Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa 9783110347135, 9783486778403

Aristocratic culture and legal culture were heavily interlinked during the Early Modern period. The essays in this compe

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German Pages 432 Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang
I. Adeligkeit und Recht als Momente des Sozialen
Adeligkeit und Rechtswissenschaft: die Beurteilung adeliger Tötungsdelikte in den europäischen Strafrechtslehren vornehmlichdes16.und17.Jahrhunderts
Die Gutsherrschaft der Grafen von Bernstorff in den Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle
Ehe – Stand – Recht. Hochadlige Verwicklungen
II. Adel und Justizlandschaften in Europa
Königliche Gewalt versus Fürstengewalt – Fürstengerichtsbarkeit und Appellationshindernisse im Spanien des 16. Jahrhunderts
Die Gleichheit vor dem Gesetz. Cesare Beccaria, das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe
Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht. Strukturelle Parallelen, Elemente eines Transfers, funktionaler Vergleich und Erinnerungsgeschichte
Lex est rex und rex supremus iudex. Das crimen laesae maiestatis zwischen Monarch und Adel im Königreich Polen des16.Jahrhunderts
Adel und Majestätsverbrechen im Russland Peters des Großen und Anna Ioannovnas
III. Adelige Justiznutzung und oberste Gerichtsinstitutionen im Alten Reich
Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel Brandenburg-Preußens
Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf vonWernberg (1604–1665)
Adel und eheliche Konflikte vor dem Reichshofrat in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts
Der „wildeWolf von Merzien“ oder „Cavalier von ansehnlichen Character“? – Ein anhaltischer Adliger im Konflikt mit seinemLandesherrn
Landsässiger hessischer Adel vor den Reichsgerichten. Grenzen des Fürstenstaates im 18. Jahrhundert
Amt und Prestige. Die Kammerrichter zwischen Gericht undständischerÖkonomie
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Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa
 9783110347135, 9783486778403

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Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa

bibliothek altes Reich Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal

Band 15

Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa

Herausgegeben von Anette Baumann und Alexander Jendorff

Oldenbourg Verlag München 2014

Gedruckt mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anette Baumann und Alexander Jendorff Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang . . . . . . . . . . .

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I. Adeligkeit und Recht als Momente des Sozialen Alexander Jendorff Adeligkeit und Rechtswissenschaft: die Beurteilung adeliger Tötungsdelikte in den europäischen Strafrechtslehren vornehmlich des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . .

33

Stefan Andreas Stodolkowitz Die Gutsherrschaft der Grafen von Bernstorff in den Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Michael Sikora Ehe – Stand – Recht. Hochadlige Verwicklungen . . . . . . . . . . . .

103

II. Adel und Justizlandschaften in Europa Ignacio Czeguhn Königliche Gewalt versus Fürstengewalt – Fürstengerichtsbarkeit und Appellationshindernisse im Spanien des 16. Jahrhunderts . . . .

129

Frank Jung Die Gleichheit vor dem Gesetz. Cesare Beccaria, das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe . . . . . . . . . . . . .

141

Hans-Jürgen Bömelburg Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht. Strukturelle Parallelen, Elemente eines Transfers, funktionaler Vergleich und Erinnerungsgeschichte . . . . . . . . . . . 161 Kolja Lichy Lex est rex und rex supremus iudex. Das crimen laesae maiestatis zwischen Monarch und Adel im Königreich Polen des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Angela Rustemeyer Adel und Majestätsverbrechen im Russland Peters des Großen und Anna Ioannovnas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Adelige Justiznutzung und oberste Gerichtsinstitutionen im Alten Reich Tobias Schenk Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel Brandenburg-Preußens

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Kathrin Rast Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665) . .

295

Siegrid Westphal Adel und eheliche Konflikte vor dem Reichshofrat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

Andreas Erb Der „wilde Wolf von Merzien“ oder „Cavalier von ansehnlichen Character“? – Ein anhaltischer Adliger im Konflikt mit seinem Landesherrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Dieter Wunder Landsässiger hessischer Adel vor den Reichsgerichten. Grenzen des Fürstenstaates im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .

379

Maria von Loewenich Amt und Prestige. Die Kammerrichter zwischen Gericht und ständischer Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Vorliegender Band enthält die Beiträge einer Tagung mit dem Titel „Adel und (Höchste) Gerichtsbarkeit – adelige Rechtskultur im Alten Europa“, die vom 29. November bis 1. Dezember 2012 in Wetzlar stattfand. Bei der Organisation der Tagung sowie für die Drucklegung des Bandes erhielten wir vielfältige Unterstützung: Vor allem möchten wir dem Hessischen Ministerium der Justiz, für Integation und Europa, das die Tagung und auch die Drucklegung finanzierte, danken. Ebenso zu großem Dank verpflichtet sind wir der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, in deren Räumlichkeiten wir die Tagung abhalten durften, und die uns organisatorisch in vielfältiger Weise unter die Arme griff. Allen, die den reibungslosen Ablauf der Tagung gewährleisteten, besonders aber Frau Müller, die auch die Druckvorlagen zu dem Sammelband erstellte, möchten wir ebenfalls unseren Dank aussprechen. Anette Baumann Alexander Jendorff Wetzlar im Oktober 2013

Anette Baumann und Alexander Jendorff

Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang 1. Historiographische Zugänge zum Themenfeld Adel, Recht und Gericht Der Problemkomplex „Adel und Recht/Justiz“ kann für sich als Thema des wissenschaftlichen Diskurses nicht zwingend Originalität beanspruchen. Bereits im 19. Jahrhundert wurde er im Zusammenhang mit den politischen Diskussionen um die Ablösung der Patrimonialgerichtsbarkeit und dann in der historiographischen Auseinandersetzung über die Rechtsform und Rechtsgültigkeit der Fehde teilweise unter deutlich moralischen Verdikten thematisiert.1 Lange verharrten derartige Diskurse – teilweise bis in die jüngste Vergangenheit hinein2 – in manchmal ideologisch anmutenden Pauschalurteilen, die den Adel wahlweise entweder als Opfer mörderischer Fürstenjustiz oder als Saboteure des zivilisatorischen Fortschritts sahen. Solche Werturteilsextreme dürfen mittlerweile als überkommen gelten. Dies ist das Ergebnis zweier unabhängig voneinander sich vollziehender Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren miteinander verschränkt haben: Zum einen hat die neuere Adelsforschung in Gesamteuropa einen erfreulichen Aufschwung genommen und sich dabei von überkommenen Urteilen distanziert, nicht zuletzt indem sie andere methodische Zugänge fand. Sie definierte bspw. den traditionellen Anpassungsbegriff neu, insofern nicht mehr einseitig ein Anpassungszwang angenommen, sondern gleichermaßen von Anpassungsfähigkeit und Anpassungswilligkeit ausgegangen wird. Daraus resultierend wurden der Krisen- wie der Abstiegsbegriff einer kritischen Würdigung unterzogen. Neben dem steten Verweis auf die Notwendigkeit eines pluralisierten Blicks auf europäische Adelsformationen und ihre Verhaltensformen und Aktionsmuster markieren mittlerweile übliche soziologisch-sozialgeschichtliche Begriffe – wie bspw. soziales Kapital, 1

2

Vgl. Alexander Jendorff : Clio in Fehde. Zur Rezeption und Interpretation des vormodernen gewaltsamen Konfliktaustrags in Deutschland zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, in: BDLG 147 (2011), S. 351–395; Monika Wienfort: Patrimonialgerichte in Preußen: ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770– 1848/49 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 148), Göttingen 1991. Bei Peter Blickles Tour d’horizont zur Entwicklung zur Geschichte der Freiheit und der Menschenrechte etwa findet der Adel gar keine Berücksichtigung und erscheint eher als Hindernis; vgl. Peter Blickle: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München 2003.

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Anette Baumann und Alexander Jendorff

Selbstbehauptungsstrategien, Konkurrenzen, Habitus und Distinktion oder neuerdings Eigenmacht und Eigensinn – jenes Feld der adeligen Gestaltungsspielräume, die die jüngere Forschung intensiv untersucht.3 Sie markieren ein Verständnis vom europäischen Adel und seiner Entwicklung zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert, das seine Fähigkeit zur Nutzung der verschiedenen Wandlungsmomente zum Vorschein kommen lässt und entschieden würdigt. Der Adel wird so seiner Opfer- wie auch seiner Hemmrolle enthoben; er erscheint als Akteur neben anderen zeitgenössischen Akteuren in den europäischen Entwicklungsprozessen und wird so gleichsam zu deren Spiegel. Zu diesen Wandlungsmomenten zählt gleichfalls seine Fähigkeit, Justiz und Recht zu nutzen.4 Diese sozial- und politikgeschichtliche Neueinschätzung des Adels ist umso bedeutsamer, weil – zum anderen – auch die rechtsgeschichtliche Forschung seit gut zwei Jahrzehnten einem strategisch-heuristischen Wandel unterliegt. In Abkehr von theoretisch-rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungen und 3

4

Vgl. Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln/ Weimar/Wien 2008; Martin Wrede: Vom Hochadel bis zum Halbadel. Formen adeliger Existenz in Deutschland und Europa im 18. Jahrhundert zwischen Ehre und Ökonomie, Fürstenstaat und Revolution, in: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 351–385; Jörn Leonhard/Christian Wieland (Eds.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century (Schriftenreihe der FRIAS School of History 2), Göttingen 2011; Alexander Jendorff : Eigenmacht und Eigensinn. Zum Verhältnis von Kollektivität und Individualität im alteuropäischen Adel, in: HZ 292 (2011), S. 613–644; ders.: Eigensinn in geschwinden Zeiten. Adeliges Selbstverständnis und adeliges Handeln in den strukturellen Veränderungsprozessen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, in: HJb 131 (2011), S. 215–261. Neuerdings zentral: Armand Maruhn: Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500–1620. Ein Beitrag zum Konzept der „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ in der Frühen Neuzeit, in: Eckart Conze/ Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Lebensführung und Selbstverständnis vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), Marburg 2010, S. 269–291; Christian Wieland: Selbstzivilisierung zur Statusbehauptung. Untersuchungen zum Verhältnis von adligen Lebenswelten und Rechtssystem im 16. Jahrhundert am bayerischen Beispiel, in: GG 33 (2007), S. 326–349; ders.: Die Ausnahme in der Sprache des Allgemeinen. Bayerischer Adel und Gericht im 16. Jahrhundert, in: Walter Demel/Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern (ZBLG, Beiheft 32), München 2008, S. 107–135; Alexander Jendorff : Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Wintzingerode (bibliothek altes Reich = baR 9), München 2012; Martina Schattkowsky: Zwischen Rittergut, Residenz und Reich. Die Lebenswelt des kursächsischen Landadligen Christoph von Loß auf Schleinitz (1574–1620) (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 20), Leipzig 2007; Martin Aust: Justiznutzung Moskauer Adliger im Katharinäischen Zeitalter. Das Konfliktverhalten adliger Nachbarn bei Landstreitigkeiten in Rußland 1762–1796, in: ZHF 31 (2004), S. 73–92; aus gezielt geschlechtergeschichtlicher Perspektive: Siegrid Westphal (Hrsg.): In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln/Weimar/Wien 2005; Stefan Brakensiek/Michael Stolleis/Heide Wunder (Hrsg.): Generationengerechtigkeit? Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500–1800 (ZHF, Beiheft 37), Berlin 2006.

Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit

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institutionengeschichtlichen Fragestellungen hat sich die Rechtsgeschichte verstärkt der Sozialgeschichte der Strafrechtspraxis und des Gerichtspersonals sowie den Handlungsspielräumen und Handlungspotentialen der Prozessakteure zugewandt.5 Hieraus resultierte in Deutschland die mittlerweile intensive Vernetzung der jüngeren (Reichs-) Verfassungs-, Politik- und Sozialgeschichte mit der Rechtsgeschichte. Sie schlug sich zunächst vornehmlich in der Neubewertung des Reichskammergerichts und seiner intensiven Erforschung in den letzten Jahren nieder, während die Forschungen zum Reichshofrat dagegen noch am Anfang stehen bzw. sich auf bestimmte Themen wie Kommissionen, jüdische Geschichte oder Reichsstädte konzentriert.6 Parallel zur angedeuteten heuristischen Wende rückten die niederen 5

6

Vgl. Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.): Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2), Köln/Weimar/Wien 1999; Dietmar Willoweit (Hrsg.): Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 1), Köln 1999; ders. (Hrsg.): Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 5), Köln/Weimar/Wien 2002; Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.): Friedenssischerung durch Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn und Wetzlar 1997; Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Struktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, 2 Teile (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 26), Köln u. a. 2003–2011; David Petry: Konfliktbewältigung und Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit, Berlin 2011; Anette Baumann: Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806) (QFHG 51), Köln u. a. 2006; Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 2 1988; Harriet Rudolph/Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.): Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa (Trierer Historische Forschungen 48), Trier 2003; Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 16), Köln/Weimar/Wien 1997. Neben den folgenden Beiträgen von Kathrin Rast, Siegrid Westphal und Tobias Schenk vgl. Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte 214; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Altes Reiches 18), Mainz 2000; Eva Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG 38), Köln/Weimar/Wien 2001; Barbara Staudinger: Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (QFHG 37), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 119–140; Verena KasperMarienberg: „vor Euer Kayserlichen Mayestät Justiz-Thron“. Die Frankfurter jüdische Gemeinde am Reichshofrat in josephinischer Zeit (1765–1790), Innsbruck/Wien/Bozen 2012; Thomas Lau: Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern 1999; David Petry: Konfliktbewältigung

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Anette Baumann und Alexander Jendorff

Gerichtsinstanzen in Stadt und Territorium in den Blick. Auf dieser Grundlage entstand nicht nur ein differenzierteres Bild der gerichtlichen Alltagspraxis, der Implementierung normativ-obrigkeitlich verankerter Sozialdisziplinierungsmaßnahmen sowie die These von der Verrechtlichung gesellschaftlicher Konflikte im lokalen und regionalen Alltag, die mittlerweile kontrovers diskutiert wird.7 Vielmehr führte diese Verschränkung zur Etablierung eines neuen Forschungszweiges – der Historischen Kriminalitätsforschung –, aus dem zahlreiche wegweisende Studien hervorgegangen sind.8 Sie weisen aus,

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als Medienereignis. Reichsstadt und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit (Colloquia Augustana 29), Berlin 2011. Hierbei als differenziert argumentierende Antagonisten zu begreifen: Maruhn: Prozesse (wie Anm. 4), passim; Werner Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-VogelsbergGebiet l648–l806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 52), Darmstadt/Marburg l985; ders.: Soziale Bewegungen und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806, Weingarten 1987; Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichsammergericht, Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG 33), Köln/Wien 1999; Winfried Schulze: Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Der Deutsche Bauernkrieg, 1524–1526 (GuG SH 1), Göttingen 1976, S. 277–302; ders.: „Geben Aufruhr und Aufstand Anlaß zu neuen heilsamen Gesetzen“, in: ders. (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zur bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, S. 261–285; ders.: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart, Bad Cannstadt 1988; Peter Blickle: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800 (EDG 1), München 1988, S. 79ff.; ders.: Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, S. 122–128. Insgesamt gibt es zu diesem Thema eine Vielzahl von Literatur, die zur Zeit im Rahmen der LOEWEInitiative des Landes Hessen unter dem Titel „Untertanen vor Gericht. Gerichtsnutzung und ihre Alternative durch Untertanen in der Vormoderne“ durch Stefan Xenakis M.A. ausgewertet wird. So entsteht eine Bibliographie zu Untertanenprozessen, die im Moment (Oktober 2013) ca. 900 Titel umfasst. Erinnert sei in diesem Kontext ausschnitthaft nur an: Martin Dinges: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; ders.: Frühneuzeitliche Justiz: Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt/ Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung – Geschichte und Theorie (Rechtsprechung 4), Bd. 1, Frankfurt a.M. 1992, S. 269-292; ders.: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 1), Konstanz 2000, S. 503–544; Peter Schuster: Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1999; Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003; ders., Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: HZ 263 (1996), S. 681–715; Thomas D. Albert: Der gemeine Mann vor dem geistlichen Richter. Kirchliche Rechtsprechung in den Diözesen Basel, Chur und Konstanz vor der Reformation (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 45), Stuttgart 1998; Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikt und Kultur – Historische Per-

Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit

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wie stark die soziale Binnenkonkurrenz der frühneuzeitlichen Gesellschaften war und in welchem großen Ausmaß die Justiz als additives Mittel des Konfliktaustrags genutzt wurde. Im Interessenfokus der Erforschung solcher frühneuzeitlicher „Justiznutzung“ (Martin Dinges) standen dabei zunächst städtische, später ländliche Milieus in säkularen und kirchlichen Kontexten. Dadurch inspiriert, zudem weil Justiz und Recht offenkundig herrschaftsund epochenübergreifend genutzte Instrumente der Austragung sozialer und politischer (Binnen-) Konkurrenzen mit enormen Rückkoppelungseffekten längstens erkannt sind,9 hat sich der Blick seit neuestem auf den Zusammenhang von Adel, Justiz, Recht und Politik erweitert. Ähnlich der „Justiznutzung“ in anderen sozial-ständischen Gruppen werden Recht und Justiz daher nun auch als Kommunikationsinstrumente und Entscheidungsforen des Adels im Kontext seiner Standeskohärenz und Binnenkonkurrenz, aber auch im Kontext seiner Konkurrenz mit anderen gesellschaftlichen Gruppen begriffen. Dies betrifft nicht nur Themenkreise wie Ehr-, Standes- und Güterkonflikte oder Gender-Fragen, sondern ebenso das Verhältnis zwischen Adel und Untertanen, die Instrumentalisierung bzw. Ablehnung der Gerichte zwecks Interessendurchsetzung und politischer Partizipation sowie den zeitgenössischen Blick auf die Rolle, die Aktionsformen und die Sprache des Adels bei Gerichtsprozessen. Studien zum ,Adel vor Gericht‘ sind mittlerweile zahlreich, durchaus mit unterschiedlichen Zugängen, aber stets ertragreich.10

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spektiven 1), Konstanz 2000; Margarete Wittke: Mord und Totschlag. Gewaltdelikte im Fürstbistum Münster 1580–1620. Täter, Opfer und Justiz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XXII; Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 21), Münster 2002; Bettina Günther: Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe 289), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2004; Ulrike Ludwig: Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548–1648 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 16), Konstanz 2008; Gudrun Gersmann: Der Kampf um die Gerichtsbarkeit. Adlige Hexenpolitik im frühneuzeitlichen Fürstbistum Münster, in: Paul Münch (Hrsg), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ, Beihefte N.F. 31), München 2001, S. 369–376. Vgl. Alexander Demandt: Macht und Recht als historisches Problem, in: ders. (Hrsg.), Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, München 3 1991, S. 271–292. Dabei ist allerdings auffällig, dass die moderne Landesgeschichte den Problemkomplex noch nicht entdeckt hat und dass zugleich ein übergreifender Ansatz, der die – naturgemäß zunächst eher landesgeschichtlich, mitunter landeskundlich anmutenden – Studien systematisieren würde, nicht in Sicht ist. Neben den schon in Anm. 4 genannten Titeln vgl. Alexander Jendorff/Steffen Krieb: Adel im Konflikt. Beobachtungen zu den Austragungsformen der Fehde im Spätmittelalter, in: ZHF 30 (2003), S. 179–206; Michael Sikora: „. . . so muß man doch dem Kindt ainen Nahmen geben“. Wahrnehmungsweisen einer unstandesgemäßen Beziehung im 16. Jahrhundert, in: Conze/Jendorff/Wunder: Adel (wie Anm. 4), S. 571–593; Frank Dierkes: Streitbar und ehrenfest. Zur Konfliktführung im münsterländischen Adel des 16. und 17. Jahrhunderts (Westfalen in der Vormoderne 1), Münster 2007; Christian Wieland: Gemeinsam Streiten. Kollektives

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Anette Baumann und Alexander Jendorff

Allerdings heben sie in erster Linie auf der zunächst naheliegenden Frage ab, wie der Adel mit den Waffen der Justitia vor Gericht und bei Gericht seine Interessen durchzusetzen beabsichtigte.

2. Adel und Recht – Geschichte(n) unterschiedlicher Kulturen? Das aufgezeigte Themenfeld soll an dieser Stelle heuristisch in einem umfänglicheren Sinne als bisher angegangen werden. Es soll nicht nur die beobachtbare allgemeine Juridifizierung der alteuropäischen Gesellschaften mit ihren verschiedenen, auch in sich differenzierten11 Adelsformationen und die Entstehung spezifischer Rechtskulturen aus dem Blickwinkel des Adels thematisiert werden. Vielmehr soll insbesondere auch die Langfristigkeit bzw. Nachhaltigkeit der Rückwirkungen dieses Prozesses für die Position und das Selbstverständnis des Adels in seinem jeweiligen soziopolitischen Umfeld im Raum untersucht werden. Ein solches Arbeitsanliegen setzt voraus, sich bestimmte, noch heute gern übersehene Fiktionen bewusst zu machen: die der Einheitlichkeit „des Adels“ und die der Einheitlichkeit des rechtlichen Normgefüges in Alteuropa. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Faktor der Komplexität aus, dass der alteuropäische Adel wie auch das Rechtsgefüge in Alteuropa jeweils für sich genommen Phänomene des Plurals waren. So wenig es im vormodernen Europa und selbst innerhalb seiner verschiedenen Regionen einen einheitlichen Adelsstand gab, so wenig existierte – Rezeption des Römischen Rechts hin oder her – ein einheitliches Rechtssystem. Bei beiden handelte es sich zudem um zeitgenössisch viel und unterschiedlich diskutierte Gesellschaftsphänomene, die mancherorts sogar die Frage aufwarfen, ob Adeligkeit und Recht überhaupt zusammengehen können. Adeliges Selbstverständnis, Herr vor Ort zu sein, und der Verbindlichkeitsgrad makrorechtlicher Normen schienen nämlich in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zueinander zu stehen. Adeliger Eigensinn war dazu angetan, den Verbindlichkeitsgrad extrinsischer rechtlicher Normen zu hinterfragen, herabzusetzen oder gar zu negieren, zumal wenn sie als fremdartig, un- oder gar antitraditionell, unverständlich und als Dominanzfeld nicht-

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Handeln süddeutscher Ritter vor Gericht um 1500, in: Joachim Schneider (Hrsg.), Kommunikationsnetze des Ritteradels im Reich um 1500 (Geschichtliche Landeskunde 69), Stuttgart 2012, S. 177–196. Zum Zusammenhang zwischen gender-Forschung und Adelsforschung vgl. Heide Wunder (Hrsg.): Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht (ZHF, Beiheft 28) Berlin 2002; Karin Gottschalk (Ed.): Gender Difference in European Legal Cultures. Historical Perspectives. Essays presented to Heide Wunder, Stuttgart 2013. Vgl. Wrede: Hochadel (wie Anm. 3), S. 355–377.

Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit

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adeliger oder halb-adeliger Aufsteiger begriffen wurden. Solcher Eigensinn konnte im erfolgreichen Fall die Effektivität der Gerichte ausbremsen, aber auch familiäre Abgründe auftun und/oder gar in persönlichen Katastrophen enden.12 Die Zögerlichkeit des Altadels bei der Akzeptanz der juristischen Ausbildung und des juristischen Arbeitsfeldes ist bekannt.13 Die Zunahme an adeliger Rechtsgelehrtheit, wenigstens aber an Rechtsversiertheit ist dennoch bemerkbar und um so bemerkenswerter angesichts des untergeordneten Stellenwerts, der der Jursiprudenz in der Adelsausbildung in ihrer theoretischen Konzeptionierung und in den tatsächlich realisierten Ausbildungsprojekten zuteil wurde. Sowohl als universitär-vertieftes als auch fundamentales Ausbildungsfach zählte die Jurisprudenz bis ins 17. Jahrhundert hinein nicht zu den Kernfächern des adeligen Bildungskanons. Der Propagator adeligen Tugenderwerbs durch individuelle Leistung – der französische Calvinist François de La Noue (Bras-de-fer) (1531–1591) – entwarf seinen Akademieplan von 1587 ohne Berücksichtigung des Rechts.14 In ähnlicher Weise förderten nachfolgende Projekte zur Gründung von Ritterakademien in Gesamteuropa zwar die Sprachen, das historisch-politische Verständnis, höfisches Benehmen und militärische Fähigkeiten, nicht aber explizit das Rechtsverständnis und die juristische Bildung der Schüler und Studenten. Selbst Richelieus 1636 gegründete Académie Royale hatte lediglich zum Ziel, den Adel neben Gottesfurcht, Gehorsam gegenüber dem Fürsten, Magistraten, Vaterland sowie die Umsetzung tugendhaften Handelns zur Unterwerfung unter die Gesetze – nicht deren Verstehen! – zu erziehen.15 So finden sich in Europa nur wenige derartige Anstalten, die den adeligen Studenten auch eine juristische Ausbildung boten, obgleich die adelige Kavalierstour durchaus auch den Besuch juristischer Vorlesungen vorsah.16 Das Bild, das der Adel von sich 12

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Das Beispiel der südhessischen Familie derer von Wallbrunn, die für sich am Beginn des 16. Jahrhunderts reichsritterschaftlichen Status annahm, aufgrund innerfamiliären Zwists inklusive Mord in aller Öffentlichkeit in massiven Konflikt mit verschiedenen Gerichten geriet und deren Mitglied Hans Adolf (1529–1569) 1569 angesichts einer erfolgreichen landgräflich-darmstädtischen Belagerung kurz vor seiner Verhaftung Selbstmord beging, mag hierfür exemplarisch, wenn auch spektakulär-singulär stehen; vgl. Gernot Scior: Die Herren von Wallbrunn zu Ernsthofen. Geschichte einer Herrschaft 1440–1722, Ober-Ramstadt/Darmstadt 1977, S. 56–82, hier besonders S. 77–82. Zur geradezu pathologisch anmutenden Antihaltung der (rheinischen) Reichsritterschaft gegenüber dem Reichskammgericht und seinen nicht-adeligen Rechtsgelehrten im 16. Jahrhundert vgl. Heinz Duchhardt: Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: ZHF 5 (1978), S. 315–337. Vgl. Norbert Conrads: Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei Bayerischen Akademie der Wissenschaften 21), Göttingen 1982, S. 33f. Vgl. ebd.: S. 77. Am Collegium Illustre in Tübingen (seit 1601) erschien die Jursiprudenz als herausragendes Fach mit entsprechender finanzieller und personeller Ausstattung; die dänische Ritterakademiein Sorö (seit 1623) lehnte sich eng an das herzoglich-württembergische

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selbst machte, war offenkundig über lange Zeit hinweg jedenfalls kein von betont juristisch-gelehrten Momenten geprägtes.17 Dieser Befund darf allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass genau dieser Adel, wenigstens aber bedeutende Teile von ihm eben auch zu einem durchaus flinken Wandel seines Selbstverständnisses und der Neukonzeption geeigneter Strategien der Interessendurchsetzung in der Lage waren. Ablesen lässt sich dies – mit Blick auf das Alte Reich – etwa an der zunehmenden Einstellung universitär ausgebildeter Juristen in den adeligen Patrimonialgerichten. Gleichzeitig nahm die Zahl der rechtsgelehrten Räte im 16. Jahrhundert erheblich zu, wobei Rechtsgelehrtheit gewiss nicht am akademischen Grad allein – beim Adel vielleicht noch nicht einmal im Besonderen – zu messen ist, sondern eher an der Zahl der aufgrund ihrer Bestallung im Fürstendienst tagtäglich mit Rechtsmaterien betrauten bzw. mit diesen in Kontakt kommenden adeligen Funktionsträger.18 Die Bedeutung des Adels lässt sich auch an der Besetzung der Richterstellen des Reichskammergerichts erkennen: Hier sollte die Hälfte der Richter adelig sein. Freilich stieß diese Forderung schon in den 1530er Jahren an ihre Grenzen. Adeligkeit in Kombination mit hervorragendem juristischem Wissen war Mangelware. Die vom Reichskammergericht gewählte Lösung zeugt von Pragmatismus und einem sehr selbstbewussten Verhältnis zum Adel: Entscheidend war bei Gericht die juristische Qualifikation. Um aber die Forderungen der Stände und des Reiches bezüglich der adeligen Richterstellen befriedigen zu können, adelte man die ausreichend qualifizierten Kandidaten.19 Ebenso ließe sich die steigende Zahl der insbesondere vom Niederadel beim Reichskammergericht geführten Prozesse vor allem zu Anfang des 17. Jahrhunderts als Ausweis neu

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Vorbild an, und auch in der 1687 gegründeten Fürstlichen Akademie zu Wolfenbüttel rangierte das Recht in all seinen Ausformungen an herausragender Position; vgl. ebd.: S. 113, 149f., 300–304. Dies bildete sich nicht zuletzt in der Medialisierung des Adelsbildes in der Frühen Neuzeit ab, selbst wenn es durchaus Beispiele gab, bei denen sich Adelige in dezidiert gelehrter Pose abbilden ließen; vgl. Johannes Süßmann: Vom Ritter gegen Tod und Teufel über den Galubensstreiter zum Kavalier. Zum Wandel der Adelsbilder in der Frühen Neuzeit, in: Peter Scholz/Johannes Süßmann (Hrsg.), Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart (HZ, Beiheft 58), München 2013, S. 85–98. Als regionales Beispiel für Ausmaß und Umfang der Patrimonialsgerichtsbarkeit und den Umgang mit den damit verbundenen Aufgaben und Notwendigkeiten im Kontext der frühneuzeitlichen Professionalisierung vgl. Adolf Stölzel: Die Entwicklung des gelehrten Richtertums in den deutschen Territorien. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung mit vorzugsweiser Berücksichtigung der Verhältnisse im Gebiet des ehemaligen Kurfürstentums Hessen, 2 Bde., Stuttgart 1872 (ND Aalen 1964), hier Bd. 1, S. 343–348, 549–59 (adelige Parimonialgerichte in der Landgrafschaft Hessen (-Kassel) und der Fürstabtei Fulda); Bd. 2, S. 52–66 (Verzeichnis adeliger Jurastudenten an den Universitäten Heidelberg, Erfurt, Leipzig, Wittenberg, Marburg und Mainz 1389–1600). Siehe hierzu Anette Baumann: Reichskammergericht und Universitäten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, HZ 292 (2011), S. 365–395, besonders S. 394.

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gefasster adeliger Rechtsaffinität begreifen.20 Allerdings muss auch darauf hingewiesen werden, dass zwar eine steigende Anzahl von Richtern gerade im 18. Jahrhundert aus dem reichsritterlichen Milieu stammte, sich dies aber keineswegs signifikant in den Prozesseingangszahlen widerspiegelte. Die Diskrepanz zwischen dem Versuch, Einfluss am Reichskammergericht über die Besetzung von Stellen zu gewinnen und dem mäßigen Interesse, dies geltend zu machen, kann hier jedoch nur festgestellt werden. Die Ursachen hierfür sind noch nicht erforscht.21 Ein Blick auf den Hochadel mag das Bild vervollständigen: Bei der Stellenbesetzung für das Amt des Kammerrichters und seiner Stellvertreter wurden im 17. und 18. Jahrhundert, obwohl Hochadeligkeit gefordert wurde, auf Personal niederen Ranges zurückgegriffen. Der Hochadel zeigte sich am Reichskammergericht uninteressiert. Das machte sich auch bei den Prozesseingangszahlen bemerkbar. Im 17. und 18. Jahrhundert spielte der Hochadel als Kläger nur eine marginale Rolle. Das Reichskammergericht war für ihn nicht interessant. Leider ist die Erforschung des Reichshofrates nicht so weit fortgeschritten, dass sich hier Vergleichsmaterial böte. Umgekehrt sieht die Sache jedoch anders aus: Am Anfang des 17. Jahrhunderts betrug der Anteil der Beklagten am Reichskammergericht aus dem Hochadel rund 20 %. Er fiel nur kurzzeitig während des Dreißigjährigen Krieges unter 10 % und stieg schließlich im 18. Jahrhundert weiter an. Seit 1700 war der Hochadel meist mit über 30 % am Prozessgeschehen beteiligt. Zurückzuführen ist dies ursächlich auf die Vermehrung von Untertanenprozessen.22 Der Hochadel verlor demnach sein Interesse am Gericht. Selbst der hohe Prozentsatz als Beklagte änderte daran nichts. Ähnliches lässt sich auch im europäischen Kontext nachvollziehen. Im Gegensatz zu den Entwicklungen im Alten Reich war der Adel des Moskowiter 20

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Nur ausschnitthaft als Hinweise auf die zunehmende, jedenfalls aber ausgeprägte Bereitschaft des Niederadels, sein Recht und seine Herrschaftspositionen mit Rechtsmitteln gleichgültig vor welchem Gericht zu verteidigen vgl. Tobias Freitag/Nils Jörn: Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495–1806, in: Nils Jörn/Michael North (Hrsg.): Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (QFHG 35), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 39–141, hier besonders S. 105f. (Anteil der das RKG nutzenden Niederadeligen aus den Herzogtümern Holstein/Sachsen-Lauenburg, Mecklenburg und Pommern zwischen 48 und 59 % am Aufkommensgesamt der Kläger); Brage Bei der Wieden: Adlige Herrschaftsansprüche im mittleren Niedersachsen, in: Heinrich Kaak/Martina Schattkowsky (Hrsg.): Herrschaft. Machtentfaltung über adeligen und fürstlichen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 27–48; Martina Schattkowsky: Adlige Herrschaftsstile in Kursachsen um 1600. Zur Problematik einer Typologisierung, in: Heinrich Kaak/Martina Schattkowsky (Hrsg.): Herrschaft. Machtentfaltung über adeligen und fürstlichen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 49–66. Vgl. Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. (QFHG 36) Köln/Weimar/Wien 2001, S. 69f. Ebd., S. 67f.

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Zarentums zwar nicht in der Lage, ein eigenes Verfassungsrecht mit entsprechenden institutionalisierten Formen der Verfassungsgestaltung auszubilden, doch prägte er auf seinen Gütern geltendes Gewohnheitsrecht bspw. in Erbfragen aus.23 Insofern wirkte er auf die juristische Alltagspraxis nachhaltig ein. Auf der iberischen Halbinsel nahm die Zahl der studierenden Niederadeligen parallel zur Aufwertung des Bildungsfaktors in der ständischen Gesellschaft Kastiliens, zum Ausbau der Universitäten und Colegios Mayores sowie zu deren Neuausrichtung von Stätten der Wissenschaft zu Ausbildungsstätten für den Bedarf an juristischem, später staatsbedienstetem Nachwuchs zu. Diese letrados besetzten wichtige Ämter der spanischen Zentralmonarchie, nicht zuletzt weil nach dem Wegfall der Erwerbsmöglichkeiten und des gesellschaftlichen Prestiges des Reconquista-Kriegers der monarchisch-fürstliche Verwaltungsdienst geeignete Ausweichmöglichkeiten bot.24 Im gleichen Zeitraum explodierte die Zahl der Justizverfahren, die von dem und gegen den Niederadel gegen adelige wie auch nicht-adelige Prozessgegner geführt wurden. Man stritt sich vorzugsweise über ökonomische Konflikte, die Privilegierung bei der Ämtervergabe in der Lokalverwaltung oder Abstammungsfragen.25 Auf diesem Wege versuchte der besonders bedrohte, weil in seinen Selbstlegitimationsmustern (Besitz, Blutreinheit, Kriegsdienst, Tradition, Privilegien) nach dem Ende der Reconquista stets prekäre kastilische Niederadel mittels der Justiz seine soziale und rechtliche Distinktion abzusichern. Dies erzwang bereits die ökonomische Situation vieler Hidalgo-Familien, denen eine entsprechende Distinktion gegenüber wirtschaftlich erfolgreichen Nicht-Adeligen und selbst gegenüber vielen Bauern kaum möglich war.26 Typisch hierfür war die Familie Chirinos, die einen aufwändigen, jahrelangen Prozess führte, in dem sie sämtliche Kriterien ihrer Adeligkeit überprüfen ließ und den sie erst 1567 er-

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Neben dem Beitrag von Angela Rustemeyer vgl. Valerie A. Kivelson: The Effects of Partible Inheritance: Gentry Families and the State in Muscovy, in: Russian Review 53 (1994), S. 197–212. Vgl. Richard L. Kagan: Universidad y sociedad en la España Moderna (Serie de historia), Madrid 1981, S. 109; Antonio Domínguez Ortiz: Instituciones y sociedad en la España de los Austrias (Historia), Barcelona 1985, S. 26–29; Henry Kamen: Una sociedad conflictiva. España 1469–1714 (El libro de bolsillo 1064, Sección Humanidades), Madrid 1984, S. 191, 247ff.; Bianca Maria Lindorfer: Kampf gegen Windmühlen. Der niedere Adel Kastiliens in der frühen Neuzeit (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 9), Oldenbourg 2004, S. 86ff. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 95f., 103–106; Richard L. Kagan: Pleitos y pleiteantes en Castilla 1500–1700 (Estudios de Historia), Valladolid 1991, S. 31–35; ders.: Pleitos y poder real: la Chancillería de Valladolid (1500–1700), in: Cuardernos de investigación histórica 2 (1978), S. 291–316. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 39–57, 68. Für den andalusischen Niederadel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts speziell vgl. Christian Windler: Lokale Eliten, seigneurialer Adel und Reformabsolutismus in Spanien (1760–1808). Das Beispiel Niederandalusien (VSWG, Beihefte 105), Stuttgart 1992, S. 79–93.

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folgreich abschließen konnte.27 Prekär war die Hidalguía vieler kastilischer Niederadeliger nicht zuletzt wegen des Kriteriums der limpieza de sangre – der Blutreinheit –, die jene für die Unterscheidung zwischen wirklicher Adeligkeit und Nicht-Adeligkeit entscheidende Frage problematisierte, ob der Betroffene Christ, Jude oder converso sei. Immer wieder als Waffe des Nicht-Adels gegen Hidalgos und ihr – als arrogant empfundenes – ostentatives Beharrren auf Privilegierung eingesetzt, mussten sich viele Niederadelige ihrer Vergangenheit justiziell stellen. Aber auch in der binnenadeligen Konkurrenz fand die limpieza de sangre ihre argumentative Verwendung, weil bekannt war, dass viele mittellose Hidalgos mit den nicht selten wohlhabenden Conversos aus ökonomischen Gründen verwandtschaftliche Beziehungen eingegangen waren.28 Die Hidalgos befanden sich demnach in einem vielseitigen sozialen Abwehrkampf gegenüber dem Nicht-Adel, gegenüber den eigenen Standesgenossen und gegenüber dem dominanten Hochadel, den sie auch und gerade mit den Waffen der Justiz führten. Derartige Beobachtungen ließen sich mit Beispielen aus anderen Regionen Europas, wenn auch mit teilweise zweifellos höchst divergierenden Varianten ergänzen. In der Summe dieser europäischen Entwicklung konnte es gleichwohl mit der Zeit gleichermaßen scheinen, dass Rechtlichkeit ohne Adel überhaupt undenkbar war, weil der Adel eben den Herrenstand mit Normsetzungs- bzw. Normkontrollgewalt vor Ort darstellte, weil er an der Rechtspraxis als Funktionsträger auf höherer Ebene ganz selbstverständlich teilhatte und weil er als Akteur der rechtlichen Normsetzung und Norminterpretation in jeder Rolle partizipierte. So laufen solche Aufnahmen auf die Frage hinaus, ob und inwiefern die Adelskultur(en) und die Rechtskultur(en) Alteuropas entwicklungsgenetisch miteinander gekoppelt waren oder ob es sich um verschiedene, teils gegensätzliche, teils ineinander laufende Kulturen mit unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten handelte. Entwickelte sich parallel zur Adelskultur eine entsprechende (allgemeine) Rechtskultur oder entwickelte sich parallel zur allgemeinen Rechtskultur eine standesspezifische Rechtskultur im Adel? Mit Blick auf die nachweisbaren, traditionalisierten standesspezifischen Austragungsformen und -verfahren in Adelskonflikten möchte man dies schnell als erforscht ansehen. Doch scheint bisher noch ungeklärt, inwiefern die spä27 28

Vgl. Teófilo F. Ruiz: Historia social de España, 1400–1600 (Libros de Historia), Barcelona 2002, S. 88–91. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 106–111; Jaime Contreras Contreras: Sotos contra Riquelmes: Regidores, inquisidores y criptojudíos (Microhistoria), Madrid 1992; Antonio Domínguez Ortiz: La clase social de los conversos en Castilla en la Edad Moderna (Collección Archivum 23), Granada 1991; Max Sebastián Hering Torres: „Limpieza de sangre“ – Rassismus in der Vormoderne?, in: ders./Wolfgang Schmale (Hrsg.), Rassismus (Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 3/1), Innsbruck 2003, S. 20–37, hier S. 25; ders.: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit (Campus Forschung 911), Frankfurt a.M. u. a. 2006.

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testens seit dem Ausgang des Spätmittelalters intensivierte Rechtskultivierung des Politisch-Sozialen auf die Adelskultur einwirkte und ob der Adel diesen Prozess als aufgezwungenen Vorgang oder als (mehr oder minder freiwillige) Fortentwicklung traditioneller Propria wahrnahm. Für den ersten Aspekt – die Fremdheitswahrnehmung – spräche im Alten Reich nicht nur die langjährige Ablehnung des vom Wormser Landfrieden erzwungenen gerichtlichen Konfliktaustrags als Substitution des gewaltsamtraditionellen oder auch die Brandmarkung der „Mörderjustiz“ der fürstlichen Beamten – eine Kritik, die die (nicht-adeligen, rechtsgelehrten) Knechte schlug, aber die (fürstlichen) Herren und deren politisch-ständische Instrumentalisierung ihrer Justiz meinte.29 In ähnlicher Weise ereiferte sich im Moskowiter Reich des 17. und 18. Jahrhunderts der Adel über die dezidiert als politische Prozesse geführten Verfahren gegen Standesgenossen, die man zugleich mit politisch-kulturellen Fremdheitswahrnehmungen und -stereotypen aufludt.30 Gleichzeitig verstand dieser Adel – wie auch andere Adelsformationen in Alteuropa – solche politischen Prozesse selbst zu instrumentalisieren, wenn er etwa – wie im Falle des landgräflich-hessischen Generalaudiezierers Dr. Wolfgang Günther31 1628 – den Favoriten des Fürsten vor Gericht brachte und hinrichten ließ, um den Herrscher zu schwächen. Für diesen zweiten Aspekt – die geschickte Adaption – spricht neben den vielfältigen, nun gerade judiziell ausgetragenen adeligen Ehe-, Ehr- und Güterkonflikten auch die Tatsache, dass bspw. im Zuge der Konfessionalisierungsentwicklung nach 1555 eine neue katholische Generation jesuitisch geschulter bzw. jesuitenaffiner Adeliger in Europa heranwuchs, die das Recht als völlig normales Mittel des Konfessionskampfes begriff.32 Von der polnisch29 30 31

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Vgl. Jendorff : Tod (wie Anm. 4), S. 173–180; Helga Schnabel-Schüle: Das Majestätsverbrechen als Herrschaftsschutz und Herrschaftskritik, in: Aufklärung 7 (1992), S. 29–47. Vgl. hierzu den Beitrag von Angela Rustemeyer, Kap. 1. Vgl. Holger Th. Gräf : „Vndt also ex mente, animo & ore nostro nachgeredt haben magk . . . “. Der Generalaudienzierer Wolfgang Günther und Landgraf Moritz von HessenKassel, in: Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hrsg.): Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (ZHF, Beiheft 32), Berlin 2003, S. 59–76, Wilhelm Grotefend: Der Prozeß des landgräflichen Raths Dr. Wolfgang Günther (1627-1628), in: Hessenland 12 (1898), S. 226ff., 270ff., 288ff., 298–301. Hierfür wäre neben den zahlreichen katholischen Adeligen, die sich protestantischer Ansprüche erwehrten, bspw. auch der Fuldaer Fürstabt Balthasar von Dernbach und sein Schwager Lippold von Stralendorff zu nennen, der es immerhin bis in das Amt des Reichsvizekanzlers schaffte; vgl. Gerrit Walther: Abt Balthasars Mission. Politische Mentalitäten, Gegenreformation und eine Adelsverschwörung im Hochstift Fulda (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 67), Göttingen 2002. Zu Stralendorff ist eine Monographie von Holger Thomas Gräf und Alexander Jendorff momentan im Entstehen; vorab vgl. Holger Th. Gräf : Leopold von Stralendorff (1545–1626) – mecklenburgischer Ritter, Oberamtmann auf dem Eichsfeld und Reichsvizekanzler, in: Eichsfeld-Jahrbuch 20 (2012), S. 81–92; Alexander Jendorff : Regierung und Verwaltung auf dem Eichsfeld in der Kurmainzer

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litauischen Adelskultur derselben Epoche ließe sich auch davon sprechen, dass sie sich gleichsam entlang von Rechtsprozeduren selbst organisierte.33 Vielleicht ist daher viel eher zu erwägen, dass gerade diese merkwürdige Korrespondenz von Ablehnung und Aneignung das Spezifikum adeliger Rechtsnutzung ausmachte. Dieser Hinweis scheint für die Frühe Neuzeit umso relevanter zu sein, als Rechtsfindung durch Rechts- und Gerichtsnutzung die ohnehin stets unsichere Adelsexistenz in unvorhersehbarer Weise berührte: Sie konnte den adeligen Eigenständigkeitsanspruch stützen, ihn aber beinahe im selben Augenblick fundamental bedrohen; und in dieser unmittelbar erlebbaren Ambivalenz wurde sie auch von nicht wenigen Adeligen oder ganzen Adelsformationen wahrgenommen. Daran knüpft ein weiteres Problemfeld an, das sich an dem Selbstverständnis des Adels, gesellschaftlich-ständische Exzellenz zu verkörpern, festmacht. Konzentriert man sich zunächst auf den Aspekt der Nutzung von Gerichten vor dem Hintergrund der allgemeinen Juridifizierung, ist damit nämlich die alles andere als unbedeutende Frage berührt, was eigentlich das Besondere an der Justiznutzung des Adels in der Frühen Neuzeit war, wenn diese doch offenkundig von allen ständischen Gruppen betrieben wurde. Es gilt demnach die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Justiznutzung des Adelsstandes in der ständischen Gesellschaft vor dem Hintergrund seiner Selbst- und umweltabhängigen Fremdwahrnehmung zu untersuchen. Dies kann jedoch nicht bloß als klassische Problematisierung der Adeligkeit des Adels erfolgen, sondern muss im Bewusstsein der seit jeher und bis heute gepflegten Fiktion seiner Unterschiedlichkeit geschehen. Es wird demnach zu prüfen sein, ob nicht die postulierten Unterschiede lediglich ein weiteres Element künstlich produzierter bzw. konstruierter Adeligkeit waren. Rechts- und Justiznutzung erscheinen hierfür als probates Untersuchungsfeld, weil Rechtsnormen selbstverständlich nichts Neues waren und der Adel an der Findung und Setzung von Rechtsnormen stets seinen Anteil besaß. Man denke hierfür lediglich an seine Partizipation auf den Landtagen, die ja durchaus Gesetzgebungskompetenz besaßen.34

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Zeit zwischen 1540 und 1802, in: Eichsfeld-Jahrbuch 19 (2011), S. 5–46, hier S. 15ff. Allgemein zum Komplex Recht und Religion/Religionskonflikt vgl. Andreas Voßkuhle: Religionsfreiheit und Religionskritik – zur Verrechtlichung religiöser Konflikte (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 39), Wetzlar 2011. Hierzu neben dem Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg vgl. Stanisław Salmonowicz: La noblesse polonaise contre l’arbitraire du pouvoir royal: les privilèges judiciaires de la noblesse, in: Revue historique du droit français et étranger 72 (1994), S. 21–29; Mathias Niendorf : Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569–1795). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 3), S. 83– 89. Aus der großen Fülle der diesbezüglichen Literatur seien an dieser Stelle als neuere Arbeiten lediglich genannt: Barbara Stollberg-Rilinger: Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches (Historische Forschungen 64), Berlin 1999; dies.: Was heißt landständische Repräsentation? Überlegungen zur argumentativen Verwendung eines politischen Begriffs, in: Zeitsprünge.

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Theoretisch fundiert wurde solches Partizipationsrecht durch führende europäische Rechtsgelehrte wie dem Franzosen Andreas Tiraquellus (1488–1558), der davon ausging, dass jegliches fürstliches Gesetz der Beratung und Zustimmung durch den Adel bedürfe.35 In der Frühen Neuzeit stand der Adel allerdings aufgrund der intensivierten Durchdringungskraft der monarchisch-landesherrlich geformten und geprägten, theoretisch-normativ von nicht-adeligen Rechtsgelehrten entworfenen Rechtssysteme und aufgrund der Ausweitung der Geltungsbereiche des Rechts vor einer besonderen Herausforderung. Praktisch machte sich dies in der zunehmenden Kompetenzzentrierung auf fürstlich-monarchische Justizinstitutionen bemerkbar. Theoretisch machte sich dies kenntlich durch die zunehmende Verabsolutierung des Rechts als oberste Instanz des Soziallebens mit gravierenden, teilweise geradezu dialektisch wirkenden Konsequenzen für die Logiken sozialen Handelns, die traditionelle Aktionslogiken oder legitimierungen relativierten oder gar außer Kraft zu setzen drohten bzw. auch wirklich außer Kraft setzten. So ging der bereits genannte Andreas Tiraquellus ganz selbstverständlich davon aus, dass beispielsweise die Missachtung eines Gerichts durch einen Adeligen – etwa durch absichtliches Fernbleiben von einem Prozess – eine dem Nicht-Adel mindestens vergleichbare Strafe verdiene. Andere Rechtsgelehrte – wie der römische Legist Prospero Farinacci (1544– 1618) – sprachen sich bei diesem sogenannten contumacia-Vorwurf wie auch bei anderen Delikten sogar für härtere Strafen aus, eben weil dem Adel eine soziopolitische Vorbildfunktion zukomme.36 Die von der frühneuzeitlichen Rechtslehre ohne Einschränkung zugestandene soziale Exzellenz des Adels, die sich in zahlreichen juristischen Vergünstigungen niederschlagen sollte, wirkte sich demnach in solchen Fällen prozess- und strafrechtlich negativ für den betroffenen Adeligen aus. Personell schlug sich die beschriebene Herausforderungslage in den Fürstengerichten mit ihren hohen Anteil von

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Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000), S. 120–135; dies.: Politisch-soziale Praxis und symbolische Kultur der landständischen Verfassungen im westfälischen Raum, in: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 1–11; Christoph Volkmar: Landesherrschaft und territoriale Funktionseliten um 1500: Württemberg und Sachsen im Vergleich, in: Sönke Lorenz/Peter Rückert (Hrsg.): Auf dem Weg zur politischen Partizipation? Landstände und Herrschaft im deutschen Südwesten (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde B 182), Stuttgart 2010, S. 45–62; Elizabeth Harding: Landtag und Adeligkeit. Ständische Repräsentationspraxis der Ritterschaft von Osnabrück, Münster und Ravensberg 1650 bis 1800 (Westfalen in der Vormoderne 10), Münster 2011. Vgl. Andreas Tiraquellus: Opera Omnia. Tomus Primus qui est de nobilitate et iure primigeniorum, editio tertia, Frankfurt 1616, cap. XX, Randziffer 26. Vgl. Andreas Tiraquellus: De Poenis legum ac consuetudinum, statutorumque temperandis, aut etiam remittendis: & id quibus, quotq; ex causis, Tomus septimus et ultimus, Francoforti 1574 (Venetiis 1565), causa XXXI, Randziffer 33; Prosper Farinacius: Praxis, et theoricae criminalis amplissimae Pars tertia, Francofurto 1605, hier: De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffern 114–133.

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nicht-adeligem oder neuadeligem Justizpersonal nieder, ideengeschichtlich in der durch Thomas Hobbes und John Locke magistralisierten Vertragsidee, die auf dem Gedanken des Rechtsgeschäfts unter prinzipiell Gleichen abhob. Vereinfacht ausgedrückt: Die Durchsetzung des Römischen Rechts, des Fürstengerichts als oberster Normsetzungs- und Normprüfungsinstanz sowie der Vertrags- und Gleichheitsidee bedrohten die traditionelle Adelskultur und waren doch – ob erzwungen oder gewollt – in der Frühen Neuzeit ein keineswegs unerheblicher und nützlicher Teil von ihr. Aus der Verdichtung und Verrechtlichung von (fürstlich-monarchischer) Herrschaft resultierte insbesondere für den Niederadel – unter ihm gerade für den Altadel – eine wenigstens partielle „Entbettung“ der bis dahin bekannten sozialen Strukturen nebst einem damit einhergehenden Vertrauensverlust, dem die Einsicht in die Notwendigkeit entsprach, neues Vertrauen in sich neu konstellierende Strukturen der Macht und ihrer Mechanismen aufzubauen und ein neues Gefühl sozialer bzw. politischer Sicherheit zu entwickeln.37 Die damit aufgezeigte Ambivalenz der frühneuzeitlichen Rechts- und Justizentwicklung lässt sich an drei Aspekten konkretisieren: am Bedrohungscharakter von Recht und Justiz, gleichzeitig an deren Schutzcharakter und an der Gleichheitsproblematik, die durch Recht und Justiz aufgeworfen wurde. Bedrohlich musste die sich entfaltende Rechtskultur ausnehmen, insofern sie den Adel als Stand offensiv-aggressiv tangierte. Zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzten nicht nur (vermeintlich) unterdrückte Bauern das Recht gegen den Adel. Auch und insbesondere bürgerlich-patrizische bzw. sogenannte halbadelige Gruppen instrumentalisierten Recht und Justiz, um sich gemein mit dem Adel zu machen. Das Verhalten des Stralsunder Rats im 18. Jahrhundert gibt hierfür ein beredtes Zeugnis: Selbst nobilitiert, führten die Stralsunder Patrizier verschiedene Prozesse gegen Adelige Vorpommerns und Rügens, in denen sie die Bestimmungen der fürstlichen (Anti-)Duellgesetze nutzten, um mittels der gerichtlichen Inkriminierung des Verhaltens der adeligen Beklagten die eigene standesgemäße Behandlung durch diese zu erzwingen. Mit dieser Art der Justiznutzung – also durch Instrumentalisierung der die verschiedenen Stände bzw. die Standesgrenzen markierenden Bestimmungen der Duellgesetzgebung – realisierten der Stralsunder Rat erfolgreich die von angestrebte Gleichstellung im Sinne der Akzeptanz seiner ständischen Aufwertung.38 Die eigentlich sozial dinstinktiv intendierten, auf den Ehrschutz des alteingessenen Adel ausgerichteten, gleichsam standespro37 38

Zum Begriff der Einbettung sozialer Strukturen und des Vertrauens zu ihnen vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 3 1999, S. 33–52. Vgl. Ulrike Ludwig: Das Recht als Medium des Transfers. Die Ausbreitung des Duells im Alten Reich, in: Ulrike Ludwig/Barbara Krug-Richter/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 23), Konstanz 2012, S. 159–173, hier S. 171f.

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tektiv orientierten Bestimmungen des Rechts wurden auf diese Weise gegen den Adel dieser Region gewendet. In diesem Punkt wurde das schwedische Recht für den Adel Vorpommerns und Rügens sozial geradezu dysfunktional. Gleichermaßen wurde in anderen Fällen das Recht und die mit ihm verbundenen prozessuale Kommunikations- und Konfliktkultur als Quelle weiterer Ehrverletzung, gar als Störung der Adelskultur bereits im 18. Jahrhundert empfunden,39 obwohl die Gerichte in der Fehdekultur des Spätmittelalters und am Beginn der Frühen Neuzeit bereits allseits akzeptierte Orte des Konfliktaustrags gewesen waren. So finden sich denn auch vielerlei Beispiele, in denen sich beim Adel Gewalt und Recht zwang- und mühelos über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg miteinander verbanden. Im kastilischen Calahorra in der Region La Rioja etwa zückten Hidalgos noch im 17. Jahrhundert plötzlich mitten in einem Prozess um Standesprivilegien ihre Degen und forderten lautstark den Tod aller nicht-adeligen villanos. Solches Verhalten resultierte nicht zuletzt aus der bereits beschrieben sozialen Defensivsituation, in die der kastilische Niederadel geraten war und die sich in einer allgemeinen Stimmung der Antihidalguía niederschlug.40 Die allgemeineuropäische Rechtskultivierung stellte allerdings grosso modo ein erhebliches Bollwerk gegen mögliche Bedrohungen der Adelskultur dar. Im Alten Reich erwies sich symptomatisch, dass die Reichsgerichte als höchst wirksame Schutzinstitutionen des Niederadels und seiner lokalen Herrschaftsrechte – nicht zuletzt seiner Gerichtsrechte – gelten konnten und als solche von den fürstlichen Landesregierungen beklagt wurden. Reichskammergericht und Reichshofrat wirkten in vielen Fällen als Protektoren niederadeliger Unterlandesherrschaft und auf diese Weise aus Sicht der gegen niederadelige Grundherren klagenden Bauern als Protektoren von „Untertyrannen“ der ohnmächtig erscheinenden, obwohl nicht selten auch gegen sie 39

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Vgl. Marc Bors: Duell und juristischer Ehrenschutz. Zur Rolle des Duells in der Literatur zum Ehrverletzungsrecht im 19. Jahrhundert, in: Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff: Duell (wie Anm. 38), S. 175–186, hier S. 178f. Daher war ostentatives Gewaltverhalten keineswegs nur typisch für den lokalen Niederadel, sondern muss aufgrund der ökonomischen Krise vielmehr als Strukturmerkmal der unruhigen kastilischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts gelten. Die lokale Hidalguía wurde ihrerseits zum Opfer massiver, struktureller Gewalt seitens ökonomisch mächtiger, teilweise von den Fürsten gestützter und deshalb einflussreicher nicht-adeliger Familien, wie das Beispiel der Vorgänge in Arnedo (La Rioja) im zweiten und dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts beweist. Dort starben binnen zehn Jahren vier Hidalgos, fünf weitere wurden schwer verletzt durch Attentate von Angehörigen eines nicht-adeligen Familienclans, der vom Conde de Nieva unterstützt und strafrechtlich geschützt wurde; vgl. Antonio Domínguez Ortiz: Las clases privilegiadas en el Antiguo Régimen (Fundamentos 31), Madrid 3 1985, S. 135–145, Pedro Luis Lorenzo Cadarso: Los conflictos populares en Castilla (siglos XVI–XVII) (Historia de los movimientos sociales), Madrid 1996, S. 74f.; ders./Raquel Sánchez Ibañez (Eds.): Familias, poderes, instituciones y conflictos, Murcia 2011. Zur Antihildaguía ausführlich vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 106–111.

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aktionswilligen fürstlichen Landesherrschaften.41 In ähnlicher Weise förderte der polnische Adel daher im 16. Jahrhundert in Anlehnung an das Vorbild des Reichskammergerichts die Einrichtung eines adelsständisch dominierten Appellationsgerichts.42 Das kastilische Strafrecht privilegierte die Hidalgos auf besondere Weise: Nur in Ausnahmefällen wurden Schuldklagen zugelassen, Urteile ergingen zumeist zugunsten der niederadeligen Angeklagten, die Strafpraxis verschonte sie weitgehend von Körperstrafen.43 Gleichermaßen verteidigten niederadelige Familien – wie die Hidalgos von Almodóvar44 – mit allen juristischen Mitteln im 16. Jahrhundert ihr exklusives ständisches Statussymbol, an Ratssitzungen mit Hut und Degen teilnehmen zu dürfen. Gleichsam parallel dazu machte das venezianische Patriziat am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge des Untergangs der Republik 1797 die umgekehrte – und zugleich katastrophale – Erfahrung mit fehlendem Rechtsschutz. Für den Adel der Serenissima erwies sich der Mangel an Rechtsprivilegien als ein entscheidender Baustein für den Verlust seiner politischen Macht und der gesellschaftlichen Eminenz. Gerade des verarmten Adels, der zuvor beides besessen hatte, ausschließlich weil er seit jeher Teil der Elite, nicht weil er privilegiert gewesen war, bekam dies mit aller Härte zu spüren. Die Unmöglichkeit, auf eine privilegierende Rechtstradition verweisen zu können, die bestandsschützend zu wirken vermocht hätte, führte in Kombination mit anderen Faktoren zum völligen Auseinanderbrechen dieser Adelsformation, die sich schließlich selbst auflöste und in der fortan allein die ökonomischen Unterschiede zum Kriterium des politisch-gesellschaftlichen Lebens avancierten.45 Von nicht unerheblicher Bedeutung für den Adel und sein Selbstverständnis erscheint schließlich ein dritter mit dem Rechtsprinzip und einer entsprechenden Rechtskultur verbundener Aspekt: die Gleichheitsproblematik und mit ihr die Vorstellung und der Anspruch des Gesetzes auf gleiche Behandlung aller Rechtssubjekte. Dieser Anspruch musste sich in den ständischen Gesellschaften Alteuropas an den sozialen Realitäten brechen; dies aber nicht erst seit dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit.46 Schon 41

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Vgl. Gerd van den Heuvel: Adlige Herrschaft, bäuerlicher Widerstand und territorialstaatliche Souveränität. Die „Hoch- und Freiheit Gesmold“ (Hochstift Osnabrück) im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 165), Hannover 2011, S. 147, 188f. (dort auch der zitierte Begriff als Selbstbeschreibung des beklagten, sich mit Bauern und Landesherrschaft im erbitterten Streit befindlichen Friedrich von Hammerstein 1796); Wieland: Ausnahme (wie Anm. 4), S. 134. Hierfür ist auf den nachfolgenden Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg zu verweisen. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 60f. Vgl. Domínguez Ortiz: Las clases (wie Anm. 40), S. 135. Vgl. Marion Lühe: Der venezianische Adel nach dem Untergang der Republik (1797– 1830) (Italien in der Moderne 7), Köln 2000, S. 10–14, 17f., 22–27, 162–171. Die Vorstellung der Artgleichheit des Adels untereinander und seiner Artverschiedenheit gegenüber anderen Sozialgruppen findet sich bereits bei Aristoteles, dort die

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im republikanischen Rom – diesem fernen, gerne immer wieder bemühten Spiegel alteuropäischer Adelskultur – hatte dies ein soziales und damit politisches Konfliktfeld dargestellt, das durch die Lex Hortensia im Sinne der aequa libertas unter den römischen Bürgern zwar legalistisch entschärft wurde, angesichts der weiter bestehenden faktischen Privilegierung des patrizischen Adels jedoch sozial erhalten blieb. Seitdem galt das Rechtsprinzip der aequitas iuris gemäß dem jeweiligen Stand, aus der eine iustitia distributiva – das heißt eine Zumessung von Recht gemäß dem jeweiligen Stand, innerhalb dessen Gleichheit herrschen sollte – resultierte.47 Dieses Verständnis von aequitas, die zu einem Spezialterminus der Rechtsprechung avancierte, fand Eingang in die Rechtsauslegung und wurde nicht zuletzt zum Angelpunkt des späteren alteuropäischen Vertragsdenkens. Bis dahin war der Weg allerdings weit und ambivalent. Die christliche Lehre tat sich schwer mit der Gleichheit: Mochte die ursprüngliche Theologie die prinzipielle Gleichheit aller Gläubigen postulieren, wandelte sie sich seit dem 4. Jahrhundert zu einer Rechtfertigungslehre der Ungleichheit und des späteren ordo-Gedankens.48 Thomas von Aquin unterschied denn auch zwischen der Gleichheit im Rechtsleben, die er als unentbehrlichen Maßstab der Gerechtigkeit begriff, und der Ungleichheit als sozialem Faktum und Effekt der differenzierten göttlichen Schöpfung. Er präfigurierte damit für die nachfolgenden Generationen bis ins 19. Jahrhundert das Rechtsdenken, das heißt das Denken über das Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft. Gleichheit konnte auf diese Weise nur als Gleichheit innerhalb der Stände gedacht werden.49 Entsprechend formulierte Joachim Mynsinger von Frundeck (1514–1588) – eine führende Gestalt der frühen deutschen Kameralistik – das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit als distributives.50 Der schon

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betreffenden Personen stets als „Machthaber“ bezeichnet; vgl. Aristoteles: Politik, Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Mit einer Eileitung von Günther Bien (Meiner Philosophische Bibliothek 7), Hamburg 1981 (ND 1990), hier 1308a 11; Otto Dann: Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (Historische Forschungen 16), Berlin 1980, S. 33f. Vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 44ff., mit Literatur. Zum Zentralbegriff wurde dabei statt der inaequalitas bzw. iniquitas die diversitas, die sich aus der Verschiedenheit der Individuen ergebe und dem Werk Gottes immanent sei; vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 56ff. Vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 62–66. Vgl. Joachim Mynsinger von Frundeck: Apotelesma, sive corpus perfectum scholiorum ad quatuor libros Institutionum Iuris Ciuilis, iam denuo, sed multo felicius quam antea, renatum: & a mendis propemodum innumeris, quae in priori editione resederant, ipsiusmet autoris opera, quam accuratißimè repurgatum: multoque auctius redditum, Basel 1566, Liber I (De iustitia et iure), titulus I, Randziffern 17–19: „Ius suum, hoc est, meritum: quia Iustitia tribuit cuique quod ipse meruit, siue praemio afficiendi sint boni, siue poena mali: His enim duobus, praemio scilicet & poena, omnem constare Rempub. Solon dicere solebat. Vnde Aristoteles uocat uirtutem cuique sua tribuentem merita. Porro ut duplex est Iustitia, ita hic duplex intelligitur ratio tribuendi Ius suum suum cuique

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genannte Andreas Tiraquellus hielt adelige Zeugen für glaubhafter als nichtadelige.51 Der vielzitierte italienische Strafrechtsgelehrte Tiberio Deciani (1509–1582) vertrat die Ansicht, „Illustres“ könnten nur vom Fürsten oder dessen Delegaten abgeurteilt werden, während „Illustres ex privilegio“ zwar durch einen fürstlichen Funktionär, nicht aber ohne den Ratschluss des Fürsten abgeurteilt werden dürften.52 Selbst Luther, der mit der Idee des Priestertums aller Gläubigen zwar an die spätmittelalterlichen Gleichheitsforderungen – bspw. eines Marsilius von Padua – anknüpfte, diese jedoch immerhin neu akzentuierte, negierte nicht die politisch-soziale Unterschiedlichkeit. Ebenso wenig unterschied Calvin zwischen spiritueller Gleichheit und politischer Ungleichheit.53 Im 17./18. Jahrhundert rückte die Gleichheitsforderung verstärkt in den Fokus, allerdings auch diesmal unter Akzeptanz der realen gesellschaftlichen Ungleichheiten.54 Erst mit den aufgeklärten Forderungen nach Rechtsgleichheit seit 1770 erhielt die Gleichheitsdiskussion eine entschieden antiaristokratische Stoßrichtung. Adelsprivilegien wurden seitdem als gemeinschaftsschädliche Vorrechte interpretiert.55 Daher soll an dieser Stelle die adelige Rechtskultur als Verständnis und Interpretation von Recht und Justiz durch den Adel selbst, als soziales Anwendungsmoment und politische Teilhabe an Recht und Justiz des jeweiligen Herrschaftssystems sowie als rechtlich-judizielles Verständnis und politischsoziale Interpretation eines privilegierten Standes durch die vormodernen Rechtssysteme bzw. die Rechtstheorien interessieren. Es wird danach zu fragen sein, ob der Begriff der „Justiznutzung“ wenigstens mit Blick auf den Adel nicht differenzierter – also nicht nur als Gerichtsnutzung – verstanden werden müsste, das heißt, inwiefern iustitia aus adeliger Perspektive mehrdimensional in der Ebene von Recht und Gesetz, des Gerichts- und Verfahrenswesens sowie spezifisch ethisch-ständischer Verständnisweisen und Anspruchshaltungen zu begreifen ist. Damit steht selbstverständlich auch zur Diskussion, ob es eine standesspezifische Rechtskultur im alteuropäischen Adel überhaupt gab, was deren Spezifität ausmachte und welche Dimensionen sie annahm oder ob die Implementierung von Rechtskulturen in den

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nempe in distributionibus poenarum & praemiorum pro meritis, & in commutationibus rerum ne cui fiat iniurias, & seruetur aequalitas.“ Siehe auch Sabine Schumann: Joachim Mynsinger von Frundeck (15414–1588). Herzoglicher Kanzler in Wolfenbüttel – Rechtsgelehrter – Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1983. Vgl. Tiraquellus: Opera (wie Anm. 35), cap. XX, Randziffer 33. Vgl. Tiberius Decianus: Tractatus criminalis, Venetiis 1590, Tomus 1, Liber IIII, caput XV (Dignitas, quando & quomodo tribuat Iurisdictionem), Randziffern 1, 2 und 3 („Senatores autem non poterant inconsulto Senatu puniri“). Vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 74–78, 83. Vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 89–100; Kurt von Raumer: Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: HZ 183 (1957), S. 55–96. Vgl. Dann: Gleichheit (wie Anm. 46), S. 124–131.

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alteuropäischen Gesellschaften und deren Herrschaftsverfassungen einen entscheidenden Beitrag zur Relativierung der politisch-sozialen Bedeutung des Adels leistete.

3. Konzeption des Tagungsbandes Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll die Tagung, die vom 29. November bis zum 1. Dezember 2012 in der Reichskammergerichtsforschungsstelle zu Wetzlar stattfand, einen Beitrag zur vorläufigen Bestandsaufnahme für ein Arbeitsfeld leisten, das – gemessen an der Verschmelzung der oben genannten Themenkreise – relativ jung ist und dessen Arbeitshorizonte noch keineswegs eindeutig abgesteckt sind, weil sie erst jüngst in den Blick genommen wurden. Thematisch eröffnen die Referentinnen und Referenten eine europäische Perspektive auf die Problemkreise der Verrechtlichung des sozialen Handelns, auf die Mitwirkung an der Ausgestaltung und Implementierung von Rechtsstandards und auf die Frage nach den Effekten auf den Adel. Der Forschungsstand erscheint dabei im europäischen Rahmen unübersichtlich, bisweilen disparat.56 Das Arbeitsfeld gewinnt gleichwohl umso größeres Gewicht, wenn man einerseits die Durchsetzung des Rechtsprinzips zu den zentralen zivilisatorischen Errungenschaften der europäischen Geschichte mit globaler Wirkung zählt, andererseits die Geschichte des Adels als Spiegel der europäischen Gesellschaftsprozesse erkennt bzw. postuliert. Ein inhaltliches Ziel sollte es daher sein, neben einer Herausarbeitung des jeweiligen Forschungsstandes – gerade für die außerreichischen Regionen – aktuelle Themen und Zielrichtungen der laufenden Forschung zu benennen und aufzuzeigen, inwiefern die aufgerissenen Fragestellungen für ihr jeweiliges Gebiet überhaupt von Relevanz bzw. anwendbar sind. Dabei wurde entsprechend der jeweiligen Herrschaftsorganisation und ständischen Situation seines Umfeldes in erster Linie der Niederadel in den Blick genommen, ohne die fürstlich-gräflichen Häuser unberücksichtigt zu lassen. Sinnvoll erschien die Eröffnung unterschiedlicher Zugänge, die 56

Allgemein zur europäischen Forschung: Albert Goodwin (Ed.): The European Nobility in the Eighteenth Century. Studies of the Nobilities of the major European states in the preReform Era, London 2 1967; Michael L. Bush: The European Nobility, 2 Bde., Manchester/ New York 1983/88; Jonathan Dewald: The European Nobility, 1400–1800, Cambridge/ New York/Melbourne 1996; H.M. Scott (Ed.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, 2 vols., London and New York 1995 und Houndmills/ Basingstoke/Hampshire 2007. Für die iberische Halbinsel neben Lindorfer: Kampf (wie Anm. 24), S. 103–106, vgl. María Carmen Iglesias (Ed.): Nobleza y Sociedad en la España Moderna, 3 Bde., Madrid 1995–1999; Manuel Rivero Rodríguez (Coord.): Nobleza hispana, Nobleza cristiana: La Orden de San Juan, 2 Bde, Madrid 2009. Für Russland Walter Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917 (Historische Politikforschung 16), Frankfurt/New York 2008.

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sich gleichwohl vielfach überschneiden, selbst wenn sie nicht unmittelbar zueinander gehören. Dies betraf zum einen die Bestandsaufnahme für unterschiedliche herrschaftliche Ordnungs- und Organisationsysteme. Hierbei interessierten insbesondere die Interdependenzen, aber auch die (gleichzeitigen) Antagonismen zwischen königlich-zentraler Justizhoheit und den politischen Ansprüchen des Adels auf dem Feld des Politisch-Kommunikativen, wie es in den Beiträgen zu den Fallbeispielen Polen-Litauen (Hans-Jürgen Bömelburg, Kolja Lichy), Spanien (Ignacio Czeguhn), Italien (Frank Jung) und zum zaristischen Russland (Angela Rustemeyer) zum Ausdruck kommt. Selbstverständlich konnte der altreichische Kontext nicht unberücksichtigt bleiben und wird mit den Beiträgen von Kathrin Rast, Sigrid Westphal, Tobias Schenk zu dem neuen Forschungsfeld der Archivbestände des Reichshofrats als systemisch bedeutender Institution entsprechend aufgegriffen. Von dieser systemorientierten Bestandsaufnahme ausgehend interessierten zum anderen Aspekte der Praxis adeligen Lebens und Rechtshandelns in der Ständegesellschaft unter der Fragestellung einer möglichen Differenz zwischen Adelslogik und Rechtslogik. Dieses Feld wird nach der Darstellung des abstrakt-makrojuristischen Rahmens am Beispiel der Tötungsdelikte (Alexander Jendorff) sowohl anhand der adeligen Missheiraten (Michael Sikora) als auch des Gewalteinsatzes durch Adelige (Andreas Erb) bearbeitet. Dabei interessiert auch der Zusammenhang bzw. der Antagonismus zwischen Justizamt, Rechtsfunktion und Adelsprestige, wie er bspw. für die Kammerichter des RKG und den RHR durch Maria von Loewenich und Kathrin Rast untersucht wird. Die Nutzungsebenen und das Problemfeld des juristisch-formalrechtlichen Changierens zwischen Reich und Land bzw. zwischen verschiedenen ständischen Zuordnungsebenen – das heißt zwischen zentralen und territorialen Rechtsinstitutionen – werden in den Beiträgen von Michael Sikora, Andreas Erb und Dieter Wunder problematisiert. Einschlägig ist hierfür auch der Problembereich der Untertanenkonflikte, wie sie Stefan Stodolkowitz anhand der Justiznutzung durch niedersächsische Bauern gegen niederadelige Grundherren, aber auch anhand von Fällen Letzterer gegen Erstere analysiert. Bei alldem ist der alteuropäische Untersuchungsraum zweifellos nicht gleichmäßig erfasst worden. Eine schmerzhafte Lücke stellt das Fehlen entsprechender Referate zu West- und Nordeuropa dar. Dafür haben der sonst eher stiefmütterlich behandelte mediterrane und der mittelosteuropäische Raum eine besondere Berücksichtigung erfahren. Auch thematisch bleiben eine Vielzahl von Themen unbehandelt oder werden nur angerissen. Erwähnt seien an dieser Stelle lediglich das gesamte Problemfeld von Adelsrecht und Kirchenrecht bzw. Adeligkeit und Religion, aber auch der Bereich der Justiznutzung aus geschlechterspezifischer Perspektive, der nur in einigen wenigen Beiträgen – wie demjenigen von Siegrid Westphal – aufgegriffen wird. Dies gibt einen Hinweis auf die bestehende Notwendigkeit einer weiteren Vertiefung des so aufgerissenen Forschungsfeldes.

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Bedauerlicherweise konnte der Beitrag Christian Wielands zur Gerichtspraxis des bayrischen Niederadels, der sehr gut als Scharnier zwieschen Mittel- und Südeuropa hätte dienen können, aus zeitlichen Gründen keine Aufnahme finden.

I. Adeligkeit und Recht als Momente des Sozialen

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Adeligkeit und Rechtswissenschaft: die Beurteilung adeliger Tötungsdelikte in den europäischen Strafrechtslehren vornehmlich des 16. und 17. Jahrhunderts 1. Einleitung Die Verbindung der traditionellen Rechtsgeschichte, die die Rechtsinstitutionen und das materielle Recht thematisiert, mit den Historischen Sozialwissenschaften, die die soziale und politische Praxis von Jurisdiktion problematisiert, hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von weiterführenden Studien hervorgebracht.1 Sie fokussieren sich in der Regel auf die Anwendung und Implementierung von Rechtsnormen durch Obrigkeiten und auf den Umgang mit Normen, Normsetzungsinstanzen und Normdurchsetzungsinstitutionen durch Untertanen. Die Instrumentalisierung von Gerichten, deren Logiken und des rechtlichen Normhorizontes sowie der Umgang mit und das Abbiegen von juristischen Normen und jurisdiktionellen Instanzen in sozialen Kontexten auf verschiedenen Ebenen bzw. in verschiedenen Räumen stehen dabei nur als einige wenige Facetten des Erkenntnisgewinns dieses neueren Forschungsfeldes. In diesem Kontext wurde seit einigen Jahren auch intensiv der Anteil und Beitrag des Adels an der Justiznutzung und der Entwicklung alteuropäischer Rechtskultur erforscht.2 Auffällig bei diesen Forschungsentwicklungen sind allerdings zwei miteinander verknüpfte Aspekte: Zum einen scheint die Frage, auf welchen rechtswissenschaftlichen Auffassungen die praktische Gerichtsbarkeit auflag, derzeit bemerkenswert uninteressant zu sein.3 Dies mag sich aus dem Desin1

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Vgl. Alexander Jendorff : Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode (bibliothek altes Reich = baR 9), München 2012, S. 5–9, mit der entsprechenden Literatur. Vgl. die im Einleitungsbeitrag genannte Literatur. Dies gilt selbst für jene zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis angesiedelte ältere rechtsgeschichtliche Forschung, die die Spruchpraxis mit der sozialen Herkunft des Angeklagten abglich und dazu die Voten der altreichischen Juristenfakultäten heranzog. Heinrich Gwinner brachte dies – durchaus zeittypisch – mit dem programmatischen Satz auf den Punkt: „Theoretische Untersuchungen und Anschauungen jener Zeit mußten grundsätzlich ausgeschlossen werden, um das Bild des Tatsächlichen, vor allem das der Strafrechtspraxis nicht zu verwischen oder gar zu verzerren“; Heinrich Gwinner: Der Einfluß des Standes im gemeinen Strafrecht, (Diss. Heidelberg) Breslau–Neukirch 1934 (ND Frankfurt am Main/Tokyo 1977), S. 3. Weiterhin für den Zusammenhang zwischen Spruchpraxis und Standesfragen vgl. Friedrich Wintterlin: Der Einfluss der Standesver-

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teresse vornehmlich sozialwissenschaftlich arbeitender Historiker erklären, denen theoretische Texte zu trocken erscheinen und deren logische Sinnhaftigkeit sich dem Leser auch nicht immer sofort erschließt. Erschwert wird die Berücksichtigung der rechtswissenschaftlichen Ideengeschichte zudem durch mangelnde juristische Kenntnisse – verstanden als Defizite des juristischen Begriffsverständnisses – sowie insbesondere durch die lateinische Sprachbarriere, die sich mehr und mehr zu einer universitären Sprachproblematik auswächst. Daraus resultierend blieb zum anderen die Frage, welchen Stellenwert Adel und Adeligkeit in der alteuropäischen Rechtslehre besaßen, in jüngerer Zeit weitgehend unbeachtet, obwohl sie in der Vergangenheit bereits eingehend behandelt wurde. Adel erscheint sowohl als ein Rechtssubjekt wie auch als Jurisdiktionsobjekt gleich jedem anderen Untertan. Ein solches Verständnis mag zunächst einmal konsequent sein, weil der maßgeblich seit dem Hochmittelalter auf dem römischen Rechtsdenken aufbauende alteuropäische Rechtsraum trotz allen regionalen bzw. staatlichen oder ständischen Unterschieden den Grundsatz der Rechtsgleichheit vor dem Gesetz in sich barg. Nur handelte es sich bei den alteuropäischen Rechtsgemeinschaften um Privilegiengesellschaften ständisch Ungleicher. Der Verbindlichkeits- und Gleichheitsanspruch der Rechtsbasis kollidierte gewissermaßen mit den Standesinteressen.4 Untersucht man die frühneuzeitliche Strafrechtslehre in ihrem Verhältnis zum Adelsstand, muss demnach die Frage relevant werden, ob sie ein spezielles Adelsrecht kannte bzw. berücksichtigte, ob sie aus dem

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hältnisse des Täters auf die Bestrafung, (Diss. Stuttgart) 1895; Ulrich Stock: Entwicklung und Wesen der Amtsverbrechen (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien 67), Leipzig 1932, insbesondere S. 104–113; Rudolf His: Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina. Handbuch der mittelalterlichen und neuere Geschichte, München/Berlin 1928, S. 67f.; Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, 3 Bde. (2.–10. Auflage) (WV studium 8, 9, 139), Opladen 1980/1992/1993, hier Bd. 2, S. 267–281. Anders dagegen ausgerichtet und für den hier problematisierten thematischen Zusammenhang zentral: Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 2., unveränderter Nachdruck der 3. Auflage, Göttingen 1995. Für die Kritik an der Methodik der Historischen Kriminalitätsforschung aus kriminologischer Sicht vgl. Eva Lacour: Für mehr Kriminologie in der Kriminialitätsgeschichte. Eine Methode zur Analyse gewalttätiger Konflikte am Beispiel frühneuzeitlicher Fälle aus drei Eifler Territorien, in: ZSRG GA 119 (2002), S. 219–249. Deutlich wird allein schon an einem iberischen Beispiel, das sich mühelos europäisieren ließe: Die kastilische Hidalguía wurde von der Krone juristisch derart privilegiert, dass gegen sie zwar Schuldklagen eingereicht, diese jedoch nur in Ausnahmefällen angenommen und in noch weniger Fällen fällige Strafen verhängt wurden. Bei Verhaftungen wurden Hidalgos in separate Gefängnisse eingewiesen, Urteile fielen zumeist zugunsten des Niederadels aus, während die Bestrafungsarten ebenfalls stets gemildert oder gewandelt wurden. Solcherlei Privilegierung stellte allerdings kein alteuropäisches Spezifikum, vielmehr ein traditionales Moment dar, wie es sich seit der ausgehenden römischen Republik ausgebildet hatte; vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 12–21; Bianca Maria Lindorfer: Kampf gegen Windmühlen. Der niedere Adel Kastiliens in der frühen Neuzeit (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 9), Oldenbourg 2004, S. 60f.

Adeligkeit und Rechtswissenschaft: die Beurteilung adeliger Tötungsdelikte

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Gleichheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heraus eine Privilegierung des Adels ableitete oder ob sie solches gerade deshalb verweigerte. Die an dieser Stelle diagnostizierten Defizite stehen gleichermaßen in einem auffälligen Gegensatz zur Intensität, mit der gerade in der jüngeren Vergangenheit die frühneuzeitlichen Herrschaftslehren untersucht wurden.5 Ausgangspunkt der frühneuzeitlichen Politica war die iustitia, ohne die nach augustinischer Meinung jede Herrschaft zur Räuberei und Tyrannei verkomme. Iustitia – verstanden als Sinnzusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Justiz – wurde gerade im 16. und 17. Jahrhundert verstärkt auf der Basis des römischen Rechts problematisiert und theoretisiert. Die Gelehrten verstanden Recht, Gerechtigkeit und Justiz als Elemente jener iustitia, die in einem funktionierenden Gemeinwesen als Ausweis guter Herrschaft zu pflegen war und die im antik-römischen Verständnis sowohl Gerechtigkeit als Tugend als auch das Gerechtigkeitsgefühl als Sinn für die Angemessenheit einer (Rechts-) Handlung und ein angemessenes Rechtsverfahren meinte. Dabei stand unter den Rechtsgelehrten der beginnenden Frühen Neuzeit insbesondere zur Diskussion, was iustitia eigentlich ausmache – nicht nur mit Blick auf die Frage, was eine Handlung zu einer Straftat werden ließ, sondern auch von wem, wie, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß eine Straftat geahndet werden müsse. Derartige Fragen waren nicht nur allgemeiner Natur, sondern machten sich insbesondere an dem gesellschaftlichen Stand des Beklagten fest. Für die aufgezeigten prinzipiellen Fragestellungen kann an dieser Stelle nur eine grobe Orientierung und Untersuchung ausgewählter Rechtsgelehrter erfolgen. Was die Auswahl der Autoren betrifft, darf wenigstens in Anspruch genommen werden, dass es sich um führende Vertreter der europäischen Rechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts handelt, die aus verschiedenen Regionen Europas mit unterschiedlichen soziopolitischen Rahmenbedingungen stammten und deren Werke jeweils in den Fachkreisen eine überkonfessionelle Wirkung in und für Gesamteuropa entfalteten. Der südlich-mediterrankatholische Herkunftsschwerpunkt reflektiert die Entwicklungsgeschichte der europäischen Rechtslehre und spielt für unseren thematischen Zusammenhang eine geringe Rolle. Darüber hinaus wurden auch die Schriften 5

Vgl. Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts (Studia Augustana 4), Tübingen 1992; Harriet Rudolph/Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.): Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa (Trierer Historische Forschungen 48), Trier 2003; Luise Schorn-Schütte: Kommunikation über Politik im Europa der Frühen Neuzeit. Ein Forschungskonzept, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2007, S. 3–36; Luise Schorn-Schütte/Sven Tode (Hrsg.): Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 19), Berlin 2006; Neithard Bulst (Hrsg.): Politik und Kommunikation. Zur Geschichte des Politischen in der Vormoderne (Historische Politikforschung 7), Frankfurt/New York 2009.

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jener Rechtsgelehrter ausgewählt, die in der Reichsstraflehre des Untersuchungszeitraums eine herausragende Bedeutung besaßen.6 Die Auswahl des sachlichen Hauptgegenstands – das Tötungsdelikt – darf für sich im Kontext der Erforschung von Adel bzw. Adeligkeit durchaus zentrale Bedeutung beanspruchen. Denn auf diese Weise wird nicht einfach nur ein rechtliches Kapitaldelikt, sondern insbesondere auch die Zulässigkeit physischer Gewaltanwendung problematisiert und damit ein Kernbereich des adeligen Selbstverständnisses, gerade des alten Niederadels, der in vielen Traktaten – durchaus in Absetzung vom Briefadel späterer Jahrhunderte – als nobilitas gefasst wird. Eigenmacht und Eigensinn eines solchen (alteingesessenen Nieder-) Adeligen umfasste eben die Selbstbestimmung und die Herrschaft über andere,7 was Gewaltausübung automatisch einschloss. Die Wertigkeit dieser Problematik erweist allein schon die Fehdeproblematik, die bei den fürstlichen wie auch niederadeligen Zeitgenossen heftig umstritten war, weil sie die einander widersprechenden standesgebundenen und herrschaftspolitischen Ansprüche und Selbstdefinitionen in symptomatischer Weise reflektierte. Die Fehdepraxis war aus der Perspektive des anwendenden Adels lediglich ein Instrument zur adeligen Selbstverteidigung bzw. zum Selbsterhalt in allgegenwärtigen Situationen der sozialen und politischen (Binnen-) Konkurrenz.8 Mit diesem Selbstverständnis und Anspruch des Adels mussten sich die Fürsten auseinandersetzen. Sie waren just zu dieser Zeit einerseits verstärkt darum bemüht, unter anderem mit Hilfe der Justiz einheitliche Untertanenverbände unter Einschluss des Adels zu schaffen. Andererseits durften sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, gegenüber dem Adel ungerecht zu handeln, weil sie ansonsten Gefahr liefen, als tyrannische Herrscher eingestuft und politisch bekämpft zu werden. Der zeitgenössische Begriff der iustitia barg daher ein erhebliches politisches Sprengpotential, insofern es sich letztlich um einen politischen Kampfbegriff handelte. Um so interessanter erscheint es, im Kontext der iustitia-Problematik den Überlegungen der zeitgenössischen Rechtsdogmatiker zum Tötungsdelikt nachzuspüren.

