegabe, stammt sie doch nicht von Zeus, sondern von den Musen154. Herausfallend ist aber vor allem der Anwendungsbereich der Musengabe. In der Ilias erfahren wir etwa durch Phoinix (J 440f.), daß der Adlige sich nicht nur im Kampf zu bewähren habe, sondern auch in der öffentlichen Beratung in den Versammlungen155. Hier aber ist die Anwendung der Musengabe ganz auf die Rechtsprechung bezogen und wirkt sich dort so aus, daß alle Leute auf einen derart begabten König blicken, „wenn er die Satzungen durch gerade Rechtsentscheide auslegt" (84f.). Was aber bestaunen sie? Offenbar, daß er,sogar einen sehr heftigen Streit sogleich auflöst' und daß es ihm dabei ,leicht' gelingt, die ,Leistung von Ausgleichsgaben' auch in die Tat umzusetzen (89)156. Da dieser richterliche Erfolg so allgemein bestaunt wird, muß er etwas Außergewöhnliches darstellen. Nach West liegt das Außergewöhnliche darin, daß der ideale König nicht nur Rechtsstreitigkeiten entscheide „by pronouncing a legally binding decision", sondern daß er darüber hinaus seine Entscheidung rechtfertige und den Unterlegenen noch gütlich zurede157. und des griechischen Rechtes, Leipzig 1896 (= Suppl.Jb.kl.Ph.23.445-536) 458f., R. Bonner - G. Smith, The Administration of Justice from Homer to Aristotle, I. Chicago 1930.30ff.; Steinwenter (S. 131 Anm. 150) 34ff. und 200. '54 Diese Vorstellung erscheint zumindest bei Hesiod zum ersten Mal, vgl. West in seinem Kommentar zur Theogonie (Hesiod, Theogony. Ed. with Prolog, and Comm. Oxford.1966) zu 80ff. (S. 181 f.). 155 Dazu gehört doch wohl auch Od.6 167 ff. 156 Ob Hesiod diese Verherrlichung des ,idealen Richters' einschaltet, weil er seine Theogonie vor ihnen vorträgt (West Theog. S. 40), scheint mir weniger wichtig als die Frage, ob das Lob anerkennenden oder provokativen Charakter hat. Ich nehme das Letztere an und sehe dadurch die beiden Epen nur durch Phasen oder verschiedene Stadien der Auseinandersetzung mit den Königen getrennt, nicht, wie es üblich ist, grundsätzlich, als wäre in der Theogonie Hesiods Welt noch ,in Ordnung'. is? West, Theog. zu 85-86 und 90; vgl. auch Gilbert (S. 131 Anm. 153)460f.:„Gelanges dem Schiedsrichter nicht einen billigen Vergleich zu Stande zu bringen, dem beide Parteien zustimmten, so entschied er, wie er es für recht und billig hielt."