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Vgl. Schmidt: Einführung (wie Anm. 3), S. 148–157. Vgl. Alexander Jendorff : Eigenmacht und Eigensinn. Zum Verhältnis von Kollektivität und Individualität im alteuropäischen Adel, in: HZ 292 (2011), S. 613–644; ders.: Eigensinn in geschwinden Zeiten. Adeliges Selbstverständnis und adeliges Handeln in den strukturellen Veränderungsprozessen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, in: HJb 131 (2011), S. 215– 261. Zu Gewalt, ihren Orten und Wahrnehmungen in weiterer Perspektive jüngst: Jörg Barberowski/Gabriele Metzler (Hrsg.): Gewalträume. Soziale Ordungen im Ausnahmezustand (Eigene und Fremde Welten 20), Frankfurt/New York 2012; Neithard Bulst/Ingrid Gilcher-Holtey/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Gewalt im politischen Raum. Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Historische Politikforschung 15), Frankfurt/ New York 2009. Vgl. Alexander Jendorff/Steffen Krieb: Adel im Konflikt. Beobachtungen zu den Austragungsformen der Fehde im Spätmittelalter, in: ZHF 30 (2003), S. 179–206.

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2. Das Tötungsdelikt als Gegenstand der Rechtslehre: Tötungserlaubnis als adeliges Standesprivileg? Rechtspraktiker wie auch Rechtsdogmatiker im Alten Reich orientierten sich im 16. und 17. Jahrhundert an zwei Pfeilern der Rechtsbasis: Zum einen war für sie die Constitutio Criminalis Carolina – die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. – von 1532 von grundlegender Bedeutung, allein schon weil sie im gesamten Reich galt.9 Auch die Carolina basierte auf dem Grundsatz der Rechtsgleichheit und kannte zugleich das für den Adel entscheidende Prinzip der Verurteilung „nach Gelegenheit und Gestalt der Person“10 , was sich jedoch nicht explizit auf ständisch-soziale Unterschiede bezog. Damit eröffnete sie der territorialen Strafgesetzgebung weite Handlungsspielräume, ebenso späteren Rechtsauffassungen wie der Lehre von der arbiträren Strafe bzw. der poena extraordinaria des Benedict Carpzov (1595–1666).11 Die Publikation der Carolina stellte somit zwar ein bedeutendes Moment der Rezeption des römischen Rechts im Reich dar. Diese Rezeption und Einbindung in die Rechtsprechung der Gerichte bzw. die prozessuale Rechtsargumentation erfolgte jedoch nicht unmittelbar und vollständig, sondern langsam und zunächst noch unter Berücksichtigung traditioneller Rechtsvorstellungen, die in den Territorien unterschiedlich sein konnten.12 Für die Ahndung eines Tötungsdelikts kannten traditionelle 9

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Vgl. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532 (Carolina), herausgegeben und erläutert von Gustav Radbruch, 6. Auflage hrsg. von Arthur Kaufmann, Stuttgart 1991; Josef Kohler (Hrsg. und Bearb.): Die Carolina und ihre Vorgängerinnen. Text, Erläuterung, Geschichte, 4 Bde., Halle a.S. 1900–1915, hier Bd. 1; Schmidt: Einführung (wie Anm. 3), S. 125–134, 141–144; Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.): Die Carolina: die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Wege der Forschung 626), Darmstadt 1986; Carolina-Kommentare des 16. Jahrhunderts, Justin Gobler, Georgius Remus und Nicolaus Vigelius (Bibliothek des deutschen Strafrechts. Alte Meister 28), ND Goldbach 2000; Elmar Geus: Mörder, Diebe, Räuber: historische Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch (Spektrum Kulturwissenschaften 6), Berlin 2002. Symptomatisch dafür vgl. Carolina (wie Anm. 9), Art. 106, der eine Verurteilung des wegen Gotteslästerung Beklagten nach genannter Gelegenheit der Person vorsah; ebenso die Art. 114, 119, 159, 160, 169; Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 8f., 36–46. Vgl. Benedict Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestiones XXIV Nr. 9 und XXV Nr. 1; Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 11f. Zu ihm vgl. Schmidt: Einführung (wie Anm. 3), S. 166–169; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 115f. Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 16), Köln/Weimar/Wien 1997; Susanne Pohl: Ehrlicher Totschlag – Rache – Notwehr. Zwischen männlichem Ehrcode und dem Primat des Stadtfriedens (Zürich 1376–1600), in: Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hrsg.), Kulturelle Reformation: Sinnformationen im Umbruch 1400–1600 (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 145), Göttingen 1999, S. 239–283; Heiner Lück: Sühne und Strafgerichtsbarkeit im Kursachsen des 15. und 16. Jahrhunderts, in:

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Rechtsnormen bspw. im Falle der sogenannten ehrlichen Tötung – also der Tötung infolge einer ehrverletzenden Handlung durch den Getöteten – das Instrument des Sühnevertrages. Ein solcher Vertrag stellte ein noch im 16. und 17. Jahrhundert vielerorts vor Gericht ausgehandelter Ausgleich zwischen Täter und Opfer bzw. dessen Angehörigen dar.13 Die Einführung der Carolina bedeutete von Beginn an die Änderung jener juristischen Rahmenbedingungen. Selbst wenn das Römische Recht als „offener Code“14 gelten kann, der von Widersprüchen und Inkonsistenzen geprägt war, die interpretativargumentativ vor Gericht und unter Einschluss von moralisch-christlichen Diskursen genutzt werden konnten, so setzte es sich doch mit der Zeit als gültiges Rechtssystem mit autoritativen Normen durch. Dadurch wurden Spielräume des gerichtlichen Austrags eingeschränkt. Mit diesem hatten sich die Juristen auseinanderzusetzen und daher auch insbesondere mit der für Tötungsdelikte entscheidenden Kategorie des Vorsatzes (dolus), an der man sich vor Gericht abarbeiten musste. Eine zweite Grundlage war die zeitgenössische Strafrechtslehre, die sich im zeittypisch vernetzten Diskurs von Theologen und genuinen Juristen befand und insbesondere von Südeuropa aus dynamisiert wurde.15 Ihre am Römischen Recht und am Naturrecht orientierten Interpretationen trugen zur weiteren Entwicklung und Prägung des europäischen Rechtsverständnisses – mithin zur Definition und Beurteilung juristisch-prozessualer Gegenstän-

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Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 83–99; Thomas Krause: Die Strafrechtspflege im Kurfürstentum und Königtum Hannover vom Ende des 17. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 28), Aalen 1991; Ulrike Ludwig: Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548–1648 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 16), Konstanz 2008. Dass es sich bei dem hier aufgezeigten Abweichungsmoment zwischen Reichsrecht und Territorialrecht keineswegs bloß um ein vormodernes Phänomen mit gravierenden sozialen Implikationen handelt, erweist Stefan B. Kirmse (ed.): One Law for All? Western Models and Local Practices in (Post-) Imperial Contexts (Eigene und Fremde Welten 25), Frankfurt/New York 2012. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 106f. So Susanne Pohl: Schuldmindernde Umstände im römischen Recht. Die Verhandlungen des Totschlags im Herzogtum Württemberg im 16. Jahrhundert, in: Harriet Rudolph/ Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa (Trierer Historische Forschungen 48), Trier 2003, S. 235–256, hier S. 244, 254. Vgl. Georg Dahm: Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter. Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis im Strafrecht des Spätmittelalters, namentlich im XIV. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3), Leipzig 1931 (ND Goldbach 1995); Woldemar Engelmann: Die Schuldlehre der Postglossatoren und ihre Fortentwicklung. Eine historisch-dogmatische Darstellung der kriminellen Schuldlehre der italienischen Juristen des Mittelalters seit Accursius, Leipzig 1895 (ND Aalen 1965).

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de – entscheidend bei. Vor dem Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit formten die Gelehrten jene Rechtsauffassungen, die einerseits die sozialen und politischen Realitäten reflektierten und sie andererseits in einem gegenläufigen Prozess nachhaltig beeinflussten.16 Im Folgenden sollen aus diesem Fundus gelehrter Rechtsmeinungen, die sich aus theoretischen Überlegungen wie auch aus den praktischen Erfahrungen und Beobachtungen der juristisch, theologisch und ethisch-philosophisch ausgewiesenen Autoren gleichermaßen speisten, einige Werke herangezogen werden, die zwar nur als repräsentativer Ausschnitt gelten dürfen, aber aufzuzeigen vermögen, in welchem rechtsdogmatischen Spannungsfeld das soziale Distinktionsmerkmal der Adeligkeit verhandelt wurde.17 16

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Vgl. Daniel Deckers: Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeit des Francisco de Vitoria (1483–1546) (Studien zur theologischen Ethik 35), Freiburg/Schweiz 1991; Eckehard Quin: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600 (Beiträge zur politischen Wissenschaft 109), Berlin 1999; Harald Maihold: Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 9), Köln/Weimar/Wien 2005. Allgemein zur Geschichte der (alteuropäischen) Strafrechtslehre vgl. Friedrich Schaffstein: Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, Berlin 1930 (ND Aalen 1986); ders.: Die Europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter des Humanismus. Göttingen 1954; Gustav Radbruch: Strafrechtsgeschichte (Gesamtausgabe Bd. 11), bearbeitet von Ulfried Neumann, Heidelberg 2001; Xavier Rousseaux: From Case to Crime. Homicide Regulation in Medieval an Modern Europe, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 1), Köln 1999, S. 143–175; Frank Grunert: Theologien der Strafe. Zur Straftheorie von Thomas von Aquin und ihrer Rezeption in der spanischen Spätscholastik: das Beispiel Francisco de Vitoria, in: Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 2), Köln/Weimar/ Wien 1999, S. 313–332; Klaus Lüdersen (Hrsg.): Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. Systematisierung der Fragestellung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 6), Köln/Weimar/Wien 2002; Hans Schlosser/Rolf Sprandel/Dietmar Willoweit (Hrsg.): Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 5), Köln/Weimar/ Wien 2002 (insbesondere mit den Beiträgen von Friederike Neumann und Daniela Müller); Thorsten Guthke: Die Herausbildung der Strafklage. Exemplarische Studien anhand deutscher, französischer und flämischer Quellen (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien 8), Köln/Weimar/Wien 2009; Sybille Schnyder: Tötung und Diebstahl. Delikt und Strafe in der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien 9), Köln/Weimar/Wien 2010. Im Einzelnen greife ich bei meinen Ausführungen auf folgende Autoren und deren Werke zurück: Albertus Gandinus: Tractatus de maleficiis, in: Hermann Kantorowicz (Hrsg.), Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, 2 Bde., Berlin 1907–1926; Angelus Aretinus: Tractatus de maleficiis, Venetiis 1584; Pedro de Aragon: In secundam secun-

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dae divi Thomae Doctoris Angelici Commentaria De Iustitia et Iure, Lugduni 1597; Bonifacius de Vitalinis: Super maleficiis, Mediolani 1514; Aegidius Bossius: Tractatus varii, qui omnem ferè criminalem materiam excellenti doctrina complectuntur, in quibus plurima ad Fiscum, & ad Principis autoritatem, ac potestatem, necnon ad vectigalium conductiones, remissionesque pensionum pertinentia diligentissimè explicantur: opus vtilissimum, & iusdicentibus, ac causarum patronis maximè necessarium, Lugduni 1566 (Lugduni 1570); Diego de la Cantera: Questiones Criminales tangentes judicem, accusatorem, reum probationem, punitionemque delictorum, Salamanticae 1589; Iulius Clarus: Opera omnia: quae quidem hactenus per auctorem in lucem edita sunt: nunc denuo recens et multo quam antehac unquam, collatis omnibus diuersarum editionum exemplaribus, recusa, Frankfurt 1582 (Venetiis 1588) (Liber quintus receptarum sententiarum integer, in quo omnium criminum materia sub sententijs copiosissimè tractatur); Diego de Covarruvias y Leyva: Opera omnia, Frankfurt am Main 1608 (1583); Jodocus Damhouder: Practica rerum criminalium, Lugduni 1558 (hier verwendete deutsche Ausgabe: Praxis Rerum Criminalium. Gründtliche und rechte Underweysung welcher massen in Rechtfertigung Peinlicher Sachen / nach gemeynen beschriebenen Rechten / vor und in Gerichten ordentlich zu handeln. Allen Hohen vnd Nidern Stands Oberkeyten / Richtern / Gerichtsverwandten / vnd sonst iedermänniglichen / nützlich vnd nothwendig zugebrauchen. Frankfurt am Mayn 1591); Tiberius Decianus: Tractatus criminalis, Venetiis 1590; Prosper Farinacius: Praxis, et theoricae criminalis amplissimae Libri Duo, in quinque titulos distributi, Francofurti 1597; Prosper Farinacius: Praxis, et theoricae criminalis amplissimae Pars tertia, Francofurto 1605; Antonio Gomez: Commentarierum, variarumque resolutionum IV iuris civilis, communis et regii, Tomi tres, Francoforti ad Moenum 1584; Leonardus Lessius: De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus, Libri IV, ad. 2.2. D. Thomae, a quest. 47 usque ad quest. 171, Antwerpen 1612 (Paris 1610); Juan de Lugo: Disputationum de iustitia et iure, Lugduni 1670 (Lugduni 1646); Luis de Molina: De iustitia et jure, Moguntiae 1659 (Moguntiae 1614); Domingo de Soto: De Iustitia et Iure, Lugduni 1569 (Salamanticae 1556; ND Madrid 1968); Andreas Tiraquellus: De Poenis legum ac consuetudinum, statutorumque temperandis, aut etiam remittendis: & id quibus, quotq; ex causis, Tomus septimus et ultimus, Francoforti 1574 (Venetiis 1565); Andreas Tiraquellus: Opera Omnia. Tomus Primus qui est de nobilitate et iure primigeniorum, editio tertia, Frankfurt 1616; Fernando Vàzquez de Menchaca: Controversiarum illustris aliarumque usu frequentium, Liber Primus, Venedig 1564/Frankfurt 1606 (ND Valladolid 1931). Als Vertreter der frühneuzeitlichen Reichsstraflehre bzw. Strafrechtswissenschaft wurden folgende Autoren herangezogen: Benedict Carpzov: Practica Nova rerum Criminalium Imperialis Saxonica in tres partes divisa, Leipzig 1723; ders.: Strafrecht nach neuer Kurfürstlich-Sächsischer Praxis, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Dietrich Oehler, Goldbach 2000; Andreas Gail: Camerae Imperialis Observationes. Deß Keyserlichen Cammergerichts sonderliche Gerichtsbreuche vnnd Rechts-Regeln / in zweyen Buechern fein ordentlich zusam verfasset, Hamburg 1601; Ludwig Gilhausen: Arbor Judiciaria, secundum augustissimum camerale Jus atque Saxonicum, multaque alia prouincialia Iudicia erecta & directa; totum processum causarum civilium dilucide explanans, et nucleum omnium quaestionium practicabilium ratione processus iudiciarij continens, editio secunda, Frankfurt 1612; Ludwig Gilhausen: Arbor Iudiciaria Criminalis, in qua tam delictorum genera, quam Inquisitionum & Accusationum, vt etiam Defensionum, Judiciorum & Poenarum Materia & Formulae dilucide arguteque declarantur, tratctantur, explicantur & continentur, Frankfurt 1614; Johann Harpprecht: Tractatus criminalis, planam ac perspicuam aliquot titulorum libri IV institutionum Iuris D. Iustiniani Imp. Explicationem complectens, Frankfurt 1603; Joachim Mynsinger von Frundeck: Apotelesma, sive corpus perfectum scholiorum ad quatuor libros Institu-

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Dieses Distinktionsmerkmal stellte nämlich in den Rechtsangelegenheiten des Adels eine zentrale und deshalb stetig wiederkehrende Legitimationsfigur dar. Die Verteidiger von adeligen Beklagten verwiesen vor Gericht bei der Rechtfertigung von strafrechtlich verfolgter Gewaltanwendung durch ihre Mandanten regelmäßig auf drei Aspekte: auf die unmittelbar gegebene Notwehrsituation, auf die langjährige, nicht nur gerichtlich, sondern meist auch gewaltsam-physisch ausgetragene Feindschaft zwischen dem Angeklagten und seinen späteren Opfern sowie auf die Adeligkeit des Mandanten. Dem letzten Argument waren die zwei Annahmen inhärent, ein Adeliger sei zur Gewaltanwendung berechtigt, weil es sich um den Ausfluss seines adeligen Selbsterhalts handele, und/oder es handele sich um eine Verteidigungsmaßnahme, um sein adeligen Ruf zu erhalten. 2.1 Tötung als Delikt in der Carolina

Die Carolina untersagte gemäß der zeitgenössischen Strafgesetzgebung in Fortsetzung mittelalterlicher Rechtslehren18 und gemäß des Landfriedens

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tionum Iuris Ciuilis, iam denuo, sed multo felicius quam antea, renatum: & a mendis propemodum innumeris, quae in priori editione resederant, ipsiusmet autoris opera, quam accuratißimè repurgatum: multoque auctius redditum, Basel 1566; Abraham Sawr: Fasciculus de Poenis vulgo Straffbuch / Gruendtliche und rechte Vnderweysung, wie heutiges Tags / nach allgemeynen beschriebenen Geistlichen vnnd Weltlichen Rechten / Reichs auch LandesOrdnungen / Statuten, Opinionen der Rechtsgelehrten / vnd wolhergebrachten Gewonheiten / etliche grobe eusserliche Suende / Freuel / vnd begangene Missethaten / Buergerlich vnd Peinliche zu straffen / gepflogen werden. Allen vnd jeden / so an peinlichen Gerichten zu handeln haben / fast dienstlich / förderlich vnd behuelflich / Mit angehengten Allegationibus vnnd Rechtsgruenden, Franckfurt am Mayn 1590; Petrus Theodoricus: Criminale Collegium, Jena 1618; Matthaeus Wesenbec: Paratitla in Pandectas iuris civilis: iam primum ab authore aedita, recognita & aucta. Basel 1566. Als biographische Grundlage zu den Genannten mag dienen: Allgemeines Gelehrten=Lexikon, hrsg. von Christian Gottlieb Jöcher, 4 Bde., Leipzig 1750– 1751 (ND Hildesheim 1960–61); Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten=Lexico, 7 Bde. 1784–1897 (ND Hildesheim 1960– 1961); Michael Stolleis: Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. München 1995; ders.: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988; ders.: (Hrsg.): Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, München3 1995. Zu den sich im nachdrücklichen Wandel befindlichen mittelalterlichen, insbesondere kirchenrechtlichen Normierungen und Einschränkungen der Fehde – gerade im Gegensatz zur sozialen Norm – vgl. Christine Reinle: Innovation oder Transformation? Die Veränderung des Fehdewesens im Spämittelalter, in: Christian Reinle/Klaus Oschema (Hrsg.), Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, S. 197–230, insbesondere S. 206–219; dies.: Umkämpfter Friede. Politischer Gestaltungswille und geistlicher Normenhorizont bei der Fehdebekämpfung im deutschen Spätmittelalter, in: Stefan Esders/Christine Reinle (Hrsg.), Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt (Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5),

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von 1495 – dem allgemeinen Fehdeverbot19 – den gewaltsamen Konfliktaustrag prinzipiell und generell. Gleichwohl kannte sie Ausnahmen bzw. Differenzierungen, vor allem bei Tötungshandlungen, die nicht selten aus einer Fehdehandlung als Kollateraldelikt resultierten. Zu entscheiden war im Falle des homicidium, ob es sich beim Delikt um eine vorsätzliche Handlung handelte. Entsprechend besagte der Artikel 137: „eyn jeder mörder oder todtschläger, wo er deßhalb nit rechtmessig entschuldigung außfüren kann, hat das leben verwürckt. Aber nach gewonheyt etlicher gegent, werden die fürsetzlichen mörder vnd die todtschleger eynander gleich mit dem radt gericht, darinnen soll vnderscheydt gehalten werden; vnd also daß der gewonheyt nach, ein fürsetzlicher mutwilliger mörder mit dem rade, vnnd eynander der eyn todtschlag, oder auß gecheyt vnd zorn gethan, vnd sunst auch gemelte entschuldigung nit hat, mit dem schwert vom leben zum todt gestrafft werden sollen.“20

Demnach kannte die Carolina eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Tötung, diese konnte aber nicht in der Geltendmachung von Affekten bestehen. Vielmehr wurden Affektmorde zunächst ebenfalls zu Gegenständen einer Anklage wegen vorsätzlicher Tötung. Allerdings wurden sie – in einer für die Carolina ganz symptomatisch inkonsistenten Weise – als Schuldminderungsgründe auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Die der Carolina folgende territoriale Rechtsprechung ahndete Tötungsdelikte denn auch in der Regel nicht derart streng und suchte eher nach schuldmindernden Faktoren zugunsten des Angeklagten. Diese konnten bspw. in der Berücksichtigung seines tugendhaftchristlichen Vorlebens bestehen, das eine mildere Bestrafung sinnvoll erschei-

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Münster 2005, S. 148–173; dies.: Legitimation und Delegitimierung von Fehden in juristischen und theologischen Diskursen des Spätmittelalters, in: Gisela Naegle (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen. Faire la paix et se défendre à la fin de Moyen Âge (Pariser historische Studien 98), München 2012, S. 83–120. Vgl. Elmar Wadle: Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in: 1495 – Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms, hrsg. von der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Koblenz 1995, S. 71–80; Mattias G. Fischer: Reichsreform und Ewiger Landfrieden. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 34), Aalen 2007; Ingrid Scheurmann: Die Wissenschaft vom Kameralprozeß, in: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hrsg. von Ingrid Scheurmann, Mainz 1994, S. 159–169; Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.): Friedenssicherung durch Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997; Horst Carl: Landfrieden als Konzept und Realität kollektiver Sicherheit im Heiligen Römischen Reich, in: Gisela Naegle (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen. Faire la paix et se défendre à la fin de Moyen Âge (Pariser historische Studien 98), München 2012, S. 121–138; Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 159–163. Carolina (wie Anm. 9), Art. 137, der fortfuhr: „Vnd man mag inn fürgesetztem mordt, so der an hohen trefflichen personen des thetters eygen herrn, zwischen eheleuten oder nahend gesippten freunden geschicht, durch etlich leibstraff als mit zangen, reissen oder außschleyffung vor der entlichen tödtung vmb grösser forcht willen die straff meren“.

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nen ließ. Ein Recht auf automatische Strafminderung ließ jedoch auch eine solche Rechtsprechung nicht zu. Sie zwang zu fallspezifischen Urteilen.21 Die gelehrten Juristen und ihre in der territorialen Gerichtspraxis arbeitenden Fachkollegen widmeten sich angesichts der scharfen Bestimmungen der Reichsprozessordnung intensiv den im römischen Recht findbaren schuldmindernden Faktoren und suchten sie nutzbar zu machen. So versuchten sie, mit dem in Artikel 137 der Carolina enthaltenen Begriff der „Entschuldigung“ sogenannte Unfälle – wie Zorn, Trunkenheit, Minderjährigkeit oder Geistesverwirrung – oder Notwehr zu erfassen. Beide Kategorien griffen gewissermaßen ineinander. Die Carolina anerkannte nämlich im Artikel 140 ein Notwehrrecht, insofern sie das Recht auf Gegenwehr konzedierte.22 Dieses juristische Zugeständnis diente in den folgenden Jahren zahlreichen Adeligen zur Rechtfertigung gewaltsamer Aktionen gegenüber Dritten. Es handelte sich um ein probates Argument, um Handlungen, die zuvor als Fehdeaktionen bezeichnet worden wären, zu legitimieren. Die gängige Rechtfertigungspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts weist aus, dass der Adel schon frühzeitig nicht nur juristische Argumente zu nutzen, sondern auch sich bzw. seine argumentativen Verhaltensweisen neueren juristisch-gesetzgeberischen Entwicklungen anzupassen verstand. Solchen juristischen Rechtfertigungen waren jedoch enge Grenzen gesetzt. Die Carolina erlaubte solche legitime Gegenwehr nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich wenn Leib, Leben, Ehre und guter Leumund gefährdet wurden. Später kam zu jenen Tatbeständen auch die Verteidigung des Eigentums hinzu.23 Der Leumund eines Adeligen – also seine soziale 21

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Diese Praxis hatte sie mit der französischen gemein, wo ebenfalls einer strengen königlichen Gesetzgebung, die grundsätzlich die Tötung von Mördern forderte, eine mildere Urteilspolitik der Richter gegenüberstand; vgl. Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives. Pardon Tales and their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford (california) 1987; Pohl: Umstände (wie Anm. 14), S. 242–248; Ludwig: Herz (wie Anm. 12), S. 174– 205 (mit den Aspekten des Zusammenhangs zwischen Tugend der Gnade und Macht des Herrschers, der Konstruktion des gnadenwürdigen Delinquenten aufgrund der Schuld der Anderen, der Anerkennung der Schuld und des Lebenswandels oder auch der Trunkenheit als Argument). Vgl. Carolina (wie Anm. 9), Art. 140: „Item so eyner mit eynem tödtlichen waffen oder weer überlaufft, anficht oder schlecht, vnd der benöttigt kann füglich an ferlichkeyt oder verletzung, seines leibs lebens, ehr und guten leumuts nicht entweichen, der mag sein leib vnnd leben on alle straff durch eyn rechte gegenweer retten, Vnd so er also den benötiger entleibt, er darumb nichts schuldig, ist auch mit seiner gegenweer, bis er geschlagen wirdt zu warten nit schuldig, vnangesehen ob es geschriben rechten vnnd gewonheyten entgegen wer“; Andreas Roth: Art. Notwehr, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München 2002, Sp. 1296; Christine Reinle: Fehden und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von „Frieden“ und „Recht“ in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, in: ZHF 30 (2003), S. 355–388, insbesondere S. 382–386. Schon die Carolina (wie Anm. 9), Art. 150, kannte die Bestimmung, dass der Totschlag „zur rettung eynes andern leib, leben oder gut“ entschuldigt werden könne, während Art. 139 nur die Motive der eigenen Leib- und Lebenrettung anerkannte.

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Reputation, sein Prestige in der ständischen Gesellschaft und insbesondere in Adelskreisen – durfte demnach in einer unmittelbaren Gefahrensituation verteidigt werden. Gleichwohl handelte es sich dabei ganz offensichtlich um eine Interpretations- und Auslegungsfrage, weil der Begriff des Leumunds bzw. der Ehre nicht eindeutig spezifiziert war. Obwohl wenigstens gemäß der Carolina nicht als Widerspruch gedacht, konnten Rechtsgrundsätze und Ehrkonzeptionen hierbei unter Umständen als ausdrückliche Gegensätze aufeinander treffen.24 Zudem lag die Beweislast beim Beschuldigten, der darüber hinaus nur dann erfolgreich einen Notwehrakt geltend machen konnte, wenn er überzeugend aufzeigte, dass ihm keine Fluchtmöglichkeit oder Rechtshilfe als Alternative offen gestanden und er maßvoll, ohne Rachegedanken sowie unmittelbar auf den Angriff folgend gehandelt hatte.25 Italienische und französischen Kommentatoren des römischen Strafrechts leiteten aus der Notwehr-Kategorie auch den Notwehrexzess ab, der darin bestehen sollte, dass der vom späteren Opfer angegriffene Angeklagte im Zorn über das notwendige Maß hinaus gehandelt habe. Diesem verminderten Vorsatz (dolus minor) musste jedoch eine ehrverletzende oder bedrohliche Provokation vorausgegangen sein und sämtliche übrigen Charakteristika der Notwehr zugrunde liegen. Französische Kommentatoren wie Andreas Tiraquellus (1488–1558) interpretierten derartige Notwehrexzesse gar als Situationen (homicidium culposum), in denen der Zorn die Sinne des Täters wie im Wahnsinn verwirrt habe.26 Die Todesstrafe sollte für solche Tötung im gerechten Zorn ausgesetzt werden. Die Carolina kannte zwar die Idee des Notwehrexzesses, erfasste dabei jedoch nicht explizit den Zorn.27 Dies hielt aber die Juristen vor den Reichs- und den Territorialgerichten nicht

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Zum Spannungsfeld von Ehre und Recht vgl. neuerdings Sylvia Kesper-Biermann/Ulrike Ludwig/Alexandra Ortmann (Hrsg.): Ehre und Recht. Ehrkonzepte, Ehrverletzungen und Ehrverteidigungen vom späten Mittelalter bis zur Moderne (Editionen + Dokumentationen 5), Magdeburg 2011. Vgl. Carolina (wie Anm. 9), Art. 140 und 141, sowie für die Kommentierung durch die Postglossatoren wie Baldus de Ubaldis (1320–1400) bei Dahm: Strafrecht (wie Anm. 15), S. 126. Vgl. Engelmann: Schuldlehre (wie Anm. 15), S. 120; Pohl: Umstände (wie Anm. 14), S. 240f.; zu Tiraquellus vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 1219f.; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 617. Vgl. Carolina (wie Anm. 9), Art. 142: „Nemlich ist hierin zu mercken, so eyner der ersten benötigung halb redlich vrsach zur notweer gehabt, vnd doch inn der that nit alle vnbstende, die zu eyner gantzen entschuldigten notweer gehören, gehalten hett, ist not gar eben zu ermessen, wie vil oder wenig der thätter zur thatt vrsach gehabt hab, vnnd dafür daß fürther die straff an leib leben oder aber zu buß vnd besserung erkant werde, alles nach sonderlicher radtgebung der rechtuerstendigen“; Otto Kröner: Die vorsätzlichen Tötungsdelikte in ihrer Entwicklung von der Carolina bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, (Diss. Göttingen) 1958, S. 4 und 8, wonach die Carolina zunächst die Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und Affekt-Mord kannte, diese Differenzierung später aber aufgehoben wurde.

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davon ab, jene juristische Figur in ihre Argumentationen einzubringen.28 Erleichtert wurde dies durch Artikel 142 der Carolina, wonach der Ankläger seine Zweifel an der Richtigkeit der Entschuldigung einer Notwehr beweisen musste, also dass sämtliche strafmildernden Umstände nicht geltend gemacht werden konnten. Hierbei spielte der Verteidigung eines beklagten Adeligen der Artikel 143 in die Hände, der eine sorgfältige Bewertung der Umstände und Motivation der Tötung durch die Richter vorsah.29 Der Angeklagte konnte auf diese Weise versuchen, sein Vorleben in positivem Licht erscheinen und mittels der anerkannten, im 16. Jahrhundert religiös-konfessionalisiert zusätzlich verstärkten christlich-moralischen Tugendlehre auch soziale Aspekte in den Prozess der richterlichen Meinungsbildung einfließen zu lassen. Allerdings barg die vielmals von den Verteidigern verwendete Strategie, die Tatumstände und das Vorleben des Angeklagten – sein bis dahin tugendhaftes Leben, seinen unbescholtenen Ruf, seine angesehene Stellung – fruchtbar zu machen, auch ein gehöriges Risiko.30 Die Differenz zwischen römisch-rechtlichen Denkkategorien und christlichmoralischem Tugenddiskurs konnte sich kontraproduktiv auswirken, wenn bspw. ein strafmindernder Aspekt aus dem römisch-rechtlichen Denken – wie Zorn oder Trunkenheit – dem christlich-moralischen Tugendkatalog nicht entsprach oder umgekehrt gefragt werden musste, warum eine doch sonst ehrenhafte, ruhige, besonnene Person mit einem Mal irrational handelte und tötete. Das im 16. Jahrhundert vielmals belegbare Nebeneinander beider Diskurse war demnach normal, aber riskant. 2.2 Die Strafrechtslehre 2.2.1 Tötung als Delikt und Angriff auf das Gemeinwesen

Nicht weniger ambivalent als die Carolina erwies sich das Feld der Strafrechtslehre. Die hier vertretenen Auffassungen erkannten in der Tötung prinzipiell ein crimen oder delictum, also eine verfolgungs- und strafwürdige Handlung, 28

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Erleichtert wurde eine solche Argumentation auch dadurch, dass sich ein so renommierter Straflehrer wie Andreas Gail explizit für die Berücksichtigung des Zorns aussprach, weil dieser zur Schmälerung des rationalen Urteilsvermögens führe, was allerdings vom Angeklagten bewiesen werden müsse; vgl. Gail: Observationes (wie Anm. 17), observatio CX, Randziffer 13f., 35f. Vgl. neben dem bereits zitierten Art. 142 auch Carolina (wie Anm. 9), Art. 143 (Mord ohne Zeugen): „[. . . ] in solchen fellen ist anzusehen, der gut vnnd böß stanndt jeder person, die statt da der todtschlag geschehen ist, was auch jeder wunden vnd weer gehabt, vnnd wie sich jeder theyl inn dergleichen fellen, vor vnd nach der that gehalten hab, welcher theyl auch auß vorgeenden geschichten mer glaubens, vrsach, bewegung, vortheyls oder ntuz haben mög, den andern an dem ort als die tat geschehen ist, zu erschlagen oder zu benötigen, Darauß kann eyn gutter verstendiger richter ermessigen, ob der fürgewendten notweer zu glauben sei [. . . ]“. Vgl. Pohl: Umstände (wie Anm. 14), S. 250f.

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weil sie mit dolus und malus animus (Hinterlist und Bösartigkeit) begangen wurde. Diese Auffassung ging auf den mittelalterlichen Philosophen Thomas von Aquin (1225–1274) zurück. In der Tötung wurde ein actus inordinatus und dadurch eine Störung der göttlichen und menschlichen Ordnung gesehen, wodurch geschützte Güter – nämlich Seele, Leib und äußere Güter (bonum animae, bonum corporis, bona rerum exteriorum) – angegriffen würden. Zu diesen äußeren Gütern zählten die Vertreter des gelehrten Rechts auch und noch vor dem materiellen Vermögen des Betroffenen seinen Ruf und seine Ehre. Die Tötung eines Menschen besaß demnach nachhaltige Effekte für die Gesellschaft, weshalb sich der Mörder vor der Allgemeinheit verantworten sollte. So bewerteten der für Kaiser Karl V. und den spanischen König Philipp II. arbeitende Joos (Jodocus) de Damhouder (1507–1581), der an der Schule von Salamanca wirkende Strafrechtskommentator Antonio Gomez (nach 1500 bis vor 1572) und der ebenfalls in Salamanca sowie als apostolischer Inquisitor des Königreichs Murcia wirkende Diego de la Cantera auf der Basis naturrechtlicher Begründungen die Tötung eines Menschen als Verletzung der res publica – des Gemein- bzw. Staatswesens – und ihrer Ordnung. Demnach tangierte das Tötungsdelikt nicht nur den Getöteten persönlich und dessen Familie, sondern auch den Getöteten und seine Familienangehörigen als Teile und Repräsentanten der Gemeinschaft, der sie angehörten. Nach Ansicht dieser Rechtsgelehrten war aber der freie Mensch das wichtigste Gut einer Gemeinschaft. Seine Tötung stellte insofern einen Akt der Beraubung und einen Angriff auf den Kern der Gemeinschaft dar, die sich rechtmäßig wehren durfte.31 In ähnlicher Weise vertrat Abraham Sawr (Saur) in seinem erstmals 1577 erschienenen Straffbuch die Auffassung, die Tötung eines Menschen bedeute die Schwächung der menschlichen Verwandtschaft und sei daher als Akt wider das gemeine natürliche Recht und wider Gott zu werten.32 2.2.2 Schuldmindernde Faktoren

Infolge dieser Auffassung galt seit dem Ausgang des Spätmittelalters bei Tötungsdelikten die sogenannte dolus-Präsumtion. Sie war für das Tötungsdelikt – das sogenannte homicidium simplex – von entscheidender Relevanz, insofern man von vorneherein davon ausging, dass der Angreifer mit Arg- und Hinterlist handele. Die Strafrechtslehre unterstellte dem Beklagten demnach, im Wissen um die Schändlichkeit und Rechtswidrigkeit seines Tuns gehandelt zu haben. Der Täter handelte rational, mit Gebrauch seines Verstandes, 31

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Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 37ff. Zu Gomez und Cantera vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 1, Sp. 1629f.; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 244f. Zu Damhouder und seinem wohl vom Niederländer Philipp Wielant übersetzten, eher aber plagiierten Werk, das bereits 1516 auf Niederländisch erschien, vgl. Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 152f. Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 104f. Zu ihm vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 173.

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ansonsten wäre er entschuldigt gewesen.33 Wie bei einer Präsumtion üblich, fand daher eine Beweislastumkehr statt: Der Beklagte war – im Gegensatz zum üblichen Verfahrensmodus – gezwungen, das Gegenteil zu beweisen, also schuldmindernde Gründe zu finden.34 Die Strafrechtslehre bot hierfür einige Ansätze, die es nutzbar zu machen galt. Denn Hinterlist wurde einer Tötungshandlung zwar a priori unterstellt, man diskutierte jedoch eine Vielzahl von Ausnahmetatbeständen. 2.2.2.1 Feindschaft, Affekte, Gefahrenabwehr und Schutz materieller Güter

Diese fanden sich insbesondere in jenen Situationen, in denen der Täter nicht im vollen Besitz seines Verstandes oder nicht in der Lage war, auf einen Angriff angemessen zu reagieren. So schränkte der Mailänder Legist Aegidius Bossius (1487–1546) die Heimtückevermutung unter anderem für den Fall ein, dass der Tötung eine Feindschaft vorausgegangen sei, in deren Folge der Täter aus Angst oder Schmerz heraus gleichsam im Affekt gehandelt habe.35 Der Wittenberger Rechtsprofessor und Assessor am dortigen Hofgericht Matthaeus Wesenbec(k) (1531– 1586) wie auch Abraham Sawr, dem sogar Mitleid mit dem Täter angeraten zu sein schien, gingen gleichermaßen von der Straffreiheit einer solchen im Zorn verübten Tat aus.36 Es handelte sich demnach um eine für die Rechtfertigung mortaler adeliger Gewaltaktionen bedeutende Argumentationsfigur. Sie deckte nämlich sowohl den im Kontext der allgegenwärtigen, nicht selten mit 33

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Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 43ff., 61; auch Wesenbec: Paratitla (wie Anm. 17), Digest. Liber XLVIII (Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis), titulus VIII, Randziffer 9–11. Zur Rechtsfigur der Präsumtionen vgl. Helmut Coing: Europäisches Privatrecht. Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 134ff.; Carl-Friedrich Stuckenberg: Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin 1998, S. 11–45; Jan Schröder (Hrsg.): Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Contubernium 46), Stuttgart 1998; ders.: Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850, in: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen (Historia Hermeneutica. Series Studia 1), Berlin 2005, S. 203–220. Vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De homicidio, Randziffer 38–45, 59 und besonders 60: „Homo intenso dolore vel timore permotus non est in plenitudine intellectus“. Bossius verwandte sehr große Aufmerksamkeit auf die Beschaffenheit der Tötungshandlung: „Ideo necesarium est videre, quomodo cognoscatur animus occidendi, & quando non adsit“ (Randziffer 36), das heißt, wichtig waren für ihn die näheren Umstände wie bspw. die Nähe und das Verhältnis der Akteure zueinander, auch die Qualität des Streits (Randziffer 44); Schaffstein: Lehren (wie Anm. 16), S. 108ff.; Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 1, Sp. 1274. Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 131; Wesenbec: Paratitla (wie Anm. 17), Digest. Liber XLVIII (Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis), titulus VIII, Randziffer 19– 21. Zu Wesenbec vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 1907ff.; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 651.

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physischer Gewalt ausgetragenen adeligen Binnenkonkurrenz relevanten Aspekt der Gegenwehr ab, wie Sawr und Ludwig Gilhausen hervorhoben,37 als auch ließ sich mit ihr offensives Vorgehen begründen. Zudem blieben timor und dolor undefiniert und bezogen sich nicht ausdrücklich auf den physischen Bereich. Schmerz und Furcht konnten auch mit Blick auf Ehrverlust empfunden werden. Die Berücksichtigung von Affekten – insbesondere Rache und Hass – griff mit diesen Schuldminderungsgründen die gesellschaftlichen Realitäten in einigen Ländern Europas auf. Sie entsprach bspw. der in England und Schottland akzeptierten sozialen Konvention, solche Affekte als Motivationen für Fehden und sogar deren Befriedigung als Verhandlungsgegenstände bei der Konfliktlösung zu akzeptieren.38 Das Feindschafts- und Affektargument war für die Verteidigung gewissermaßen unverzichtbar. Denn die Strafrechtslehre bewertete den umgekehrten Fall – die durch bestimmte Umstände (Kaltblütigkeit, Planung, minutiöse Durchführung, Beauftragung) qualifizierte Tötung – das homicidium qualificatum39 – als besonders strafwürdige Handlung. Dies betraf auch das Fehlen vorausgehender Feindschaft oder Affekte wie Zorn, Wut und Rachegefühle, wie neben dem Kanonisten Gomez auch der in Diensten Philipps II. stehende Legist Julius Clarus (1525–1575), der französische Rechtsgelehrte Andreas Tiraquellus oder der spanische Moraltheologe und zugleich Rechtskenner Luis de Molina (1535/36–1600) lehrten.40 37

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Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 107, wobei dieser betonte, eine derartige Notwehrsituation müsse bezeugt sein; Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. II, titulus II, Randziffer 22, 28, 32, der ebenfalls herausarbeitete, dass eine auf die Verteidigung von Leib, Leben, Güter und Ehre erfolgende Notwehr bewiesen werden müsse und die bloße Bedrohung nicht genüge, sondern erfolgt und verhältnismäßig sein müsse. Vgl. Daniel Lord Smail: Hatred as a Social Institution in Late Medieval Society, in: Speculum 76 (1001), S. 90–126, hier S. 94f., 112f., 120. Weiterhin, weil mit revisionistischem Ansatz: Nigel E. Saul: Knights and Esquires. The Gloucestershire Gentry in the Fourteenth Century, Oxford 1981; John G. Bellamy: Bastard Feudalism and the Law, London 1986. Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 65–70. Vgl. Gomez: Commentariorum (wie Anm. 17) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 10, wo er im Unterschied zum Auftragsmord feststellt: „potest esse, quia quando quis pretendit propriam vindictam ex iniuria sibi facta, vel ira, vel odio, videtur magis parcendum, quia vix potest quis dolorem proprium temperare, & homo incensus ira, vel propria offensa, non dicitur in plenitudine intellectus, sed iste qui fecit corruptus pecunia non est propriè inimicus, nec habet excusationem aliquam sui delicti“; Tiraquellus: De poenis (wie Anm. 17), causa I, Randziffer 1: „cum quis impellente ira, aut dolore deliquerit: is enim leuius puniendus est“; Randziffer 7: „eleganter dicit, quod rixa, & metus instantis periculi, & nimius dolor tollit deliberandi consilium: & quod homo intenso dolore permotus, non est in plenitudine intellectus“; Randziffer 9: „etiam si is, qui prouocauit, aufugiat, & eum fugientem prouocatus interimat, vt videlicet non teneatur vt dolosus, & homicida voluntarius, sed culposus (vt nostri loquuntur)“; Randziffer 10: „etiam si, qui occisus est, non dederit causam irae, quae occisorem ad maleficium impulerit, vt videlicet in hoc casu sit mitius puniendus“, sowie die causae 2–8 mit weiteren Strafmil-

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Einhergehend mit der schuldmindernden Wirkung von Affekten erkannte die Rechtswissenschaft auch das Recht eines Angegriffenen auf Abwehr von Gefahren. So wie die Tötung als actus inordinatus – als Störung der göttlichen und weltlichen Ordnung – und infolge als Angriff auf geschützte Güter gewertet wurde, war es dem Angegriffenen erlaubt, sich zu wehren. Bei der Verteidigung materieller Güter – also bspw. im Falle eines Diebstahls – umfasste die Gefahrenabwehr mindestens das Stellen des Diebs, konnte jedoch auch – selbst nach Ansicht des eigentlich restriktiv argumentierenden spanischen Spätscholastikers, Moraltheologen und Beichtvaters Karls V. Domingo de Soto (1494– 1560) oder auch Abraham Sawrs41 – die Tötung des Diebs umfassen, sofern zum Tatzeitpunkt keine Hoffnung auf Rückerhalt des gestohlenen Guts auf dem Rechtswege bestand. Für die Belange des Adels waren solche Auffassungen relevant, weil die adelige Fehde in erster Linie der materiellen Schädigung des Kontrahenten – dem sogenannten Schadentrachten – diente, auch um ihn an den Verhandlungstisch zu zwingen.42 2.2.2.2 Ehre und guter Ruf

Zu den bona exteriora zählte die Rechtslehre neben den materiellen Gütern ausdrücklich auch den guten Ruf und Leumund eines Beklagten. Dabei differenzierte bspw. der Jesuit und spätere Kardinal Juan de Lugo (1583–1660) fein zwischen fama und honor, zwischen öffentlicher Meinung über den Lebenswandel und den ihr zugrunde liegenden individuellen Werten, aus denen die öffentliche Meinung sich bilde, sie also anerkennen oder aber missachten konnte. Aufbauend auf Thomas von Aquin, Luis de Molina und seinem Ordensbruder Leonardus Lessius (1554–1623), widmete de Lugo eine ganze Disputatio den iniuriae in materia famae & honoris.43 Ungeachtet solcher

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derungsgründen; Clarus: Opera (wie Anm. 17) V, § Homicidium, Randziffer 7–17, 22; de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 23, Randziffer 2: „Si autem postquam a rixa fuit cessatum, primusque ille rixae furor transijt, ab illaque omnino cessatum est, quaerat aduersarium, illumque interficiat, dicitur iam tum ex proposito illum interfecisse. Item, si quis habeat inimicum, quem non quaerebat ad interfeciendum, neque statuerat, cum primum illum inueniret, eum interficere, sed casu illum repertum, ira aduersus eum commotus, illum intefecit, memor tunc praeteritae iniuriae, aut aliqua alia ratione, non dicitur ex proposito eum interficere, sed solum simplici doloso homicidio: secus autem si statuerat, cum primum eum reperiret, illum interficere“, woraus de Molina auch schloss, „Item quando homicidium ex proposito fuit commissum, difficilius principes solent concedere commutationem poena mortis in aliam“ (Randziffer 3). Vgl. de Soto: De iustitia (wie Anm. 17) V, quaestio I, articulus VIII; Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 128f. Zu de Soto vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 695. Vgl. Jendorff/Krieb: Adel (wie Anm. 8), S. 194–202. Vgl. de Lugo: Disputationum de iustitia (wie Anm. 17), disputatio XIV: De iniuriis in materia famae & honoris, sectio I, Randziffer 1: „fama est multorum existimatio de vita, & moribus alterius; dicitur autem fama à fando, sed re vera potissimè consistit in opinione hominum interna, licet haec per externum sermonem, quasi per signum, & effectum magis cognoscatur“ (belegt mit de Molina: De iustitia (wie Anm. 17) V, tractatus 4,

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ethisch-theologischer und daraus resultierend juristischer Differenzierungen zwischen fama und honor – wenngleich sich gewissermaßen aus der Verteidigung materieller Güter ableitend – musste dem Adel von ungleich größerer Bedeutung die Frage erscheinen, ob er aufgrund seines Adelsstandes nicht bloß zur Abwehr, sondern unter Umständen sogar zur Tötung eines Gegners gezwungen sei. Für die Verteidigung eines adeligen Gewalttäters war in jedem Fall die Einführung des Arguments der adeligen Verpflichtung zum Gewalthandeln in vielen, wenn nicht gar den meisten Fällen unabdingbar.44 Sie erst ermöglichte es, ein ganz neues Argumentationsfeld zu eröffnen und die Chancen auf einen erfolgreichen Prozessausgang zu erhöhen. Auf diese Weise römisch-rechtliches Denken mit der christlich-moralischen Tugend- und Standeslehre zu verbinden, war ein sehr geschickter Schachzug, der seine rechtswissenschaftliche bzw. prozesstheoretische Basis in der sogenannten Nobilitätspräsumtion (praesumptio de viro nobili) besaß. Demnach bestand die Vorannahme, ein Adeliger könne kein Mörder sein. Die allseits akzeptierte Vermutung, dass die Adeligkeit einen Beschuldigten aufgrund seiner Tugendhaftigkeit vor kriminellem Verhalten schütze, führte zu einer prozessualen Beweislastumkehr. Die Anklage war gezwungen, das Gegenteil – die Unadeligkeit des Beschuldigten oder seines Verhaltens – zu beweisen. Das Werk des Italieners Giacomo Menochio (1532–1607) gewann hierfür in Europa wie auch bei den deutschen Rechtsgelehrten herausragende Bedeutung.45 Gleichwohl warn-

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disputatio 1, sectio 4: der gute Leumund sei wie das Eigentum eines Menschen); Randziffer 2: solche Güter machen aus: Fähigkeiten (eloquentia bspw.), nobilitas oder Reichtum; Randziffer 3: „honorem immeditè esse testificationem nostrae opinionis de excellentia alterius; mediatè autem esse testificationem ipsius excellentiae: immediatè enim significamus nostram opinionem cum submissione quadam“ (belegt mit Thomas von Aquin: Summa, quaestio 10.3, articulus 1 ad secundum, sowie Lessius: De iustitia (wie Anm. 17) II, cap. 1, dubitatio 1, Randziffer 2); sectio II: über das Unrecht wider das Gut des Leumunds; sectio III: über äußere Angriffe auf den Leumund einer Person. Zu de Lugo vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 2, Sp. 2596. Zu Lessius vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 2, Sp. 2397. Wobei eine statistische Auswertung dieser Annahme noch aussteht. Vgl. Jacobus Menochius: De praesumptionibus, coniecturis, signis & indiciis, Venedig 1587 (weitere Ausgaben u. a.: Köln 1597 und 1606), hier zitiert nach der Ausgabe Genf 1670; Jendorff : Tod (wie Anm. 1), S. 134ff. mit entsprechenden Belegstellen. Zu den Präsumtionen vgl. Helmut Coing: Europäisches Privatrecht. Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 134ff., mit Hinweisen auf entsprechende Rechtsliteratur. Weitere einschlägige Titel des 15. und 16. Jahrhunderts: [Anonymos]: Tractatus de praesumtionibus, in: Tractatus plurimi iuris, Basel 1487; Andrea Alciati [1492–1555]: Tractatus de praesumptionibus, Lugdunum 1551 (auch: Frankfurt am Main 1580, Köln 1580 etc.); Hippolyto Bonacossa [1514–1591]: Aureum Repertorium Alphabeticum De Praesumptionibus, Venedig 1580; Christoph Wendin/Albert Schad: Disputatio de probationibus et praesumptionibus, cum materiis concordantibus in utroque iure, Rostock 1588. Neben Coing als weitere neuere Arbeiten vgl. Stuckenberg: Untersuchungen (wie Anm. 34), S. 11–45, hier besonders S. 13–17; Jan Schröder (Hrsg.): Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert

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ten Letztere vor einer unkritischen Einschätzung des Adeligkeitsmerkmals. Matthaeus Wesenbec bekräftigte die Ansicht, das Ansehen einer Person sei zu berücksichtigen, aber nur durch umfassende Ausleuchtung des persönlichen Hintergrundes. Ludwig Gilhausen mahnte darüber hinaus, die Adeligkeit eines Prozessbeteiligten sei zunächst einmal zu beweisen und sie sei rechtzeitig als Argument in den Prozess einzubringen.46 Nicht selten kehrte die Verteidigung in Tötungsprozessen den Sinn der Adelspräsumtion sogar um, indem sie anführte, der Beklagte könne die Tat gar nicht geplant oder beabsichtigt haben, weil sie seiner Tugendhaftigkeit und seinem Stand zuwiderlaufe. Das so vorgebrachte Argument der Verteidigung, die Tötung wie auch die ihr vorausgegangene Tat beschädigten die adelige Ehre und den Leumund, war allerdings zweischneidig. In typischer Weise für die Risikobehaftung bei der Verbindung von römisch-rechtlichem Ansatz und christlicher Tugendlehre warf sich nämlich die Frage auf, weshalb der Angeklagte dann überhaupt getötet hatte, wenn er doch ein tugendhafter Adeliger sei. Gilhausen etwa konstatierte, ein Täter könne seine Ehre durch unehrenhafte Taten oder sogar schon durch eine entsprechende Handlung an unehrenhaften Orten verwirken.47 Immerhin konnte solches noch mit seinen Affekten oder Hassgefühlen beantwortet und auf diese Weise weitere schuldmindernde Gründe geltend gemacht werden. Die Verteidigung – wie etwa diejenige des eichsfeldischen Barthold von Wintzingerode, der 1574/75 vor dem Kurmainzer Hofgericht wegen Mordes an dem Förster seiner Vettern

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(Contubernium 46), Stuttgart 1998; insbesondere mit den Beiträgen von Aldo Mazzacane, Peter König, und Oliver Robert Scholz; ders.: Entwicklungstendenzen (wie Anm. 34), S. 203–220; Lorenz Schulz: Die praesumptio innocentiae – Verdacht und Vermutung der Unschuld, in: ZSRG GA 119 (2002), S. 193–218; Oliver Robert Scholz: Die Vorstruktur des Verstehens. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses zwischen traditioneller Hermeneutik und ,philosophischer Hermeneutik‘, in: Jörg Schönert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen (Historia Hermeneutica. Series Studia 1), Berlin 2005, S. 443–461, hier S. 454– 460, mit Verweis auf Leibniz’ Beschreibung der Funktion, Annahme und Widerlegung von Präsumtion und Fiktion (in: Definitionum Juris Specimen, 1676). Vgl. Wesenbec: Paratitla (wie Anm. 17), Digest. Liber XLVIII (Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis), titulus VIII, Randziffer 22–23; Gilhausen: Arbor civilis (wie Anm. 17), cap. VI, pars VII (zur Präsumtionen-Lehre über 189 Paragrafen hinweg), § 162 (Adeligkeitspräsumtion mit Verweis auf Menochius) und aber insbesondere § 163: „Nobilitas non praesumitur, nisi se fundet ignobilitas aduersarii“ sowie „Ideo qui dicit se Magnatem siue Nobilem, debet probare: quia ista qualitas paucis inest, & ideo non praesumitur, nec est prima qualitas, quae venit a natura, sed habet ortum ex accidentibus sibi vel progenitoribus; & propterea qui eam allegat, probare debet“ (mit Verweis auf Tiraquellus: De nobilitate (wie Anm. 17), cap. 10, Randziffer 13), ebenso „Hic etiam obseruandum est, quando nobilitas deducitur in Iudicium, deque ea disputatur incidenter, non autem principaliter, sufficiunt leues probationes“ (mit Verweis auf Menochius: De praesumtionibus (wie Anm. 45), liber VI, praesumtio 60). Vgl. Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. VI, pars VII (De quaestionibus et tortura Reorum): sectio II, Randziffer 16: „Fama ab honestis personis oriri non potest, si delicta sint inhonesta & in inhonestis locis commissa“.

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belangt und hingerichtet wurde48 – suchte an solchen Stellen, aus der Verbindung des Adeligkeitsarguments mit dem Affektargument juristisches bzw. prozesstaktisches Kapital zu schlagen: Seine Affekte und die offenkundige Feindschaft hatten den um seine Ehre bemühten Adeligen zu unbedachtem, ehrverletzendem Handeln verleitet. Daher beanspruchte Barthold von Wintzingerode das Recht, sich von dieser Schuld lösen zu dürfen, indem er der Witwe eine Entschuldigung und dem Kurfürsten bzw. dessen Richter seine Teilnahme am nächsten kaiserlichen Türkenfeldzug als Sühne anbot. Genaugenommen machte die Verteidigung damit zwei Angebote: der Witwe ein privatrechtliches und dem Kurfürsten ein soziales. Die Offerte einer Teilnahme am Kreuzzug – nicht anders konnte ein Türkenfeldzug gesehen werden – stellte zugleich ein traditionelles Sühneinstrument dar, mit dem gerade auch ein adeliger Sünder seinen Willen unter Beweis stellen konnte, als Glied der Glaubensgemeinschaft dieser (wieder) nutzen zu wollen.49 Der Rekurs auf die Adeligkeit eines Beklagten war durchaus dafür geeignet, das Notwehrargument neu zu qualifizieren. Denn der Hinweis auf eine vorausgegangene Ehrverletzung – sei es verbal, sei es symbolisch, sei es physisch, sei es, dass der (vermeintliche) Angreifer von standesniederer Herkunft war – rechtfertigte nach Auffassung der zeitgenössischen Rechtslehre die defensio necessaria selbst unter Einschluss der Tötung. Unter „notwendiger Verteidigung“ – also einem gerechtfertigten, durchaus sogar schuldlosen Akt – verstand die Rechtstheorie den Angriff auf geschützte Güter, zu denen man neben Leben und Körper auch den Schutz vor iniuria personalis sowie honor und nomen zählte, also den Leumund, den Ruf und das Prestige eines Angegriffenen.50 Folgt man der zeitgenössischen Strafrechtslehre, waren Adelige aus Gründen des Ehrerhalts bzw. der Ehrkränkung im Gegensatz zu Nicht-

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Vgl. Jendorff : Tod (wie Anm. 1), S. 123–169. Vgl. Jendorff : Tod (wie Anm. 1), S. 155ff. Weitere Beispiele bei Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 82f., 87f. Gemäß der bayerischen Malefizordnung von 1616 und der oberpfälzischen Malefizordnung von 1658 wurden Adelige auch bei Ehebruch zu solcher oder härterer Strafe verurteilt. Zu diesem bereits auf Thomas von Aquin (Summa Theologiae II–II, quaestio 73, articulus 3, sowie quaestio 104, articulus 3) zurückgehenden Ansatz vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De homicidio, Randziffer 81–91: „non solum licet occidere ad defensionem suae personae, & suorum, sed etiam extranei“ (Randziffer 85); Damhouder: Praxis (wie Anm. 17), cap. LXXVI, Randziffer 1, wobei Damhouder auch konstatierte, im Falle, dass es für einen Totschlag in Folge einer Schlägerei zwischen einer wohlbeleumdeten und einer übelbeleumdeten Person keinen Zeugen gebe, könne der Beschuldigte einen Eid leisten, welcher „beweisen kann / ist für war dieser deß wolbeschreyeten Eydt / von welches vnnd seines guten namens wegen / er ohn entgeltniß mag ledig gesprochen werden / dem Richter abzunemmen“ (Randziffer 22); de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 16, Randziffer 1, wobei er sogar von der defensiven wie auch offensiven Verteidigung materieller und immateriell-persönlicher Güter ausging.

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Adeligen51 oder Klerikern nicht dazu verpflichtet, sich einem Angriff durch Flucht zu entziehen.52 So formulierte Jodocus Damhouder in Übernahme und Fortführung zeitgenössischer Auffassungen: „Wann mich einer angriffe / vnd ins Angesicht wollte schlahen / wirdt mir auß gutem Rechten zugelassen / solchen Gewalt oder Schmachheyt / mit meinem Schwerdt / wo ich nit anders könnte / von mir abzutreiben. Vnd wann ich in derselbigen Beschützunge in entleiben möchte / ist gleichwol die entleibung für eine notwendige Beschützung zuachten: Dann ich nicht gezwungen war / solchen Schandflecken zugedulden. Denen von Adel oder andern stattlichen Leuten gleichsfalls / wirdt zugelassen / sich gegen vndadelichen oder vnachtsamen etwas ernstlichers zubeschützen / also / daß / wo sie vber solcher Beschützunge / einen vnachtsamen würden vmbbringen / angewendter notwendiger Beschützungen halben / mögen entschuldiget werden. Demnach von Rechtswegen jedermänniglichen Beschützung seiner Ehre vnnd gewaltsame abtreibung vorstehender Schmachheit wirdt zugelassen / ja wir werden vorstehende Schmach / eben so wol / als vnsers eygenen Leibs Gefahr / von vns abzuwenden gezwungen. Nemlich / daß die Rechte / erhaltung der Persone / vnd guten 51

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Allerdings begriff Johann Harpprecht in seinem Tractatus criminalis des Jahres 1603 die Schwere der Injurie nicht nur für Adelige, sondern auch für Kaufleute als schwerwiegend bzw. die Furcht vor übler Nachrede größer als die Furcht vor Tod, weil die Furcht vor Ehrverlust nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Bedeutung besitze, zumal darauf ihre soziale und deshalb ökonomisch wichtige Glaubwürdigkeit aufbaue. Die Verteidigung dagegen sei daher ein Naturrecht, das heißt, eine retorsio solcher Injurien sei erlaubt und entschuldigt ähnlich einem Angriff eines Diebes oder Räubers; vgl. Harpprecht: Tractatus (wie Anm. 17), titulus IIII (De iniuriis), § iniuria autem 1, Randziffer 9, 10, 45, 80, 81. Neben den schon benannten Autoren vertraten auch der spanische Augustiner Pedro de Aragon und der in Salamanca lehrende und mehrere weltliche Ämter bekleidende Jurist des weltlichen Rechts Fernando Vázquez de Menchaca (1512–1569) (zu ihm vgl. Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 632f.) diese Auffassung; vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De homicidio, Randziffer 86 („Sic etiam ratione honoris licet occidere, & ideo insultatus quamuis possit omnino tutus aufugere: tamen quia fuga est ignominiosa, non tenetur, & ei licitum est insultantem occidere: & haec est communis opinio“, wobei er allerdings hinzusetzte: „vt non licet tamen ob sola verba iniuriosa, alio verbo iniurioso, & minus facto iniuriantem afficere, nisi respondendo secundum veritatem, Mentiris: quia aliter esset vindicta“; zugleich vertrat Bossius die Ansicht, es könne für eine Verbalbeleidigung nicht nachträglich Vergeltung geübt werden, sondern nur unmittelbar, jedenfalls mit Blick auf den Tatbestand des Homicidium (Randziffer 87); Gomez: Commentariorum (wie Anm. 17) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 23 („Et idem est si fuga adduceret sibi periculum honoris, quia quilibet tenetur & debet honorem suum tueri & conservare, & omni lucro praeferre [. . . ] Non enim caret dolo pater, qui honore proprio omisso propter compendium alienam institutionem maluit“; und unter Rekurs auf Albertus Baldus, der davon ausging, dass ein Angegriffener nur die Flucht ergreifen müsse, wenn er nicht die Ehre verliere: „vel si forte erat vilis persona in qua non esse considerabile periculum honoris, tunc tenerentur fugere, quia sibi non noceret & alteri tertio aggressori & etiam reipublicae prodesset“; de Lugo: Disputationum de iustitia (wie Anm. 17), disputatio XIV: De iniuriis in materia famae & honoris, sectio I, Randziffern 1–3; Vàzquez de Menchaca: Controversiarum (wie Anm. 17) I, cap. 18, Randziffer 20; Damhouder: Praxis (wie Anm. 17), cap. LXXVI, Randziffer 6 unter Rekurs auf Baldus, der generell davon ausgeht, in solchen Fällen sei Flucht nicht notwendig, weil der Angreifer bereits im Unrecht sei; Aragon: Commentaria (wie Anm. 17), quaestio 64, articulus VII; de Soto: De iustitia (wie Anm. 17) V, quaestio I, articulus VIII.

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Namens mit einander vergleichen / vnnd daß Ehr vnnd guter Nam / einem jeden Nutze oder Vortheyl an Gelt / werden vorgezogen. Wann aber einer solche Schmach nit wollte rechen / zu jeder zeit verschmähet vnd verwerfflich were Wiewol etwa gelegenheiten fürfallen / darob das fliehen nicht vnzimlich oder verweißlich seyn mag / vnnd fürnemlich / wo durch solche Flucht grösserer Vnrath kann verhindert werden.“53

Julius Clarus stellte die Verteidigung der persönlichen Ehre auf eine Stufe mit der Verteidigung des eigenen Lebens, wenn er die Auffassung vertrat: „liceat alicui, alterum interficere, pro defensione proprij honoris, nam periculum famae aequiparatur periculo vitae [. . . ] Et ideo si immineat periculum alicuius iniuriae personalis, poterit quis licitè aggressorem interficere“54 . In ähnlicher Weise ordnete Antonio Gomez die persönliche Würde vor dem Leben ein und postulierte der Jesuit Leonardus Lessius eine gleichsam göttliche Verpflichtung des Individuums zum Schutz seiner Ehre sogar durch Tötung eines Aggressors.55 Abraham Sawr resümierte die geltende Reichs- und Territorialstrafgesetzgebung, wenn er Notwehr auch für die Verteidigung von Ehre und Leumund annahm und sie als Tötung ohne Schuld begriff, deren Bestrafung in das Ermessen des Richters gelegt sei.56 Noch Benedict Carpzov erkannte 1635 in der Tötung infolge ehrschützender Auseinandersetzung ein „homicidium necessarium“ oder „homicidium coactum“.57 Allerdings waren seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert solche Interpretationen keineswegs mehr unumstritten. 1603 anerkannte der als badendurchlachischer Hofrat wirkende Johann Harp(p)recht (1560–1639) zwar die Tötung zwecks Ehrschutz als erzwungene Handlung, die dem Naturrecht entspreche und daher straffrei bleibe. Doch seien hierbei die Tatumstände genau zu ermessen und die Verhältnismäßigkeit zu beachten. Harpprecht ging dem53 54

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Damhouder: Praxis (wie Anm. 17), cap. LXXIX. Clarus: Opera (wie Anm. 17) V, § Homicidium, Randziffer 26. Zu Clarus vgl. Ernst von Moeller: Julius Clarus aus Alessandria: der Kriminalist des 16. Jahrhunderts, der Rat Philipps II., 1525–1575 (Strafrechtliche Abhandlungen 136), Breslau 1911 (ND Aalen 1977). Vgl. Gomez: Commentariorum (wie Anm. 17) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 22: Verteidigung insbesondere gegen einen bewaffneten Angreifer, auch der Ehre halber: „ergo à fortiori pro defensione personae & honoris, quae dignior est“; Lessius: De iustitia (wie Anm. 17) II, cap. 9, dubitatio XII, Randziffer 77: „Fas etiam est viro honorato occidere inuasorem, qui fustem vel alapam nititur impingere, vt ignominiam inferat, si aliter haec ignominia vitari nequit [. . . ] Ratio est, quia hic conatur auferre honorem, qui merito pluris apud homines aestimatur, quam damnum multarum pecuniarum: ergo si potest occidere, ne damnum pecuniarum accipiat, potest etiam ne hanc ignominiam cogatur sustinere“. Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 118-128, mit Verweis unter anderem auf die Hessische Ordnung, die Frankfurter Reformation oder das Sachsenrecht. Vgl. Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio XXVII, Randziffer 1: „Cessat poena gladii in Homicidio necessario, quod non dolo, sed coacte, ob vitae, corporis, honoris facultatumque defensionem committitur“; Randziffer 2: „Si enim nefas est, hominem homini insidiari, sequitur, quod fas sit, insidianti homini resistere, & injuriam per defensionem propulsare, adeoque vim vi repellere“; deshalb dürfe Selbstverteidigung auch nicht durch den Fürsten verboten werden (Randziffer 7, auch Randziffern 8–44).

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nach davon aus, dass unter Umständen auch eine Schmähung ertragen werden müsse.58 Wenige Jahre später mahnte der aus Marburg stammende und als Friedberger Advokat wirkende Ludwig Gilhausen die Verhältnismäßigkeit ehrschützender Notwehrhandlungen an.59 In ähnlicher Weise schränkten die spanischen Theologen Luis de Molina, Leonardus Lessius und Juan de Lugo das Recht zur Verteidigung der adeligen Ehre ein, insofern Schmähungen oder gar Ohrfeigen als nicht ausreichend für eine Tötung angesehen wurden, inbesondere wenn reale Alternativen zur Tötung bestanden hätten, während Tiraquellus und Gilhausen – gerade auch in Fragen der Adeligkeit – vor einer Bestrafung oder Begnadigung eines Beklagten bzw. Verurteilten nur auf der Basis der fama warnten. Zudem reklamierten sämtliche Rechtsgelehrte – Juristen wie auch Theologen – ein Mäßigungsgebot für Reaktionen auf Angriffe jeder Art.60 58

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Vgl. Harpprecht: Tractatus (wie Anm. 17), titulus XIII (De Homicidio), § Item lex Cornelia de sicarijs 5, Randziffer 80: „Coactum seu necessarium homicidium est, quod non dolo, sed quodammodo coactè, hoc est, ob vitae, corporis, honoris, facultatumque defensionem, vel propter aliam quamcunque legitimam causam committitur“; Randziffern 81 und 82, 89–95 (Situation des nicht gegebenen Fluchtzwangs, aber mit Auflage der Abschätzung der Effekte einer gewaltsamen Notwehr, das heißt, auch der Sinnhaftigkeit, eine Schmähung etc. zu ertragen; Randziffer 119: Eingeständnis, dass viele Autoren die Notwehr auch extensiv auf die Ehrverteidigung auch unter Einschluss der Tötung ausdehnen; allerdings wird dem das Gebot des rechten Maßes entgegengehalten („At vero qui iniuria provocatus vulnerat, vel prorsus iugulat iniuratorem, honorem suum haud defendit: sed potius propriam vindictam omni iure prohibitam exercit“); Randziffer 120: „Non obstat, quod crudelis sit, qui famam suam negligit“, weil der Betroffene nämlich vor Gericht sein Recht und Gerechtigkeit einklagen könne; Randziffer 121: „Minimè quoque refragatur, quod fama siue honor, & vita paribus ambulent passibus, & aequiparantur“, dennoch Verweis auf den Rechtsweg); Randziffer 123: Plädoyer für außerordentliche Bestrafung, nicht gemäß Lex Cornelia. Zu Harpprechts Person und Werk vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 1374; Jan Schröder: Art. Johann Harpprecht (1560– 1639), in: HRG, 2. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, 12. Lieferung, Berlin 2010, Sp. 778f. Vgl. Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. II, titulus II, Randziffer 32: „Sunt enim minae verba tantum, & verba verbis sunt reppellenda, non factis“, außer der Bedrohte müsse eine unmmittelbare Gefahr befürchten, was durch die Umständebewertung einzuschätzen sei. Zu ihm vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 997. Vgl. de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 17, Randziffer 1: „Pro defensione honoris, qui alicuius sit momenti, ratione habita personarum ac circumstantiarum concurrentium, licitum esse interficere aggressorem, quando aliter honor conseruari non potest“, was allerdings dadurch eingeschränkt wurde, dass de Molina unter Rekurs auf entsprechende Konzilsvorschriften das Duell ebenso ablehnte wie dessen Förderung bzw. Gestattung durch Fürsten; de Lugo: Disputationum de iustitia (wie Anm. 17), disputatio XI, sect. II, Randziffer 56; Lessius: De iustitia (wie Anm. 17) II, cap. 9, dubitatio XII, Randziffern 78–85, dagegen kannte einen sehr viel weiteren Handlungsspielraum des Adeligen, wobei er unter Ehrangriff die Tatbestände Schmähung, Ohrfeige, üble Nachrede, Duellsituation, Fluchtunmöglichkeit bei Ehrverlust subsummierte und damit eng definierte; ebenso de Covarruvias y Leyva: Opera (wie Anm. 17) I, Clement. si furiosus. De Homicid. & Irregulitate, Pars III De homicidio ad defensionem

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2.2.3 Bestrafung von adeligen Mördern: die Ambivalenz von Ehrerhalt und Gemeinnutz

Beinahe einträchtig sahen die Strafrechtsdogmatiker des 16. Jahrhunderts in der Adeligkeit eines Angeklagten valide Gründe für eine mildere Behandlung bei der Strafzumessung. Ludwig Gilhausen erkannte in dem Gleichheitsgrundsatz vor Gericht und in einer milderen Bestrafung von Adeligen keinen Widerspruch.61 Doch so uneingeschränkt sich auch Clarus für die Verteidigung der Ehre als validem Rechtsargument ausgesprochen hatte, so wenig stellte für ihn – wie auch später für Benedict Carpzov62 – Adeligkeit allein einen Strafmilderungsgrund dar. Vielmehr waren seiner Meinung nach generell die Verdienste eines Angeklagten bei der Strafzumessung zu würdigen.63 Ebenso leiteten de Molina und de Lugo fama und honor nicht allein aus der nobilitas einer Person, sondern auch aus deren Reichtum oder individuellen Fähigkeiten ab.64 Strafminderung für Adelige war der Rechtslehre bereits aus dem Römischen Recht bekannt. Sie entsprach dem zeitgenössischen Verständnis von Rechtsgleichheit. Selbst die Carolina kannte nur die Strafgleichheit für Arme und Reiche und unterschied sehr wohl zwischen Adel und anderen Ständen.65 Der ideelle Ausgangspunkt für solche strafrechtliche Privilegierung stellte allgemein die Kategorie der Nützlichkeit von Bestrafung bzw. des zu Bestrafenden für das Gemeinwesen dar (utilitas rei publicae), die sich aus dem Proportionalitätsprinzip – der Kategorie der Angemessenheit oder Ver-

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commisso, Randziffern 1–4; allgemein: Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 72, 75f.; Tiraquellus: De poenis (wie Anm. 17), causa XXVII, Randziffer 4: Warnung vor Bestrafung nur auf der Grundlage der fama, „cum fama plurimum fallax sit, & mendax, nec tunc quidem, cum aliquid veri asserit, sine mendacij vitio est“, weshalb die Strafzumessung in jedem Fall niedriger als üblich sein müsse (Randziffer 5); Gilhausen: Arbor civilis (wie Anm. 17), cap. VI, pars X, Randziffer 3: „Ista communis conclusio, quae habet, quod sola fama inducat semiplenam probationem tantum, multas patitur eclipses. Primo enim fallit in probanda nobilitate & virtute hominis, quia illa per solam famam semiplene probatur“; Randziffern 4–9: weitere Einschränkungen wegen überalterter Erinnerung, fehlender wirklicher Beweise, Tod etc., Missbrauch; Randziffer 10: „Vt autem fama effectum aliquem habeat, debet originem trahere ab honestis fideque dignis hominibus“. Vgl. Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. V, ramusculus III (De Exceptionibus & Defensionibus Reorum), Randziffern 68–70. Vgl. Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars III, quaestio CXLVIII, Randziffern 38 und 39. Vgl. Clarus: Opera (wie Anm. 17) V, Practica criminalis § Fin. Lib. V, Randziffer 26: „Pariter etiam bonum est probare insigne peritiam ipsius imputari, vel excellentiam in aliquo artificio, nam etiam ex ea causa poena remittitur, aut minui potest [. . . ] omnes tamen fatentur, quod propter insigne aliquod artificium, aut excellentem virtutem potest delinqu¯es consulto principe impunitus dimitti“. Vgl. Zitate in Anm. 43 sowie weitere Stellungnahmen anderer Rechtsgelehrter in Anm. 75 und 76. Vgl. Max Kaser: Römische Rechtsgeschichte (Jurisprudenz in Einzeldarstellungen 2), Göttingen2 1993, S. 128; Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 12ff.; Carolina (wie Anm. 9), Art. 137 (vgl. Zitat in Anm. 20).

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hältnismäßigkeit – ergab. So vertraten die Kanonisten Antonio Gomez und Diego de Covarruvias y Leyva (1512–1577) die Ansicht, eine Strafe müsse den Interessen des Gemeinwesens und – wie alles andere in der res publica – dem Allgemeinwohl (bonum commune) entsprechen.66 Daraus resultierte auch die Möglichkeit der Strafmilderung gerade aufgrund des Allgemeinwohls, weil bspw. das Gemeinwesen auf die beklagte oder gar verurteilte Person nicht verzichten könne.67 Bereits Thomas von Aquin hatte für die Verletzung höherrangiger Personen durch niedere Täter härtere Strafen gefordert, weshalb die Rechtsgelehrten des 16. Jahrhunderts von der Notwendigkeit einer Kongruenz zwischen Delikt und Strafe und deren Bemessung nach der Qualität des Delikts, des Täters und des Opfers auch im sozialen Rahmen ausgingen.68 Die Todesstrafe kam daher für Adelige nur in Frage, wenn die Tat einen Gleich- oder Höherrangigen betraf, nicht automatisch wenn ein Standesniederer getötet worden war. Ausgehend von antiken Traditionen setzte sich Bossius bei der Strafzumessung für adelige Mörder für deren bloße Verbannung oder eine Geldstrafe ein, ebenso Clarus, de Molina, de Covarruvias y Leyva sowie Matthaeus Wesenbec.69 Der römische Legist Prospero Farinacci (1544–1618) ging soweit anzunehmen, würde man einen Adeligen nicht milder behandeln, käme neben der eigentlichen Bestrafung auch noch der Ehrverlust hinzu, was aber unstatthaft sei, weil eine Strafe gleich und nicht höher als gegenüber anderen ausfallen dürfe.70 Diese 66 67

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Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 112f., 154ff.; zu Covarruvias vgl. Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 142f. Vgl. de Covarruvias y Leyva: Opera (wie Anm. 17) II, Variarum resolutionum Liber II, cap. IX, Randziffer 2, wonach ein Mord eben auch im Interesse des Gemeinwesen durch eine Geldstrafe gesühnt werden könne, insbesondere wenn sie „non praemeditato consilio, sed fortuito oborta quaestione ad propulsandam iniuriam verbalem, ad effugiendum honoris periculum repente contigerit: solet enim frequentissime accidere crimen istud eo pacto, vt licet puniendum sit, nec culpa careat homicida, tamen inspecto gentium more, quo de honore, ac fama, & cuiuslibet nomine tractatur, non ea sit dignum poena, quae iure ordinario in homicidas fuerit statutas. his sane casibus iudices ipsi, & praesertim qui supremo Regis adsistunt tribunali plerumque poenam mortis in aliam mitiorem commutant“. Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 154–157. Zu den Auffassungen der Reichsstraflehre vgl. Wesenbec: Paratitla (wie Anm. 17), Digest. Liber XLVIII (Ad legem Corneliam de sicariis et veneficiis), titulus VIII, Randziffern 17– 18, der auf die härtere Bestrafungsweise seiner Gegenwart verweist, obwohl gegenüber den honestiores doch eher Milde angezeigt sei. Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIII, causa XVIII: „Regula sit, quod nobiles diuites & digniores mitius puniuntur, quam ignobiles pauperes, & minus digni“, hier Zitat in Randziffer 113: „Tunc enim nobiliores, & digniores non minus, sed grauius puniendos esse, quam minus nobiles, & minus dignos, eo quia tunc videntur delinquere in contumeliam, & dedecus dignitatis, & nobilitatis“. Zu den weiteren adelsfreundlichen Ausführungen des Farinacius: ebd., Randziffer 97: Adelige würden zeitgenössisch aufgrund ausdrücklicher Gesetzesbestimmungen milder bestraft; Randziffer 98: Bestrafung durch entehrende Strafen sei für Adelige im Ver-

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Auffassung wurde von mehreren maßgeblichen Rechtsgelehrten nachhaltig unterstützt.71 Solchen Auffassungen lag die Annahme zugrunde, Leib- und Lebensstrafen träfen generell einen Adeligen sozial viel härter, zudem werde seine natürliche industria zum Wohle des Gemeinwesens benötigt. Gegenüber dem von manchen Gelehrten vertretenen Gleichheitspostulat auch bei der Strafzumessung vertraten Pedro de Soto und der in Salamanca lehrende Dominikaner Francisco de Vitoria (1483/93–1546) die Ansicht, in Ausnahmefällen – nämlich wenn die utilitas rei publicae den Vergeltungsanspruch des Geschädigten überwiege – könne auf die Vollziehung der Todesstrafe verzichtet werden.72 Die Strafzumessung auch eines adeligen Angeklagten erfolgte also im ambivalen-

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gleich mit Nicht-Adeligen inakzepabel, dies gelte auch für Galeerendienste etc., sondern sie würden begnadigt und verbannt; Randziffer 101: Gleiches gelte für Kirchenstrafen; Randziffer 104/107: Weil auch bei der harten Bestrafung von Adeligen und Würdenträgern – u. a. bei deren Hinrichtung – auf deren Würde geachtet werden müsse, könnten Adelige bei Mord nicht enthauptet, sondern müssten deportiert werden; Randziffer 109: Es gebe Lehrmeinungen, die davon ausgingen, dass Adelige nicht nur milder, sondern überhaupt nicht bestraft werden könnten außer durch Beschluss des Fürsten; Randziffern 111–112: Diese Auffassungen lehnt Farinacius ab, sieht aber die Geldstrafe vor der Körperstrafe stehend wegen der Adeligkeit, zumal der Arme nicht genügend Geld für eine Geldstrafe besitzte. Zu Farinacci vgl. Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 199f. Vgl. Tiraquellus: De nobilitate (wie Anm. 17), cap. XX, Randziffer 125, wenn auch differenzierter, weil unter Verweis auf den Umständebezug; Gail: Observationes (wie Anm. 17) II, observatio CX („Wann ein todtschlag mit der ordentlichen / oder willkürlichen straff zustraffen sey“); Randziffer 45: „Es wird aber die mißethat durch den Adel oder wirdigkeit gelindert vnd geringert / so derselben qualitet vnd beschaffenheit / aus dem Adel vnnd wirdigkeit / keine vermehrung vnd zusatz bekömpt. In welchem fall / was belanget die leibsstraffe / mit den Adelichen vnd fuernemen personen / gelinder / muß gefahren werden / was aber die geltstraff angehet / sollen die vom Adel hoeher / als die gemeinen vnd vnedlen gestrafft werden [. . . ] bei GOtt aber ist kein ansehen der personen / sondern die seele / die da suendiget / sol sterben / wie geschrieben stehet“; Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. V, ramusculus III (De Exceptionibus & Defensionibus Reorum), Randziffern 70–72. Vgl. de Soto: De iustitia (wie Anm. 17) V, quaestio IV, articulus IIII; de Lugo: Disputationum de iustitia (wie Anm. 17), disputatio XXXVII, sectio VIII, Randziffer 92: „saepe est conciliare animos subditorum exercendo in eos liberalitatem, & clementiam: placere alteri Prinicipi id petenti, & aliae similes“, wobei zu häufige Begnadigung ausgeschlossen sei wegen negativer Vorbildfunktion im Sinne der Ausweitung des Verbrechens: „tunc nec ipse Princeps poterit poenam minuere cum notabili Reipublicae detrimento“; Clarus: Opera (wie Anm. 17) V, § Fin., Randziffer 25: „Item prodest probatio, si aliquis sit egregius miles, & vtilis reip.“; Randziffer 27: „Vtilis etiam est probatio meritorum ipsius rei in principem, vel rempub. Nam quandoque remittitur poena ei qui multum seruit principi“; de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 40, Randziffer 17, nahm eine solche Strafmilderung in leichten Fällen ohnehin generell an; Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffern 134–142, sieht Milderungsgründe in der Erfahrung, den Verdiensten und der Nützlichkeit eines Angeklagten; Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 136, mit Verweis auf Vitoria.

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ten, stets fallweise zu spezifizierenden Spannungsfeld des gemeinen Nutzens und seines individuellen Sozialprestiges.73 Ausgangspunkt einer strafprozessualen Privilegierung des Adels war nicht theologisch-juristische Willkür, sondern die Verhaftung der Strafrechtslehre im ständischen Denken und Umfeld ihrer Zeit sowie die Ausbildung fürstlich dominierter Herrschaftssysteme, kurz: des (monarchischen) Fürstenstaates, der sich seit dem ausgehenden 14. und beschleunigt seit dem 15./16. Jahrhundert in Gesamteuropa als dominante Regierungs- und Herrschaftsform entwickelte. Diesem spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Prozess, der sich in den verschiedenen Regionen Europas und des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation in unterschiedlichen Tempi, Formen und Graden ausprägte, lagen zwei Ideen zugrunde: Einerseits gingen die Herrschaftstheoretiker zwar immer stärker von der fürstlich-monarchischen Oberhoheit aus, ordneten die Rechte anderer Herrschaftsträger und damit diese selbst den Fürsten unter. Andererseits jedoch war jedem politische Akteur zumindest in der Alltagspraxis bewusst, dass solche souveräne Herrschaft ohne Adel nicht umsetzbar war.74 Selbst der monarchische Absolutismus Ludwigs XIV. benötigte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Angehörigen des Adels essentiell: als Planeten, die täglich um die monarchische Sonne kreisten oder eben tanzten, kurz: um überhaupt fürstlichmonarchische (All-) Macht inszenieren zu können. Weil der Adel für die res publica des Fürsten unverzichtbar war, wurde ihm in der Strafrechtslehre eine Sonderrolle eingeräumt. Dies schlug sich in der Kategorie der Nützlichkeit entsprechend nieder. Es handelte sich demnach nicht um Willkür, sondern die Fortschreibung des ideellen Basisansatzes, dass jedes lebendige Mitglied der res publica seinem Stand entsprechend eine Funktion in dem und für das Gemeinwesen besaß; aber eben nur lebend und unter Berücksichtigung des Leitsatzes der ständischen Gesellschaft, dass ständische Unterschiede gottgewollt bzw. natürlich seien („Deus vult discrimen“). Die Kategorie der gesellschaftlich-herrschaftlichen Nützlichkeit stellte jedoch alles andere als einen argumentativen „Freifahrtschein“ für die Verteidigung eines adeligen Gewaltverbrechers dar. Sie wurde nämlich keineswegs einförmig zugunsten des Adels ausgelegt. Viel eher machte sie rechtsdogmatisch betrachtet den beklagten Adeligen vor Gericht mit Handwerkern und Künstlern gleich, die ebenfalls über fama und honor verfügen konnten, weil

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Auch deshalb vertrat Andreas Gail die Auffassung, (adelige) Amtsdiener müssten vom Fürsten besonders geschützt werden, obwohl er konzedierte, dass solche Amtsinhaber zuweilen schwerer sündigten als Personen, die nicht bei Hofe agierten; vgl. Gail: Observationes (wie Anm. 17) II, observatio CX („Wann ein todtschlag mit der ordentlichen / oder willkürlichen straff zustraffen sey“), Randziffer 40 und 43. Das Beispiel des fränkischen Adels, der die Fürsten der Region dies 1517 spüren ließ, steht hierfür nur als ein Beispiel unter vielen in Europa; vgl. Hillay Zmora: The Feud in Early Modern Germany, Cambridge 2011, S. 141f.

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sie mit ihren individuellen Fähigkeiten dem Gemeinwohl nutzten.75 Mehrere Rechtsdogmatiker kannten oder plädierten daher für eine Gleichbehandlung oder gar eine härtere Bestrafung Adeliger, eben weil sich diese aus der Verhältnismäßigkeit des allgemeinen Nutzens ergebe. Zahlreiche Gelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts verwiesen auf die bereits gängige fürstliche Strafpraxis, aus Gründen der allgemeinen Wohlfahrt, des Volksempfindens oder der Gleichbehandlung auch Adelige notfalls als politische Bauernopfer hinzurichten.76 75

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Neben anderen vgl. Sawr: Strafbuch ( wie Anm. 17), S. 105 und 133; Gail: Observationes (wie Anm. 17) II, observatio CX („Wann ein todtschlag mit der ordentlichen / oder willkürlichen straff zustraffen sey“), Randziffer 41: „Diß ist aber zu mercken / das die ordentliche straffe des todtschlags / in dem fall / da sie von Rechts wegen wider einen ergehen sollte / bisweilen in eine willkürliche straffe kann gekeret vnd verwandelt werden / verstehe / wegen gutthaten des mißthäters / so er sich vmb die Obrigkeit / vnd den gemeinen nutz wol verdient hette / oder ein treffentlicher Meister vnnd kuenstler were / welcher mit seiner kunst vnd geschickligkeit / der Obrigkeit vnd dem gemeinen nutz / behuelfflich vnnd fuerschueblich sein koente“. Vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De homicidio, Randziffer 107/108 („in summa olim erat poena de deportationis cum confiscatione bonorum, hodie verum est vltimi suplicij, exceptis positis in honore, qui deportantur. Et si fuerit consiliarius, est prius consulendus princeps, nisi tumultus populi aliter sedari non posset, quam per mortem ipsius: quo in casu dicitur potius morti traditus populi iudicio“), wobei Bossius offenkundig dem Volksempfinden gegenüber den Taten von Amtsträgern Rechnung getragen wissen wollte, das heißt, er hielt das Bauernopfer eines Amtsträgers für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung für angemessen. Dagegen plädierte Clarus: Opera (wie Anm. 17) V, § Homicidium, Randziffer 19, für eine wesentlich differenziertere Sichtweise: „de iure communi homicida punitur poena legis [. . . ] quae poena est nobili deportatio, & bonorum omnium confiscatio [. . . ]. Sed hodiè illa poena legis Corneliae non est in vsu [. . . ]. Poena ergo homicidij hodiè est poena mortis [. . . ] Et hodiè locum habet haec poena tam in nobili committente homicidium, quam in plebeio“; wobei Clarus unterschiedliche Interpretationen dieser Rechtsnorm bzw. ihrer Anwendung anführte (vgl. Clarus: Opera (wie Anm. 17), Practica criminalis § Fin. Lib. V. sententiarum receptarum capita quaestionum, Randziffer 23 und 26); Gomez: Commentariorum (wie Anm. 17) III, De homicidio, cap. III, argumentierte ebenso ambivalent (Randziffer 2: „Adde tamen, quod illustres personas & positae in dignitate non puniuntur poena mortis pro isto delicto homicidij, sed leuiori poenam & sic deportationis“; „imo, quod indistinctè omnis homicida modo sit persona illustris, & posita in dignitate, modo sit vtilis & plebeia, tenetur poena mortis. Sed certè salua eorum pace, praedicta iura expressè disponunt contrarium, & istud necessario debet seruari, nisi consuetudo contraria expressè & iuridicè probetur, & in terminis ita probat & disponit“; töten gleichrangige Personen einander, kann der Täter vor dem Gericht verurteilt werden; dann ist er auch in Haft zu nehmen, allerdings seiner Stellung gemäß nicht in Ketten zu halten); de Covarruvias y Leyva: Opera (wie Anm. 17) II, Variarum resolutionum Liber II, cap. IX, Randziffer 3: „poena pecuniaria grauius esse puniendum nobilem aut constitutum in dignitate, quam plebeium. At si de corporali poena tractetur, non ita puniendum fore nobilem, ac plebeium, ob qualitatem personarum, ex qua iustissime sit poena mutatio“, woraus er auch folgerte (Randziffer 4), dass „plebeij passim in criminibus inquirendis, tormentis & quaestionibus subiiciantur, non sic nobiles“ sowie „ob eandem rationem, nobiles poena ignominiosa afficiendi non sunt“, weshalb „ex lege quis puniendus est eadem poena, non esse deferendum nobilitate, nec dignitati personarum, imo eadem poena puniendum fore nobilem deficientem in accusatione plebeij, qua idem plebeius esset puniendus, si crimen probatum foret“, wobei er

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Es erwies sich so immer stärker die gefährliche Ambivalenz der zeitgenössischen Rechtslehren, weil sie in immer stärkerem Maße die auctoritas publica mit der summa potestas principis gleichsetzten. Dabei markierte die Pflicht des Fürsten, das Allgemeinwohl zu fördern, den Angelpunkt, der zugleich einen Kollisionspunkt zwischen den weithin vertretenen Auffassungen der frühneuzeitlichen Lehren zur iustitia und politica darstellte. Dies erwies sich bereits im Hinblick auf die Möglichkeit der Strafmilderung zwecks Förderung des Allgemeinwohls: Prospero Farinacci hielt an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert kriminelles Vergehen von Klerikern und Würdenträgern für gravierender als die anderer Personen. Denn aufgrund ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Position und ihrer Vorbildfunktion schadeten sie mit kriminellem Handeln einem Gemeinwesen um so mehr. Nicht die Bestrafung solcher Personen, sondern ihr Verhalten beeinträchtige das bonum commune.77 Nach Farinaccis Auffassung musste der Richter bzw. der später begnadigende Fürst deshalb zunächst die Verdienste – also auch die Abstammung – des Beklagten oder Verurteilten im Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit bewerten, danach die Straftat – gerade wenn sie gegen das Gemeinwesen gerichtet war – nach der Kategorie des Eigen- bzw. Gemeinnutzes einschätzen, um zu einem gerechten Urteil zu gelangen.78 An-

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allerdings feststellte: „etiam statutum est, nobilem torqueri posse ob crimen laesae maiestatis, & merito, cum proditionis crimen verae nobilitati repugnet, & proditoris insignia delenda sint“; de la Cantera: Questiones (wie Anm. 17), cap. VI, De homicidio, Randziffer 22 (obwohl im Grundsatz gegen eine Ablösung der Tötungsschuld durch Geld, weil ein Leben damit nicht aufzuwiegen sei; vgl. Randziffer 5); de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 21, Randziffer 2 („Ac quamuis quondam poena legis Corneliae de sicariis esset deportatio cum amissione omnium bonorum, postea tamen sancitum fuit, vt nobiles ea solum poena afficerentur: inferiores vero capite plecterentur bestiis obiecti“) und Randziffer 3 („Hodie tamen, de communi consuetudine multorum regnorum, etiam nobiles capite plectuntur, quin multorum legibus ita est hodie sancitum“, wobei dann die Hinrichtungsart differiere, wenn das Verbrechen dies zulasse), die die Praxis des 16./17. Jahrhunderts verdeutlichte. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIII, causa XVIII, Randziffern 97–133, verweist auf die dignitas-Problematik. Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17), Liber I, titulus III: De delictis, & poenis, quaestio XVIII, Randziffer 82: „delictum grauius, aut etim leuius reputetur ratione personae tam delinquentis & offendentis, quam offensae. Et inquam delictum committur [. . . ] Ideo sicut offendens clericum, seu alium in aliquo gradu, seu dignitate constitutum, magis delinquere dicitur, quam qui laicum, seu aliam priuatam personam offendit [. . . ] Ita pariter tanquam magis delinquens puniendus est clericus, vel alta persona sapiens, & existens in aliquo gradu, vel dignitate ratione scandali, quod oritur in populo, cuius maior pars semper in clericos & digniores respicit [. . . ] Vbi enim maior exigitur honestas, ibi est maior status, & praerogatiua, ideo ex delicto maior oritur contemtus, & consequenter grauior poena tanquam grauiori delicto correspondens imponi debet“. Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffer 134 sowie Randziffer 141: „procedat in meritis, ne dum ipsius delinquentis, sed etiam maiorum suorum, vel coniunctorum, propter quae poenam ipsi delinquenti, aut remitti, aut minui posse facit, quia propter merita parentum remu-

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tonio Gomez hielt daher auch die Ehrverteidigung um jeden Preis keineswegs für legitim, sondern setzte sie ins Verhältnis zum Nutzen der res publica, der eben auch in der Flucht bestehen könne.79 Vorerst handelte es sich jedoch noch um Einzelmeinungen. Zudem konnte das Allgemeinwohl strafprozessual verschieden ausgelegt werden. Die Strafrechtsdogmatiker postulierten auf diese Weise allerdings – ein weiteres Mal im Kontext der allgemeinen Adelsentwicklung – die Ein- und letztlich Unterordnung des Adels in den sozialen Tugendverband, der von Fürsten geschützt und dominiert werden sollte. Folgerichtig kamen Farinacci wie auch Bossius zu der Auffassung, nur der Fürst, nicht das Gesetz könne Strafen mildern,80 während Tiraquellus allein dem Fürsten die Strafzumessung gegenüber Adeligen zuwies81 . Auch für die Fürsten ergab sich mit derartigen Rechtsauffassungen ein durchaus gefährliches Spannungsfeld, das sich aus den Polen der Strafmilderung oder gar Begnadigung eines adeligen Täters aus Gründen der utilitas rei publicae einerseits und der prozessualen Strafverfolgung als herausragender virtus publica bzw. virtus rei publicae andererseits ergab. Vergeltung für eine

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nerantur filii“; Randziffer 142: Einschränkung der Verdienstvergünstigung: „nisi adeo grauissimum crimen, quis in Rempublicam commisisset, vt non magis scelesti facinoris qualitas iudicem ad illud vindicandum cogeret, quam sua ipsius merita ad poenam minuendam suaderent“; Randziffer 142: „potest colligi haec distinctio, quod si merita sint separat a delicto, vt puta quia delinquens diu ante delictum sit benemeritus de Republica, & tunc bene procedit firmata conclusio, quod scilicet propter praecedentia merita in Rempublicam poena, aut minuitur, aut remittitur. Si vero merita sunt annexa in ipso delicto, & ex delictomet processit vtilitas Reipublicae, & tunc aut delinquens habebat animum delinquendi, & non faciendi vtilitatem Reipublicae. Primo casu, cum adsit animus delinquendi, licet casualiter eueniat Reipublicae vtilitas, [. . . ] Secundo vero casu quando scilicet non adest intentio delinquendi [. . . ] Et tunc quamvis merita & delictum sint in simul annexa, quia cessat furandi animus, cessare etiam debet poena, & propter vtilitatem Reipublicae factam succedit praemium [. . . ] Vbi tamen etiam in primo casu remittit poenam minuendam, quamuis a principio adfuerit animus delinquendi, & hoc propter felicem euentum, & bonorum effectum sequutae vtilitatis in Rempublicam“. Vgl. Gomez: Commentariorum (wie Anm. 17) III, De homicidio, cap. III, Randziffer 23, unter Rekurs auf Albertus Baldus, der davon ausging, dass ein Angegriffener nur die Flucht ergreifen müsse, wenn er nicht die Ehre verliere: „vel si forte erat vilis persona in qua non esse considerabile periculum honoris, tunc tenerentur fugere, quia sibi non noceret & alteri tertio aggressori & etiam reipublicae prodesset“. Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffer 136: nur der Fürst, nicht der Richter kann eine Strafe mildern und dabei gilt: „potest Princeps damnatum ad mortem liberare, si persona delinquentis sit strenua, singularis artificii, & vtilis Reipublicae, aliter hoc non est potest sine partis iniuria“; Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De Remediis ex sola clementia principis contra sententiam, Randziffer 50: Begnadigung für homicidium „ad sedandum vnum populum“; Randziffer 56: Begnadigung von Tötung im Streit nicht möglich vor Beendigung des Prozesses, also vor der Sentenz, auch nicht ohne Cessio und Probation. Vgl. Tiraquellus: De poenis (wie Anm. 17), causa XXXI, Randziffer 40: „nobiles ipsos non esse puniendos, nisi prius consulto Principe“.

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Tat zu suchen, besaß für die Rechtsgelehrten des 16./17. Jahrhunderts einen doppelten Charakter: Sie war privat, insofern der Geschädigte oder seine Angehörigen Vergeltung suchten; sie war öffentlich, wenn die Vergeltung vollzogen oder aber aufgrund des Begnadigungsrechts erlassen und aufgehoben wurde.82 Immer stärker institutionalisierte sich damit die Strafverfolgung in den Händen der Fürsten. Schleichend vollzog sich gleichsam eine Entprivatisierung von Vergeltung und Bestrafung. Anders ausgedrückt: Der für die iustitia in der res publica zuständige Fürst hatte im Sinne des bonum commune für die Strafverfolgung – das heißt für die juristische Aufarbeitung eines Vergehens, gegebenfalls für die Bestrafung und die Wiedergutmachung – zu sorgen, und dies unabhängig von privaten Interessen. Dies bedeutete auch, dass selbst im Falle eines Entschädigungsverzichts der Angehörigen eines Getöteten oder im Fall von deren Bereitschaft, sich auf einen – von der Strafrechtsdogmatik durchaus akzeptierten – Vergleich und eine Kompensation einzulassen, es die Pflicht des Fürsten sein konnte, für eine entsprechende Strafverfolgung zu sorgen. So formulierte Aegidius Bossius: „pace interveniente de iure potest nihilominus agi ad vindictam publicam & pro interesse fisci“83 . Gefolgert wurde dies wiederum aus der Auffassung, mit der Tötung sei ein Mitglied der Gemeinschaft und damit diese an sich verletzt worden. Ein adeliger Mörder verletzte aus dieser Perspektive jedenfalls die göttliche und menschliche Ordnung in besonderer Weise oder stellte sie sogar in Frage. Deshalb konnte es durchaus als ein Gebot der Stunde und des utilitasPrinzips erscheinen, die weltliche Ordnung dadurch wiederherzustellen und die Schlechtigkeit dieses negativen Vorbilds zu verdeutlichen, dass man nicht nur dem Recht seinen Lauf ließ, sondern auch die härtest mögliche Strafe verhängte. Wenn bei der Urteilsverkündung – wie im Prozess gegen Barthold von Wintzingerode am 22. September 1575 – der Hofrichter ausführte, der Angeklagte werde „den fromen zu Schutz undt den unfromen zu einem abschrecklich exempell heutiges tages mitt dem Schwertt vom leben zum todt gestrafft und gericht“84 , handelte es sich nicht einfach nur um eine prozessuale Floskel, sondern auch um eine symbolische Formulierungskonzentration dieser durch die Rechtslehre gestützten fürstlich-monarchischen Rechtsposition. Staats- und tugendtheoretische Argumente fanden demnach frühzeitig und mit ambivalenten Effekten ihren Eingang in die zeitgenössischen Strafrechtslehren oder umgekehrt: Die traditionellen Tugendkataloge mussten sich mit den neueren Rechtsauffassungen auseinandersetzen. Beide Theoriefelder gingen jedenfalls ein für den Adel höchst problematisches Amalgam ein, insofern sie punktuell unabsehbare Konsequenzen nach sich zogen, die 82 83 84

Vgl. Schnyder: Tötung (wie Anm. 16), S. 111ff. Vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De pace, Randziffer 9. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Abt. Magdeburg/Wernigerode Rep. H Bodenstein Nr. 263, fol. 30–32, hier fol. 31f.: Übersendung des Endurteils am 01.11.1575.

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aus dem sozial-ständischen Privilegierungsvorteil einen prozesstaktischen Nachteil erwachsen lassen konnten. Andreas Tiraquellus etwa ging davon aus, Adeligkeit könne unter bestimmten Umständen – nämlich nach der Qualität der Handlung – eine Tat und deren Bestrafung auch verschärfen.85 Der Angelpunkt einer solchen Anschauung, die von Zeitgenossen – wie dem Begründer der Kameralistik in Deutschland und Kölner Patriziersohn Andreas Gail(l) (1526–1587) – geteilt wurde,86 war demnach die Negativform der bekannten Adeligkeitsfigur: die Selbstverletzung der Adeligkeit durch den Beklagten und die Vorbildfunktion eines Adeligen für die ständisch gegliederte Gesellschaft. Sie ließ gegebenenfalls aus dem Verteidigungsargument, ein Adeliger könne aufgrund seiner Verdienste und Tugendhaftigkeit kein Mörder sein, ein Offensivinstrument der Anklage werden: Ein Mörder konnte nicht adelig sein, weil er nicht tugendhaft handelte. Bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts vertrat der flämische Legist und Kameralspezialist Jodocus Damhouder in seiner 1554 erstmals gedruckten und zügig zum Standardwerk des europäischen Strafrechts avancierten Practica Rerum Criminalium die Auffassung, mit der Tötungshandlung verliere ein Adeliger seine Ehre und könne also auch hingerichtet werden: Weil der Totschläger Gott, die Natur und seine Mitmenschen beleidige, könne nur Gleiches mit Gleichem vergolten werden: „Derhalben soll auch einem Todtschläger / ob er gleich vom Adel / von Rechtswegen / vnnd auß vielen oberzehlten vrsachen / sein leben genommen werden: Dann Schuld will alle Ehr vnd Wirde halben außgeschlossen.“87 Damhouder plädierte demnach für eine Gleichbehandlung von adeligen und nicht-adeligen Tätern, womit er die Lehrmeinungen Sawrs, Harpprechts und Carpzovs vorwegnahm.88 Wenige 85 86

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Vgl. Tiraquellus: De nobilitate (wie Anm. 17), cap. XX, Randziffern 116–124, der ausführte, je schwerer die dignitas wiege, umso schwerer wiege die Straftat. Vgl. Gail: Observationes (wie Anm. 17) II, observatio CX („Wann ein todtschlag mit der ordentlichen / oder willkürlichen straff zustraffen sey“), Randziffer 42: „Letztlich vermehret bisweilen der Adel vnd wirdigkeit eine vbelthat / bisweilen geringert vnd lindert er sie. Er vermehret sie / so die vbelthat begangen worden / wider des Adels herrligkeit / vnd der wirdigkeit hocheit / verstehe / so die vbelthat den Adel vbel anstuende / in welchem fall die vbelthaten vnd mißhandlungen durch den Adel vnd wirdigkeit vermehret werden“, was um so mehr eine detaillierte Analyse der Tatumstände und der Umstände der Person nötig mache (unter Rekurs auf Tiraquellus: De nobilitate (wie Anm. 17), cap. XX, Randziffer 44. Zu Gail vgl. Karl von Kempis: Andreas Gaill (1526–1587): zum Leben und Werk eines Juristen der Frühen Neuzeit (Rechtshistorische Reihe 65), Frankfurt am Main u. a. 1988; Anja Amend: Art. Andreas Gail (1526–1587), in: HRG, 2. völlig überarbeitete und erweiterte Neuauflage, 8. Lieferung, Berlin 2008, Sp. 1913f.; Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 4, Sp. 826; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 220. Vgl. Damhouder: Praxis (wie Anm. 17), cap. LXVII, Randziffer 17. Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 105: „Wer auch ein Todtschlag thut / der hat damit Menschliche Verwandtnuß / die von Natur geordnet / geschwaecht“; Harpprecht: Tractatus (wie Anm. 17), titulus XIII (De Homicidio) § Item lex Cornelia de sicarijs. 5, Randziffer 192 und 193; Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio II, Randziffer 3 („Nobiles & Illustres personas poena homicidii aeque teneri, ac ignobiles atque plebejos.

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Jahrzehnte nach Damouder konstatierte Farinacci, mehrere Gesetze und Glossatoren träten sogar für eine schwerere Bestrafung von Höheren als von Niederen ein: „Vbi quod propter altitudinem dignitatis homo Christianus fortiter cadit in peccatum“89 . Er hielt sogar aufgrund der Vorbildfunktion des Standes höhere oder schwerere Strafen für möglich.90 Dabei handelte es sich nicht um eine Neuinterpretation. Bereits Tiraquellus hatte 1565 in einem ausschließlich der Bestrafung Adeliger gewidmeten Abschnitt seines Traktats De poenis härtere Strafen für adelige Kriminelle nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihres Standes und ihrer Vorbildfunktion in der Gesellschaft gefordert, wobei er die Vorbildfunktion des Adels mit derjenigen des Fürsten gleichsetzte.91 Die Notwendigkeit der Strafverschärfung aufgrund der sozialen Stellung92 attestierte Tiraquellus insbesondere bei adelstypischen Delikten

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Quod tamen prima facie dubio non caret“) und Randziffer 9 („Cum quo convenit Jus Divinum, quod inter Nobiles & ignobiles, divites ac pauperes, digniores & minus dignos sive humiliores, plane non distinguit, sed quibusvis homicidis absque omni respectu poenam mortis pro commisso homicidio imponit“). Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XVIII, Randziffer 94, sowie quaestio XCVIIII, causa XXXI. Vgl. Farinacius: Praxis (wie Anm. 17) III, De poenis temperandis, quaestio XCVIIII, causa XV, Randziffern 114–133, nämlich wenn ein Delikt die Ehre des Adeligen angreife, könne er auch mit voller Härte bestraft werden, was auch für Verrat, Diebstahl, Falschheit (falsum), Maiestätsverbrechen, Häresie, malitia contumacia, Delikte unter dem Mantel der Adeligkeit, Mordauftrag an Nicht-Adelige oder Arme oder Ehebruch gelte. Dazu auch Gail: Observationes (wie Anm. 17) II, observatio CX („Wann ein todtschlag mit der ordentlichen / oder willkürlichen straff zustraffen sey“), Randziffer 44: „Da Bald., num. I. hieraus gar sein schleust / das eines Herren oder Fuersten diener vnnd Befehlhaber / schwerer suendigen als andere / die am Hofe nicht sein. Imgleichen / das die Edelleut / die eines Keysers / Fürsten oder Herrn befehl verachten / ernstlicher / als die gemeinen leute / sollen gestrafft werden / wegen das böse exempel“. Vgl. Tiraquellus: De poenis (wie Anm. 17), causa XXXI, Randziffer 36: „nobiles grauius puniantur ex eodem delicto, quam ignobiles [. . . ], praesertim in ijs locis, in quibus nobiles sunt admodum ad vitia & scelera procliui“; Randziffer 37: „At in poenis fori poenitentialis, quod & forum conscientiae appellant, magnis puniendus est nobilis, & in dignitate constitutus, vt qui plus caeteris per omnia paribus, peccare videtur: tum quia magis contemnit, qui plus recipit à Deo, nec recognoscit, ideo maior est ingratitudo illius. Ex quo illud in primis istis animaduertendum, & scrinio pectoris penitissimè recondendum“; Randziffer 38: die Sünden der Adeligen und Würdenträger werden vom Volk als Vorbild begriffen; Randziffer 39: „Et qualis est Rex ciuitatis, & tales inhabitantes in ea. Et subdit, Rex insipiens perdit populum suum“ (unter Rekurs auf Platon und Cicero, Ad Lentulum). Vgl. ebd., Randziffer 18 („Tunc enim, cum scilicet nobilitatis vel dignitatis auget delictum, vt poena delicto respondeat [. . . ] grauius puniuntur constituti in dignitate, sicuti grauius peccant“) sowie Randziffer 19 („Tum autem dicitur, crimen augeri dignitate, cum in his peccamus, quae dignitatem nostram concernunt, atque illius administrationem, vel in his, propter quae dignitatem vel honorem sumus consecuti, vel cum delictum cedit in dedecus & contumeliam ipsius dignitatis“). Darüber hinaus wurde der Umkehrschluss von bestimmten Rechtsgelehrten auch vertreten: Ludwig Gilhausen benannte die rusticitas einer Person als schuldmindernden Faktor; vgl. Gilhausen: Arbor criminalis (wie Anm. 17), cap. V, ramusculus III (De Exceptionibus & Defensionibus Reorum), Randziffern 83–93.

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wie Verrat, Falschheit, Glaubensirrtümern bzw. Häresie, Amtsmissbrauch, Anstiftung Dritter zu Verbrechen.93 Ähnliches sollte für den prozessrechtlich erheblichen contumacia-Vorwurf gelten, der den Ungehorsam eines Adeligen gegenüber einem Gericht in Form des Nichterscheinens im Prozess aufgriff. Für solches Verhalten forderte Tiraquellus wenigstens eine gleiche Bestrafung wie bei nicht-adeligen Personen.94 Im Reich plädierten Joachim Mynsinger von Frundeck (1514–1588) und Johann Harpprecht für eine Gleichbehandlung von adeligen und nicht-adeligen Mördern, selbst wenn Letzterer für Adelige die Deportations- oder Geldstrafe akzeptierte. Weitergehender sprach sich Benedict Carpzov 1635 prinzipiell für die Gleichbehandlung beider Personengruppen aus, gerade weil die Gesetze und das Gemeinwohl dies forderten und weil die Adeligkeit einer Person diese nicht allein von der Tötungsschuld entschuldige.95 Für bestimmte Delikte forderte er sogar eine härtere Bestrafung von Adeligen gerade wegen deren Adeligkeit.96 Mit solchen Lehrmeinungen war das Feld des Sozialen in neuer Qualität geöffnet worden, nämlich in Form der Frage, was eigentlich Adeligkeit über93

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Vgl. Tiraquellus: De poenis (wie Anm. 17), causa XXXI, Randziffer 21, 23, 25 („Hinc item fit, vt nobilis errans in fide, plus puniendus sit quam ignobilis, aut certe aequè, & secundum formam iuris,[. . . ] Nam quis neget nobilem, qui Deo suam nobilitatem debet, si in fide & religionis ipsius D.O.M. errauerit, multo magis in eum peccare, quam ignobilem? Quamquam id alio referri potest, vt dicam postea“), 26 („Sed & ex eo quoque illud fit, vt nobilis contemnens vel transgrediens mandatum Principis grauius puniatur quam ignobilis“), 31. Vgl. ebd., Randziffer 33. Zum juristisch-strafprozessrechtlichen Gehalt des contumaciaVorwurfs vgl. Samuel Oberländer [1692–1723]: Lexicon juridicum Romano-teutonicum, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Polley, 4. Auflage, Nürnberg 1753 (unveränderter ND Köln/Weimar/Wien 2000), S. 187. Vgl. Mynsinger von Frundeck: Apotelesma (wie Anm. 17) I (De iustitia et iure), titulus I, Randziffern 17–19: „Ius suum, hoc est, meritum: quia Iustitia tribuit cuique quod ipse meruit, siue praemio afficiendi sint boni, siue poena mali: His enim duobus, praemio scilicet & poena, omnem constare Rempub. Solon dicere solebat. Vnde Aristoteles uocat uirtutem cuique sua tribuentem merita. Porro ut duplex est Iustitia, ita hic duplex intelligitur ratio tribuendi Ius suum suum cuique nempe in distributionibus poenarum & praemiorum pro meritis, & in commutationibus rerum ne cui fiat iniurias, & seruetur aequalitas“; Harpprecht: Tractatus (wie Anm. 17), titulus XIII (De Homicidio) § Item lex Cornelia de sicarijs. 5, Randziffer 192 und 193; Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio II, Randziffer 3 („Nobiles & Illustres personas poena homicidii aeque teneri, ac ignobiles atque plebejos. Quod tamen prima facie dubio non caret“; insbesondere sei dies zu beachten bei Fällen, „in quibus leges magis respiciunt commodum publicum“) sowie Randziffer 9. Zu Mynsinger vgl. Jöcher: Gelehrten=Lexikon (wie Anm. 17) 3, Sp. 795; Stolleis: Juristen (wie Anm. 17), S. 449f.; Sabine Schumann: Joachim von Mynsinger von Frundeck (1514–1588). Herzoglicher Rat in Wolfenbüttel – Rechtsgelehrter – Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16. Jahrhundert (Wolfenbütteler Forschungen 23), Wiesbaden 1983. Vgl. Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio IX, Randziffer 40, sowie pars II, quaestio LXII, Randziffern 2–15.

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haupt ausmache. Damit wurde diese immer wieder im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit virulente Problematik nun auch durch die Rechtsdogmatik aufgeworfen. Adeligkeit und Lebenswandel mussten miteinander korrespondieren, ansonsten erkannten die Rechtsgelehrten in solchem Handeln die Tyrannisierung bzw. Terrorisierung des Gemeinwesens. So verlangte neben de Soto insbesondere auch Aegidius Bossius ein Einschreiten gegen alle jene (adeligen) Tyrannen, die ihre Bauern über Gebühr mit Abgaben belasteten, die Bürgerschaft spalteten, die Bürger angriffen und für ihre Verarmung sorgten. Nur so könne das öffentliche Wohl aufrecht erhalten werden, zumal die Macht eines Einzelnen niemals derart weit reichen könne, außer er sei eben ein Tyrann.97 Bossius’ Ausführungen zur adeligen Lebensweise beschränkten sich nicht allein auf unzweifelhaft gemeinschaftsschädigende, kriminelle Akte. Sie widmeten sich auch den – für Italien zumal – unterschiedlichen Arten, wie Adeligkeit generiert werden könne und was sie ausmache. Landbesitz allein war für ihn dabei kein entscheidendes Kriterium. Gleichermaßen verdammte er die Titelanmaßung trotz standeswiedriger Lebensweise.98 2.2.4 Das Duell: Todsünde oder soziale Pflicht des Adels?

Im Kontext der Problematik adeliger Tötungshandlungen sowie der Erhaltung oder des Verlustes adeliger Ehre wurde selbstverständlich auch die Duellthematik für die Rechtsgelehrten interessant.99 Hierbei zeigten sich 97

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Vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De vi publica & priuata, Randziffern 1–4, bspw. „licet tales nobiles sint puniendi, iuxta singula per eos commissa, considerando an interuenerit vis publica vel priuata, quod cognoscitur si vis armata, vel sine armis factum sit [. . . ] & considerando an etiam interuenerit homicidium ex tali vi, vel aliud delictum“ (Randziffer 1); Randziffer 2–3: Erörterung, was einen Tyrannen ausmache und dass das herrschaftliche Oberhaupt gegen solche Tyrannen vorzugehen hat, wobei der bloße Tyrannen-Titel nicht genüge (Randziffer 2); „Non loquor, quando vnico actu ita fecit, sed quando sic facere resolitus est [. . . ] quod debet esse afflicta maior pars populi, & non sufficere, vt aliqui sibi infesti grauati fuerint“ (Randziffer 3); „si omnes actus tyrannicos facit, non nego quin sit magis tyrannus, tamen adhuc tyrannus est, si unum genus tyrannidis exercet“ (Randziffer 3). Neben Bossius: de Soto: De iustitia (wie Anm. 17) V, quaestio I, articulus III. Vgl. Bossius: Tractatus (wie Anm. 17) De foro competenti, Randziffer 35/36; ders.: Tractatus (wie Anm. 17) De falsis, Randziffer 152. Zu diesem bereits hinlänglich erörterten Themenkomplex vgl. neuerdings mit Benennung der zentralen Forschungsdiskurse: Ulrike Ludwig/Barbara Krug-Richter/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 23), Konstanz 2012; darin insbesondere die Aufsätze von Ulrike Ludwig: Das Recht als Medium des Transfers. Die Ausbreitung des Duells im alten Reich, S. 159–173; Marc Bors: Duell und juristischer Ehrenschutz. Zur Rolle des Duells in der Literatur zum Ehrverletzungsrecht im 19. Jahrhundert, S. 175–186, sowie Karl Härter: Duelldiskurse. Das Duell als kommunikativ-mediales Konstrukt, S. 87–193, der die Fülle der zeitgenössischen Literatur wenigstens andeutet, während für die normative Ebene insgesamt nur wenig theoretische Literatur behandelt wird, weil man eher auf der Praxisebene verharrt.

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teilweise erhebliche Differenzen in der Bewertung des Vorgangs und seiner Konsequenzen. Ihren Nährboden erhielten sie aus dem für die Frühe Neuzeit typischen und zugleich sensiblen Spannungsfeld, das sich zwischen Gesellschaft und Theologie auftat: Die Beschlüsse des Tridentinums hatten das Duell wegen seiner unabsehbaren Weiterungen für die menschlichen Gesellschaften verdammt und verboten,100 während die soziale Konvention jene Form der Ehrverteidigung geradezu forderte, wollte ein adeliges Individuum in der Welt des Adels und gerade bei Hofe bestehen. Auf die Konzilsbeschlüsse rekurrierend, bezog der spanische Moraltheologe Luis de Molina eindeutig gegen das Duell Stellung.101 Er wertete es als Todsünde aller beteiligten Parteien, die zur sofortigen Exkommunikation führe und von den Obrigkeiten entsprechend gestraft werden müsse. Das Duell entspreche zwar sozialen Traditionen, nicht aber der kirchlichen Lehre, selbst wenn daraus für das Individuum ein Ehrverlust entstünde. Sozialer Zwang könne bei dieser Tat, die de Molina mit anderen Formen der privaten Rache gleichsetzte, demnach nicht geltend gemacht werden. Vielmehr sei die Duellverweigerung ein Ausweis christlichen und klugen Handelns, nicht zuletzt weil Genugtuung eben nicht mit privaten, sondern mit den Mitteln der öffentlichen Gewalt zu suchen sei. Zwar verwies auch der Jesuit Leonardus Lessius auf die Trienter Konzilsbeschlüsse und anerkannte sie. Doch gewichtete er rechtssoziologische Argu100

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Vgl. Concilium Tridentinum, Sessio 25, Decretum de reformatione, cap. 19 (Monomachia, sive duellum poenis gravissimis punitur), in: Johannes Dominicus Mansi (ed.): Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. 33, Paris 1902 (ND Graz 1961). Gleichermaßen verurteilten aber auch protestantische Theologen das Duell, sahen es jedenfalls äußerst kritisch; vgl. Alexander Kästner: Unzweifelhaft ein seliger Tod! Überlegungen zur Darstellung des Sterbens von Duellanten in protestantischen Leichenpredigten, in: Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff: Duell (wie Anm. 99), S. 141–158; Ulrike Ludwig/Gerd Schwerhoff/Barbara Krug Richter: Zugriffe auf das Duell. Zur Einleitung, in: dies.: Duell (wie Anm. 99), S. 1–25, hier S. 11. Vgl. de Molina: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, disputatio 17, Randziffer 3: „Concilium Tridentinum sess. 25, c. 19, de reformatione, excommunicat ipso facto Imperatores, Reges, & quoscunque alios dominos temporales, qui locum in terris suis inter Christianos ad duellum concesserint“; Randziffer 2: „Ex doctrina autem tradita non inferas, licere lacessito ad duellum, singulareve certamen, ad illud exire: ductus, quod dedecori illi sit non exire, atque quod id necessarium sit ad conseruandum defendendumque suum honorem. Cum enim vis tunc illi non inferatur, sed solum prouocetur ad id, quod peccatum est lethale ex parte inuitantis & inuitati, nequaquam licitum est exire. Neque apud prudentes & verè Christianos dedecori est non exire, vt Deo obediatur mandatis, quin potius id rei summae tribuetur laudi. De iudicio autem contemptorum legum Dei, esti illi ingenui ac nobiles in hoc mundo sint, curandum non est. Sicut neque de illis est curandum, quando suadent, vt aliquis per se ipsum vindictam de iniuriis sibi illatis sumat, & non per publicas potestates“; ders.: De iustitia (wie Anm. 17), tractatus III, Summarium zu disputatio 17, Randziffer 2: „Inuitans & inuitatus ad duellam peccant lethaliter ad illum progrediendo, variasque poenas in concilio Tridentino statutas incurrunt tam pugnantes quam illis locum concedentes, siue priuatum sit duellum siue publicum“ und ebenso ebd.: tractatus IV, disputatio I, Randziffer 4.

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mente stärker. Lessius erkannte im Duell eine soziale Verpflichtung für den Adeligen, die ihn – gerade im Kontext der höfischen Gesellschaft und ihrer sozialen Logiken – zur Annahme der Herausforderung zwecks Ehrerhalt unausweichlich zwinge.102 Andernfalls schwebe der Betroffene in der Gefahr, infolge des Ehrverlusts auch materiellen Schaden hinnehmen zu müssen, weil er nicht mehr in Ämter bei Hofe und im Militärdienst berufen werde bzw. berufen werden könne. Das Duell diene demnach generell primär dem Schutz seiner Person. Es unterliege allerdings gewissen Beschränkungen und sei nur anzunehmen, wenn es keinen anderen Weg des Ehrerhalts und Schutzes gebe. Umgekehrt gelte zudem, dass es für den Weisen keineswegs unschicklich sei, ein Duell abzulehnen. Beim Adel jedoch gelte die Ehre mehr als alle materiellen Güter oder gar das Leben, weshalb eine Ablehnung nicht annehmbar sei. Der Ehrerhalt durch eine im Duell erfolgte Tötung müsse daher nicht von Grund auf schlecht sein. Der Tötung liege jedenfalls eine gerechte Ursache zugrunde, zumal „is, qui duellum offert, non nititur me spoliare meo honore: sed si honoris amissio sequi videtur, id solum est per accidens & ex consequenti; aliaque ratione impediri non potest“103 . Lessius’ Ordensbruder Juan de Lugo stellte in der Mitte des 17. Jahrhunderts zunächst die beiden gegensätzlichen Auffassungen einander gegenüber.104 Gegen die Kritik de Molinas wandte er ein, das Duell sei vor dem Tridentinum und von Natur aus nicht verboten gewesen.105 Beim Duell solle nicht die Ehre geraubt, sondern erhalten werden, weil sie auf andere Weise nicht geschützt werden könne. Die Tötung entspreche demnach einem äußeren Zwang und

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Vgl. Lessius: De iustitia (wie Anm. 17) II, cap. 9, dubitatio XII, Randziffer 83: „Si aliqua occasione me duellos prouoces ad duellum, & nisi acceptem, censebor ignauus, & meticulosus; nec potero amplius in aula comparere, vel vllam promotiorem militarem sperare, vt in quibusdam aulis Principum dicitur vsitatum. Cur enim talis euentu non possim duellum acceptare: non equidem animo illud interfeciendi, sed comparendi in loco condicto, ne famam & opinionem strenuitatis (quae nobilibus aeque est chara atque ipsa vita) amittam? Ita tamen vt si inuaseris, statuam me tueri cum debito moderamine. Confirmato Primo, quia si quis mihi velit adimere vitam vel bona, nec possim aliuter ea tuero nisi acceptando duellum, possem acceptare, vt patet dubit. 8. cur non etiam vt seruem meum honorem & famam? Dice recusare duellum non est dedecus apud sapientes, sed tantum apud stultos: ergo, &c. Respondetur, quidquid sit; est tantum dedecus, vt passim apud nobiles pluris aestimatur quam omnium bonorum amissio; imo saepe quam mors ipsa: ergo Iure naturae possunt hoc dedecus a se depellere, etiam cum vitae periculo. Confirmatur Secundo, Quia acceptare duellum, & comparere tali loco, non est intrinsicè malum, sed quiddam adiaphorum, quod bene & malè fieri potest: ergo si iusta causa subsit, poterit licitè fieri. At conseruatio honoris, qui tanti aestimatur, est iusta causa: ergo, &c.“ Ebd.: Randziffer 84. Vgl. de Lugo: Disputationum (wie Anm. 17), Disputatio X, sectio VIII, Randziffer 171. Ebd.: „tum etiam, quia es eisdem verbis colligunt Doctores, in iis casibus, in quibus antea licitè acceptabatur, posse etiam de facto acceptari; quia in Tridentino non est sermo nisi de duello antea ex natura rei illicito“.

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sei nicht das eigentliche Ziel der Handlung.106 Daraus folgerte de Lugo aber keine uneingeschränkte Straflosigkeit der Duellanten und der möglichen Tötungshandlung. Vielmehr müsse das Duell prinzipiell – selbst bei Ehrverlust – als unrechtmäßige Handlung begriffen werden.107 Denn es bestehe keine unmittelbare Lebensgefahr, vielmehr die Möglichkeit der Flucht, da das Duell angeboten werde und also auch abgeschlagen werden könne. Umgekehrt konstatierte der Jesuit, mit dem Angebot und der Annahme eines Duells gingen beide Seiten, die auch beide zu verurteilen seien, willentlich das Risiko einer Tötung ein. De Lugo stellte damit indirekt fest, dass bei der Be- bzw. Aburteilung von Duellanten keine dolus-Annahme zugrunde gelegt werden könne.108 Diese hätten jedoch – parallel zu ihrer bewussten Einwilligung in eine potentielle Tötungshandlung – die Effekte des Duells – neben der möglichen eigenen Tötung oder der strafrechtlichen Ahndung auch die Rache eines Verwandten des Getöteten – zu akzeptieren.109 Daher verwies de Lugo auf die Problematik solcher Konsequenzen eines Duells hin, die sich gerade bei erzwungenen, einseitigen oder provozierten Auseinandersetzungen zeigten.110 Gleichermaßen unentschieden präsentierten sich die Meinungen der Gelehrten im Reich. Während Abraham Sawr 1577 davon ausging, eine Tötung im Kontext von Fecht- und Ritterspielen im öffentlichen Raum wie auch an Ritterakademien müsse als Unfall hingenommen werden und bleibe folglich straffrei, kam Benedict Carpzov zur gegenteiligen Auffassung: Das Duell – gleich in welcher Form – widerspreche jeder Art von Recht und werde daher vom kanonischen, göttlichen, zivilen und schließlich vom Völkerrecht untersagt. Durch die Ablehnung eines Duells trete also kein Ehrverlust ein, vielmehr versündigten sich sowohl der Herausforderer wie auch der Herausgeforderte gegen die gottgesetzten Obrigkeiten.111 In ähnlicher Weise hatte sich bereits Johann Harpprecht gegen das Duell ausgesprochen.112 106 107

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Ebd.: „et tamen ne honorem amittam, possum non fugere, sed persistere, atque eum occidere“. Vgl. ebd.: Randziffer 172: „Ad difficultatem ergo propositam fatendum est, non posse licitè acceptari duellum, etiamsi ex recusatione ignominia, & nota grauis incurratur apud saeculares“. Vgl. ebd.: Disputatio XI, sect. II, Randziffer 56. Vgl. ebd.: Disputatio X, sectio VIII, Randziffer 173: „occisio auctoritate priuata sine necessitate defensionis quod contingere possit“. Vgl. ebd.: Disputatio XI, sectio III, Randziffer 66. Vgl. Sawr: Straffbuch (wie Anm. 17), S. 129; Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio XXIX, Randziffer 71: „quod provocans contra Deum, contra magistratum, contra proximum, & contra seipsum peccet, ut, ultis rationibus, argumentis / authoritatibus adductis probant“; Randziffer 72: „Non etiam facti esse poterit, quia homines graves, boni & honesti non infamia, sed laude dignum detrectantem censebunt. Nec bonae existimationis opinio ab inimici criminatione sed a vitae actionibus prolatis dependet, queis si provocatus se oneraverit, nec quicquam injuriosa provocatione alter eas obscurare poterit“. Vgl. Harpprecht: Tractatus (wie Anm. 17), titulus XIII (De Homicidio) § Item lex Cornelia de sicarijs. 5, Randziffern 130 und 131 (Duell und Kampf um die Ehre stehen

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3. Fazit und Ausblick Die gelehrten Auffassungen spiegelten am Beginn der Frühen Neuzeit sämtliche den Adel als Gesellschaftsstand berührenden, in dieser Epoche zentralen Fragestellungen wider. Während die Carolina als anerkannter Normhorizont durch den Hinweis auf ein Notwehrrecht bei Angriffen auf Leib, Leben und Leumund, durch die Betonung einer eingehenden Bewertung der Tatumstände sowie durch die Berücksichtigung des Ansehens und des Standes einer Person gerichtliche Handlungsspielräume zur effektiven Verteidigung adeliger Gewaltkrimineller eröffnete, sah die Rechtslehre in der Tötung zunächst einmal prinzipiell einen ahndungswürdigen Angriff auf das Gemeinwesen. Sie folgerte daraus eine Ahndungspflicht und einen Ahndungszwang für den Inhaber der potestas suprema. Gleichwohl kannte auch sie schuldmindernde Faktoren wie Feindschaft, Gefahrenabwehr und Güterschutz. Über die Carolina und andere Territorialgesetzgebungen vermittelt, spielte sie einer standesgemäßen Rechtsinterpretation durch den Adel ohne Zweifel in die Hände. Denn abgeleitet aus dem letzten Schuldminderungsfaktor galten auch Ehre und guter Ruf als schützenswerte Güter. Sie war zudem nicht nur zur Legitimierung der Gefahrenabwehr geeignet, sondern darüber hinaus auch zur Rechtfertigung einer offensiven Tötung, zumal sie sich zwanglos mit der praesumtio de viro nobili verband. Denn Ehre und guter Ruf erschlossen die defensio necessaria ohne Fluchtzwang, weil solcherart Handlung mit Verteidigung des eigenen Lebens durch einen Adeligen im Kontext der sozialen Realitäten und Zwänge gleichgesetzt werden konnte. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts stießen derartige Lehren allerdings auf rechtsdogmatische Bedenken. Die damit verbundenen Einschränkungen resultierten aus zweierlei Überlegungen: Zum einen wurden fama und honor nicht mehr nur aus einer standesbedingten oder genetisch-familiär bedingten nobilitas abgeleitet, sondern zunehmend aus der individuellen Fähigkeit eines jeden Menschen. Mit Blick auf den Adel erhielt sich zwar einerseits die Auffassung, Ehre und guter Ruf ergäben sich aus der ererbten Fähigkeit zu tugendhaftem Leben und einem Allgemeinwohl förderlichen Handeln. Beide mussten sich allerdings durch das konkrete Handeln des adeligen Individuums beweisen und durften jedenfalls nicht eben dadurch widerlegt werden. Zugleich konnte andererseits auch das nicht-adelige Individuum für sich in Anspruch nehmen, aufgrund seiner Fähigkeiten dem Allgemeinwohl zu dienen und folgerichtig strafmildernd behandelt zu werden. Die Rechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts betrachtete den Adelsstand demnach nicht gesondert und insofern einseitig, sondern als integriertes gesellschaftliches grundsätzlich gegen das Gesetz: „Quaecumque enim sunt contra honestam, & bonos mores, vel laedunt famam & opinionem: ea nec facere nos posse credendum est“; Randziffer 131).

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Element. Sie formulierte daher kein spezifisches Standesrecht, sondern leitete aus dem Grundsatz des gleichen Rechts für alle Individuen das Prinzip der Standes- und Individualwürdigung der Tatumstände ab. Daraus resultierte der Ansatz, für den Adel strafmildernde Faktoren in besonderer Weise zu berücksichtigen. Es handelte sich also nicht um eine a priori-Privilegierung, wohl aber um eine Bevorzugung, die aus der spezifischen, systemadäquaten, weil von den politisch-gesellschaftlichen Realitäten bedingten Rechtsanschauungen abgeleitet wurde. Die Rechtsgelehrten eröffneten damit allerdings für den Adel am Beginn der Frühen Neuzeit zugleich ein ambivalentes und unberechenbares Spannungsfeld zwischen den Polen des Ehrerhalts und des Gemeinnutzes. Dabei entsprach die Kategorie des Ehrerhalts der Idee der ungleichen Bestrafung aus Gründen der Rechtsgleichheit im Sinne der Bestrafungsgleichheit. Die Strafmilderung für Adelige erschien in dieser Interpretation natürlich, wenigstens aber logisch-selbstverständlich. Diese Auffassung schien auch die Bewertungskategorie des gemeinen Nutzens und der allgemeinen Wohlfahrt zu stützen, insofern die Strafmilderung bei adeligen Gewalttätern das Gemeinwohl im Sinne des Erhalts der gegebenen sozialen Ordnung – also den Erhalt der herausragenden und bevorzugten Stellung des Adels im gesellschaftlichen Ganzen – förderte. Doch konnte aus demselben Grund – hier lag die entscheidende Crux – eine Gleichbehandlung oder gar Strafverschärfung bei adeligen Beklagten, die doch eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft einnehmen sollten, begründet werden. Es handelte sich um eine neuartige, nicht aber revolutionäre, sondern eher um eine evolutionäre Ansicht, die den Adel nicht um seiner selbst willen, sondern nur im politisch-gesellschaftlichen Kontext evaluierte, ihn kontextualisierte, funktionalisierte und damit seinen Anspruch auf Eigenständigkeit unterminierte. Das damit eröffnete Spannungsfeld wurde durch die zum gleichen Zeitpunkt sich verschärfende Konfrontation des Adels mit der auctoritas publica und der summa potestas principis verschärft. Das Kriterium der Adeligkeit wurde auf diesem Wege sowohl bei der Einschätzung der Delikte als auch bei der Strafbemessung gegen den Adel gewendet. Die Rechtslehre begab sich so zugleich auf den Pfad der Diskussion über rechte Adeligkeit und politisch-soziale Tyrannei. Symptomatisch für dieses Spannungsfeld zwischen den sozialständischen und den rechtlich-rechtsdogmatischen Anforderungen an den Adel erscheint in diesem Zusammenhang die Duell-Problematik. Denn die theologisch und juristisch ausgebildeten Rechtsgelehrten akzeptierten die soziale Realität des Adels und damit den sozial bedingten Zwang, zwecks Statuserhalts seine Ehre verteidigen zu müssen. Gleichzeitig mussten sie allerdings die kirchliche Verurteilung des Duells berücksichtigen und bezweifelten den gesellschaftlichen Nutzen für das Allgemeinwohl. Damit legten die Gelehrten am Beginn der Frühen Neuzeit die Grundbausteine des künftigen Rechtsdenkens – mit erstaunlicher Fernwirkung. Denn auch in der zweiten Hälfte des 17. und noch am Beginn des 19. Jahrhunderts

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stand der Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz in ambivalentem Verhältnis zur Selbstverständlichkeit strafmildernder Behandlung adeliger Beklagter. Mochten die Enzyklopädisten und Aufklärer – wie Cesare Beccaria113 – oder einige deutsche Rechtswissenschaftler – genannt seien nur Julius Friedrich von Malblanc 1782 und Johann Gottfried Seume 1807114 – für die uneingeschränkte Verwirklichung des juristischen Gleichheitsgrundsatzes eintreten, so folgte die juristische Mehrheitsmeinung doch weitgehend dem von ihren Vorgängern eingeschlagenen Weg. Auf der noch im 19. Jahrhundert berücksichtigten, letztlich auf Aristoteles115 aufbauenden Grundidee von der Gleichheit der Untertanen vor dem absoluten Herrscher bei Achtung der Unterschiede zwischen den Ständen behauptete die bayerische Strafgesetzgebung und die sie stützenden Rechtswissenschaftler – wie Aloys Kreittmayr 1770 – den Standpunkt, rechtliche Gleichheit könne es nur innerhalb der Stände, nicht zwischen ihnen geben, während der Göttinger Rechtsprofessor Georg Jacob Meister 1784 die Auffassung vertrat, dass doch gerade die Strafmilderung ein wichtiges Instrument sei, um die Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen.116 Betrachtet man die in der Territorialgesetzgebung normativ angelegte Strafpraxis – also Bestrafung und Strafvollzug –, lassen sich für den gleichen Zeitraum ähnliche Beobachtungen machen: Entehrende Strafen, wozu bereits die Inhaftierung eines adeligen Beklagten gezählt wurde, jedenfalls aber die Folter, galten noch bis ins 18. Jahrhundert als unangemessen, obgleich bereits Ausnahmen beschrieben worden waren. Benedict Carpzov plädierte 1683 ausdrücklich für Nachsicht bei der – von ihm generell als zulässig angesehenen – Inhaftierung Adeliger, sofern ein leichteres Delikt vorliege,117 während Jus113

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Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 17), S. 64f.; Karl Richard Sontag: Die Festungshaft. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Strafensystems und zur Erläuterung des Reichstrafrechts, Leipzig 1872, S. 76–82; Sylvia Kesper-Biermann: „Nothwendige Gleichheit der Strafen bey aller Verschiedenheit der Stände im Staat“? (Un)gleichheit im Kriminalrecht der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 603–628, hier S. 612f.; Martin Reulecke: Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (Grundlagen der Rechtswissenschaft 9), Tübingen 2007, S. 248–258. Vgl. Otto Dann: Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (Historische Forschungen 16), Berlin 1980, S. 165, mit dem entsprechenden Seume-Zitat; Kesper-Biermann: (Un)gleichheit (wie Anm. 113), S. 613, mit einem Malblanc-Zitat. Vgl. Aristoteles: Politik. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Mit einer Einleitung von Günther Bien (Meiner Philosophische Bibliothek 7), Hamburg 1981 (ND 1990), hier 1308a 11; Kesper-Biermann: (Un-)Gleichheit (wie Anm. 113), S. 614–618. Vgl. Kesper-Biermann: (Un-)Gleichheit (wie Anm. 113), S. 608–612; Reulecke: Gleichheit (wie Anm. 113), S. 134–142, mit weiteren Beispielen; Dann: Gleichheit (wie Anm. 114), S. 120f.; Schmidt: Einführung (wie Anm. 3), S. 212–255. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 111f. unter Verweis auf Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars III, quaestio CXI, Randziffern 39, 40 und 43.

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tus Henning Böhmer 1727 die Anwendung der Folter für möglich hielt.118 Im friderizianischen Preußen und im josephinischen Österreich wurde von einer Milderung der Bestrafung Adeliger abgesehen, in Bayern durfte eine Verhaftung adeliger Beklagter nur auf ausdrücklichen Befehl des Kurfürsten vorgenommen werden.119 Die Strafmilderung gegenüber adeligen Straftätern wurde demnach zwar in der Regel vorgenommen. Es entwickelte sich daraus jedoch keine einheitliche Spruchpraxis oder Rechtsauffassung, wie sich insbesondere auch an der Ahndung des Tötungsdelikts zeigte.120 So verfuhren die deutschen Territorialgesetzgebungen in der Duellproblematik zwar wesentlich rigoroser als bei der Verhaftung. Wie schon im Württemberger Territorialrecht seit 1714 galt auch in Preußen seit 1721 ein Duellverbot. Das bayerische Kriminalrecht drohte seit 1751 den Duellanten ebenso wie ihren Sekundanten die Todesstrafe an, sollte ein Beteiligter zu Tode kommen. Dies galt allerdings mit der Einschränkung, der Kurfürst halte sich „wo sich dergleichen zwischen Adelichen und Militair-Personen anbegibt, den Casum zur selbigen höchsten Einsicht und Entscheidung bevor“121 . Das kurfürstliche Reservatrecht wirkte auf diesem Wege adelsprotektionistisch und verhinderte juristische Automatismen, während sich in Württemberg der Beschuldigte zwar entehrt, aber nicht mit der sonst üblichen Rutenstrafe belegt sah.122 Sozial verschärft wurden solche Verbote allerdings durch die Bestimmung, ein im Duell Getöteter solle von dem Henker auf dem Duellplatz oder „in loco inhonesto“ begraben werden. Prinzipiell wurde die Todesstrafe für Adelige bei Tötungsdelikten also nicht ausgeschlossen. So stellte der bayerische Codex fest: „Würde und Adeliches Herkommen thut nichts zur Sach, ausser daß der Strang mit dem Schwerdt, vnd die Schand=Straffen in Geld=Arrest und dergleichen Straffen abgeändert werden.“123 Immerhin traten die Juristenfakultäten und ihre Rechtsgelehrten allerdings regelmäßig aus verschiedenen Gründen für eine mildere Behandlung ein. Während weiterhin ihre Mehrheit die Auffassung vertrat, die Flucht bei einem Angriff – also in einer Notwehrsituation – sei für Standeshöhere inakzeptabel, trat Carpzov für deren milde Bestrafung ein.124 Das bayerische Gesetzbuch von 1751 sah sogar einen erhöhten Spielraum für adelige Mörder 118 119 120 121 122

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Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 123f., 143–146. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 86–92, 110–126. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 92–100. Codex Juris Bavarici Criminalis de Anno MDCLI, pars I, cap. 3, § 19. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 88, 91 (mit Zitat). Zum Scheitern derartiger fürstlicher Sanktionsinitiativen aufgrund niederadeliger Opposition im Herzogtum Pommern-Stettin am Beginn des 17. Jahrhunderts vgl. Ludwig: Recht (wie Anm. 99), S. 159ff. Codex Juris Bavarici (wie Anm. 121), pars I, cap. 1, § 25. Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 100f.; Carpzov: Practica (wie Anm. 17), pars I, quaestio XXX, Randziffer 57–59.

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vor, die ihre Frauen in flagranti ertappten, und gestand ihnen das Recht zu, diese einzumauern.125 Selbst wenn man adeligen Kriminellen keine Milde bei der Strafzumessung gewährte, bestand die Möglichkeit der Milderung des Strafvollzugs. Sofern sie nicht begnadigt wurden, richtete man adelige Mörder in der Regel mit dem Schwert. In Bayern wie in Frankreich galt dies sogar als Adelsnachweis.126 In vielen Regionen galt nichts desto Trotz auch das Hängen oder Rädern als zulässig.127 Erfolgreich konnten sich vielfach zum Tode verurteilte Adelige ausbedingen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit hingerichtet zu werden, nicht zu lange am Galgen hängen zu müssen und damit zur Schau des Pöbels gestellt oder frühzeitig abgenommen zu werden.128 Auch konnten auf entsprechende Bitte hin die Hinrichtungsstätte und die Hinrichtungsaccessoires standesgemäß ausgestattet oder die Akteure des Strafvollzugs und ihr Handeln sorgfältig ausgewählt bzw. bestimmt werden. So konnte der Delinquent erreichen, nicht vom Henker berührt zu werden oder von einem Freund die Hände gebunden zu bekommen.129 Mochte Gleichheit im Recht bestehen und der Adel mit anderen Ständen rechtlich gleichgesetzt werden, so wurden Stand und Ehre wenigstens im Detail des Vollzugs und damit sein Selbstverständnis als Herrenstand gewahrt. Es entwickelte sich demnach in der Frühen Neuzeit hinsichtlich der Beurteilung einer Tötung durch einen Adeligen kein explizites Standesrecht und doch eine Bevorzugung in der Gleichheit, die eine logische Widersprüchlichkeit als Teil des Funktionierens der ständischen Rechtsgemeinschaften darstellte.

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Vgl. Codex Juris Bavarici (wie Anm. 121), pars I, cap. 5 § 9; Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 103f. Vgl. den auf Aloys Kreittmayr zurückgehenden Anonymus: Anmerckungen uber den Codicem Juris Bavarici criminalis. München 1752, S. 14. Kommentar zu pars I, cap. 1, § 25: „c (Schwerdt) ist eigentlich poena nobilium und in Frankreich wird dato niemand decapitirt, der nicht von Adel ist.“ So etwa in Preußen, wo 1739 ein Domänenrat von Schlubhut wegen Unterschlagung gehängt wurde; vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 127–146, hier besonders S. 130. Auch hierfür steht der bayerische Codex von 1751 archetypisch, der solche Vergünstigungen zu den kurfürstlichen Reservatrechten zählte, während der entsprechende Kommentar ausdrücklich die mögliche „Heimlichkeit“ „ob metum tumultus aut honorem familiae“ begründete; vgl. Codex Juris Bavarici (wie Anm. 121), pars II, cap. 10, § 15; Anonymus: Anmerckungen (wie Anm. 126), S. 155 (h). Vgl. Gwinner: Einfluß (wie Anm. 3), S. 134–143.

Stefan Andreas Stodolkowitz

Die Gutsherrschaft der Grafen von Bernstorff in den Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle An gut einem Drittel der durch Gerichtsakten überlieferten Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle aus dem Herzogtum Lauenburg1 , nämlich an 160 von insgesamt 443 Verfahren, waren Adlige beteiligt. Ganz überwiegend handelte es sich dabei um den im Herzogtum Lauenburg begüterten niederen Adel. Die Akten aus dem Zeitraum von 1747 bis 1816 sind daher ein Beleg für die große Bedeutung des Adels und der von ihm ausgeübten Gutsherrschaft in dem zum Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg gehörenden nordelbischen Herzogtum. In ihnen werden Rahmenbedingungen und Entwicklungen adliger Herrschaft in Norddeutschland am Ende des Alten Reiches sichtbar. Zugleich zeigen sie, welche Bedeutung die Gerichtsbarkeit für die Angehörigen des lauenburgischen Adels hatte. Exemplarisch soll dies nach einigen einleitenden Worten zu den adligen Gütern im Herzogtum Lauenburg am Beispiel der Grafen von Bernstorff dargestellt werden, die mehrere Güter im Lauenburgischen besaßen und an 40 überlieferten Verfahren des Oberappellationsgerichts beteiligt waren. In der lauenburgischen Aktenüberlieferung beschäftigten sie das Gericht damit so oft wie kein anderes Adelsgeschlecht.

1. Die adligen Güter im Herzogtum Lauenburg Im Herzogtum Lauenburg gab es im 18. Jahrhundert 26 adlige Güter. Sie waren selbstständige Herrschaftsbereiche, die von den fünf landesherrlichen Ämtern losgelöst waren und auf derselben Ebene neben diesen standen. Seit dem Ende des Mittelalters hatten die lauenburgischen Gutsbesitzer über ihre Untertanen nahezu dieselben Herrschaftsrechte wie die Ämter über die Amtsuntertanen.2 1

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Vgl. Wolfgang Prange: Findbuch der Bestände Abt. 216 und Abt. 217, Lauenburgische Gerichte (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 29), Schleswig 1992. Zur Überlieferungsgeschichte und zur Auswertung dieses Aktenbestandes Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = künftig QFHG 59), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 4–6, 9–14. Wolfgang Prange: Bauer und Herrschaft in Lauenburg, in: Kurt Jürgensen (Hrsg.), Ländliche Siedlungs- und Verfassungsgeschichte des Kreises Herzogtum Lauenburg (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Stiftung Herzogtum Lauenburg, Kolloquium III), Neumünster 1990, S. 45–58, hier S. 54; Peter Stoldt: Die Amtsbauern des Herzogtums Sachsen-Lauenburg bis 1689. Ein Beitrag zur Rechts- und Sozialgeschichte, Hamburg 1963, S. 151.

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Dies galt auch und vor allem für die Gerichtsbarkeit. Deshalb wurden die lauenburgischen adligen Güter zumeist als „adlige Gerichte“ bezeichnet.3 Knapp ein Viertel der lauenburgischen Bevölkerung lebte auf den adligen Gütern. Im Jahre 1817, dem Jahr der ältesten umfangreichen Bevölkerungsstatistik für Lauenburg, lebten 25 766 Einwohner und damit 62,6 Prozent der Bevölkerung in den fünf Ämtern, während 9403 Einwohner (22,9 Prozent) den adligen Gerichten angehörten und 5973 (14,5 Prozent) den drei Städten Ratzeburg, Lauenburg und Mölln.4 Als gutsherrliche Gerichte hatten die adligen Güter die unbeschränkte erstinstanzliche Gerichtsbarkeit in Zivil- und Strafsachen über die Gutsuntertanen inne. Den Ämtern stand daneben keine Gerichtsbarkeit über die den adligen Gütern angehörenden Teile der Bevölkerung zu.5 Im 18. Jahrhundert sprachen die Gutsherren regelmäßig nicht mehr selbst Recht, sondern setzten zur Ausübung der Gerichtsbarkeit rechtsgelehrte Justitiare, meist Advokaten oder Beamte aus den Städten, als Gerichtshalter ein. Zwingend war dies freilich nicht. So nahm noch um 1800 der Justizrat von Bülow als studierter Jurist auf seinem Gut Wehningen die Gerichtsbarkeit über seine Gutsuntertanen selbst wahr.6 Über den adligen Gerichten stand als zweite Instanz das Hofgericht in Ratzeburg, das zugleich erstinstanzlich über Rechtsstreitigkeiten eximierter Personenkreise und damit auch in Prozessen entschied, an denen die meist adligen Gutsbesitzer selbst beteiligt waren.7 Vor allem in Unter3

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Wolfgang Prange: Die Organisation der Rechtspflege im Herzogtum Lauenburg bis 1879, in: Kurt Jürgensen (Hrsg.), Geschichtliche Beiträge zur Rechtspflege im Herzogtum Lauenburg und in umliegenden Territorien (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Stiftung Herzogtum Lauenburg, Kolloquium VIII), Mölln 1996, S. 13–26, hier S. 19; ders.: Vom Rittersitz des Mittelalters zum Adligen Gericht der Neuzeit im Herzogtum Lauenburg, in: ders., Beiträge zur schleswig-holsteinischen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze. Als Festgabe zum 70. Geburtstag herausgegeben von der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte und dem Landesarchiv Schleswig-Holstein unter Mitarbeit von Henning Unverhau, Angela Lange, Carsten Jahnke (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schelswig-Holsteins 112; Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 76), Neumünster 2002, S. 325–340, hier S. 335. Zahlen nach Joachim Bernhard Susemihl: Einige Nachricht von der Verfassung des Herzogthums Lauenburg, in: Kieler Blätter 4 (1817), S. 261–306, hier S. 286–288; Gerhard Meyer: Die Verkoppelung im Herzogtum Lauenburg unter hannoverscher Herrschaft. Eine Abhandlung zur Agrar- und Landesgeschichte (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 66), Hildesheim 1965, S. 132–134. Vgl. Karl Behrends: Die Stellung der Gutsbauern im adligen Gut Gudow um 1700, in: Lauenburgische Heimat 76 (1972), S. 10–73, hier S. 38f.; Prange: Organisation (wie Anm. 3), S. 19. Vgl. Prange: Organisation (wie Anm. 3), S. 19. Titel XXIX der Hofgerichtsordnung von 1681 = Ernst Spangenberg (Hrsg.): Sammlung der Verordnungen und Ausschreiben, welche für sämmtliche Provinzen des Hannoverschen Staats, jedoch was den Calenbergischen, Lüneburgischen, und Bremen- und Verdenschen Theil betrifft, seit dem Schlusse der in denselben vorhandenen Gesetzsammlungen bis zur Zeit der feindlichen Usurpation ergangen sind. Vierter Theil, Zweite Abtheilung, die Lauenburgischen Verordnungen bis 1739 enthaltend, Hannover 1822, S. 289–291; Susemihl: Nachricht (wie Anm. 4), S. 275f., Anm. *.

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tanenprozessen der überwiegend bäuerlichen Gutsuntertanen gegen ihre Gutsherren entschied das Hofgericht in erster Instanz. Die oberste Appellationsinstanz war seit der Verleihung des unbeschränkten Appellationsprivilegs für Lauenburg im Jahre 17478 das Oberappellationsgericht in Celle. In der Besetzung des Ratzeburger Hofgerichts spiegelte sich, ebenso wie in derjenigen des Oberappellationsgerichts Celle, die starke Stellung des Adels wider. Drei der sechs Assessoren des Hofgerichts sowie der Hofrichter waren Vertreter der Ritterschaft.9 Hofrichter war regelmäßig der der Ritter- und Landschaft vorstehende Landmarschall, dessen Amt das Geschlecht derer von Bülow als Besitzer des adligen Gerichts Gudow erblich innehatte.10 Die Richterschaft des Oberappellationsgerichts war in eine adlige und eine gelehrte Bank geteilt; beide Bänke mussten ungefähr gleich groß sein.11 Zur adligen Bank hatten nur Angehörige altadliger Familien Zugang. Nach kontroverser Diskussion in der Anfangszeit wurde dieses Kriterium dahingehend konkretisiert, dass die Beisitzer der adligen Bank ihre adlige Abstammung bis zum Großvater nachweisen mussten.12 Neuadlige konnten ebenso wie nichtadlige Personen nur der gelehrten Bank angehören. Auch der Präsident des Gerichts musste dem alten Adel entstammen.13 Dieser große Einfluss des Adels, der am Oberappellationsgericht stärker ausgeprägt war als an anderen Gerichten der Frühen Neuzeit,14 ist durch die herausgehobene gesellschaftliche Bedeutung des Adels und vor allem des Uradels in Braunschweig-Lüneburg bedingt. Bisherige Untersuchungen haben dabei – insbesondere in Untertanenprozessen zwischen adligen Gutsbesitzern und ihren Gutsuntertanen – nicht 8 9

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Privileg vom 20. Mai 1747, vgl. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserlichen privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 79. Titel I der Hofgerichtsordnung von 1681 = Spangenberg: Sammlung (wie Anm. 7), S. 272–274; Art. III Nr. 2 des Landesrezesses vom 15. September 1702 zwischen Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und der Ritter- und Landschaft des Herzogtums Lauenburg = ebenda, S. 332. Prange: Organisation (wie Anm. 3), S. 13–26, hier S. 15; Susemihl: Nachricht (wie Anm. 4), S. 275f. unter Bezugnahme auf den Landesrezess von 1702. Th. I Tit. 1 § 6 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische Landes-Ordnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Band II, Göttingen 1740, S. 8f. Vgl. Friedrich von Bülow: Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Ober-Appellations-Gerichts zu Zelle, Erster Theil, Göttingen 1801, S. 41 mit Anm. 19 unter Hinweis auf ein – nicht erhaltenes – landesherrliches Reskript vom 24. August 1711; Karl Gunkel: Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover. Festschrift zur Erinnerung an die Gründung des kurhannoverschen Oberappellationsgerichts in Celle am 14. Oktober 1711, Hannover 1911, S. 54; Ernst von Meier: Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1680–1866, Bd. I: Die Verfassungsgeschichte, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1898, Hildesheim 1973, S. 485f. Th. I Tit. 1 § 5 OAGO = Landes-Ordnungen Calenbergischen Theils II (wie Anm. 11), S. 8. Nils Jörn: Das richterliche Personal am Tribunal, in: Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/ Kjell Åke Modéer (Hrsg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806) (QFHG 47), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 247–275, hier S. 250, 256f.

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den Eindruck erweckt, dass das Oberappellationsgericht zugunsten adliger Prozessparteien voreingenommen gewesen wäre.15 Die Besitzer der adligen Güter entstammten meistens traditionsreichen Geschlechtern des Uradels wie den Grafen von Bernstorff oder den von Bülows, die seit 1470 das Gut Gudow besaßen.16 Zwingend war dies freilich nicht.17 Am Ende des 18. Jahrhunderts erwarben in mehreren Fällen zu Wohlstand gekommene nichtadlige Personen Güter. Meistens geschah dies in der Geschichte eines Gutes in Phasen, in denen dieses binnen kurzer Zeit mehrfach den Besitzer wechselte. So erwarb ein Amtmann namens Makeprang das Gut Niendorf am Schaalsee im Jahre 1763 und verkaufte es 1770 weiter an einen anderen Amtmann namens Nanne. Dieser besaß das Gut nur drei Jahre und veräußerte es sodann an Jean Guillaume Schuldt,18 der an zahlreichen vor dem Oberappellationsgericht geführten Prozessen als Partei beteiligt war.19 Das Gut Thurow erwarb 1786 der Ratzeburger Bürger Nicolaus Rohrdantz, dessen Sohn es 1795 an den Amtmann Görbitz – ein Pächter zu Neukloster – verkaufte. Von diesem erwarb es 1799 der Hamburger Kaufmann Peter Bernhard Berkemeyer.20 Ein Rechtsstreit zwischen Görbitz und Berkemeyer um den Kauf des Gutes beschäftigte das Oberappellationsgericht in den Jahren 1804 bis 1806.21 Wegen der häufigen Besitzerwechsel entsteht der Eindruck, dass der Erwerb eines Gutes für zu Wohlstand gekommene nichtadlige Personen oftmals weniger eine langfristige Investition war als vielmehr ein auf wenige Jahre angelegtes Spekulationsgeschäft.22 Als die lauenburgische Ritter- und Landschaft in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutsame finanzielle Entscheidungen zu treffen hatte, versagte sie den nichtadligen Gutsbesitzern Sitz und Stimmrecht in ihren 15

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Vgl. Wolfgang Prange: Nun ist in Stintenburg alles aus. Gerichtliche Auseinandersetzungen um die Hofdienste 1780–1790, in: Kurt Jürgensen (Hrsg.), Geschichtliche Beiträge zur Rechtspflege im Herzogtum Lauenburg und in umliegenden Territorien (Lauenburgische Akademie für Wissenschaft und Kultur, Stiftung Herzogtum Lauenburg, Kolloquium VIII), Mölln 1996, S. 105–119, hier S. 107ff., 111, 113; Stodolkowitz: Oberappellationsgericht (wie Anm. 1), S. 249. Zur Geschichte des Gutes Gudow vgl. Peter von Kobbe: Geschichte und Landesbeschreibung des Herzogthums Lauenburg, Dritter Theil. Nachdruck der Ausgabe Altona 1837, Bamberg 1984, S. 300–309. Allgemein Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815, München 1987, S. 150f.; vgl. auch Lieselott Enders: Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit (Ende des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) (Veröffentlichungen des brandenburgischen Landeshauptarchivs 56), Berlin 2008, S. 624–626. Von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 331. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 830, 834, 910, 913, 926, 929, 930, 934–937, 940, 941, 943, 946. Von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 334. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 329. Vgl. Enders: Altmark (wie Anm. 17), S. 625f.

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Versammlungen. Sie vertrat die Auffassung, nur Adlige könnten der Ritterschaft angehören. Dieser Rechtsstandpunkt war nicht ohne Vorbild, sondern entsprach hergebrachtem Standesdenken. So waren beispielsweise in HessenKassel nichtadlige Gutsbesitzer von den Landtagen ausgeschlossen.23 Die schon erwähnten Gutsbesitzer Schuldt und Berkemeyer sowie der Domherr Dr. Lamprecht, der seit 1800 Besitzer des adligen Gerichts Niendorf an der Stecknitz war,24 sahen das Stimmrecht in landschaftlichen Zusammenkünften hingegen als ein mit dem Besitz des Gutes verknüpftes dingliches Recht an, das unabhängig vom persönlichen Stand des Besitzers bestehe, und beschritten den Rechtsweg. Der Streit beschäftigte zunächst das Hofgericht,25 dessen ritterschaftliche Assessoren sich bei der Abstimmung über das Urteil der Stimme enthielten und damit die Unparteilichkeit des Gerichts wahrten, und schließlich das Oberappellationsgericht.26 Beide Gerichte entschieden zugunsten der nichtadligen Gutsbesitzer.27 Gleichwohl setzte sich der Streit nach 1816, als das Herzogtum Lauenburg zu Dänemark gehörte, vor dem Obergericht Glückstadt fort.28

2. Die Güter der Grafen von Bernstorff im Herzogtum Lauenburg Die Grafen von Bernstorff gehörten nicht zu denjenigen Adelsfamilien, die – wie etwa die von Bülows – schon seit Jahrhunderten im Herzogtum Lauenburg begütert waren. Sie erwarben ihre lauenburgischen Güter – nämlich die Güter Wotersen, Lanken und Stintenburg – zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Schon 1693 hatte Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg29 seinem an der Gründung des Oberappellationsgerichts maßgeblich beteiligten30 Minis23

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Dieter Wunder: Neuer Adel und Alter Adel in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im Kanton Rhön-Werra der fränkischen Reichsritterschaft (1650–1750) – Integration und Exklusivität, in: Eckardt Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), Marburg 2010, S. 329–358, hier S. 357. Von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 350. LA Schleswig, Abt. 217 Nr. 8. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 576. Susemihl: Nachricht (wie Anm. 4), S. 292–295. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 582, 583. Georg Wilhelm (1624–1705), Herzog zu Braunschweig-Lüneburg, 1648–1665 Fürst des Fürstentums Calenberg, ab 1665 Fürst des Fürstentums Lüneburg. Peter Jessen: Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge 27), Aalen

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ter Andreas Gottlieb von Bernstorff (1649–1726) ein Lehnsgut im Herzogtum Lauenburg versprochen. Nachdem 1717 der bisherige Besitzer des lauenburgischen Gutes Wotersen, der schwedische General Johann Valentin von Dalldorf, gestorben war und seine Erben auf Wotersen verzichtet hatten, weil das Gut hochverschuldet war und sich in schlechtem Allgemeinzustand befand – „zumalen das Wohnhaus und die Wiesen dergestalt verdorben, dass es grossenteils keine Wiesen mehr, sondern Mohre draus geworden, zu deren Bau Reparier und Verbesserung ein Grosses an baarem Gelde erfordert würde, die dazu erforderte Kosten von andern zinsbar aufzunehmen [. . . ]“31 –, erwarb von Bernstorff Wotersen.32 Von Bernstorff war bestrebt, seinen neuen Besitz im Lauenburgischen durch Kauf- und Tauschgeschäfte zu mehren und seine Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Mehrere Dörfer, nämlich Siebeneichen, Klein Pampau und Kankelau, unterstanden zunächst nur teilweise der Gutsherrschaft von Bernstorffs, weil in ihnen etliche Hofstellen zu den adligen Gütern Basthorst, Müssen und Gülzow gehörten. In einem im Einvernehmen mit dem Landesherrn durchgeführten umfangreichen Ringtausch zog von Bernstorff in diesen Dörfern die Gutsherrschaft über alle Einwohner an sich und arrondierte damit seinen Besitz.33 In den Untertanenprozessen vor dem Oberappellationsgericht aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spielte diese Konzentration der Gutsherrschaft wiederholt eine Rolle. Zusätzlich erwarb von Bernstorff 1719 von Herzog Karl Friedrich von Holstein den Hof Lanken mit den drei Dörfern Sahms, Elmenhorst und Groß Pampau, die bis dahin zum holsteinischen Amt Trittau gehört hatten.34 1736 ging die Landeshoheit über diese Dörfer auf Lauenburg und damit Kur-Braunschweig-Lüneburg über.35 1739 schließlich

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1986, S. 127f.; Stefan Andreas Stodolkowitz: Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler zwischen Reichsjustiz und territorialer Gerichtsbarkeit, in: Anja Amend-Traut/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (bibliothek altes Reich 11), München 2012, S. 191–219, hier S. 207. Schreiben der Vormünder Philipp Anton von Dalldorfs an das Hofgericht, mit dem sie auf das Erbe verzichteten, zitiert nach Kurt Kroll: Was die Wotersener Geldregister von 1721–1763 erzählen können, in: Lauenburgische Heimat 124 (1989), S. 22–43, hier S. 26. Von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 336; Kurt Kroll: Soveneken. Kirche und Kirchspiel Siebeneichen im Wandel der Zeiten, Ratzeburg 1953, S. 62f. Kroll: Soveneken (wie Anm. 32), S. 63f.; Tauschkontrakt betreffend die Herrschaft des Gutes Basthorst vom 14. Juni 1719, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 48, Aktenstück Q6; Tauschkontrakt betreffend die Herrschaft des Gutes Müssen vom 19. Februar 1723, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q2; weiterer Vertrag betreffend Müssen vom 21. Juni 1723, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q6; Vertrag betreffend die Herrschaft des Gutes Gülzow vom 13. April 1719, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstücke Q8/9. Kaufkontrakt vom 25. Oktober 1719, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q6. Vgl. von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 337f.; Transakt über den Übergang der Landeshoheit vom 18. Dezember 1736, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 369, Aktenstück Q29; Urkunde über die lehnsrechtlichen Verpflichtungen vom 14. Oktober 1737 mit einer Ab-

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wurde Johann Hartwig Ernst von Bernstorff (1712–1772), der Enkel Andreas Gottlieb von Bernstorffs, mit dem adligen Gut Stintenburg belehnt.36 Weitere wesentliche Änderungen erfuhr der lauenburgische Grundbesitz der Grafen von Bernstorff im 18. Jahrhundert nicht. Nachdem Andreas Gottlieb von Bernstorff 1726 gestorben war, wirkte Johann Hartwig Ernst von Bernstorff, der als Minister in dänischen Diensten stand, fast ein halbes Jahrhundert lang als Gutsherr der Güter Wotersen, Lanken und Stintenburg. Nach seinem Tode übernahm sein Neffe Andreas Peter von Bernstorff (1735–1797), der ebenfalls dänischer Minister war, die Gutsherrschaft. Beide hielten sich infolge ihrer diplomatischen Verpflichtungen meistens in Dänemark auf. Ihre lauenburgischen Güter besuchten sie nur selten. Faktisch lag die Gutsverwaltung in der Hand der auf Gartow im Wendland ansässigen anderen Linie der Grafen von Bernstorff. Dort wurden insbesondere die Geldregister für Wotersen und Lanken geführt.37 Insofern kam den lauenburgischen Gütern zugute, dass die Gartower Gutsherren, anders als ihre in diplomatischen Diensten stehenden Verwandten, in der Land- und Gutswirtschaft erfahrene Praktiker waren.38 Die Geschäfte der Gutswirtschaft vor Ort nahmen die von der Gutsherrschaft eingesetzten Verwalter wahr. Nachdem Andreas Peter von Bernstorff 1797 gestorben und die Gutsherrschaft auf seinen 1791 geborenen und damit noch minderjährigen Enkel Andreas Erich Heinrich Ernst übergegangen war, übte der Gartower Gutsherr die Gutsherrschaft über Wotersen als dessen Vormund aus. Als dänischer Minister setzte sich Andreas Peter von Bernstorff am Ende des 18. Jahrhunderts intensiv mit Fragen der Bauernbefreiung auseinander. Auf seinem dänischen Gut Bernstorff waren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bereits umfangreiche Agrarreformen durchgeführt worden. Nachdem im Königreich Dänemark 1788 die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, setzte sich von Bernstorff seit 1795 auch hinsichtlich der Herzogtümer Schleswig und Holstein für die Beseitigung der Leibeigenschaft ein. Dabei nahm er insofern eine zwischen den Interessen der Gutsherren und denjenigen der Bauern vermittelnde Position ein, als er eine gleichzeitige Aufhebung der von den Bauern zu leistenden Hofdienste ablehnte.39 Um zu

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schrift des Lehnsbriefes Georgs II. vom 13./24. September 1737, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q7. Von Kobbe: Geschichte III (wie Anm. 16), S. 318f. Kroll: Geldregister (wie Anm. 31), S. 26. Hubertus Neuschäffer: Die Doppelrolle des Adels als Gutsbesitzer und Staatsdiener, in: Christian Degn/Dieter Lohmeier (Hrsg.), Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 14), Neumünster 1980, S. 103–126, hier S. 106f. Christian Degn: Die Stellungnahmen schleswig-holsteinischer Gutsbesitzer zur Bauernbefreiung, in: Christian Degn/Dieter Lohmeier (Hrsg.), Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Däne-

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belegen, dass die persönliche Freiheit der Bauern nicht zwingend auch die Aufhebung der Hofdienste bedingte, wies er auf die Situation der Bauern im Herzogtum Lauenburg hin:40 Die lauenburgischen Bauern nämlich waren seit jeher persönlich frei; die Leibeigenschaft hatte sich dort nie durchsetzen können.41 Gleichwohl, so von Bernstorff, leisteten die lauenburgischen Gutsuntertanen Hofdienste. Wolfgang Prange hat die Widersprüchlichkeit dieser Position von Bernstorffs betont und darauf hingewiesen, dass die Hofdienste auf den lauenburgischen Gütern der Grafen von Bernstorff bereits um 1790 aufgehoben worden waren.42 Da die Aufhebung der Hofdienste und der jahrzehntelange Streit um die Pflicht der Gutsbauern, Dienste in natura zu leisten, Gegenstand zahlreicher Prozesse vor dem Oberappellationsgericht Celle waren, ist diese Haltung von Bernstorffs zur Rechtsstellung der Bauern wichtig für das Verständnis der Ausübung der Gutsherrschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert.

3. Die Grafen von Bernstorff in Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle In der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte das Oberappellationsgericht Celle über zahlreiche Prozesse zu entscheiden, die die lauenburgischen Güter der Grafen von Bernstorff betrafen. Überwiegend handelte es sich dabei um Klagen der Gutsuntertanen gegen ihre Gutsherrschaft. Die Güter Wotersen und Lanken waren Gegenstand von insgesamt 23 derartigen Verfahren. Diese bilden zwei Komplexe von jeweils mehreren Prozessen, die inhaltlich teilweise zusammenhängen. Streitgegenstand der meisten dieser Verfahren war die Pflicht der Gutsuntertanen, gegenüber der Gutsherrschaft Dienste in natura zu leisten. Der erste Komplex besteht aus zehn Verfahren aus den Jahren 1770 bis 1780,43 der zweite, kleinere, aus fünf Verfahren der Jahre 1803 bis 1806.44 Mit weiteren Untertanenprozessen wegen der Hofdienste sah

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mark (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 14), Neumünster 1980, S. 77– 87, hier S. 77f. Wolfgang Prange: Zwei Briefe von Andreas Peter Bernstorff über die Aufhebung der Leibeigenschaft, in: ders.: Analecta Holsatica. Neue Beiträge zur schleswig-holsteinischen Geschichte (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 116), Neumünster 2011, S. 117–124, hier S. 119. Behrends: Stellung (wie Anm. 5), S. 55–57. Friedrich von Bülow/Theodor Hagemann: Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit Urtheils-Sprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Band VI, Hannover 1818, S. 114–117; Prange: Bauer (wie Anm. 2), S. 55; ders.: Rittersitz (wie Anm. 3), S. 335. Prange: Briefe (wie Anm. 40), S. 121. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 48–50, 52–54, 369, 372, 909, 1137. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 763, 959, 962, 963, 971.

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sich von Bernstorff in den Jahren 1780–1790 seitens der Gutsuntertanen des Gutes Stintenburg konfrontiert.45 In fast allen dieser Verfahren waren es die Bauern, die auf dem Klagewege das für Klagen gegen die Gutsherrschaft erstinstanzlich zuständige Hofgericht anriefen; von Bernstorff war jeweils der Beklagte. Er wandte sich von sich aus nur in wenigen Einzelfällen an das Hofgericht.46 Als Gutsherr war er nicht darauf angewiesen, gegen seine Bauern gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern konnte kraft der ihm zustehenden herrschaftlichen Rechte gegenüber den Bauern Anordnungen treffen, die diese, wenn sie nicht gerichtlich gegen sie vorgingen, zu befolgen hatten und die seitens der Gutsherrschaft mit Zwangsmitteln, insbesondere Zwangsgeldern und Pfändungen, durchgesetzt werden konnten. Dies kann als Beleg für die starke, auf umfangreichen Herrschaftsrechten beruhende Stellung der lauenburgischen Gutsbesitzer gewertet werden.

3.1 Die Untertanenprozesse der Jahre 1770 bis 1780

Fast alle der zehn Verfahren vor dem Oberappellationsgericht, die die gutsuntertänigen Bauern gegen von Bernstorff in den 1770er Jahren führten, haben den Umfang der bäuerlichen Dienstpflichten zum Gegenstand; nur ein Verfahren berührt neben den Diensten andere Fragen der Gutsherrschaft wie den Mühlenzwang, das Fischereirecht und das Recht, Holz zu schlagen. Die Prozesse spiegeln die Bedeutung wider, die die Naturaldienste für die Gutsherrschaft gehabt haben müssen. Neben den allgemeinen Hofdiensten für die Bewirtschaftung der herrschaftlichen Ländereien waren insbesondere die besonderen Burgvest-Dienste Auslöser von Konflikten. 3.1.1 Der Rechtsstreit der Eingesessenen zu Sahms, Groß Pampau und Elmenhorst wegen der Burgvest-Dienste

Im Jahre 1766 wurden in Wotersen für Bauarbeiten am dortigen Gutshaus Steine benötigt. Die Gutsherrschaft zog die Bauern der zum Gut Lanken gehörenden Dörfer Sahms, Elmenhorst und Groß Pampau heran, die Steine von 45

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Akten des Oberappellationsgerichts Celle: LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 58, 61, 63, 67, 917, 931; Akten des Hofgerichts Ratzeburg: LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 918; Prange: Stintenburg (wie Anm. 15). Stodolkowitz: Oberappellationsgericht (wie Anm. 1), S. 231. Zur entgegengesetzten Beobachtung für hessische Grundherren im 16. Jahrhundert Armand Maruhn: Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500–1620. Ein Beitrag zum Konzept der „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ in der Frühen Neuzeit, in: Eckardt Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), Marburg 2010, S. 269–291, hier S. 282f.

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der Ziegelei in Lauenburg nach Wotersen zu transportieren. Dabei handelte es sich um sogenannte Burgvest-Dienste, die die Gutsuntertanen neben den regulären Hofdiensten für Bauarbeiten an herrschaftlichen Gebäuden erbringen mussten. Sie waren besonders konfliktträchtig, weil sie im Gegensatz zu den regulären Hofdiensten ungemessene Dienste, also nicht nach Tagen festgelegt, und in dem Umfang zu erbringen waren, in dem die Herrschaft ihrer bedurfte.47 Im 18. Jahrhundert kam hinzu, dass die verbesserten wirtschaftlichen Verhältnisse zu einer vermehrten Bautätigkeit der Gutsherren führten, so dass der Bedarf an Burgvest-Diensten stieg.48 Die Einwohner von Sahms, Elmenhorst und Groß Pampau weigerten sich, die Steine aus Lauenburg nach Wotersen zu transportieren. Die Gutsherrschaft verhängte gegen sie eine Strafe von einem Reichstaler und schritt zur Pfändung. Auf erneute Aufforderung weigerten sich die Bauern wiederum. Sie gaben zwar zu, dass sie noch im Vorjahr Ziegel von der Ziegelei in Müssen nach Wotersen gefahren hatten, beriefen sich aber darauf, dieser Fuhrdienst sei kein Burgvest-Dienst gewesen, sondern im Rahmen des Hofdienstes erbracht worden, und teilweise seien sie dafür auch bezahlt worden. Die Gutsherrschaft drohte für den Fall weiterer Weigerung eine Strafe in doppelter Höhe an und kündigte an, die genommenen Pfänder meistbietend zu versteigern.49 Die Bauern erhoben nun Klage vor dem für Prozesse gegen die Gutsherrschaft erstinstanzlich zuständigen Hofgericht in Ratzeburg. Sie erklärten, sie hielten sich nicht für verpflichtet, Burgvest-Dienste nach Wotersen zu leisten, weil sie nicht zur Gutsherrschaft Wotersens, sondern zum adligen Gut Lanken gehörten. Als von Bernstorff die drei Dörfer erworben habe und die Herrschaft vom holsteinischen Amt Trittau auf das Gut Lanken übergegangen sei, sei ihnen zugesichert worden, dass ihre hergebrachten Rechte ungeschmälert bestehenbleiben sollten. Diesem Versprechen laufe das Verlangen nach Burgvest-Diensten zuwider. Von Bernstorff erwiderte auf die Klage, die Burgvest-Dienste für Wotersen und Lanken seien in der Vergangenheit von den zu den Gütern gehörenden Bauern jeweils gemeinsam geleistet worden, die Wotersener Bauern hätten also auch für Lanken und die Lankener für Wotersen gedient.50 Dies entsprach der Tatsache, dass Wotersen und Lanken zwar rechtlich eigenständige Güter waren, faktisch aber unter einer gemeinsamen Gutsverwaltung standen.

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Zur Problematik ungemessener Dienste vgl. Lieselott Enders: Frondienst in der Altmark – Analyse und Vergleich (16.–18. Jahrhundert), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 49 (2003), S. 83–147, hier S. 114–117. Vgl. Enders: Altmark (wie Anm. 17), S. 371–373; dies.: Frondienst (wie Anm. 47), S. 133– 136; Behrends: Stellung (wie Anm. 5), S. 26f. Protokoll des Gutes Wotersen vom 7. Februar 1766, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q15. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q5, S. 8–11.