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Demnach läge die besondere Gabe der Musen darin, den König zu einem zwar anerkennenswerten, aber an sich nicht notwendigen Eifer um Versöhnung und beiderseitige Zufriedenheit zu veranlassen. Doch scheint mir die Bezeichnung der Musengabe als Mitvoraussetzung für den großen Erfolg des richtenden Königs deutlich zu machen, daß ihre Leistung sich auf keinen Fall in einer Veranlassung zu der beschriebenen Freundlichkeit erschöpfen kann. Diese Annahme würde lediglich die Aussage von V. 90 berücksichtigen. Der besondere Einfluß der Musen zeigt sich aber gar nicht erst nach der Entscheidung, sondern bei der Entscheidung (86f.): Der musenbegnadete König legt nämlich sogar einen sehr großen Streit sofort kundig bei, weil er zuverlässig oder untrüglich redet. Das aber heißt doch nicht, daß er kraft seiner Autorität (84-5), sondern daß er kraft seiner Rede den großen Streit beilegt. Darum sind auch die Musen bei ihm. Der große Erfolg des Königs ist also die rasche Auflösung selbst eines schweren Streitfalles. Dieses wird erreicht einmal über die Fähigkeit des Königs, angemessene,Werke der Umkehrung' (sc: eines Schadens) rasch zu erkennen, und diese dann den beiden Parteien mit Hilfe der Musengabe so einleuchtend zu vermitteln, daß sein Vorschlag akzeptiert und die Sühne auch geleistet wird158. Wenn aber in diesen Fähigkeiten das Besondere liegt, dann kann das nur heißen, daß das Schiedsverfahren keineswegs selbstverständlich erfolgreich und d. h., beide Seiten zufriedenstellend, abgeschlossen wird. Der Erfolg des Rechtsverfahrens hängt also wesentlich davon ab, daß beide Seiten den vorgeschlagenen Rechtsausgleich annehmbar finden und sich mit ihm auch zufrieden geben159. Diese Einstimmung aber ist notwendig, weil die Richter, wie Latte sehr deutlich herausgestellt hat, „keinerlei Zwangsmittel" zur Verfügung haben, die Vollstreckung ihres Rechtsentscheides auch durchzusetzen. Wenn auch die Streitenden sich vor Eröffnung des Verfahrens durch einen Eid verpflichtet haben, den Rechtsentscheid anzunehmen 160 , so ruht der Spruch des Richters doch „allein auf seinem persönlichen Ansehen...", und so kommt eben doch alles darauf an, daß

158 Erst deren Annahme beendet den Streit, vgl. die Intervention des Odysseus im Τ 171 ff. Und da half offenbar für ,die Unterwerfung unter den Spruch' „die ehrfurchtsvolle Scheu vor dem gerechten König", wie Steinwenter (S. 131 Anm. 150) 32f. meint, wenig. 159 Zum Rechtsverfahren grundlegend weiterhin Bonner-Smith (S. 132 Anm. 153); dazu: Steinwenter ebd. Vgl. jetzt auch die Ausführungen bei Gargarin (S. 24 Anm. 49) 83f. ; sie orientieren sich an den beiden Beispielen aus der Ilias (Ψ 570ff.; Σ 497-508), berücksichtigen aber doch wohl zu wenig, daß die Wahl des ,Schieds-Richters' nicht freigestellt (83), sondern auch nach homerischer Vorstellung fest in die Hoheit der βασιληες gelegt ist: A 237 ff., Β 100 ff., 205 f.; λ 184 ff. !«> Vgl. Latte (S. 131 Anm. 151) 66.