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Das Hofgericht erließ nach Aktenversendung am 9. Mai 1767 ein Beweisinterlokut. Darin erlegte es von Bernstorff den Beweis auf, dass er die begehrten Burgvest-Dienste beanspruchen könne. Gegen dieses Urteil ergriff von Bernstorff den an den lauenburgischen Gerichten gebräuchlichen Rechtsbehelf der Läuterung, der zu einer erneuten rechtlichen Prüfung durch das Hofgericht führte.51 Auf das Argument der Bauern, diese seien nur zu gemessenen Diensten gegenüber dem Gut Lanken verpflichtet und hätten auch zur Zeit der holsteinischen Herrschaft Dienste der ihnen nun abverlangten Art nicht geleistet, erwiderte er, gemessene Dienste seien nur die Hofdienste, die jedoch nichts über die Pflicht der Bauern aussagten, daneben ungemessene BurgvestDienste nach Bedarf der Gutsherrschaft zu leisten.52 Das Hofgericht bestätigte sein Beweisinterlokut.53 Von Bernstorff benannte nun, um seiner Beweispflicht nachzukommen, Zeugen, die bestätigen sollten, dass die Bauern verpflichtet waren, Burgvest-Dienste auch gegenüber dem Gut Wotersen zu leisten. Nachdem die Zeugen abgehört worden waren,54 wies das Hofgericht die Klage ab, weil von Bernstorff den ihm auferlegten Beweis hinlänglich geführt habe.55 Nun legten die Gutsuntertanen ihrerseits die Läuterung ein. Das Hofgericht verschickte die Akten zur Vorbereitung eines neuen Urteils an die Juristenfakultät der Universität Erfurt. Deren Gutachten gemäß hob es sein klageabweisendes Urteil am 4. Januar 1774 auf und entschied nunmehr zugunsten der Bauern, dass diese zu Burgvest-Diensten nach Wotersen nicht verpflichtet seien, weil von Bernstorff den ihm obliegenden Beweis nicht hinlänglich geführt habe.56 Gegen dieses Urteil wandte sich von Bernstorff im Wege der Appellation an das Oberappellationsgericht Celle. Zur Begründung seines Rechtsmittels bezog er sich zunächst auf sein erstinstanzliches Vorbringen und führte darüber hinaus aus, die Bauern der drei Dörfer hätten in früheren Zeiten, vor dem Erwerb durch die Grafen von Bernstorff, Burgvest-Dienste gegenüber dem holsteinischen Amt Trittau geleistet. Durch die Dienstregister des Gutes Wotersen sei zudem zu belegen, dass sie in den späteren Jahrzehnten zugunsten der von Bernstoffschen Gutsherrschaft Burgvest-Dienste im gleichen Umfang

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Zur Läuterung in der lauenburgischen Rechtspraxis Titel XXXIIX der Hofgerichtsordnung von 1681 = Spangenberg: Sammlung (wie Anm. 7), S. 301; Georg Heinrich Oesterley: Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes für das Königreich Hannover, Zweyter Theil: Bürgerlicher Proceß, Zweyte Abtheilung, Göttingen 1819, S. 387. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q5, S. 16–19. Urteil vom 17. Mai 1769, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q18. Protokoll des Zeugenverhörs, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q21. Urteil vom 7. Juni 1722, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q22. Urteil vom 4. Januar 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q2; Rationes decidendi der Juristenfakultät Erfurt, Aktenstück Q24.

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geleistet hätten wie die Gutsuntertanen von Wotersen.57 Tatsächlich enthielt der der Appellationsschrift als Anlage beigefügte Auszug aus den Dienstregistern den Passus: „Die Burgvest-Dienste werden ohne Unterscheid von denen Unterthanen verrichtet, wenn behuf der sämtlichen Gebäude des Hauses Wotersen etwas zu bauen oder zu repariren ist, und müssen die Hufener nicht allein mit dem Spann, sondern auch mit der Hand, die Coßatern und Brinksitzern, aber nur allein mit der Hand dienen. Ein Vollhufener muss allemal einen Wagen mit 4 Pferden und 2 Halbhüfeners desgleichen aufbringen.“58 Zwar seien die Kläger nicht verpflichtet, Hofdienste zu leisten, weil sie statt dessen Dienstgeld zahlten. Die Pflicht zu ungemessenen Burgvest-Diensten bleibe dadurch aber unberührt. Nur einige Fuhren seien zur Erleichterung der Bauern unmittelbar durch das Gut durchgeführt worden, ohne dass dadurch die grundsätzliche Dienstpflicht der Untertanen in Zweifel gezogen worden sei.59 Das Oberappellationsgericht beurteilte den Rechtsstreit offenbar als schwierig. Es fällte nicht sogleich eine abschließende Entscheidung durch Dekret oder Reskript. Vielmehr eröffnete es – dies war in der Celler Rechtspraxis eine seltene Ausnahme60 – den förmlichen Appellationsprozess und forderte die Vorakten des Hofgerichts ein.61 Eine weitere Durchdringung des Streitstoffs durch die Parteien und ihre Anwälte hielt es gleichwohl nicht für erforderlich; vielmehr wurden die Akten sogleich, ohne dass die Parteien Gelegenheit zum Austausch von Schriftsätzen gehabt hätten, den Referenten zur Vorbereitung des Urteils zugeteilt.62 Doch bevor ein Urteil gefällt werden konnte, bereitete die Vollmacht des Prokurators der Bauern Schwierigkeiten. Diese war nämlich nicht von allen Gutsuntertanen der drei Dörfer unterzeichnet. Das Gericht rügte dies. Denn vor einer Entscheidung musste feststehen, welche Gutsuntertanen Parteien des Rechtsstreits waren. Der Prokurator teilte daraufhin mit, mehrere Bauern wagten aus Furcht vor der Gutsherrschaft nicht, eine Vollmacht für ein Verfahren gegen den Gutsherrn zu unterschreiben.63 Alle Einwohner wurden daraufhin, um Klarheit zu schaffen, durch das Amt Schwarzenbek vorgeladen und befragt, ob sie an

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Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q5, S. 5–7. Auszug aus den Dienstregistern für Wotersen aus den Jahren 1721–1766, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q12. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q5, S. 37, 53, 57. Stodolkowitz: Oberappellationsgericht (wie Anm. 1), S. 168–171, 174f. Citatio, compulsoriales und inhibitio vom 8. Juni 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstücke Q25–27. Vgl. Th. II Tit. 3 § 4 OAGO = Landes-Ordnungen Calenbergischen Theils II (wie Anm. 11), S. 77f. Schreiben des Prokurators Dr. Tresenreuter vom 24. November 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q43.

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dem Prozess teilzunehmen gewillt seien. Die meisten bejahten diese Frage. Ein Hufner namens Johann Schütte teilte jedoch mit, er sehe sich nicht in der Lage, Burgvest-Dienste zu leisten, könne aber auch nicht für die Prozesskosten aufkommen; er erklärte, „der Herr möge mit ihm machen, was er wolle“.64 Eine Witwe namens Maria Johns aus Sahms konnte die Vollmacht nicht selbst unterschreiben; sie hätte hierfür eines litis curator bedurft. Sie gab dem Amt Schwarzenbek zu Protokoll, sie habe niemanden finden können, der als litis curator in Frage gekommen wäre. Auch sie verzichtete auf die Teilnahme am Prozess.65 Am 28. Juni 1776 verkündete das Oberappellationsgericht sein Urteil.66 Es entschied, von Bernstorff habe hinlänglich bewiesen, dass die klagenden Bauern zur Leistung von Burgvest-Diensten verpflichtet seien. Diese müssten sie gegenüber dem Gut Wotersen solange erbringen, wie dessen Untertanen umgekehrt Dienste für das Gut Lanken leisteten. Zugleich jedoch ermahnte das Gericht von Bernstorff, die Bauern nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Das Urteil enthielt hierzu den Passus: „Jedoch verstehet es sich von selbst, dass Appellant hierunter die gehörige Mäßigung zu gebrauchen habe [. . . ].“ Die Bauern ergriffen gegen das Urteil den Rechtsbehelf der restitutio in integrum.67 Zur Leistung der Burgvest-Dienste waren sie nach wie vor nicht bereit. Als von Bernstorff für den Fall weiterer Weigerung Zwangsmittel androhen ließ, wiedersetzten sich die Bauervögte und erklärten den Vertretern der Gutsherrschaft, „dass sie sie aus dem Hause prügeln wollten, ehe sie Laden aufschließen und sich Pfand nehmen ließen“. Weil die Bauern die ihnen abverlangten Dienste nicht erbrachten, musste von Bernstorff für den anderweitigen Transport der benötigten Baumaterialien 24 Reichstaler aufwenden. Er beantragte, das Gericht möge durch Vermittlung des Amtes Schwarzenbek die Gutsuntertanen zur sofortigen Leistung der Burgvest-Dienste anhalten und ihnen aufgeben, die für Fuhrlohn aufgewandten 24 Reichstaler zu erstatten.68 Das Oberappellationsgericht entschied durch Dekret, „dass Appellaten nunmehro die schuldigen Burgveste iudicatmäßig zu leisten, oder zu gewärtigen haben, dass sie durch gebührende Zwangmittel dazu angehalten werden 64 65 66 67

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Protokoll des Amtes Schwarzenbek vom 21. Juni 1776, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q49. Protokoll des Amtes Schwarzenbek vom 21. Juni 1776, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q50. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q51. Zur restitutio in integrum siehe Th. II Tit. 14 § 2 OAGO = Landes-Ordnungen Calenbergischen Theils II (wie Anm. 11), S. 150f.; Friedrich von Bülow/Theodor Hagemann: Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit Urtheils-Sprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Band I, 2. Auflage, Hannover 1806, S. 237. Schriftsatz von Bernstorffs vom 14. Oktober 1776, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q54.

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sollen, gestalt dann selbigen zugleich aufgegeben wird, sich wegen der durch ihre Weigerung verursachten Kosten, mit Appellanten abzufinden.“69 Ob die Bauern die 24 Reichstaler tatsächlich erstatteten, ist den Akten nicht zu entnehmen. Die restitutio in integrum verfolgten sie nicht weiter. 3.1.2 Der Prozess der vier Vollhufner aus Kankelau

Nahezu zeitgleich mit dem Verfahren wegen der Burgvest-Dienste war am Oberappellationsgericht ein weiterer umfangreicher Prozess gutsuntertäniger Bauern gegen von Bernstorff anhängig. Kläger waren vier Vollhufner des zum Gut Wotersen gehörenden Dorfes Kankelau. Kankelau war eines jener Dörfer, die vor 1719 unter der Herrschaft verschiedener adliger Gerichte gestanden hatten. Auf Grund eines Tauschvertrags der verschiedenen Gutsherren war es insgesamt unter die Herrschaft Wotersens gelangt.70 Die vier klagenden Bauern waren die Inhaber derjenigen Hofstellen, die bis dahin zum adligen Gut Müssen gehört hatten. Sie erhoben 1766 gegen von Bernstorff eine umfangreiche Klage beim Hofgericht und brachten folgende sieben Beschwerden gegen die Gutsherrschaft vor, die verschiedene Herrschaftsrechte berührten:71 1. Der seitens von Bernstorffs eingesetzte Verwalter habe ihnen vor 16 oder 17 Jahren ein ihnen zustehendes Landstück entzogen, um einen herrschaftlichen Teich zu vergrößern. Sie begehrten nun Rückgabe dieses Landes. 2. Sie seien in früheren Jahren berechtigt gewesen, auf ihren Ländereien sowohl Hart- als auch Weichholz zu schlagen. Nun gestehe ihnen der Verwalter nur noch das Weichholz zu. 3. Die Gutsherrschaft verlange von ihnen, ihr Korn auf der herrschaftlichen Mühle in Roseburg mahlen zu lassen und ein jährliches Mahlgeld von zwölf Schillingen zu erlegen, obwohl sie nie einem Mühlenzwang unterlegen gewesen seien. 4. Der Verwalter habe ihnen untersagt, in der Steinau zu fischen, obwohl ihnen dies immer erlaubt gewesen sei. 5. Von ihnen seien Burgvest-Dienste gefordert worden, zu denen sie gegenüber der früheren Herrschaft des Gutes Müssen nicht verpflichtet gewesen seien. 6. Einige Hufner hätten unter der früheren Herrschaft keine Naturaldienste zu leisten brauchen, sondern statt dessen jährlich 18 Reichstaler Dienstgeld gezahlt; nunmehr verlange die Herrschaft auch von ihnen Hand- und Spanndienste. 69 70 71

Dekret vom 20. Dezember 1776, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 49, Aktenstück Q57. Siehe oben Anm. 33. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 6–16.

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7. Diejenigen von ihnen, die Naturaldienste leisteten, seien in der Ernte nur für neun Wochen zu täglichen Hand- und Spanndiensten verpflichtet. Im Jahre 1763 aber hätten sie elf Wochen lang dienen müssen, und als sie dies abgelehnt hätten, seien Geldstrafen gegen sie verhängt worden, und die Gutsherrschaft habe deshalb bei ihnen gepfändet. Neben der Verpflichtung der Bauern zu Naturaldiensten, und zwar regulären Hofdiensten zur Bewirtschaftung der Felder ebenso wie den besonderen Burgvest-Diensten, berührte diese Klage verschiedene Herrschaftsrechte. Zunächst bestritten die Bauern das grundsätzlich dem Gutsherrn zustehende Fischereirecht,72 indem sie behaupteten, sie seien stets berechtigt gewesen, in der Steinau zu fischen. Sodann zogen sie den Grundsatz in Zweifel, dass nur die Gutsherrschaft berechtigt war, zum Bauen geeignetes hartes Holz zu schlagen, und den Bauern regelmäßig nur die Nutzung des nicht als Baumaterial, sondern nur zur Feuerung verwendbaren Weichholzes zustand. Schließlich wandten sie sich gegen das Mühlenrecht, kraft dessen der Gutsherr das Privileg hatte, eine Mühle zu betreiben, und die Bauern regelmäßig verpflichtet waren, ihr Korn nur auf der Mühle der Gutsherrschaft mahlen zu lassen.73 Von Bernstorff betrieb für die zu den Gütern Wotersen und Lanken gehörenden Dörfer in Roseburg eine Wassermühle. Gegen Bauern, die entgegen dem Mühlenzwang Korn auf einer anderen Mühle mahlen ließen, konnte die Herrschaft vorgehen, indem sie das rechtswidrig gemahlene Mehl beschlagnahmte.74 Die Bauern begründeten ihre Klage in allen sieben Punkten recht pauschal damit, die Rechte, deren sie sich berühmten, hätten ihnen immer zugestanden. Dem Hofgericht genügte dies freilich nicht; es erließ 1768 nach Aktenversendung ein Beweisinterlokut, durch das es den Bauern den Beweis der Tatsachen auferlegte, die ihr Klagebegehren stützen sollten.75 Im Beweisverfahren ließ das Hofgericht vor allem zahlreiche Zeugen vernehmen;76 auch legten die Bauern Urkunden vor. Durch Urteil vom 7. Juli 1772 – wiederum nach Akten72

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Vgl. Karin Ostrawsky: Das Fischereirecht an Binnengewässern in seiner historischen Entwicklung, Wien 2009, S. 38–40; Kathrin Rosner/Hans-Werner Langbrandtner: Fischerei, in: Gudrun Gersmann/Hans-Werner Langbrandtner (Hrsg.), Adlige Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 300–306. Zum adligen Gut Gudow vgl. Behrends: Stellung (wie Anm. 5), S. 44. Allgemein zum Mühlenzwang und zum herrschaftlichen Mühlenrecht vgl. Ralf Kreiner: Mühlen und Mühlenrecht, in: Gudrun Gersmann/Hans-Werner Langbrandtner (Hrsg.), Adlige Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 286–291. Vgl. Behrends: Stellung (wie Anm. 5), S. 44. Beweisinterlokut vom 4. Oktober 1768, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q10. Zeugenrotuli vom 17. Mai 1770 und 12. Juli 1770, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstücke Q14/15.

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versendung – gab das Hofgericht der Klage vollumfänglich statt und ordnete an, von Bernstorff habe die unrechtmäßig gezogenen Nutzungen zu ersetzen, das zu Unrecht erhobene Mahlgeld zu erstatten und die in der Vergangenheit rechtsgrundlos geleisteten Dienste, insbesondere die Burgvest-Dienste, zu entgelten.77 Für die Gutsherrschaft war dieses Urteil ein herber Schlag, weil es ihr wesentliche Hoheitsrechte bestritt. Sie legte daher den Rechtsbehelf der Läuterung ein. Nach erneuter Aktenversendung änderte das Hofgericht sein Urteil am 4. Januar 1774 insofern ab, als es von Bernstorff hinsichtlich des Fischereirechts sowie der Hofdienste Recht gab, bestätigte aber im Übrigen sein Urteil zugunsten der Bauern.78 Von Bernstorff wandte sich nun mit der Appellation, die in der lauenburgischen Rechtspraxis durch eine zuvor durchgeführte Läuterung nicht, wie es die Gerichtsordnung grundsätzlich vorsah,79 ausgeschlossen wurde,80 an das Oberappellationsgericht Celle. Er begründete sein Rechtsmittel folgendermaßen: Infolge der früheren uneinheitlichen Gutsherrschaftsverhältnisse in Kankelau sei es den Bauern gelungen, Rechte faktisch in Anspruch zu nehmen, die ihnen nicht zugestanden hätten. Als Gutsherr habe er später versucht, derartige Missstände einzudämmen. Die Vorfahren der jetzt klagenden Bauern hätten dies unbeanstandet hingenommen.81 In vielen Details führte er in seiner Appellationsschrift aus, weshalb die Zeugen, die das Hofgericht auf Antrag der Bauern abgehört habe, deren Rechte nicht belegten. Zum Recht, hartes Holz zu schlagen, erklärte von Bernstorff: „Hier zu Lande ist es ein uraltes, allgemeines, und von jeher eingeführtes Principium, dass alles harte Holz, worunter man das Eichen- und Buchen-Holz verstehet, der Landes- oder Gutsherrschaft privative zugehöret.“82 Der Mühlenzwang sei ein fester Bestandteil der lauenburgischen Agrarverfassung.83 Dies belegte von Bernstorff mit einem landesherrlichen Reskript von 171884 , das den Mühlenzwang hinsichtlich einer damals neu errichteten Mühle in Tüschenbek bestätigte. Die Burgvest-Dienste hätten die Vorfahren der Kläger widerspruchslos geleistet, als in den Jahren nach 1720 verschiedene herrschaftliche Gebäude errichtet

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Urteil vom 7. Juli 1772, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q17. Urteil vom 4. Januar 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q2; Rationes decidendi der Juristenfakultät Erfurt vom 28. November 1773, Aktenstück Q19. Th. II Tit. 1 § 6 OAGO = Landes-Ordnungen Calenbergischen Theils II (wie Anm. 11), S. 65f. LA Schleswig, Abt. 210 Nr. 1451; Oesterley: Handbuch II (wie Anm. 51), S. 387. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 50, 53. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 86f. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 121. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q21.

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worden seien.85 Alle Gutsuntertanen seien zu diesen Diensten verpflichtet. Eine finanzielle Erstattung für geleistete Dienste, die das Hofgericht den Bauern zugesprochen hatte, sei auch deshalb nicht anzuerkennen, weil die Bauern die zuvor angekündigten Dienste stets widerspruchslos geleistet und sich früher darüber nie beschwert hätten.86 Hinsichtlich der Hofdienste wies von Bernstorff auf einen Widerspruch zu einem anderen Verfahren hin.87 Die Kläger prozessierten gegen von Bernstorff nämlich zeitgleich auch in etwas anderem Zusammenhang wegen der Hofdienste und leugneten dort, in der Ernte neun Wochen täglich auch mit dem Spann dienen zu müssen,88 während sie hier für sich in Anspruch nahmen, neun Wochen, aber eben nicht mehr dienen zu müssen. Auch in diesem Verfahren eröffnete das Oberappellationsgericht den förmlichen Appellationsprozess, gab den Parteien aber wiederum – wie zumeist in der gerichtlichen Praxis – keine Gelegenheit zum Austausch von Schriftsätzen. Am 28. Juni 1776 verkündete es sein Urteil,89 gleichzeitig mit den Urteilen in dem oben geschilderten Prozess wegen der Burgvest-Dienste und dem anderen seitens von Bernstorffs erwähnten Verfahren der Kläger wegen der Hofdienste. In wesentlichen Punkten änderte es das Urteil des Hofgerichts ab, gab von Bernstorff aber nicht vollumfänglich recht. Hinsichtlich des Landstücks, das der Verwalter der Gutsherrschaft den Bauern zur Erweiterung des Teiches entzogen haben sollte, entschied es, dass die Bauern den ihnen obliegenden Beweis nicht hinlänglich geführt hätten, und wies die Klage ab. Ebenso entschied es im Hinblick auf die Nutzung harten Holzes, gab aber der Gutsherrschaft auf, auf die Belange der Bauern insofern Rücksicht zu nehmen, als diesen durch die herrschaftliche Hartholznutzung kein Nachteil an dem Ackerbau auf ihren Ländereien entstehen sollte. Auch ihre angemaßte Freiheit vom Mühlenzwang hatten die Bauern nicht zu beweisen vermocht; vielmehr war den Zeugenaussagen nach Ansicht des Oberappellationsgerichts zu entnehmen, dass die Bauern verpflichtet waren, ihr Korn ausschließlich auf der gutsherrschaftlichen Mühle in Roseburg mahlen zu lassen. Bezüglich der Hofdienste verwies das Gericht auf das Urteil in dem erwähnten Parallelverfahren, in dem es von Bernstorff Recht gab.90 85

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Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 149–152. Zur Bautätigkeit auf den Gütern Wotersen und Lanken in den 1720er und 1730er Jahren vgl. Kroll: Geldregister (wie Anm. 31), S. 30. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 162. Appellationsbegründung vom 27. April 1774, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q5, S. 173f. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 50, insbesondere Appellationsbegründung vom 16. März 1774, Aktenstück Q1, S. 6–14. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q39. Urteil vom 28. Juni 1776, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 50, Aktenstück Q32.

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Weitgehend vermochte von Bernstorff sich folglich mit seiner Appellation durchzusetzen. In einem wesentlichen Punkt aber, nämlich im Hinblick auf die Burgvest-Dienste, gab das Oberappellationsgericht den Bauern Recht. Anders als im Prozess der Eingesessenen zu Sahms, Groß Pampau und Elmenhorst sah das Gericht das Recht des Gutsherrn, von den Kankelauer Vollhufnern Burgvest-Dienste zu fordern, nicht als erwiesen an. Es bestätigte insofern das Urteil des Hofgerichts und verpflichtete damit von Bernstorff, für die in der Vergangenheit geforderten Burgvest-Dienste, zu denen die Bauern nicht verpflichtet gewesen seien, diesen ein Entgelt zu zahlen. Die Kläger reichten etwa ein Jahr später eine „Indemnisations-Rechnung [. . . ] für die indebiti seit 50 Jahren geleisteten Burgvest-Dienste mit dem Spanne“ ein.91 Da die genaue Anzahl der geleisteten Diensttage nicht mehr nachzuvollziehen war, gingen sie im Wege einer – aus ihrer Sicht sehr vorsichtigen – Schätzung von 50 Spanndiensttagen für jeden von ihnen aus, weil jeder 50 Jahre lang jährlich mindestens einen Tag Burgvest-Dienst geleistet habe; sie errechneten daraus eine Erstattungsforderung von 525 Reichstalern. Um die Höhe dieses Betrages zu unterstreichen, sei angemerkt, dass das Jahresgehalt eines Richters des Oberappellationsgerichts am Ende des 18. Jahrhunderts 1627 Reichstaler betrug.92 Von Bernstorff zögerte die Sache zunächst mit etlichen Fristgesuchen hinaus. Schließlich beanstandete er die Rechnung, weil sie nicht genau belege, welcher Bauer zu welchen Zeiten Burgvest-Dienste geleistet habe.93 Wenn das Gericht diesem Einwand Folge geleistet hätte, wäre die Ersatzforderung der Bauern wohl weitgehend wertlos gewesen, denn einen exakten Nachweis zu erbringen dürfte nahezu unmöglich gewesen sein. Das Gericht ließ sich mit seiner Entscheidung zwar ohne erkennbare Gründe anderthalb Jahre Zeit, trug der Interessenlage aber schließlich zugunsten der Bauern Rechnung. Es gab von Bernstorff auf, zu belegen, dass die Schätzung der Bauern überhöht sei, und wies ihn, sollte er diesen Nachweis nicht erbringen können, an, die Bauern auf Grundlage ihrer Schätzung zu entschädigen.94 Von Bernstorff konnte zwar im Wege der restitutio in integrum noch durchsetzen, dass die Schätzung nicht von 50 Jahren ausging, sondern nur von gut 40 Jahren; im wesentlichen aber beließ es das Oberappellationsgericht bei seiner Entscheidung.95

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Schriftsatz vom 14. Juli 1777, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q42, mit Indemnisations-Rechnung, Aktenstück Q43. Von Bülow: Verfassung I (wie Anm. 12), S. 173. Vernehmlassung vom 9. Dezember 1777, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q50. Dekret vom 6. Mai 1779, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstück Q55. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 1137, Aktenstücke Q58–64.

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3.2 Die Untertanenprozesse der Jahre 1803 bis 1806

Nach 1780 gab es auf den Gütern Wotersen und Lanken für einen Zeitraum von 20 Jahren keine gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen der Gutsherrschaft von Bernstorffs und den Gutsuntertanen vor dem Oberappellationsgericht mehr. Das Verhältnis schien sich beruhigt zu haben; vielleicht hatten die zahlreichen Prozesse der 1770er Jahre zur Klärung der wesentlichen Streitpunkte geführt. Auf Stintenburg hingegen – dem dritten der lauenburgischen Güter von Bernstorffs – setzte 1780 ein erbitterter Streit zwischen den Bauern und der Gutsherrschaft ein, der das Hofgericht in Ratzeburg zehn Jahre lang beschäftigte96 und mehrfach im Rechtsmittelwege vor das Oberappellationsgericht Celle gebracht wurde.97 Die von Wolfgang Prange eingehend untersuchten Auseinandersetzungen führten schließlich im Jahre 1790 zur Aufhebung der Pflicht der Stintenburger Untertanen, Hofdienste in natura zu leisten, gegen ein festes Dienstgeld.98 Kurz darauf erklärte sich von Bernstorff auch hinsichtlich der Güter Wotersen und Lanken zur Ablösung der Dienste bereit.99 Streit um die bis dahin konfliktträchtigen Hofdienste war damit künftig ausgeschlossen. Weiterhin zog von Bernstorff die Bauern aber zu außerordentlichen Diensten in natura heran, insbesondere zu Burgvest-Diensten und MühlenDiensten. Diese hatten stets gesondert neben den Hofdiensten bestanden und waren daher nicht Gegenstand der Ablösung. Wie weit aber die noch verbliebenen Dienstpflichten reichten, war im Einzelfall schwer zu bestimmen. Vor allem den Umfang der Mühlen-Dienste suchte von Bernstorff extensiv auszulegen, als er in den Jahren nach der Jahrhundertwende umfangreiche Instandsetzungsarbeiten an der herrschaftlichen Mühle in Roseburg durchführen ließ. Mehrere Prozesse vor dem Hofgericht und Appellationsverfahren vor dem Oberappellationsgericht Celle waren die Folge.100 Allerdings ist der Ausgang dieser Verfahren aus der gerichtlichen Überlieferung nicht zu rekonstruieren, weil das Oberappellationsgericht die Sachen jeweils an das Hofgericht zurückverwies und dessen Akten nicht erhalten sind. Ein weiterer Rechtsstreit betraf die Pflicht der Gutsuntertanen zu Burgvest-Diensten. Sein Ausgang ist, weil die Akten des Hofgerichts nicht erhalten sind, ebenfalls nicht bekannt. Das Rechtsmittel mehrerer Dorfschaften an das Oberappellationsgericht in dieser Sache hatte lediglich eine verfahrensrechtliche Frage zum Gegenstand: Die Gutsuntertanen beschwerten sich über das 96 97 98 99

100

Akten des Hofgerichts: LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 918. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 58, 61, 63, 67, 917, 931. Vgl. Prange: Stintenburg (wie Anm. 15), S. 118. Regulativ vom 16. Februar 1792 betreffend die Ablösung der Hofdienste hinsichtlich des Dorfes Klein Pampau, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q2; Prange: Briefe (wie Anm. 40), S. 120. LA Schleswig, Abt. 216 Nrn. 959, 962, 971.

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Hofgericht, weil dieses die Akten nach ihrer Ansicht zu häufig gegen ihren Willen zur Urteilsfindung an Universitäten verschickte und damit Kosten verursachte. Sie beantragten, das Gericht in Celle möge dem Hofgericht aufgeben, „in der rubricirten Sache Selbst Recht zu sprechen, auch künftig in unseren anderen Sachen nicht ohne rechtliche erhebliche Gründe die Acten zum Spruch verschicken.“101 Da die Bauern in diesen Jahren mehrere Prozesse gegen von Bernstorff führten, summierten sich für sie die Kosten der Aktenversendung. Zwar sprach die lauenburgische Hofgerichtsordnung für eine restriktive Handhabung der Aktenversendung, „weil nicht allemahl, insonderheit wo nicht erhebliche Ursachen angezeiget werden können, so leicht die transmissio verstattet werden darff “.102 Doch wies das Oberappellationsgericht die Beschwerde gleichwohl durch ein decretum denegatorium ohne Begründung zurück,103 wohl im Hinblick auf den dem Hofgericht insofern zustehenden Ermessensspielraum. Nicht nur die Dienstpflichten der Gutsuntertanen waren Ursache gerichtlicher Auseinandersetzungen. Im Zusammenhang mit den Bauarbeiten an der Roseburger Mühle sowie anderen Arbeiten an herrschaftlichen Gebäuden wie etwa dem Pfarrhaus sah sich von Bernstorff weiteren Streitigkeiten mit seinen Bauern ausgesetzt, die diese bis vor das Celler Oberappellationsgericht trugen. Für die Bauarbeiten benötigte von Bernstorff Ziegel, und den hierfür erforderlichen Lehm ließ er in einem Gebiet graben, das zum Dorf Klein Pampau gehörte. Das Recht, Lehm zu graben, machten ihm die Klein Pampauer Bauern streitig. Sie beriefen sich auf den Vertrag aus dem Jahre 1792,104 durch den die Gutsherrschaft ihnen die Natural-Hofdienste erlassen hatte. In diesem Vertrag hatte sich von Bernstorff ausdrücklich das Recht vorbehalten, in jenem Gebiet Lehm zu graben, um Ziegel zu brennen. Den Bauern hatte er zugleich zugestanden, dort Vieh weiden zu lassen und Holz zu schlagen. Der Bedarf von Bernstorffs an Lehm und Ziegeln für die Arbeiten an der Mühle scheint recht hoch gewesen zu sein. Die Bauern wandten sich deshalb an das Hofgericht, um das Lehmgraben in dem Gebiet, das sie selbst als Weide nutzten, einzudämmen. Sie behaupteten, der Vertrag von 1792 gebe der Gutsherrschaft nicht das Recht, unbeschränkt Lehm zu graben, sondern nur für bestimmte Gebäude, die 1792 damals im Bau gewesen seien. Hierüber habe bei den damaligen Verhandlungen Einigkeit bestanden, nur in die schriftliche 101 102 103 104

Beschwerdeschrift der Dorfschaft Siebeneichen und Consorten vom 15. September 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 963, Aktenstück Q1, S. 12. Tit. XXXVII Art. 3 der Hofgerichtsordnung von 1681 = Spangenberg: Sammlung (wie Anm. 7), S. 300. Decretum denegatorium vom 13. Oktober 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 963, Aktenstück Q5. „Regulativ des Hauses Wotersen in Betref der dem Dorfe Kleinen Pampow von Martini 1791. bis Martini 1831. zugestandenen Befreyung von der Schaaf Abtrift und Erlassung des Natural Hofe-Dienstes von Ostern 1792. bis Ostern 1832.“ vom 16. Februar 1792, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q2 mit dazugehörigen Karten Q3/4.

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Fassung des Vertrages habe diese Einschränkung nicht ausdrücklich Eingang gefunden.105 Durch das Lehmgraben entstünden Gruben, und „Wo Gruben gemacht würden, könne unser Vieh nicht weiden und laufe auch Gefahr in dieselben zu stürzen und zu krepiren oder sich doch die Beine zu brechen, und unser Weichholz leide ebenfalls durch die Gruben.“106 Von Bernstorff machte geltend, er habe in dem fraglichen Gebiet immer schon Lehm gegraben. Dies blieb streitig; die Bauern behaupteten, die Herrschaft habe anderswo, aber nicht dort Lehm gegraben. Sie meinten, es gebe genug Lehm auf dem von der Gutsherrschaft allein genutzten Land; es sei unbillig, dass die Herrschaft ihr eigenes Land schone und das den Bauern zustehende in Anspruch nehme. Auch gehe von Bernstorff so weit, dass er nicht nur für die eigenen Bauarbeiten Lehm grabe, sondern darüber hinaus Ziegel zum Verkauf brenne. Die Bauern bezeichneten es als Missbrauch, dass von Bernstorff „mit unserem Eigenthum Handel treibe“. Denn sie seien nicht nur Pächter, sondern hätten durch ihre Nutzungsrechte ein dominium utile an dem Land.107 Demgegenüber berief sich von Bernstorff auf seine Gutsherrschaft, die durch den Landesrezess von 1702108 garantiert sei und kraft deren er der alleinige Eigentümer seiner Güter sei.109 Zudem hielt er den Bauern vor, mit der Klage wollten sie nur die Arbeiten an der Roseburger Mühle behindern, um sich den Mühlen-Diensten zu entziehen, zu denen sie die Gutsherrschaft heranziehe und bezüglich deren ein gesonderter Prozess110 anhängig war. Auch wirtschaftliche Gesichtspunkte führte von Bernstorff für seinen Standpunkt ins Feld. Die Ziegelei, die er im Zusammenhang mit der Vereinbarung im Vertrag von 1792 habe anlegen lassen, habe ihn viel Geld gekostet. Deshalb sei es unglaubhaft, wenn die Bauern behaupteten, er habe sich das Recht zum Lehmgraben nur für damals im Bau befindliche Gebäude vorbehalten wollen; dann nämlich hätten die Anlegung und der Betrieb der Ziegelei nicht dauerhaft rentabel sein können. Im übrigen habe der Lehm, der auf dem gutsherrschaftlich genutzten Land vorhanden sei, nicht dieselbe Qualität wie derjenige auf dem Weideland der Bauern.111 105 106 107 108

109 110 111

Appellationsbegründung vom 13. Dezember 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q1, S. 3, 16. Appellationsbegründung vom 13. Dezember 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q1, S. 5. Appellationsbegründung vom 13. Dezember 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q1, S. 17–20. Landesrezess vom 15. September 1702 zwischen Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und der Ritter- und Landschaft des Herzogtums Lauenburg = Spangenberg: Sammlung (wie Anm. 7), S. 330–344. Appellationsbegründung vom 13. Dezember 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q1, S. 23. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 962. Appellationsbegründung vom 13. Dezember 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q1, S. 27f.

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Das Hofgericht erachtete die Klage der Gutsuntertanen „als völlig ungegründet“ und wies sie ab.112 Als die Kläger daraufhin den Rechtsbehelf der Läuterung einlegten, versandte es die Akten zur Vorbereitung eines Urteils an die Juristenfakultät der Universität Leipzig. Deren Rechtsgelehrte äußerten zwar in ihren „Zweifels- und Entscheidungsgründen“113 die Einschätzung, dass von Bernstorff zur Mäßigung bei der Ausübung seiner Rechte angehalten werden solle, wenn das Lehmgraben zu erheblichen Nachteilen für die Bauern führen sollte. Aus dem Eigentum des Gutsherrn leiteten sie aber die Vermutung ab, dass dieser zum Lehmgraben berechtigt sei. Dies ergebe sich auch aus dem Wortlaut des Vertrages von 1792. Etwas anderes könne nur gelten, wenn die Bauern, denen die Leipziger Rechtsgelehrten „muthwillige Streitsucht“ vorhielten, in petitorio das Gegenteil erweisen sollten. Das Hofgericht bestätigte daraufhin sein klageabweisendes Urteil.114 Die Bauern fochten das Urteil des Hofgerichts nun im Wege der Appellation vor dem Oberappellationsgericht an. Dieses erachtete die Appellation indes für offensichtlich unbegründet. Es lehnte die Eröffnung des Appellationsprozesses ab und verwarf das Rechtsmittel durch ein abschlägiges Dekret.115 Diese Entscheidung begründete es damit, dass die Bauern durch das Urteil des Hofgerichts nicht beschwert seien. Denn es bleibe ihnen unbenommen, ihren Rechtsstandpunkt im Wege einer petitorischen Klage weiter zu verfolgen. Ob und bejahendenfalls mit welchem Erfolg die Kläger diesen Weg in der Folge beschritten, ist den überlieferten Akten nicht zu entnehmen, weil nur die Akten des Oberappellationsgerichts erhalten sind, dessen Verfahren nunmehr beendet war, nicht aber diejenigen des Hofgerichts.

4. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Rechtsstreitigkeiten der Grafen von Bernstorff mit den Untertanen ihrer lauenburgischen Güter lassen einige wiederkehrende charakteristische Muster erkennen. Der Ausübung der Gutsherrschaft scheint ein geschlossenes Konzept zugrunde gelegen zu haben, auf das die wesentlichen Streitpunkte der Prozesse zurückzuführen waren. Die Naturaldienste der Bauern waren Auslöser etlicher Prozesse. Sie hatten für die Gutsherren offensichtlich einen hohen Stellenwert, so dass diese versuchte, sie so weit wie möglich auszudehnen. So forderte die Gutsherrschaft wiederholt Dienstleistungen in natura auch von solchen Bauern ein, die zuvor jahrelang anstelle der Dienste Dienstgeld 112 113 114 115

Urteil vom 21. August 1802, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q5. LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q8. Urteil vom 6. Oktober 1804, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q6. Decretum reiectorium vom 5. Februar 1805, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 763, Aktenstück Q9.

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gezahlt hatten. Damit wandte sie sich, auch wenn sie die Dienste unter rechtlichen Gesichtspunkten beanspruchen konnte, gegen den Zeitgeist, der auf die Ablösung der Naturaldienste zulief, verletzte das Gerechtigkeitsempfinden der Bauern und forderte Widerstand heraus, der zu langjährigen Prozessen führte. Gleiches gilt für die Fälle, in denen die Gutsherrschaft versuchte, den Umfang der Dienste auszudehnen. Die Prozesse bewirkten wegen der mit den Klagen der Bauern regelmäßig verbundenen aufschiebenden Wirkung, dass die Herrschaft die streitigen Rechte zumindest einstweilen nicht durchsetzen konnte. Nur in Ausnahmefällen verpflichtete das Hofgericht die Untertanen, den Anordnungen der Gutsherrschaft bis zu einer gerichtlichen Entscheidung vorläufig Folge zu leisten, und hob damit den Suspensiveffekt auf.116 Die meist mehrere Jahre währenden Prozesse waren deshalb für die Ausübung der Gutswirtschaft hinderlich. Auch waren sie nicht ohne Risiken: Denn die Gutsherren büßten, wenn sie vor Gericht verloren, nicht nur die in Anspruch genommenen Dienste ein; sie liefen auch Gefahr, für in der Vergangenheit zu Unrecht geforderte Dienste den Bauern Entschädigungszahlungen leisten zu müssen. Die Vielzahl der Prozesse legt den Schluss nahe, dass die Grafen von Bernstorff diese Unsicherheiten in Kauf nahmen und es bewusst auf eine Klageerhebung der Bauern ankommen ließen – ein Beleg für die große Bedeutung der Naturaldienste für die Gutswirtschaft. Eine Ausnahme war das Beharren von Bernstorffs auf der Naturaldienstpflicht seiner Bauern freilich nicht. Auseinandersetzungen zwischen Gutsherren, die die Dienste durchzusetzen und möglichst auszudehnen suchten, und Bauern, die sich hiergegen wehrten und nach einer Ablösung der Dienste gegen ein festgelegtes Dienstgeld strebten, waren im 18. Jahrhundert keine Seltenheit.117 Das Konfliktpotential nahm zu, als gegen Ende des Jahrhunderts Diskussionen um die Aufhebung der Dienste im Zusammenhang mit den Agrarreformen wie insbesondere der Verkoppelung geführt wurden.118 Im Herzogtum Lauenburg hinkten die adligen Güter hinsichtlich der Agrarreformen der Entwicklung auf den landesherrlichen Ämtern hinterher119 – ein Umstand, der die Duldsamkeit der Gutsuntertanen nicht gerade gefördert haben dürfte. Als die Hofdienste am Ende des 18. Jahrhunderts verbindlich gegen Dienstgeld abgelöst worden waren, blieben die außerordentlichen Dienste, insbesondere die Burgvest- und Mühlen-Dienste, die einzige und deshalb besonders hartnäckig verteidigte Möglichkeit des Gutsherrn, die Gutsuntertanen als Arbeitskräfte heranzuziehen. Da die Bauern 116

117

118 119

Vgl. Dekret des Hofgerichts vom 5. Juli 1803 in dem Verfahren der Brinksitzer zu Siebeneichen u. a. gegen von Bernstorff wegen ungewöhnlicher Handdienste, LA Schleswig, Abt. 216 Nr. 959, Aktenstück Q5. Enders: Altmark (wie Anm. 17), S. 362–382; Jan Peters: Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1500–1800 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 53), Berlin 2007, S. 630. Peters: Lebenswelten (wie Anm. 117), S. 650f. Meyer: Verkoppelung (wie Anm. 4), S. 82, 90f.

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insofern auch nach der Aufhebung der Hofdienste noch Dienste in natura zu leisten hatten, verhielt sich Andreas Peter von Bernstorff weniger widersprüchlich als zunächst anzunehmen, wenn er noch 1795 betonte, dass die lauenburgischen Bauern nicht leibeigen, sondern persönlich frei seien, aber gleichwohl Dienste leisteten.120 In der Landwirtschaft war das 18. Jahrhundert eine Zeit der Kapitalisierung und Intensivierung. Das Postulat der Wirtschaftlichkeit trat zunehmend in den Vordergrund.121 Auf den lauenburgischen Gütern der Grafen von Bernstorff galt dies mehr noch als auf anderen adligen Gütern im Herzogtum Lauenburg. Denn die Güter Wotersen, Lanken und Stintenburg waren erst in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in den Besitz der Grafen von Bernstorff gelangt. Zumindest das Gut Wotersen befand sich zunächst in desolatem Zustand.122 Das Ziel einer zeitgemäßen und rentablen Gutswirtschaft konnte von Bernstorff nur mit Veränderungen erreichen, die nicht selten mit Erschwernissen für die Gutsuntertanen verbunden waren. Für die eigene Landwirtschaft war dafür die konsequente Durchsetzung der Hofdienste erforderlich. Hinzu kamen die Burgvest- und Mühlen-Dienste, deren Umfang nicht festgelegt war und die folglich bei intensiver Bautätigkeit der Gutsherrschaft für die Bauern besonders drückend wurden und deshalb streitanfällig waren. Doch nicht nur um wirtschaftliche Gesichtspunkte ging es den Grafen von Bernstorff. Ihnen kam es darüber hinaus in einer Zeit, in der die Legitimität adliger Vorrechte zunehmend in Zweifel gezogen wurde,123 auf den Erhalt von Herrschaftsrechten an. So stellten die vier Vollhufner aus Kankelau mit ihrer Klage nicht nur die Pflicht zu Hof- und Burgvest-Diensten in Frage, sondern auch die herrschaftliche Mühlengerechtigkeit, das Fischereirecht und das Vorrecht der Gutsherrschaft, als Baumaterial geeignetes hartes Holz zu schlagen. Unabhängig von der Bedeutung dieser Rechte im Einzelfall war ein Nachgeben für die adligen Gutsherren heikel, weil die hergebrachten Herrschaftsrechte Grundlagen ihrer Gutsherrschaft waren. Die Rechtsprechung des Oberappellationsgerichts in diesen Prozessen vermittelt nicht den Eindruck, von einem bestimmten politischen Vorverständnis geprägt gewesen zu sein. Vielmehr entschied das Gericht, soweit 120 121

122 123

Siehe oben Anm. 39, 40, 42. Carl-Hans Hauptmeyer: Bäuerlicher Widerstand in der Grafschaft Schaumburg-Lippe, im Fürstentum Calenberg und im Hochstift Hildesheim. Zur Frage der qualitativen Veränderung bäuerlicher Opposition am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa (Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien 27), Stuttgart 1983, S. 217–232, hier S. 226. Siehe oben Anm. 31. Vgl. Gerd van den Heuvel: Der Verlust sozialer Sicherheit. Umbrucherfahrungen des niedersächsischen Adels im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Heike Düselder/Olga Weckenbrock/Siegrid Westphal (Hrsg.), Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 383–402.

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dies nach den erhaltenen Prozessakten beurteilt werden kann, streng nach den Vorgaben des geltenden Rechts in der Ausprägung, die dieses durch die Rechtsprechung der Reichsgerichte erfahren hatte. Wie das Reichskammergericht ging auch das Oberappellationsgericht nicht vom favor libertatis zugunsten der Bauern aus, sondern nahm eine weitgehend für die Herrschaftsrechte des Adels sprechende Vermutung an, die die Bauern entkräften mussten, wollten sie sich erfolgreich gegen die Dienstforderungen der Gutsherrschaft zur Wehr setzen. Die Untertanen trugen somit die Beweislast, wenn sie sich darauf beriefen, von den ihnen abverlangten Diensten frei zu sein.124 Damit war die Rechtslage, wie etwa die Beispiele des Mühlenzwangs und des Fischereirechts zeigen, oftmals für die Gutsherren günstiger als für die Bauern. Gleichwohl scheute sich das oberste Gericht in Celle nicht, von Bernstorff zu hohen Entschädigungszahlungen zu verpflichten, weil dieser seine Kankelauer Gutsuntertanen jahrzehntelang zu Unrecht zu BurgvestDiensten herangezogen hatte. Eine solche Entscheidung ist bemerkenswert. Sie ist ein Indiz für eine von rechtspolitischen Zielvorstellungen weitgehend unabhängige Rechtsprechung. Die häufige Aktenversendung an auswärtige Juristenfakultäten durch das Hofgericht mag hierzu beigetragen haben. Dass viele Beisitzer des Oberappellationsgerichts ebenso wie des Hofgerichts Angehörige des begüterten alten Adels waren, wirkte sich auf die Entscheidungen des Gerichts offensichtlich nicht im Sinne einer Voreingenommenheit zugunsten der Gutsherren aus. Dies erklärt das Vertrauen, das die Gutsbauern in die Rechtsprechung des Hofgerichts und des Oberappellationsgerichts legten und sie dazu bewegten, deren Entscheidung in zahlreichen Fällen zu suchen. Denn die Bauern waren diejenigen, die die Gerichte in Streitigkeiten mit ihrer Gutsherrschaft anriefen; die Gutsherren wandten sich nur in wenigen Ausnahmefällen an die Gerichte. Hieraus sollte indes nicht geschlossen werden, dass die Verrechtlichung sozialer Konflikte im Herzogtum Lauenburg ausschließlich von der bäuerlichen Landbevölkerung gegen die adligen Gutsherren betrieben worden wäre. Denn deren eigenmächtiges Vorgehen gegen die Bauern durch Anordnungen, die sie zwangsweise durchsetzen konnten, bewegte sich nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern hatte eine Grundlage in adligen Herrschaftsrechten und war gerichtlich nachprüfbar. Die Gutsherren wussten, dass die Bauern sich nicht scheuten, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, und nahmen dies vermutlich oftmals bewusst in Kauf. Die Verrechtlichung von Agrarkonflikten war am Ende des 18. Jahrhunderts im Vergleich zum 16. und 17. Jahrhundert weit vorangeschritten; die Möglichkeit gerichtlicher Streitbeilegung war für alle Beteiligten selbstverständlich geworden, und sie hatte andere Formen der

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Vgl. Maruhn: Prozesse (wie Anm. 46), S. 277f.; Rita Sailer: Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG 33), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 172ff.

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Konfliktaustragung – wie etwa das Supplizieren an den Landesherrn,125 das die braunschweig-lüneburgischen Kurfürsten und Könige im 18. Jahrhundert hartnäckig bekämpften126 – nahezu vollständig zurückgedrängt. Sie bildete einen Boden, auf dem die Auseinandersetzungen zwischen der gutsuntertänigen Landbevölkerung des Herzogtums Lauenburg und ihrer jeweiligen adligen Herrschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert einer weitgehend gewaltfreien Lösung zugeführt werden konnten.

125 126

Vgl. Maruhn: Prozesse (wie Anm. 46), S. 283. Vgl. Torsten Landwehr: „Im Namen des . . . “, in: Peter Götz von Olenhusen (Hrsg.), 300 Jahre Oberlandesgericht Celle. Festschrift zum 300jährigen Jubiläum am 14. Oktober 2011, Göttingen 2011, S. 21–39, hier S. 27–29; Stodolkowitz: Oberappellationsgericht (wie Anm. 1), S. 99f.

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Ehe – Stand – Recht. Hochadlige Verwicklungen Vor einiger Zeit hat Ronald Asch einmal, Anregungen aus der französischen Forschung aufgreifend, verschiedene europäische Praktiken zusammengestellt, mit denen im 17. und 18. Jahrhundert der Zugang und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Adelsgruppen reguliert worden sind1 . Französische recherches de noblesse, also die von der Krone initiierten Untersuchungen über die Berechtigung von Adelstiteln, und Adelsproben in Deutschland, also die von spezifisch privilegierten Adelsgruppen gepflegten Untersuchungen der Ahnen potentieller Aufnahmekandidaten2 , lassen sich demnach trotz aller Unterschiede auf einer abstrakten Ebene als funktional gleichgerichtete Indizien eines Prozesses zunehmender Formalisierung von Adligkeit begreifen. In diesen also breit geflochtenen Korb soll hier auch der Umgang mit hochadligen Missheiraten im Reich hineingelegt werden. In der ohnehin schon extrem exklusiven Gruppe des deutschen Hochadels stellten Missheiraten sicher kein Massenphänomen dar. Aber viele Beteiligte nahmen sie sehr ernst, und manche dieser Verbindungen gaben Anlass für mitunter jahrzehntelange Konflikte. Schließlich kam den Ehen des Hochadels, wenn man die Bedeutung der dynastischen Erbfolge bedenkt, quasi Verfassungsrang zu. Die These, die hier aufgrund einiger Indizien zur Debatte gestellt werden soll, lautet, dass auch der deutsche Hochadel an einem nicht ganz unkritischen Punkt in einen Prozess gesogen wurde, der die Handhabung dieser spezifischen Rangfragen zunehmend formalisierten Regeln unterwarf. Freilich konnte dies dem hohen Adel nicht diktiert werden; wo sich der Adel nicht selbst solche Regeln auferlegte, nahm dieser Prozess den für das Reich so typischen Modus einer Verrechtlichung an3 .

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Ronald G. Asch: Das monarchische Nobilitierungsrecht und die soziale Identität des Adels im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Problemskizze, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die frühneuzeitliche Monarchie in Europa und ihr Erbe. Festschrift für Heinz Duchhardt zum 60. Geburtstag, Münster u. a. 2003, S. 91–107. Vgl. dazu jetzt Elizabeth Harding/Michael Hecht (Hrsg.): Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 37), Münster 2011. Insofern handelt es sich bei der hier entfalteten Thematik ihrerseits um einen Zweig der allgemeinen Verrechtlichung speziell von Rangkonflikten, die allerdings einen eigenen Logik folgten. Die Unterschiede müssen hier nicht diskutiert werden, vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit, in: ZHF 28 (2001), S. 385–418.

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Der Ort, an dem die Angelegenheiten des hohen Adel mit dem Recht in Berührung kamen, waren die beiden Reichsgerichte. Ihre Urteile in den größeren Konfliktfällen haben zweifellos einen großen Einfluss auf die Entwicklung ausgeübt, ohne dass man davon sprechen könnte, dass die Reichsgerichte den Prozess gesteuert und forciert hätten. Es soll hier auch gar nicht auf die Einzelfälle ankommen. Im Grunde zwang schon die bloße Existenz der Reichsgerichte, die bloße Möglichkeit, Familienkonflikte vor Gericht bringen zu können, die Auseinandersetzung mit den Missheiraten in eine bestimmte Richtung. Der Beginn der Verwicklungen ist offenbar in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts zu verorten. Als erstes Rechtsgutachten, das in Zusammenhang mit den Folgen einer Missheirat ausgearbeitet worden ist, darf anscheinend eine Schrift Franz Pfeils gelten4 , der als Rat und Syndikus in mehreren Bistümern und Städten gewirkt hat. Das Gutachten ist wohl um 1550 entstanden und bezieht sich auf die Ehe Herzog Ottos von Braunschweig mit Mete von Campen. Nachdem sich Otto, auch wegen einer unwillkommenen Eheanbahnung, mit seinem Vater überworfen hatte, den Ausschluss von der Nachfolge befürchtete und deshalb auch keine Aussichten auf eine standesgemäße Ehe zu erwarten meinte, versprach er 1519 Mete von Campen die Ehe und löste dieses Versprechen 1525 ein5 . Zwei Jahre später traf er mit seinen Brüdern eine Vereinbarung, in der er für sich und seine Familie auf seine Herrschaftsansprüche verzichtete und sich mit einem Paragium begnügte. Nach Ottos Tod 1549 trat allerdings sein Sohn Otto gegen diese Vereinbarung in die Schranken und forderte einen größeren Anteil. Eben diese Forderung wurde flankiert von Pfeils Gutachten. Schon hier darf vorweg genommen werden, dass die Ansprüche der Nachkommen solcher Ehen wiederholt den Keim der Konflikte bildeten. An dieser Stelle genügt es zunächst, den Beginn der juristischen Debatte zu markieren. Das Gutachten ist allerdings auch erst 1600 publiziert worden, im Rahmen der üblichen Form einer Gutachtensammlung, allem Anschein nach also ohne aktuellen Anlass6 . Der Konflikt selbst ist 1560 mit einem für Otto ungünstigen Vergleich zu En4

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Diese Rolle ist Pfeil bereits von Johann Stephan Pütter: Ueber Mißheirathen Teutscher Fürsten und Grafen, Göttingen 1796, S. 491, zugesprochen werden, und mir ist bisher auch keine ältere Rechtsschrift bekannt geworden. Pütter hat am Ende des 18. Jahrhunderts die umfangreichste zeitgenössische Abhandlung vorgelegt und dabei auch die ganze ältere Literatur erschlossen. Er referierte allerdings keineswegs neutral, sondern entwickelte darin einen sehr dezidierten Standpunkt zu dieser Rechtsmaterie (von dem unten noch die Rede sein wird) und ist auch gerade mit dem von Pfeil eingeschlagenen Weg gar nicht glücklich gewesen. Für diese Zusammenhänge liegt, ganz ungewöhnlich, ein ausführlicher Bericht des Herzogs selbst vor, der auch ediert worden ist, vgl. Adolf Wrede: Zwei Beiträge zur Geschichte des Fürstenthums Lüneburg im Reformationszeitalter, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1894, S. 1–38, der Text selbst S. 4–31. Franz Pfeil: [...] responsorum et informationum, quae vulgo consilia juris appellantur [...], Magdeburg 1600, darin Consilium 78, fol. 131r–169r. Es handelt sich dabei noch keineswegs um eine selbständige Abhandlung zum Thema der ungleichen Heiraten; das

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de gegangen7 , ohne dass bekannt wäre, ob eine gerichtliche Instanz mit dem Konflikt in Berührung gekommen ist. Ein grundsätzlicher Anlass für den Beginn der juristischen Debatten ist ohnehin nicht unmittelbar ersichtlich, die Fäden hängen ein wenig in der Luft. Heiraten, die als unstandesgemäß galten, hat es schon vor 1550 gegeben, aber spätere Juristen, die höchst akribisch alle Einzelfälle zusammengetragen haben, vermochten auch nicht sehr viele ältere Beispiele zu ermitteln8 . Erst seit dem 15. Jahrhundert nimmt das Problem Kontur an, in einer Handvoll Fällen. Mit den Irritationen, die von den Standesdifferenzen der Ehepartner ausgingen, wurde dabei auf durchaus unterschiedliche Weisen umgegangen. In den Chroniken der Frühen Neuzeit blieb beispielsweise das krasse Schicksal der Agnes Bernauer präsent, der bürgerlichen Partnerin Herzog Albrechts III. von Bayern-München, die 1435 in der Donau ertränkt worden ist, offenbar auf Veranlassung von Albrechts Vater, Herzog Ernst. Die erhaltenen Quellen sind allerdings dürftig und geben das Wort rasch an die Chronisten und ihre vagen An- und Deutungen weiter9 . So sind weder der

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Gutachten diskutiert vielmehr umfassend die Gültigkeit der brüderlichen Vereinbarung, der Standesunterschied der einen Ehefrau stellt dabei nur eine quaestio unter vielen dar. Pütter: Mißheiraten (wie Anm. 4), S. 101f. Vgl. neben Pütter Johann Jakob Moser: Familien-Staats-Recht Derer Teutschen Reichsstände, [hier:] Zweyter Theil (Neues teutsches Staatsrecht 12,2), Frankfurt/Leipzig 1775 [Reprint in zwei Bänden Osnabrück 1967]; aus dem 19. Jahrhundert als Material- und Beispielsammlungen besonders ergiebig, jedoch dogmatisch festgelegt Christian Georg Göhrum: Geschichtliche Darstellung der Lehre von der Ebenbürtigkeit nach gemeinem deutschem Rechte mit besonderer Berücksichtigung auf die Entwicklung der Geburtsstände und den Rechtsbegriff des hohen Adels in Deutschland, 2 Bde., Tübingen 1864; Arnold von Weyhe-Eimke: Die rechtmässigen Ehen des hohen Adels des Heil. Römischen Reiches deutscher Nation, Selbstverlag Prag 1895. Die statistische Auswertung des Heiratsverhaltens von 15 Grafen- und Herrenhäusern, also nichtfürstlichem Hochadel, im späten Mittelalter hat in der Tat eine hohe ständische Geschlossenheit ergeben, zumal die relativ wenigen Heiraten unter Stand besonderen Umständen oder einzelnen Familien mit prekärem Status an der Grenze zum Niederadel zugeschrieben werden konnten, dazu Karl-Heinz Spieß: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters (VSWG, Beihefte 111), Stuttgart 1993, S. 398–409. Die Tradition mündete in einen bis heute sprudelnden Strom von Literatur, der von der Historiographie bis zur populären Dichtung reicht und heutzutage Festspiele und Stadtmarketing inspiriert, vgl. etwa http://www.agnes-bernauer.de oder den „Imagefilm“ der Stadt Straubing, auf http://www.straubing.de. Als insgesamt behutsame und sorgfältig belegte Einführung, freilich unter einem reißerischen Titel, jetzt Marita A. Panzer: Agnes Bernauer. Die ermordete ,Herzogin‘, Regensburg 2007; trotz der populären Gestaltung und Ausrichtung ebenfalls nützlich: Alfons Huber: Agnes Bernauer. Ein Quellen- und Lesebuch, Straubing 1999; aus der jüngeren Literatur außerdem: Hans Schlosser: Agnes Bernauerin (1410–1435). Der Mythos von Liebe, Mord und Staatsräson, in: ZRG GA 122 (2005), S. 263–284, der sich mächtig darüber empört, was für zweifelhafte Gewissheiten die populäre Tradition aus den dürftigen Quellen zieht, es aber am Ende selbst ganz genau zu wissen meint; Claudia Märtl: Straubing. Die Hinrichtung der Agnes Bernauer 1435, in: Alois Schmid/Katharina Wiegand (Hrsg.), Schauplätze der Geschichte in Bayern, München 2003, S. 152–164.

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Status der Beziehung zwischen Agnes und Albrecht eindeutig zu bestimmen noch die genaueren Umstände, Vorgeschichten und Beweggründe ihres Todes. Als sicher darf immerhin gelten, dass es eben die ungleiche Beziehung und die daraus abgeleiteten Prätentionen gewesen sind, die Agnes so viel Feindschaft einbrachten und letztlich in die Hinrichtung mündeten. Ihre Geschichte wurde allerdings vorwiegend im Kontext der bayerischen Chronistik und Landesgeschichte tradiert und hat in den Diskursen über Missheiraten praktisch keine Resonanz gefunden. Andere von den wenigen frühen Fällen gewannen allein schon dadurch Relevanz, dass ihre dynastischen Folgen über die ganze Frühe Neuzeit präsent blieben. So hatte Pfalzgraf Friedrich der Siegreiche 1471 die Bürgerstochter Klara Tott geheiratet, nachdem sie sich bereits mehr als fünf Jahre kannten und mehrere Kinder gezeugt hatten10 . Eigentlich aber hatte Friedrich zwanzig Jahre vorher, anlässlich der Adoption seines minderjährigen, aber zur Sukzession berechtigten Neffen, Ehelosigkeit gelobt und dafür seine Regentschaft auf Lebenszeit verlängert. Deshalb verzichtete er zumindest auf eine gleichrangige Partnerin und deshalb mussten in Zusammenhang mit der Eheschließung frühere Verzichterklärungen erneuert werden. Klara Tott und ihre Kinder erlangten also nicht den Status gleichberechtigter Mitglieder des Hauses. Nach dem Tod Friedrichs und nach der Geburt von Thronfolgern stattete der nunmehr regierende Neffe den ältesten Sohn Friedrichs mit der Grafschaft Löwenstein aus, die Linie wurde damit aber auch auf Abstand zum pfälzischen Haus und in geringerem Rang gehalten. Dass das Haus Löwenstein viel später, 1711, in den Fürstenstand erhoben wurde und im übrigen bis heute existiert, steht auf einem anderen Blatt. Eine andere Variante realisierte sich im Haus Baden. Markgraf Ernst, dritter von vier Brüdern, ging dort nach dem Tod seiner ersten standesgemäßen Frau 1518 eine Verbindung mit Ursula von Rosenfeld ein, die als Niederadlige immer noch unbestritten unstandesgemäßer Herkunft war. Der Sohn dieses Paares wurde vom Vater den beiden Söhnen erster Ehe gleichgestellt und entsprechend ausgestattet, schien aber ja von der Erbfolge weit entfernt zu sein. Nach dem Tod des mittleren Bruders, der badischen Teilung zwischen Ernst und dem Ältesten und dem kinderlosen Tod der beiden Söhne aus Ernsts erster Ehe rückte allerdings der Sohn Ursula von Rosenfelds anscheinend unangefochten in die Herrschaft und begründete mithin als Markgraf, der erst eine Markgräfin von Brandenburg-Kulmbach und dann eine Pfalzgräfin ehelichte, die Linie Baden-Durlach11 . 10 11

Die Umstände wurden mustergültig erschlossen von Volker Rödel: Pfalzgraf Friedrich der Siegreiche und Klara Tott, in: ZGO 152 (2004), S. 97–144. Diese Geschichte nun ausführlich erschlossen bei Casimir Bumiller: Ursula von Rosenfeld und die Tragödie des Hauses Baden, Gernsbach 2010; wichtige Dokumente sind an entlegener Stelle publiziert worden, ohne Nachweise und kritische Beschreibung: Manfred Seeger: Vom Hoffräulein zur Frau des Markgrafen. Ursula von Rosenfelds Ehe mit Markgraf Ernst von Baden, in: Heimatkundliche Blätter Zollernalb 52 (2005), Nr. 2,

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Eine gewaltsame Beseitigung der unebenbürtigen Partnerin, eine unebenbürtige Partnerin aufgrund eines vorangegangenen Verzichts, aber zur Aufrechterhaltung der eigenen Herrschaft, ein mehr oder weniger freiwilliger Verzicht in Zusammenhang mit einer unebenbürtigen Partnerschaft, am Ende aber auch die Sukzession eines Nachkommen aus einer unebenbürtigen Partnerschaft, die Beispiele zeigen die Spielräume im Umgang mit den ungleichen Beziehungen im Kontext variierender Umstände. Aus der Mitte des 16. Jahrhunderts muss eine weitere Variante ergänzt werden, nämlich die Doppelehe Landgraf Philipps von Hessen12 . Schließlich hat die Aufregung um die Bigamie damals wie heute meist in den Hintergrund gedrängt, dass es sich bei Philipps Zweitehe mit Margarethe von der Sale auch noch um eine unstandesgemäße Ehe handelte – selbstverständlich, möchte man sagen, denn einen fürstliche Braut hätte sich auf eine so ungesicherte und ehrenrührige Beziehung sicher nicht eingelassen. Dem hessischen Fall kommt vielschichtige Bedeutung zu. Dazu tragen die ambivalenten Auswirkungen der Reformation bei. Einerseits führte der reformatorische Prozess dazu, dass herkömmliche Gewissheiten neu verhandelt und justiert wurden und so auch die Bigamie Thema reformatorischer Debatten werden konnte, nicht nur im Hinblick auf Philipp13 . Andererseits hat es den Anschein, als ob damit zugleich der normative Druck auf Geschlechterbeziehungen des Hochadels gestiegen sei, kann man doch die Doppelehe als Versuch werten, Optionen kirchlicher Legitimation auch in der weitverbrei-

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S. 1446f., Nr. 3, S. 1451f.; aus der älteren Literatur noch erwähnenswert: [Anonym] : Mark-Graf Ernst von Baden und Ursula von Rosenfeld, die Stamm-Eltern des noch blühenden Badischen Hauses, in: Göttingisches Historisches Magazin 4, 1789, S. 737–772. Grundlegend dazu immer noch William Walker Rockwell: Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, Marburg 1904, Nachdruck Münster 1985; die Tendenzen der Forschung skizzieren Wolfgang Breul/Holger Th. Gräf : Fürst, Reformation, Land – Aktuelle Forschungen zu Landgraf Philipp von Hessen (1504–1567), in: Archiv für Reformationsgeschichte 98 (2007), S. 274–300, hier S. 288–290; jüngere Beiträge umfassen u. a. Stephan Buchholz: Rechtsgeschichte und Literatur: Die Doppelehe Philipps des Großmütigen, in: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel, hrsg. von Heide Wunder/Christina Vanja/Berthold Hinz, Marburg 2004, S. 57–73; Tina Sabine Römer: Der Landgraf im Spagat? Die hessische Landesteilung 1567 und die Testamente Philipps des Großmütigen, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 109 (2004), S. 31– 49; Michael Sikora: As Long as it’s Marriage. The Hessian Bigamy. Case of 1540 within the Competing Interests of Dynasty, Desire and New Moral Demands, in: Dimensioni e problemi della ricerca storica, Heft 2.2012, S. 33–60. Diese Debatten sind in der Forschung wiederholt aufgegriffen worden, siehe u. a. Lyndal Roper: Sexual Utopianism in the German Reformation, in: Journal of Ecclestiastical History 42 (1991), S. 394–418; Stephan Buchholz: Recht, Religion und Ehe, Frankfurt a.M. 1988, bes. S. 374–406; Paul Mikat: Die Polygamiefrage in der frühen Neuzeit, Opladen 1988; James A. Brundage: Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe, Chicago 1987; Elisabeth Koch: „De polygamia“, Rechtshistorisches Journal 2 (1983), S. 266–276; John Cairncross: After Polygamy Was Made a Sin. The Social History of Christian Polygamy, London 1974.

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teten und gelegentlich kritisierten, aber doch auch akzeptierten Praxis außerehelicher Beziehungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist unerheblich, ob nun Philipp tatsächlich unter Gewissensbissen litt – womit er seine Bitte an die Reformatoren um Legitimation seiner Zweitehe rechtfertigte14 – oder doch vielmehr von Seiten der Braut und ihrer Familie auf ein höheres Maß an Legitimität gedrängt wurde – was Notizen über Verhandlungen mit Margarethes Mutter vermuten lassen15 . Nicht die geringste Konsequenz aus diesem Eheexperiment dürfte aber auch der Umstand gewesen sein, dass die Doppelehe nach ihrem Bekanntwerden zum Gegenstand der konfessionellen Polemik wurde und damit, unter Einbeziehung der Liebschaft Herzog Heinrichs von BraunschweigWolfenbüttel, dem streitlustigen Wortführer der katholischen Fürsten16 , die Beziehungspraktiken des Hochadels in bis dato einmaliger Weise zum Gegenstand öffentlicher Debatten machte17 . Die Skandalisierung besiegelte freilich zugleich, dass die Bigamie als Option für fürstliche Nebenehen ein Tabu blieb. Im Hinblick schließlich auf die hausrechtliche Ausgestaltung der Zweitehe galt für Margarethe und ihre Kinder, dass sie sich mit einem minderen Status begnügen mussten und daher weder zum landgräflichen Titel noch zum Sukzessionsrecht gelangten. Margarethe hat sich über die Zurückstellungen bitter beklagt, und Philipp hat wiederum die Ausstattung der Söhne aus der Zweitehe immerhin mehrfach verbessert18 . Das mag dazu beigetragen haben, dass Philipp auch die nachgeborenen Söhne der ersten Ehe in einer Folge von Testamenten immer besser gestellt hat und so vom reinen Prinzip der Primogenitur immer weiter in Richtung auf eine Verteilung des Erbes abrückte. Von daher muss zwischen den Folgen der Doppelehe als Bigamie und den Folgen der Doppelehe als Missheirat unterschieden werden. Während die Bigamie Philipp bloßstellte und ihn unter anderem auch zu einem 14

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„Memorial, was der Herr M. Bucerus bei D. M. Luthero und M. Philippo Melanchthone ausrichten soll“, 1 Dec., 1539, in: Philippi Melanchthonis Opera quae supersunt omnia (ed.), Karl Gottlieb Bretschneider, vol. III (Corpus Reformatorum III) (Halle 1836), Reprint New York et al. 1963, Sp. 851–856. Rockwell: Doppelehe (wie Anm. 12), S. 316f. Zu der Liebesbeziehung siehe Hilmar von Strombeck: „Eva von Trott, des Herzogs Heinrich des Jüngern von Braunschweig-Wolfenbüttel Geliebte, und ihre Nachkommenschaft“, Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 2 (1869), S. 11–57; L. Schrader: „Neue Aufschlüsse über Eva von Trott, die Geliebte Heinrich des Braunschweigers, und ihre Kinder“, in: Vaterländisches Archiv für Hannoverisch-Braunschweigische Geschichte, Jahrgang 1833 (1834), S. 608–631. Vgl. Rockwell: Doppelehe (wie Anm. 12), S. 101–136; Sikora: Bigamy Case (wie Anm. 12), S. 47–53. Grundlegend dazu Karl E. Demandt: Die hessische Erbfolge in den Testamenten Landgraf Philipps des Großmütigen und der Kampf seiner Nebenfrau um ihr Recht, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 17 (1967), S. 138–190, unter anderem mit der Edition einiger Briefe Margarethes im Anhang; siehe auch Römer: Landgraf (wie Anm. 12).

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Entgegenkommen gegenüber Kaiser Karl V. bewegte, die Konsequenzen also nicht als eine hausinterne Angelegenheit bewältigt werden konnten, ließen sich die erbrechtlichen Konsequenzen noch nach eigener Maßgabe Philipps, wenn auch nicht reibungslos, steuern. In diesem Zeitraum fiel aber mit dem eingangs erwähnten Erbstreit in Braunschweig der bisher erste nachgewiesene Versuch, die Folgen einer ungleichen Ehe nicht nach hausinternen Maßgaben, sondern unter Berufung auf allgemein gültiges Recht auszufechten. Ob dabei Gerichte bemüht wurden, ist, wie erwähnt, bisher ungewiss. Aber ebenfalls um die Mitte des 16. Jahrhunderts und im übrigen auch im hessischen Raum fand sich ein standesverschiedenes Paar zusammen, dessen Schicksal offenbar als erstes auf die Ebene der Reichsgerichte gehoben wurde, allerdings mit einer Inkubationszeit von mehreren Jahrzehnten. Es handelt sich dabei um die 1554 geschlossene Ehe zwischen dem Reichsgrafen Anton von Ysenburg und Katharina Gumpel, allem Anschein nach Tochter eines Schäfers. Hier traf also ein Mitglied des Hochadels, wenn auch des zweiten Ranges, auf eine nichtadlige Partnerin einfacher Herkunft. Graf Anton war zum Zeitpunkt der Eheschließung ein 53jähriger Witwer, dessen erste, standesgemäße Ehe bereits reichlich mit Kindern gesegnet gewesen war, zu denen auch drei überlebende Söhne und potentielle Erbfolger zählten. Es ist nicht ganz klar, warum sich Graf Anton in diesem Fall zu einer Eheschließung entschlossen hat, zeugen doch auch eine Reihe unehelicher Kinder von anderen Partnerinnen davon, dass er darin kein grundsätzliches Erfordernis gesehen hatte. Offenbar lag ihm viel an Katharina, und in bemerkenswerter Parallele zu Landgraf Philipp hat er sein Anliegen, einem späteren Zeugenbericht zufolge, in den moralischen Wunsch gekleidet, durch die Heirat sein Gewissen beruhigen zu wollen19 . Dazu haben ihn aber auch, späteren Zeugenberichten zufolge, Katharina selbst, sein Seelsorger und wohl nicht zuletzt Katharinas reichsgräfliche Dienstherrin gedrängt. Die formale Ausgestaltung blieb in der Schwebe. Die Hochzeit fand nur vor kleinem Kreis in einer Burgkapelle statt, an eine hochadlige Öffentlichkeit war nicht zu denken. Schon im Jahr zuvor hatte Graf Anton eine Disposition aufsetzen lassen, in der Katharinas Versorgung durch Güter und Einkünfte geregelt wurde, den Umständen gemäß eine einseitige Willenserklärung, einen ebenbürtiger Brautvater als Partner eines regulären hochadligen Ehevertrags gab es ja nicht. Nur zögerlich ließen sich die Söhne erster Ehe dazu bewegen, dieses Papier zu unterschreiben, vor einem von ihnen, dem entschiedensten Gegner, wurde sogar die Hochzeit noch verheimlicht. 19

Vgl. zu diesem Fall Michael Sikora: „. . . so muß man doch dem Kindt ainen Nahmen geben“. Wahrnehmungsweisen einer unstandesgemäßen Beziehung im 16. Jahrhundert, in: Eckart Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), S. 571–593, hier S. 576–578.

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Alles dies stellte freilich die Gültigkeit der Eheschließung nicht in Frage. Im Zusammenhang mit den vorhergehenden Verabredungen hatte Graf Anton aber signalisiert, dass in den Dokumenten nicht von einer ehelichen Partnerin die Rede sein sollte. In Abschriften tauchte später die Formulierung ,eheliche Konkubine‘ auf, wobei noch gestritten wurde, ob es nicht nur ,ehrlich‘ heißen sollte. Typischerweise begegnet eine ganz ähnliche Formulierung auch in Philipps Einlassungen20 . Eine direkte Abhängigkeit ist nicht zu vermuten, die Ähnlichkeit signalisiert vielmehr die Ähnlichkeit der Absichten – und des Problems, nämlich die Legitimität einer Eheschließung mit dem minderen Rang der Partnerin irgendwie und letztlich unentschieden unter einen Hut zu bringen. Im Fall der Büdinger Ehe legte gerade diese Unentschiedenheit den Grund für eine verhängnisvolle Entwicklung. Ende der 1580er Jahre, lange nach dem Tod Graf Antons († 1559), zeigten sich die Kinder aus zweiter Ehe zunehmend unzufrieden über ihre Stellung und Ausstattung und beklagten sich bei ihren Halbbrüdern aus erster Ehe über Zurücksetzungen und Vertragswidrigkeiten. Diese Streitigkeiten eskalierten über Jahre bis zu dem Punkt, da der Sohn zweiter Ehe einen gleichberechtigen Anteil an Rang und Besitz forderte und dies schließlich 1598 in Wien dem Kaiser vorlegte. Zur Schlichtung dieses Konflikts setzte der Reichshofrat eine Kommission ein, wodurch nun erstmals die Folgen einer unstandesgemäßen Ehe vor einer externen, höchstrichterlichen Instanz verhandelt werden mussten. Daraus entwickelte sich ein endloser Rechtsstreit, zumal der Sohn Graf Antons schon bald seine Interessen in die Hand des Landgrafen von Hessen-Darmstadt legte, womit ein mächtiger territorialer Konkurrent der Ysenburger die Regie übernahm. Der Verlauf ist unübersichtlich und führt hier nicht weiter. Es sei nur erwähnt, dass der Rechtsstreit erst 1710 einen Abschluss fand und wesentlich dazu beitrug, die Grafschaft an den Rand des Ruins und unter kaiserliche Sequestration zu drängen21 . Es ist an dieser Stelle aber auch eine Notiz wert, dass in den Akten dieses Konflikts schon in den 1580er und 1590er Jahren von verschiedenen Seiten in die Diskussion geworfen wurde, die Ehe Graf Antons als morganatisch zu deuten. Unsicherheiten in der Wortwahl und ihrer Auslegung deuten darauf hin, dass man mit dieser Rechtsform offenbar noch nicht recht vertraut war. Tatsächlich schien dieses Modell ja eine goldene Brücke zu bauen über das oben skizzierte Dilemma: Sie bot eine Rechtsform an, die eine gültige Ehe mit einem minderen Rechtsstatus der Ehefrau verband22 . Es sieht so aus, als hätten gerade 20 21

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Sikora: Wahrnehmungsweisen (wie Anm. 19), S. 580. Vgl. Jürgen Ackermann: Verschuldung, Reichsdebitverwaltung, Mediatisierung. Eine Studie zu den Finanzproblemen der mindermächtigen Stände im Alten Reich. Das Beispiel der Grafschaft Ysenburg-Büdingen 1687–1806 (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 40), Marburg 2002, S. 65–82. Vgl. Dietmar Willoweit: Standesungleiche Ehen des regierenden hohen Adels in der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte, München 2004, S. 113–115; Michael

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Erfahrungen wie die geschilderten Ehekonflikte dazu geführt, diese Rechtsform Ende des 16. Jahrhunderts im Reich zu rezipieren. Bemerkenswert ist zudem, dass dieses Modell auch dem Gutachter Pfeil schon bekannt gewesen ist, dessen Gutachten aber eben erst 1600 publiziert worden ist. Freilich war Pfeils Anliegen gegenteiliger Richtung, er wollte ja gerade die Erbberechtigung eines Sohnes aus ungleicher Ehe behaupten. In einem nicht weiter diskutierten Nebensatz ließ er fallen, dass lombardisches Recht im Braunschweiger Fall keine Anwendung finden könne23 . Der Standpunkt, dass Nachkommen aus einer unstandesgemäßen Ehe eines Adligen dennoch in vollem Umfang an Rang und Erbe teilhaben könnten, begegnete zu dieser Zeit aber auch in der allgemeinen Adelsliteratur, etwa in dem sehr einflussreichen Adelstraktat von Andreas Tiraquellus24 , allerdings eher beiläufig und in einem ganz allgemeinen Sinn. Die Basis für diese Position bildete die Übernahme römischrechtlicher Lehrsätze, wonach bei der Heirat eines Adligen mit einer Partnerin niedereren Rangs die Frau und die Kinder dem Rang des Vaters folgen würden. Nur im Falle einer unfreien Frau wich das römische Recht davon ab, aber diese Einschränkung gewann unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen in keinem Fall Relevanz25 . Eine spezifische Fachliteratur zum Problem der unstandesgemäßen Heiraten hatte sich um 1600 jedoch noch nicht etabliert, vorläufig fand Pfeil noch keine Nachfolger. Auch die Reichsgerichte kamen nur mit einzelnen Fällen in Berührung. Dabei schlugen insbesondere die Verwicklungen in Baden einige Wellen. Anfang der 1590er Jahre hatte dort Markgraf Eduardus Fortunatus eine Brüsseler Hofdame niederen Adels geheiratet. Typischerweise hat auch er den Charakter dieser Beziehung verschleiert; die priesterliche Trauung fand 1591 unter so eigenartigen Umständen statt, dass er zu Sicherheit 1593 eine weitere, ebenfalls eher improvisierte Zeremonie durchführen ließ. Das Wort Ehe oder Ehefrau soll er sowohl dort als auch bei anderen Gelegenheiten vermieden haben26 .

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Sikora: Ungleiche Verbindlichkeiten. Gestaltungsspielräume standesverschiedener Partnerschaften im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 [13.12.2005], URL: http://www.dipp.zeitenblicke.de/2005/3/sikora/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2301, Abschnitte 16–25; aus der älteren Literatur: Albert Boenicke: Die Ehe zur linken Hand, Diss. jur. Leipzig, Berlin 1915. Pfeil: responsorum (wie Anm. 6), Gutachten 78, Abschnitt 160, fol. 165r. Andreas Tiraquellus: De nobilitate et de jure primigenitorum, Basel 1561; vgl. Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22), S. 106f. Komplikationen aufgrund persönlicher Unfreiheit sind noch für die Zeit um 1300 nachgewiesen worden; vgl. Spieß: Familie (wie Anm. 8), S. 409. Vgl. Werner Baumann: Ernst Friedrich von Baden Durlach. Die Bedeutung der Religion für Leben und Politik eines süddeutschen Fürsten im Zeitalter der Gegenreformation (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 20), Stuttgart 1962, S. 72–75. Die schillernde Biographie Eduards hat jüngst auch eine populäre Bearbeitung erfahren, die natürlich auch die Ehegeschichte

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Dennoch blieb dies seine einzige Verbindung mit kirchlichem Segen, und so trat der älteste Sohn Eduards und Marias 1600 auch seine Nachfolge an. Der größte Teil der Markgrafschaft Baden-Baden war allerdings seit 1594 im Zuge der sogenannten Oberbadischen Okkupation mit militärischer Gewalt unter die Verwaltung des Vettern aus Baden-Durlach gezwungen worden27 . Zwischen beiden Linien bestand eine erbitterte, durch konfessionellen Gegensatz noch zugespitzte dynastische Rivalität. War die Okkupation ursprünglich mit der Misswirtschaft und der Willkürherrschaft Eduards gerechtfertigt worden, trat nach dem Regierungswechsel noch hinzu, dass von Durlacher Seite die Legitimität des Nachfolgers aufgrund seiner unstandesgemäßen Herkunft bestritten wurde. 1606 wandte sich Eduards Witwe zur Wahrung ihrer und der Ihren Rechte an den Reichshofrat. Die Auseinandersetzung geriet notgedrungen in den Strudel der Konfessionskonflikte, und es war wohl kein Zufall, dass nur drei Wochen nach der Niederlage der protestantischen Durlacher in der Schlacht bei Wimpfen am 6. Mai 1622 der Reichshofrat Eduards Sohn in vollem Umfang Recht gab. Die Durchsetzung des Urteils blieb freilich noch vom Kriegsglück abhängig, am Ende aber wurden die Besitzverhältnisse im Sinne der katholischen Baden-Badener in einem eigenen Artikel des Osnabrücker Friedensvertrags28 bestätigt. Damit wurde aber auch die Sukzession eines Abkömmlings aus einer standesverschiedenen Ehe auf Dauer sichergestellt. In einem anderen, weniger spektakulären und weniger erschlossenen, gleichwohl aussagekräftigen Fall ist der Reichshofrat anscheinend sozusagen nur gezeigt worden. 1637 heiratete Fürst Georg Aribert von Anhalt-Dessau Johanna Elisabeth von Krosigk, Mitglied einer in Anhalt ansässigen Adelsfamilie, also streng genommen sogar eine Untertanin. Um die Bedenken der Agnaten zu beschwichtigen, wurde vor der Hochzeit ein brüderlicher Erbvertrag aufgesetzt, der die Nachkommen aus dieser Ehe von der Sukzession ausschloss und alle Versorgungsansprüche festsetzte29 . Der Vertrag wurde von allen Anhalter regierenden Fürsten, von der Braut und vom Brautvater – als erstem Repräsentant der Landschaft! – unterschrieben oder beeidigt und am Ende noch durch den Kaiser bestätigt. Mit einem solchen Vertrag nahm diese Eheschließung rein formal, nach den mittlerweile im Raum stehenden Kriterien, eine morganatische Gestalt an.

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nicht ausläßt, vgl. Urte Schulz: Das schwarze Schaf des Hauses Baden. Markgraf Eduard Fortunatus, Gernsbach 2012. Baumann: Ernst Friedrich (wie Anm. 26), passim; ergänzend Hugo Altmann: Die Rolle Maximilians I. von Bayern im Oberbadischen Okkupationsstreit, besonders 1614–1618, in: ZGO 121 (N.F. 82), 1973, S. 327–360. Walter Mez: Die Restitution der Markgrafen von Baden-Baden nach der Schlacht bei Wimpfen (1622–30), Freiburg 1912, S. 19–36; die Regelungen von 1648 im Osnabrücker Friedensvertrag, Artikel IV, § 26. Johann Christian Lünig: Teutsches Reichs-Archiv, Partis specialis Continuatio II, 2. Zweyte Fortsetzung = 10. Band, Leipzig 1712, S. 240–247.

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Trotz dieses Vertrages focht der Sohn aus dieser Ehe 1660, lange nach dem Tod des Vaters, diese Bedingungen an, anscheinend einmal mehr veranlasst von Streitigkeiten über Güter, vielleicht aber auch angestiftet durch seine Umgebung am Wiener Hof, wo er in kaiserlichen Diensten stand. Ausdrücklich berief er sich auf den Rechtssatz, der Sohn folge der Würde des Vaters, und wandte sich an den Kaiser30 . Als die Agnaten ihm im Gegenzug die vertraglichen Zahlungen verweigerten, wurden sie vom Kaiser zur Einhaltung des Vertrages gemahnt31 . Die Einleitung eines ordentliches Gerichtsverfahrens, obwohl erwogen, ist dann von Seiten der Agnaten doch vermieden worden. Man einigte sich 1671 auf einen Vergleich, der unter anderem für die Kinder eine Erhebung in den Reichsgrafenstand vorsah32 . Die Lektion dieses Falles war aber, dass auch eine vertragliche Regelung nicht automatisch verlässliche Rechtssicherheit herstellte. Insofern die römisch-rechtliche Sichtweise ausschließlich auf den Tatbestand einer legitimen Eheschließung abhob, blieb das andere Ende des Dilemmas in der Luft hängen – wie nämlich dem Standesunterschied Geltung verschafft werden sollte. Dieser Umstand wurde aber erst dadurch relevant, dass mit den Reichsgerichten, insbesondere dem Reichshofrat, eine Instanz sich etabliert hatte, vor der die Abkömmlinge aus diesen Ehen offenbar ihre Sicht der Dinge durchaus zur Geltung bringen konnten. Der Austrag des Anhalter Konflikts fiel bereits in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Bis um 1700 zeichneten sich drei Entwicklungen im Kontext der standesverschiedenen Ehen ab, die die Exklusivität des Hochadels zunehmend zu erodieren schienen. Zum ersten verfestigte sich die herrschende Rechtsauffassung. 1664, in einer Zeit, in der das Fürstenrecht als eigene Sparte der Rechtswissenschaft allmählich Gestalt annahm, veröffentlichte der Württemberger Rat Nikolaus Myler von Ehrenbach ein vielzitiertes Kompendium adligen Eherechts, das mit weiteren Argumenten die Ansicht stützte, dass eheliche Nachkommen dem Rang des Vaters folgten33 . 1691 erschien im Kontext eines außerordentlich verwickelten Nachfolgekonflikts im Hause Bentheim, der auf die 1661 geschlossene Ehe Graf Ernst Wilhelms mit der Hofdame Gertrud von Zelst zurück ging, ein Traktat des renommierten Juristen und dänischen Hofrats Gerhard Feltmann34 . Auch wenn im Fall 30 31 32

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Johann Christoff Beckmann: Historie des Fürstenthums Anhalt [...], Bd. 2, Zerbst 1710 (ND Dessau 1995, Bd. II,2), S. 242f. Zur Intervention des Kaisers Johann Christoph Krause: Fortsetzung der Betramischen Geschichte des Hauses und Fürstenthums Anhalt, 2. Theil, Halle 1782, S. 521f. Vgl. Beckmann: Historie, Bd. 2 = ND Bd. 2,2, S. 244f.; vgl. auch Michael Rohrschneider: Johann Georg II. von Anhalt-Dessau (1627–1693). Eine politische Biographie, Berlin 1998, S. 91–93. Nicolaus Myler von Ehrenbach: Gamalogia(oder Genelogia?) personarum imperii illustrium [...], Stuttgart 1964; vgl. dazu Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22); S. 110f. Angaben nach ADB, Bd. 6, Leipzig 1877, S. 618; siehe auch Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22), S. 111f.; Ulrich Falk: Uhralte Gewohnheiten. Beobachtungen

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Bentheim / Zelst die Nachkommen dieses Paares nicht zur Sukzession gelangten: Feltmann widmete dem Thema der ungleichen Heiraten fast 350 Seiten, beleuchtete es von vielen Seiten, markierte damit einen ebenso vielzitierten Referenzpunkt für die künftige Spezialliteratur zum Thema – und bekräftigte einmal mehr die herrschende Lehre, die mittlerweile als unerschütterlich erscheinen musste. Zweitens nahm die absolute Zahl standesverschiedener Ehen im Hochadel spürbar zu. Stellt man die Fallbeispiele zusammen, die die spätere Literatur gesammelt hat und die sich zumindest im Hinblick auf die Fürstenehen auch bei einer Durchsicht der Europäischen Stammtafeln bestätigen ließen, dann wurden für das ganze 16. Jahrhundert sechzehn standesverschiedene Verbindungen im deutschen Hochadel diskutiert, die sozusagen mit Anspruch auf Legitimität eingegangen worden sein sollen. Teilweise können dafür aber noch nur einzelne, pauschale Erwähnungen ohne nähere Umstände angeführt werden. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts traten noch einmal vier hinzu. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren es dann aber zweiundzwanzig, mit oder ohne morganatischen Ehevertrag; Im nächsten halben Jahrhundert kamen noch einmal siebenundzwanzig dazu. In der zeitgenössischen Literatur werden für das 17. und 18. Jahrhundert zudem noch einige unbestimmte, nicht genau datierte Beispiele vornehmlich aus reichsgräflichen Häusern angeführt. Die Zahlen sollen nicht auf die Goldwaage gelegt werden. Sie relativieren sich zudem, wenn man berücksichtigt, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg zumindest in fürstlichen Häusern auch die Gesamtzahl der Heiraten deutlich anstieg. In der Erholungsphase nach 1648 wurden offenbar nicht nur viele Schlösser gebaut, sondern auch viele Prinzessinnen und Prinzen gezeugt. Außerdem verteilten sich die Fallbeispiele durchaus ungleich. Das Haus Anhalt mit seinen durch Teilung arg reduzierten vier Linien weist allein bis 1750 ein gutes Dutzend standesverschiedene Verbindungen auf35 . Im Haus Hohenzollern beispielsweise begegnet dagegen in diesem Jahrhundert nur eine strittige Ehe, ebenfalls um 1700, genau 169536 . Am anderen Ende des Hochadels zeigt sich, dass der Anteil reichsgräflicher Fallbeispiele nicht so signifikant über dem fürstlichen liegt, wie man das nach dem Proporz der Familien erwarten würde. Wenn dem nicht größere Dunkelziffern, verzerrte Wahrnehmungen der

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zu einem erbrechtlichen Gutachten von Christian Thomasius, in: Andreas Thier u. a. (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte (Rechtshistorische Reihe 196), Frankfurt a.M. 1999, S. 127–148, hier S. 140, 144f. Nicht immer ist der Status der Beziehungen ganz geklärt, deshalb verbietet sich eine exakte Ziffer. J. D. Ferdinand Neigebaur: Die Heirath des Markgrafen Carl von Brandenburg mit der Markgräfin Catharina von Balbiano, Breslau 1856; vgl. jetzt Daniel Schönpflug: Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 207), Göttingen 2013, allgemein S. 91– 105, speziell S. 100f.