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es ihm gelingt, die Zustimmung und Zufriedenheit beider Seiten durch sein Urteil herbeizuführen. In diesem Zusammenhang ist nun auch der Grund zu suchen, warum bei Homer mitten unter den rechtsprechenden Greisen zwei Talente Goldes liegen: τω δόμεν, δς μετά τοΐσι δίκην ίθυντατα εΐποι (Σ 508) und warum mehrere Lösungen nacheinander vorgetragen werden. Für Latte161 „erhält der unter den Richtern einen Preis, der die Dike am trefflichsten ausspricht". Doch wer entscheidet dieses: Zeus, eine Jury, das Volk? Die Entscheidung kann nur durch die streitenden Parteien selbst gefällt werden: derjenige also erhält den Preis, der den Rechtsausgleich für beide am annehmbarsten - und das ist zugleich am geradesten' - zuweist. Gelingt es aber den Richtern nicht, den Streit wirklich beizulegen, so schwelt oder lodert er weiter und zieht seine Umwelt in Mitleidenschaft162. Dieser Fall wird gerade in oder durch die Erga demonstriert: auch der Streit zwischen Perses und seinem Bruder schwelt weiter (35 ff.) und soll deshalb nach Hesiods Willen sogleich durch,gerade Rechtszuweisungen' beigelegt werden. Zu dieser Art von Gerichtsverfahren ruft er vor allem die Könige mit aller Eindringlichkeit auf und fordert damit von ihnen, ihre Rechtsentscheide an dem beiderseitigen Anspruch auszurichten. Allerdings stellt sich nun die Frage, wieso das Verfahren zwischen den Brüdern überhaupt zu einem Abschluß gekommen ist: wie war es möglich, daß Hesiod das offensichtlich einseitige und durch Bestechung beeinflußte ,Urteil' überhaupt angenommen hat? Hierauf gibt nun die Fabel vom Habicht und der Nachtigall die gewünschte Auskunft. War bisher zwar deutlich, daß die Richter der,Nachtigall' Gewalt antun und zumal androhen, so war eigentlich nicht recht verständlich, warum. Jetzt wird erkennbar, daß es die Macht der Richter ist, die mit Gewaltandrohung und notfalls auch Gewaltanwendung die Annahme des (Verbogenen, weil einseitigen Rechtsausgleiches' erzwingen, aus dem sie selbst den größten Profit ziehen163. So erhalten die Aufforderung an sie (über Perses), sich aller Gewalt zu enthalten (275), und der Vorwurf der άτασθαλίαι (260f.) gegen sie erst ihren eigentlichen Hintergrund: die,Frevel', die σχέτλια έργα (238 ff.) der Richter liegen nicht in einem Verbrechen außerhalb des Rechtsfalles, auch nicht allein in der Verbiegung des Rechts,

161 Latte ebd. 64; vgl. auch Gargarin (S. 24 Anm. 49) 85: wahrscheinlich die Zuschauer'; noch anders, ebenso wenig befriedigend, Gilbert (S. 131 Anm. 153) 458f.: „.. .die Entscheidung darüber h a t . . . der König." Vgl. dazu auch Steinwenter |S. 131 Anm. 150) 34 ff., der dort auch weitere Vorschläge diskutiert. 162 Latte ebd. 66. 163 Vgl. oben S. 30 ff.

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sondern in der Gewaltherrschaft, mit der sie die Annahme ihrer Entscheidungen durchsetzen und durch die sie δίκη als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft unmöglich machen. So aber wirkt ihr Handeln zwangsläufig vor allem auf die Gemeinschaft zurück, weil sie die augenblickliche Annahme ihrer ,Rechtszuweisung' zwar erzwingen können, aber für die Beilegung des Streites auf diese Weise gar nichts bewirkt haben.

Literatur Aufgeführt ist nur die häufiger benutzte und zitierte Literatur. Die Untersuchung wurde im Herbst 1982 abgeschlossen. 1. Für Ausgaben, Kommentare und Ubersetzungen sei grundsätzlich auf die Übersicht bei M. L. West, Hesiod's Works and Days, ed. with Prolegomena and Commentary, Oxford 1978, S. 86ff. und 91 ff. verwiesen. Unserer Untersuchung liegen die Textausgaben von A. Rzach, Hesiodi carmina (ed.mai. 1902 und ed.min. 3 1913 (= 1958)), die Textausgabe bei West in dem genannten Kommentar und die Ausgabe von F. Solmsen, Hesiodi Theogonia, Opera et Dies, Scutum, Fragmenta Selecta (ed. Merkelbach/West) Oxford 2 1983 zugrunde. 2. Weitere Literatur: E. Ahrens, Gnomen in der griechischen Dichtung, Diss. Halle 1937. L. L. Albertsen, Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur, Aarhus 1967. O. Becker, Das Bild des Weges, H-Einzelschr. 4.1937. K. Bielohlawek, Hypotheke und Gnome, Phil.-Suppl.32.H3. 1940. J. Blusch, Form und Inhalt von Hesiods individuellem Denken, Bonn 1970 (Diss. Bonn 1968). L. Bona Quaglia, Gli ,Erga' di Esiodo, Turin 1973. R. Bonner - G. Smith, The Administration of Justice from Homer to Aristotle, I (1930), II (1938), Chicago University Press = New York 2 1968. A. R. Burn, The World of Hesiod, London 1936. C. Buzio, Esiodo nel mondo greco sino alia fine dell' eta classica, Mailand 1938. D. B. Claus, Defining moral terms in Works and Days, TAPhA 107.1977. 73-84. M. Ddtienne, Crise agraire et attitude religieuse chez Hesiode, Collection Latomus LXVIII. Brüssel. 1964. M. W. Dickie, Dike as a moral term in Homer and Hesiod, CI Ph 73.1978.91-101. A. Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967. Η. Diller, Die dichterische Form von Hesiods Erga, Mainzer Ak. d. Wiss. 1962 (wieder abgedruckt in: Hesiod, hg. v. E. Heitsch, Darmstadt 1966 = WdF 44. S. 239-274). E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951 (dt. Darmstadt 1970). E. R. Dodds, The Ancient Concept of Progress, Oxford 1973 (dt. Zürich und München 1977). F. Dornseiff, Antike und alter Orient, Leipzig 2 1959. F. Dornseiff, Hesiods Werke und Tage und das alte Morgenland, Phil 89.1934.397-415 (= WdF.131-150). B. Effe, Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977 (= Zetem.69). V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum, Leipzig 1921 (= Darmstadt 1966). M. Erren, Untersuchungen zum antiken Lehrgedicht, Diss. Freiburg 1956 (ms.). B. Fabian, Das Lehrgedicht als Problem der Poetik, in: Die nicht mehr schönen Künste (= Poetik u. Hermeneutik III), hg. v. H. R. Jauß, München 1968. 67-89.

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Sachregister Adel 34; 36; 38 f.; 60; 68; 100; 104; 113; 118; 124; 132 Adressat (allgemeiner Adressat) 52ff. ; 56 f.; 69; 76 (fiktiver Adressat) 19f. ; 23; 76 (nomineller Adressat) 20 ; 32; 34f.; 38; 44; 47ff.; 52; 53-56; 58; 60; 63; 67; 70 ff.; 76; 101 (Adressatenkreis) 20; 22; 26; 32; 38; 47; 63; 67; 69; 76 (Adressatenwechsel) 19; 56; 69 f.; 99 f. (Verhältnis von Adressat und Intention) 11 ff.; 18ff.; 27; 32f.; 48; 50; 68; 71; 78 f. Ainos/αΐνος (s. auch Fabel) 20; 33; 40; 83; 96; 116 Allegorie 96-101; 119 (allegorische Argumentation/Darstellung) 99; 102 f.; 112, 118; 122 Arbeit (s. auch Bauernkalender) 28 ff.; 32; 48 f.; 50; 52 f.; 56; 59-62; 66-71; 76 f.; 86 ff. Armut (arm/notleidend) 32f.; 51; 61; 63-65; 73; 115 Askra 20 f.; 23-25; 73 Ate/άτη 34; 83; 98; 122 Bauernkalender 27; 52 f.; 56; 72; 89; 93 f. (Pflügen und Säen) 54ff. ; 67; 94 (Ernte) 54ff. ; 75 ; 94 Bevölkerung (Öffentlichkeit als Zielgruppe) 12; 20; 23; 25f.; 39; 47; 67 (Volk) 100; 104; 106; 111; 113 Biographisches (s. auch Erbstreitigkeiten) 19f·; 31; 68; 72-74; 77; 87f. Didaktische Literatur (Weisheitsliteratur/Lehrdichtung) 13f.; 16f.; 19; 27; 58; 76-78; 83f.; 89f.