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Autoren oder doch weitere Toleranzschwellen zugrunde liegen sollten, deutet das wahrscheinlich auf ein schärferes Standesbewusstsein am ohnehin prekären unteren Rand des Hochadels hin37 . Wie auch immer: Wer sich nicht auf statistische Feinheiten einließ, konnte seit Ende des 17. Jahrhunderts den Eindruck gewinnen, dass standesverschiedene Hochzeiten womöglich einzureißen drohten. Allerdings mündeten längst nicht alle dieser Ehen in Konflikte, geschweige denn in Prozesse. Unstandesgemäße Ehen an sich mussten, sofern sie einvernehmlich in morganatischer Gestalt eingegangen wurden, der dynastischen Raison keineswegs entgegen stehen, im Gegenteil. Schon in ihren Ursprüngen im lombardischen Recht war die morganatische Ehe ausdrücklich als Option für Witwer vorgesehen, die bereits in erster, standesgemäßer Ehe Erbfolger gezeugt hatten und in zweiter Ehe unter Stand heiraten wollten, um auf diese Weise den Aufwand einer standesgemäßen Ehe, insbesondere für den Witwenstand, zu vermeiden. Diese Funktion war auch im Adel des 17. und 18. Jahrhunderts noch relevant. Überdies gingen aus standesverschiedenen Ehen auch nicht zwangsläufig Nachkommen hervor, und wo keine Ansprüche auf Sukzession erhoben wurden, musste allenfalls noch über das Wittum verhandelt werden. Die Konflikte konzentrierten sich daher vor allem auf die wenigen Fälle, in denen die fürstlichen Bräutigame auf morganatische Eheverträge verzichteten und ihre Nachkommen aus diesen Ehen als gleichberechtigte Sukzessoren betrachteten. Nach Lage der Dinge hatten sie das Recht auf ihrer Seite. Wie angekündigt, trat ein dritter Faktor hinzu. Mit den standesverschiedenen Ehen war als latentes Problem die Frage nach einer Standesverbesserung der Ehefrau, als unausweichliches Problem aber die ständische Verortung der Nachkommen verbunden. Was über die Verhältnisse des 16. Jahrhunderts bekannt ist, deutet darauf hin, dass gerade der Status der Ehefrauen meist ohne förmliche Vereinbarungen von der Haltung ihrer Ehemänner abhing, wodurch dann wiederum bestimmt wurde, in welcher Weise sie von der höfischen Umgebung wahrgenommen wurden. Während beispielsweise Ursula von Rosenfeld, die erwähnte Ehefrau Markgraf Ernsts von Baden, anscheinend als Markgräfin anerkannt wurde, musste es sich Maria von Eicken, die Partnerin Markgraf Eduard Fortunatus’ von Baden-Baden, offenbar gefallen lassen, vom Markgrafen und so eben auch von dessen Umgebung mehr oder weniger 37

Für die Wetterauer Grafen ist eine bemerkenswert geringe Zahl unstandesgemäßer Ehen für den langen Zeitraum von 1450 bis 1650 nachgewiesen worden, siehe Georg Schmidt: Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 52), Marburg 1989, S. 481. Zu den grundsätzlichen Statusproblemen der Reichsgrafen in der Frühen Neuzeit Barbara Stollberg-Rilinger: Der Grafenstand in der Reichspublizistik, in: Heide Wunder (Hrsg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht (ZHF, Beiheft 28), Berlin 2002, S. 29–53.

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als Konkubine behandelt zu werden. Wo die Nachkommen in die Sukzession eintraten, ist dies allem Anschein nach auch ohne förmliche Einsetzung in den fürstlichen Stand geschehen. Die Problematik stellte sich nachdrücklicher noch bei den Nachkommen, die nicht zur Sukzession gelangten, deren Stand aber angesichts des unterschiedlichen Ranges der Eltern geklärt werden musste. Bei Kindern von Fürsten zeichnete sich früh die Gewohnheit ab, sie quasi auf halbem Weg im Grafenstand zu verorten. Die Übertragung solcher Titel und Ränge hing dabei anfangs noch an der Übertragung eines entsprechenden Besitzes. Auf diese Weise gelangte 1488 der Sohn der Klara Tott zum Titel eines Grafen von Löwenstein; die Bestätigung dessen durch ein kaiserliches Diplom erscheint „kaum mehr als eine Notiznahme“38 . Philipp von Hessen verlieh den Söhnen aus seiner Ehe mit Margarethe von der Sale den Titel Grafen von Dietz, indem er ihnen per Testament einen Bestandteil der erloschenen Grafschaft Dietz übertrug. Zuvor war der Versuch gescheitert, eine für die Söhne vorgesehene Herrschaft vom Kaiser zur Grafschaft erheben zu lassen39 . Der Abkömmling der bekannten standesverschiedenen Ehe im Hause Habsburg zwischen Erzherzog Ferdinand und Philippine Welser wurde 1578 unter anderem mit der Markgrafschaft Burgau abgefunden, die im zugleich den entsprechenden Titel einbrachte40 . Dass eine solche ständische Verortung durch persönliche Standeserhebung per kaiserlichem Diplom vorgenommen wurde, war offenbar erstmals 1602 der Fall, als die Nachkommen aus der 1588 geschlossenen Ehe zwischen Herzog Ferdinand von Bayern und Maria Pettenbeck zu Grafen von Wartenburg erhoben wurden41 . Ähnlich wurde in den schon erwähnten Bentheimer und Anhalter Streitigkeiten verfahren, 1666 wurde Gertrud van Zelst selbst zur Reichsgräfin erhoben, in der Erwartung, dadurch auch die Erbberechtigung der Söhne zu sichern42 , und der Anhalter Vergleich von 1671 umfasste eine Erhebung der Nachkommen in den Grafenstand. Die Beispiele verdichteten sich: In der höchst verwickelten Geschichte der Ehe zwischen Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und Eleonore d’Olbreuse, einer Adligen aus dem Poitou, wurde die Tochter 1674 zur Reichsgräfin erhoben, unter beiläufiger Anerkennung eines Grafentitels für ihre Mutter43 . Weitere Beispiele ließen 38 39 40

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Rödel: Pfalzgraf Friedrich (wie Anm. 10), S. 114. Vgl. Demandt: Hessische Erbfolge (wie Anm. 18), S. 163f. Vgl. Eduard Widmoser: Markgraf Karl von Burgau, in: Götz Freiherr von Pölnitz (Hrsg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Bd. 3, München 1954, S. 269–284, hier S. 271f. Vgl. Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22), S. 89f., auch mit Hinweisen auf den Fortbestand eher informeller Praktiken. Vgl. Willy Kohl: Der Übertritt des Grafen Ernst Wilhelm von Bentheim zur katholischen Kirche (1668) in: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 48, 1955, S. 57–59. Ein Abriß der Verwicklungen bei Michael Sikora: Eleonore d’Olbreuse – die Herzo-

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sich ergänzen. Zentrales Element dieser Praxis war nun aber, dass diese Standeserhebungen offenbar nur noch durch kaiserliche Diplome erfolgten, das kaiserliche Reservatrecht der Standeserhöhung also auch konsequent in Wien monopolisiert wurde. Spätere Hinweise auf die entschiedene Verteidigung dieses Rechts beleuchten rückwirkend die Bedeutung dieser Entwicklung. Auf den ersten Blick fügte sich auch die Erhebung Gisela Agnes von Raths, seit 1692 Ehefrau Fürst Emanuel Lebrechts von Anhalt-Köthen, zur Reichsgräfin von Nienburg in diese Tradition44 . Bisher waren aber nicht in jedem Fall die Mütter einbezogen worden. Noch entscheidender war aber, dass – nachdem ein Sohn des Paares 1693 als Baby schon verstorben war – Gisela Agnes zum Zeitpunkt der Standeserhöhung 1694 wieder schwanger war. Wurde Gisela Agnes aber nun zur Reichsgräfin erhoben, nahm sie zwar nicht den gleichen Rang ein wie ihr Mann, wohl aber doch einen hochadligen. Damit existierte zwar weiterhin ein Standesunterschied, aber keine Standesverschiedenheit mehr. Der Gegensatz war aufgehoben, die Nachkommen würden als Fürsten anerkannt werden können, und genau das strebte ihr Vater auch an. Ein noch stärkeres Signal setzte wenig später bekanntlich Fürst Leopold von AnhaltDessau, nachdem er 1698 die bürgerliche Apothekerstochter Anna Luise Föse geheiratet hatte. Bestens vernetzt in Berlin und Wien erwirkte er 1701 deren steile Erhebung in den Fürstenstand, und obwohl zu diesem Zeitpunkt schon zwei Kinder auf der Welt waren, ließ Leopold keinen Zweifel daran, dass er diese und alle späteren Kinder als Fürstinnen und Fürsten von Anhalt betrachtet wissen wollte45 . Damit hatte aber die Praxis der Standeserhebungen eine neue Qualität erreicht. Es handelte sich nicht mehr um nachträgliche Besserungen. Das Dilemma zwischen Legitimität und Standesgegensatz wurde vielmehr von vornherein aufgehoben, zugunsten der Legitimität. In gewissem Sinn könnte man diese Lösung als konsequente Umsetzung der herrschenden Rechtslehre interpretieren. Aus der Sicht der Agnaten bedeutete diese Konsequenz aber, dass die Entscheidung über die Sukzessionsfähigkeit der Nachkommen zumindest potentiell aus dem Schoß der Dynastie nach Wien verlegt wurde. Die Beispiele schienen ebenfalls Schule zu machen. 1715, gleich nach der Hoch-

44

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gin auf Raten, in: mächtig. verlockend. Frauen der Welfen. Begleitband zur Ausstellung Schloßmuseum Celle 14.2.–15.8.2010, hrsg. vom Bomann-Museum Celle, Abteilung Residenzmuseum im Celler Schloß, Redaktion: Kathleen Biercamp, Juliane SchmieglitzOtten, Celle 2010, S. 17–43, zu den Umständen der Standeserhöhung S. 29f. Zu diesem Fallbeispiel vgl. Michael Sikora: Über den Umgang mit Ungleichheit. Bewältigungsstrategien für Mesalliancen im deutschen Hochadel der Frühen neuzeit –das Haus Anhalt als Beispiel, in: Martin Wrede/Horst Carl (Hrsg.): Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 73), Mainz 2007, S. 97–124, hier S. 107–111; Friedrich Heine: Fürstin Gisela Agnes, Köthen 1909; ders.: Neues über Fürstin Gisela Agnes, Köthen 1913. Vgl. Sikora: Umgang (wie Anm. 44), S. 112, 116.

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zeit, begannen die Bemühungen Fürst Karl Friedrichs von Anhalt-Bernburg um eine Standeserhöhung für seine bürgerliche Ehefrau Charlotte Nüssler46 , und dasselbe Ziel verfolgte Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen für seine ebenfalls bürgerliche Ehefrau Philippine Cäsar47 . Aus beiden Fällen entwickelten sich jedoch jahrzehntelange Konflikte, an deren Ende der Ausschluss der Nachkommen von der Sukzession stand, trotz vorangegangener Standeserhöhungen. Der Fürstenstand schlug zurück. Nach Lage der Dinge konnte er das aber nur vor Gericht. Um vor dem Reichshofrat mit Aussicht auf Erfolg agieren und argumentieren zu können, waren die adligen Häuser gezwungen, die stillschweigenden Praktiken dynastischer Strategien in irgendeiner Weise selbst in möglichst gerichtsfeste Positionen zu transformieren. Da kam dem Adel entgegen, dass sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gerade im Umgang mit reichsrechtlichen Problemen ein Paradigmenwechsel abzeichnete hin zu einer historischen Betrachtungsweise, die damit zugleich wichtige Bereiche deutscher Rechtsverhältnisse als eigenständig wahrzunehmen begann. Als sich Anfang des 18. Jahrhunderts die Parteien eines Konflikts formierten, der zum vielleicht spektakulärsten Gipfelpunkt wurde, der Streit eben um die Ehe Herzog Anton Ulrichs von Sachsen-Meiningen, da konnten sich die Verteidiger der Hausehre hoffnungsvoll an einige der prominentesten Juristen wenden, um ein Gutachten zu erbitten: keine geringeren als die Hallenser Christian Thomasius und Johann Peter von Ludewig sowie den Jenaer Burkhard Gotthelf Struve. So antwortete denn auch Thomasius: „Ob wohl sonsten theils meine ordentliche überhäufte Verrichtungen, theils mein zunehmendes Alter, mir nicht vergönnen, für mich ins besondere Responsa zu geben, oder Rechtliche Deductiones zu machen [...]“, so habe er sich dennoch „ein Gewißen gemacht“, „in Erwegung, dass, obshon Ew. Hochfürst. Durchlaucht, in denen proponirten Fragen nach der Wahrheit in denen uhralten, continuirten, und nimmer abrogirten loblichen Teutshen Gewohnheiten und Rechten gegründet sind, ich dennoch kein Collegium Juris jezo weiß, dass nicht von thörichter Liebe gegen das Justinianishe Recht, und von unvernunftigen Haß gegen ihre alte väterliche 46

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Vgl. Michael Sikora: Eine Missheirat im Hause Anhalt. Zur sozialen Praxis der ständischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert, in: Werner Freitag / Michael Hecht (Hrsg.), Die Fürsten von Anhalt. Herrschaftssymbolik, dynastische Vernunft und politische Konzepte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Studien zur Landesgeschichte 9), Halle 2003, S. 248–265; Carolin Doller: Bürgerliche Gattinnen. Standesungleiche Verbindungen im Hause Anhalt-Bernburg, in: Eva Labouvie (Hrsg.), Adel in SachsenAnhalt, Köln u. a. 2007, S. 17–48. Vgl. Stefanie Walther: Die (Un-)Ordnung der Ehe. Normen und Praxis ernestinischer Fürstenehen in der Frühen Neuzeit, München 2011, S. 250–326, hier bes. S. 284–292; Michael Sikora: Ein kleiner Erbfolgekrieg. Die sachsen-meiningische Sukzessionskrise 1763 und das Problem der Ebenbürtigkeit, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, S 319–339.

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Landes-Sitten eingenommen, anderer Meynung seyn sollte“48 . Das Gutachten fiel entsprechend aus49 . Der Ausweg sollte also darin bestehen, in Abkehr von den allgemeinen Grundsätzen des römischen Rechts dem Herkommen zur Rechtsgeltung zu verhelfen, einem Herkommen, mit dem man eine gegenteilige Rechtsauffassung zu etablieren hoffte. Die Herausforderung bestand dann aber immer noch darin, das Herkommen zu erfassen und auf einen möglichst eindeutigen Nenner zu bringen. Die Prozessschriften, die die neue Auffassung zu untermauern trachteten, begannen nun, Beispiele anzuhäufen, die möglichst auf ihre Linie getrimmt wurden. An die Rechtsprechung der Reichsgerichtsbarkeit konnte man sich dabei nicht gut anlehnen; schließlich hatte sie das Problem im Grunde erst konstituiert. In den bisherigen Rechtsstreitigkeiten hatte der Reichshofrat zwar differenziert agiert und keineswegs das römische Recht konsequent angewandt. Wie im Fall Isenburg / Gumpel oder Anhalt / Krosigk wurden die Ansprüche der Nachkommen immerhin gestärkt, im Fall Baden / Eicken hatte das Gericht sogar die Sukzessionsfähigkeit konstatiert, und auch in einem Rechtsstreit im Hause Pfalz erkannte der Reichshofrat gerade 1715 den fürstlichen Rang einer minderrangigen Ehefrau und ihrer Kinder aufgrund einer rechtmäßigen Trauung50 an. Erst recht verteidigte der Reichshofrat die Rechtsfolgen kaiserlicher Standeserhöhungen. Tatsächlich werden seine Beschlüsse in den Debatten meist nur relativ kurz angesprochen, und dann überwiegend im Kontext der Einzelfallschilderungen. Dogmatische Thesen ließen sich auf dieser Praxis nicht aufbauen, „indem es bekannt genug ist, theils dass sich der Reichshofrath nach irrigen Grundsätzen der fremden Rechte gerichtet, theils, daß seine Entscheidungen hier sehr ungleich und wiedersprechend ausgefallen, theils, daß, wie der Herr Geheimrath v. Selchow bemerket, hier oft mehr Hoflust als Recht entschieden hat“51 . Wer immerhin sich auf das Herkommen berief, konnte dabei nicht nur auf Fallbeispiele zurückgreifen, sondern nun auch Familienverträge und Testamente als Rechtsquellen einführen. Davon waren aber gar nicht so viele ver48 49

50

51

StAM GA Mein. XV.Y.2, bei [Stück Nr. 8]. Veröffentlicht in [Christian Thomasius]: Ernsthaffte, aber doch Muntere und Vernünfftige Thomasische Gedancken und Erinnerungen über allerhand auserlesene Juristische Händel, hier: Zweyter Theil, Halle 1721, S. 107–138. Eine textimmanente Analyse, ohne Kenntnis des historischen Kontexts und konzentriert auf den Nachweis, dass es sich um eine Parteischrift handele, bei Falk: Uhralte Gewohnheiten (wie Anm. 34). Es handelte sich dabei um die Verbindung zwischen Pfalzgraf Johann Karl von Birkenfeld-Gelnhausen und Marie Esther von Witzleben, vgl. zuletzt Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22), S. 68–74. Carl Otto Graebe: Kurze Darstellung der ungleichen Ehen zwischen Personen des hohen und niedern Adels, Rinteln 1787, S. 29f.; der Text zählt zu den eher oberflächlichen Behandlungen des Themas und sei hier nur als Bündelung der gängigen Eindrücke zitiert, mit der auch andernorts die Rechtsprechung des Reichshofrates beiseite geschoben wurde.

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fügt worden oder auch nur bekannt geworden52 , so dass sich daraus keine breit verankerte Praxis ableiten ließ. Immerhin gaben die Beispiele um 1700 Anlass, darauf mit dergleichen Verfügungen zu reagieren. In Anhalt-Bernburg hatte der Vater Fürst Karl Friedrichs auffälligerweise schon 1714, ein Jahr vor der Missheirat seines Sohnes, in seinem Testament die Söhne vor ungleichen Heiraten gewarnt. Nach Bekanntwerden der Ehe ergänzte er das Testament um einen ausdrücklichen Ausschluss seines schon geborenen Enkels von allen Erbansprüchen53 . Die fürstlichen Gegner der Missheirat Herzog Anton Ulrichs von Sachsen-Meiningen taten ein übriges und verständigten sich als Mitglieder einer älteren Erbverbrüderung auf einen die Häuser übergreifenden Pakt gegen Missheiraten54 . Trotz allem führte aber rechtstheoretisch kein Weg an der Einsicht Johann Stephan Pütters, selbst entschiedener Vertreter der fürstlichen Herkommens, vorbei, die er in einem etwas anderen Sachzusammenhang feststellte: schließlich dürfe man auch nicht folgern, dass „wenn 99 Häuser das Recht der Erstgebuhrt eingeführt hatten, daß es deswegen auch im Hunderten gelten müßte“55 . Vor diesem Hintergrund griffen die Fürsten in der Meiningischen Sache zu den äußersten Maßnahmen, die ihnen zur Verfügung standen, um in ihrem Sinne Rechtssicherheit zu schaffen: Sie versuchten, ihre Rechtsauffassung in Reichsrecht, insbesondere in reichsrechtliche Beschränkungen der kaiserlichen Standeserhebungen, zu transponieren. Auf Initiative des sächsischen Kurfürsten gelang dies 1742, indem in die Wahlkapitulation Kaiser Karls VII. eine Ergänzung hineingeschrieben wurde, wonach ihm verwehrt wurde, „denen aus ohnstreitig notorischer Mißheurath erzeugten Kinderen eines Standes des Reichs“ den väterlichen Rang und die Sukzessionsfähigkeit beizulegen, es sei denn mit besonderer Zustimmung der „wahren Erbfolger“56 . Das entsprach nicht nur im Hinblick auf die Beschränkung des Kaisers den Interessen der Fürsten, sondern auch in der Hinsicht, dass sie sich selbst alle Optionen und mithin einen autonomen Handlungsspielraum offenhielten. Die markante Formulierung stellte allerdings einen Formelkompromiss dar und sollte sozusagen den gemeinsamen Nenner bezeichnen, ohne ihn näher zu definieren. Die Frage, was als „ohnstreitig“ betrachtet werden sollte, hat daher auch noch 52

53 54 55 56

Als Übersicht zum Kenntnisstand am Ende des 18. Jahrhunderts Pütter: Mißheirathen (wie Anm. 4), S. 191–215. Dass die Kriterien der Standesmäßigkeit tatsächlich erst allmählich seit Ende des 16. Jahrhunderts familienintern entwickelt wurden, ist für eine regionale Gruppe von Reichsgrafen im Einzelnen beobachtet worden von Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation: Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit (Studien zur Residenzkultur 2), Berlin 2003, S. 137– 140. Sikora: Missheirat (wie Anm. 46), S. 253, mit Belegen. Vgl. Ludwig Carl von Hellfeld: Beiträge zum Staats-Recht und der Geschichte von Sachsen, 3 Theile, Eisenach 1785–1790, hier Bd. 3, S. 289–291. Pütter: Mißheirathen (wie Anm. 4), S. 443. Ihrer Röm. Kayserl. Majestät Caroli VII. Wahl-Capitulation [...], Frankfurt 1742, S. 41.

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publizistische Debatten ausgelöst; Pläne, dies durch ein Reichsgesetz festzulegen, wurden nicht mehr realisiert57 . Dass eine solche Ergänzung just 1742, bei der Wahl des schwachen Wittelsbacher Kaisers, durchgesetzt wurde, deutet an, dass auch dieser Schritt auf seine Weise von einer Art ,Hoflust‘ abhängig war. In der Meiningischen Sache führte sie immerhin dazu, dass 1744 auf Drängen der interessierten Fürsten die Verleihung der sachsen-meiningischen Herzogswürde mit ihren Rechtsfolgen an Philippine Cäsar für unwirksam erklärt wurde, eine Wende, die sich trotz fortdauernder Auseinandersetzungen als endgültig erwies58 . In der Bernburger Sache profitierten zwar die unstandesgemäßen Nachkommen sowohl von einer günstigen Konstellation im eigenen Haus als auch von der zur gleichen Zeit für alle gebührenträchtigen Begehren besonders günstigen ,Hoflust’ in Frankfurt, um 1742 eine Erhebung in den Fürstenstand zu erlangen. Auf der Grundlage der Wahlkapitulation wurden die erbrechtlichen Ansprüche 1748 dann aber doch noch abgebogen59 . Nach 1742 nahm die Zahl der ungleichen Heiraten tatsächlich ab, ohne dass bisher konkrete Belege für einen sachlichen Zusammenhang vorliegen. Schließlich kamen sie weiterhin vor. Und es gab weiterhin Diskussionen, nun eben darüber, wie ,ohnstreitig‘ das „ohnstreitig“ tatsächlich aufzufassen war. Die Vermeidung einer Festlegung wurde mit fortbestehenden Unsicherheiten erkauft, zumal das generelle Dilemma einer am Herkommen orientierten Argumentation darin bestand, dass jeder weitere Einzelfall die Facetten erweitern konnte. Das galt auch in historischer Perspektive. So wird denn aus dem Jahr 1734 ein anonymer zeitgenössischer Spötter zitiert mit den Worten: „Es gibt nicht leicht eine so ungereimte und so lächerliche Meynung, deren Vertheidiger nicht irgend etwas finden kan, bald in einem alten Diplome, bald in einer alten Chronik oder oft in der Etymologie eines altdeutschen Worts, oder auf einem Leichen-Stein, oder in einem alten Kirchen-Calender oder aus irgend einem Mönchs-Diarium. [...] Man kann aus diesem alten Haufen hervorholen, was man will, für oder wider die ungleichen Heurathen“60 .

Nun ist das zwar ein plakativer, aber letztlich nicht sehr schwergewichtiger Zeuge, dem man, um gerecht zu sein, tatsächlich ein Schwergewicht gegenüberstellen muss. Am Ende des 18. Jahrhunderts – erst am Ende! – war es Johann Stefan Pütter, der auf fast 550 Seiten alle bekannten Einzelfälle durchnahm in der Absicht, selbst das Herkommen auf eine eindeutige dogmatische Linie zu bringen61 . Zwar konnte auch er nicht jene Beispiele beiseite schieben, in denen die Nachkommen aus unstandesgemäßen Ehen zu vollen hochadli57 58 59 60

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Zusammenfassend Willoweit: Standesungleiche Ehen (wie Anm. 22), S. 126–131. Sikora: Erbfolgekrieg (wie Anm. 47), S. 333. Zu diesen Winkelzügen Sikora: Missheirat (wie Anm. 46), S. 260f. Der anonyme Autor der Bemerkungen über die Worte unstreitig notorisch in der Kaiserl. Wahl-Capitulation Art. XXII. §. 4., in: Göttingisches Historisches Magazin 1789, 5. Bd., S. 42–54, hier S. 49f., zitierte mit diesen Worten eine Publikation aus dem Jahre 1734, die noch nicht identifiziert werden konnte. Pütter: Mißheirathen (wie Anm. 4).

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gen Würden und Erbrechten gekommen waren. Er ersann aber einen ebenso simplen wie charakteristischen Ausweg: Einerseits konstatierte er eine Fülle von Belegen dafür, dass unstandesgemäße Heiraten an sich nicht statthaft waren. Bei allen Ausnahmen aber glaubte er die Zustimmung der Agnaten ausgemacht zu haben. Ein Konsens der Betroffenen konnte demnach eine Ausnahme von der Regel ermöglichen. Das konnte man so sehen, und es geht auch gar nicht darum ihn zu widerlegen, obwohl man sicher an manchem Punkt sehr genau hinsehen müsste, ob morganatisch tatsächlich morganatisch war, ob der Konsens tatsächlich einhellig und explizit war oder nicht. In der Sache wurde auf diese Weise eben jene Linie bekräftigt, die auch schon in der Ergänzung der Wahlkapitulation 1742 zum Ausdruck gekommen war. Pütters Versuch einer undoktrinären Doktrin stand freilich selbst schon am Ende einer mittlerweile seit vielen Jahrzehnten währenden Diskussion. Der Versuch einiger Fürsten, im Umgang mit Missheiraten im eigenen Haus die Autonomie zurückzugewinnen, konnte die Auseinandersetzungen über das Thema doch nicht mehr exklusiv in den Schoß der Familien zurückholen. Die Praktiken der hohen Herren wurden zwangsläufig zum Gegenstand öffentlicher Debatten; die an sich durchaus erfolgreichen Versuche, gegen die Folgen der Missheiraten eigene rechtliche Standpunkte zu entwickeln und zur Geltung zu bringen, konnten eben nicht die eine Meinung durch die andere ersetzen, sondern vermehrten die Standpunkte, die Argumente, die Perspektiven. Pütters Werk an sich bringt die Konsequenzen am klarsten zum Ausdruck: Die Doktrin des Herkommens ergab sich eben nicht von selbst aus den autonomen Handlungen der Dynasten, sondern aus den Konstruktionen ihrer Juristen. Im Bemühen um die Bewahrung der Autonomie war deren Handhabung dann doch in andere Hände gewandert. 1770 erörterten die Direktoren der Wetterauer und der Westfälischen Grafen die Frage, wie man auf vorgefallene Heiraten zwischen Reichsgrafen und niederadlige Frauen und auf Druckschriften, die die Ebenbürtigkeit des Niederadles behaupteten, reagieren solle. Die Wetterauer Seite riet allerdings von einer Gegenschrift ab, und zwar nicht allein, weil eine Auftragsarbeit nur wenig Vertrauen wecken würde, sondern vor allem, weil die zunehmenden abweichenden Exempel den Gegenstand allmählich zweideutig erscheinen ließen. Vielmehr sollte man zunächst Material aus den Archiven sammeln, vor allem über Familienverträge, denn „so könnte der Damm gezeiget werden, den man hier und da den neuen einreißen wollenden Principiis entgegenzusetzen gesucht habe“62 . Auf dieser Grundlage sollte dann jemand „eine 62

„Copia Schreibens de Directorio Wetteravico ad Directorium Westpahlicum“, 24.3.1770, gedruckt bei W. Reuling: Das Ebenburtsrecht des Lippischen Hauses nach Hausgesetzen und Hausobservanz. Mit einem Anlagenheft, Berlin 1897, Anlagenheft, S. 52f., Anlage zu Anlage XVIII.IV. Vgl. auch Johannes Arndt: Das Niederrheinisch-westfälische Reichsgrafenkollegium und seine Mitglieder (1653–1806) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte 133), Mainz 1991, S. 232f.

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gelehrte Dissertation auf einer berühmten Universität“ schreiben, „als wodurch der Gegenstand nach der alten Theorie gründlich und nach solcher die alte Theorie bestärkenden Praxis durch Exempel vertheidigt“ werden könnte. Ein Nebeneffekt hätte darin bestanden, einen breiteren Kreis an Interessenten zu erreichen, denn dadurch würde die Materie nicht nur „in publico mehr bekannt“, sondern man würde „selbst den Professoribus manche ander Idée einflößen“ können. Die zählten mittlerweile eben als besonders relevante Zielgruppe. Als Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe Anfang der 1760er Jahre eine tiefe Zuneigung zur Freifrau Therese von der Asseburg entwickelte63 und eine Eheschließung erwog, standen ihm die Verwicklungen, die die 1722 geschlossene Ehe zwischen Graf Friedrich Ernst zur Lippe-Alverdissen und Philippine Elisabeth von Friesenhausen in einem anderen Zweig seines Hauses verursacht hatten, sicher deutlich vor Augen64 . Im Rahmen seiner vielfältigen Bemühungen ließ er daher auch gezielt in Hannover Erkundigungen beim dortigen Kanzleidirektor David Georg Strube einziehen. Graf Wilhelm fürchtete um die Sukzessionsfähigkeit möglicher Nachkommen, aber der renommierte Jurist65 zerstreute seine Bedenken, zumal bereits um eine Standeserhöhung nachgesucht worden war. Damit gab es allerdings Probleme, und das war vielleicht auch der Anlass dafür, dass der Graf am Ende höchstpersönlich „zu dem Herrn Struben gefahren, um sich mit demselben darüber weitläuftiger zu besprechen“66 . Am Ende scheiterte die Standeserhöhung und die Ehepläne zerschlugen sich. 1766 wollte ein nachgeborener Sohn des Hauses Ysenburg-Birstein jüngerer Linie ein ungarisches Fräulein heiraten. Der Heiratskandidat bat den Prinzipal seines Hauses um Zustimmung. Der gab aber zu bedenken, „daß mein einziges Consentement ihm nicht viel helfen würde, und dass das ganze Hauß darzu einstimmen müßte“. Mehr noch, die ganze Affäre „verwirret meinen Kopf “, gestand er seinem Kanzleidirektor, den er deshalb um einen Gutachten bat. „Lassen sie doch nachsehen, ob nicht wegen der [...] Mesalliancen 63

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Vgl. dazu einige seiner Briefe an Therese, nach Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe. Schriften und Briefe III: Briefe, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt 1983, S. 146–150, 166, siehe auch die Hinweise ebd. in der Einleitung, S. LIIIf. Dieser Fall ist um 1900 intensiv diskutiert, erforscht und durch die Edition zahlreicher Quellen erschlossen worden, weil er nach rund 180 Jahren noch Munition für den seit 1895 schwelenden Lippischen Erbfolgestreit lieferte; die Publikationen waren dementsprechend parteiisch. Vgl. u. a. Reuling: Ebenburtsrecht (wie Anm. 62); Gerhard Anschütz: Der Fall Friesenhausen. Noch ein Beitrag zum Lippeschen Thronstreit, Tübingen/Leipzig 1904; Paul Schoen: Das kaiserliche Standeserhöhungsrecht und der Fall Friesenhausen. Ein weiterer Beitrag zum Lippischen Thronfolgestreit, Berlin 1905. Strube hatte sich selbst schon einschlägig in der Sache geäußert, vgl. David Georg Strube: Von ungleichen Ehen,in: ders., Neben-Stunden, 5. Teil., 2. Aufl. 1766 (1. Aufl.: 1742), S. 224–260. Aus dem Schreiben eines Rats Colson an Geheimrat Rehboom in Wien, 19.3.1762, abgedruckt bei Reuling: Ebenburtsrecht, Anlagenheft, S. 169, Anlage XLIX.VII.

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nichts in denen Verträgen des Hauses ausgemacht ist“67 . Dabei war der Prinzipal durchaus bereit, diese zumindest ungleiche Ehe zu akzeptieren. Er war sich aber selbst nicht sicher, welche Formen das Herkommen des Hauses für diesen Fall vorsah. Und es war dann der Kanzleidirektor, der seinem Fürsten die Zustimmung in aller Entschiedenheit auszureden versuchte. Mit einer ausführlichen Rekapitulation des juristischen Diskurses, aber auch unter Einbeziehung standespolitischer Argumente verteidigte der bürgerliche Beamte das adlige Herkommen. Zwar legte er dabei auch die abweichenden Positionen offen, hatte aber für sich klar Stellung bezogen. Natürlich ging er davon aus, damit das Interesse seines Fürsten zu wahren, aber die Entscheidung fiel nach juristischen Kriterien und musste dem Fürsten sozusagen erst erklärt werden. Mit Erfolg: Den Senior des Hauses bat der Fürst wenig später, darauf hinzuwirken, den Prinzen von seinem Vorhaben abzubringen. Das Gutachten seines Beamten legte er bei, „dadurch [ich] von der Nothwendigkeit gedoppelter Vorsicht bey denen so sehr eingerissenen ungleichen Heyrathen und denen hin und wieder zu deren Vertheydigung angenommenen Principiis überzeugt werde“68 . So weit war es am Ende gekommen: Juristen erklärten den hochadligen Herren, wie sie ihren Stand zu bewahren hatten. Die Entwicklung, die hier verfolgt worden ist, mündete ganz offensichtlich nicht darin, dass dem hohen Adel an diesem speziellen Punkt Regeln über die Zugehörigkeit oktroyiert werden konnten. Der Hochadel vermochte immerhin den Anspruch aufrecht zu erhalten, Konflikte über die Konsequenzen aus standesverschiedenen Ehen selbst zu regeln. Dass am Ende noch nicht einmal ganz eindeutige Regeln standen, entsprach durchaus diesem Anspruch und schien selbstbestimmte Spielräume offen zu halten. Die Mehrdeutigkeit kann als Konsequenz begriffen werden aus dem Versuch, die Autonomie zu behaupten, indem dem Herkommen und damit dem Handeln des Adels selbst normative Kraft zugeschrieben wurde. Der springende Punkt war aber, dass die Autonomie überhaupt normativ abgesichert werden musste. Dann aber ergab sich das Dilemma, dass die Mehrdeutigkeit, deren eine Seite Autonomie bedeutete, auf der anderen Seite gerade deshalb rechtliche Unsicherheit mit sich brachte. Insofern war die Autonomie des Hochadels eben doch beschädigt worden. Der Versuch, sie zu verteidigen, mündete unausweichlich darin, die eigenen Vorstellungen in rechtliche Kategorien zu übertragen, sie zum Gegenstand

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Fürst Wolfgang Ernst II. an Geheimrat von Savigny, 29.10.1766, Fürst von Isenburgisches Archiv Birstein (BirA), Nr. 1119. Die Zählung des Fürstennamens nahm von der Standeserhöhung 1744 ihren Ausgang, tatsächlich handelte es sich um den vierten Isenburger dieses Namens und die sechste Generation nach jenem Wolfgang Ernst, der die Auseinandersetzung mit Hans Otto von Isenburg zu führen hatte. Graf Wolfgang Ernst von Isenburg (-Birstein) an Graf Carl Friedrich von Ysenburg (-Meerholz), 6.11.1766, Abschrift, BirA, Nr. 1119.

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öffentlicher Debatten zu machen, ihre Handhabung an die Juristen zu übertragen. Der Hochadel wurde an diesem Punkt nicht eigentlich dem Recht unterworfen, aber als er sich dagegen wehrte, dennoch in das Recht verwickelt. Als Katalysator dieser Form der Verrechtlichung wirkten die obersten Reichsgerichte, vor allem der Reichshofrat. Dabei war es nicht allein die an sich überschaubare Zahl der Prozesse, von der die Bedrohung ausging. Schon der potentielle Rückhalt, den die ersten Urteile den möglichen Klägern, den Kindern der standesverschiedenen Ehen bot, veränderte das Verhalten. Er drohte die Wünsche der Einzelnen gegen die Raison der Dynastien zu schützen. Nicht weniger grundlegend war aber der Effekt, dass sich am Ende auch die Dynastien dagegen nur durch Recht verteidigen konnten.

II. Adel und Justizlandschaften in Europa

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Königliche Gewalt versus Fürstengewalt – Fürstengerichtsbarkeit und Appellationshindernisse im Spanien des 16. Jahrhunderts 1. Einleitung Adel und Königsherrschaft waren in Europa seit dem Frühen Mittelalter eng miteinander verbunden.1 Von Beginn an stark mit kriegerischen Aktivitäten in Verbindung erlangte der Adel ein politisches und soziales Ansehen in den Gesellschaften der Länder Europas. Sein gesamthistorischer Typus verlieh dem Adel in Folge der Jahrhunderte ein gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Gewicht, dem sich Herrschergeschlechter nicht entziehen konnten. Von Beginn an, nach damaligen Vorstellungen, mit einem von Gott zugewiesenen, bestimmten Platz in der Gesellschaft und zumeist auch familiär eng mit dem Königtum verbunden, konnte sich der Adel im Laufe der Zeit wertvolle Privilegien erkämpfen und erstreiten.2 So wurde auch in Kastilien seit dem 11. Jahrhundert der Adel zu einem politischen Faktor und im Rahmen der Reconquista zu einer die Politik und die Geschichte bestimmenden gesellschaftlichen Kraft.3 Beteiligt an der legislativ, exekutiv und judikativ tätigen Versammlung der curia regis, in der sich neben dem Adel Geistliche und natürlich der König befanden, sicherten sich einzelne Familien des Adels nach und nach die politische Macht in den Königreichen. In Kastilien spielte insbesondere der lang andauernde Prozess der Reconquista zusammen mit der Schwäche einiger spätmittelalterlichen Könige eine entscheidende Rolle im Hinblick auf eine Entstehung und Stärkung des kastilischen Adels in Gestalt von Adelsgeschlechtern eine Rolle.4 Mit der schwachen Herrschaft der Trastámaras und vor allem Heinrichs IV. festigten sich die Adelsstrukturen in der kastilischen Gesellschaft, so dass Mitte des 15. Jahrhunderts das Land fast ausschließlich von Adelsfamilien dominiert 1 2 3 4

Vgl. Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte, München 2009, S. 36; Hans Werner Goetz: Europa im Mittelalter: 500–1050, Stuttgart 2003. Vgl. Michael L. Bush: Noble privilege – the European nobility, Manchester 1993, S. 67ff. Vgl. Odilo Engels: Reconquista und Landesherrschaft: Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter, Paderborn 1989. Vgl. José García Pelegrin: Studien zum Hochadel der Königreiche Leon und Kastilien im Hochmittelalter (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 26), Münster 1991; Simon Barton: The aristocracy in twelfth century: León and Castile, Cambridge 1997, S. 8– 27, 104–147.

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wurde, die über große Ländereien verfügten.5 Eine wichtige Rolle spielte im Rahmen der Reconquista die sog. „repoblación“, die Wiederbesiedlung eroberter Gebiete im Rahmen der Reconquista. Im Rahmen dieser Repoblación hatte das Königtum die Entwicklung der Städte und Stadträte gestärkt, um den großen Einfluss des Adels zu schwächen und diesen zu kontrollieren. Im Ergebnis scheiterte das Modell, auch wenn es zu einer stärkeren Ausbildung von Städten und der Stärkung ihrer Stadträte führte. Bei der Thronbesteigung der katholischen Könige sollte dies allerdings eine große Rolle spielen.6 Zu betrachten ist jedoch zunächst die Entwicklung zweier verschiedener Modelle von Fürstenherrschaft, die vor allem vom 13.–15. Jahrhundert entstanden.

2. Fürstengewalt und Landesherrschaft Im System der Landesherrschaft auf der iberischen Halbinsel befand sich das gesamte Territorium idealiter als „iugum reale“ in der Hand des Königs. Dieser vergab Land an seine Vasallen, wobei mit Landvergabe zugleich die Gerichtsbarkeit und die Verwaltung über das Land mit übertragen wurden. Daraus entstand im Laufe des 13. Jahrhunderts der sog. „poder señorial“, die Fürstengewalt, die sich insbesondere daraus definierte, dass der Landesherr autonom in Gerichtsbarkeit und Verwaltung war.7 Das Königtum in Kastilien betonte aber immer wieder, dass diese Gewalten vom König delegiert waren. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfuhr diese Praxis seitens des Königtums eine Veränderung, die vor allem mit der Stärkung des Adels in Zusammenhang stand. Der König vergab nun das Territorium nicht mehr zugleich mit der Übertragung der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung über das Land, sondern vielmehr als „señorio territorial“.8 Dies führt dazu, dass in den alten Territorien Kastiliens sich die Landesherren als Gerichtsherren und Verwalter ihres Landes ansahen, während in den durch die Reconquistas wiedereroberten Gebieten insbesondere die territoriale Fürstengewalt ohne Gerichtsbarkeit und Verwaltung Einzug fand. Beide Modelle schufen eine Herausbildung des landbesitzenden Adels, aber weder einen wirtschaftlich-sozialen noch im politischen Sinne homogenen Adel. Die Bandbreite der Adelsfamilien erstreckte sich von vermögenden und einflussreichen Hochadligen bis zu den verarm5 6 7

8

Vgl. Luis Suarez Fernandez: Nobleza y Monarquia. Puntos de Vista sobre la historia castellana del siglo XV, Valladolid 1959. Vgl. José Enrique López de Coca Castañer: El reino de Granada en la época de los Reyes Católicos: repoblación, comercio y frontera, Granada 1989. Juan José Iglesias Rodríguez: Monarquía y nobleza señorial en Andalucía: estudios sobre el señorío de El Puerto (siglos XIII–XVIII), Sevilla 2003, S. 24ff; Cristina Jular Pérez-Alfaro: Dominios señoriales y relaciones clientelares en Castilla: Velasco, Porres y Carcamo (siglos XIII–XIV), Revista española de historia, 56 (192), S. 137–171. Robert Boutruche: Señorío y Feudalismo: El Apogeo, Mexico 1979, S. 63ff.

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ten Hidalgos.9 Akzentuiert werden muss hier bereits, dass sich Hochadelige und Hidalgos in beiden Landvergabe-Modellen fanden. Insofern war die gesellschaftliche Stellung des einzelnen Adeligen nicht abhängig von der Frage, ob dieser mit seinem Landbesitz auch zugleich eine Gerichtsbarkeit und eine Verwaltung vom König übertragen bekommen hatte. Dies spielte vielmehr in der Selbsteinschätzung und Selbstbetrachtung politischer Macht seitens des Adels eine Rolle. Nicht außer Acht gelassen werden darf insbesondere, dass im 13. Jahrhundert der sog. Majorazgo entstand, ein Privileg, bei dem die Vererbbarkeit des Landes an den ältesten Sohn abgesichert wurde.10 Dies führte dazu, dass insbesondere diejenigen adeligen Landbesitzer, die nicht gleichzeitig über die Gerichtsbarkeit und die Verwaltung im Territorium verfügten, in Folge des Majorazgo eine vererbbare Größe schaffen konnten, die später zu großen Landbesitzen führen sollte. In der Frühen Neuzeit wurde seit 1505 der Majorazgo dann vom Privileg zum Recht.11 Die Inhaber eines Majorazgo durften über alle Rechte und Güter, die aus ihrem Landbesitz hervorgingen, verfügen, jedoch nicht selbst über das Land herrschen. Sie waren nichts anderes als Administratoren und Nutznießer eines vom König übertragenen herrschaftlichen Territoriums.

3. Die Regentschaft der katholischen Könige und der Übergang zum 16. Jahrhundert Die in der Adelsgesellschaft Kastiliens fehlende Homogenität kam im 15. Jahrhundert immer stärker zum Vorschein.12 Gekennzeichnet wurde dies insbesondere durch die unterschiedlichen Adelsklassen. Der Hochadel umfasste nicht mehr wie zwei oder drei Dutzend Familien, die vor allem über die entsprechenden vom König verliehenen Titel (Duque = Herzog, Conde = Graf, Marqués = Marquis) verfügten.13 Diese adeligen Familien besaßen auch jene Merkmale, die insbesondere den Hochadel dieser Zeit des 9

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12 13

Bianca Maria Lindorfer: Kampf gegen Windmühlen. Der niedere Adel Kastiliens in der frühen Neuzeit (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder, 9), Oldenburg 2004, S. 39ff. Vgl. Bartolomé Clavero: Mayorazgo: Propiedad Feudal En Castilla, 1369–1836, Madrid 1974. Hinsichtlich einer beispielhaften Einzelstudie zu einer Adelsfamilie: José Antonio García Luján: Nobleza y monarquía: los linajes nobiliarios en el reino de Granada, siglos XV–XIX; el linaje Granada Venegas, marqueses de Campotéjar; actas del simposio celebrado en Huéscar del 16 al 18 de septiembre de 2010, Huescar 2010. Agustín Cano de Santayana y Batres: El Mayorazgo de las Leyes de Toro de 1505, in: Colaboraciones 2003 (8), S. 21–34. Ricardo García Cárcel u. a.: Historia de España, Band 5: La España del siglo XVI, Madrid 2003. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 9), S. 31. Vgl. ebd. S. 33.

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Übergangs zur Frühen Neuzeit ausmachten: Reichtum – Privilegien – soziales Ansehen. Ihre Stellung im Hochadel bedeutete in Kastilien allerdings nicht, dass sich dieser politisch in den Vordergrund drängte bzw. dem König als Opposition gegenübertrat. Vielmehr begnügten sich die kastilischen Herzöge, Grafen und Marquis damit, der Krone und dem König zu dienen, indem sie in kriegerischen Zeiten das Heer stellten, in der Diplomatie mit den übrigen europäischen Adelshäusern in Kontakt standen und in der inneren Verwaltung loyal dem König dienten.14 Seinen Höhepunkt erreicht diese adelige Zurückhaltung und Loyalität gegenüber dem König in der Regentschaft Philipps II., in der alle hohen Ämter in den königlichen Organen durch Hochadelige besetzt wurden.15 Anzumerken bleibt, dass Karl V. auch im Hochadel versuchte, selbst eine Differenzierung vorzunehmen, indem er den so genannten Stand der Grandes ins Leben rief. Zu den Grandes gehörten nur wenige Familien des Hochadels (z. B. die Herzöge von Alba), und dies sollte auch nach Ansicht Karls V. so bleiben. Allerdings nahm in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und unter der Regentschaft Philipps II. die Zahl der Grandes deutlich zu.16 Dem Adel zugehörig ist zu diesem Zeitpunkt auch der Stand der Ritter, die sog. Caballeros. Die Ritter verfügten über keine vom König übertragenen Titel. Allerdings war ihre wirtschaftliche Stellung in der Gesellschaft tragend. Fließende Übergänge gab es teilweise zum Stand der Hidalgos. Während des 14. Jahrhunderts versuchten sich die Ritter von den Hidalgos dahingehend abzugrenzen, dass sie in den Städten eine lokale Elite und Führungsschicht gründeten. Viele Ritterfamilien waren wirtschaftlich stark und bezogen von ihren Vasallen Einkünfte.17 Manche von ihnen besaßen auch Kommenden.18 Eindeutig konnte der Ritter vom Hidalgo dann unterschieden werden, wenn er einem der drei Militärorden (Santiago, Calatrara oder Alcántara) angehörte.19 Die Hidalgos gehörten zum verarmten Landadel. Sie waren insbesondere im Norden Kastiliens anzutreffen, dem Gebiet von dem aus die Reconquista ihren Anfang genommen hatte.20 Hier ist auch der Grund zu finden, weshalb man in dieser Region besonders viele Hidalgos vorfindet. Denn für kriegerische Dienste wurden im Laufe der Reconquista einer adeligen Familie entstammende Krieger vom König für ihre besonderen Verdienste geehrt. 14 15 16 17 18 19 20

Antonio Dominguez Ortiz: Las clases privilegiadas en la Espana del antiguo regimen (Coleccion Fundamentos 31), Madrid 2012, S. 50. David Garcia Hernan: La nobleza en la España moderna, Madrid 1995, S. 24ff. Dominguez Ortiz: Las clases (wie Anm. 14), S. 71. Zum 17. und 18. Jahrhundert vgl. H. M. Scott (Hrsg.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, London/New York 1995. Vgl. Lindorfer: Kampf (wie Anm. 9), S. 34. Garcia Hernan: La nobleza (wie Anm. 15), S. 21. David E. Vassberg: Tierra y sociedad en Castilla: señores „poderosos“ y campesinos en la España del XVI, Virginia 1986, S. 126–127.

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So hatte Heinrich IV. 1464 ein Edikt erlassen, mit dem er alle Personen zu adeln beabsichtigt, die ihm mit Waffen und auf eigene Kosten gegen rebellische Hochadelige dienen würden.21 Die katholischen Könige waren diesem Gedanken auch nicht abgeneigt und bestätigten viele dieser Privilegien und Ernennungen im Laufe ihrer Auseinandersetzungen um die Thronbesteigung und vor allem im kastilischen Bürgerkrieg. In der letzten Phase der Reconquista und damit der Eroberung von Granada wurden noch zahlreich solche Adelstitel und Privilegien vergeben.22 Wie bereits angedeutet, mussten sich die katholischen Könige in einer sehr wirren und undurchsichtigen Zeit eines Bürgerkrieges zwischen 1474 und 1479 mit diesen drei Adelsformen auseinandersetzen. Denn diese verschiedenen adeligen Schichten des Reiches kämpften zu dieser Zeit um ihre Rechte und versuchten, die königliche Gerichtsbarkeit und ihre Organe – in Form des Consejo Real und der Audiencia – für ihre Interessen zu gewinnen.23 Es war ein für die Krone gefährlicher Moment, da zu diesem Zeitpunkt Teile des kastilischen Adels erstmals vehement gegen die Krone aufbegehren. Verschiedene Adelsfamilien unterstützten verschiedene Kandidaten für den kastilischen Thron. Schließlich sollte Isabella 1479 in der Thronfolge als Siegerin hervorgehen. Eine weitere Polbildung ist festzustellen im Hinblick auf die Städte, die sich zusammenschlossen, um dem Königtum gestärkt entgegenzutreten. Im Gegensatz hierzu trat der Adel niemals als Ganzes gegen den Monarchen auf. Vielmehr konnte dieser immer mit der Unterstützung einzelner Gruppierungen des Adels rechnen. Der Erfolg der katholischen Könige ist zum großen Teil auf das Gleichgewicht, das sie in der kastilischen Gesellschaft aufrechterhalten konnten, zurückzuführen. Die frühe Geschichtsschreibung neigte bisweilen dazu, die katholischen Könige und den Adel in zueinander gegnerischen Positionen darzustellen. Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts sehen diese Beziehung differenzierter.24 Sie unterstreichen, dass es nie die Absicht der katholischen Könige war, den Adel zu bekämpfen. Er sollte vielmehr in ihren Augen der Garant der sozialen Ordnung bleiben. Nur die aufbegehrenden Teile adeliger Kreise und die Gegner Isabellas sollten mundtot gemacht werden. Diese politische und gesellschaftliche Situation sollte sich auch auf die Gerichtsbarkeit auswirken, die mit der Thronbesteigung der katholischen Könige und der für 20 Jahre letztmalig einberufenen Ständeversammlung des Jahres 1480 in Toledo einer Reform unterzogen werden sollte.25 Hierbei

21 22 23 24 25

Lindorfer: Kampf (wie Anm. 9), S. 38. Marie Claude Gerbet: Les guerres et l’accès à la noblesse en Espagne de 1465 à 1592. Mélanges de la Casa de Velázquez, Paris 1972 (8), S. 318–319. Ignacio Czeguhn: Die kastilische Höchstgerichtsbarkeit 1250–1520 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 40), Berlin 2002, S. 90. Luis Suarez Fernandez: Nobleza y Monarquia, Valladolid 1959. Czeguhn: Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 23), S. 92ff.

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versuchten die katholischen Könige den Adel an sich zu binden mit dem Erhalt der „señorios jurisdiccionales“ den Pakt mit eben diesem erneuerten. Dieser Pakt beinhaltete, allen Territorialherren, denen Gerichtsbarkeit und Verwaltung seitens eines Königs übertragen wurden war, diese weiterhin zuzuerkennen. Allerdings zeitigte dies ein Folgeproblem. Die Städte fühlten sich durch die katholischen Könige ungleich behandelt und protestierten. Hinsichtlich der Nutzung von Gerichtsbarkeit hatte dies zur Folge, dass sich die Städte künftig verstärkt an die Chancilleria y Audiencia wenden mussten, während der Adel den Consejo Real (Königlichen Rat) als sein Gerichtsorgan betrachtete.26 Dies überrascht dann nicht, wenn man bedenkt, dass der Königliche Rat mit Adeligen besetzt ist, während die Chancilleria y Audiencia seit ihrer Reform des Jahres 1480 mit Juristen besetzt wurde. Die Städte vertrauten den universitär ausgebildeten Richtern an der Chancilleria y Audiencia selbstverständlich mehr als einem durch Adelige besetzten Gerichtsorgan. Diesen schon in der Regentschaft der katholischen Könige verankerten Problemen gesellten sich nach dem Tod Isabellas im Jahre 1504 weitere hinzu.

4. Der Tod Isabellas und der Kampf um die Gerichtsbarkeit: Fürstengewalt versus königliche Gewalt Der Tod Isabellas I. im November 1504 warf eine schwierige Frage der Erbfolge in Kastilien auf. In der zweiten Hälfte des Jahres 1500 wurde die Erbfolge zugunsten der Tochter des Herrscherpaares und deren Mann entschieden, d.h. zugunsten von Johanna, die allerdings 1504 für geisteskrank erklärt wurde und damit regierungsunfähig war, und dem Habsburger Philipp, Herzog von Burgund. Ferdinand – der Mann Isabellas – hatte zunächst kein Recht auf die kastilische Herrschaft. So regierte vom 26. November 1504 bis zum 25. September 1506 Philipp der Schöne als rechtmäßiger König. Diese beiden Regierungsjahre Philipps des Schönen werden im Hinblick auf die uns interessierende Frage dahingehend zu beantworten sein, dass das Handeln des Königs den Adel nicht beeindruckte. Vielmehr versuchte er, seine Privilegien und Rechte auszubauen. 1506 übernahm dann Ferdinand von Aragon nach dem Tod Philipps als Regent die politische Führung Kastiliens für die regierungsunfähig erklärte Johanna. Unter der Regentschaft Ferdinands wurde die Opposition des Adels noch größer. Der Adel versuchte eine „übertragene Gerichtsbarkeit“ zu einer „unabhängigen Fürstengerichtsbarkeit“ umzuwandeln. Augenfällig wurde dies auch durch die Reaktion des Königtums, die zunächst in Ciudad Real begründete zweite Chancilleria y 26

Ebd.

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Audiencia nach Granada zu verlegen.27 Diese Verlegung diente der Festigung der vom König verfolgten Politik gegenüber dem letzten durch die Reconquista wieder erobertem Gebiet. Andalusien befand sich weit vom Gebiet des Königshofes entfernt.28 Es war mithin erforderlich, dort als Zeichen der neuen Autorität ein königliches Organ der Gerichtsbarkeit zu etablieren. Dies erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem der Adel in Andalusien und im Süden der iberischen Halbinsel versuchte, seine Macht auszudehnen. Als Beispiel mag die Belagerung Gibraltars durch den Herzog von Medina Sidonia dienen, der 1506 versuchte, dieses Gebiet an sein Territorium anzuschließen. In Cordoba erfolgte der Aufstand des Marquis von Priego, der mit dem Sturm auf das Gefängnis seinen Höhepunkt nahm und blutig endete. Beide Beispiele stehen für den Versuch des Adels, die königliche Ordnung in den neuen Gebieten zu stören, vielleicht sogar einen Thronsturz einzuleiten. In beiden Fällen griff die Chancilleria y Audiencia zu Gunsten der Krone ein.29 Nicht anders ist es zu erklären, weshalb im Jahre 1508 Ferdinand eine königliche Verordnung erließ, in der er der Chancilleria y Audiencia Befugnisse zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung übertrug.30 Doch schon bald sollte sich das Verhältnis des Königs zur Chancilleria und Audiencia ändern. Kurz nach seiner Rückkehr aus Neapel, das Ferdinand dem Königreich Aragón einzuverleiben versuchte, traf er Entscheidungen, die das politische Schicksal der Chancilleria bestimmten. So wurden einige Richter an der Chancilleria und Audiencia entlassen, insbesondere solche, gegen die sich einige Familien des Hochadels beschwert hatten.31 Ferdinand war in dieser Situation besonders auf die adeligen Familien angewiesen, da es ihm darum ging, das 1501 dem Königreich Aragón einverleibte Neapel nicht zu verlieren und dort seine Macht zu stärken. Dies konnte er nur durch die Einrichtung und Errichtung einer eigenen Verwaltung mit spanischen Adeligen durchführen. Allerdings hatte sich die Chancilleria y Audiencia durch ihr bis dahin effektives Wirken große Anerkennung erworben. Sie profitierte von ihrem Ruf, den sie seit den katholischen Königen und deren Reformen besaß. Die Zahl an Prozessen, die an die Chancilleria gebracht wurden, war hoch. Der Adel beschwerte sich bei Ferdinand, die Prozessdauer sei zu hoch und so käme die Gerechtigkeit im eigenen Königreich nicht zum Tragen. Ferdinand widerrief daher im Jahre 1511 27

28

29 30 31

José Manuel Pérez Prendes: El Derecho municipal en el Reino de Granada, in: Revista de Historia del Derecho, II (1978), S. 371–459ff. Die Entscheidung soll allein von Isabella getroffen worden sein. So hielt sich Ferdinand mit seinem Hof nur zweimal in Andalusien auf: 1508 September bis Dezember und 1511 Januar bis Juni; vgl. Antonio Rumeu de Armas: Itinerario de los Reyes Catolicos, 1474–1516, Madrid 1974, S. 347–349 und 369–372. Vgl. José Luis Cano de Gardoqui/Antonio de Bethencourt: Incorporación de Gibraltar a la Corona de Castilla, in: Hispania 103 (1966), S. 326–381. Vgl. Real Provision Sevilla, 12.11.1508. Vicente Beltrán de Herdia: Cartulario de la Universidad de Salamanca (1218–1600), Salamanca 2001, Band II, S. 505.

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zahlreiche Vorschriften, die vor allem gegen die Willkür der Richter erlassen worden waren.32 Eine schnelle Entscheidung von Prozessen wurde vorangetrieben.33 Vereinzelte Vorwürfe, einige Richter hätten „keinen ordentlichen Umgang“, nutzte der König, um Maßnahmen zu ergreifen, die am Ansehen und der Autorität der Chancillerias rüttelten. So wurden Prozesse, an denen Adelige beteiligt waren, von den Chancillerias y Audiencias an den Königlichen Rat verwiesen. Dies geschah mittels sog. „Cédulas de suspensiones de pleitos“, königliche Suspensivverfügungen. Auffällig ist, dass solche „cédulas“ immer zugunsten von Adeligen den Prozess suspendierten, und zwar solcher, denen eine Niederlage im Prozess drohte.34 Doch der König zog auch selbst eine zahlreiche Anzahl von Fällen an sich, um diese selbst zu entscheiden. So z. B. im Jahre 1511 als Juan Arias de Avila – Ratsherr von Segovia – vor der Audiencia gegen die Marquisa de Moya klagte. Es ging um einen Teil des Gemeindebezirks Ferdinands in Segovia, das er aufgrund seiner Gnade der Marquise zu Lehen gegeben hatte. Die Ratsherren brachten vor, dieses Land könne nicht an die Marquisa vergeben werden, da es dem Land Segovias und damit der Stadt zugehörig sei. An die Chancilleria vorgebracht, wurde diese an einem Urteil durch königliche Verfügung gehindert. Der König führte aus, es sei „ein Fall von solcher Qualität, dass er nicht ohne seine vorherige Unterrichtung entschieden werden könne“. Er verfügte, alle Originale und Urkunden an ihn zu senden und ordnete an: „Urteilt und entscheidet nicht ohne meinen eigenen persönlichen Auftrag“35 . Es sind sogar Fälle bekannt, so wie der des Grafen von Tendilla, in dem der Hochadel königliche Urkunden erwirkte, die es untersagten, gegen ihn Prozesse ohne vorherige Anhörung des Königs durchzuführen. So spricht Carlos Garriga auch davon, „dass der Schatten des Monarchen sich allgegenwärtig in den Prozessen zeigte und er omnipräsent war“36 . Zahlreiche Prozesse können im Archiv des Königlichen Rates eingesehen werden, aus deren Unterlagen hervorgeht, dass diese vorher an den Chancillerias y Audiencias anhängig gemacht worden waren. Auf eine Beschwerde der Chancilleria y Audiencias hin antwortete der Rat: „Ihr sagt, Ihr hättet geschworen, die Gesetze zu hüten, nun, so schwören wir auch im Rat; und die Einhaltung der Gesetze wird durch gute Verwaltung der Justiz und die Bewahrung des Guten für den Staat erreicht und durch die Konsultation und die Information ihrer Majestät, damit die Parteien Genugtuung erfahren, so werden Gesetze gehütet und der Eid erfüllt und nicht auf eine 32 33 34

35 36

Real Provision von Sevilla vom 12.04.1511, OChG 1551, fol. 34, fol. 35 und fol. 36. Real Provision von Sevilla, 12.04.1511, OChG 1551, fol. 36 und fol. 37. Vgl. Real Cédula Laredo vom 17.08.1496, Archivo de la Real Chancilleria de Valladolid, Libro de Actas del Acuerdo I, fol. 26. Real Cédula de Burgos, 2.10.1496, Archivo de la Real Chancilleria de Valladolid, Libro de Actas del Acuerdo I, fol. 29.Real Cédula Medina del Campo, 18.10.1504, Archivo General de Simancas, Diversos de Castilla, leg. 1, fol. 70. Real Cédula Madrid 6.01.1511, OchV 1545, fol. 13. Carlos Garriga: La Audiencia y las Chancillerias castellanas 1371–1525, Madrid 1994, S. 169. Zum Ganzen auch Czeguhn: Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 23), S. 113.

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andere Weise.“37 Damit war unverkennbar ausgedrückt, dass der Königliche Rat die Autonomie der Chancilleria und Audiencias als richterliches und höchstrichterliches Organ nicht voll achtete. Das mit kundigen Rechtsgelehrten besetzte Organ stand fortan unter dem Einfluss Ferdinands, der sich als absolutistischer Herrscher eine Prozesskontrolle nach Gutdünken erwirkte hatte. Dieses Verhalten Ferdinands hatte zur Folge, dass die Chancillerias und Audiencias in eine Krise gerieten. Der Adel hatte die politische Schwäche Ferdinands erkannt und verstand es, zu opponieren. Ein fest umrissener und durch die Reformen der katholischen Könige effektiver gerichtlicher Apparat drohte nun aus allen Fugen zu geraten. Ferdinand – ein Verehrer Machiavellis – hatte sich nach der Rückkehr aus Neapel einem Ränkespiel hingegeben, das seine königliche Macht erhalten und ausweiten sollte. Hierfür stützte er sich auf den Hochadel, was allerdings die Proteste der Städte hervorrief. Das Eingreifen in das richterliche Wirken der Chancillerias y Audiencias zugunsten großer Adelsfamilien wurde von anderen sozialen Gruppen im Reich mit Argwohn betrachtet und hatte deren Protest zur Folge. So sollte Ferdinands Sohn Karl – als Karl V. späterer römisch-deutscher Kaiser, als Karl I. König von Spanien – zu einem Zeitpunkt den Königstitel von Kastilien und Aragon erwerben – Karl ließ sich am 14. März 1516 in Brüssel zum König von Aragón und Kastilien ausrufen –, an dem sich die Gerichtsbarkeit der Chancillerias und Audiencias in einer Krise befand. Auch Karl sollte zunächst nur zögernd notwendige Maßnahmen ergreifen, um politische Stabilität zu gewährleisten. Zu stark war unter Ferdinand der Hochadel und Adel geworden, der es nun verstand, seine Interessen politisch in den Vordergrund zu rücken. Dieser selbstbewusste Adel verlor nun selbst den Respekt vor den königlichen Organen und den königlichen Entscheidungen. So zeigte sich dies auch im Fall des Grafen von Urueña: Dieser verlor 1516 einen Prozess vor der Chancilleria y Audiencia in Valladolid und legte eine Supplikation vor dem Königlichen Rat ein, die sodann im Auftrag des neuen Königs Karls I./V. abgelehnt wurde. So entschieden, wurde der Fall zurück an die Audiencia in Valladolid verwiesen, um dessen Vollstreckung zu betreiben. Als die Vollstrecker der Audiencia in den Besitztümern des Grafen erschienen, um das Geld einzutreiben, wurden diese von Bewaffneten des Grafen abgehalten. Sie folterten und misshandelten die Vollstrecker und missachteten offenkundig eine Urkunde mit dem königlichen Siegel. Hier ging es um einen Affront nicht nur gegen ein königliches Organ der Chancilleria y Audiencia, sondern gegen die Krone und damit gegen den neuen König selbst. So war die Chancilleria y Audiencia von Valladolid gezwungen, als Institution der Monarchie handeln, um ihr Ansehen nicht endgültig zu verlieren. Sie enthob zunächst den Grafen aller seiner Ämter – dieser war Notar und Gerichtsschreiber für die Fälle der Adeligen gewesen – die er an der Chancilleria

37

Archivo General de Simancas, Estado, leg. 1–2, fol. 104.

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versah. Darüber hinaus verbot sie ihm – wahrscheinlich ihre Kompetenzen überschreitend –, dass man ihm die vom König durch Privileg gewährten Einkünfte gewähre und zwar im gesamten Reich. Sie verfügte des Weiteren, dass der Graf niemals als Kläger an der Chancilleria auftreten durfte, und drohte jedem Anwalt und Prokurator für den Fall, dass er den Grafen vertreten würde, mit Amtsverlust.38 Durch dieses Handeln und durch diese Verfügungen hatte die Chancilleria den Grafen aus der gesellschaftlichen, politischen und gesetzlichen Ordnung ausgestoßen. Selbst der Königliche Rat, der von den Verfügungen der Chancilleria y Audiencia in Kenntnis gesetzt worden war, riet dem König, diese Entscheidungen nicht zu verändern. Ansonsten laufe die Krone und der König Gefahr, sein Ansehen zu verlieren und die Glaubwürdigkeit an der Durchsetzung der Gerechtigkeit zu zerstören.39 Bei alldem blieben jedoch die Cedulas de suspensiones, die Ferdinand eingeführt hatte unter Karl I./V. in Kraft. Dies war einer der Gründe, weshalb die Städte in den Ständeversammlungen zahlreiche Protesteingaben machten, jedoch von der Krone und dem König ungehört blieben.40 Dies sollte letztlich auch zu dem Protest und zum Aufstand 1520 führen. Der Aufstand der sog. Comuneros von 1520–22 wurde durch Karl I./V. mit Unterstützung des Adels niedergeschlagen.41 Auffällig war bei diesem Aufstand, dass sich die Chancilleria und Audiencia von Valladolid auf die Seite der Aufständischen schlug. Nach Niederschlagung des Aufstandes sah sich der Adel nun in einer sehr vorteilhaften Stellung. Daher wurden die Rufe nach Appellationsprivilegien zugunsten der Adeligen und der Territorialherren immer lauter. Als Karl sich nicht durchringen konnte, diese Appellationsprivilegien zu gewähren, unterbanden die Territorialherren in der Praxis Appellationen an die königlichen Chancillerias y Audiencias durch Druckmaßnahmen. So wurden gegen solche Untertanen, die gegen die Urteile der landesherrlichen Gerichte eine Appellation an die Chancillerias y Audiencias richtete, die Steuern erhöht, Verhaftungen vorgenommen, eingekerkert und gefoltert sowie des Landes verwiesen. Der König unterließ es, gegen diese Maßnahmen der Territorialherren vorzugehen, was wiederum Beschwerden seitens der Untertanen an die Chancilleria und Audiencias sowie an den Monarchen direkt zur Folge hatte. Doch in der Praxis änderte sich nichts, und so unterbanden die meisten Territorialherren Appellationen an die Audiencia und Chancilleria oder an den König direkt. Offiziell gab es allerdings im Unterschied zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation keine 38 39 40 41

Archivo General de Simancas, Diversos de Castilla, leg. 39, fol. 57, Valladolid 28.04.1517; vgl. zu diesem Fall auch Czeguhn: Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 23), S. 115. Archivo General de Simancas, Diversos de Castilla, leg. 39, fol. 65. Cortes de Valladolid 1518, CLC IV, S. 267–268. Umstritten ist, ob tatsächlich eine Revolte oder eher eine Revolution vorlag; vgl. José Luis Bermejo Cabrero: Las Comunidades de Castilla (1520–1521). Revuelta o revolutión?, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Revolution, Reform, Restauration. Formen der Veränderung von Recht und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 235–250.

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privilegia de non appellando oder privilegia de non evocando. Karl I./V. erteilte kein einziges solches Privileg an spanische Territorialherren. Allerdings unternahm er auch nichts gegen das Handeln der adeligen Landbesitzer gegenüber ihren Untertanen. Nur in seinem politischen Testament des Jahres 1555, das er Philipp II. hinterließ, finden sich kritische Anmerkungen gegen diese Handlungsweisen: „soweit ich informiert wurde, haben einige grandes und cavalleros meiner Reiche und Herrschaften ihre Untertanen an der Einlegung von Appellationen an Uns und Unsere Audiencia und Chancilleria gehindert, das (Appellationen Einlegen; I.G.) dürfen die Untertanen allerdings nach dem Recht und Gesetz Unserer Reiche; und wenn dies in Zukunft weiterhin geschieht, so wäre dies ein großer Schaden für die Justiz, dem Vorrang der Krone und der höchsten Gerichtsbarkeit und würde die Untertanen Unserer Reiche verletzten.“42

und „Folglich, wenn etwas oben erwähntes geschehen ist und nicht vermieden wurde so nur deswegen, weil es mir nicht mitgeteilt wurde (...) sie sollen es nicht gestatten, zulassen und sollen Sorgfalt walten lassen was die Wahrheit anbetrifft (...) vermeiden sollen sie es und korrigieren so wie es angebracht ist. So widerrufe ich, hebe auf und annulliere und erkläre für unwirksam und ohne Wert jeglichen usus und Gewohnheit, die hierüber geschahen (...) aus eigenem Antrieb tue ich das und königlicher, absoluter Macht. Sie sollen straffällig werden, wie diejenigen, die die königliche Gerichtsbarkeit usurpieren oder verhindern.“43

In diesen beiden Absätzen wird deutlich, dass Karl V. zum Ende seines Königtums erkannt hatte, zu welchen Einbußen königlicher Gerichtsbarkeit die Praxis der Territorialherren führte. Auch die Erfahrungen aus dem Heiligen Römischen Reich mit den Appellationsprivilegien mag zu dieser Einsicht geführt haben, dass Territorialherren tunlichst keine Macht über das Recht in Form eine letztinstanzlichen Entscheidung durch Ihre Gerichte verliehen werden sollte. Zudem sah Karl V. das Problem der „königsfernen Gerichtsbarkeit“ für die Untertanen, die sich direkt bei ihm über die Maßnahmen und Vorgehensweise der Territorialherren beschwert hatten. Für die Untertanen wollte ein König 42

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„por cuanto yo e sido informado que algunos grandes y cavalleros de mis reinos y señorios, por formas y maneras que an tenido, an dado, hecho y puesto impedimento a los vezinos y moradores de sus tierras para que no apelasen dellos, ni de sus ministros de justicia para Nos y Nuestras Chancillerías, como por derecho y leyes de nuestros reynos lo pueden y deven hazer y, si esto pasase adelante y no se remediase, sería en mucho detrimento de la justicia, preeminencia real y suprema jurisdicción y daño de los subditos naturales de nuestros reinos. (. . . )“ Das Testament ist abgedruckt in: M. Fernandez Álvarez, (Hrsg.) Corpus des Carlos V. Salamanca : Universidad de Salamanca 1975, v. II, pp. 569–592. Ebd.: „Por ende, (. . . ) si algo de lo susodicho a pasado y quedado por remediar, a sido por no aver claramente venido a mi noticia (. . . ) que no lo consientan, ni permitan, y pongan diligençia en saber la verdad (. . . ) y lo remedien y enmienden como convenga. Y por la presente, de mi propio motu y poderío real absoluto, revoco, caso y anulo y doy por ninguno y de ningun efeto y valor qualquier uso y costumbre, que sobre esto aya avido (. . . ) ni dexar de incurrir en las penas, en que caen los que usurpan o impiden la jurisdiçión real“.

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Ignacio Czeguhn

des 16. Jahrhunderts an sich immer noch höchster Richter sein. Dies zeigte Karl I./V. auch durch sein Verhalten gegenüber den „neuen Untertanen“ der spanischen Krone, den Indios, für deren Beschwerden er immer ein offenes Ohr gehabt hatte.44 Doch auch sein ältester und einzig überlebender legitimer Sohn Philipp II., der 1556 das Erbe Karls V. als spanischer König antrat, änderte nichts an der bestehenden Praxis. So blieben den Untertanen zumeist die königlichen Höchstgerichte als Instanz oft versperrt.

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Ignacio Czeguhn: Sklavereigesetzgebung in Spanien und Portugal der frühen Neuzeit sowie in den ersten Jahrzehnten der Kolonisierung in Amerika, in: Ulrike Müßig (Hrsg.), „Ungerechtes Recht“. Symposium zum 75. Geburtstag von Dietmar Willoweit, Tübingen 2013, S. 108.

Frank Jung

Die Gleichheit vor dem Gesetz. Cesare Beccaria, das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe Den Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen bildet Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene, das im Frühjahr 1764 in Livorno gedruckt worden war und sich seit der sogenannten dritten Ausgabe ebenfalls mit den Strafen für den Adel („Pene dei nobili“) befasste.1 Der mailändische Adelige Beccaria empfahl, wenn nachweislich eine Straftat verübt worden sei, bei der Bestrafung keinen Unterschied zwischen Adeligen und Nichtadeligen zu machen. Dass sich Beccaria für eine Gleichheit vor dem Gesetz aussprach, so die erste These, folgt sowohl aus seiner Konstruktion des Gesellschaftsvertrages als auch aus seiner Definition von Verbrechen und Strafe. Angesichts der Verbreitung und Wirkung, die Beccarias Schrift europaweit entfaltete2 , wird anschließend dargelegt, inwiefern Beccarias Forderung, dass Strafgesetze für Adelige und Nichtadelige gleichermaßen zu gelten haben, Eingang in das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 gefunden hat.3 Da der toskanische Großherzog Pietro Leopoldo sein Verfassungsprojekt begann, bevor er die Kriminalgesetzgebung reformierte, wird ebenfalls knapp skizziert, 1

2

3

Vgl. Cesare Beccaria: Dei delitti e delle pene, hrsg. v. Gianni Francioni, in: Cesare Beccaria, Edizione nazionale delle opere, Bd. 1, Mailand 1984, S. 13–214, hier S. 73f. Es handelt sich bei der edierten Fassung um die sog. fünfte Edition, die von Beccaria autorisiert war und 1766 in Livorno gedruckt wurde. Vgl. Gianni Francioni: Nota al testo, in: ebd., S. 215– 368, hier S. 324–327; Luigi Firpo: Le edizioni italiane del «Dei delitti e delle pene», in: ebd., S. 369–702, hier S. 444–466. Für eine knappe deutschsprachige Skizze der Person Beccarias siehe Eberhard Weis: Cesare Beccaria (1738–1794), Mailänder Aufklärer und Anreger der Strafrechtsreformen in Europa, München 1992. Vgl. Franco Venturi: Introduzione, in: Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene. Con una raccolta di lettere e documenti relativi alla nascita dell’opera e alla sua fortuna nell’Europa del Settecento, hrsg. v. Franco Venturi, Turin 1994 [zuerst: Turin 1964], insbesondere S. XI–XXXV, sowie die zahlreichen Dokumente im Anhang, ebd., S. 164–660. Zur europäischen Rezeption siehe ferner Atti del convegno internazionale su Cesare Beccaria, promosso dall’Accademia delle Scienze di Torino nel secondo centenario dell’opera «Dei delitti e delle pene», Torino 4–6 ottobre 1964, Turin 1966; Cesare Beccaria tra Milano e l’Europa, Mailand/Rom/Bari 1990; Michel Porret (Hrsg.): Beccaria et la culture juridique des lumières. Etudes historiques, Genf 1997. Vgl. Dario Zuliani: La riforma penale di Pietro Leopoldo, 2 Bde., Mailand 1995; Andrea Nathalia Grünbart: La Riforma Leopoldina. Eine Grundlagenbetrachtung oder Die Erziehung der Toskaner zur konstitutionellen Monarchie, Diss. Salzburg 1997; Hans Schlosser: Die „Leopoldina“. Toskanisches Strafgesetzbuch vom 30. November 1786. Originaltext, deutsche Übersetzung und Kommentierung, Berlin 2010.

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wie sich die Gleichheit der (männlichen) Bürger in den leopoldinischen Verfassungsentwürfen der 1780er Jahre niedergeschlagen hat.4 Dass mit der Strafrechtsreform die Gleichheit vor dem Gesetz festgelegt wurde, so die zweite These, resultiert vor allem aus den – dem Verfassungsentwurf von 1782 vorausgehenden – staatstheoretischen Überlegungen des Großherzogs und war begünstigt durch die Eigentümlichkeit des toskanischen Adels.

1. Beccaria und die Strafen für den Adel In der ursprünglichen Fassung von Dei delitti e delle pene hatte sich Beccaria noch nicht eigens mit der Frage befasst, wie die Adeligen zu bestrafen seien. Der betreffende Abschnitt war – zunächst als Paragraph 20 – erst in der erweiterten, sogenannten dritten Auflage enthalten, die Ende 1764 in Druck ging.5 Obwohl sich Beccaria nun eigens den Strafen der Adeligen zuwandte6 , so hatte er sich – ganz im Gegensatz zu Montesquieu7 – dennoch hinsichtlich der Strafgesetze von Anfang an gegen eine Privilegierung einzelner Stände ausgesprochen8 . Ständische Privilegien konnten, so Beccaria, den Müßiggang fördern, anstatt dass ein Beitrag für die Gesellschaft geleistet werde.9 Diese Position, die Alberto Burgio gar als „antiaristocratica“ charakterisiert hat, teilte Beccaria mit anderen mailändischen Aufklärern, die an der Zeitschrift Il Caffè beteiligt waren.10

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Vgl. Joachim Zimmermann: Das Verfassungsprojekt des Großherzogs Peter Leopold von Toscana, Heidelberg 1901; Giulio Manetti: La costituzione inattuata. Pietro Leopoldo Granduca di Toscana: dalla riforma comunitativa al progetto di costituzione, Florenz 1991; Gerda Graf : Der Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1787 des Granduca Pietro Leopoldo di Toscana. Edition und Übersetzung – Das Verfassungsprojekt, Berlin 1998. Vgl. Francioni: Nota (wie Anm. 1), S. 289; Firpo: Le edizioni (wie Anm. 1), S. 382–435. Mit der sog. fünften Ausgabe wurden dann die „Pene dei nobili“ in Paragraph 21 abgehandelt. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 73f. [§ 21]. Vgl. Alberto Burgio: L’idea di egualianza tra diritto e politca nel «Dei delitti e delle pene», in: Vincenzo Ferrone/Gianni Francioni (Hrsg.), Cesare Beccaria. La pratica dei lumi. Atti del convegno 4 marzo 1997, Florenz 2000, S. 79–98, hier S. 90–96. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 34 [§ 3], S. 45 [§ 7] sowie S. 138f., S. 141. Vgl. ebd., S. 78f. [§ 24]. Siehe auch S. 91f. [§ 28]. Burgio: L’idea (wie Anm. 7), S. 87. Siehe neben dem von Burgio erwähnten Alessandro Verri und dessen „Alcune riflessioni sulla opinione che il commercio deroghi alla nobiltà“ ebenfalls Alfonso Longo: Osservazioni sui fedecommessi, in: «Il Caffè» 1764–1766, hrsg. v. Gianni Francioni/Sergio Romagnoli, Turin 1993, S. 115–132. Ebd., S. 256–274, finden sich Verris „Riflessioni“. Zur mailändischen Aufklärung siehe Christof Dipper: Politischer Reformismus und begrifflicher Wandel. Eine Untersuchung des historischpolitischen Wortschatzes der Mailänder Aufklärung (1764–1796), Tübingen 1976, und die entsprechenden Passagen von Wolfgang Rother: La maggiore felicità possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien, Basel 2005.

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Die ökonomischen und sozialen Unterschiede, die in jeder Staatsgesellschaft („società“) bestanden, erkannte Beccaria durchaus an, doch sie standen für ihn in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Staatszweck.11 Der unter dem Schutz der Gesetze erworbene Reichtum könne zwar genossen werden, dürfe aber keinerlei Autorität verleihen, um die mit dem Reichtum einhergehende Macht zum eigenen Vorteil zu nutzen.12 Dementsprechend hatte Beccaria schon in der ersten Auflage betont, „né il grande né il ricco debbono poter mettere a prezzo gli attentati contro il debole ed il povero“.13 Sollte es dennoch sein, dass strafrechtlich zwischen Mächtigen und Schwachen, Reichen und Armen unterschieden werde, es also keine Gleichheit vor dem Gesetz gebe, dann habe sich die Tyrannei in die Gesetzgebung eingeschlichen, und es trete der Fall ein, dass „l’uomo cessi di esser persona e diventi cosa“.14 Allerdings waren gegenwärtig die meisten Gesetze, wie Beccaria kritisch feststellte, nichts als Privilegien und ein Tribut aller an das Wohlergehen weniger.15 Deshalb waren Gesetzesreformen dringend erforderlich16 , da sich – entsprechend seiner Argumentation – die Tyrannei inzwischen in die Gesetzgebung eingeschlichen hatte, weil „ogni atto di autorità di uomo a uomo che non derivi dall’assoluta necessità è tirannico.“17 Wenn hingegen die Gesetze nicht einzelne Stände, sondern die Menschen gleichermaßen begünstigen und jeder das gleiche Recht habe, dann werde dadurch auch den Verbrechen vorgebeugt18 , und den Verbrechen vorzubeugen, „è il fine principale d’ogni buona legislazione.“19 Im Naturzustand – so Beccaria – hatten demgegenüber noch die spürbaren Motive gefehlt, um den despotischen Geist des Menschen

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Für Beccaria bestand der Zweck von Gesetzen letztlich darin, „la massima felicità divisa nel maggior numero“ zu bewirken. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 23 [„Introduzione“]. Siehe auch S. 121 [§ 41]. Folgt man der durchaus plausiblen Argumentation von Burgio: L’idea (wie Anm. 7), S. 82ff., dann erfordert dieses utilitaristische Grundprinzip geradezu die Rechtsgleichheit. So heißt es bei Beccaria: Dei delitti, S. 120 [§ 40]: „Finalmente è falsa idea d’utilità quella che, sacrificando la cosa al nome, divide il ben pubblico dal bene di tutt’i particolari.“ Vgl. ebd., S. 72 [§ 20], S. 88 [§ 28]. Ebd., S. 72 [§ 20], fuhr Beccaria fort: „altrimenti le ricchezze, che sotto la tutela delle leggi sono il premio dell’industria, diventano l’alimento della tirannia“. Ebd., S. 73 [§ 20]. Vgl. ebd., S. 121f. [§ 41]. Ebd., S. 23 [„Introduzione“], heißt es: „Apriamo le istorie e vedremo che le leggi, che pur sono o dovrebbon esser patti di uomini liberi, non sono state per lo più che lo stromento delle passioni di alcuni pochi, o nate da una fortuita e passeggiera necessità“. Vgl. ebd., S. 24 [„Introduzione“], wo es heißt, in ganz Europa „pochissimi, rimontando ai principii generali, annientarono gli errori accumulati di più secoli, frenando almeno, con quella sola forza che hanno le verità conosciute, il troppo libero corso della mal diretta potenza, che ha dato fin ora un lungo ed autorizzato esempio di feroce atrocità“. Ebd., S. 29 [§ 2]. Vgl. ebd., S. 121f. [§ 41]. Ebd., S. 121 [§ 41].