Dike/δίκη 23 f.; 44; 46 f.; 68; 70f.; 85; 97-104; 106-108; 110-113; 115; 117; 119; 124; 125-131; 134 (Tochter des Zeus) 40; 99-104; 112; 115; 125; 127 f. (Dikeparainese) 33-41; 96f. ; 102; 112; 121; 126; 130 f. Einheit der Erga 12-14; 16; 47f.; 77 Erb Streitigkeiten 11; 16; 20; 23 Eris 29 f.; 48 f.; 61; 121 Fabel/Habicht und Nachtigall (s. auch Ainos) 13; 36; 38; 40; 77; 102f. ; 134f. Instruktionsreden 95 Intention der Erga (s. auch Adressat) 11 f.; 14; 16; 18; 27; 32f.; 38; 46; 48; 76; 78f.; 84; 86; 89; 96 Könige (Richter/Richterkönige) 12; 15f.; 20; 22ff.; 26; 31; 33-40; 44; 46; 49; 56; 68; 70; 76; 83; 98; 99-102; 104; 106; 108; 113; 116; 124; 126) 128-135 Lebensunterhalt/βίος (Versorgung) 30; 51; 65; 68; 70; 73; 76 Liedertheorie 11 f.; 26 Musen (Musenanruf/Musengabe) 41 f.; 45; 74; 132f. Mythos (mythologische Exempla/Erzählung) 77; 83; 118-122 (Prometheusmythos) 60; 70 (Weltaltermythos) 35 ; 96f. ; 105; 107; 110; 114-121 Parainese (s. auch didaktische Literatur) (parainetisches Gedicht) 9; 51; 53 f.; 58 f.; 66-71; 89; 121 (parainetische Formen: Anleitungsparainese 56; 90-94 aufrüttelnde Parainese 29 f.; 33; 84; 86-89

Sachregister Kampfparainese 122 Umstimmungsparainese 96-102; 122-125) (parainetische Funktion) 73; 78; 118-120 (parainetische Mittel) 14; 51; 79f. ; 84; 89; 97; 100; 115 Perses/Bruder (als Adressat) l l f . ; 15f. ; 20 ; 22f. ; 26; 30 ; 32-35; 37-40; 44f.; 47-49; 52-56; 59f. ; 63; 67-70; 71-73; 76; 87; 93; lOOf.; 134 (einheitliches Erscheinungsbild) 19; 26f.; 29f. ; 32; 50-52; 57f.) 76 (Verhältnis zum Bruder) 23; 25; 31 f.; 48f.; 50f.; 52; 72f.; 87f. ; 134 Prooem (Erga) 41-46; 47; 49; 77; 103 ; 120 (Theogonie) 42; 74; 132 f. Prozeß (Prozeßsituation/prozessieren) 11; 16; 21 ff.; 25 ff.; 30 f.; 44-47; 49; 51; 66f.; 76; 87f. Recht (Rechtszustand/Rechtsverhältnisse) 28; 34f.; 47; 67; 76; 101; 107 (Rechtsprechung) 24 ; 45 f., 68; 104; 113; 126-128; 133 (Rechtsausgleich) 31; 116; 130f. ; 133 f. (Rechtszuweisung) 25; 33; 44; 70; 85; 126 f.; 133-135 (Rechtsbeugung/Unrecht) 34; 40; 45-47; 49; 71; 87; 103f.; 112; 114; 126 f. (Rechtsstreit mit Perses) s. Prozeß Reichtum 48; 50f. ; 65

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Richter (s. Könige) Seefahrtsanweisungen 27; 50; 53; 71-76; 86 Solon 19; 107f. ; 111; 116 Spruchdichtung (Sprichwörter) 13; 37; 53; 55; 57f.; 90 Tarnung des Dichters (Verschleierung) 38-41; 46 f.; 78 Vergeltung (Strafen) 108-115; 120; 128 f. Verheißung (Segnungen) 36; 94; 104-108; 110; 116 Weisheitsliteratur (s. didaktische Literatur) Wertsystem (Wertbewußtsein) 60 f.; 65-68 Winterzeit 55; 57; 69 f.; 72 Zeus (Allmacht/Autorität des Zeus) 19; 41 ff.; 101; 103; 113 (Gerechtigkeit des Zeus) 52; 107 (Ordnung des Zeus) 31; 33 ; 35f.; 39; 48; 74; 76; 85; 101f.; 103f.; 114; 117; 124 f. (Rechtsaufsicht des Zeus) 34f. ; 42; 44-46; 100; 103; 107-112; 114-117; 119-121; 129 f. (Vater der Dike und Litai) 96; 98 ff.; 101; 103; 114f.; 125; 127 f. Zielgruppe/Zielrichtung (s. auch Adressatenkreis u. Bevölkerung) 12; 16; 23; 26; 29; 32; 38; 47; 49; 52; 78; 87; lOOf.; 118 Zwei Wege 48; 59; 60