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zu bändigen und ihn davon abzuhalten20 , anderen – zugunsten des eigenen Wohls – zu schaden21 . Im Zusammenhang mit der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz kam Beccaria wiederholt auf den Rechtsakt zu sprechen, als sich die Menschen zu einer Staatsgesellschaft zusammenschlossen und mittels des Gesellschaftsvertrages die ersten Gesetze gaben, um ihr Zusammenleben langfristig zu regeln. Im Naturzustand, so Beccaria, waren die absoluten Freiheitsrechte eines Menschen nie gesichert, sondern durch den natürlichen „dispotismo di ciascun uomo“ kontinuierlich gefährdet gewesen.22 Deshalb sei es kurzfristig – aus der Not heraus – immer wieder zu Zusammenschlüssen von Menschen gekommen, die sich jedoch alsbald – mit dem Ende der Gefährdung – wieder auflösten.23 Dass für Beccaria die Geschichte der Menschheit eine schrittweise Vervollkommnung, eine stetige Verbesserung ihrer Lebensumstände war, wird erkennbar, wenn es heißt, dass sich die Menschen schließlich dauerhaft zu verschiedenen Staatsgesellschaften zusammenschlossen.24 Angesichts der im status naturalis ständig bedrohten Freiheit sei nämlich – aus Notwendigkeit – die Idee des Gemeinwohls („utilità comune“) entstanden.25 Denn im Naturzustand fehlten, wie Beccaria schrieb, die „motivi sensibili che bastassero a distogliere il dispotico animo di ciascun uomo“.26 Um in der Staatsgesellschaft das Gemeinwohl zu verwirklichen, war es erforderlich, „di riparare ai disordini del fisico dispotismo di ciascun uomo“. Den natürlichen Despotismus jedes Menschen zu begrenzen, so Beccaria, „fu il fine institutore della società, e questo fine primario si è sempre conservato, realmente o in apparenza, alla testa di tutti i codici“.27 Das Gemeinwohl, das in der Sicherheit – und folglich in dem ungefährdeten Genuss – einer größtmöglichen persönlichen Freiheit bestand28 , wurde damit zum Ausgangspunkt und zur Grundlage einer vertraglichen Übereinkunft zwischen den Menschen, die sich in ihren ersten Gesetzen konkretisierte, um das Gemeinwohl zu sichern. Gleichzeitig bildete die „utilità comune“, wie Beccaria schrieb, die Grundlage der menschlichen Gerechtigkeit29 . Das heißt, Beccaria identifizierte letztlich Gemeinwohl und Gerechtigkeit miteinander, die es mit der Gesellschaftsbildung nicht bloß kurzzeitig, sondern dauerhaft zu verwirklichen galt, und als gerecht betrachtete er dabei, was dem Gemeinwohl diente.

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Vgl. ebd., S. 26 [§ 1]. Vgl. ebd., S. 120 [§ 40]. Ebd., S. 50 [§ 9]. Siehe auch S. 25 [§ 1], S. 45 [§ 7], S. 74 [§ 21]. Vgl. ebd., S. 123 [§ 42]. Vgl. ebd., S. 123ff. [§ 42]. Siehe auch S. 23f. [„Introduzione“]. Vgl. ebd., S. 45 [§ 7]. Siehe auch S. 31 [§ 2]. Ebd., S. 26 [§ 1]. Ebd., S. 50 [§ 9]. Siehe auch S. 138. Vgl. ebd., S. 36 [§ 4], S. 50f. [§ 9]. Siehe auch S. 123 [§ 42]. Vgl. ebd., S. 45 [§ 7].

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Durch den Gesellschaftsvertrag („patto sociale“30 ), der sich in den ersten Gesetzen einer Staatsgesellschaft konkretisierte, banden sich die Menschen vertraglich, sodass sie den Naturzustand verließen und gleichermaßen zu Bürgern einer Republik wurden31 . Dieser Zusammenschluss zu einer Staatsgesellschaft war für Beccaria nicht anders denkbar, als dass er sich unter freien und gleichen Menschen vollzog, denn an dem Staatszweck, nämlich Freiheit und Sicherheit32 , hatte jeder das gleiche Interesse. Die rechtliche Gleichheit war folglich der Ausgangspunkt und die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in einem Staatswesen, zumal: „Ogni distinzione sia negli onori sia nelle ricchezze perché sia legittima suppone un’anteriore uguaglianza fondata sulle leggi, che considerano tutti i sudditi come egualmente dipendenti da esse.“33 Deswegen blieben die rechtlichen Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft weiterhin „rapporti di uguaglianza“34 , selbst wenn sich eine gesellschaftliche Stratifikation vollzogen hatte, nachdem die Staatsgesellschaft konstituiert worden war35 . Die Unterscheidung zwischen Adel („nobili“) und Volk („plebei“), die sich erst nach der Gesellschaftsgründung herausgebildet hatte, betrachtete Beccaria zwar als erbliche („distinzione ereditaria“36 ), aber diese Unterscheidung resultierte eben nicht aus dem Gesellschaftsvertrag. Infolgedessen waren die Ehre oder der Adel auch nicht als soziales Distinktionsmerkmal in den Gesellschaftsvertrag eingegangen, denn die gesellschaftliche Differenzierung hatte sich erst unter dem Schutz der Gesetze vollziehen können. Der Reichtum, wie überhaupt Eigentum, war erst aufgrund der Rechtssicherheit („sotto la tutela delle leggi“), die in der Staatsgesellschaft – im Gegensatz zum Naturzustand – bestand, zum Lohn des Fleißes („il premio dell’industria“) geworden.37 Es sei anzunehmen, wie Beccaria schrieb, um die Realitäten gesellschaftlicher Stratifikation zu erklären, dass man nach der Gesellschaftsgründung jenen Bürgern, die fleißiger waren, größere Ehren zugestanden habe als ihren Mitbürgern, und dass ihr Ruhm in den Nachkommen fortleben durfte. Eine derartige so30 31

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Ebd., S. 20 [„A chi legge“]. Siehe auch S. 33f. [§ 3] u. ö. Siehe in diesem Zusammenhang die Darlegungen „Dello spirito della famiglia“ in ebd., S. 80–83 [§ 26] sowie S. 125 [§ 42], wo von den „parlamenti delle repubbliche“ die Rede ist. Der Mensch, der sich in Gesellschaft begeben hatte, war für Beccaria unterschiedslos als Mitglied der Gesellschaft („membro della società“) ein Bürger („cittadino“); wenn Beccaria also vom Menschen („uomo“) sprach, war damit keineswegs ausschließlich der Mensch im Naturzustand gemeint. Vgl. ebd., S. 48 [§ 8]. Ebd., S. 74 [§ 21]. Siehe auch S. 51 [§ 9]. Ebd., S. 45 [§ 7]. „Si deve supporre che gli uomini che hanno rinunziato al naturale loro dispotismo abbiano detto: chi sarà più industrioso abbia maggiori onori, e la fama di lui risplenda ne’ suoi successori“. Ebd., S. 74 [§ 21]. Ebd., S. 73 [§ 21]. Vgl. ebd., S. 72 [§ 20]. Zum Eigentumsbegriff bei Beccaria siehe auch Rother: Felicità (wie Anm. 10), S. 327f., S. 333f.

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ziale Differenzierung war meritokratisch definiert, aber sie verlieh – angesichts des Gesellschaftsvertrages – keine substantiellen Vorrechte, denn der Adelige habe, falls er den Gesellschaftsvertrag und die darauf basierenden Gesetze verletzt, Sanktionen nicht weniger als die übrigen Bürger zu fürchten.38 Beccaria betrachtete es als Rückfall in den Naturzustand, wenn ein Bürger die eigene Existenz an seine Ehre knüpfte39 , zumal Ehrstreitigkeiten wiederholt zu Duellen führten. Im Duell wurde aus Sicht Beccarias – eben aufgrund der Gewaltausübung des Menschen gegenüber einem Menschen – der ursprüngliche Zustand der Ungeselligkeit („l’antico stato d’insociabilità“40 ) und somit der Naturzustand wiederhergestellt41 , der – wie erwähnt – gerade durch den natürlichen Despotismus des Menschen gekennzeichnet war. Gleichwohl stand Beccaria – als mailändischer Adeliger – Gesetzen, die das Waffentragen verboten, durchaus kritisch – um nicht zu sagen: ablehnend – gegenüber42 . Seien es nun Adel, Ehren43 oder Reichtümer44 – in einem wohlgeordneten Staatswesen durften daraus keine Vorrechte resultieren. Wenn die Großen („grandi“) dennoch Vorrechte besitzen, die Gesetze also nicht für alle gleich seien, sodass die Mächtigen über die Autorität bzw. Macht verfügen, ihre Vorrangstellung für persönliche Vorteile zu missbrauchen45 , dann werde die Idee der Gerechtigkeit durch das Recht des Stärkeren ersetzt46 . Da Beccaria aber zuvor die Gerechtigkeit mit dem Gemeinwohl identifiziert hatte, als er schrieb: „[la] utilità comune [...] è la base della giustizia umana“47 , widersprachen Vorrechte grundlegend dem Staatszweck, denn „è falsa idea d’utilità quella che [...] divide il ben pubblico dal bene di tutt’i particolari“48 . Entgegen dem ursprünglichen Staatszweck waren jedoch gegenwärtig, so Beccaria, die Gesetze meist nichts anderes als Privilegien, von denen nur einige wenige profitierten.49 Die ursprüngliche Gleichheit („antica ugualianza“50 ), die zwischen den Bürgern bestanden hatte, als mit den ersten Gesetzen zugleich der Gesell38 39 40 41 42

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Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 74 [§ 21]. Zu den Adelskonzepten der mailändischen Aufklärung siehe Dipper: Reformismus (wie Anm. 10), S. 62ff. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 50f. [§ 9]. Ebd., S. 32 [§ 2]. Vgl. ebd., S. 52 [§ 10], wo es heißt: „i duelli privati [. . . ] ebbero [. . . ] la loro origine nell’anarchia delle leggi.“ Vgl. ebd., S. 119f. [§ 40]. Ursprünglich sollte mit der Strafrechtsreform im Großherzogtum Toskana das Waffentragen nicht strafbar sein; vgl. Pietro Leopoldo: Vedute sopra le Pene, e la punizione dei delitti, no. 45, abgedruckt in Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 105–119, hier S. 113. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 49ff. [§ 9]. Vgl. ebd., S. 72f. [§ 20]. Vgl. ebd., S. 72 [§ 20], S. 88 [§ 28]. Vgl. ebd., S. 49 [§ 8]. Ebd., S. 45 [§ 7]. Zu Beccarias Unterscheidung zwischen „giustizia divina“, „giustizia naturale“ und „giustizia umana o sia politica“ siehe S. 20 [„A chi legge“]. Ebd., S. 120 [§ 40]. Vgl. ebd., S. 121f. [§ 41]. Ebd., S. 51 [§ 9]. Siehe auch S. 74 [§ 21].

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schaftsvertrag geschlossen wurde und sich dadurch die Staatsgesellschaft konstituierte, kam für Beccaria weiterhin darin zum Ausdruck, dass der Souverän eigentlich – aufgrund des „patto sociale“ – nur allgemeine Gesetze („leggi generali“) erlassen konnte, die alle Mitglieder („tutti i membri“) der Gesellschaft gleichermaßen und unterschiedslos verpflichteten51 . Gesetze, die davon abwichen und „lo stromento delle passioni di alcuni pochi, o nate da una fortuita e passeggiera necessità“, waren, bedurften hingegen der Reform.52 Angesichts der ursprünglichen Gleichheit betonte Beccaria, als er sich eigens der Frage zuwandte, wie die Verbrechen der Adeligen zu bestrafen seien53 , dass im Falle eines Verbrechens das Strafmaß für einen Adeligen, der eben zuallererst ein Bürger war, das gleiche zu sein habe wie für den letzten Bürger54 . Dementsprechend unterschied Beccaria in Dei delitti e delle pene zwar zwischen den Verbrechen, aber nicht zwischen denjenigen, die eine Straftat begangen hatten. Die Strafgesetze hatten eine allgemeine, für alle gültige Norm zu sein. Damit vollzog Beccaria den entscheidenden Schritt vom Täterstrafrecht zum Tatstrafrecht, wenn nun also die Strafbarkeit – unabhängig von Person und Stand des Täters – an einen konkreten Tatbestand geknüpft wurde. Gleichzeitig fand dadurch eine Entpersonalisierung der Straftat statt: Indem Beccaria die Strafbarkeit einer Handlung – ohne Ansehen der Person des Täters – an den bloßen Tatbestand knüpfte, löste er den Adel aus seiner spezifischen und privilegierten Stellung und überführte ihn – als Bürger bzw. Untertan – in die wechselseitige Verpflichtung der „utilità comune“. Die rechtliche Gleichheit bildete für Beccaria den Ausgangspunkt des menschlichen Zusammenschlusses und war folglich im Gesellschaftsvertrag verankert, sodass seine kontraktualistische Konstruktion argumentativ als Erklärung und als Rechtfertigung der Rechtsgleichheit fungierte. Ein weiteres – und für Beccaria ebenfalls zentrales – Argument für die Gleichheit vor dem Gesetz resultierte aus seiner Definition des Verbrechens als dem öffentlichen Schaden („il pubblico danno“), der durch die Straftat der Allgemeinheit bzw. dem Gemeinwohl zugefügt werde.55 Der Zweck der societas civilis und das Ziel einer guten Gesetzgebung, so Beccaria, „è l’arte di condurre gli uomini al massimo di felicità o al minimo d’infelicità possibile“.56

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Vgl. ebd., S. 34 [§ 3]. Beccarias Plädoyer für die Rechtsgleichheit fand ihre Entsprechung in seinen Ausführungen „Über den Familiengeist“, als er in dem betreffenden Abschnitt dem „spirito monarchico“ den „spirito repubblicano“ gegenüberstellte; letzterer sei durch „un sentimento spirante libertà ed uguaglianza“ gekennzeichnet und lehre, Wohltaten auf alle gesellschaftlichen Gruppen auszudehnen. Siehe S. 81f. [§ 26]. Ebd., S. 23 [„Introduzione“]. Vgl. ebd., S. 73 [§ 21]. Vgl. ebd., S. 74 [§ 21], wo ausdrücklich die Rede davon ist, „che [le pene] esser debbono le medesime pel primo e per l’ultimo cittadino“. Vgl. ebd., S. 75 [§ 21]. Siehe auch S. 40, S. 42 [§ 6], S. 44 [§ 7], S. 46, S. 48 [§ 8] u.ö. Ebd., S. 121 [§ 41].

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Im Gegensatz dazu waren Verbrechen „le azioni opposte al ben pubblico“57 ; als öffentlicher Schaden widersprachen sie grundlegend dem Staatszweck, nämlich das Gemeinwohl zu sichern und zu befördern. Indem Verbrechen die gesellschaftlichen Gesetze verletzten, die zum Zweck einer „utilità comune“ vereinbart worden waren, richteten sich die Verbrechen gleichzeitig gegen die Gesellschaft und ihre Verträge.58 Das Strafmaß sei, so Beccaria, entsprechend dem öffentlichen Schaden zu bemessen, und zwar unabhängig von der Person, die sie begangen habe59 ; entscheidend war also letztlich die Wiedergutmachung dieses Schadens. Daher galt es, die Verhältnismäßigkeit zwischen Verbrechen und Strafen zu wahren. Da der Staatszweck des Gemeinwohls im Gesellschaftsvertrag verankert war, blieb Beccarias Bestimmung der Strafe aufs engste mit seinem vertragsrechtlichen Denken verknüpft und eine unmittelbare Konsequenz seiner kontraktualistischen Konstruktion. Der Gesellschaftsvertrag war für Beccaria eine vertragliche Bindung zwischen Bürger und Staatsgesellschaft, aus dem eine wechselseitige Verpflichtung resultierte.60 Der Bürger hatte die im Interesse des Gemeinwohls geschlossenen nützlichen Verträge, das heißt die Gesetze der Staatsgesellschaft, zu beachten61 , während dem Souverän – als Sachwalter des Gesamtwillens („volontà di tutti“) – die Aufgabe oblag, die Rechte und die Sicherheit des Bürgers zu schützen und zu wahren62 . In diesem Rahmen diente das Strafrecht dazu, die vertraglich vereinbarten Bande zu bewahren, um nicht in den ursprünglichen Zustand der Ungeselligkeit, das heißt in den Naturzustand, zurückzufallen.63 Die Strafgesetze definierten „il limite di quella forza che può legittimamente esercitarsi tra uomo e uomo“.64 Da nun die Strafgesetze rechtlich umschrieben, was erlaubt und was verboten war, bestimmten sie sowohl die bürgerlichen Freiheiten in einer Staatsgesellschaft als auch das Verhältnis zwischen Bürger und Staatsgewalt.65 57 58 59 60

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Ebd., S. 42 [§ 6]. Vgl. ebd., S. 20–25 [„A chi legge“; „Introduzione“], S. 41–48 [§§ 6ff.]. Vgl. ebd., S. 44f. [§ 7]. Vgl. ebd., S. 30, S. 32 [§ 2], S. 34 [§ 3], S. 79f. [§ 25]. Ebd., S. 34 [§ 3], heißt es denn auch ausdrücklich: „Questa obbligazione, che discende dal trono fino alla capanna, che lega egualmente e il più grande e il più miserabile fra gli uomini, non altro significa se non che è interesse di tutti che i patti utili al maggior numero siano osservati. La violazione anche di un solo, comincia ad autorizzare l’anarchia.“ Vgl. ebd., S. 34 [§ 3], S. 38 [§ 4], S. 47 [§ 8]. Vgl. ebd., S. 36 [§ 4]. Siehe auch S. 25 [§ 1], S. 29 [§ 2], S. 33f. [§ 3] sowie S. 39 [§ 5], wo diesbezüglich von der „volontà generale“ die Rede ist. Vgl. ebd., S. 32 [§ 2]. Ebd., S. 19 [„A chi legge“]. Vgl. ebd., S. 39f. [§ 5], S. 48f. [§ 8]. Siehe auch Christof Dipper: Dispotismo e costituzione: due concetti di libertà nell’illuminismo milanese, in: Aldo De Maddalena/Ettore Rotelli/ Gennaro Barbarisi (Hrsg.), Economia, istituzioni, cultura in Lombardia nell’età di Maria Teresa, Bd. 2: Cultura e società, Bologna 1982, S. 863–901, hier S. 868f.

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Wenn Beccaria die Gesetze eingangs als Verträge von freien Menschen bezeichnet hatte66 , um anschließend auszuführen, dass die Gesetze die Bedingungen waren, unter denen sich die bis dahin unabhängigen Menschen zu einer Staatsgesellschaft vereinigt hatten67 , dann war der Gesellschaftsvertrag – als die Summe dieser Gesetze – zugleich das grundlegende materielle Recht einer bürgerlichen Gesellschaft und bildete ihr ,Staatsgrundgesetz‘68 , das sich u. a. in den Strafgesetzen konkretisierte. Durchaus zutreffend konstatierte Cosimo Amidei, in Dei delitti e delle pene werde – im Gegensatz zum Titel – weniger ein Strafrechtssystem als vielmehr „un sistema politico“ dargelegt.69 Das zeigte sich ebenfalls in Beccarias beiläufig erscheinender Bemerkung zu Gesetzgebung und Gemeinwille: Im Zusammenhang mit der „Interpretazione delle leggi“ heißt es, die geltenden Gesetze seien Ausdruck und Ergebnis des Gemeinwillens („volontà di tutti“), und der Souverän sei nur der Sachwalter („depositario“) des gesellschaftlichen Gesamtwillens. Als Beccaria schrieb: „I giudici [. . . ] hanno ricevuto le leggi [. . . ] dalla vivente società, o dal sovrano rappresentatore di essa come legittimo depositario dell’attuale risultato della volontà di tutti“70 , brachte er – im Begriff „vivente società“ – die Wandelbarkeit von Rechtsordnungen zum Ausdruck. Gleichzeitig machte Beccaria damit deutlich, dass die Gesetze letztlich aus dem Gesamtwillen der Staatsgesellschaft resultieren sollen. Von Beccaria berührt, aber ungeklärt blieb die Frage, wie durch den Souverän und seine Gesetze der gesellschaftliche Gemeinwille zum Ausdruck gebracht werden könne. Diesbezüglich schlug Amidei dann 1768 vor: „Il miglior regolamento per diminuire gl’inconvenienti politici credo che sarebbe quello che, prima di deliberare sopra cose concernenti il pubblico, si desse la libertà ad ognuno di esporre i suoi sentimenti in carta, perché allora gli stabilimenti si approssimerebbero alla volontà generale.“71 Beccarias Traktat war nicht nur im Großherzogtum Toskana gedruckt worden, sondern es traf bei seinem Erscheinen auch auf die Zustimmung der großherzoglichen Funktionselite.72 Wenn, wie Amidei schrieb, in den Strafgesetzen „un sistema politico“ zum Ausdruck kam, dann konnte das 1786

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Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 23 [„Introduzione“]. Vgl. ebd., S. 25 [§ 1]. Beccaria bezeichnete die Gesetze als „le emanazioni del patto sociale“. Ebd., S. 20 [„A chi legge“]. Siehe auch S. 39 [§ 5] sowie die Bemerkungen von Giuseppe Zarone: Etica e politica nell’utilitarismo di Cesare Beccaria, Neapel 1971, S. 192ff., S. 196. Cosimo Amidei an Cesare Beccaria, 25.4.1766, in: Cosimo Amidei: Opere, hrsg. v. Antonio Rotondò, Turin 1980, S. 323–327, hier S. 323. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 36 [§ 4]. Cosimo Amidei: La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, in: ders.: Opere (wie Anm. 69), S. 151–254, hier S. 244. Vgl. Antonio Rotondò: Riforme e utopia nel pensiero politico toscano del Settecento. In Appendice: Della filosofia morale Ragionamenti X di Giovanni Gualberto De Soria, hrsg. v. Miriam Michelini Rotondò, Florenz 2007, S. 100–103.

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reformierte toskanische Strafgesetzbuch zur „transponierte[n] Verfassung“ werden.73 Mit seinen Verfassungsentwürfen sollte der toskanische Großherzog schließlich selbst den Versuch unternehmen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie im Souverän der Gemeinwille zum Ausdruck kommen könne.

2. Das toskanische Strafgesetzbuch und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe Obwohl sich Beccaria in erster Linie einer vertragsrechtlichen Konstruktion bediente, so griff er wiederholt auf die Erfahrung als Argument zurück, etwa um die Notwendigkeit der Strafgesetze zu rechtfertigen, die nicht nur das Verhältnis zwischen Bürger und Staatsgewalt definierten, sondern auch eine erzieherische Funktion besäßen.74 Im Großherzogtum Toskana war es dann ausschließlich die Erfahrung, mit der 1786 das neue Strafgesetzbuch, die sogenannte Leopoldina, legitimiert wurde.75 Dennoch lagen auch dem toskanischen Strafgesetzbuch kontraktualistische Überlegungen zugrunde, die zwar im Zusammenhang mit den Verfassungsplänen formuliert worden waren, aber während der Ausarbeitung der Strafrechtsreformen wirksam blieben. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum – wie beispielsweise Bayern76 – stand in der Toskana eine ständische Differenzierung des Strafrechts nicht ernsthaft zur Diskussion, obschon sich mancher toskanische Fürstendiener für eine entsprechende Unterscheidung ausgesprochen hatte. Im Unterschied zu Großherzog Pietro Leopoldo war Antonio Maria Cercignani keineswegs der Ansicht, dass der Stand eines Täters bedeutungslos für die Bemessung des Strafmaßes sei; in diesem Zuge kritisierte Cercignani ebenfalls Beccaria für dessen Behauptung, die soziale Stellung eines Delin-

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Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 85. Siehe auch die diesbezüglichen Darlegungen ebd., S. 86–92. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 27 [§ 1], S. 39f. [§ 5], S. 70 [§ 18] u.ö. Vgl. Hinrich Rüping: Das Leopoldinische Strafgesetzbuch und die strafrechtliche Aufklärung in Deutschland, in: Luigi Berlinguer/Floriana Colao (Hrsg.), La «Leopoldina» nel diritto e nella giustizia in Toscana, Mailand 1989, S. 535–560, hier S. 544f.; Frank Jung: ,Erfahrung‘ als Argument und Reform als ,Experiment‘. Ein aufklärerischer Darstellungsmodus, die Gazzetta di Weimar und das Großherzogtum Toskana, in: Peter Kofler/ Thomas Kroll/Siegfried Seifert (Hrsg.), Herzogin Anna Amalia von Sachsen-WeimarEisenach und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar, Bozen/Innsbruck 2010, S. 47–73, hier S. 54, S. 65ff. Vgl. Sylvia Kesper-Biermann: „Nothwendige Gleichheit der Strafen bey aller Verschiedenheit der Stände im Staat“? (Un)gleichheit im Kriminalrecht der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 603–628.

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quenten spiele keine Rolle.77 Cercignani vertrat die durchaus traditionelle Rechtsauffassung, „che la grandezza dell’ingiuria debba misurarsi non tanto dalla malizia dell’Ingiurante, che dalla qualità dell‘Ingiurato“, und lehnte daher eine Rechtsgleichheit der Untertanen ab.78 Gerade die bestehende Ungleichheit, an der Cercignani strafrechtlich festhalten wollte, betrachtete Pietro Leopoldo als eine Usurpation ursprünglicher Gleichheitsrechte.79 Es war seine Stellung als „monarca assoluto“80 , die es dem toskanischen Großherzog schließlich ermöglichte, für seine Untertanen die Rechtsgleichheit in Strafsachen durchzusetzen und somit auf die bürgerliche Gleichheit in einem einheitlichen Untertanenverband hinzuarbeiten, während Cercignani – als Untertan – durchaus um Distinktion gegenüber seinen Mitbürgern in der Staatsgesellschaft bemüht war. Bevor mit der Reform der Strafgesetze begonnen wurde, hatte Pietro Leopoldo im Frühjahr 1783 schriftlich seine Maximen („massime“81 ) und Ansichten („vedute“82 ) niedergelegt, die das neue Kriminalgesetz bestimmen sollten. Diese 34 Maximen und 70 Ansichten enthielten bereits wichtige Grundentscheidungen im Hinblick auf die toskanische Strafrechtsreform. Zu den leitenden Prinzipien gehörte dabei von Anfang an: „I Delitti dovranno punirsi ugualmente“.83 Dementsprechend hatte Pietro Leopoldo in seinen „vedute“ zur Strafrechtsreform notiert: „I Delitti essendo uguali, dovranno esserlo anche le pene, senza considerare di qual ceto siano le persone, che gli hanno commessi.“84 Die hier zitierte dritte Ansicht, dass der Stand einer Per77

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Vgl. Cercignanis Anmerkung zur großherzoglichen „veduta“ 3, zit. in: Zuliani: Riforma (wie Anm. 3) Bd. 1, S. 159. Zur Person Cercignanis siehe ebd., S. 130–134; Schlosser: Leopoldina (wie Anm. 3), S. 13. Vgl. Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 159, S. 161. Das Zitat – Cercignanis Äußerung bezieht sich auf die großherzogliche „veduta“ 24 – findet sich ebd., S. 161. Cercignani befürwortete in Übereinstimmung mit Beccaria, wie er ausdrücklich vermerkte, die Todesstrafe für denjenigen, der den Fortbestand des Staatswesens bedrohte. Vgl. ebd., S. 160. Vgl. Pietro Leopoldo: Idea sopra il progetto della creazione dei stati, abgedruckt in Zimmermann: Verfassungsprojekt (wie Anm. 4), S. 182–195, hier S. 184. Zu Pietro Leopoldo siehe Adam Wandruska: Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, 2 Bde., Wien 1963/65, insb. Bd. 1, S. 368–390. Giovanni Fabbroni: Epicrisi della stampa che ha per titolo Vita pubblica e privata di Pietro Leopoldo d’Austria Granduca di Toscana poi Imperatore Leopoldo II, in: ders.: Scritti di pubblica economia, Bd. 2, Florenz 1848, S. 315–333, hier S. 321. Zu Fabbroni siehe Renato Pasta: Scienza, politica e rivoluzione. L’opera di Giovanni Fabbroni (1752–1822) intellettuale e funzionario al servizio dei Lorena, Florenz 1989, insb. S. 420–424. Vgl. Pietro Leopoldo: Massime, e Vedute generali, sopra le quali và fondata la nuova Istruzione sopra la maniera di procedere nelle materie generali, abgedruckt in Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 99–104. Vgl. Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42). Pietro Leopoldo: Massime (wie Anm. 81), no. 15, S. 101. Zu den Quellen der leopoldinischen Strafrechtsreform siehe Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 70–76. Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42), no. 3, S. 105.

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son für die Bemessung der Strafe keinerlei Rolle zu spielen habe, knüpfte an den Verfassungsentwurf von 1782 an, der bereits eine weitgehende Gleichheit der (männlichen) Untertanen beinhaltete; das aktive ebenso wie das passive Wahlrecht blieb allerdings an den notwendigen Grundbesitz gebunden.85 Als Deputierter konnte nur entsandt werden, wer über den erforderlichen Besitz verfügte, aber die Abgeordneten hatten – laut Artikel 17 des Verfassungsentwurfs von 1787 – die Interessen der Allgemeinheit und nicht bloß die Besitzenden zu vertreten.86 Da eine bürgerliche Gleichheit der Untertanen außerdem beinhaltete, keinerlei intermediärer Gewalt unterworfen zu sein, verbot Artikel 29 sowohl im Verfassungsentwurf von 178287 als auch in dem von 178788 die Errichtung neuer Lehen, und im Heimfall durfte der Großherzog keine neuerliche Belehnung vornehmen. Die Verfassungsentwürfe und die Strafrechtsreform waren eng miteinander verknüpft: Während ursprünglich mit der Verfassung strafrechtliche Materien – wie die Abschaffung der Todesstrafe oder die Beseitigung der Folter – behandelt werden sollten, enthielt der überarbeitete Verfassungsentwurf von 1787 in Artikel 27 den ausdrücklichen Hinweis auf das inzwischen in Kraft getretene Strafgesetzbuch.89 Seine Idea sopra il progetto della creazione dei stati, die schließlich in den ersten Verfassungsentwurf von 1782 mündete, hatte der toskanische Großherzog niedergeschrieben, nachdem er im Frühjahr 1779 aus Wien zurückgekehrt war.90 Mit dem Inkrafttreten der Verfassung wären – angesichts des Vereinigungsplans und Josephs Herrschaftspraxis’ – die erreichten leopoldinischen Reformen verfassungsrechtlich abgesichert worden.91 Ebenso wie in den „massime“ und „vedute“, die als Ausgangspunkt der Strafrechtsreform dienten, hatte Pietro Leopoldo in der Idea sopra il progetto della creazione dei stati die zentralen Grundsätze und Positionen seiner Verfassungsideen formuliert, die im Zuge der Strafrechtsreform schließlich materielles Recht wurden. Ein wesentlicher Grundsatz, der Verfassungsentwurf und Strafrechtsreform 85 86 87 88 89 90 91

Vgl. Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 81, S. 140f.; Manetti: La costituzione (wie Anm. 4), S. 109–113; Graf : Verfassungsentwurf (wie Anm. 4), S. 211ff. Vgl. Verfassungsentwurf [1787], ediert in: Graf : Verfassungsentwurf (wie Anm. 4), S. 20– 75, hier S. 25 [Art. 17]. Siehe auch ebd., S. 236f. Vgl. Editto per la formazione degli Stati di Toscana [1782], abgedruckt in: Manetti: La costituzione (wie Anm. 4), S. 151 [Art. 29]. Vgl. Verfassungsentwurf [1787] (wie Anm. 86), S. 27 [Art. 29]. Vgl. Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd.1, S. 64ff.; Verfassungsentwurf [1787] (wie Anm. 86), S. 27. Vgl. Pietro Leopoldo: Idea (wie Anm. 79). Vgl. Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 75; Jung: Erfahrung (wie Anm. 75), S. 69f., und die dort verzeichnete Literatur. Bereits im Proömium wurde der durchaus experimentelle Charakter des Vorhabens („il fare sperimentare“) deutlich. Vgl. Editto per la formazione degli Stati di Toscana [1782] (wie Anm. 87), S. 143–195, hier S. 143. Zum Scheitern des Verfassungsprojekt siehe die Darlegungen von Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 82– 86.

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bestimmte, war die angestrebte bürgerliche und rechtliche Gleichheit der Untertanen: Denn wie Beccaria betrachtete der toskanische Großherzog – im Unterschied zu Cercignani – den Stand des Angeklagten bzw. Täters als bedeutungslos für die Bemessung der Strafe92 , und wie Beccaria ging Pietro Leopoldo davon aus, dass durch den Gesellschaftsvertrag, weil nur ein Teil der Rechte und Freiheiten übertragen worden war, die Gleichheit der Staatsbürger konstituiert wurde, die es in Staatsgesellschaft zu bewahren galt93 . Da eine Trennung der Gesellschaft in Stände auf vielfache Weise ungerecht sei, vertrat der toskanische Großherzog die Auffassung: „in una ben composta società tutti, e qualunque membro componente la medesima abbino un egual diritto alla felicità, ben essere, sicurezza, e proprietà che consiste nel libero, tranquillo, e sicuro godimento, e dominio dei proprj beni“.94 Da alle das gleiche Recht auf Glück, Wohlergehen, Sicherheit und Eigentum besäßen, hatten die Gesetze alle Untertanen unterschiedslos zu verpflichten95 , und es gehöre zu den Aufgaben des Souveräns, die (ursprüngliche) rechtliche Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder zu bewahren96 . Falls im Laufe der Zeiten die Rechtsgleichheit ausgehöhlt worden sei, etwa durch willkürliche Herrscher, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen waren, dann galt es, diesen ursprünglichen Rechtszustand der bürgerlichen Gleichheit wieder herzustellen.97 Für Pietro Leopoldo gehörte die Rechtsgleichheit zu den Grundgesetzen eines Staates. Daher betrachtete der toskanische Großherzog – im Unterschied zu Montesquieu – den Adel weder als notwendig noch als nützlich.98 Francesco Maria Gianni, der bei den Verfassungsentwürfen eng mit Pietro Leopoldo zusammenarbeitete, pflichtete dem Großherzog bei, als er in seiner Stellungnahme am 9. Mai 1779 schrieb: „Sarebbe un errore il classare in diversi corpi i rappresentanti e dividere la nobiltà, o il clero da altri ceti egualmente immaginarj nelle loro prerogative“.99 Beccarias im Zusammenhang mit den „Pene dei nobili“ geäußerte Forderung, die Untertanen sollten gleichermaßen von den Gesetzen abhängig 92 93 94 95

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Vgl. Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42), no. 3, S. 105. Vgl. Pietro Leopoldo: Idea (wie Anm. 79), S. 184f.; Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 31 [§ 2]. Pietro Leopoldo: Idea (wie Anm. 79), S. 182. Ebd. heißt es, „la legislazione [...] deve obbligare tutti“, denn – wie Pietro Leopoldo kurz zuvor geschrieben hatte – „tutti [...] abbino un egual diritto alla felicità, ben essere, sicurezza, e proprietà“. Vgl. ebd., S. 184f. Vgl. ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 192. Bei Fabbroni wird die Anekdote kolportiert, auf die Frage seines Bruders Joseph: „Quanti ceti avete in Toscana?“, habe Leopold geantwortet: „due, [...] maschi e femmine“. Fabbroni: Epicrisi (wie Anm. 80), S. 321. Francesco Maria Gianni: Memoria del 9 maggio 1779, abgedruckt in Zimmermann: Verfassungsprojekt (wie Anm. 4), S. 93–102, hier S. 95. Zu Gianni siehe Furio Diaz: Francesco Maria Gianni. Dalla burocrazia alla politica sotto Pietro Leopoldo di Toscana, Mailand/Neapel 1966, insb. S. 279–297.

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sein100 , fand nicht nur Eingang in das toskanische Strafgesetzbuch, sondern war bereits durch entsprechende Gesetzesreformen vorbereitet worden. Dass den Armen seit Mitte der siebziger Jahre die Prozesskosten gemindert bzw. erlassen werden konnten, hat Andrea Grünbart als den Versuch charakterisiert, schrittweise eine allgemeine Gerechtigkeit – und somit eine Gleichheit vor Gericht – durchzusetzen. Mit dem Strafgesetzbuch hatten der „povero“ und der „miserabile“ seit 1786 schließlich Anspruch auf einen Armenanwalt.101 1784 hatte Pietro Leopoldo ebenfalls die geistliche Gerichtsbarkeit dahingehend reformiert, dass sie auf die Verhängung kanonischer Strafen beschränkt wurde, die Geistlichen ansonsten aber – wie in Strafrechtssachen schon seit 1778 – der weltlichen Gerichtsbarkeit unterworfen waren.102 Mit Artikel 57 des reformierten toskanischen Strafgesetzbuches wurde dann am 30. November 1786 die ständische Ungleichheit vor Gericht beseitigt und zugleich die strafrechtliche Gleichheit vor dem Gesetz eingeführt: „E considerando Noi quanto sia contrario ai principj di qualunque Società che o per Legge o per abuso introdotto nell’opinione del Pubblico venga considerato qualche Ceto di persone, o Arte, o Mestiere per infame, [. . . ] Vogliamo che da quì avanti resti tolto intieramente quest’abuso, e che a tutti gli effetti Civili, e specialmente a far testimonianza nei Tribunali venghino ugualmente ammessi come tutte le altre Persone, e godino ugualmente di quei diritti che in genere competono a qualunque membro della Società“.103 So wie es Beccaria gefordert hatte, wurde dadurch letztlich das Tatstrafrecht – anstelle des Täterstrafrechts – festgeschrieben. Dementsprechend definierte das Strafgesetzbuch auch den Zweck jeder Strafe als die Wiedergutmachung des privaten und öffentlichen Schadens.104 Beseitigt wurden durch den Editto intorno alla riforma della legislazione criminale außerdem die privilegierten Beweismittel („prove privilegiate“), sodass die Aussagen von Amtleuten, die mit Polizeibefugnissen ausgestattet waren, nunmehr den gleichen Stellenwert besaßen wie jeder andere Beweis.105 100 101

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Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 74 [§ 21]. Vgl. Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 138f.; Editto di Pietro Leopoldo, intorno alla riforma della legislazione criminale. Dato in Pisa 30. Nov. 1786, Firenze 1786, S. 5 [Art. 50]. Zu den Gesetzesreformen, die dem Strafgesetzbuch vorangingen, siehe Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 43–53; Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 66–69; Pietro Leopoldo d’Asburgo Lorena: Relazioni sul governo della Toscana, hrsg. v. Arnaldo Salvestrini, Bd. 1, Florenz 1969, S. 106f., S. 129–135. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 6 [Art. 57]. Vgl. Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 75 [§ 21]; Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 5 [Art. 51]. Darüber hinaus sollte die Strafe der Besserung des Straftäters und als öffentliches Exempel dienen. Vgl. ebd., S. 4f. [Art. 45f., 51], S. 11f. [Art. 112]. Vgl. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 3 [Art. 27]. Siehe dahingehend bereits Pietro Leopoldo: Massime (wie Anm. 81), no. 7, S. 100, die damit materielles Recht wurde.

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Um ein ordentliches – und für alle gleiches – Strafverfahren zu gewährleisten106 , war es darüber hinaus strafbar, wenn „Giudici, Ministri, ed Impiegati“ ihre Amtsgewalt missbrauchten und etwa einen Straftäter begünstigen107 . Im Zuge der Strafrechtsreform erfolgte – wie schon 1783 in den „vedute“ 7 und 8 festgehalten108 – mit der Leopoldina die vollständige Abschaffung des Begnadigungsrechts, das bis dahin – neben dem Monarchen – ebenfalls der Consulta für das florentinische Staatsgebiet und dem Generalstatthalter von Siena zustand109 . Demgegenüber hatte der Verfassungsentwurf von 1782 das Begnadigungsrecht noch dem Großherzog als „la più grata prerogativa della sovranità“ vorbehalten.110 Doch weil das Vorrecht, Strafen zu mildern, gegen den Gleichheitsgrundsatz verstieß, wurde es – ebenso wie das Delikt der Majestätsbeleidigung111 – beseitigt112 . Dem Grundsatz der Rechtsgleichheit entsprechend, nahm der leopoldinische Verfassungsentwurf von 1787 ausdrücklich Bezug auf das Strafgesetzbuch. In Artikel 26 und 27 wurde dem Großherzog verboten, in laufende Gerichtsverfahren einzugreifen oder verurteilte Straftäter zu begnadigen, damit die Untertanen vor obrigkeitlicher Willkür geschützt waren. Stattdessen sollten die toskanischen Untertanen ausschließlich den Gesetzen unterworfen sein.113 Schon durch die Leopoldina hatte sich der Monarch an das Gesetz gebunden, weil er – im Gegensatz zum Verfassungsentwurf von 1782 – auf ein Vorrecht verzichtete und sein Begnadigungsrecht abschaffte.114 Mit einer Verfassung, wie sie der Entwurf von 1787 vorsah, wäre die Strafrechtsreform verfassungsrechtlich abgesichert worden, zumal der Editto intorno alla riforma della legislazione criminale seit 1786 als „transponierte Verfassung“ diente.115 106 107 108 109 110 111

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Siehe in diesem Zusammenhang auch Schlosser: Leopoldina (wie Anm. 3), S. 20–25. Vgl. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 7 [Art. 64]. Vgl. Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42), no. 7, 8, S. 106. Vgl. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 12 [Art. 119]. Vgl. Editto per la formazione degli Stati di Toscana [1782] (wie Anm. 87), S. 156 [Art. 47]. Vgl. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 7 [Art. 62]. Siehe dahingehend bereits Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42), no. 21– 24, S. 109. Cercignani hatte sich gegen die Abschaffung der Majestätsbeleidigung ausgesprochen, und die Beseitigung des großherzoglichen Begnadigungsrechts lehnte er ebenfalls ab; vgl. Cercignanis Anmerkungen zu den großherzoglichen „vedute“ 4 und 24, zit. in: Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 159, S. 161. Vgl. Verfassungsentwurf [1787] (wie Anm. 86), S. 27 [Art. 26f.]. Vgl. Editto per la formazione degli Stati di Toscana [1782] (wie Anm. 87), S. 156 [Art. 47]; Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 12 [Art. 119]. Grünbart: Riforma (wie Anm. 3), S. 85. In Übereinstimmung mit Andrea Grünbart stellte Gerda Graf trefflich fest: „Grundsätze, die auf Ebene des Verfassungsentwurfes ihre

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Bevor sich Pietro Leopoldo 1790 nach Wien begab, um die Nachfolge seines Bruders Joseph anzutreten, hatte er einen umfangreichen Bericht verfasst. Seinem Nachfolger empfahl Pietro Leopoldo, die Unabhängigkeit der Richter zu wahren, sich also in anhängige Gerichtsverfahren nicht einzumischen, sondern die Richter entscheiden zu lassen, und zu verhindern, dass einzelne Minister intervenierten116 , sodass in den Strafverfahren die Gleichheit der Untertanen möglichst sichergestellt wurde. Außerdem betonte Pietro Leopoldo in seinem Rechenschaftsbericht, „è pure essenziale di tener forte che tutti i ceti siano tenuti egualmente alle pene“.117 Mit seiner Aufforderung an den Nachfolger befand sich der scheidende toskanische Großherzog durchweg im Einklang mit den Ansichten der toskanischen Funktionseliten, denn 1797 war bei Giovanni Fabbroni zu lesen: „Fu disposizione di Leopoldo l’egualità di leggi, con le quali si reggono indistintamente i Toscani, e che sono il maggior bene per ogni società più perfetta.“118

3. Epilog: Adel im Großherzogtum Toskana Abschließend soll noch ein Erklärungsversuch unternommen werden, aus welchen Gründen einerseits im Rahmen des Strafgesetzbuches die Gleichheit vor dem Gesetz verwirklicht werden konnte und andererseits im Zusammenhang mit dem leopoldinischen Verfassungsprojekt eine politische Gleichheit realisierbar schien. Eine wesentliche Ursache, so die These, war die Eigentümlichkeit des toskanischen Adels. Im Mai 1779, als Francesco Maria Gianni – wie erwähnt – Stellung zur großherzoglichen Idea sopra il progetto della creazione dei stati nahm, hatte er nicht nur geschrieben: „Sarebbe un errore il classare in diversi corpi i rappresentanti e dividere la nobiltà, o il clero da altri ceti egualmente immaginarj nelle loro prerogative“, sondern auch seine Einschätzung mit der gesellschaftlichen Verfasstheit des toskanischen Großherzogtums begründet: „giacché quanto vi è di buono nell’attuale costituzione del paese, e forma di governo, si restringe ad una imparzialità di legislazione, la quale richiede che in tutte le determinazioni di regolamenti pubblici, sia tenuta per norma impreteribile la massima di non mettere al mondo, neppure con semplice nome, nuovo senso alcuno di divisione tra i sudditi“.119 Das Postulat einer rechtlichen und bürgerlichen Gleichheit,

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Realisierung nicht erlebten, wurden durch die ,Leopoldina‘ zum praktizierten Recht“; Graf : Verfassungsentwurf (wie Anm. 4), S. 258. Zum Strafrecht als angewandtem Verfassungsrecht siehe ebd., S. 255, die angeführten Nachweise. Vgl. Pietro Leopoldo: Relazioni (wie Anm. 102), Bd. 1, S. 111f. und S. 135. Ebd., Bd. 1, S. 135. Fabbroni: Epicrisi (wie Anm. 80), S. 321. Siehe auch Pasta: Scienza (wie Anm. 80), S. 420. Gianni: Memoria (wie Anm. 99), S. 95.

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wie es aus Giannis Stellungnahme zur leopoldinischen Verfassungsidee deutlich wird, entsprach dabei durchaus toskanischen Adelskonzepten. Bis 1750, als das Gesetz zur Regelung von Adel und Bürgerschaft erlassen wurde120 , hatte es im Großherzogtum Toskana kein eigentliches Adelsrecht gegeben. Daher war das Patriziat von Florenz sowie der übrigen toskanischen Städte keine juristisch definierte Körperschaft, vielmehr bediente man sich des ius commune, um den Status als Adel stadtbürgerlichen Ursprungs zu legitimieren121 : Der Stadtadel bzw. das Patriziat bestand aus der Gesamtheit jener Familien, die Zugang zu den höchsten städtischen Magistraten hatte und infolgedessen die Ausübung der betreffenden Ämter monopolisierte. Die Zugehörigkeit zur „nobiltà civile“ beinhaltete eine genau definierte Sphäre politischer Rechte, die aufs engste mit der stadtbürgerlichen Ordnung verbunden war, sodass der toskanische Adel in erster Linie eine stadtbürgerliche Elite war. Die Zugehörigkeit zum Patriziat einer Stadt war wiederum eine wesentliche Voraussetzung, um als Cavaliere in den toskanischen Ritterorden – den Ordine di Santo Stefano – aufgenommen zu werden.122 Darüber hinaus entstammten vielfach die Familien, die unter den mediceischen Großherzögen Adelstitel und damit verbundene Herrschaftsrechte über Gebiete erwarben, die meist dünn besiedelt waren und in denen die zu nobilitierenden Patrizier bereits über umfangreicheren Grundbesitz verfügten, dem städtischen, insbesondere florentinischen Patriziat. Die Familien, die in den toskanischen Städten die Ämter monopolisierten und die lokale Führungsschicht bildeten, hatten ihren Reichtum oftmals im Handel oder durch Manufakturen erwirtschaftet und schließlich mit dem Erwerb von Land konsolidiert und ausgeweitet.123 Im Gegensatz zur mitteleuropäischen Aristokratie, die im Allgemeinen

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Vgl. Legge per regolamento della nobiltà e cittadinanza [31.7.1750], in: Bandi, e ordini da osservarsi nel Granducato di Toscana, Codice III, Florenz 1757, n. XVII. Vgl. Danilo Marrara: Riseduti e nobiltà. Profilo storico-istituzionale di un’oligarchia toscana nei secoli XVI–XVIII, Pisa 1976, S. 7–25; ders.: Le giustificazioni della nobiltà civica in alcuni autori italiani dei secoli XIV–XVIII, in: Rivista di storia del diritto italiano 62 (1989), S. 15–38. Vgl. Furio Diaz: Agl’inizi della dinastia lorenese in Toscana. I problemi della Reggenza, in: Studi di storia medievale e moderna per Ernesto Sestan, Bd. 2, Florenz 1980, S. 669– 701, hier S. 698; Danilo Marrara: La nobiltà e l’Ordine di Santo Stefano nella Toscana del Settecento, in: Rivista di storia del diritto italiano 63 (1990), S. 119–142, hier S. 119f., S. 138. Vgl. Carlo Pazzagli: Nobiltà civile e sangue blu. Il patriziato volterrano alla fine dell’età moderna, Florenz 1996, S. 199–241; Judith C. Brown: In the Shadow of Florence. Provincial Society in Renaissance Pescia, New York/Oxford 1982, S. 100–119; Concetta Calvani/Monica Falaschi/Liana Matteoli: Ricerche sulle magistrature e la classe dirigente a Pisa durante il principato mediceo del Cinquecento, in: Giorgio Spini (Hrsg.), Potere centrale e strutture periferiche nella Toscana del ‘500, Florenz 1980, S. 77–112, hier S. 110f.; Franco Angiolini: Le basi economiche del potere aristocratico nell’Italia centrosettentrionale tra XVI e XVIII secolo, in: Società e storia 1 (1978), S. 317–331.

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nicht in den Handel investierte, hatte das toskanische Patriziat vielfach seine ursprünglichen Handelsinteressen bewahrt.124 Als dann 1737 das toskanische Großherzogtum an den Lothringer Franz Stephan – den späteren Kaiser Franz I. – fiel, übernahm ein Regentschaftsrat in dessen Auftrag die Regierung der Toskana. Während sich Déodat Emmanuel Graf von Nay-Richecourt – Lothringer und Mitglied des Regentschaftsrats – die rechtliche und administrative Situation des Großherzogtums als „un cahos presqu’impossible a debrouiller, c’est un melange d’aristocratie, de democratie et de monarchie“, präsentierte125 , äußerte der florentinische Senator Neri Dragomanni – anlässlich des öffentlichen Treuegelöbnisses – über das mediceische Prinzipat: „Essi governavano per Noi, e Noi governavamo per loro, ci amavano come Concittadini, e come tali gradivano di essere da Noi venerati“126 . Denn das florentinische Patriziat war unter den Medici zwar durch den Dienst in der Bürokratie bis zu einem gewissen Grad mediatisiert worden, aber als staatliche Funktionsträger partizipierten die florentinischen Patrizier weiterhin an der Regierungsgewalt. In Florenz waren nämlich das republikanische Magistratssystem und damit die Zugänge zur Macht im Wesentlichen unverändert geblieben.127 Als Pompeo Neri 1748 aus Anlass der angestrebten rechtlichen Unterscheidung zwischen Adel („nobiltà civile“) und Bürgerschaft („cittadinanza“) seine Relazione sopra la nobiltà toscana vorlegte128 , definierte er den toskanischen Adel – aufgrund seines stadtbürgerlichen Ursprungs – über die mit dem Bürgerrecht einhergehenden „diritti di governo“129 . Schon in einer früheren Denkschrift, die im Zusammenhang mit dem Kodifikationsprojekt niedergeschrieben worden war, hatte Neri ausgeführt, „che [...] la proprietà del terreno è il fondamento del censo, e il censo è il vero e primitivo fondamento della 124

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Vgl. Enrico Stumpo: I ceti dirigenti in Italia nell’età moderna. Due modelli diversi: nobiltà piemontese e patriziato toscano, in: Amelio Tagliaferri (Hrsg.), I ceti dirigenti in Italia in età moderna e contemporanea, Udine 1984, S. 151–197, hier S. 182ff.; Raymond Burr Litchfield: Les investissements commerciaux des patriciens florentins au XVIIIe siècle, in: Annales E.S.C. 24 (1969), S. 685–721; Andrea Moroni: Le richezze dei Corsini. Struttura patrimoniale e vicende familiari tra Sette e Ottocento, in: Società e storia 9 (1986), S. 225–291; ders.: Il patrimonio dei Corsini fra granducato e Italia unita. Politica familiare e investimenti, in: Bollettino storico pisano 54 (1985), S. 76–106. Emmanuel de Richecourt: 10.9.1737, in: Archivio di Stato di Firenze, Reggenza, n. 12, c. 7r–22r, hier c. 21v. Neri Dragomanni: Orazione recitata in occasione del giuramento al granduca Francesco Stefano, 12.7.1737, in: Legislazione toscana, hrsg. v. Lorenzo Cantini, Bd. 24, Florenz 1806, S. 37. Vgl. Raymond Burr Litchfield: Emergence of a Bureaucracy. The Florentine Patricians 1530–1780, Princeton 1986; Claudio Donati: L’idea di nobiltà in Italia, secoli XIV–XVIII, Rom/Bari 1995, S. 319–338. Vgl. Pompeo Neri: Relazione sopra la nobiltà toscana [1748], in: Marcello Verga: Da ,cittadini‘ a ,nobili‘. Lotta politica e riforma delle istituzioni nella Toscana di Francesco Stefano, Mailand 1990, S. 403–567. Ebd., S. 553.

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nobiltà“130 , sodass die Regierungsrechte („diritti di governo“) letztlich aus dem Zensus und somit aus dem Grundbesitz abgeleitet wurden. Indem er „cittadinanza“ und „nobiltà civile“ miteinander gleichsetzte, den Adelsstatus also mit dem Bürgerrecht und dessen auf dem Grundbesitz basierenden „diritti di governo“ identifizierte131 , vollzog Neri – wie Diderot132 – eine Nobilitierung des Bürgerbegriffs und letztlich die Aufhebung des Adelsstatus133 . Das 1750 in der Toskana erlassene Legge per regolamento della nobiltà e cittadinanza orientierte sich angesichts der Tatsache, dass es in der Toskana kein eigentliches Adelsrecht gab, an der Rechtsprechung und den Statuten des Ordine di Santo Stefano. Die „antichità“ einer Familie wurde zu einem konstitutiven Element ihres Adels erhoben, und dieser Adel resultierte – nach den Statuten des Ritterordens – aus der generationenlangen Ausübung städtischer Ämter.134 Die rechtliche Definition des Adel blieb damit an das Bürgerrecht und die Ausübung städtischer Ämter gebunden, gleichwohl wurde aber die alleinige Legitimation des Adels durch den Herrscher unterstrichen. Die Frage, wem das Recht des Waffentragens zustand, bündelt geradezu – wie durch ein Brennglas betrachtet – die hier angesprochenen Aspekte: Pietro Leopoldo folgte in seinen Ansichten anfänglich der Auffassung Beccarias, sodass schließlich das Waffentragen im Großherzogtum Toskana unterschiedslos allen gestattet worden wäre.135 Allerdings war 1738 im Namen Franz Stephans durch den Bando sopra l’armi neuerlich bekannt gemacht worden, dass vor allem die Geistlichen nicht das Recht hatten, Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen.136 Gleichzeitig wurde in der Bekanntmachung zwischen „nobili“ und „cittadini“ unterschieden, obwohl de jure eine derartige Unterscheidung im Großherzogtum Toskana 1738 noch nicht existierte. Aber mit solchen Verordnungen arbeitete der Regentschaftsrat auf eine rechtliche Trennung zwischen Adel und Bürgerschaft hin, um in der Folge etwa die große Zahl an Fideikommissen einschränken zu können. Indem es das vorrangige Ziel des Bando sopra l’armi war, den Geistlichen das Tragen von Waffen zu verbieten, gestattete die Bekanntmachung so viele Ausnahmen, dass de facto 130 131 132 133

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Neri: Relazione sul codice [1747], in: Verga: Da ,cittadini‘ a ,nobili‘ (wie Anm. 128), S. 313–402, hier S. 361. Vgl. Neri: Relazione sopra la nobiltà (wie Anm. 128), S. 419. Vgl. Denis Diderot: Œuvres complètes, Bd. 4, hrsg. v. John Lough/Jacques Proust, Paris 1976, S. 467. Vgl. Frank Jung: „In una perfetta monarchia [. . . ] niuno ha diritti propri“. Bemerkungen zum politisch-juristischen Denken des toskanischen Aufklärers und ,Beamten‘ Pompeo Neri, in: ¿Rechtsgeschichte(n)? Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Zürich 28.–30. Mai 1999, Frankfurt a.M. 2000, S. 73–89, hier S. 85; Rother: Felicità (wie Anm. 10), S. 176. Vgl. Diaz: Agl’inizi (wie Anm. 122), S. 698; Marrara: La nobiltà (wie Anm. 122), S. 119f., S. 138. Vgl. Pietro Leopoldo: Vedute (wie Anm. 42), no. 45, S. 113; Beccaria: Dei delitti (wie Anm. 1), S. 119f. [§ 40]. Vgl. Bando sopra l’armi, 22.1.1738, in: Legislazione (wie Anm. 126), S. 79–85.

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Frank Jung

die rechtliche Gleichheit von „nobili“ und „cittadini“ gewahrt blieb und das Privileg des Waffentragens – im Gegensatz zu den Geistlichen – letztlich von allen Bürgern, die Zugang zu den städtischen Magistraten hatten und die betreffenden Ämter ausübten, in Anspruch genommen werden konnte.137 Im Zuge der Ausarbeitung des Strafgesetzbuches beugte sich Pietro Leopoldo in der Frage des öffentlichen Waffentragens dann den Einwänden, die Cercignani vorbrachte. Denn – so Cercignani – wer eine Waffe bei sich trage, könne sie auch jederzeit – etwa im Zorn – gegen einen anderen Menschen benutzen.138 Aufgrund des Artikels 102 wurde dann mit dem reformierten Strafgesetzbuch das Waffentragen grundsätzlich verboten und so die ursprüngliche Rechtsgleichheit wieder hergestellt.139

4. Schlussbemerkung Der Prozess der Vergesellschaftung, so wie ihn Beccaria beschrieb, führte unweigerlich zur Gleichheit vor dem Gesetz, denn an der Verwirklichung des Staatszweckes – Freiheit und Sicherheit – hatten alle Bürger dasselbe Interesse. Um diesen Staatszweck zu verwirklichen, war eine sozialständische Differenzierung der Gesellschaft nicht erforderlich. Mit dem nachträglich eingefügten Abschnitt über die Strafen für den Adel machte Beccaria unmissverständlich deutlich, was von Anfang an in Dei delitti e delle pene angelegt war: Die rechtliche Gleichheit ist der Ausgangspunkt und die Grundlage menschlichen Zusammenlebens in einem Staatswesen. Dadurch, dass dementsprechend die Bestrafung eines Verbrechens ohne Ansehen von Person und Stand erfolgen solle, positionierte Beccaria den Adel in Recht, Gesellschaft und Staat neu, und für diese Neupositionierung des Adels wählte er gerade das Strafrecht, weil in den Strafgesetzen die Fundamente einer jeden Gesellschaft am deutlichsten zum Ausdruck kommen. Das toskanische Strafgesetzbuch und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe griffen zwar die Forderungen Beccarias nach rechtlicher Gleichheit – auch des Adels – auf, aber sie mussten sich unmittelbar mit der eigenen gesellschaftlichen Verfasstheit auseinandersetzen, die es letztlich begünstigte, dass schließlich die Rechtsgleichheit in Strafsachen durchgesetzt werden konnte.

137 138 139

Vgl. Furio Diaz: I Lorena in Toscana. La Reggenza, Turin 1988, S. 120f. Vgl. Zuliani: Riforma (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 162. Vgl. Editto intorno alla riforma della legislazione criminale (wie Anm. 101), S. 10 [Art. 102].

Hans-Jürgen Bömelburg

Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht. Strukturelle Parallelen, Elemente eines Transfers, funktionaler Vergleich und Erinnerungsgeschichte Die Beziehungsgeschichte und der Strukturvergleich zwischen dem römischdeutschen Reich und Polen-Litauen sind Themen, die erst in den letzten zehn Jahren mit der Öffnung der älteren Reichsgeschichte in Richtung östliches Europa1 allmählich in das Blickfeld einer jüngeren Generation von deutschen Wissenschaftlern getreten sind.2 Auch die polnische Forschung hat nach zwei Jahrzehnten, die fast ausschließlich und stark nachholend der Beforschung der östlichen Reichshälfte gewidmet waren, die vor 1989 aus politischen Gründen weitgehend nicht möglich war, nun teilweise unter Übernahme angloamerikanischer Theoriebildung (Helmut G. Koenigsberger und dessen „composite state“), – die Vergleichsperspektive Polen-Litauen – Altes Reich neu für sich entdeckt.3 Mitverantwortlich für dieses erst verspätete Interesse ist die langjährige wissenschaftliche Praxis innerhalb der deutschen und polnischen Frühneuzeitforschung. Während in Deutschland vor allem nach Frankreich und Italien als Vergleichsfälle geschaut wurde, galt das „Alte Reich“ lange Zeit als 1

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Programmatisch dazu das Themenheft 53/3 (2004) der Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung, dort Hans-Jürgen Bömelburg: Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte in Mitteleuropa – Historiographische Konzepte gegenüber Altem Reich und Polen-Litauen sowie komparatistische Perspektiven, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 53 (2004), H. 3, S. 318–350, sowie die weiteren Beiträge des Themenheftes. Damien Tricoire legte eine Dissertation zu: Mit Gott rechnen. Politisches Kalkül und Katholische Reform in Bayern, Frankreich und Polen-Litauen, Göttingen 2013, vor, die im Bereich der katholischen Reform Vergleichsperspektiven aufzeigt. Christian Preuße arbeitet an einer vergleichenden verfassungsrechtlichen Studie Altes Reich – Polen-Litauen für das 16. und 17. Jahrhundert. Preuße und Tricoire bereiten zudem zusammen mit dem in Großbritannien lehrenden polnischen Historiker Tomasz Gromelski einen Sammelband zu „Ordnungskonfigurationen und -vorstellungen im Reich und im Polen-Litauen der Frühen Neuzeit“ vor. Zahlreiche Ansätze in dem Sammelband Bogusław Dybaś/Paweł Hańczewski/Tomasz Kempa (Hrsg.): Rzeczpospolita w XVI–XVIII wieku. Państwa czy wspólnota [Polen-Litauen im 16.–18. Jahrhundert. Staat oder Gemeinschaft]. Toruń 2007. Gegenwärtig laufen größere Forschungsprojekte, so ein Projekt zur „Kultur der Ersten Respublica im Dialog mit Europa“ (Kultura Pierwszej Rzeczypospolitej w Dialogu z Europą), die den Ort des frühneuzeitlichen Polen-Litauens in Europa bestimmen sollen und in denen dem Vergleich Polen-Litauen – Altes Reich Raum eingeräumt wird.

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zentrales Bezugsfeld wissenschaftlicher Forschung. Dieser deutschen „Reichsgeschichte“ stand in Polen bis 1989 eine national verengte ältere Geschichte gegenüber, deren Arbeitsfeld bis 1989 am Bug – seit 1945 der polnischen Ostgrenze – endete. In den 1990er Jahren wurden dann die historischen polnisch-litauischen Territorien im östlichen Europa – neben Litauen vor allem Weißrussland und die Ukraine – wiederentdeckt. Die ältere polnisch-litauische Geschichte wird heute von vier oder sogar fünf (wenn wir die lettische Geschichte noch hinzunehmen) Nationalhistoriographien bearbeitet, nach wie vor sind aber über Polen-Litauen hinausreichende vergleichende Studien wenig verbreitet. Nur selten richtete sich der Blick in den Westen, deutschpolnische Transferbeziehungen waren zudem durch die ältere „Kulturgefälle“Theorie teilweise diskreditiert. Beide Nachbarhistoriographien standen also bis in die 1990er Jahre eher Rücken an Rücken zueinander. Polnische Arbeiten blickten vor allem nach Osten, deutsche auf das Reich und Frankreich als beziehungsgeschichtliches Objekt. Dabei sind das Alte Reich und Polen-Litauen unbestritten die beiden größten Reichsverbände Mitteleuropas, die zudem frühneuzeitlich eine fast parallele Reform- und Niedergangsgeschichte verbindet. Beide Verbände umfassten historisch über 800 000 km2 , wiesen im frühen 16. Jahrhundert Reichsreformbewegungen auf, in denen auch frühmoderne Rechtszüge und eine ständisch-föderale Rechtsprechung entstanden, durchlitten im 17. Jahrhundert langjährige Kriege und fielen Ende des 18. Jahrhunderts Aufteilungsvorgängen zum Opfer. Polen-Litauen verschwand 1795, das Alte Reich 1803/06. Auch diese Parallelgeschichte rechtfertigt es, sich mit Transfers und Vergleichen zwischen beiden alteuropäischen Reichverbänden zu beschäftigen. Ein möglicher Ansatz kann in einem Vergleich zwischen den zentralen Instanzen und Institutionen beider zusammengesetzter Staatsverbände liegen, der Ähnlichkeiten wie Unterschiede sowie Rezeptionswege herausarbeiten sollte. Die folgende Studie verfolgt dieses Ziel für die Institutionen der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich – das Reichskammergericht und den Reichshofrat – und die entsprechenden Einrichtungen in PolenLitauen, das Tribunal der Krone Polen (kurz Krontribunal) bzw. das Tribunal des Großfürstentums Litauen (kurz: Litauisches Tribunal).4 Bisher fehlt ein solcher Vergleich. In der deutsch- und englischsprachigen Forschung finden sich keine Arbeiten zu der polnisch-litauischen Tribunalverfassung. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen, sicher angefangen mit der aktuellen Forschungssituation: 4

Für zahlreiche Hinweise zur der Forschungssituation zum Litauischen Tribunal, zu Hinweisen auf litauischsprachige Arbeiten und für die Bereitstellung von unpublizierten Beiträgen danke ich herzlich Dr. Adam Stankevič (Pädagogische Universität Vilnius), ohne dessen Unterstützung die Abschnitte zum Litauischen Tribunal in dieser Form nicht entstanden wären.

Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht

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Während zum Reichskammergericht eine seit 40 Jahren sich stetig entwickelnde Detailforschung existiert, die von der „Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung“ koordiniert wird und auch der Reichshofrat zuletzt intensiver bearbeitet wurde, fehlen zu den höchsten Instanzen der polnisch-litauischen Rechtsprechung und insbesondere zum Vergleich und zum Transfer moderne Arbeiten in deutlich stärkerem Maße. Zudem gibt es auch keine organisierte wissenschaftliche Kooperation in Form einer Gesellschaft oder eines lockeren Forschungsverbundes (wie etwa zur Überlieferung der litauischen Zentralbehörden, der sog. „Litauischen Metrik“), die die Bemühungen von vereinzelten Forschern in den jeweiligen Nationalhistoriographien koordinieren und organisieren könnte. Auch sind die sprachlichen Hürden zwischen den beteiligten Historiographien sehr hoch. Insbesondere litauische Arbeiten werden außerhalb der eigenen Historiographie wenig rezipiert, während polnische, russische und weißrussische Arbeiten leichter zugänglich sind. Dies führt dazu, dass einzelne Arbeiten oft gar nicht zur Kenntnis genommen werden und vielfach gegenüber dem polnischen und litauischen Tribunal eine polnisch-, litauisch- und ostslavischsprachige Forschungstradition unterschieden werden kann. Allerdings steckt – zweitens – hinter der ungleichen Beforschung zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat bzw. polnischem bzw. litauischem Tribunal auch ein erhebliches Quellenproblem: Zum Reichskammergericht gibt es in vielen deutschen Archiven eine umfangreiche Überlieferung, auch in polnischen Archiven wie etwa in den Staatsarchiven Stettin und Breslau. Der Reichshofrat ist in der Wiener Aktenüberlieferung bearbeitbar, wenn auch die aktenkundliche Trennung von anderen Beständen der Wiener Hofverwaltung schwierig ist und gegenwärtig in einem Pilotprojekt vorgenommen wird.5 Dagegen ist der gesamte zentrale Aktenbestand zum Krontribunal – insgesamt fast 4000 umfangreiche, jeweils Dutzende von Fällen enthaltende Aktenbände – von deutschen Brandkommandos nach Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 vernichtet worden. Erhalten blieben nur einige Restbestände aus dem 18. Jahrhundert im Staatsarchiv Lublin6 sowie eine schwer zu überblickende Streuüberlieferung. Besser erhalten sind die Bestände zum litauischen Tribunal in Wilnaer Archiven und in Weißrussland, die bereits in der älteren russländischen Forschung und in polnischlitauischer Kooperation nach 1989 stärker bearbeitet werden.7 Deshalb finden 5 6

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http://www.oesta.gv.at/site/cob__24329/currentpage__0/6647/default.aspx Übersicht und Auswertung bei Waldemar Bednaruk: Trybunał Koronny. Szlachecki sąd najwyższy w latach 1578–1794 [Das Krontribunal. Das höchste Adelsgericht in den Jahren 1578–1794], Lublin 2008, S. 12–13. Akty Glavnogo Litovskogo Trybunala [Akten des Litauischen Haupttribunals], Vilnjus 1880–1886 (Akty izdavaetye Vilenskoj Archeografičeskoju Komyseju, 11, 13); Dekrety Glavnogo Litowskogo Trybunala [Dekrete des Litauischen Haupttribunals]. Vilnjus 1888 (Akty izdavaetye Vilenskoj Archeografičeskoju Komyseju, 15); Augustinas Janulaitis: Vyriausiasis Lietuvos Tribunolas XVI–XVIII amž. [Das Litauische Haupttribunal im 16.– 18. Jahrhundert], Kaunas 1927.

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quellenbasierte Forschungen und Editionen heute vor allem zum Litauischen Tribunal statt.8 Infolge der Zerstörung des zentralen Warschauer Archivbestandes hat sich eine polnische Forschung zum Tribunal nach 1945 nur begrenzt ausgebildet. Versucht wurde auf der Basis einer Ersatzüberlieferung etwa von Landtagsakten sowie gestützt auf Ersatzbestände aus Lublin – einem der Sitzorte des Polnischen Tribunals – die Tribunalrechtsprechung zu rekonstruieren.9 So sind auch zum polnischen Fall in den letzten Jahren einige auch archivgestützte Studien erschienen,10 die allerdings in der westeuropäischen und in der deutschen Forschung – auch infolge der Abfassung in polnischer Sprache – nicht wahrgenommen wurden. Angesichts dieser ziemlich disparaten Situation ist die vergleichende Perspektive zwischen der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich und in Polen-Litauen kaum entwickelt. Ich habe vor mehr als zehn Jahren auf dem polnischen Historikertag in Breslau eine solche Vergleichsskizze versucht, die insbesondere die unterschiedliche Auswahl und Zusammensetzung der Assessoren und Geschworenen im Reichskammergericht und im polnischen Krontribunal verglich und daraus Konsequenzen für die Rechtsprechung in beiden Gerichten ableitete.11 Polnische Rechtshistoriker haben vor allem in älteren Monographien und Aufsätzen Vergleichsmomente und Rezeptionskanäle zwischen den jeweiligen Institutionen der Höchstgerichtsbarkeit am Rande erwähnt, aber das Thema niemals systematisch bearbeitet.12 Im Folgenden soll in vier Schritten zunächst auf die Entstehung der Institutionen der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich und in PolenLitauen vor allem unter der Frage eingegangen werden, in welchem Maße das Reichskammergericht ein Muster für die Ausbildung der polnisch-litauischen 8

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Vytautas Raudeli¯unas/Algirdas Baliulis (Hrsg.): Lietuvos Vyriausiojo Tribunolo sprendimai 1583–1655 [Die Dekrete des Litauischen Tribunals 1583–1655], Vilnius 1988; Vytautas Raudeli¯unas/Henryk Wisner: Z dziejów Trybunału Wielkiego Księstwa Litewskiego 1581–1648 [Aus der Geschichte des Litauischen Tribunals 1581–1648], in: Kwartalnik Historyczny (1986), H. 4, S. 947–968. Witold Maisel: Trybunał Koronny w świetle laudów sejmików i konstytucji sejmowych [Das Krontribunal im Lichte der Landtagsabschiede und Sejmkonstitutionen], in: Czasopismo Prawno–Historyczne 34 (1982), H. 2, S. 73–109; Wacław Zarzycki: Trybunał Koronny dawnej Rzeczypospolitej [Das Krontribunal des alten Polen-Litauen], Piotrków Trybunalski 1993. Bednaruk: Trybunał Koronny (wie Anm. 6); Antoni Dębiński (Hrsg.): Trybunał Koronny w kulturze prawnej Rzeczypospolitej szlacheckiej [Das Krontribunal in der polnischlitauischen adligen Rechtskultur], Lublin 2008. Hans-Jürgen Bömelburg: Wybór i profesjonalizacja w Europie Srodkowej: porównanie skladu Trybunalu Koronnego i Sadu Kameralnego Rzeszy [Rekrutierung und Professionalisierung in Mitteleuropa: ein Vergleich der Zusammensetzung des polnischen Krontribunals und des Reichskammergerichts], in: XVI Powszechny Zjazd Historykow Polskich. Pamietnik, Bd. 2, T. 2, Torun 2001, S. 197–206. Owald Balzer: Geneza Trybunału Koronnego. Studium z dziejów sądownictwa polskiego XVI wieku, Warszawa 1886; Marian Goyski: Reformy Trybunału Koronnego, Lwów 1909.

Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht

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Tribunalverfassung darstellte. Gefragt wird erstens, inwieweit es zu einem Transfer von institutionellen Lösungen und prozeduralen Mustern aus dem Alten Reich nach Polen-Litauen kam. Zweitens soll nach funktionalen Äquivalenzen und Abweichungen in der Entwicklung von Reichskammergericht und polnisch-litauischen Tribunalen gefragt werden. Die in manchen Bereichen konkurrierende monarchisch-höfische Rechtsprechung (der Reichshofrat und die polnischen monarchischen Gerichtsinstanzen – sąd królewski, sąd asesorski) bleibt hier aus Gründen der Handhabbarkeit außer Acht. Drittens wird es am Fallbeispiel des Litauischen Tribunals auf der Basis aktueller Studien um neue Einsichten in die Funktionsweise und die Mechanismen frühmoderner Gerichtsbarkeit in Polen-Litauen gehen. Gerade das Großfürstentum Litauen bietet hier eine Verflechtungszone zwischen westlichem und östlichem Europa. Abschließend soll viertens die Rezeption und Erinnerungsgeschichte von Reichskammergericht und den polnisch-litauischen Tribunalen skizzenhaft verglichen werden. Da zu den polnisch-litauischen Tribunalen bisher keine deutsch- oder englischsprachige Literatur vorliegt, ist es auch ein Ziel des Beitrags, die greifbaren Editionen, die nach wie vor maßgebliche ältere Literatur und insbesondere neuere Forschungen in polnischer, litauischer, weißrussischer und russischer Sprache zu erfassen und einzuordnen. So kann für die zukünftige Beschäftigung mit den Instanzen der Höchstgerichtsbarkeit in Polen-Litauen eine Ausgangsbasis geschaffen werden.

1. Die Ausbildung des polnischen Krontribunals: Transfer von Mustern und Prozeduren des Reichskammergerichts? Das Reichskammergericht im Jahre 1495 und das polnische Krontribunal in den 1570er Jahren – die formale Gründung erfolgte 1578 – entstanden in politischen Situationen ständischer Initiative, in denen die Reichsstände einerseits, der polnische und litauische Adel andererseits eine Appellationsgerichtsbarkeit im jeweiligen Reichsmaßstab durchsetzten, die ihnen starke Partizipationsmöglichkeiten gab. Dahinter standen langjährige und hartnäckig wiederaufgenommene ständisch-föderale Reformimpulse in beiden Verbänden – in der Forschung in den Begriffen „Reichsreform“ und „Exekutionsbewegung“ begrifflich gefasst – die diachron abliefen und deshalb nur selten vergleichend analysiert werden. In beiden Fällen war die monarchische Zentralgewalt aufgrund außenpolitischer Konflikte – mit Frankreich im Reich und mit Moskau im Polen-Litauen der 1570er Jahre – sowie durch wiederholte Abwesenheit zu erheblichen Kompromissen gezwungen. Bei den neuen Verfahren und Institutionen handelte es sich um eine Übernahme der alten monarchischen Hof- und Kammergerichte durch neue, weitgehend unab-

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hängig vom Monarchen angelegte und föderal organisierte Institutionen, mit sich schrittweise herausbildenden Rechtsinstanzen und Rechtszügen. Nicht anwendbar ist die vor allem im römisch-deutschen Reich und Deutschen Bund entwickelte Kategorie der schiedsgerichtlichen „Austrägalgerichte“, wie sie zwischen teilsouveränen Fürsten des Alten Reichs oder den Staaten des Deutschen Bundes bestanden, da hier ein moderner Souveränitätsbegriff vorausgesetzt wird. Die neuen Gerichtszüge im römisch-deutschen Reich und in Polen und Litauen waren unabhängig vom Monarchen und von der Zentralverwaltung, dies kam auch in der jeweiligen Ortswahl weit entfernt von den monarchischen Höfen zum Ausdruck. Frankfurt, Worms, Speyer und Wetzlar im Reich, Piotrków und Lublin in der Krone Polen, Wilna (lit. Vilnius), Navahrudak und Minsk im Großfürstentum Litauen: Alle diese Orte vereinte, dass an ihnen eben kein monarchischer Hof saß, der Einfluss auf die Rechtsprechung nehmen konnte. Allerdings besaß der Kaiser im Reichskammergericht durch die Auswahl seines Vertreters – des sog. Kammerrichters – einen prozeduralen Einfluss, wobei nachzufragen wäre, ob die Kammerrichter im Kammergericht nicht auch sehr stark im Kollegium sozialisiert und eingebunden wurden. Die polnischen und litauischen Tribunale wählten dagegen ihre Vorsitzenden selbst. Bei den langjährigen Diskussionen in Polen seit den 1530er Jahren, in denen postuliert wurde, gegenüber der nur schleppend funktionierenden monarchischen Gerichtsbarkeit müsse eine eigene höhere Gerichtsbarkeit entstehen, griff man wiederholt auf Vorbilder aus Frankreich – die französischen „parlements“ – und eben aus dem Reich zurück. Schon der Geistliche Stanisław Orzechowski (1513–1566) stellte 1548 in der zweiten Redaktion seiner Schrift „Fidelis subditus“ das Reichskammergericht als eine institutionelle Lösung für ein noch zu schaffendes Appellationsgericht in Polen vor.13 Andrzej Frycz Modrzewski-Modrevius (1503–1572) schlug in seinem Werk „Über die Verbesserung der Respublica“ (De Republica emendanda) – gedruckt erstmals 1551 in Krakau und erneut 1559 in Basel – vor, dass die Zusammensetzung eines zukünftigen polnischen obersten Gerichts 13

„Et quoniam haec iudicia non tantum iustitiaeinter ciues, sed etiam pacis et concordiae uidebatur esse causae, ideo et Gallia parlamentum suum ad hanc eadem formam constituit (idque esse uoluit) autoritatis tantae, ut regem etiam ipsum illi[us] iudicio in priuatis causis subiceret, et Germaniae quoque non dissimili ratione unum iudicium esse in cuncto imperio suo uoluit, cuius autoritati pareret; quod uulgo Germani uocant ,Camer[ger]icht‘. Cum ergo habeamus tot exempla retinendae pacis [...].“ Stanisława Orzechowskiego „Fidelis subditus“ w redakcji 2-ej z 1548 [Stanisławs Orzeczowskis „Fidelis subditus“ in der zweiten Redaktion von 1548], Warszawa 1908 (Biblioteka zapomnianych poetów i prozaików polskich XVI–XVIII w., Bd. 25), S. 64–65; vgl. auch Aldon Kłodziński: Na drodze do powstania Trybunału Koronnego (projekt sejmu warszawskiego w r. 1556/7) [Auf dem Wege zur Entstehung des Krontribunals (das Projekt des Warschauer Sejms von 1556/57], in: Księga pamiątkowa ku czci Oswalda Balzera, Bd. 2, Lwów 1925, S. 57–85, hier 64.

Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht

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derjenigen des Reichskammergerichts entsprechen sollte, also dort neben adligen Assessoren auch römischrechtlich ausgebildete Juristen sitzen sollten.14 Modrevius selbst hatte 1547/48 am Augsburger Reichstag als königlicher Sekretär und Mitglied der polnischen Delegation teilgenommen und kannte die Reichskammergerichtspraxis aus Gesprächen mit Ständevertretern. Verbunden war mit dem Plädoyer für eine Übernahme des Musters Reichskammergericht im polnischen Kontext durchaus auch eine Kritik an den gewohnheitsrechtlichen Traditionen einheimischer Rechtsprechung zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung des kodifizierten römischen Rechts. Der aus Großpolen stammende und in Wilna lebende Andreas Volanus (ca. 1531– 1610)15 formulierte dies nach der Realunion von 1569 im Jahr 1571/2 angesichts vorliegender Entwürfe. Man kann hier sehen, dass zu diesem Zeitpunkt der Diskurs auch im Großfürstentum Litauen angekommen war: „In unserer Respublica, wo gewöhnliche Leute, die der Rechtsdinge unkundig sind, als Richter und Beamte in die Gerichte nominiert werden, die nur gelernt haben, nach dem Gewohnheitsrecht die Fälle zu behandeln“, ließen sich diese „leichtfertig verführen und urteilten und fertigten Dekrete aus, nicht nach den Vorschriften des Rechts oder den Codices, sondern nach den blinden Neigungen ihres Geistes und ohne allen Verstand“. Anstelle dessen sollten „einige Doktoren des Rechts und genauso viele Adlige mit dem Wojewoden als Präsidenten [. . . ] alle Appellationssachen anhören und mit einem gemeinsamen Votum alle Differenzen entscheiden“16 . Volanus verwies bei diesem Vorschlag zur Verfahrensregelung ausdrücklich auf das Reichskammergericht, wo genau diese Regelung gelte, Juristen eine starke Stellung besäßen und lehnte die gewohnheitsrechtliche Praxis der polnischen Gerichte unter humanistischem Einfluss und mit dem Argument ab, dies öffne Tür und Tor für die Manipulationen Mächtiger.

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Balzer: Geneza Trybunału Koronnego (wie Anm. 12), S. 186–192, 342. Kestutis Daugirdas: Andreas Volanus und die Reformation im Großfürstentum Litauen. Mainz 2008 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 221), S. 101–183 Forschungsstand und politischer Biographie. Andrzej Wolan: De libertate politica sive civili libellus lectu non indignus [1571/72], in: Andrius Volanas/Rinktiniai Raštai [Gesammelte Werke], hrsg. v. Narcelinas Ročka/Ing˙e Luksait˙e,Vilnius 1996, S. 50–114; polnische Übersetzung: O wolności Rzeczypospolitej albo szlacheckiey książka godna ku czytaniu. Przedtym od niemałego czasu od pana Andrzeja Wolana sekretarza K.J.M. pisana. A dopiero nowo z łacińskiego języka na polski przełożona od Stanisława Dubingowicza, Wilna 1606 [NB XVI.Qu 480 adl.], hier S. 77, 86, jetzt lateinisch-polnische Neuausgabe: Andrzej Wolan: De libertate politica sive civili. / O wolności rzeczypospolitej albo ślacheckiej. Hrsg. v. Maciej Eder/Roman Mazurkiewicz, Warszawa 2010; vgl. auch Balzer: Geneza trybunału koronnego (wie Anm. 12), S. 186–192, 342.

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Versucht man die Kanäle zu ermitteln, auf denen die Kenntnis über die Strukturen des Reichskammergerichts sich in Polen-Litauen verbreitete, so kommen mehrere Wege in Betracht: Zunächst einmal studierten die polnischen Eliten im 16. Jahrhundert vielfach an deutschen Universitäten bzw. besuchten während ihrer mehrjährigen grand tour italienische und deutsche Höfe und Universitäten. Dort kamen sie häufig mit deutschen Universitätsbesuchern und Juristen in Kontakt. An italienischen Universitäten wurden polnische Studierende mit Ausnahme von Padua in der Regel der deutschen Universitätsnation zugewiesen. Dies trifft auch auf Modrevius, Orzechowski und Volanus zu, die ohne Zweifel die adlige Meinung in Polen auf die Einrichtung eines ständischen Appellationsgerichtes einstimmten. Interessant ist die Frage, inwieweit polnische Besucher während ihrer Kavalierstour auch direkt das Reichskammergericht besuchten. Dies ist häufiger anzunehmen, hierzu liegen jedoch nur verstreute Angaben vor. So besuchten polnische und litauische Besucher der Heidelberger Universität und des Heidelberger Hofes auch das in der Nachbarschaft gelegene Speyer.17 Zweitens wurden die Reichstage des Alten Reichs im 16. Jahrhundert sehr stark von polnischen Gesandtschaften frequentiert: Auf fast jedem Reichstag war eine polnische Gesandtschaft – oft im Umfang von zehn bis zwanzig Personen – unter Einschluss junger Adliger vertreten. An einer solchen Gesandtschaft nahm etwa auch Modrevius teil. Man kann von den Reichstagen in den ersten beiden Dritteln des 16. Jahrhunderts geradezu als mitteleuropäischen Informationsforen sprechen.18 Schließlich verbreitete sich die Kenntnis über das Reichskammergericht auch über Flugschriften und die juristische Fachliteratur, gerade die protestantische Publizistik wurde von polnisch-litauischen protestantischen Autoren wie Modrevius oder Volanus intensiv rezipiert. Diskutabel ist natürlich auch, inwieweit in dem Entstehen des polnischen Krontribunals auch transnationale Faktoren einer allgemeinen europäischen Verrechtlichung im 16. Jahrhundert eine Rolle spielten. Getragen wurden die verschiedenen Reformanläufe, die 1578 unter König Stefan Bathory in die Errichtung des Krontribunals mündeten, von dem Adel, der eine eigene, von den Peripetien königlicher Gunst losgelöste eigene Gerichtsbarkeit forderte und im Vorfeld der Feldzüge gegen das Moskauer Reich (1579–1582) auch erhielt.

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Jan Karlowicz: Polacy na wszechnicy Heidelberskiej w wiekach XV–XVIII [Polen an der Heidelberger Hochschule im 15.–18. Jahrhundert], in: Roczniki Towarzystwa Przyjaciół Nauk Poznanskiego 15 (1887), S. 311–328 (Namensverzeichnis der polnischen Studierenden). In Speyer waren etwa die Gebrüder Firlej, vgl. Jan Firlej: Oratio de studio historico. Scripta et publice recitata [. . . ] in Illust. et Antiq, Heidelberg, Academia 1604. Hans-Jürgen Bömelburg: Die Wahrnehmung des Reichstags in Polen-Litauen. Mitteleuropäische Kommunikationsstrukturen und die polnischen Gesandtschaften zum Reichstag 1486–1613, in: Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hrsg), Der Reichstag 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten, Göttingen 2006, S. 405–438.

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2. Abweichende Strukturen und funktionale Äquivalenzen im deutschen und polnischen Rechtssystem Die Ordnung für die Errichtung des polnischen Krontribunals von 1578 sah 27 weltliche Deputierte vor, die jeweils in den – fast ausschließlich von Adligen besuchten – Landtagen (sejmiki) für eine einjährige Kadenz gewählt werden sollten, sowie sechs geistliche Deputierte. Die Zahl der Deputierten wurde später in den Wahlordinationen mehrfach verändert (1590: 43, anschließend 50, 1726: 47, 1768: 21), aber der Grundsatz der Wahl durch die Landtage – in einigen Landtagen traditionell einstimmig, in anderen Landtagen nach Mehrheitswahlrecht – für eine Kadenz von lediglich einem Jahr blieb erhalten. Zentrale Überlegung hinter diesem Grundsatz war, dass die Deputierten als Richter eng mit ihrem Wahlgremium aus adligen Staatsbürgern verbunden sein sollten. Die Wahlordination sah vor, dass die Wahlkandidaten „würdige, gottesfürchtige, tugendhafte sowie mit den Rechten und Gerichtsprozeduren ihrer Provinz vertraute“ Personen sein sollten.19 Erstere Forderung findet sich auch in den Bestimmungen zur Wahl der Kandidaten für das Reichskammergericht, jedoch fanden sich in den polnisch-litauischen Bestimmungen keine Nachweise einer professionellen Qualifikation wie beim Reichskammergericht. Eher im Gegenteil: In der frühneuzeitlichen polnischen Fachliteratur wurde in wachsendem Maße ein Bürgergericht einem professionellen Gericht gegenübergestellt: „Und deshalb wollte unser polnischer Legislator gerechtfertigter Weise einen Krondeputierten und nicht aus Perugia einen Doktor beider Rechte“, so formulierte 1638 der selbst am Krontribunal als Prokurator tätige Andrzej Lisiecki († 1639), denn nur so könne eine adels- und bürgernahe Vertretung gewährleistet werden.20 Hinter dieser Argumentation stehen die stark gewohnheitsrechtlichen Grundlagen des polnischen adligen Rechtssystems. In Lisieckis in seiner Publikation abgebildeten Allegorie bilden die „moribus antiquis“ der polnischen Nation das Fundament der Rechtsprechung. Im 17. Jahrhundert wurden diese Grundlagen zudem stark durch ein republikanisches Pathos aufgeladen, das als zentrale adlige Legitimationsinstanz auf die „historischen Freiheitsrechte“ und die „polnische Freiheit“ verwies. Im Unterschied zur „teutschen Libertät“ besaß die „polnische Freiheit“ einen stärkeren Parolecharakter und konnte die adligen Massen Polen-Litauens in Ständeversammlungen und bündischen Zusammenschlüssen mobilisieren.

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Zarzycki: Trybunał koronny (wie Anm. 9), S. 11. Andrzej Lisiecki: Trybunał główny Koronny, siedmią splendorów oświecony [Das Kronhaupttribunal, in seinen sieben Ruhmestaten erleuchtet], Kraków 1638, S. 70.

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Aus dieser dominanten Freiheitsparole wurde der grundsätzliche Rotationsgrundsatz abgeleitet, da nur die Rotation eine kontinuierliche Verbindung von Deputierten und adliger Nation sichere. Die ständigen Neuwahlen verhinderten eine Absonderung der Deputierten zu einer separaten Gruppe – so die republikanische Theorie. In den Sejmkonstitutionen existierte zudem die Bestimmung, dass ein weltlicher Deputierter frühestens nach Ablauf von vier Jahren erneut gewählt werden konnte. Diese Bestimmung war in anderen polnischen zeitgenössischen juristischen Gremien keinesfalls zwingend. So war etwa in dem Gericht des Fideikommisses (ordynacja) der Familie Zamoyski (errichtet 1604) ein dauerhafter Sitz für den Lehrstuhlinhaber für Römisches Recht der dortigen Akademie Zamość vorgesehen.21 Der Grundsatz der jährlichen Rotation verpflichtete zunächst nicht die (katholischen) geistlichen Deputierten; ihre Zahl wuchs im Krontribunal zudem auf bis zu zehn Deputierte.22 Die geistlichen Deputierten wurden hälftig in allen „gemischten Materien“, die Adel wie Klerus betrafen, herangezogen, darunter auch in allen Religionsangelegenheiten. Dies führte dazu, dass das polnische Tribunal – stärker als das litauische Tribunal, in dem aufgrund der gemischten konfessionellen Verhältnisse die Rolle der geistlichen Deputierte beschränkter war – eine konfessionell einseitige katholische Rechtsprechung betrieb und die Rechte nichtkatholischer Personen immer stärker beschränkte. Der Rechtszug mündete so in eine konfessionelle Rechtsprechung, die zur Zurückdrängung der nichtkatholischen Konfessionen in der Krone Polen erheblich beitrug.23 Die ältere polnische rechtshistorische Literatur – etwa Oswald Balzer oder Marian Goyski – vermisste in den polnisch-litauischen Tribunalen jegliches Element einer Professionalisierung und urteilte deshalb – sicherlich unter dem Eindruck der formaljuristischen Verwissenschaftlichung des 19. Jahrhunderts zu scharf –, man habe die Jurisdiktion Dilettanten übergeben.24 Benannt werden sollten jedoch einige Elemente einer Professionalisierung, wobei aber gleichzeitig deren nur begrenzte Reichweite gegenüber dem Reichskammergericht bestimmt werden muss. Zunächst sicherten erstens

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Marzena Dyjakowska: Prawo rzymskie w Akademii Zamoyskiej w XVIII wieku [Römisches Recht an der Zamoyski-Akademie im 18. Jahrhundert], Lublin 2000, S. 40–47. Henryk Karbowiak: Deputaci duchowni na Trybunałach Koronnym i Litewskim [Die geistlichen Deputierten am Krontribunal und am Litauischen Tribunal], in: Kościół i Prawo (1992) H. 10, S. 185–202, hier S. 186–191. Jan W. Optrny: Trybunał Koronny i restauracja katolicyzmu w Polsce [Das Krontribunal und die Restauration des Katholizismus in Polen], in: I Sprawozdanie dyrekcji państwowego seminarium nauczycielskiego męskiego w Kielcach za rok szkolny (1917/18), S. 7– 29. Balzer: Geneza Trybunału Koronnego (wie Anm. 12), S. 342; Marian Goyski: Trybunał Koronny a polska literatura polityczna XVIII wieku [Das Krontribunal und die polnische politische Literatur des 18. Jahrhunderts], in: Studia historyczne wyd. ku czci Wincentego Zakrzewskiego, Kraków 1908, S. 219–239, hier S. 238.

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die Tribunalkanzlei und die Tribunalschreiber, die ihr Amt auf Lebenszeit bekleideten und zuvor oft an den Landgerichten tätig waren, eine gewisse fachliche Professionalisierung. Zweitens bildeten auch Juristen als ständige Anwälte vor dem Tribunal ein Fachpersonal. Drittens gelang den geistlichen Deputierten selbst eine gewisse Professionalisierung. Wir haben Beispiele dafür, dass die von den Bischöfen und Domkapiteln gewählten geistlichen Deputierten im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts bis zu 15-mal (= 15 Jahre) im Tribunal saßen (Świętosław Sarnowski 15mal, Andrzej Czacki 13mal). Um dies zu begrenzen führte ein Reichstagsbeschluss von 1633 eine einjährige Karenzzeit ein. Dies mündete jedoch darin, dass geistliche Deputierte oft systematisch alle zwei Jahre gewählt wurden, manchmal vier- bis achtmal. Diese geistlichen Deputierten, die häufig vier bis fünfzehn Jahre im Tribunal saßen, müssen als Fachpersonal betrachtet werden. Sie verfügten zudem in Form von Residenten der Domkapitel beim Krontribunal (der Bistümer Gnesen, Krakau, Posen, Włocławek) über eine professionelle Unterstützung. Es ist in der Forschung bekannt, dass die geistlichen Deputierten mit ihren fachlichen Beratern einen massiven Einfluss auf die Tribunalsrechtsprechung gerade in religiösen Angelegenheiten besaßen und eine erhebliche Rolle im Kontext der katholischen Reform und der Katholisierung der Krone Polens spielten. Dies konnte bis hin zur zivil- und strafrechtlichen Verfolgung von Protestanten „ex registro arianismi“ wegen angeblicher Neigungen zu den 1660 aus Polen-Litauen ausgewiesenen Antitrinitariern reichen und trug zur Spätkonfessionalisierung der Krone Polen bei.25 Diese Verweildauer der geistlichen Deputierten in Polen ist vergleichbar mit der Amtszeit der Assessoren beim Reichskammergericht, wo bis in die 1570er Jahre ebenfalls eine erhebliche Fluktuation die Regel war. Deshalb beschloss der Reichsabschied von 1566, dass die Assessoren zumindest sechs Jahre am Reichskammergericht verweilen mussten. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wuchs im Alten Reich die Tendenz zu lebenslangen Ernennungen.26 In Wetzlar waren die Assessoren durchschnittlich 18 Jahre tätig, dafür gibt es am polnischen Tribunal keine Parallelen. Wie weit dieser Faktor einer Professionalisierung in Relation zum Reichskammergericht, an dem römischrechtlich ausgebildete Assessoren die Mehrheit bildeten, reichte, muss differenziert beurteilt werden. In den polnischen Landtagsdiskussionen wie in der Publizistik fanden sich wiederholt Stimmen, die kritisch von willkürlichen Änderungen der Verfahrensabläufe vor dem

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Marek Wajsblum: Ex regestro arianismi. Szkice z dziejów upadku protestantyzmu w Małopolsce [Ex registro arianismi. Skizzen aus der Geschichte des Verfalls des Protestantismus in Kleinpolen], Kraków 1937–1948. Sigrid Jahns: Durchgangsposten oder Lebensstellung? Das Kammergerichtsassessorat in den Karriereverläufen frühneuzeitlicher Juristen, in: Friedrich Battenberg/Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar/Köln/Wien 1994, S. 271–309.

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Krontribunal sprachen. In der Reformdiskussion des 18. Jahrhunderts sprach sich insbesondere Stanisław Leszczyński (1677–1766) – mehrfacher Thronprätendent – in einer anonymen, ihm zugeschriebenen Schrift dem „Freien Wort“ (Głos wolny) 1728 für eine zeitlich unbegrenzte Wahl der Deputierten aus, damit diese bessere formale Kenntnisse und höhere Gelehrsamkeit (eruditio) erwerben könnten.27 Allerdings besaß dieser Reformvorschlag keinerlei Realisierungschancen. Im Gegenteil: Noch die Sejmkonstitution von 1775 legte fest, dass Deputierte erst nach Ablauf von sechs Jahren erneut gewählt werden könnten, und schaffte die erst kurz zuvor (1768) eingeführte reguläre Bezahlung der Deputierten aus dem Staatsschatz wieder ab. Der vierjährige Sejm 1788–1792 legte fest, dass auch die geistlichen Deputierten durch den Adel auf den Landtagen gewählt werden sollten. Erkennbar werden hier die dominanten republikanischen Entwicklungslinien des polnischen Rechtssystems, das stärker auf adlige Laienrichter setzte, die eine eng an das adlige Wahlgremium angelehnte gewohnheitsrechtliche Rechtssprechungspraxis garantierten. Ausgeschlossen blieb im polnisch-litauischen Rechtssystem die Möglichkeit einer Selbstrekrutierung von Juristen über juristische Netzwerke, während im Reich die Reichskreise zwar zwei oder drei Kandidaten präsentieren durften, die schließliche Auswahl aus diesen Kandidaten in General- und Spezialexamina jedoch durch das Kammerkollegium erfolgte. Das Fehlen universitärer Titel oder einer langjährigen Rechtserfahrung verminderte hier die Chancen von Kandidaten nachhaltig. Ein erheblicher funktionaler Unterschied zwischen Reichskammergericht und polnischem Tribunal bestand darin, dass das Tribunal in zwei, ca. viermonatigen Kadenzen von November bis zum Palmsonntag in Piotrków (Petrikau) für Großpolen und nach Ostern bis zum Juni im kleinpolnischen Lublin Recht sprach. In beiden Städten gab es mit dem Rathaus in Petrikau und dem bis heute erhaltenen Gebäude des Tribunals in der Lubliner Altstadt Tagungsorte mit entsprechenden Räumlichkeiten und einem Archiv.

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„Trzeba, żeby miał capacitatem nie tylko przez naturalny rozsądek, ale i nabytą erydycyę iuris communis praw ojczystych i formalitatem procesów jurydycznych, a przytym fidelitatem i sumnienie intuitione niewinności“. [Es muss so sein, dass er eine capacitas nicht nur durch normale Vernunft, sondern auch durch eine erworbene Eruditio des gemeinen Rechts, der vaterländischen Rechte und eine formalitas in Gerichtsprozessen besitzt sowie vor allem fidelitas und eine sorgfältige Intuition für die Unschuld]. Stanisław Leszczyński: Głos wolny wolność ubezpieczający [Die freie Stimme, die die Freiheit sichert], hrsg. v. Adolf Rembowski. Warszawa 1903; Jerzy Michalski: Studia nad reformą sądownictwo i prawa sądownego w XVIII w. [Studien zur Reform der Rechtsprechung und des Prozessrechts im 18. Jahrhundert], Wrocław/Warszawa 1958, S. 148–152.

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Die Gerichte bildeten für beide Städte eine erhebliche Auszeichnung wie Einnahmequellen für die städtische Wirtschaft. Strukturell sorgte allerdings die Pendelei zwischen den Gerichtsorten Piotrków und Lublin dafür, dass Vorgänge nicht kontinuierlich, sondern jeweils nur in den einzelnen Sitzungsperioden bearbeitet werden konnten, da die jeweiligen Akten vor Ort blieben. Dies schuf erhebliche logistische Probleme, sorgte zudem auch wiederholt für Aktenverluste und Vertagungen. Die Reichweite des Rechtszugs zum polnischen Krontribunal erstreckte sich zunächst nur auf die beiden historischen Regionen Großpolen und Kleinpolen einschließlich Rotreußens mit Lemberg. Die sprachlich mehrheitlich ostslavisch und rechtlich durch die litauischen Statute geprägten ruthenischen und ukrainischen Wojewodschaften bis hin nach Kiev planten zunächst die Errichtung eines eigenen Tribunals in Luc’k (heute Ukraine), in dem nur adlige Deputierte und keine geistlichen Deputierten sitzen sollten. Hintergrund war, dass in den südöstlichen Regionen die ruthenische Sprache und die orthodoxe Konfession eine größere Rolle spielten und das litauische Recht durch die litauischen Statute hier verankert war.28 Allerdings konnte sich diese Tradition im späten 16. Jahrhundert in der heutigen Ukraine nicht durchsetzen, da die immer stärker katholisch werdenden Hochadligen sich mehrheitlich an das Krontribunal mit dem für den Adel in einigen Passagen günstigeren polnischen Recht und nicht an das zunächst eingerichtete ruthenische Tribunal wandten. Dieses ruthenische Tribunal verzeichnete zu geringe Steuereinnahmen und Gerichtsgebühren und ging deshalb nach 1590 ein.29 Noch komplizierter war die Situation im Nordwesten im Preußen Königlich Polnischen Anteils, kürzer auch „Königliches Preußen“ oder im 18. Jahrhundert „Polnisches Preußen“ genannt. Im Königlichen Preußen bestanden neben dem Adel starke städtische Kommunen wie Danzig, Elbing oder Thorn. Als Landessprache funktionierte seit der Ordenszeit auch das Deutsche. Rechtsgrundlage bildete eine für den Adel weiterentwickelte Fas-

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„iż się te Woiewodztwa sądzą prawem y Statuem Wielkiego Xięstwa Litewskiego“. Volumina Legum. Przedruk zbioru praw staraniem XX Oijarów w Warszawie od roku 1732 do roku 1782 wydanego. 10 + 2 Bde., Petersburg/Poznań 1859–1952, Bd. 2, S. 185. Waldemar Bednaruk: Sejmiki deputackie województw południowo-wschodnich Rzeczypospolitej od XVI do XVIII wieku [Die Deputationslandtage in den südöstlichen Wojewodschaften Polen-Litauens], in: Adam Lityński/Piotr Fiedorczyk (Hrsg.), Wielokulturowość polskiego pogranicza. Ludzie – idee prawa, Białystok 2003, S. 259–267; für die Versuche, ein eigenständiges Tribunal zu schaffen, unersetzt: Mikolaj Jasins’kyj: Materialy dlja istorii luckogo Trybunala [Materialien zur Geschichte des Luc‘ker Tribunals], Kiev 1899; ders.:, Luckij Trybunal, kak vysšaja sudebnaja instancija dlja Volynskogo, Braclavskogo i kievskogo voevodstva v poslednej četverti XVI v. [Das Luc’ker Tribunal als höchste Gerichtsinstanz für die Wojewodschaften Wolhynien, Braclav und Kiev], Kiev 1900.

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sung des Kulmer Landrechts, das Ius terrestre Nobilitatis Prussiae Correctum (1598).30 Der Rechtszug von den adligen Landgerichten in Preußen an das polnische Krontribunal war deshalb wegen der unterschiedlichen Sprache sowie der abweichenden Rechtsgrundlage umstritten. Er setzte sich erst im 17. Jahrhundert schrittweise durch31 , wurde aber von der protestantischen Fraktion (ca. 50 % des landsässigen Adels mit abnehmender Tendenz) nicht gesucht. Hier appellierte man an den preußischen Generallandtag, in dem aber wiederum städtische Vertreter eine starke Position besaßen. Langfristig – mit der Katholisierung und Polonisierung des Adels – setzte sich der Rechtszug an das polnische Tribunal auch im Königlichen Preußen durch, wobei Bromberg (Bydgoszcz) als Gerichtsort eingefordert wurde und das weiterentwickelte Kulmer Recht bis ins späte 18. Jahrhundert verbindlich blieb. Grundsätzlich sind das historische Preußenland wie auch Liv- und Kurland Territorien, in denen frühneuzeitlich verschiedene Appellationswege, auch konkurrierend ans Reichskammergericht und an die polnischen und litauischen Tribunale, in jeweils konkreten politischen Situationen gegangen wurden. Diese konkurrierenden Rechtswege und ihre (begrenzte) Durchsetzung vor Ort sollte vergleichend für die deutschen und polnisch-litauischen Appellationsgerichte untersucht werden.

3. Das Litauische Tribunal und die Durchsetzung von Mustern einer adligen Gerichtsbarkeit in den lateinisch-ostslavischen Kontaktzonen des östlichen Europa Eine durch eigene Rechtstraditionen geprägte Landschaft bildete das Großfürstentum Litauen, seit 1569 in Realunion mit der Krone verbunden, das auf dem altrussischen und altlitauischem Gewohnheitsrecht aufruhte und mit dem Alt(weiß)russischem eine eigene ostslavische Gerichtssprache besaß. Das Großfürstentum Litauen entwickelte mit den in altweißrussischer Sprache kodifizierten Ersten bis Drittem Litauischen Statut (1529, 1566, 1588) eine eigene, frühneuzeitlich in Kyrillica und im 17. und 18. Jahrhundert auch in polnischer Übersetzung gedruckte, Rechtskodifikation und eigene Rechtstraditionen mit in manchen Fragen – etwa Eigentumsbestimmungen, einem 30

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Zbigniew Zdrójkowski: Prawo chełmińskie. Powstanie, rozwój i jego rola dziejowa [Das Kulmer Recht. Entstehung, Entwicklung und geschichtliche Rolle], in: Dzieje Chełmna i jego regionu, Toruń 1968, S. 485–535. Kodifizierung: Ius terrestre Nobilitatis Prussiae correctum anno 1598. [Thorn] 1599; polnische Ausgabe: Prawa chełmińskiego poprawionego y z Łacińskiego języka na polski przetłumaczonego ku pospolitemu pożytkowi, Poznań 1697.

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überkonfessionellen Recht, den persönliche Freiheitsrechten des Adels – moderneren Passagen, als das regional durchaus stark differierende polnische Recht.32 Diese Kombination zwischen Anderssprachigkeit und besserem Recht verhinderte frühneuzeitlich eine Angleichung beider Rechtsräume, im Gegenteil übernahm die polnische Rechtspraxis Elemente aus den Litauischen Statuten. Als oberste Rechtsinstanz und Appellationsgericht für das Großfürstentum Litauen entstand deshalb seit 1581 das Litauische Tribunal.33 Recht gesprochen wurde hier ebenfalls von adligen Deputierten auf der Basis der Litauischen Statute und deren Weiterentwicklungen.34 Zwar ging auch die dortige Rechtsprechung im 18. Jahrhundert mit dem Sprachwechsel des Adels zum Polnischen über, doch blieb das eigene litauische Recht ein zentrales und in seinen Auswirkungen kaum zu unterschätzendes Identifikations- und Separationsmerkmal für die Eliten des Großfürstentums Litauen. Das „Haupttribunal des Großfürstentums Litauen“ – im Folgenden „Litauisches Tribunal“ genannt – entstand 1581 auf der Basis eines Privilegs Stefan Bathorys für die „Bürger des Großfürstentums Litauen“ (Trybunał obywatelom Wielkiego Księstwa Litewskiego).35 Sichtbar wird hier die Übertragung des Staatsbürgerbegriffs auch auf den Adel des Großfürstentums Litauen. Strukturell übernahm das Litauische Tribunal Regelungen des Krontribunals, wies aber in einigen Organisationsfragen auch bezeichnende Abweichungen auf, die vor allem auf die unterschiedlichen Rechtstraditionen des Großfürstentums und die andere konfessionelle Zusammensetzung der dortigen Eliten zurückzuführen sind. Es existierte bis 1792, also mehr als zweihundert Jahre lang. Gerade der Transfer eines mitteleuropäischen Rechtssystems in eine konfessionell gemischte und zumindest im späten 16. und 17. Jahrhundert mehrheitlich ostslavische Umgebung warf zahlreiche Probleme auf und löste erhebliche Verschiebungen in der litauischen Rechtspraxis aus. 32

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Grundlegend: Andrzej B. Zakrzewski: O kulturze prawnej Wielkiego Księstwa Litewskiego XVI–XVIII wieku – uwagi wstępne [Zur Rechtskultur des Großfürstentums Litauen vom 16.–18. Jh. Vorbemerkungen], in: Maria Tereza Lizisowa (Hrsg.), Kultura i języki Wielkiego Księstwa Litewskiego, Kraków [o.J.], S. 33–63; in deutscher Sprache zusammenfassend Mathias Niendorf : Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569–1795). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 3), S. 83–89. Ivan Lappo: Iš Vyriausiojo Lietuvos Tribunolo istorijos [Aus der Geschichte des Obersten Litauischen Tribunals], Kaunas 1932. Prosopographie: Henryk Lulewicz/Andrzej Rachuba (Hrsg.): Deputaci Trybunału Głównego Wiekiego Księstwa Litewskiego 1582–1696. Spis [Die Deputierten des Litauischen Tribunals 1582–1696. Listen], Warsuawa 2007; Andrzej Rachuba/Przemysław P. Romaniuk (Hrsg.): Deputaci Trybunału Głównego Wiekiego Księstwa Litewskiego (1697– 1794). Spis [Die Deputierten des Litauischen Tribunals (1697–1794. Listen], Warszawa 2004. Trybunał obywatelom Wielkiego Księstwa Litewskiego na sejmie warszawskim dany roku tysiąc pięćset osiemdzisiątego pierwszego. W drukarni Leona Mamonicza 1623.

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Den Rechtsbezirk für das Litauische Tribunal bildete das Großfürstentum Litauen in den Grenzen nach 1569, also das heutige Litauen, Belarus’ sowie Nordostpolen und Westrussland. Gemäß des ursprünglichen Privilegs sollte das Tribunal aus Deputierten der Landtage des Großfürstentums Litauen jährlich an Mariä Lichtmess (2. Februar) gewählt werden (i.d.R. zwei Deputierte pro Landtag) und dann in vier Sitzungsperioden in Wilna, Trakai (poln. Troki), Navahrudek (poln. Nowogródek) und Minsk tagen. Der Sitzungszyklus sollte in Vilnius am zweiten Sonntag nach Ostern für sechs Wochen beginnen, anschließend sollten die Deputierten nach Trakai (für sechs Wochen), Navahrudek (für zwölf Wochen, davon sechs Wochen für die Wojewodschaft Navahrudek, sechs für die Wojewodschaft Brest) und schließlich nach Minsk reisen. Es handelte sich also um ein mobiles Gericht mit allen Problemen, die das für die Organisation der Kanzlei und die Schriftlichkeit der Einrichtung aufwarf. Dieser Zeitplan erwies sich sehr schnell als für die Organisation der Rechtstätigkeit und den Ablauf der einzelnen Verfahren als äußerst unbequem. Die Tagungsorte lagen teilweise mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt, die Gebäude – zunächst in der Regel die großfürstlichen Burganlagen – mussten jeweils für die aktuellen Sitzungsperioden hergerichtet werden. Deshalb entschied man sehr schnell seit 1589 die Sitzungsperioden nur noch auf zwei Orte zu verteilen. Das Litauische Tribunal tagte fortan 16–18 Wochen in Vilnius (Woj. Vilnius, Trakai, Schemaiten und Polock) und im Herbst jährlich abwechselnd ca. 16–18 Wochen in Navahrudak oder Minsk. Die letztere Sitzungsperiode wurde vielfach als „ruska kadencja“ (als „russische“ oder „ruthenische Sitzungsperiode“) bezeichnet. Verhandelt wurden vor dem litauischen Tribunal in der Regel adlige Rechtsstreitigkeiten. Die wenigen königlichen Städte im Großfürstentum appellierten an das königlich-großfürstliche Assessorialgericht, Bauern hatten keinen unmittelbaren Zugang zum Tribunal. Allerdings war es sehr wohl möglich, dass mit Hilfe adliger Agenten und der Gewinnung des Ohrs einer adligen Partei auch bäuerlich-adlige Streitigkeiten vor dem Litauischen Tribunal landen konnten. Das Litauische Tribunal war ein reines Geschworenen- und Laiengericht; die Deputierten hatten wie die Deputierten des Krontribunals in der Regel keine formaljuristische Rechtsausbildung, sondern lediglich mehr oder weniger große Erfahrungen im litauischen Gewohnheitsrecht. Gewählt werden konnten christliche Adlige, die das Indigenat besaßen und die Dreifaltigkeitslehre anerkannten (also keine Antitrinitarier und Muslime, obwohl beide Bekenntnisse auch im litauischen Adel vertreten waren). Ein professionelles Element bildeten vor allem Anwälte und Rechtsvertreter, die dauerhaft am Tribunal tätig waren und ihre Dienste anboten.36 Das Gremium war bis 36

Adam Stankevič: Lietuvos Vyriausiojo Tribunolo advokatai (1662–1792). Ankstyvu˛ju˛ nauju˛ju˛ laiku˛ profesin˙e subkult˘ura [Die Anwälte am Litauischen Tribunal (1662–1792).

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ins 18. Jahrhundert multikonfessionell, in ihm saßen bis in die 1730er Jahre neben Katholiken auch Protestanten, Orthodoxe und Unierte. Eine Wiederwahl war ursprünglich erst nach zwei Jahren möglich, seit 1611 erst nach vier Jahren. Schrittweise wurde auch untersagt, dass ein Deputierter sich in einem anderen Kreis wählen ließ. Die Abstimmungen auf den Landtagen erfolgten nach Anhörung der Parteien mit ihren Rechtsvertretern nach dem Mehrheitsprinzip (erhalten sind Strichlisten mit der Auszählung der Stimmen für die einzelnen Kandidaten).37 An der Spitze des Tribunals stand für jede 18wöchige Sitzungsperiode ein gewählter Vorsitzender, in der ständischfrühparlamentarischen Tradition meist „Marschall“, im 18. Jahrhundert auch „Präsident“ genannt. Grundsätzlich war das Litauische Tribunal ebenfalls als Appellationsinstanz konzipiert. Bei Sachen, die vor den Grod- und Kreisgerichten verhandelt wurden, bestand eine Appellationsmöglichkeit an das Tribunal. Zudem sollten im Tribunal Sachen, die vom Reichstag oder vom königlichen Hofgericht (sąd zadworny) an das Tribunal verwiesen wurden oder dort wegen Sitzungslimitierung nicht behandelt werden konnten, verhandelt werden. Mit der Zeit wuchs allerdings die Zahl der Fälle, die unmittelbar dem Tribunal vorgelegt wurden, zumeist wurde vorab in den Grodgerichten eine summarische Entscheidung bestellt, von der aus dann appelliert werden konnte. Nur für den Fall der Appellation von geistlichen Gerichten und bei Sachen, an denen eine geistliche Partei beteiligt war, wurden in Form eines „compositi iudicii“ in der Sitzungsperiode in Vilnius ein gemischtes Gericht aus drei weltlichen und drei geistlichen Deputierten gebildet.38 Hier liegt ein erheblicher Unterschied zum polnischen Krontribunal, in dem die geistlichen Deputierten von Beginn an an allen religiösen Angelegenheiten beteiligt waren. Dies führte dazu, dass das Litauische Tribunal (zumindest in der regulären Zusammensetzung ohne katholische Geistliche) im 17. Jahrhundert deutlich weniger katholische und gegenreformatorische Beschlüsse traf als das polnische Pendant. In der Forschung wird zumindest noch für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts eine überkonfessionelle Rechtspraxis bescheinigt.39

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Eine professionelle Subkultur in der Frühmoderne]. Magisterarbeit Vilnius 2007 http:// vddb.library.lt/fedora/get/LT-eLABa-0001:E.02~2007~D_20070816_175529-66767/ DS.005.0.02.ETD Fallstudie zu einem Landtag mit intensiver Berücksichtigung der Deputiertenwahlen: Andrzej B. Zakrzewski: Sejmiki Wielkiego Księstwa Litewskiego. Ustrój i funkcjonowanie: Sejmik trocki [Die Landtage des Großfürstentums Litauen. Verfassung und Funktion: Der Landtag von Trakai], Warszawa 2000. Hierzu liegt eine Lateranuniversität vorgelegte lateinischsprachige Dissertation vor: Romualdas Krikšči˘unas: De supremo Tribunali compositi Iudicii Magni Ducatus Lithuaniae 1584–1795, Romae 1963 [149 S.]. Niendorf : Großfürstentum Litauen (wie Anm. 32), S. 85; David Frick: Słowa uszczypliwe, słowa nieuczciwe: The Language of Litigation and the Ruthenian Polemic, in: Palaeoslavica 10 (2002), Nr. 1, S. 122–138, hier S. 135.

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Allerdings war das „compositi iudici“ mit drei katholischen Deputierten auch bei Streitigkeiten zwischen orthodoxen und unierten Parteien beteiligt und trug erheblich dazu bei, dass sich die unierte, den Hl. Stuhl anerkennende Kirche bereits im 17. Jahrhundert beinahe im gesamten ostslavischen Teil des Großfürstentums durchsetzen konnte. In vielen Fällen waren sowohl die Wahlen der Deputierten auf den Landtagen wie die Wahlen der Funktionsträger durch das Tribunal heftig umstritten und mit informellen Einflussnahmen und Geldzahlungen verbunden. Ein Beispiel: Bei der Wahl des Schreibers für die halbjährige Kadenz des Litauischen Tribunals, die vom 31. Oktober 1740 bis zum 18. März 1741 dauerte, kam es im Frühjahr 1740 zu einem heftigen Konflikt zwischen zwei gegnerischen hochadligen Fraktionen um die Familienverbände der Sapiehas und der Radziwiłłs. Marcin Matuszewicz (1714–1773) – Deputierter des Kreises Kaunas (Kowno) – berichtete in seinen Erinnerungen darüber wie folgt: „Meine erste Aufgabe war es, sich gegenüber dem Wetteifern der Herren interessiert zu zeigen. Ich konnte nicht vorhersehen, wie es ausgehen würde, noch besaß ich die erforderliche Nüchternheit. Zunächst versuchte mich Lindeman, der Kämmerer von Kaunas, zu überreden, dass ich meinen Strich beim ruthenischen Schreiber für Korsak machen sollte, aber dann zogen mich Sosnowski [. . . ] und der Herr Koadjutor des Bistums Vilnius [Józef Stanisław Sapieha, 1708–1754] persönlich auf ihre Seite, damit ich mich für Łopaczyński erkläre.“40 Matuszewicz blieb bei dieser Entscheidung und erhielt auf dem Tribunal allein von den Sapiehas nach den erhaltenen Rechnungsbüchern 612 Zloty und wertvollen Schmuck, zuvor war er mit weniger als 100 Zloty zum Tribunal gereist.41 Wenn die Parteien für jeden der ca. 40 Deputierten solche Summen aufbrachten, werden auch die erheblichen finanziellen Einsätze für eine entsprechende Besetzung des Tribunals erkennbar. Warum wurde gerade um das Amt des Schreibers für lediglich eine halbjährige Sitzungszeit so erbittert gestritten? Und warum besaß eine halbjährige Sitzungsperiode des Litauischen Tribunals im 18. Jahrhundert eine solche Bedeutung, dass selbst die führenden Familien Litauens persönlich anwesend waren und erhebliche Summen investierten? 40

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„Pierwsze to moje pole było być interesowanym między emulującymi panami. Nie miałem ani peneracji na dalszy czas, ani ostrożności w prytomnym czasie potrzebnej. Naprzód mię Lindeman, podstoli kowieński, namówił, że deklarowałem kreskę moją do pióra ruskiego dla Korsaka, a potem mię Sosnowski, teraźniejszy pisarz, i sam ksiądz koadiutor przerobił na swoją stronę, żem się deklarował dla Łopacińskiego.“ Marcin Matuszewicz: Diariusz mojego życia [Buch meines Lebens]. 2 Bde. Bd. 1, Warszawa 1986, S. 160. Nach Andrej Macuk: Wybór pisarzy Trybunału Wielkiego Księstwa Litewskiego w latach 40. XVIII w. [Die Wahl der Schreiber beim Litauischen Tribunal in den 1740er Jahren], in: Tomasz Ciesielski/Anna Filipczak-Kocur (Hrsg.), Rzeczpospolita państwem wielu narodowości i wyznań. XVI–XVIII wiek, Warszawa Opole, S. 105–124, hier 106– 107.

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Grundsätzlich war die litauische, sprachlich und konfessionell gemischte Adelskultur des 17. und 18. Jahrhunderts zu einem hohen Teil entlang von Rechtsprozeduren organisiert.42 Matuszewicz widmete in seiner Autobiographie diesem Komplex über 20 % seiner im Druck über 1000 Seiten umfassenden Erinnerungen. Im Zentrum standen dabei von ihm selbst geführte Prozesse und seine eigene Deputiertentätigkeit am Litauischen Tribunal, das aus dieser Perspektive zum wichtigsten Austragungsort des politischen Lebens im Großfürstentum Litauen wurde und der politischen Kultur der Großregion seinen Stempel aufdrückte. Die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des Tribunals bildete das in den drei Litauischen Statuten 1529, 1566 und 1588 verschriftliche und schließlich auch in mehreren Sprachen gedruckte litauische Recht (zudem Konstitutionen des polnisch-litauischen Reichstages und gewohnheitsrechtliche Setzungen durch das Litauische Tribunal). In den Instruktionen hieß es, die Deputierten sollten sich auf diese Rechtsgrundlage stützen und „die Dekrete nicht nur aus dem dem Kopf [aus gewohnheitsrechtlicher Grundlage], sondern auf der Basis von schriftlichen Bestimmungen erlassen („a dekreta nie z głowy, a z pisma czynić, a pod dekretem dwa albo trzy sędziowie podpisać się mają“). Alle drei litauischen Statute sind in ihren ersten Schriftfassungen in einer altweißrussischen, in den Quellen als „ruthenisch“ (russkij) oder „gemeine Sprache“ (mova prosta) bezeichneten Umgangssprache mit kyrillischem Alphabet aufgezeichnet worden. Sie wurden zeitgenössisch ins Lateinische und Polnische übersetzt. Im 17. Jahrhundert ist – früher bei den Tribunalsakten der Wilnaer Sitzungsperiode als in der „ruthenischen“ Sitzungsperiode – ein Übergang vom Ruthenischen zum Polnischen festzustellen. Dabei lässt sich in den Akten des Litauischen Krontribunals generell ein gleitender Übergang beobachten. Im Laufe des 17. Jahrhunderts bleiben vor allem noch die Anfangs- und Schlussformeln auf ruthenisch erhalten, während der eigentliche Textteil nun vielfach polnisch niedergeschrieben wird. Wenn in der Jahrhundertmitte noch vereinzelt vollständig altweißrussische Schriftstücke ausgestellt wurden, erhielten sie vermehrt zur Sicherheit eine polnische Zusammenfassung. Der schrittweise Übergang zum Polnischen wird hier – wie auch in der Form der Unterschriften der Deputierten – fassbar.43 Mit der 1697 vom polnisch-litauischen Reichstag verabschiedete „Coaequatio iurium“ ging auch das Litauische Tribunal zumindest in der Verzeichnung – über die tatsächliche Sprache vor dem Tribunal sind wir deutlich schlechter informiert – nun zum Polnischen über. 42 43

Dazu Niendorf : Großfürstentum Litauen (wie Anm. 32), S. 83–89. Jan Jurkiewicz: Polonizacja językowa szlachty w Wielkim Księstwie Litewskim u schyłku XVI wieku w świetle podpisów trybunalskich [Die sprachliche Polonisierung des Adels im Großfürstentum Litauen am Ende des 16. Jahrhunderts im Lichte der Unterschriften der Deputierten], in: Zbigniew Chodyła (Hrsg.), Eruditio et interpretatio, Poznań 1997, S. 215–228.

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Insgesamt sind aus der Tätigkeit des Litauischen Tribunals mehr als 2000 Aktenbände erhalten – auf jeden Fall nur ein Bruchteil der ursprünglichen Überlieferung. Die Forschungsperspektiven sind hier deutlich günstiger als für das Polnische Krontribunal. Das Archiv des Tribunals wird mehrheitlich im Litauischen Staatsarchiv in Vilnius aufbewahrt, eine tatsächliche Auswertung der Aktenüberlieferung und der verhandelten Sachen ist allerdings bisher nur ansatzweise erfolgt. Insbesondere fehlen exemplarische Detailstudien zu einzelnen Sitzungskadenzen oder zu sich über mehrere Jahre bis Jahrzehnte hinziehenden Streitfällen. Die Ursache für diese Lücken liegt im fehlenden Interesse an der Thematik bis in die 1990er Jahre, aber auch in der Problematik der Überlieferung an sich. Erhalten sind in der Masse die schriftlichen Urteilsdekrete, jedoch kaum detaillierte Prozessakten der in der Regel mündlich geführten Verfahren. Die Mehrsprachigkeit des Gerichts bereitet erhebliche paläographische Probleme. Erneute Anhörungen, Verhöre, Beweisanträge und Urteile in ein und derselben Sache sind über mehrere umfangreiche Aktenbände verteilt und in vielen Fällen in den Repertorien nicht zusammenhängend erfasst. Erkennbar ist jedoch aus zeitgenössischen Aufzeichnungen – und das wird auch durch die Aktenüberlieferung unterstützt – die erhebliche Bedeutung der Schreiber, die die Gerichtsagenden führten und vor allem auch vorrangig festlegen konnten, welcher Fall zu welchem Zeitpunkt behandelt wurde. So war es über eine Beeinflussung des Schreibers – ebenso wie durch eine Einflussnahme auf den Marschall bzw. Präsidenten – möglich, die Tagesordnung (vocanda) der Verfahren zu beeinflussen und eine Behandlung von gewünschten Verfahren zu beschleunigen und von missliebigen Verfahren – oft über mehrere Jahre hinweg – zu verschieben. Die Adelsparteien um die Familien der Sapiehas und der Radziwiłłs, die sich 1740 um den Zugriff auf das Amt des Schreibers erbitterte Gefechte lieferten, wussten also sehr gut, warum sie auf diese Personalie so großen Wert legten. Die Ausführung und Durchsetzung der vom Tribunal getroffenen Urteile blieb in der Krone Polen wie auch in Litauen ein erhebliches Problem. Vor Ort wurde die Ordnung des Tribunals durch militärische Einheiten – in der Regel in Kompaniestärke – sichergestellt. Diese Einheiten stellten die Aufrechterhaltung der Ordnung vor den Gerichten sicher, ahndeten Verstöße gegen Verbote (Duell- und Alkoholverbot) und führten nach Aburteilungen auch Leibstrafen bis hin zu Todesurteilen aus. Die Exekutionsmöglichkeiten für Urteile gegen mächtige Adelsfamilien waren dagegen mit wachsender Entfernung vom Tribunalsort begrenzt, insbesondere wenn es um die verbreiteten Güter-, Grenz- und Schadensstreitigkeiten ging. Bereits Zeitgenossen sahen in der fehlenden Exekution der Urteile des polnischen und litauischen Tribunals ein erhebliches Problem und diese Einschätzung findet sich auch insbesondere in der Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Doch blieb insbesondere das eigene litauische Recht ein zentrales Identifikationsmerkmal für das Großfürstentum Litauen. Insgesamt wurden die

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Litauischen Statute und das Litauische Tribunal frühneuzeitlich nach den Worten des Marschalls der litauischen Konföderation während des Vierjährigen Sejms – Kazimierz Nestor Sapieha († 1798) – zu einer „heiligen Sache für Litauen“.44

4. Historische Rechtskulturen und Erinnerungsgeschichte Grundsätzlich galt das auch für das polnische Recht. Als die Teilungsmächte Ende des 18. Jahrhunderts versuchten, ihr eigenes Recht einzuführen, kam es zu erheblichen Widerständen. Am geringsten fielen diese im Russländischen Reich aus, wo auch nach 1795 noch das tradierte litauische Recht einschließlich der Litauischen Statute weiter galt, während das Allgemeine Preußische Landrecht oder das Westgalizische Bürgerliche Gesetzbuch (eine Vorstufe des österreichischen Allgemeinen Bürgerluchen Gesetzbuches) in der Habsburger- und Hohenzollernmonarchie Widerstände auf Seiten des Adels auslösten.45 Das Litauische Tribunal wurde 1797 in „Litauisches Hauptgericht“ (Sąd Główny Litewski) umbenannt. In der Erinnerung Ostmitteleuropas wurden wohl auch deshalb die polnischen und litauischen Tribunale vielfach retrospektiv verklärt, zumal auch die ehemaligen Deputierten und Angestellten ihre Titel weiterführten. Auch aus diesem Grunde wurden die Tribunale bereits im 19. Jahrhundert vielfach von Adligen mit juristischer Ausbildung wissenschaftlich untersucht.46 Auch literarisch erfuhren sie ein erhebliches Nachleben. So beschwor der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz in seinem Epos „Pan Tadeusz“ (1834) ein emphatisches Bild von der Rechtspraxis des Litauischen Tribunals: Eine der Figuren – ein ehemaliger Amtsbote (woźny) des Tribunals – erlebt bei der Lektüre einer alten Vocanda der Prozesse vor dem Tribunal eine Vision: „Schon schlief der Richter. Der Amtsbote ging still hinaus in die Halle, setzte sich an eine Kerze und zog aus der Tasche ein Büchlein, wie der Goldne Altar auch war ihm dieses Buch immer greifbar, nimmer ließ er es liegen, im Hause nicht und auf der Reise. Die Vocanda der Prozesse vorm Tribunale, reihenweis sämtliche sauber verzeichnet, die vor den Gerichten der Amtsbote mit eigener Stimme vor Jahren hatte verkündet [. . . ]. Also las und bedachte er alles: Ogiń44 45

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Zitiert bei Niendorf : Großfürstentum Litauen (wie Anm. 32), S. 83 und Zakrzewski: O kulturze prawnej Wielkiego (wie Anm. 32), S. 46. Vgl. dazu die Beiträge von Daniela Druschel und Roland Struwe in dem Sammelband Hans-Jürgen Bömelburg/Andreas Gestrich/Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Trier 2013. Adam Stankevič: XIX amžiaus istorijos myl˙etojas Vincentas Daug˙ela Narbutas [Der litauische Archivar Wincenty Dowgaiłło Narbutt], in: Gelvonai (2009), S. 1158–1175.

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ski mit Wizgird, die Dominikaner mit Rymsza [. . . ] und lesend spann er aus all diesen Namen / Ein Gedenken an große Vorgänge, an die Einzelheiten aller Prozesse und vor seinen Augen erschien das feierlich gekleidete Gericht und die Zeugen.“47 Man vergleiche diese um Distinktion und Pathos bemühte Schilderung mit der bekannten Goetheschen Beschreibung des Reichskammergerichtsalltags (entstanden nach 1810 und veröffentlicht in „Dichtung und Wahrheit“): „Was mir in Wetzlar begegnete, ist von keiner großen Bedeutung [. . . ] weit entfernt von so großen Wirkungen, schleppte das Gericht [. . . ] sich nur kümmerlich hin. Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft. [. . . ] Ging man bei dieser Gelegenheit in die Reichsverfassung und die von derselben handelnden Schriften zurück, so war es auffallend, wie der monstrose Zustand dieses durchaus kranken Körpers, der nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward, gerade den Gelehrten am meisten zusagte.“48 Da Goethe am Reichskammergericht in Wetzlar als Praktikant tätig war und deshalb als unbestechlicher Beobachter und einer der letzten Insider der Gerichtspraxis galt, trug diese Passage erheblich zur älteren kritischen Traditionsstiftung bei. Ein „Gedenken an große Vorgänge“ oder die Abqualifizierung einer morschen Amtspraxis – unterschiedlicher akzentuiert konnte die Erinnerung kaum ausfallen. Zusammenfassend: Die Instanzen der obersten Gerichtsbarkeit im Alten Reich und in Polen-Litauen entstanden im Kontext ständisch-genossenschaftlicher Reformdiskussionen im 16. Jahrhundert, die in beiden Verbänden ähnlich verliefen. Ein Transfer des institutionellen Aufbaus und der Zusammensetzung des Reichskammergerichts nach Polen-Litauen wurde zwar wiederholt angeregt und geplant, scheiterte aber an der Ablehnung römischrechtlicher Prozeduren als tendenziell bürokratisch, promonarchisch und antiständisch durch den polnisch-litauischen Adel. Das in Polen-Litauen aus den ständischen Versammlungen abgeleitete Deputiertensystem ermöglichte eine erheblich geringere Professionalisierung als im Alten Reich. Allerdings sollten auch hier Professionalisierungsmechanismen beachtet werden. Zugleich ermöglichte es allerdings eine stärkere Beteiligung an und eine Identifkation mit der höchsten Rechtsprechung beider Tribunale, an der über zwei Jahrhundert in Polen-Litauen mehrere Tausend Deputierte beteiligt waren. Als Identifikationsinstanz waren deshalb das Krontribunal und das Litauische Tribunal bedeutender.

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Original: „Czytał więc i rozmyślał: Ogiński z Wizgirdem, dominikanie z Rymszą [...] i czytając z tych imion wywabia / Pamięć spraw wielkich, wszystkie procesy wypadki, / I stają mu przed oczy sąd, stroy i świadki.“ Die Übersetzung folgt der Nachdichtung von Hermann Buddensieg, Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz oder die letzte Fehde in Litauen, München 1963, wählt aber an einigen Stellen präzisere Begriffe. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Werke, hrsg. i. A. der Großherzogen Sophie von Sachsen. Bd. 28, Weimar 1890, S. 124–134.

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Gegen beide Instanzen erhob sich eine parallele Kritik: Die Gerichte arbeiteten angeblich zu langsam, Verfahren zögen sich über Jahre und Jahrzehnte hin, die Richter seien bestechlich, Recht erhielte nur der Wohlhabende, mindermächtige Parteien seien zur Niederlage verurteilt. In dieser Kritik sind die Argumente aus dem Alten Reich und Polen-Litauen sicher nicht unberechtigt, aber zugleich – trotz des unterschiedlichen Grades an Professionalisierung in beiden Systemen – stereotyp und austauschbar. Funktional trugen beide Instanzen zur Ausbildung eines stabilen Rechtszuges, zu einer erheblichen rechtlichen Vereinheitlichung und zu jeweils einer Integration von tendenziell „reichsfernen“ Territorien (die ruthenischen Provinzen und das Königliche Preußen in die Krone Polen, Mecklenburg und Pommern in das Alte Reich) bei. Sie verweisen in Ihrer Parallelität darüber hinaus auch auf die vergleichbaren Strukturen einer europäischen Gerichtsbarkeit, die auch stärker mitteleuropäisch im deutsch-polnischen Vergleich beforscht werden sollten.

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Lex est rex und rex supremus iudex. Das crimen laesae maiestatis zwischen Monarch und Adel im Königreich Polen des 16. Jahrhunderts Im Königreich Polen kann der Monarch ruhig schlafen. Zumindest war dies ein Topos, der sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts mit einem nostalgischen Rekurs auf das 16. Jahrhundert immer fester in einem adligen Diskurs etablierte.1 In diesem Sinne musste der bekannte adlige Publizist Łukasz Opaliński 1648 recht angefressen auf die spöttischen Bemerkungen John Barclays reagieren, der dem polnischen Adel in seinem Icon animorum unterstellt hatte, Fürsten nicht zu mögen und auch noch stolz darauf zu sein, und Königen zwar formal zu gehorchen, aber tatsächlich alle Gesetze zu brechen2 . Opaliński setzte dagegen, der polnische Adel lebe frei von aller Angst und Zwängen und gerade deshalb liebe der Adel seinen König, der hier in Sicherheit leben könne, was Ausländer überraschen müsse3 . Nur zwei Jahre später entwarf sein Bruder Krzysztof in seinen Satiren ein recht anderes Bild: König Stefan Bátory habe in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das polnische Königtum als eine Marter durch den Henker bezeichnet, dabei sei er anders als sein Nachfolger Sigismund III. Wasa noch darum herumgekommen, etwas über den Schädel gezogen zu bekommen.4 Tatsächlich war das Attentat des geistig verwirrten Calvinisten Michał Piekarski auf den Wasa-Herrscher im Jahr 1620 einer der wenigen spektakulären Angriffe auf das Leben polnischer beziehungsweise polnisch-litauischer Monarchen.5 Neben einem anekdotisch 1 2

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Vgl. Janusz Tazbir: W Polsce król może spać bezpiecznie, in: Przegląd historyczny 81.3 (1990), S. 447–459. John Barclay: Icon Animorum, Francofurti 1625, S. 91; eine polnische Ausgabe erschien erst achtzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in einer zweisprachigen Version: Icon sive descriptio animorum Barclai quinque praecipuarum nationum in Europa, s.l. 1684. Łukasz Opaliński: Polonia defensa contra Ioan. Barclaium. Ubi, occasione ista, de Regno Genteque Polona multa narrantur, hactenus litteris non tradita, Dantisci 1648, bes. S. 101– 106. Krzysztof Opaliński: Że żaden król Polakom nie wypada(?), in: ders.: Satyry, hrsg. v. Lesław Eustachiewicz, Wrocław u. a. 1953, S. 133. Vgl. etwa mit ausführlichen Schilderungen die offiziösen Traktatveröffentlichungen: Eygentlich / Gewiß Und Warhafftige Zeitung / von der vermessenen / unnd freventlichen That / eines verwegenen Bößwichts / Namens Bicharsky, / welcher Ihr Königliche Mayestät in Polen den 15. Novemb. 1620. mit zweyen Streichen verwundet / der Thätter aber alsbaldt ergriffen / und in Gefängliche Verhafft genommen. [. . . ], o.O. 1621; Prawdziwe a Krotkie opisanie Jako P. Bog wielce pobożnego Pana Naiasnieyszego Zygmunta Trzeciego Krola Polskiego cudownie przy zdrowiu y żywocie zachował: Na ktory sie był ieden

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gebliebenen Schuss auf König Sigismund I. rund einhundert Jahre zuvor,6 sollte nach dem Angriff auf Sigismund Wasa nur noch die obskure Entführung König Stanisław August Poniatowskis von 1771 folgen.7 Stand es außer Frage, dass alle diese körperlichen Angriffe auf den Monarchen als ein crimen laesae maiestatis bewertet und verurteilt wurden, erwies sich die weitergehende Definition dieses Verbrechens abseits solcher speziellen maledicta in principem beziehungsweise crimina laesae maiestatis in specie ansonsten als weitaus komplizierter. In mehreren europäischen Ländern entflammten aus sehr unterschiedlichen Anlässen im Laufe des 16. Jahrhundert rechtswissenschaftliche Diskussionen über den Charakter des crimen laesae maiestatis.8 Eine entscheidende Rolle spielte hier dessen Ableitung aus dem Römischen Recht, die neben den anderen Rechtstraditionen in diesem Kontext solche Bedeutung annahm, dass selbst die juridische Auslegung in England, die sich äquivalent auf das Vergehen von „high treason“ im Common law bezog, zumindest streckenweise Rückbezüge zum Majestätsverbrechen des Römischen Recht herstellte.9 Gemeinhin wird dabei in Darstellungen zum crimen laesae maiestatis auf dessen weite Konstruktion durch die römischen Juristen der Kaiserzeit verwiesen, die auch den Geltungsbereich des Hochverrats (crimen perduellionis) umfasste; insbesondere seien seit dem Prinzipat hierdurch alle potentiellen Hochverrats-

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szalony człowiek usadził, o.O. 1620; Copia d una lettera scritta da Varsovia, Et indrizzata in Venetia, all’ Illustre, & Eccellentiss. Signor N. Nellaquale si contiene la vera relatione dell’atroce tradimento, tentatonella persona della Maestà Sereniss. di Polonia [. . . ], In Venetia 1621. Marcin Bielski berichtet hierüber knapp in seiner „Kronika polska (Polnischen Chronik)“ für das Jahr 1523: „Im Monat Mai war König Sigismund krank, und kam dazu um ein Haar um die Bedrohung seiner Gesundheit durch irgendeinen schlechten Menschen herum, der zur Nachtstunde in das königliche Fenster in Richtung der Kerze schoss. Jener konnte zu allem Unglück nicht gefunden werden“; vgl. Józef Turowski (Hrsg.): Kronika Marcina Bielskiego, Bd. 2: Księga IV. V, Sanok 1856, S. 1023f. (Übersetzung, wie auch bei allen übrigen folgenden Zitaten, durch den Verfasser); vgl. auch Tazbir: W Polsce (wie Anm. 1), S. 448. Dieser missgeglückte Anschlag auf die Person des Königs durch Mitglieder der Konföderation von Bar brachte letztlich vor allem dem Monarchen willkommene positive Reaktionen, in Polen-Litauen wie international; vgl. Piotr Ugniewski: ,Szkaradny występek królobójstwa’ w międzynarodowej propagandzie Stanisława Augusta, in: Przegląd historyczny 95.3 (2004), S. 327–347; Wojciech Kęder: Stolica Apostolska wobec zamachu konfederatów barskich na króla Stanisława Augusta Poniatowskiego w 1771 roku, in: Biuletyn Biblioteki Jagiellońskiej 50/51, 1–2 (2000/2001), S. 93–102. Vgl. beispielsweise mit knappen Überblicken für das Reich beziehungsweise Frankreich: Helga Schnabel-Schüle: Das Majestätsverbrechen als Herrschaftsschutz und Herrschaftskritik, in: Aufklärung 7.2 (1994), S. 29–48, hier S. 32–36; Ralph E. Giesey/Lanny Haldy/ James Millhorn: Cardin Le Bret and Lese Majesty, in: Law and History Review 4.1 (1986), S. 23–54, hier S. 28–35. Vgl. Ian Williams: A Medieval Book and Early-Modern Law. Bracton’s Authority and Application in the Common Law c. 1550–1640, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 79 (2011), S. 47–80, hier S. 70–77.

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vorwürfe zusehends mit der Person des Kaisers und nicht mehr der maiestas populi Romani verknüpft worden.10 Die im Rahmen des Römischen Rechts nicht ganz eindeutig zu lösenden Frage, was denn die maiestas sei, die durch ein Vergehen verletzt würde,11 rückte allerdings weiterhin in den Fokus juristischer Diskussionen.12 Bezeichnenderweise gehörte auch Jean Bodin mit seinen Versuchen, die maiestas zu definieren, nicht zuletzt in einen frühneuzeitlichen juridischen Kontext, der zwar auf das Corpus iuris civilis zurückgriff, jedoch eine über dessen zivilrechtlichen Schwerpunkt hinauszielende Systematisierung von Straf- und Verfassungsrecht anstrebte.13 Solche Juridifizierung lässt sich wie im übrigen Europa auch in Polen und Litauen ab dem 16. Jahrhundert beobachten. Sie machte sich einerseits durch eine stärkere Rezeption römischrechtlicher Normen und andererseits durch eine Vielzahl von rechtlichen Systematisierungs- und Kodifizierungsvorschlägen bemerkbar. Die Rede von „Systematisierungen“ sollte jedoch nicht zu der Vorstellung verführen, es habe sich zeitgenössisch um die Schaffung vollkommen kohärenter und allumfassender Rechtsdarstellungen gehandelt. Das Gewohnheitsrecht und andere Rechtsquellen wurden in diesem Sinne durch die Kodifikation nicht unbedingt ausgeschlossen14 . „Sie beschränkt sich unter Umständen auf die Normierung von als besonders regelungsbe10

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Helga Schnabel-Schüle verweist dabei zu recht auf den Umstand, dass „das Römische Recht“ in dieser Form definitorisch kaum zu fassen sei, da es sich bei dem überlieferten Corpus, auf das man sich in diesem Zusammenhang bezieht, lediglich um eines Sammlung von Rechtssätzen handelt. Entsprechend ist es auch problematisch, den dort erwähnten Grundsätzen zum crimen laesae maiestatis eine absolute Kohärenz unterstellen zu wollen; vgl. Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen (wie Anm. 8), S. 31f.; vgl. zum Römischen Recht auch Jost Hausmann: Beleidigung und Verrat. Das crimen laesae maiestatis, in: Heinz-Günther Borck (Hrsg.), Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500–2000. Gemeinsame Landesausstellung der rheinisch-pfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz 98), Koblenz 2002, S. 382–388, hier S. 382f. In seiner älteren, jedoch noch immer instruktiven Darstellung geht hingegen Raoul Bompard davon aus, dass das crimen laesae maiestatis bereits in der späten Republik an Bedeutung verlor, ohne jedoch jemals (auch nicht in der Kaiserzeit) formal abgeschafft worden zu sein. Dies führt er auf die Unpopularität, prozedurale Erschwernisse und den Charakter als absolut schwersten politischen Verbrechens des crimen perduellionis zurück, vgl. Raoul Bompard: Le crime de lèse-majesté, Paris 1888, bes. S. 52–57. Vgl. Dietmar Willoweit: Art. Maiestas, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 173–176, Sp. 173. Einen guten Überblick bietet Mario Sbriccoli: Crimen laesae maiestatis. Il problema del reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna (Per la storia del pensiero giuridico moderno 2), Milano 1974, S. 185–202. Vgl. Julian H. Franklin: Sovereignty and the Mixed Constitution: Bodin and his Critics, in: James H. Burns (Hrsg.), The Cambridge History of Political Thought (1450–1700), Cambridge u. a. 1994, S. 298–346, bes. S. 301f.; Vgl. Piano Mortari: Bodin e l’idea cinquecentesca della codificazione, in: Pensiero politico 14.1(1981), S. 26–33. Vgl. Martin P. Schennach: Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 482.

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dürftig empfundener (sic!) Rechtsfragen oder auf die Festschreibung eines ,ius certum‘.“15 Positives Recht, so konstatiert etwa Jan Schröder, war im 16. und 17. Jahrhundert schlechterdings nicht von einer aus göttlicher Legitimation abgeleiteten, übergreifenden und weit bis unscharf definierten Naturrechtsvorstellung zu trennen.16 Gesetzen war in diesem Sinne ein ethischer Charakter inhärent, sie wurden als tugendhaft, „vernünftig, gerecht und gut oder jedenfalls zweckmäßig“ aufgefasst.17 Dies alles musste gleichermaßen für Versuche gelten, in diesem Rahmen das crimen laesae maiestatis durch positive Rechtssetzung theoretisch zu definieren sowie in der Rechtspraxis anzuwenden. Anhand der Tatbestände von Verrat und Majestätsverbrechen lässt sich mithin die enge Wechselwirkung und Durchdringung von Fragestellungen nachvollziehen, die gar nicht per se Recht und Politik im Sinne autonomer Sphären zugerechnet werden konnten. Zurecht hat deshalb Angelika Rustemeyer festgestellt, das crimen laesae maiestatis könne wegen der inhärenten Tendenz zur Geltungsausweitung in verschiedensten Gesetzgebungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit „in seiner politischen Relevanz nur von seinen Grenzen her verstanden werden.“18 Die Offenheit des Straftatbestandes Majestätsverbrechen sowie dessen eminente herrschaftstheoretische- und praktische Bedeutung zeigt sich auch in der engen Wechselwirkung zwischen juristischer Dogmatik, Prozessargumentation und Prozessen selbst, die ihrerseits als politische Ereignisse gelten durften. Gerade im 17. Jahrhundert kam es in Polen-Litauen mit den aufsehenerregenden Tribunalen gegen hohe Amtsträger und Vertreter (hoch-)adliger Eliten wie Hieronim Radziejowski oder Jerzy Sebastian Lubomirski aus sehr verschiedenen Gründen zu Anklagen wegen crimen laesae maiestatis.19 Zugleich brachte die rechtswissenschaftliche Diskussion im Polen-Litauen des 16. und 17. Jahrhunderts nur verschwindend geringe systematische Beiträge zum Majestätsverbrechen hervor20 und erst das 15

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Ebd. Zum Problem des ,ius certum‘ als Ziel frühneuzeitlicher juristischer Anstrengungen vgl. Heinz Mohnhaupt: ,Lex certa‘ and ,ius certum‘: The Search for Legal Certainty and Security, in: Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hrsg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy, Farnham u. a. 2008, S. 73–88. Vgl. Jan Schröder: Pluralisierung als Deutungskonzept für die Rechtstheorie in der Frühen Neuzeit?, in: Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 21), Berlin/New York 2010, S. 95–116, 98f. Ebd., S. 96. Angelika Rustemeyer: Dissens und Ehre. Majestätsverbrechen in Russland (1600–1800), Wiesbaden 2006, S. 32. Vgl. Adam Kersten: Hieronim Radziejowski. Studium władzy i opozycji, Warszawa 1988; Witold Kłaczewski: Jerzy Sebastian Lubomirski, Wrocław u. a. 2002; immer noch wichtig: Wiktor Czermak: Sprawa Lubomirskiego w roku 1664, Warszawa 1886. Vgl. Marzena Dyjakowska: Crimen laesae maiestatis jako przykład wpływów prawa rzymskiego na prawo karne Polski przedrozbiorowej. Stan badań i postulaty, in: Antoni

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18. Jahrhundert produzierte eine bescheidene Häufung an Abhandlungen21 . Nichtsdestoweniger lässt sich die systematische Bewertung und Zuordnung des crimen laesae maiestatis in den polnischen Kodifikationsentwürfen des 16. Jahrhunderts als ein neuralgischer Interpretationspunkt identifizieren. Die Frage nach der Definition von maiestas, nach der Rolle des Monarchen und der Gerichtsmacht bündeln sich hier wie in einem Brennglas und lassen den juridischen Gemeinwesenentwurf des jeweiligen Kodifikationsansatzes aufleuchten. Zugleich standen diese theoretischen Auslegungsangebote jedoch nicht allein, schließlich kannte nicht erst das 17. Jahrhundert Prozesse, in denen mit dem Vorwurf des crimen laesae maiestatis hantiert wurde. Die Brisanz des Anklagepunktes Majestätsverbrechen führte in etlichen Fällen zu dem Bedürfnis, die Anklageschriften im Druck zu veröffentlichen, die ihrerseits als Präzedenzen die existierenden juridischen Festlegungen nolens volens interpretativ erweiterten22 . Zum ersten Mal war dies im Jahr 1585 aus Anlass eines Hochverratsprozesses gegen Krzysztof Zborowski der Fall. Das hochadlige Haus Zborowski konnte allerdings schon auf gewisse Erfahrungen mit der Anklage wegen Majestätsverbrechen zurückblicken, hing doch das Verfahren gegen Krzysztof ursächlich mit dem bereits elf Jahre zuvor gegen seinen Bruder Samuel geführten Prozess mit dem gleichen Anklagepunkt zusammen und schon Marcin Zborowski, der Vater der beiden Schwerverbrecher, war als Majestätsbeleidiger angeklagt worden. Alle Verfahren zeigen in unterschiedlicher Weise das Potential des Anklagepunktes crimen laesae maiestatis auf sowie die Notwendigkeit, dieses recht vage definierte Verbrechen mit all seinen Implikationen im Laufe einer gerichtlichen Verhandlung erst definitorisch auszuhandeln und entsprechend die Verfahrensform selbst zu bestimmen. Im Folgenden wird es nun darum gehen, in den ersten beiden Abschnitten die Wechselwirkung zwischen Legislation und Prozessen wegen Majestätsbeleidigung im 16. Jahrhundert zu verfolgen. Im Fokus steht mithin die Periode zwischen 1510 und 1588, in der die wesentliche Gesetzgebung zum crimen laesae maiestatis in Polen-Litauen erfolgte, die bis zur Auflösung des Doppelreiches am Ende des 18. Jahrhunderts

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Dębiński/ Monika Wójcik (Hrsg.), Współczesna romanistyka prawnicza w Polsce, Lublin 2004, S. 65–75, hier S. 66–70; Adam Lityński: Przestępstwa polityczne w polskim prawie karnym XVI-XVII wieku, Katowice 1976, S. 22–24. Von besonderer Bedeutung: Franciszek Minocki: Dissertatio canonico civilis De Crimine laesae Majestatis, Posnaniae 1775. Vgl. etwa Andreae Recicii: Instigatoris Regii v. Nob. Accusationis in Christophorum Sborovium Actiones tres, Cracoviae 1585; Processus iudiciarius, in causa Illustri & Magnifico Georgio Comiti in Wisnicz, et Iaroslaw, Lubomirski [. . . ] Ex Instantia Instigatoris Regni, & Delatione Generosi Hieronymi de Magna Skrzynno Dunin ad Comitia Regni Anni 1664, Varsaviae o.J. [1664]; Processus iudiciarius in causa respectu horrendi criminis regicidii in Sacra Persona Serenissimi Stanislai Augusti Regis Poloniae die 3 Novembris 1771 Anno Varsaviae commissi, ex instantia generosorum instigatorum Regni et M. D. Lithuaniae [. . . ], Varsaviae 1774.

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Bestand hatte. Die intrinsische Verbindung der Auseinandersetzungen, die um die Definition von Majestätsbeleidigung in Gesetzgebung und Prozesspraxis geführt wurden, wurde zeitgleich in den juridischen Kodifikationsprojekten deutlich. Diese adligen Entwürfe, denen sich der dritte Abschnitt des Textes widmet, waren mithin Teil des anhaltenden Aushandlungsprozess zwischen Adel und König über die monarchische Rechtsbindung beziehungsweise den Primat des Monarchen über das Recht.

1. Mord und Verschwörung: Die Formierung des crimen laesae maiestatis zwischen Sejm und Gericht Die erste ausführlichere Festschreibung des crimen laesae maiestatis im kronpolnischen Recht stammte aus dem Jahr 151023 . Mit dem Gesetz wurde das Majestätsverbrechen explizit von der Person des Monarchen – als Majestätsbeleidigung – auf die Senatoren des aristokratischen Oberhauses im Sejm, die Landboten des Unterhauses sowie Richter und all diejenigen ausgeweitet, die eine wie auch immer geartete Amtswürde bekleideten oder im Auftrag des Monarchen handelten.24 Die Quellen zu Regelungen aus dem Römischen und dem Kanonischen Recht waren vielfältig, doch unverkennbar orientierte sich solche Formulierung an der berühmten Lex quisquis des Römischen Rechts, die am Ende des 4. Jahrhunderts den kurz zuvor von Kaiser Honorius festgelegten nachgiebigeren Umgang mit dem crimen laesae maiestatis als Majestätsbeleidigung zurücknahm und auf einen deutlich größeren Personenkreis erweiterte.25 Das Königreich Polen stand dabei nicht allein, so war im Reich die Lex quisquis bereits im Rahmen der Goldenen Bulle in die Gesetz23

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Im Rahmen des vorliegenden Textes wird auf eine Behandlung des crimen laesae maiestatis in den litauischen Statuten bewusst verzichtet. Im Gegensatz zum kronpolnischen Recht wies die verbindliche litauische Kodifizierung (in ihren drei Fassungen) eine recht präzise Definition des Majestätsverbrechens auf. Für das kronpolnische Rechtssystem wird das litauische Recht hingegen in erster Linie ab dem Ende des 16. Jahrhunderts, also am Ende bzw. nach dem hier gewählten Untersuchungszeitraum, als subsidiäres Recht zusehends stärker etabliert; vgl. etwa ausführlich: Juliusz Bardach: Statuty litewskie a prawo rzymskie, in: Pomniki prawa doby Renesansu w Europie Środkowo-Wschodniej (Łacina w Polsce 7), Warszawa 1999, S. 9–165. „Sejm walny piotrkowski 1510 r.“, in: Stanisław Grodziski/Irena Dwornicka/Wacław Uruszczak (Hrsg.), Volumina Constitutionum, Bd. 1: 1493–1526, Warszawa 1996, S. 220– 237, hier S. 230f. (Art. 25, De violatoribus nuntiorum vel aliarum personarum). Vgl. Marzena Dyjakowska: Subsydiarne stosowanie prawa rzymskiego w Polsce przedrozbiorowej na przykładzie zbrodni obrany majestatu, in: Teka Komisji prawniczej 5 (2012), S. 60–87, bes. S. 61–64. Dyjakowska hat ebenfalls im Jahr 2010 die erste und bislang einzige umfassende systematische polnische Monographie zum Thema vorgelegt, die der Verfasser bei der Vorbereitung des vorliegenden Textes jedoch leider nicht einsehen konnte; vgl. dies.: Crimen laesae maiestatis. Studium nad wpływami prawa rzymskiego w dawnej Polsce, Lublin 2010.

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gebung integriert worden und fand auch Aufnahme in die Bamberger Halsgerichtsordnung.26 Im Gegensatz zu letzterer blieb die polnische Rechtsetzung hingegen in Hinsicht auf das Strafmaß, das für Majestätsverbrechen zu verhängen war, unbestimmt.27 Allerdings hatte auch die weitgehende Deliktdefinition des Gesetzes von 1510 in Polen nur kurz Bestand und musste auf Druck des Adels modifiziert werden. Glaubt man dem zeitgenössischen Berichterstatter Stanisław Górski, so dominierte die Debatte um das Gesetz von 1510 neben einer angespannten Fiskalauseinandersetzung gar den Sejm des Jahres 1539.28 Dass gerade 1539 eine heftige Debatte um die Definition des Majestätsverbrechens ausbrach, ging auf Ereignisse der vorhergehenden zwei Jahre zurück. 1537 hatte sich die Einberufung des Allgemeinen Aufgebots durch König Sigismund I. bei Lemberg in eine Manifestation adliger Unzufriedenheit verwandelt. Dieser sogenannte „Hahnenkrieg“ stand nicht nur im breiteren Kontext der sogenannten „Exekutionsbewegung“, die sich in ihren Reformbestrebungen streckenweise mit der Reichsreformbewegung parallelisieren lässt.29 Unmittelbarer Auslöser dafür, dass die malcontents von Lemberg ein umfangreiches Forderungspaket an den Monarchen formulierten, war ein königliches Agieren, das zwischen einer umstrittenen Steuerpolitik, der Neuordnung der zentralen Kanzleiregister und der Wahl seines Sohnes Sigismund August vivente rege zum Nachfolger auf dem Thron Befürchtungen um die adligen Mitherrschaftsrechte auslöste. Tief saß hingegen vor allem der Konflikt um die Legislationskompetenzen des Unterhauses. Mit dem Gesetz „Nihil novi“ von 1505 war der Landbotenkammer als Sejmstand das Mitwirkungsrecht an der Gesetzgebung zugestanden worden30 . 1532 scheitert im Sejm dann mit der „Correctura iurium“ ein Überarbeitungsversuch von Jan Łaskis erster Rechtskodifikation aus dem Jahre 1506. Grund war vor allem der Widerstand der Landboten des Unterhauses, die in einer modifizierten Formulierung des dort 26 27 28

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Vgl. Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen (wie Anm. 8), S. 32–34. Vgl. Lityński: Przestępstwa polityczne (wie Anm. 20), S. 34f. Vgl. Stanisław Górski: Descriptio conventus generalis Cracoviensis [1539], in: Acta Tomiciana. Kodeks Opalińskiego, T. 18: 1538–1539 (Teki Górskiego), Biblioteka Kórnicka rkps 218, f. 161r.–167v. Vgl. Hans-Jürgen Bömelburg: Ständische Reformbewegungen in mitteleuropäischen Staatsverbänden im Vergleich. Die Reichsreformbewegung und die Exekutionsbewegung in Polen (1410–1580), in: Marian Dygo/Sławomir Gawlas/Hieronim Grala (Hrsg.), Modernizacja struktur władzy w warunkach opóźnienia. Europa Środkowa i Wschodnia na przełomie średniowiecza i czasów nowożytnych, Warszawa 1999, S. 35–57; einen konzisen Überblick zur Exekutions-Bewegung bietet: James Miller: The Polish Nobility and the Renaissance Monarchy: The “Execution of the Laws” Movement: Part One, in: Parliaments, Estates & Representation 3 (1983), S. 65–87; ders.: The Polish Nobility and the Renaissance Monarchy: The “Execution of the Laws” Movement: Part Two, in: Parliaments, Estates & Representation 4 (1984), S. 1–24. Vgl. Wacław Uruszczak: Sejm walny wszystkich państw naszych. Sejm w Radomiu z 1505 r. i konstytucja Nihil novi, in: Czasopismo Prawno-Historyczne 57.1 (2005), S. 11–25.

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aufgeführten Textes von „Nohil novi“ einen Anschlag auf ihre Mitherrschaftsrechte vermuteten31 . Entsprechend attackierte man in Lemberg rhetorisch nicht nur die schlechten Berater des Königs, man machte vielmehr zuvörderst die basale Gefährdung adliger Rechte und Privilegien aus. Marcin Zborowski sah mithin das ganze Fundament des Gemeinwesens in Gefahr, denn „nulla nostra in Rep. vox unquam fuit, quae non ex ipsis legum nostrarum fontibus educta esse videatur. Ut Reip. leges quae violatae sunt, restituantur, [. . . ] a Rege summis precibus contendimus.“32 Von monarchischer Seite beeilte man sich wiederum, eben die Versammlung von Lemberg und nicht zuletzt die Reden Marcin Zborowskis von ganz anderer Warte als Gefährdung des Gemeinwesens zu interpretieren. Auf dem nachfolgenden Sejm von 1537/38 wurden Zborowski und die anderen Wortführer der Lemberger Versammlung vor das Sejmgericht zitiert. Ihnen wurde nicht nur ein crimen laesae maiestatis als direkte Lästerung und Beleidigung des Monarchen selbst und der gesamten königlichen Familie sowie der Senatoren und königlichen Repräsentanten vorgeworfen. Die Anklage lautet ebenso auf Aufwiegelung, Verschwörung und Unterstützung des Feindes – Hochverrat eben. Das polnische Recht kannte hierfür bislang kaum fixierte Rechtsnormen, der königliche Ankläger berief sich also stillschweigend auf das römische crimen perduellionis, ohne dies hingegen beim Namen zu nennen.33 Die Anführer der Adelsversammlung von Lemberg ereilte trotz der bedrohlichen Anklage ein sehr mildes Urteil34 . Hatte trotz allem solches Vorgehen der monarchischen Seite bereits für Unruhe gesorgt, führte ein parallel hierzu im Sejmgericht abgehandelter zweiter Fall von Majestätsbeleidigung zu noch harscheren Reaktionen des Adels: Es handelte sich um ein Verfahren, dass der Ankläger des Königs nach dem Todschlag des Adligen und Senatoren Tomasz Lubrański auf dem Weg zum Landtag durch den königlichen Emissär Mikołaj Rusocki vor dem Sejmgericht anstrengte. Die Anklage warf Rusocki auf Grundlage des geltenden Gesetzes ein Majestätsverbrechen vor und forderte die Todesstrafe35 . In der Verhandlung selbst präzisierte der königliche An31

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Vgl. Ewa Dubas-Urwanowicz: Stronnicy królewscy i opozycjoniści wobec monarchy w dobie zjazdu lwowskiego i rokoszu sandomierskiego: Próba porównania, in: Mariusz Markiewicz/Edward Opaliński/Ryszard Skowron (Hrsg.), Król a prawo stanów do oporu, Kraków 2010, S. 105–125, hier S. 113f. Stanisław Orzechowski: Annales. Adjunximus Vitam Petri Kmitae, Dantisci 1643, S. 150. Vgl. Stanisław Górski: Acta conventus generalis Piotrcovia ad diem Epiphaniarum Anno Domini 1537 habiti [1538], in: Acta Tomiciana. Kodeks Opalińskiego. T. 18: 1538– 1539 (Teki Górskiego), Biblioteka Kórnicka rkps 218, f. 14r.–23v., f. 20r.–20v. Von dieser Quelle liegt ebenfalls eine edierte polnische Übersetzung vor: Czwarty wypis z rękopisma (sic!) X. Stan. Górskiego. Seym w Piotrkowie w roku 1538 na święto SS. Trzech Króli, in: Pamiętnik Warszawski 12 (październik) (1818), S. 129–156. Vgl. ebd., f. 20v. Vgl. die Anklageschrift im Prozessprotokoll, ediert bei Aleksander Bojarski: Dwa zabytki polskiego sądownictwa karnego z wieku XVI, in: Rozprawy i sprawozdania z posiedzeń Wydziału historyczno-filozoficznego Akademii Umiejętności 1 (1874), S.256–314, hier

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kläger seine Forderungen weiter, zitierte die Lex quisquis in vollem Wortlaut und beeilte sich nachzuweisen, dass hinsichtlich des Strafmaßes Römische Rechtsgrundsätze anzuwenden seien, „ex quibus leges singularum provinciarum christianarum et Regem(sic!) Poloniae emanarunt.“36 Bereits im Vorfeld der Verhandlung insistierte dagegen der Angeklagte Rusocki in massenhaft an die Abgeordneten des Unterhauses verschickten Briefen, mit denen er um Unterstützung für seine Causa warb, dass die „altehrwürdigen Gewohnheitsrechte der Krone“ eingehalten würden37 . Damit schlug er eine Strategie ein, die aus rechtlicher Perspektive die Anklage wegen Majestätsbeleidigung als ungültig zurückwies und im Gegenzug mehr oder weniger explizit forderte, das gewohnte Recht für Tötungsdelikte unter Adligen anzuwenden, welches in erster Linie eine zivilrechtliche finanzielle Wiedergutmachung für die Kläger der Opferseite und strafrechtliche Konsequenzen lediglich im Umfang einer rund einjährigen Haftstrafe vorsah.38 Angesichts des angespannten Kontextes war die Einbeziehung der adligen Sejmabgeordneten dabei ein folgenreicher Schachzug. Hatte bereits der Prozess gegen die Wortführer der Lemberger Adelsversammlung zu Kritik an der geltenden Regelung des crimen laesae maiestatis geführt, produzierte der Fall Rusocki eine weitere Eskalation im Rahmen der Ständeversammlung. So machte unter anderem der Landtag (sejmik) von Sandomierz in seinen vorbereitenden Beschlüssen zum Sejm von 1538 klar, ein Ius Caesareum hätte im Königreich Polen keinerlei Gültigkeit, „quia nos in iure nostro huius Regni Polonici residemus, et non subsumus Juri Caesareo.“39 Bezeichnenderweise verurteilte auch der Chronist Górski die „graves accusationes et Iuditium Caesareum novum“ gegen den Totschläger Russocki.40 Dass ein eigenes ius singulare und tradierte Privilegien der Nutzung des Ius commune situationsbedingt entgegengesetzt wurden, war in im

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S. 287. Vgl. auch die Schilderung des inkriminierten Zwischenfalls bei Dyjakowska: Subsydiarne stosowanie (wie Anm. 25), S. 66. Bojarski: Dwa zabytki (wie Anm. 35), S. 291. Górski: Acta conventus generalis Piotrcovia (wie Anm. 33), f. 17v. Vgl. für die zeitgenössische Rechtsgrundlage die Rechtssätze bei Jan Łaski: Commune incliti Polonie Regni privilegium constitutionum et indultuum publicitus decretorum approbatorumque, o.O. o.J. [Krakau 1506], XXIIr.–v., CVIIr.; vgl. auch zusammenfassend Stanisław Kutrzeba: Dawne polskie prawo karne, S. 12–14. Kutrzeba weist darauf hin, dass es hierbei allerdings geschlechterspezifische Unterscheidungen gab. So konnte die Tötung einer Adligen als ein crimen publicum von Amtswegen verfolgt und konnte nicht allein mit einer monetären Wiedergutmachung abgegolten werden, ebd., S. 16. Die erste schriftlich fixierte strafrechtliche Strafzumessung stammt aus dem Jahr 1510, vgl. hierzu Oswald Balzer: Geneza Trybunału koronnego. Studium z dziejów sądownictwa polskiego XVI wieku, Warszawa 2009 (Erstausgabe 1896), S. 48. Articuli nobilitatis terre Sandomierensis in conventiculo Opatoviensi conscripti ex mente Sborwskiorum et per nuncios ad comicia regni allati, in: Acta Tomiciana. Kodeks Opalińskiego. T. 18: 1538–1539 (Teki Górskiego), Biblioteka Kórnicka rkps 218, f. 147r.– 149v., hier f. 149v. Górski: Acta conventus generalis Piotrcovia (wie Anm. 33), f. 15v.

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frühneuzeitlichen Europa gängiges Phänomen.41 Als ebenso verbreitet durfte allerdings die subsidiäre Anwendung des Ius commune wie verschiedener Rechtssätze anderer benachbarter Rechtskreise gelten.42 Auffällig scheint in diesem Zusammenhang nun der Versuch einiger Vertreter des Adels, die subsidiäre Anwendung von Rechtssätzen zu denunzieren, die es dem Monarchen ermöglichten, Lücken im polnischen Recht zu schließen beziehungsweise das Fehlen von konkreten Regelungen kreativ zu nutzen. Obwohl schriftlich niedergelegte Gesetze zeitgenössisch niemals die einzig gültige und mögliche Rechtsgrundlage waren, hatte sich dennoch die Wahrnehmung von Recht und dessen Ausnutzung als Argumentationsgrundlage deutlich zu verändern begonnen. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei die mit einem medialen Wandel einhergehenden Kodifikationsanstrengungen43 . Im Königreich Polen betraf dies in erster Linie die erstmals 1506 von Kronkanzler Jan Łaski herausgegebenen und von Monarch wie Ständeversammlung approbierten Statuten, die den Versuch darstellten, alle bisherigen schriftlichen Rechtsetzungen und Privilegien wie auch das Gewohnheitsrecht in einer Systematik zusammenzufassen und im Druck in einheitlicher Form zumindest einem breiteren Kreis von Eliten zugänglich zu machen44 . Dieser ersten Kodifikation des 16. Jahrhunderts sollten rasch weitere folgen, unter anderem auch der letztlich gescheiterte Überarbeitungsversuch einer Sejmkommission, der nur wenige Jahre vor den hier besprochenen Debatten entstand.45 Erschienen Łaskis Statuten noch vor der Einführung des ersten polnischen Gesetzes zum Majestätsverbrechen, war jenes aber in der niemals approbierten „Correctura iurium“ von 1532 aufgenommen worden.46 Von Bedeutung ist in diesem Kontext vor allem, dass sich schon in diesen ersten zwei Rechtszusammenfassungen trotz aller notwendigen Einschränkungen das Recht des Königreiches 41

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Vgl. Thomas Duve: Sonderrecht in der Frühen Neuzeit. Studien zum ius singulare und den privilegia miserabilium personarum, senum und indorum in Alter und Neuer Welt (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 231), Frankfurt a.M. 2008, S. 21f.; vgl. auch Wacław Uruszczak: La coutume et la loi dans la pensée juridique polonaise des XVIe et XVIIe siècles, in: La coutume/Custom, Bd. 3: Europe Orientale, Asie et Islam (Recueils de la Société Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions 53), Bruxelles 1992, S. 145–157. Vgl. konzise zusammenfassend zum Ius commune etwa Tilman Repgen: Ius commune, in: Ders./Hans-Peter Haferkamp (Hrsg.), Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit (Rechtsgeschichtliche Schriften 24), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 157–173. Vgl. Dyjakowska: Subsydiarne stosowanie (wie Anm. 25), S. 64. Vgl. Duve: Sonderrecht (wie Anm. 41), S. 21f. Łaski: Commune incliti Polonie Regni privilegium (wie Anm. 38). Vgl. ausführlich Wacław Uruszczak: Próba kodyfikacji prawa polskiego w pierwszej połowie XVI wieku . Korektura praw z 1532 r., Warszawa 1979. C. 44: Contra eos autem . . . , in: Correctura statutorum et consuetudinum regni Poloniae anno MDXXXII decreto publico per Nicolaum Taszycki, Bernardum Macieiowski, Georgium Myszkowski, Benedictum Izdbieński, Albertum Policki et Nicolaum Koczanowski confecta et conventoni generali Regni anno MDXXXIV proposita (Starodawne prawa polskiego pomniki 3), hrsg. v. Michał Bobrzyński, Cracovia 1874, S. 18.

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als eine greifbare, materialisierte Gesamtheit manifestierte; damit ließ sich also eine auf einer suggestiven Rechtseinheit basierende Rechtsgemeinschaft postulieren,47 die bei Bedarf subsidiäres Recht als „fremdes“ ausschließen konnte. Auch die „Correctura iurium“ kannte in der Logik des Gesetzes von 1510 keine Strafbemessung für das Majestätsverbrechen. Als der königliche Ankläger 1538 für Mikołaj Rusocki die Todesstrafe forderte, erschien dies mithin als ein weiterer Anschlag des Monarchen auf die adligen Rechte und Freiheiten. Wenn in diesem Zusammenhang vom Jus Caesareum die Rede ist, wird insbesondere in Górskis Formulierung vom „iustitium caesareum novum“ zumindest eine Abwendung vom polnischen Gewohnheitsrecht kritisiert.48 In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war die polnische Höchstgerichtsbarkeit voll und ganz durch die Dominanz monarchischer Kompetenzen charakterisiert, die nach der Reorganisation des Justizwesens 1578 zwar keineswegs verschwinden sollten, jedoch einer deutlichen Modifikation unterlagen.49 Die königliche Höchstgerichtsbarkeit teilte sich dabei in Hofgerichte und das Sejmgericht auf, deren Kompetenzen sich im Laufe der Zeit voneinander differenziert hatten.50 Das Sejmgericht, das sich aus dem Monarchen und den Senatoren als Mitgliedern des Oberhauses zusammensetzte, befasste sich mit den schwerwiegendsten Straftaten: so etwa der Halsgerichts47

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Zur Verwendung des Begriffes „communitas nobilium“ ab dem späten 14. Jahrhundert vgl. Juliusz Bardach: Początki sejmu, in: Jerzy Michalski (Hrsg.), Historia Sejmu polskiego, Bd. 1: Do schyłku szlacheckiej Rzeczypospolitej, Warszawa 1984, S. 5–62, hier S. 13–17; Konstanty Grzybowski: Teoria reprezentacji w Polsce eoki Odrodzenia, Warszawa 1959, S. 146–150. Über die Vorstellung des Gemeinwesens als corpus, in das die communitas integriert war, wurde diese mit dem Monarchen verbunden, vgl. ebd. S. 44. Zur Bedeutung der Vorstellung von communitas in der aktuellen zeitgenössischen politisch-rechtlichen Literatur vgl. weiterhin auch Henryk Litwin: Stanisław Zaborowskiego życie, sylwetka i ,Traktat‘, in: Stanisław Zaborowski, Traktat w czterech częściach o naturze praw i dóbr królewskich oraz o naprawie królestwa i o kierowaniu państwem, hrsg. v. dems./Jerzy Staniszewski, Kraków 2005, S. V–LXX, hier S. XL. Inwieweit er hiermit eine unmittelbare Ableitung aus dem Recht des Heiligen Römischen Reiches suggeriert wie es der Herausgeber der polnischen Quellenübersetzung meint, ist eher fraglich; vgl. Seym w Piotrkowie w roku 1538 (wie Anm. 33), S. 134. Seiner Ansicht nach bezieht sich Górskis Aussage auf die erst 1532 vom Reichstag beschlossene „Constitutio criminalis Carolina“. Doch gerade die Carolina trifft im Gegensatz zur „Bamberger Halsgerichtsordnung“ eben gerade keine weitergehenden Aussagen zum crimen laesae maiestatis; vgl. Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen (wie Anm. 8), S. 33. Vgl. Dariusz Makiłła: Die Gründung des Obersten Gerichtshofs des Polnischen Königreichs. Verlust oder Rationalisierung einer königlichen Prärogative?, in: Leopold Auer/ Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 53), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 51–62; zur Veränderung des kronpolnischen Justizwesen vgl. umfassend Balzer: Geneza Trybunału (wie Anm. 38) sowie stark auf Balzerrs Darstellung gestützt Waldemar Bednaruk: Trybunał koronny. Szlachecki sąd najwyższy w latach 1578–1794, Lublin 2008. Vgl. Bednaruk: Trybunał koronny (wie Anm. 49), S. 15–25; Balzer: Geneza Trybunału (wie Anm. 49), S. 69–86.