Verzeichnis griechischer Wörter άάσθη: 36 αίδοΐος: 63 αιδώς: 35 ; 61-65; 94f. ; 110f. ; 125 αίνος: s. Ainos u n d Fabel άρετη: 43 ; 48 ; 60 άτασθαλίαι: 134f. βασιλήες: 15 f.; 133 βίος: s. Lebensunterhalt δειλός: 33 f.; 60 δίκη: s. Dike δΐον γένος: 59 δωροφάγοι: 2 3 f . ; 3 1 ; 3 4 ερις: s. Eris εύνομίη: 108 ff.; 11 f. ζήλος: 61

θάρσος: 64f. θέμιστες: 34; 45 ; 126 ίθεϊαι: s. Dike (v.a.: 126; 130) κεχρημενος: 62 f. κομίζειν: 62-64 λιταί/Λιταί: 96-99; 130 νείκεα: 30 νηπιος: 31; 39; 49; 52; 67f., 72ί. νόμος: 35f.; 39; 101; 112f. ; 128 νόος: 74 f. ; 76 όπιπεύω: 30 f. Όρκος: 36f. ; 96 ; 98 σκόλια;: s. Dike (Bes.: 126; 130) νέμεσις: 35; 111

Stellenregister (Aufgeführt werden nur die ausführlicher behandelten Stellen.)

Hes.Theog. 21-35: 42; 45; 74 47-49: 42 70-76 : 42 79 ff.: 31; 131 f. 901 f.: lOOf. Hom.Ilias A 74ff.: 38; 112 33 Iff.: 38 Ε 720-732: 95 J 225-306: 123 434-605: 80ff. ; 96-101; 104; 110; 121-124; 132 527-599: 82f. ; 118f. Κ 21 ff.: 90 13 Iff.: 90 Ο 490-493: 43 Π 384-392: 109 688-690: 43

Σ 497-508: 22 ; 24 ; 131 f.; 134 Τ 78-144: 122 155-183: 133 180: 24 Υ 176-258: 84f.; 86 ψ 306-348: 90-95 Ω 599-620: 122f. Hom.Od. ρ 322ff.: 43 336 ff.: 63 347: 62 ff. 352: 62 445-452: 63; 65 475 f.: 120 481-487: 65 557: 63 576 ff.: 63 τ 107-114: 106; 129

Bruno Snell · Die Entdeckung des Geistes Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 6., durchgesehene Auflage 1986. 334 Seiten, kartoniert

Bruno Snell Der Weg zum Denken und zur Wahrheit Studien zur frühgriechischen Sprache. 1978. 127 Seiten, kartoniert. Hypomnemata 57

Bruno Snell · Gesammelte Schriften 1966. 230 Seiten, kartoniert

Bruno Snell · Griechische Metrik 4., neubearbeitete Auflage 1982. IV, 76 Seiten, kartoniert. Studienhefte zur Altertumswissenschaft 1

Albrecht Dihle Die Vorstellung vom Willen in der Antike 1985. 178 Seiten, Paperback. Sammlung Vandenhoeck

Karl Reinhardt · Vermächtnis der Antike Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Herausgegeben von Carl Becker. 3. Auflage 1986. 479 Seiten, 1 Seite Kunstdruck, Leinen

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen/Zürich