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barkeit über den Adel, Störungen von Gerichts- und Parlamentsfrieden und eben dem crimen laesae maiestatis51 . Theoretisch waren also die übrigen Mitglieder der Ständeversammlung, die Landboten des Unterhauses, von der königlichen Justiz ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger bildete gerade der Umstand, dass das königliche Gericht während der Sejmsitzungen tagte, einen entscheidenden Faktor. Einerseits spielten dabei praktische Erfordernisse eine wichtige Rolle.52 Andererseits verlieh gerade der Kontext der Versammlung dem Gericht wie seinen Entscheidungen Gewicht. Mithin manifestierte sich hier die Rolle des Monarchen als Richter neben derjenigen als Gesetzgeber im Rahmen des Sejms, der in besonderer Weise auch eine performative Verkörperung des Gemeinwesens und seiner Strukturen bildete.53 Dies war jedoch erst durch die Anwesenheit der adligen Teilöffentlichkeit der Unterhausabgeordneten sinnvoll und möglich – eine Anwesenheit, die sich zugleich als zweischneidig erwies. Michał Rusocki wusste sich des Rahmens seines Gerichtsverfahrens bestens zu bedienen. Mit seinem Appell an die Landboten im Vorfeld der Sejmverhandlungen, der von den Landtagen und ihren Abgeordneten aufgenommen wurde, erreichte er, die Grenzen zwischen königlichem Gericht und legislativer Versammlung verschwimmen zu lassen. Entscheidend war hierbei die konfliktreiche Ausgangslage zwischen Teilen des im Senat vertretenen Hochadels und dem König einerseits und Teilen der Landtagseliten andererseits. Während die Senatoren im Sejmgericht über sein Tötungsdelikt verhandelten, verhandelten die Landboten des Unterhauses den Rechtsbruch, den sie in einer Abweichung des Sejmgerichts von den Rechten, Freiheiten und Privilegien des Adels im Königreich zu erkennen glaubten. Schließlich fügte sich dies nahtlos in die bestehenden Konfliktlinien ein, und der Monarch schien einmal mehr mit dem Hochadel gemeinsam die Position der lokalen Eliten einschränken zu wollen. Man kann sich demnach nicht des Eindrucks erwehren, das Unterhaus hätte im Gegenzug den Fall Rusocki mit umso größerem Enthusiasmus aufgenommen als diese rechtlicher juristische Konflikt es erlaubte, die laufenden Auseinandersetzungen über die Mitherrschaftsrechte des Adels und die Position des Monarchen noch einmal in nuce auszutragen. Doch auch Marcin und Piotr Zborowski und die anderen Lemberger Aufrührer nutzten auf ihre Weise das Forum des Sejms, um ihre Gerichtsprozesse zu beeinflussen. Sie verwandelten ihren Einzug in die Versammlungsstadt Piotrków in einen mit Pauken und Trompeten versehenen Triumphzug und vergaßen dabei auch

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Vgl. Bednaruk: Trybunał koronny (wie Anm. 49), S. 24. Der Sejm als relativ regelmäßiger und von vielen Adligen frequentierter Treffpunkt konnte wohl eine gewisse Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit des königlichen Gerichts in diesem Rahmen garantieren. Entsprechend etablierte sich die Rede vom Sejm als Theatrum Reipublicae, vgl. Maria Barlowska: Jerzy Ossolińsi. Orator polskiego Baroku, Katowice 2000, S. 72ff.; dies.: Na Swady Sarmackiej Placu‘. O kulturze oratorskiej wieku XVII, Kielce 2001, S. 35f.

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ein drohendes Gefolge von dreihundert Reitern nicht. Diese Demonstration von Selbstbewusstsein und Wehrhaftigkeit verfehlte zwar anscheinend auf die zeitgenössischen Beobachter keineswegs ihre Wirkung.54 Beinahe noch eindrücklicher geriet aber ihre Reaktion auf den Urteilsspruch des königlichen Gerichts: Anstatt geschlagen von dannen zu ziehen, organisierten Piotr und Marcin Zborowski mehrere Tage lang ostentative Feiern und Festgelage im Kreise der Unterhausabgeordneten.55 In gewisser Hinsicht durften allerdings alle Seiten als Sieger vom Platz gehen. Auch wenn König Sigismund I. formal nicht aktiv an den Verhandlungen des Sejmgerichts gegen Rusocki und die Zborowski-Brüder teilnehmen sollte, behielt er sich doch die Festlegung des Strafmaßes vor. Dass der supremus iudex in allen Fällen letztlich recht milde Sanktionen verhängte, muss ihm nicht unbedingt als Schwäche ausgelegt werden.56 Wenn von Seiten des Unterhauses insbesondere der Fall Rusocki als willkommener Kristallisationspunkt für weitergehende Aushandlungen über die Definition des Gemeinwesens genutzt wurde, konnte der Monarch hier und nicht zuletzt auch im Prozess gegen die Lemberger Wortführer seine Autorität und Unabhängigkeit als oberster Richter demonstrieren. Sie wurden schließlich implizit begnadigt, indem auch die einzige verhängte Strafe – die beeidete Verpflichtung, sich jeder zukünftigen königlichen Vorladung zu stellen – bis auf Marcin Zborowski für alle Beteiligten aufgehoben wurde.57 Dabei rückte für die Beobachter gerade die autonome Entscheidung des Königs in den Mittelpunkt, der sich als gnädiger Herrscher von den „consilia sanguinolenta“ des senatorischen Richterkollegium absetzte: „Sed Rex [. . . ] ad severitatem non est passus.“58 Gleiches galt für Mikołaj Rusocki. Hatte die Witwe seines Opfers den Monarchen auf Knien um ein strenges Urteil für den Mörder ihres Mannes angefleht, stand ihr der Täter performativ in nichts nach. Rusocki, der sich vor dem Prozess selbstbewusst und wirksam gegen die Anklage verwehrt hatte, trat nun die symbolische Abbitte an. Kniend gab er sich als Diener seiner Majestät ganz in dessen Hände und flehte um Barmherzigkeit.59 Eben diese Milde ließ der Monarch dann auch im Urteil explizit als seinen Willensakt kenntlich machen: „Seine Königliche Majestät hat geruht, Euch aus der Befleckung und Beleidigung Eurer Ehrhaftigkeit zu entlassen, indem er Euch endlich seine herrscherliche Gnade zeigen und die Härte des Gesetzes über Euch nicht anwenden wollte.“60 Die Eidbindung und in Aussicht gestellt Kerkerhaft, zu der Rusocki durch das Urteil verpflichtet wurde, entsprachen dabei den Vorschriften des pol54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Górski: Acta conventus generalis Piotrcovia (wie Anm. 33), f. 19v. Vgl. ebd., f. 20r. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Monarchen als supremus iudex umfangreiche Belege bei Balzer: Geneza Trybunału (wie Anm. 49), S. 27 (Fn. 2). Vgl. Dyjakowska: Subsydiarne stosowanie (wie Anm. 25), S. 66. Górski: Acta conventus generalis Piotrcovia (wie Anm. 33), f. 20v. Vgl. Bojarski: Dwa zabytki (wie Anm. 35), S. 290. Ebd., S. 296.

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nischen Landrechts, ohne dass die Urteilsbegründung jedoch einen Jota von der Geltung des crimen laesae maiestatis abrückte. Im Gegenteil unterstrich sie nachdrücklich, dass es sich hierbei um originär polnisches Recht handele und schloss in diese Argumentation überdies das nach der Lex quisquis geforderte Strafmaß ein61 . Darüber hinaus rückte das Urteil den Fall in einen weitaus größeren Zusammenhang. Es qualifizierte jegliches Tötungsdelikt als Verstoß nicht nur gegen das Recht, sondern auch gegen die Tugend und leitete hieraus eine Gefährdung des gesamten Gemeinwesens ab. Wenn ein Verbrechen gegen die Majestät nicht geahndet würde, seien Anarchie und Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung vorgezeichnet, würden auch die Bauern ihre Herren nicht mehr respektieren. Alle hingegen, ob Adliger oder Bauer, seien Teil des „Körpers des Königs“62 . Deutlicher und – angesichts der politischen Konstellation – aggressiver ließ sich wohl der Anspruch des „rex est lex“ kaum formulieren. In solcher Interpretation geriet nicht allein die Anwendung des Landrechts zu einem monarchischen Gnadenakt, vielmehr erschien das Landrecht selbst nicht als Ensemble von leges und libertates einer adligen communitas – es war königliches Recht, ja es war eine Emanation des Königs selbst. Mit den Urteilen von 1538 war die Wirkung der Prozesse um die crimina laesae maiestatis jedoch nicht beendet. Der Sejm des Folgejahres darf mithin als ein Nachspiel gelten, in dessen Konsequenz das Gesetz von 1510 umformuliert wurde. Die Angriffe des Unterhauses auf das geltende Recht zur Majestätsbeleidung im Jahr 1539 nahmen hierbei den Fall Rusocki zum Anlass, um vor einer ubiquitären Anwendung des Gesetzes in seiner geltenden Lautung zu warnen.63 Tatsächlich einigte man sich darauf, den Text zu modifizieren. Heraus kam dabei eine recht unscharfe Hybridformel: Die Majestätsbeleidigung selbst sollte sich nunmehr allein auf die Person des Königs beziehen, mit derselben Strafbemessung wie für dieses crimen laesae maiestatis sollten hingegen auch jegliche Vergehen gegen Sejmmitglieder und Amtsträger bestraft werden. Allein – weder wurde die Strafbemessung präzisiert noch trug nun die Beleidigung aller anderen im Gesetz eingeschlossener Personen einen Namen.64 Reflektieren diese rechtlichen Fixierungen das jeweilige Spannungs- und Machtverhältnis zwischen dem Monarchen und 61 62 63 64

Vgl. ebd., S. 294f. Vgl. ebd., S. 294. Vgl. Górski: Descriptio conventus Cracoviensis (wie Anm. 28), f. 164r.–164v. „Crimen laesae maiestatis, ita postulantibus terrarum nostrarum nuntiis volumus nisi in persona nostra locum habere, et non in alios, quantumvis publicas personas gerentes extendi. Si quod autem per quempiam facinus vel homicidium in his fuerit commisum, qui extra personam nostrum vel senatoria vel publica aliqua dignitate, loco et officio praefulgeat, in eum secundum statutum animadvertur.“ (Sejm walny krakowski 1538–1539 r., in: Stanisław Grodziski/Irena Dwornicka/Wacław Uruszczak (Hrsg.), Volumina Constitutionum. Bd. 2: S. 1527–1549, Warszawa 2000, S. 193–213, hier S. 199 ([16.] De crimine laesae maiestatis).

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seiner Ständeversammlung, sind sie in diesem Sinne deutliche Indikatoren für Versuche, das Gemeinwesen in der einen – oder auch anderen Weise – zu definieren: Wieviel Monarch war das Gemeinwesen, wieviel adliges Kollektiv? Nach dem Ende des faktisch erblichen Königtums der Jagiellonendynastie ab 1572 standen die Akteure des nun schon polnisch-litauischen Gemeinwesens vor der Aufgabe, dieses Verhältnis wiederum neu zu bestimmen – was auch für die Definition des crimen laesae maiestatis nicht ohne Folgen bleiben konnte.

2. Notorische Schwerverbrecher: Die Familie Zborowski und die majestas 2.1 Samuel Zborowski: Ehrkonflikt vs. crimen laesae maiestatis

Der erste, der sich am polnischen Königtum versuchte, war der Franzose Henri Valois. Seine allzu kurze Vorstellung auf dem polnischen Thron hinterließ selbst noch nach seinem Hinscheiden als gemeuchelter französischer König Henri III. lang anhaltende rechtliche Scherereien. Dies begann schon am Tag seiner Krönung. Samuel Zborowski, Sohn des schon 1538 für ein crimen laesae maiestatis verurteilten Marcin Zborowski und Spross einer der einflussreichsten hochadligen Familien Kleinpolens hatte sich mit großem Gefolge zu den Feierlichkeiten eingefunden.65 Im Rahmen des Turniers zu den Krönungsfeierlichkeiten wagte nun ein einfacher kroatischer Adliger aus dem Gefolge Jan Tęczyńskis Samuel Zborowski zu einem Stechen aufzufordern. Zborowski, in seiner Ehre gekränkt, von einem nicht satisfaktionsfähigen Ausländer herausgefordert worden zu sein, schickte einen der Diener aus seinem Gefolge zum Kampf, erwartete aber dennoch von dem ihm im Rang ebenbürtigen Tęczyński Satisfaktion. Als dieser nicht darauf eingehen wollte, griff Zborowski mit seinem Gefolge im Unterschloss schließlich Tęczyński und seine Entou65

Die detaillierteste und umfassendste Beschreibung dieser Vorgänge und des sich anschließenden Prozesses liefert Stanisław Orzelski: Bezkrólewia ksiąg ośmioro 1572–1576 (Scriptores rerum polonicarum 22), hrsg. v. Edward Kuntze, w Krakowie 1917, S. 185– 201; der lateinische Text liegt ebenfalls in einer polnischen Übersetzung vor: Stanisław Orzelski: Bezkrólewia ksiąg ośmioro czyli dzieje Polski od zgonu Zygmunta Augusta r. 1572 aż do r. 1576, hrsg. v. Włodzimierz Spasowicz, Petersburg/Mohilew 1856, S. 221– 245. Der Zwischenfall während der Krönungsfeierlichkeiten fand auch in allen offiziösen Flugschriften Erwähnung, vgl. beispielsweise Warhafftige Beschreibung der herrlichen Krönung / jetztmals regierender Königlichen Würde zu Polen / So auff den Sontag Esto mihi, den 21. Februarii / Anno 1574. zu Crackaw geschehen. Sampt angehenckter beschreibung der herrlichen Begrebnuß des nechst abgestorbenen Königs zu Polen / etc., o.O. 1574, B r.–B v.; L’entrée, sacre et couronnement de Henry, à present Roy de Pologne. Le tout fait à Cracovie, ville cpitale dudict Royaume, & recité par une lettre missive d’un Gentil homme François, A Paris 1574, DIII r.–DIII v.

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rage an und tötete den Adligen Wapowski. Vor dem neuen König defilierten die Streitparteien, um ihre Positionen darzulegen. Während Zborowski darauf beharrte, seine Ehre verteidigt zu haben, entwickelte Mikołaj Maciejowski, ein Vetter Katarzyna Wapowskas66 , als deren Vertreter, im Laufe einer zweiten Anklagerede vor Henri Valois die Theorie, bei Zborowskis Tat habe es sich nicht nur um die Tötung eines Adligen gehandelt, sondern um ein crimen laesae maiestatis. Schließlich habe die Tat noch im Königsschloss und damit de facto im Beisein des Monarchen stattgefunden.67 Maciejowski übte nun Druck auf den Monarchen mit einer Argumentation aus, die König Sigismund I. 1538 wiederum gegen Rusocki eingesetzt hatte: Da es sich eindeutig um eine Majestätsbeleidigung handele, müsse sie auch mit aller Härte bestraft werden, ansonsten „nulla habetur divinae maiestatis ratio, nulla auctoritatis tuae, nulla legum.“68 Ebenfalls wie schon im Fall Rusocki wurden die zur Krönung in Krakau anwesenden Landboten des Sejm-Unterhauses in den Prozess einbezogen. Auf den Appell von Tęczyński hin nahm eine Delegation von Abgeordneten die Bitte um eine zügige Verurteilung Zborowskis neben Fragen zum Krönungseid in das Paket ihrer Anliegen beim König auf.69 Darüber hinaus erschien die Witwe des getöteten Wapowski mit einem großen Trauergefolge und dem Sarg ihres Gatten selbst auf dem Schloss, um beim Monarchen vorstellig zu werden.70 Die Verhandlungen um die Tötung von Wapowski überstiegen dabei weit den Rahmen einer adligen Teilöffentlichkeit im Rahmen der Ständeversammlung. Die Krönungsfeierlichkeiten, der Vorfall vor einer breiten Menge von Zuschauern – all dies ließ den Fall Samuel Zborowski breit auch in die Stadt diffundieren. In den nachfolgenden Tagen war Krakau in Aufruhr, die Stadt war überseht von öffentlich ausgehängten Traktaten für und gegen Zborowski.71 Allerdings führte das sofortige Auftreten der Konfliktparteien, die mündliche Anklage der Witwe, die Abwesenheit Samuel Zborowskis, der von seinem Bruder vertreten wurde, das Aufschieben eines sofortigen Urteils durch den König und das Fehlen jeglicher schriftlicher Prozedur zu erheblichen Verfahrensdiskussionen im Kreis der zusammen gerufenen Senatoren. Bis

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Vgl. Orzelski: Bezkrólewia (wie Anm. 65), S. 231 (Fn. 1); Kasper Niesiecki: Herbarz polski. Bd. 6, w Lipsku 1841, S. 305–310, S. 314f. Vgl. Orzelski: Bekrólewia (wie Anm. 65), S. 192–194. Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 191f. Vgl. ebd., S. 192. Vgl. ebd., S. 189. Hierauf deuten auch die Erwähnungen in einer zeitgenössischen Krakauer Chronik hin; vgl. Kronika x. Krzysztofa Zelnera, in: Groby królów polskich w Krakowie w kościele katedralnym na Zamku. Poprzedza Kronika x. Krzysztofa Zelnera mansyonarza Kościoła Panny Maryi tę, oraz inne pomniki historyczne, hrsg. v. Ambroży Grabowski, w Krakowie 1835, S. 1–33, hier S. 1; auf einige Traktate im Zuge der Affäre weist etwa hin, Żegota Pauli: Pamiętniki do życia i sprawy Samuela i Krzysztofa Zborowskich, Lwów 1846, S. Xf.

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zu diesem Zeitpunkt hatten die Streitparteien einfach ihre Positionen vor dem Monarchen vertreten. Zwar waren Anklage- und Verteidigungsschriften dann auch schriftlich beim König hinterlegt worden, aber weder war formal darüber entschieden worden, ob es sich tatsächlich um ein crimen laesae maiestatis handelte noch war folglich Henri mit seinen Senatoren formal zu einem Sejmgericht zusammengetreten.72 Schließlich gaben die Senatoren aber doch ihre Voten ab73 und der Monarch fällte nach deren Anhörung ein recht unorthodoxes Urteil: Die bisherigen Gesetze seien ungeeignet, den vorliegenden Fall zu beurteilen. Es handele sich um einen Totschlag aus dem Affekt, allerdings unter den erschwerten Umständen des Kontextes. Mithin lautete das Verdikt auf lebenslange Verbannung und Einziehung des Vermögens, jedoch ohne Ehrverlust. Sollte der Verurteilte jedoch wieder ins Königreich zurückkehren, drohte ihm die Todesstrafe.74 Abgesehen von den eklatanten Verfahrensfehlern, wäre sicherlich ein weitaus schärferes Verdikt gegen Zborowski erwartbar gewesen – schon etwa auf Grundlage des Gesetzes von 1507, das das Tragen von Waffen am Hof und auf dem Sejm und noch schärfer ein Tötungsdelikt in diesem Rahmen sanktionierte.75 Bemerkenswert war am Fall Samuel Zborowski nicht allein, dass sich der König weigerte, hierin ein Verbrechen von Majestätsbeleidigung zu sehen. Letzteres lehnte er mit der Begründung ab, die Tötung sein „non ex insidiis et consideratione“ erfolgt.76 Hierhinter stand die Argumentation, dem Verbrechen habe die Dimension einer perduellio gefehlt und sei gerade deswegen nicht als crimen laesae maiestatis zu bewerten. Während es durchaus üblich war, die unbeabsichtigte Majestätsbeleidigung unter Umständen ungestraft zu lassen,77 suchte die Anklage der Witwe Wapowskis gerade die große Dimension des Zwischenfalls zu beweisen. In geschickter Rhetorik stützte sie sich dabei auf eine Argument Sigismunds I., das noch rund vier Jahrzehnte zuvor einen politischen Sturm ausgelöst hatte, um den aktuellen Monarchen zu einer Verurteilung Zborowskis zu zwingen. Insgesamt erwies sich die recht milde Entscheidung Henri Valois‘ auch nicht als salomonisch. Da es weder eine formale schriftliche Vorladung des Angeklagten noch eine Anklage seitens der königlichen Anwaltschaft gegeben hatte, konnte der Gnesener Erzbischof Jakub Uchański das Urteil zurecht mit den lapidaren Worten kommentieren, er erlebe zum ersten Mal, dass eine Strafsache mit einem zivilrechtlichen Urteil abgeschlossen würde78 . Henri entschied sich für eine sehr enge Ausle72 73 74 75

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Vgl. Orzelski: Bezkrólewia (wie Anm. 65), S. 195f. Vgl. ebd., S. 196–199. Vgl. ebd., S. 200f. Vgl. Sejm koronacyjny krakowski 1507 r., in: Grodziski/Dwornicka/Uruszczak (Hg.), Volumina Constitutionum, S. 185–205, hier S. 192 [17] (wie Anm. 24) (De poena eorum, qui manu amata ad iudicia et conventus generales et particulares veniunt). Orzelski: Bekkrólewia (wie Anm. 65), S. 200. Vgl. Schnabel-Schüle: Majestätsverbrechen (wie Anm. 8), S. 42. Vgl. Orzelski: Bezkrólewia (wie Anm. 65), S. 201.

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gung des crimen laesae maiestatis. Der König als supremus iudex hatte also das übliche Prozessvorgehen übergangen und die Anklage der Majestätsbeleidigung in seinem Urteil explizit verworfen: Es muss an dieser Stelle offen bleiben, ob dies gewisser Ungeschicklichkeit und Unerfahrenheit des jungen französischen Valois angesichts der polnischen Verhältnisse geschuldet war. Mit Sicherheit spielte hingegen die enge Verbindung des Hauses Zborowski mit dem Valois eine gewisse Rolle, als dessen eifrigster Unterstützer es sich bei der Königswahl erwiesen hatte79 . Zeitgeschichtsschreiber wie ein Reinhold Heidenstein, der in Diensten Jan Zamoyskis, des wohl glühendsten Gegners des Hauses Zborowski, stand, werteten dagegen das Urteil als einen Akt, mit dem Henri demonstrativ seine monarchische Autorität im Sinne seiner Interessen mit einer kreativen Rechtsfindung oktroyieren wollte80 . Nicht nur die betroffenen Streitparteien akzeptierten das Urteil nicht, es trat auch eine neue publizistische Lawine los, diesmal mit Henri Valois als Ziel der Kritik: Seine engster Berater wurde als Lügner denunziert, französische Sitten verspottet, die Eidesleistungen des Königs und seine Versprechen in Zweifel gezogen. Auch die Versuche Henris‘ mit einer verschärften Zensur gegen die Pasquillen vorzugehen, scheiterte: „sed ea severitate nil effectum.“81

2.2 Krzysztof Zborowski: Hochverrat als crimen laesae maiestatis

1584, zehn Jahre nach dem Vorfall auf dem Krakauer Königsschloss, versuchte Samuel Zborowski aus seiner Verbannung zurückzukehren. Der König hatte schon seit langem gewechselt und auch die Rivalitäten unter den führenden Adelsfamilien hatten neue Protagonisten hervorgebracht. Der neue Herrscher Stefan Bátory hatte zur Enttäuschung der Zborowskis der Familie Zamoyski den Vorzug gegeben und Jan Zamoyski in einem kometenhaften Aufstieg zu seinem einflussreichsten Vertrauten und Kronkanzler gemacht.82 Das Haus Zborowski hatte sich in der Folge auf die habsburgische Seite geschlagen und 79 80

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Vgl. Maciej Serwański: Henryk III Walezy w Polsce. Stosunki polsko-francuskie w latach 1566–1576, Kraków 1976, S. 41–45. Vgl. Reinhold Heidenstein: Rerum polonicarum ab excessu Sigismundi Augusti XII, Francofurt ad Moenum 1672, S. 55. Zu Heidenstein vgl. Władysław Nehring: O życiu i pismach Reinholda Heidensteina (O historykach polskich szesnastego wieku 1), Poznań 1862; Wojciech Tygielski: Politics of Patronage in Renaissance Poland. Chancellor Jan Zamyoski, His Supporters and the Political Map of Poland, 1572–1605 (Fasciculi historici 15), Warszawa 1990, S. 77f. Orzelski: Bezkrólewia (wie Anm. 65), S. 201. Vgl. Sławomir Leśniewski: Jan Zamoyski. Hetman i polityk, Warszawa 2008, S. 83; vgl. zur Rolle der Zborowskis auch Christoph Augustynowicz: Die Kandidaten und Interessen des Hauses Habsburg in Polen-Litauen während des zweiten Interregnums 1574–1576 (Dissertationen der Universität Wien 71), Wien 2001, S. 42f.; vgl. auch die in den Urteilen problematische, jedoch die umfangreichste deutschsprachige Darstellung zum Thema:

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hielt engen Kontakt mit dem Hof in Wien, einen so engen Kontakt, dass er bis hin zu Plänen einer Absetzung Bátorys gehen sollte83 . Als Samuel Zborowski 1584 kronpolnischen Boden betrat, zögerte Zamoyski nicht, von seiner lokalen Gerichtsgewalt Gebrauch zu machen, den Verbannten gefangen zu nehmen und in Berufung auf das Urteil Henri Valois‘ von 1574 hinrichten zu lassen.84 Obgleich Zamoyski dabei nach der theoretischen Rechtslage vollkommen legal vorging, war die Konsequenz und Härte seines Durchgreifens äußerst ungewöhnlich. Es führte zu einem breiten Echo innerhalb des Adels und nährte bereits bei den Zeitgenossen den Verdacht, hier handele es sich eher um die Abrechnung eines neu Aufgestiegenen mit den eingesessenen adligen Eliten als um einen juristisch begründeten Akt.85 Im Zuge der Beobachtung und Gefangennahme Samuels fielen den Häschern auch kompromittierende Briefe zwischen den Brüdern Samuel und Krzysztof in die Hände.86 Hierin erschienen obskure Bündnispläne mit Kosaken neben Drohungen, die Krzysztof Zborowski gegen die schlechten Ratgeber des Monarchen ausstieß, eines Königs, „sic hoc nomine dignus est“87 . Der Hof fackelte nun nicht lang und ließ Krzysztof Zborowski anklagen. In der Vorladung vor das Sejmgericht hieß es, Krzysztof habe Briefe verfasst, in denen der Name und die Würde des Monarchen verunglimpft werde, die folglich für die respublica schädlich seien und zu Aufruhr anstifteten: „Womit er sich nicht nur der Beleidigung unserer Majestät schuldig gemacht hat, sondern auch sämtliche andere Strafen für Feinde und Verräter des Vaterlandes verdient hat.“88 Im Gegensatz zu dem unkonventionell gehaltenen Verfahren gegen Samuel, schien der Prozess gegen Krzysztof Zborowski auf den ersten Blick regelhaft zu verlaufen: Krzysztof erhielt eine Vorladung, es lag eine schriftliche Anklage vor und der Prozess wurde regulär für die Sitzung des Sejmgerichts terminiert. Der Charakter des Sejmgerichts und dessen Kompetenzen hatten sich dabei auch nach der Reform des Gerichtswesens und der Schaffung eines neuen

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Jacob Caro: Das Interregnum Polens im Jahre 1587 und die Parteikämpfe der Häuser Zborowski und Zamojski. Nach den Quellen bearbeitet, Gotha 1861. Vgl. Leśniewski: Jan Zamoyski (wie Anm. 82), S. 84. Vgl. hierzu ausführlich die zeitgenössischen Berichte Pojmanie Samuela Zborowskiego od Jana Zamoyskiego sowie Uwięzienie Samuela Zborowskiego opisane prez krewnych jego, in: Pauli: Pamiętniki (wie Anm. 71), S. 45–51 bzw. S. 52–60. Vgl. Maria Rhode: Ein Königreich ohne König. Der kleinpolnische Adel in sieben Interregna (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 5), Wiesbaden 1997, S. 131f.; Leśniewski: Jan Zamoyski (wie Anm. 82), S. 87f. List Krzysztofa Zborowskiego do brata swego Samuela, in: Pauli: Pamiętniki (wie Anm. 71), S. 37–42; List Krzysztofa Zborowskigo do kozaków niżowych, in: ebd., S. 43– 44; auch als Beweisanlage in der Anklageschrift des königlichen Anklägers im Prozes gegen Krzysztof Zborowski abgedruckt: A. Rzeczycki: Accusationis in Christophorum Sborovium, f. VIIr.–IXv. List Krzysztofa Zborowskiego do brata swego Samuela, S. 39. Pozew Krzysztofa Zborowskiego przed sąd królewski, in: Pauli: Pamiętniki (wie Anm. 71), S. 137–138, hier S. 138.

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adligen Obergerichts, des Krontribunals, nicht substantiell verändert.89 Das Sejmgericht tagte also auch 1585 noch während der Sitzungen der Ständeversammlung und dies blieb ein weiteres Mal nicht ohne Folgen. Die Zborowskis präsentierten sich mit großem Auftritt und zogen mit einem zahlreichen Gefolge nach Warschau ein. Entsprechend reagierte der Kronmarschall, der die Verfahrenshoheit über die Ständeversammlung hatte, mit beeindruckenden Gegenmaßnahmen. Den Versammlungsort und hier auch die Abgeordnetenkammer, die nicht zum Sejmgericht zählten, wurden mit königlichen Truppen umstellt90 . Deutlicher ließ sich die monarchische Autorität kaum zeigen. Zugleich fand sich mithin auch das indirekte Eingeständnis, dass die Anwesenheit der Unterhausabgeordneten nicht ignoriert werden konnte, selbst wenn sie vom Verfahren eigentlich ausgeschlossen waren. – und Andrzej Zborowski als Verteidiger seines abwesenden Bruders Krzysztof bediente sich auch ohne Umschweife der Unterstützung aus dem Unterhaus. Bereits die Begrüßungsrede des Vorsitzenden des Unterhauses für den Monarchen hatte in allgemeiner Form, doch zugleich deutlich darauf bestanden, „über Recht und Gewohnheit nicht hinauszugehen.“91 Andrzej Zborowski suchte nun „cum lacrimis et ingente dolore“ die Landboten zu überzeugen, sich gegen die Verfahrensregeln in den Prozess einzumischen.92 Schließlich ginge es darum, dass sie als Wächter von Freiheit und Recht deren Unterdrückung durch den Monarchen verhinderten.93 Tatsächlich hatte Andrzej Erfolg und zum augenscheinlichen Erstaunen eines der Berichterstatter folgten die Abgeordneten Andrzej Zborowski in den Senatssaal, wo die Sitzung des Gerichts gehalten wurde „als ob sie von Seiner Königlichen Majestät zur Anhörung dieses Verfahrens der Zborowskis gerufen worden wären“.94 Ohne Umschweife meldeten sich dann zunächst der Landbotenmarschall als Unterhausvorsitzender und schließlich auch verschiedene Abgeordnete in den beginnenden Gerichtsberatungen zu Wort.95 König Stefan Bátory wiederum verwandelte die präzedenzlose Ausweitung der Akteure und Gerichtsöffentlichkeit in ein strategisches Mittel, dem umstrittenen Prozess gegen Krzysztof Zborowski eine ganz eigene Legitimität zu verleihen. So schickte er nun zu Prozessbeginn morgendlich nach den Unterhausabgeordneten, „damit bei der Anhörung dieser Sache eine möglichst große Zahl aller sei, die diligentissime et exaltissime ad ungvem

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Vgl. den präzisen Überblick bei Urszula Augustyniak: Historia Polski 1572–1795, Warszawa 2008, S. 132–135. Vgl. Akta sejmu walnego koronnego warszawskiego in anno 1585 pro die XV Januarii złożonego, in: Aleksander Czuczyński (Hrsg.), Dyaryusze sejmowe r. 1585 (Scriptores rerum polonicarum 18), w Krakowie 1901, S. 1–293, S. 40. Ebd., S. 6. Ebd., S. 41. Vgl. ebd. Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 42–59.

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solch großes Verfahren anschauten und anhörten.“96 Der Prozess wegen des crimen laesae maiestatis wurde mithin plötzlich in neue Bezüge eingeordnet. Die Anwesenheit beider Häuser des Sejms sowie des Königs war innerhalb des Sejmzeremoniells eine Ausnahmeerscheinung und normalerweise allein der solennellen Eröffnung der Ständeversammlung und deren Beendigung vorbehalten. Es waren diejenigen Momente, in denen sich das Gemeinwesen mit seinen Gliedern performativ in seiner Gesamtheit konstituierte.97 So schienen Verfahren und angestrebtes Urteil mit der Autorität der gesamten respublica gefällt, was andererseits mit der Logik korrespondierte, der Angeklagte habe mit seinen Verbrechen das Gemeinwesen als Ganzes in Gefahr gebracht. Dies hinderte Stefan Bátory jedoch keineswegs daran, den Unterhausabgeordneten schon wenig später klar zu machen, wer der Herr des Verfahrens war. Nachdem die Landboten an den ersten beiden Prozesstagen teilgenommen hatten, verweigerte der König ihnen am dritten Verhandlungstag den Zugang – denn „so wie er zuvor nach den Abgeordneten geschickt hat, damit sie zuhörten, dass alles nach der Ordnung des Gesetzes ablaufen wird, so ist Seine Majestät der König jetzt nicht der Meinung, dass sie allem zuhören werden, vielmehr wird Seine Majestät der König nach Recht und Brauch dieses Gericht mit den Herren Senatoren abhalten.“98 Die Büchse der Pandora war allerdings bereits geöffnet und die Abgeordneten wollten sich nun nicht mehr konsequent von einer Partizipation am Verfahren des Sejmgerichts ausschließen lassen, so dass sich der Monarch auf wiederholte Diskussionen mit Unterhausvertretern und deren Kommentaren zum Prozess einlassen musste.99 Der königliche Ankläger Andrzej Rzeczycki hielt Krzysztof Zborowski vor, das Leben des Monarchen und den Frieden in der Respublica bedroht zu haben,100 in Kriegszeiten einem fremden Herrscher, nämlich dem Zaren, geholfen zu haben101 und schließlich den König namentlich beleidigt zu haben,102 ja ihn als Tyrannen zu sehen.103 Zusammenfassend stellt Rzeczycki 96 97

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Ebd., S. 60. Vgl. etwa Krystyna Płachcińska: Obraz kultury retorycznej społeczeństwa szlacheckiego na podstawie mów sejmowych z lat 1556–1564, Łódź 2004, bes. S. 195f.; Julia Dücker: Reichsversammlungen im Spätmittelalter. Politische Willensbildung in Polen, Ungarn und Deutschland (Mittelalter-Forschungen 37), Ostfildern 2011, S. 59–62; Kolja Lichy: Reden als Aushandeln. Rhetorik und Zeremoniell auf dem polnisch-litauischen Sejm zu Beginn der Wasa-Zeit, in: Jörg Feuchter/Johannes Helmrath (Hrsg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Eigene und fremde Welten 9), Frankfurt a.M. 2008, S. 149–172. Akta sejmu in anno 1585, in: Czuczyński: Dyaryusze sejmowe (wie Anm. 90), S. 79. Vgl.ebd., beispielsweise S. 366f. Vgl. Rzeczycki: Accusationis in Christophorum Sborovium (wie Anm. 86), S. 55. Vgl. ebd., bes. S. 67–81. Vgl. ebd., bes. S. 103-107. Dies suggeriert mehr oder weniger deutlich – im monarchomachischen Sinne – eine Mordabsicht Zborowskis, vgl. ebd., S. 93, auch in Anspielung auf die Verschwörung Catilinas S. 113f.

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fest, durch Zborowski sei „fides hosti publico data“, er weise „animus [. . . ] in Regem infestus“ auf und habe die Ermordung des Monarchen im Sinn.104 Der Vorwurf der Verschwörung mit dem Feind entsprach dabei der Anklage wegen Hochverrats. Allerdings war dies nur schwerlich auf Grundlage der bestehenden Gesetze zum crimen laesae maiestatis zu begründen. Schließlich machte die Regelungen von 1510 und noch mehr von 1539 gerade die Konzentration auf die Majestätsbeleidigung aus; selbst wenn Henri Valois schon in seinem Urteil gegen Samuel Zborowski den Hochverrat implizit als Bedingung ausgegeben hatte, um ein Verbrechen als Majestätsbeleidigung zu qualifizieren. Die Zborowskische Verteidigung hielt entsprechend ein schlagkräftiges Argument bereit: „Alle diese Dokumente, die er [der Ankläger, K.L.] produziert und deklariert, hat er ex jure caesareo genommen: nos autem non habemus caesarem nisi regem. Richtet uns nicht, Eure Königliche Hoheit, mit kaiserlichem Recht, sondern polnischem. Die polnischen Rechte sagen, dass crimen laesae majestatis tantum in persona regia committitur.“105 Das Römische Recht bedrohe, so die Verteidigung weiter, die adligen Freiheiten, es gälten hingegen nur die „statuta et contitutiones regni“. Den König hinderte dies nicht, nach den kontroversen Beratungen der Senatoren im Sejmgericht, ein für Zborowski ungünstiges Urteil zu fällen, der der poena infamiae verfiel und dessen sämtliche Güter konfisziert werden sollten. Juristisch gesehen blieb die sehr knappe Urteilsbegründung dabei ebenso unscharf wie es bereits die Anklageschrift Rzeczyckis vorgegeben hatte, zielte aber in ihrem gewichtigsten Teil auf die Anklage wegen Hochverrat ab. Der Verurteilte habe, so das königliche Dekret, „unter Gott- und Ehrvergessenheit gegen göttliches und menschliches Recht und gegen das polnische ius publicum, und auch gegen die Obrigkeit Seiner Königlichen Majestät“ gehandelt, habe die Gesundheit des Königs auf das Spiel gesetzt und sich mit dem Feind gegen die patria verschworen, schließlich die königlichen Majestät verbal beleidigt.106 Mittelbare Folge des Prozesses gegen Krzysztof Zborowski war eine rechtliche Neuregelung zum crimen laesae maiestatis, die 1588 – dann schon unter dem neuen König Sigismund III. Wasa – verabschiedet wurde. Nicht zuletzt auch unter sichtbarem Einfluss der zugespitzten Auseinandersetzungen, die die Doppelwahl des Wasas Sigismund und des Habsburgers Maximilian 1587,107 statuierte das Gesetz eine klare Abgrenzung zwischen dem crimen laesae maiestatis sowie einem nun erstmals definierten und schriftlich fixierten crimen perduellionis Reipublicae.108 Hier wurde ein eigenes Prozessrecht 104 105 106 107 108

Vgl. ebd., S. 154. Akta sejmu in anno 1585, S. 125, vgl. auch S. 164f. Ebd., S. 259. Vgl. zusammenfassend Henryk Wisner: Zygmunt III Waza, Wrocław u. a. 2006, S. 11– 38. Sejm koronacyjny krakowski 1587–1588, in: Stanisław Grodziski /Wacław Uruszczak (Hrsg.), Volumina Constitutionum, Bd. 2: 1587–1609, Warszawa 2008, S. 53-98, hier S. 62f. ([2.] De crimine laesae Maiestatis Regiae et perduellionis).

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für diese Vergehen und entsprechende detaillierte Verfahrensvorschriften festgelegt. Noch entscheidender war aber sicherlich die Trennung zwischen der Person der königlichen Majestät und dem Abstraktum der respublica. Als Konsequenz dieser nun juridisch nachvollzogenen Neubestimmung des Gemeinwesens, sollten zukünftig acht Unterhausabgeordnete den Hochverrat gegen die respublica gemeinsam mit König und Senat aburteilen dürfen. Die Konstitution von 1588 zog faktisch jedoch nur eine scheinbare theoretische Trennlinie zwischen beiden Delikten ein, die eine Verurteilung wie diejenige Krzysztof Zborowskis für die Zukunft vermeiden sollten. Die großen Hochverratsprozesse des 17. Jahrhunderts wie etwa gegen Hieronim Radziejowski 1652 oder Jerzy Lubomirski 1664 zeigten, dass es keineswegs zu einer Entkoppelung von Hochverrat und Majestätsbeleidigung kam.109 Der Monarch war und blieb in diesem Sinne die wichtigste Bezugsgröße des Gemeinwesens und das crimen laesae maiestatis das gewichtigste Instrument höchstgerichtlicher Verfolgung. Nachzuweisen wäre dies im Übrigen problemlos auch an der massierten Benutzung des Vorwurfes der Majestätsbeleidigung etwa in der polemischen Publizistik des beginnenden 17. Jahrhunderts110 .

3. Die Statuten und das crimen laesae maiestatis: Zwischen Wissensspeicher und Memoria des Adels als Rechtsgemeinschaft In Kronpolen entstanden im Laufe des 16. Jahrhunderts mindestens fünf Kodifizierungsentwürfe: die Statuten Jan Łaskis von 1506, diejenigen Jakub Przyłuskis von 1553111 , Jan Herburts aus dem Jahr 1570112 , Stanisław Sarnickis von 1594113 und Jan Januszowskis aus dem Jahr 1600114 . Mit 109 110

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Vgl. Dyjakowska: Subsydiarne stosowanie (wie Anm. 25), S. 68. Dies zeigt schon ein kursorischer Blick auf die Quellenedition Jan Czubeks, der Traktate, Flugblätter, Flug- und Handschriften zur zwischen 1606 und 1609 andauernden Adelsrebellion gesammelt hat. Hier wird mindestens an zwanzig Stellen der Vorwurf der Majestätsbeleidigung verhandelt; vgl. Jan Czubek (Hrsg.): Pisma polityczne z czasów rokoszu Zebrzydowskiego 1606–1608, Bde. 1–3, Kraków 1916–1918. Jakub Przyłuski: Leges seu statuta ac privilegia Regni Poloniae omnia, o.O. o.J. [Krakau 1553]. Jan Herburt: Statuta y przywileie koronne / z Łacińskiego ięzyka na Polskie przełożone / nowym porządkiem zebrane y spisane, o.O. o.J. [Krakau 1570]. Stanisław Sarnicki: Stauta y metrika przywileiow koronnych: ięzykiem polskim spisane, Y porządkiem prawie przyrodzonym abarzo snadnym nowo zebrane, w Krakowie 1594; zu Sarnickis Statuten vgl. etwa Lidia Kwiatkowska-Frejlich: Rola przedstawień portretowych w ‘Statutach’ Stanisława Sarnickiego (1594), in: Roczniki Biblioteczne 50 (2006), S. 93–123. Jan Januszowski: Statuta, prawa y constitucie koronne łacińskie y polskie, z Statutow, Łaskiego y Herborta y z Constituciy koronnych zebrane. Y na ksiąg dziesięcioro, na częś-

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Ausnahme der Rechtssammlung, die der Kronkanzler Łaski zu Beginn des Jahrhunderts herausgegeben hatte, handelte es sich bei allen Statuten um von Sejm und Herrscher nicht approbierte Veröffentlichungen. Dabei gehörte die Überarbeitung der Łaski-Statuten und eine Reform des Rechts zu den steten Forderungen auf dem Sejm115 . Alle nachfolgenden Statutenentwürfe zielten zunächst auf die Bereinigung und materielle Berichtigung der Gesetze, stellten hiermit jedoch immer auch einen Eingriff in die politisch-moralischen Normen des Gemeinwesens dar. Dies umso mehr, als die einzelnen Autoren sich mühten, durch unterschiedliche Systematisierungsansätze das positiv gesetzte Recht jeweils in einen größeren interpretativen Rahmen einzufügen. Mithin reichten die Vorschläge weit über eine reine Auflistung von einzelnen Rechtsvorschriften hinaus und entsprachen kaum dem Charakter obrigkeitlich promulgierter Gesetzessammlungen. Solche Anlage der Rechtswerke dürfte nicht zuletzt deren mangelnde Akzeptanz durch den Sejm beeinflusst haben. Schließlich hätte sich die Ständeversammlung mit der Entscheidung für einen Vorschlag auf eine unter vielen möglichen Interpretationen von positivem Recht und eben auch Naturrecht festgelegt. Damit standen die polnischen Statutenentwürfe mit ihren Misserfolgen nicht allein, scheiterten eben aus diesen Gründen doch zeitgenössisch europaweit umfassende Kodifikationsbemühungen.116 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ließ Jan Szczęsny Herburt, Sohn des eben erwähnten Jan Herburt, einen Saal seines Schlosses im südostlichen Polen mit einem allegorischen Bildprogramm ausmalen.117 Die Fresken waren explizite politische Stellungnahme und Entwurf eines Adelsideals zugleich. Als eine der wichtigsten Komponenten von Adel erschien dabei das Fresko einer imaginären Bibliothek, die neben historischen und genealogischen Werken der Zeit nicht zuletzt mehrere der Statutenentwürfe zierten. Und es waren nicht nur die Statuten seines Vaters, nein auch diejenigen Jan Łaskis und Jakub Przyłuskis. Diese symbolische Einholung juridischer Werke entsprach dabei durchaus den Verhältnissen in ganz realen Adelsbibliotheken. Dies verweist einerseits auf das in der Forschung hervorgehobene Interesse des Adels am Rechts- und Gerichtswesen, andererseits zeigt sich hierin die Bedeutung der Statuten für

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ci, tytuły, prawa, y paragraphy [...] spisane, sporządzone y wydane, w Krakowie 1600; zu Januszowski und seinen Statuten vgl. auch Justyna Kiliańczyk-Zięba: Czcionką i piórem. Jan Januszowski w roli pisarza i tłumacza, Kraków 2007, hier bes. zu den Statuten und deren Entstehungsgeschichte S. 220–251 Vgl. zusammenfassend Kiliańczyk-Zięba: Czcionką i piórem (wie Anm. 114), S. 221– 228. Vgl. Pio Caroni: Art. Kodifikation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, S. 907–922. Vgl. Ferdynand Bostel: O malowaniach zdobiących niegdyś ściany zamku Dobromilskiego, in: Sprawozdania komisyi do badania historyi sztuki w Polsce 4 (1891), S. XCVI– XCVIII; Wspomnienie o Dobromilu Herburtów, in: Pamiętnik Sandomierski V–VIII (1830), S. 207–213.

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die Begründung einer adligen Rechtsgemeinschaft118 . Herburt Juniors Fresken dominieren die klassischen Schlagworte von Ehre, Tugend, Ruhm und der Einsatz für das bonum commune. Mittel und Wege dazu finden sich im bewaffneten Kampf ebenso wie in der Beteiligung an Ständeversammlungen und eben dem Rechtssystem. So ist das Recht in dieser Interpretation eine der tragenden Säulen des Gemeinwesens. Gleichlautende programmatische Stellungnahmen finden sich in allen Statutenentwürfen – Statutenentwürfe, die in keinem Fall von gelehrten Universitätsjuristen verfasst wurden, sondern die vor allem politisch aktive Adlige (wenn auch alle mit einer Universitätsausbildung) herausgaben beziehungsweise die sich in allen Fällen exklusiv an den Adel richteten. Die Systematisierung des Rechts und der interpretative Umgang mit Recht erscheint somit als diskursive Praktik, mit der Adel hergestellt und im Gefolge dessen das Verhältnis dieses Adels zum Gemeinwesen definiert werden konnte. Dabei bietet sich keineswegs ein homogenes Bild. Besonders deutlich wird der normative Anspruch eines Rechtsentwurfes, der zugleich das Gemeinwesen definiert, in Przyłuskis Statuten von 1553. Die Freiheiten des polnischen Adels werden hier mit den leges gleichgesetzt.119 Mithin gerät der emphatisch aufgeladene Mobilisierungsbegriff der libertas zu einem Schlüssel für das Rechtsverständnis.120 Die leges werden zur Inkarnation der Freiheiten und zugleich mit ihnen zum „summum bonum“ eines Gemeinwesens, das seinerseits auf einem durch Tradition legitimierten ius gegründet ist. Der Monarch ist in diesem Sinne als Wahrer der Gesetze zugleich auch Verwalter der adligen Freiheiten, der Senat als Kontrolleur des Monarchen deren Schützer. Aus dem Respekt der Freiheit, ergo der Gesetze und des Abstraktums Recht, lässt sich gleichzeitig die implizite Regel der Gleichheit ableiten, schließlich gilt die Grundregel: „LEX [. . . ] communis Regis ac ipsorum Civium REX.“121 Vor der Autorität des Gesetzes verschwinden die Rangunterschiede innerhalb der Adligen als cives und wird gar die Vorrang118

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Vgl. beispielsweise die instruktive Regionalstudie von Adam Moniuszko: Postulaty zmian w szlacheckim wymiarze sprawiedliwości w mazowieckich laudach sejmikowych w latach 1587–1648, in: Karol Lopatecki/Wojciech Walczak (Hrsg.), Nad społeczeństwem staropolskim, Bd. 1: Kultura, instytucje, gospodarka w XVI–XVIII stuleciu, Białystok 2007, S. 51–70. Dies wird insbesondere in der von Stanisław Orzechowski speziell für Przyłuskis Werk verfassten Vorrede deutlich, vgl. Przyłuski: Leges seu statuta (wie Anm. 111), C2r. Zu Orzechowski und seinem zeitgenössischem Einfluss vgl. Bogumiła Kosmanowa: Popularność Stanisława Orzechowskiego w Rzeczypospolitej szlacheckiej, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 22 (1977), S. 75–91; Przemysław Krzywoszyński: Stanisław Orzechowski. Ideolog demokracji szlacheckiej, Poznań 2010. Vgl. allgemein zum Freiheitsbegriff Hans-Jürgen Bömelburg: ,Polnische Freiheit‘ – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Georg Schmidt/Martin van Gelderen/Christopher Snigula (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850) (Jenaer Beiträge zur Geschichte 8), Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 191–222. Przyłuski: Leges seu statuta (wie Anm. 111), e1v.

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stellung des Monarchen nivelliert. Entsprechend nimmt auch der Artikel zum crimen laesae maiestatis eine untergeordnete Rolle ein, er folgt weit nach allen rechtlichen Verpflichtungen des Monarchen, die im Gegensatz zum Gesetz über Majestätsbeleidigung ausführlich kommentiert werden. Am auffälligsten jedoch erscheint, dass Przyłuski das Gesetz von 1510 komplett verschweigt, während doch der Text von 1539, den er abdruckt, sich selbst als Ergänzung hierzu versteht und auf das erste Gesetz verweist.122 Diese Ableitung der Gleichheit vor dem Gesetz beherrscht auch alle anderen Statutensammlungen, die die Rechtsbindung aller an der Respublica Beteiligten herausstellen. Hierbei sind jedoch gewisse Unterschiede konstatieren. So lässt es sich Stanisław Sarnicki nicht nehmen, in Berufung auf einen abgelegenen Rechtssatz aus dem Kronkanzleiregister explizit auf die Rechtsbindung des Monarchen hinzuweisen.123 In den einführenden Bemerkungen zu seinen Stauten verwendet derselbe Autor eine klare begriffliche Trennung von König und Respublica – letztere als Sejm beziehungsweise Gesamtheit des Adels. Sind demgegenüber alle dem Recht unterworfen, so wird letzteres faktisch zum einzigen und entscheidenden Bindeglied zwischen dem Monarchen und einem – adligen – Gemeinwesen. Dieser Ansatz findet sich ebenfalls in den gesamten Ordnungsmechanismen der Sarnickischen Statuten wieder und bringt letztere in einem juristischen Verständnis hart an den Rand der Redlichkeit. Der von ihm mit „Majestas“ überschriebene Abschnitt etwa verschweigt nicht nur wie Przyłuski das Gesetz von 1510, sondern auch die aktuelle Legislation des Jahres 1588 und lässt die Majestas des polnischen Königs vor allen Dingen als eine nur unter strengen Bedingungen von den Untertanen zu akzeptierenden Umstand erscheinen.124 Auch Januszowski definiert schließlich wenige Zeit später die respublica als – im Sinne des Sejms – aus Monarch, Senat und Ritterschaft bestehendes Gemeinwesen und führt in seinen Statuten allein den Grundsatz des für alle Untertanen gleichermaßen geltenden Rechtes auf.125 Er zumindest führt aber sämtliche Gesetzgebungen von 1539, über 1588 bis hin zum Gesetz Sigismunds III. Wasa über seditiones von 1590 als Regelungen zum crimen laesae maiestatis ausführlich auf und stellt sie weit vor das Kapitel über die Verpflichtungen des Monarchen. Trotz zahlreicher theoretischer Relativierungsansprüche der königlichen Rolle kam keiner der Statutenentwürfe ohne den Rückbezug auf den Monarchen als oberstem Gesetzgeber und Richter aus. Bedeutsam erweisen sich dabei aber vor allem die Bedingungen, an die die königliche Herrschaft geknüpft wird. Schon bei Przyłuski gibt es – in Form der Aufzählung einzelner Gesetze – eine ausführliche Definition dessen, was den Monarchen ausmachen müsse. Die Einordnung des crimen laesae maiestatis in die jeweilige 122 123 124 125

Vgl. Przyłuski: Leges seu statuta (wie Anm. 111), S. 22. Vgl. Sarnicki: Statuta y metrika (wie Anm. 113), S. 21. Vgl. Ebd., S. 21f. Vgl. Januszowski: Statuta (wie Anm. 114), S. 109–111.

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juridische Systematik ist dabei ein entscheidendes Charakteristikum, wenn es um die Beurteilung der monarchischen Rolle und seine Einordnung in das Gemeinwesen geht.

4. Résumé Das crimen laesae maiestatis erweist sich als ein äußerst flexibles Instrument von Verhandlungsprozessen monarchischer wie adliger Geltungsansprüche. Dies gilt durch seine unscharfe Definition schon in materieller Hinsicht. Es verweist auf die intrinsische Verbindung der Vorstellungen von Recht, Monarch, Adel und Gemeinwesen, die – weder in den theoretischen Kodifizierungsentwürfen noch in der Höchstgerichtsbarkeit – eine Differenzierung von „Recht“ und „Politik“ von der Anlage her kaum vorsieht. Das Gemeinwesen erscheint in dieser Hinsicht als eine monarchisch strukturierte, vom Adel gebildete Rechtsgemeinschaft, was sich nicht zuletzt in der Einbettung der Höchstgerichtsbarkeit in den Sejm als – wiederum stark hierarchisierte – Repräsentation dieses Gemeinwesens manifestiert. In der Praxis des Sejmgerichts des 16. Jahrhunderts vermochten es die Monarchen, mit Henri Valois als gewisser Ausnahme, ihren Anspruch auf die Definition der Gerichtshoheit weitgehend durchzusetzen. In dieser Lesart war der König als „supremus iudex“ zugleich auch Inkarnation des Rechts und suchte in diesem Sinne Interpretationsspielräume auszureizen sowie oft genug implizit neues materielles Recht zu etablieren. Im Fall des immer wieder von den Königen in den Tatbestand der Majestätsbeleidigung hineingezogenen crimen perduellionis führte dies schlussendlich zu einer in der Gesetzestheorie definierten Trennung von Monarch (crimen laesae maiestatis) und respublica (crimen perduellionis). Adlige Proteste gegen das Vorgehen der Monarchen stützten sich wiederum auf die Konstruktion des Rechts als hierarchisch überwölbender Kategorie, der sowohl die communitas nobilium wie auch der Monarch unterworfen waren. Insbesondere die Kodifikationsbemühungen des 16. Jahrhunderts waren hierbei – nicht zuletzt durch die mediale Dimension des bald dominant vernakularsprachlichen Drucks – Katalysator einer adligen Vorstellung von Rechtsgemeinschaft, konkrete Argumentationsgrundlage und Teil der Aushandlung über den Charakter des Gemeinwesens zugleich.

Angela Rustemeyer

Adel und Majestätsverbrechen im Russland Peters des Großen und Anna Ioannovnas Von der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1801 existierte in der Zentralverwaltung des Russländischen Reiches nahezu kontinuierlich eine Behörde, der Fälle von Verbrechen gegen die Herrscher und Herrscherinnen zugeleitet wurden. Diese Behörde war in Europa ohne zeitgenössisches Pendant.1 Sie diente als Ermittlungsorgan und gleichzeitig in vielen Fällen auch als richtende Instanz.2 Sie verfolgte ein breites Spektrum kriminalisierter Handlungen, von verbaler Majestätsbeleidigung bis zur Verschwörung gegen die Zarenherrschaft. Eine privilegierte Form der Anzeige, die selbst in fernen Winkeln des Reiches die Einschaltung der Zentralbehörden in Petersburg oder Moskau erzwang, leitete Tausende von Verfahren wegen „ungehöriger Worte“ über den Zaren beziehungsweise die Zarin und ihre Politik oder verratsverdächtiger Handlungen ein.3 Angeklagt wegen Majestätsverbrechen wurden leibeigene Bauern und Soldaten, aber auch Adlige, Personen aus dem Kreis der Großen des Reiches eingeschlossen. Die Verfahren waren geheim, doch waren die damit betrauten Behörden nicht nur in der Elite, sondern auch in der abhängigen Bevölkerung bekannt. Als Höhepunkt der Verfolgung Adliger wegen Majestätsverbrechen gilt die Herrschaft der Kaiserin Anna Ioannovna (1730– 1740), deren Bild in der Historiographie davon geprägt ist. Dieser Beitrag ordnet die Prozesse gegen Adlige unter Anna Ioannovna zum einen im Hinblick auf die Reformen ihres – mittelbaren – Vorgängers Peters des Großen (1689–1725), zum anderen hinsichtlich des langsamen Abbaus der Verfahren wegen Majestätsverbrechen unter ihren Nachfolgern und Nachfolgerinnen ein. Dabei werden die Verfahren nach einem herausragenden Grundsatz der neueren Kriminalitätsgeschichte in den Blick genommen. Diese sieht „Verbrechen“ nicht als Fakten, sondern untersucht die Bedingungen und Mittel für ihre Konstruktion. Strafverfahren spiegeln nicht die Gesamtheit der als deviant etikettierten Handlungen, sondern 1

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John Keep: The Secret Chancellary, the Guards and the Dynastic Crisis of 1740–41, in: FOG 25 (1978), S. 169–193, hier S. 169. Auch in Schweden, dem Vorbild des petrinischen Staates, existierte keine derartige Behörde; vgl. Dmitrij Serov: Sudebnja reforma Petra I, Moskau 2009, S. 281. Tat’jana Vasil‘evna Černikova: „Gosudarevo slovo i delo“ vo vremja Anny Ioannovny, in: Istorija SSSR, 1989, Nr. 5, S. 155–163, hier S. 156. Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov (Russländisches Staatsarchiv für alte Akten, im Folgenden RGADA), f. 371 o. 1, 2, f. 7 o. 1, 2, f. 349, o. 1: 10 000 bis 12 000 Akten aus dem 18. Jahrhundert.

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deren Auswahl und Instrumentalisierung durch die Obrigkeit und partiell auch die Gesellschaft. Diese Herangehensweise hat sich in den letzten Jahren bei der Erforschung der Verfolgung von Korruption im Europa der Frühen Neuzeit – einer Straftat, die je nach Stellung des Angeklagten in enger Verwandtschaft zum Majestätsverbrechen stehen konnte – als fruchtbar erwiesen.4 Die Verfolgung von Korruption in Russland wird in diesem Beitrag punktuell thematisiert; ein regelrechter Vergleich von Prozessen wegen Majestätsverbrechen einerseits und Korruption andererseits gegen Staatsdiener im frühneuzeitlichen Zarenreich kann hier allerdings selbst im Ansatz nicht geleistet werden. Der Spielraum der Obrigkeit bei der Konstruktion von Straftaten und der Inszenierung von Strafverfahren war zumindest teilweise von der rechtlichen Stellung der betroffenen Untertanen abhängig. Rechtliche Garantien gegen obrigkeitliche Willkür konnten diesen Spielraum einschränken. Was Majestätsverbrechen betrifft, wirkte hier jedoch nirgends ein Automatismus: Vertreter der Monarchien Mittel- und Westeuropas waren bemüht, dem Majestätsverbrechen als crimen exceptum eine Sonderstellung einzuräumen und es sogar noch von Rechtsgarantien für Angeklagte in Strafverfahren der Aufklärungszeit auszunehmen.5 Fakt bleibt dennoch: Im Vergleich zu jenen Ländern Europas, mit denen Peter der Große und seine Nachfolgerinnen oder Nachfolger Russland so gern vergleichen wollten, bildete die intensive und sozial umfassende Verfolgung von Majestätsverbrechen im Zarenreich eine Ausnahme. Dies verweist auf verfassungs- und standesrechtliche Gegebenheiten, die im Zarenreich auch in seinem Jahrhundert der Europäisierung und im Jahrhundert des Adels, der diese Europäisierung trug – eben dem 18. Jahrhundert – weitestgehend bestehen blieben. Besonders deutlich macht dies ein Blick auf Russlands Nachbarn, die polnisch-litauische Adelsrepublik. Gestützt auf Verfassungs- und Standesrecht hatten die Adligen in Polen-Litauen die Waffe Majestätsverbrechen in der Hand des Monarchen bereits im 16. Jahrhundert entschärft.6 Im 4

5 6

Über den weitgehenden ,anti-essentialistischen Konsens‘ in der florierenden historischen Korruptionsforschung vgl. Niels Grüne: „Und sie wissen nicht, was es ist“. Ansätze und Blickpunkte historischer Korruptionsforschung, in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2012, S. 13–34, hier S. 31. Nancy Shields Kollmann ist in ihrer neuen Darstellung der Korruptionsbekämpfung im Zarenreich des 17. Jahrhunderts allerdings mehr am Amtsmissbrauch als realem Problem der Verwaltungspraxis interessiert: Nancy Shields Kollmann: Crime and Punishment in Early Modern Russia, Cambridge (UK) u. a., 2012, S. 94–122. Helga Schnabel-Schüle: Das Majestätsverbrechen als Herrschaftsschutz und Herrschaftskritik, in: Aufklärung 7 (1992), S. 29–47, hier S. 35, Fußnote 32. Adam Lityński: Przestępstwa polityczne w polskim prawie karnym XVI–XVIII wieku. Katowice 1976, S. 21; Stanisław Salmonowicz: La noblesse polonaise contre l’arbitraire du pouvoir royal: les privilèges judiciaires de la noblesse, in: Revue historique du droit français et étranger 72 (1994), S. 21–29, hier S. 27.

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Zarenreich hingegen war der Adel zwar ein mächtiger Schöpfer und Interpret von Gewohnheitsrecht.7 Eine verfassungsrelevante Rechtsschöpfung durch Adlige als Stand blieb jedoch aus, und dementsprechend auch die Fixierung adliger Partizipationsrechte, mittels derer der Gebrauch der Anklage wegen Majestätsverbrechen gegen Adlige durch die Krone hätte eingeschränkt werden können. Zwar wurde Mitte des 17. Jahrhunderts in bedeutendem Umfang geschriebenes Recht aus Polen-Litauen rezipiert,8 aber ohne seinen verfassungsrelevanten Part. Das Zarenreich blieb autokratisch regiert. Allerdings war es bereits zu einem bedeutenden zarischen Zugeständnis hinsichtlich der Strafverfolgung gekommen, als Adlige 1606 mitten in einer existenziellen Krise des Moskauer Reiches erstmals die Chance für eine Einschränkung der autokratischen Machtfülle zu ergreifen versuchten: In der ersten Wahlkapitulation in der Geschichte der Zarenherrschaft versprach Zar Vasilij Šujskij, Verbrechen nur gemeinsam mit seinen höchsten adligen Beratern – den Bojaren – zu verfolgen.9 Dies war weit entfernt von den Garantien, die der Adel in Polen-Litauen erzielt hatte. Doch sah sich die Autokratie auch nach ihrer kompletten Restauration nicht in der Lage, das 1606 gegebene Versprechen zu ignorieren. Der zweite Moment, in dem Adlige im frühneuzeitlichen Zarenreich zur Beschneidung der Autokratie schritten, fällt mit dem zeitlichen Schwerpunkt dieses Beitrags zusammen: Der Beginn der Herrschaft Anna Ioannovnas im Jahr 1730 stand im Zeichen einer konstitutionellen Bewegung, getragen von Vertretern des Hochadels. Diese scheiterte und mündete in jene Dekade, die in der Historiographie als Zeit des „Terrors“10 mit dem Adel als Zielscheibe etikettiert und zur Parabel für „Despotismus“ im Jahrhundert der Aufklärung wurde. Dennoch können selbst die berüchtigsten Majestätsverbrecherprozesse dieses Jahrzehnts nur begrenzt als Indiz für uneingeschränkte Selbstherrschaft auch über den Adel dienen. Eine entscheidende Rolle spielte vielmehr innerständische Konkurrenz unter den Bedingungen der von Peter dem Großen betriebenen Standesbildung „von oben“. 7

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Zum Beispiel auf dem Gebiet des Erbrechts vgl. Valerie A. Kivelson: The Effects of Partible Inheritance: Gentry Families and the State in Muscovy, in: Russian Review 53 (1994), S. 197–212. Entlehnungen aus den Litauischen Statuten im Gesetzbuch von 1649 vgl. die Kommentare zu den einzelnen Kapiteln und Artikeln in: Arkadij Georgevič Man’kov (Hrsg.): Sobornoe Uloženie 1649 g. Tekst, kommentarii. Leningrad 1987, passim. Der Einfluss der Statute prägte auch das Kapitel über Majestätsverbrechen, s.u. Vasilij Osipovič Ključevskij: Kurs russkoj istorii 3. Sočinenija v devjati tomach, Bd. III, Moskau 1988, S. 328. Den Begriff „Terror“ verwendet Jan Jakovlevič Zutis: Ostzejskij vopros v XVIII veke, Riga 1946, damit zitiert in Nikolaj Nikolaevič Petruchincev: Carstvovanie Anny Ioannovny: Formirovanie vnutripolitičeskogo kursa i sud’by armii i flota 1730–1735 g., St. Petersburg 2001, S. 16. Von „Terror“ spricht aber auch schon Dmitrij Aleksandrovič Korsakov: Iz žizni russkich dejatelej XVIII veka, Kazan‘ 1891, S. 130.

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Aus diesen Beobachtungen ergibt sich der Aufbau des Beitrags. Majestätsverbrechen wurden im Zarenreich 1649 erstmals ausführlich rechtlich definiert; strukturelle Elemente ihrer Verfolgung bildeten sich ebenfalls im 17. Jahrhundert heraus.11 Die Form, in der uns die Verfolgung von Majestätsverbrechen in der Zeit Anna Ioannovnas entgegentritt, spiegelt jedoch – wie gesagt – vor allem die institutionellen und Gesellschaftsreformen Peters des Großen. Zunächst wird in drei Schritten skizziert, wie die Epoche Peters des Großen Weichen für die Verfolgung adliger Majestätsverbrecher unter Anna Ioannovna und darüber hinaus stellte. Dabei ist ebenso auf das petrinische Projekt zur Schaffung eines adligen Standes und die faktische Heterogenität der Elite wie auf die Neugestaltung des Herrschaftsapparats unter Peter einzugehen. Die Darstellung der Zeit Anna Ioannovnas im folgenden Teil konzentriert sich auf die Fragen, inwiefern hier Grundregeln ständischer Privilegierung und Diskriminierung weiterwirkten. Der letzte Teil gibt einen Ausblick auf den weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts, auf das Weiterwirken des ständischen Prinzips und darauf, wie Adlige als Vertreter der Herrscherinnen oder Herrscher in der Provinz das häufigste Majestätsverbrechen, die verbale Majestätsbeleidigung, ohne Durchsetzung formaler Rechtsgarantien für ihren Stand entschärften. Zunächst sind jedoch anhand eines Einblicks in die Historiographie zur Verfolgung Adliger als Majestätsverbrecher im Zarenreich – insbesondere die russische – das perzipierte wissenschaftliche Gewicht und die politischen Implikationen des Themas vom 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert aufzuzeigen.

1. Historiographie Mit vorsichtigem Optimismus vermessen neuere Studien zur Geschichte des Adels im Russländischen Reich des 18. Jahrhunderts die Spielräume der Elite gegenüber der Autokratie.12 Ein daran anknüpfender Versuch, Prozesse wegen Majestätsverbrechen im Zarenreich aus adelsgeschichtlicher Sicht in den Blick zu nehmen, trifft auf eine Fülle von Forschungsliteratur unterschiedlichster Orientierung zur „politischen Justiz“. Deren Kohärenz erschließt sich am besten entgegen der Chronologie auf einem Gang vom Anfang des 21. Jahrhunderts zurück ins 19. Die Prozesse wegen Majestätsverbrechen nehmen insbesondere in der postsowjetischen russischsprachigen Historiographie zu Russland im 11

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Definition von Majestätsverbrechen im Gesetzbuch von 1649 vgl. Man’kov (Hrsg.): Sobornoe Uloženie 1649 g., Kap. II, Gebrauch der privilegierten Anzeige, gekennzeichnet durch die Formel „Wort/Angelegenheit des Herrschers“ vgl. Nikolaj Jakovlevič Novombergskij (Hrsg.): Slovo i delo gosudarevy, Bd. I, Tomsk 1911. Ol‘ga E. Glagoleva/Ingrid Schierle (Hrsg.): Dvorjanstvo, vlast‘ i obščestvo v provincial’noj Rossii XVIII v. Moskau 2012.

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18. Jahrhundert einen bedeutenden Platz ein. Ein starker Staat, der auch gegenüber seinen eigenen Trägern die Oberhand behält, gilt als Konstante russischer nationaler Geschichte. Als historische Vorgänger moderner Institutionen sollen „Geheimpolizei“ und „politische Justiz“ des 18. Jahrhunderts dies belegen.13 Darüber hinaus wird den Prozessen wegen Majestätsverbrechen erhebliche kulturelle Tiefenwirkung beigemessen – bis hin zur Erklärung des auffälligen Mangels an schriftlichen Selbstzeugnissen aus der Feder russländischer Adliger noch in der Epoche der europäischen Aufklärung infolge der Befürchtung, mit Äußerungen, die als Majestätsbeleidigung hätten gelten können, Spuren zu hinterlassen.14 Unter Verlagerung des Argumentationsschwerpunktes vom Sozioökonomischen ins Kulturelle und Politische haben Historiker an die sowjetische Forschung zum Thema angeschlossen. Deren Verpflichtung auf das Klassenparadigma wiederum war bei der Erforschung der Einbeziehung von Adligen in die Prozesse wegen Majestätsverbrechen im 18. Jahrhundert durchaus produktiv. Sowjetische Historikerinnen und Historiker legten ein Paradoxon offen: Vertreter der „herrschenden Klasse“, deren privilegierte Stellung als nahezu uneingeschränkte Herrscher über Leibeigene die sowjetische Historiographie minutiös beschrieb, wurden von ihrer „eigenen“ Monarchie vor Gericht gestellt, gefoltert und in einigen Fällen sogar hingerichtet. Diesem Paradoxon stellten sich Historikerinnen und Historiker in Studien zu einzelnen Herrschaftsperioden im 18. Jahrhundert. Dabei ist insbesondere in Werken der Stalin-Ära auch eine positive Wertung solch drakonischen Vorgehens gegen Adlige mit „staatsfeindlichen“ Partikularinteressen zu beobachten, im Namen eines starken Zentralstaats, der in dieser Zeit von der offiziellen Geschichtsdoktrin in mindestens gleichem Maße zur historischen Notwendigkeit stilisiert wurde wie das Fortschreiten der Gesellschaftsformationen im Klassenkampf.15 Kaum wirklich gestellt hat sich den Verfahren wegen Majestätsverbrechen bis vor kurzem jene angloamerikanische Schule der Russlandhistoriographie, deren Beiträge zur Geschichte des Adels im frühneuzeitlichen Zarenreich im Allgemeinen vereinfachende Sehweisen nachhaltig korrigiert haben. Nach 1945 hatten in der „westlichen“ Historiographie zunächst Thesen vom despotischen Charakter der Zarenherrschaft, gestützt auf unzureichend geprüfte Berichte europäischer Reisender über das Zarenreich im 16. und 17. Jahrhundert und eingebettet in die politische Anthropologie des Kal13

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Populärwissenschaftlich in Igor‘ Simbircev: Pervaja specslužba Rossii. Tajnaja kanceljarija Petra I i ee preemniki. 1718–1825. Moskau 2006; aber auch in wichtigen wissenschaftlichen Arbeiten vgl. Evgenij Viktorovič Anisimov: Dyba i knut. Političeskij sysk i russkoe obščestvo v XVIII v. Moskau 1999, S. 249–53; Konstantin Gennad‘evič Pereladov: Sistema Političeskogo syska i političeskie uzniki v Rossii (1725–1762 gg.), Diss. Novosibirsk 1998, S. 40. Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 255. Nina Borisovna Golikova: Političeskie processy pri Petre I. Moskau 1957, zurückgehend auf eine Dissertation von 1953.

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ten Krieges, eine bedeutende Rolle gespielt. Der Topos vom unterwürfigen Adel war hierfür maßgeblich. Edward Keenan und seine Schülerinnen und Schüler traten dann in den 1980er Jahren mit der Revision dieser Sehweise an. Sie entdeckten im frühneuzeitlichen Zarenreich Mechanismen adliger Selbstbehauptung und informeller Herrschaftsteilhabe, welche die Autokratie als eine eben auch auf Konsens und Ausgleich beruhende Herrschaftsform erscheinen ließen.16 Forschungsschwerpunkt dieser „Revisionisten“ war allerdings das 17. Jahrhundert, dessen Prozesse wegen Majestätsverbrechen aufgrund weniger scharf umrissener Zuständigkeiten im Agglomerat der judikativen und administrativen Funktionen der Zentralbürokratie weniger klar konturiert und entsprechend schwerer greifbar sind als die Verfahren des 18. Jahrhunderts. Die Hauptthese der „Revisionisten“ steht wohl nur scheinbar quer zur Botschaft der Prozesse gegen Adlige wegen Majestätsverbrechen: Akten des 17. und 18. Jahrhunderts, ausgewählt allerdings ohne adelsgeschichtliche Zielsetzung, legen nahe, dass mit solchen Verfahren obrigkeitliche Konzepte von Herrscherehre und die Perzeption der eigenen Ehre durch die Untertanen verbunden wurden.17 Dies lässt sich jedoch im Rahmen des vorliegenden Beitrags für den Adel nicht auf adäquater Quellengrundlage erhärten. Zum Kern der Interpretation der Prozesse gegen Adlige in der Zeit Anna Ioannovnas, die in diesem Beitrag besonders interessiert, dringen wir erst vor, wenn wir über den Kalten Krieg und sogar über die frühe Sowjetzeit hinaus noch weiter zurückgehen und die Erforschung der Prozesse über die Schwelle von 1917 hinweg ins späte Zarenreich verfolgen. Um den Blick des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf die Prozesse des 18. Jahrhunderts gegen Adlige zu rekonstruieren, müssen Grundtendenzen der russischen Historiographie vor 191718 berücksichtigt werden. Die tonangebende Staatsschule/Historische Rechtsschule war am Adel als Humanressource des Staates interessiert. Den Staat stellte diese Schule nicht ohne politische Stoßrichtung als Hauptakteur der Geschichte Russlands dar: Als solcher hatte der russische Leviathan auch 16

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Edward L. Keenan: Muscovite Political Folkways, in: The Russian Review 45 (1986), S. 115–181; Valerie A. Kivelson: Autocracy in the Provinces: Muscovite Gentry and Political Culture in the Seventeenth Century, Stanford 1997; Nancy Shields Kollmann: By Honor Bound. State and Society in Early Modern Russia. Ithaca, New York 1999 u.v.m. Mit Anzeigen wegen Majestätsverbrechen befasste sich der Keenan-Schüler Mark Ch. Lapman: Political Denunciations in Muscovy 1600–1649, Diss. Harvard 1981, allerdings auf schmaler Quellenbasis und in Bezug auf einen sehr kurzen Zeitraum. Shields Kollmann geht in ihrem neuen Buch auf Prozesse wegen Majestätsverbrechen ein: Shields Kollmann: Crime (wie Anm. 4), S. 303–340, 356–379. Angela Rustemeyer: Dissens und Ehre. Majestätsverbrechen in Russland 1600–1800, Wiesbaden 2006, v.a. S. 266–283, sowie Shields Kollmanns Ausführungen über die verbale Majestätsbeleidigung und über ein von Peter dem Großen vor allem im Hinblick auf hochgestellte Staatsverbrecher eingeführtes Entehrungsritual („političeskaja smert’“), Shields Kollmann: Crime (wie Anm. 4), S. 329–331, 263–264. Hierzu immer noch maßgeblich Nikolaj Leonidovič Rubinštejn: Russkaja istoriografija, St. Petersburg 2008 (Neuauflage des Werks von 1941).

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das historische Übel bäuerlicher Leibeigenschaft zu verantworten und war mithin verpflichtet, nicht nur für deren rechtliche, sondern auch für ihre faktische Liquidierung zu sorgen. War die Staatsschule in diesem Punkt von liberalem Denken geprägt, so wies die teils alternative, teils komplementäre „populistische Schule“, die die historische Rolle des „russischen Volkes“ hervorhob, nationalistische Tendenzen auf. Die Orientierung auf verschiedene Akteure – zum einen Staat, zum anderen „Volk“ – wurde überlagert von gegensätzlichen Vorstellungen hinsichtlich des wünschenswerten Verhältnisses Russlands zum „Westen“. „Westler“ bewerteten Russlands Entwicklung ohne den „Westen“ negativ und sahen einen Ausweg daraus in der Anpassung an „Europa“. Aus der Sicht slavophiler Historiker hingegen stand jeder „europäischen Errungenschaft“ eine autochthone russische Errungenschaft gegenüber, wobei Autokratie und „Volk“ oft zusammenwirkten. In diesem Sinne interpretierte ein einflussreicher, populistisch orientierter Verwaltungshistoriker auch die Prozesse des 17. und 18. Jahrhunderts wegen Majestätsverbrechen: Die hier zum Einsatz kommende privilegierte Anzeige habe es den Unterdrückten und jeder Rechtsgarantie „westlichen“ Stils Entledigten – z. B. den Leibeigenen – immer wieder ermöglicht – mit ihren Anliegen direkt ins Zentrum der Zarenherrschaft vorzustoßen und für sich persönlich Verbesserung zu erreichen, zum Beispiel die Befreiung vom adligen Herrn.19 Im populistischen Narrativ hatte das adlige Opfer der Anzeige wegen eines Majestätsverbrechens also durchaus Platz, im Mittelpunkt standen aber permanente Leiden und punktuelle Erfolge des „Volkes“. Das Bild des Adligen im Prozess blieb verschwommen, und es gab wenige, die es hätten schärfen können. Eine Adelshistoriographie per se (sei sie nun kritisch oder empathisch) existierte im späten Zarenreich ebenso wenig wie eine genuine „bürgerliche“ Öffentlichkeit, die sich aus einem Abgrenzungs- oder Anpassungsbedürfnis heraus speziell für den Adel interessiert hätte. Für die adligen Beteiligten an Prozessen wegen Majestätsverbrechen des 18. Jahrhunderts fand sich im späten Zarenreich weder Autor noch Publikum. Doch bilden die Prozesse in der Zeit der Kaiserin Anna Ioannovna hier eine Ausnahme. Das Schicksal Adliger als Opfer „politischer Justiz“ in den Jahren zwischen 1730 und 1740 wurde zur Manifestation eines perzipierten Konflikts zwischen Nationen und so im Zeitalter des modernen Nationalismus, das Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Russland anbrach,20 zu einer regelrechten Parabel. Die Herzogin Anna Ioannovna – verheiratet und verwitwet in Kurland – brachte von dort einen Favoriten mit nach Russland: Ernst Johann von Biron. An seine Person knüpft die Darstellung der Verfahren als „deutscher“ Terror gegen Russen an. Sie fügt sich ein in eine negative Gesamtdarstellung der Jahre zwischen 1730 und 1740 als eine für das Zarenreich ruinösen 19 20

Nikolaj Jakovlevič Novombergskij: Slovo i delo. Materialy, Bd. II, Tomsk 1909, S. II. Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln/Weimar/Wien 2000.

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Fremdherrschaft, die von Sergej Michajlovič Solov’ev (1820–1879) in seinem Monumentalwerk zur Geschichte Russlands prominent vertreten wurde.21 Untermalt wurde die Darstellung der „Unrechtsherrschaft Birons (bironovščina)“ mit biographischen Skizzen über die Schicksale prominenter Angehöriger von Familien, die bereits im Moskauer Reich und zum Teil sogar schon in dessen „Vorgängerstaat“ – der Kiever Rus’ – zur Reichselite gehört hatten.22 Einer der betroffenen Familien, den Fürsten Dolgorukov, wurden patriotische Umsturzpläne gegen den verhassten Favoriten und seine kaiserliche Beschützerin zugeschrieben – die aufgrund angeblicher Konventionen der Verfahren wegen Majestätsverbrechen im 18. Jahrhundert keinen Eingang in die Prozessakten gefunden hätten.23 Populär waren die erst unter Katharina II. entstandenen Aufzeichnungen der Gattin eines Prozessopfers, die von Annas Herrschaft als einer Zeit „nicht besser als bei den Türken“ sprach24 und so die gängigste Metapher für orientalischen Despotismus im Jahrhundert der Aufklärung bemühte. Wie Nikolaj Petruchincev betont, wurde die Darstellung der Zeit Anna Ioannovnas als Schreckensherrschaft von Birons bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Zweifel gezogen.25 Hochkonjunktur hatte sie noch einmal in der Sowjetunion, als der deutschbaltische Adel nach dem Hitler-Stalin-Pakt und der sowjetischen Annexion des Baltikums zum Erzfeind stilisiert wurde, allerdings in modifizierter Form. Nun handelte es sich weniger um das Terrorregime eines Einzelnen gegen die Edlen der russischen Nation als um den Terror einer im Unterschied zum russischen Adel als robuster Adelskorporation organisierten nationalen Gruppe, deren Aktivitäten aber letztlich doch objektiv den Interessen des russischen Adels als „herrschender Klasse“ dienten.26 Die These vom „deutschen“ Terror durch Justiz in der Zeit Anna Ioannovnas wurde von der sowjetischen Historiographie selbst bereits im Zuge ihrer 21

22

23 24 25 26

Zur Historiographie über die Zeit Anna Ioannovnas in Anlehnung an Zutis: Ostzejskij vopros (wie Anm. 10); Petruchincev: Carstvovanie Anny Ioannovny (wie Anm. 10), S. 6– 14, zu Solov’ev S. 8–9. Dies meint der Historiker Korsakov, wenn er von Personen „mit Stammbaum“ (rodoslovnye) als Opfer der ,deutschen Gewaltherrschaft‘ spricht; vgl. Dmitrij Korsakov: Sud nad knjazem D. M. Golicynym, in: Drevnjaja i novaja Rossija 15 (Oktober 1879), S. 20– 62, hier S. 21. Korsakov: Iz žizni (wie Anm. 10), S. 131. Ebd., S. 154; Natal’ja Borisovna Dolgorukaja: Svoeručnyja zapiski, St. Petersburg 1913, S. 28. Petruchincev: Carstvovanie Anny Ioannovny (wie Anm. 10), S. 9. Wiedergegeben ebd., S. 16, unter Bezugnahme auf Zutis: Ostzejskij vopros (wie Anm. 10) (1946). Nach den Erfahrungen des Jahres 1937 konnte in der Sowjetunion der 1940er und frühen 1950er Jahren wohl niemand ohne aktuelle Assoziationen über Terror gegen Eliten in der Geschichte Russlands schreiben. Der „Terror“ gegen die „alten Familien“ unter Anna Ioannovna wurde womöglich mit dem Stalins gegen die Altbolschewiken assoziiert.

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Entstalinisierung falsifiziert. Dabei spielte das Studium der Prozessakten eine entscheidende Rolle. Wenngleich widerlegt, bleibt diese These jedoch aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen weist die russische Historiographie zu Adligen in frühneuzeitlichen Majestätsverbrecherprozessen damit eine Parallele zu älteren Werken der deutschen/österreichischen Rechtsgeschichte auf, die ebenfalls am Beispiel „politischer Justiz“ in der Frühen Neuzeit eine fatale Überfremdung autochthonen (hier germanischen) Rechtsdenkens zu belegen versuchte.27 Zum anderen geht die Wahrnehmung der Prozesse gegen Angehörige der „alten Familien“ als „fremdländische Verschwörung“ auf die unmittelbare Rezeption der Zeit Anna Ioannovnas unter ihren Nachfolgerinnen zurück und führt somit direkt ins 18. Jahrhundert.

2. Adel im Russland Peters des Großen: Standesbildung für einen wachsenden Staat Orchestriert von der europäischen Öffentlichkeit inszenierte Peter der Große den Beginn des 18. Jahrhunderts als eine neue Zeit für Russland. Seine Ordnungskonzepte waren aber mitnichten alle neu. Zwar konnte die unter seiner Herrschaft betriebene Etablierung einer formalen Ständeordnung dies beanspruchen, denn Stände gab es im Zarenreich bis dato nicht. So blieb diese Reform denn auch in Vielem oberflächlich – was durchaus beabsichtigt war. Der Staatsdienst wurde unter Peter auf neue Weise repräsentiert, war aber eine Gegebenheit, die das Leben der Adligen wie auch vieler anderer Untertanen der Zaren bereits seit anderthalb Jahrhunderten prägte. Auch die Disziplinierung der Gesellschaft durch Strafrecht und Strafverfolgung hatte sich bereits Mitte des 17. Jahrhunderts angebahnt,28 doch wurde sie unter Peter augenfälliger als zuvor und mit neuen Mitteln inszeniert. Alle drei Elemente – die Einführung von Ständen, die Organisation des Staatsdienstes und die Disziplinierung durch Strafverfolgung – waren miteinander verflochten. Verwaltung und Militär im vorpetrinischen Moskauer Reich hatten sich auf eine differenzierte Schicht von Dienstleuten gestützt. An der Spitze der 27

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Vgl. Alphons Lhotskys bissigen Kommentar zur Historiographie über das Wiener Neustädter Blutgericht von 1522 mit Adligen und Bürgern als Angeklagten: „Man pflegte von jeher in der Literatur mit einer unverhohlenen Wehmut derer zu gedenken, die da von herzlosen Ausländern, von Spaniern und Niederländern, die ihre Rechtsanschauungen gar nicht kannten, nach einem undeutschen und unösterreichischen Rechte so grausam gerichtet wurden“; Alphons Lhotsky: Das Zeitalter des Hauses Österreich (1520–1527), Wien/Köln/Granz 1971, S. 124. Valerie A. Kivelson: Through the Prism of Witchcraft: Gender and Social Change in Seventeenth-Century Russia, in: Barbara Evans Clements/Barbara Alpern Engel/Christine Worobec (Hrsg.): Russia’s Women. Accomodation, Resistence, Transformation, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1991, S. 74–94, hier S. 80.

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Dienstleute standen die aus der mittelalterlichen Dynastie der Rjurikiden in der Rus‘ oder aus Dynastien von Nachbarländern hervorgegangenen Fürsten, die oft auch den Rang von Bojaren – also unmittelbaren Beratern des Herrschers – hatten. Diese Personen bildeten die Aristokratie. Unter ihnen rangierten die mittleren Dienstleute, die ihren Status immerhin an ihre Nachkommen vererbten und daher als Adlige gelten können – anders als die unteren, nichtadligen Dienstleute. Peter stellte die mittleren Dienstleute formal der Adelsspitze gleich: Alle verband nun eine unbedingte Dienstverpflichtung, alle konnten die im Dienst erworbenen Landgüter vererben. Die unteren Dienstleute wurden hingegen zu Lastenpflichtigen degradiert. Peter der Große gründete den Adel im Zarenreich rhetorisch neu, indem er ihn in Anlehnung an die Bezeichnung für den Adel Polen-Litauen (polnisch „szlachta“) als šljachetstvo bezeichnete. Mit der Stellung des Adels in Polen-Litauen – insbesondere seinen rechtlich verbrieften und in mehr als hundert Jahren der Wahlmonarchie bisweilen bis zur Lähmung praktizierten Partizipationsrechten – hatte die heterogene Schicht, die dieser ins Russische übertragene Begriff bezeichnen sollte, allerdings schon im Konzept des Zaren nichts gemein. Die Schaffung eines einheitlichen Adels bedeutete für Peter vor allem einen festen Konnex zwischen Dienstpflicht und Privilegierung, wobei der Dienst in Militär und Verwaltung sowie bei Hofe naturgemäß auch beträchtlichen Einfluss auf die Staatsangelegenheiten mitbrachte. Dies heißt jedoch nicht, dass der Staatsdienst bei allen dazu Verpflichteten beliebt war. Um die Dienstpflicht für den einen, privilegierteren Teil seiner Untertanen und eine schwer lastende Steuerpflicht für den anderen, diskriminierten durchzusetzen, brauchte der Herrscher Institutionen, die wiederum Menschen erforderten. Solche Erfordernisse veranlassten Peter zum einen zu dem Versuch, durch Verbot der im Adel traditionell praktizierten Erbteilung eine allein vom Staatsdienst abhängige Schicht leer ausgehender Söhne von Adligen zu schaffen.29 Zum anderen erlegte der Zar seiner Ständeordnung mit dem šljachetstvo als europäisch frisiertem und gekleidetem Musterstand zusätzlich noch eine Rangordnung auf, die Personen aus dem Adel zu größerem Einsatz im Staatsdienst animieren und neuen Dienstleuten den Aufstieg ermöglichen sollte. Die aus Schweden importierte Rangtabelle stufte den Militärdienst, den Zivildienst sowie den Dienst bei Hofe und garantierte ab einem bestimmten Dienstgrad (je nach Dienstbereich unterschiedlich, unter klarer Bevorzugung des Militärdienstes) die persönliche beziehungsweise sogar die vererbbare Zugehörigkeit zum Adel. Theoretisch war nun klar, wer adlig war. Dafür wurden in der Praxis Schräglagen geschaffen, die fortan ständig auf Kosten der meritokratischen Absicht hinter der Rangtabelle ausbalanciert wurden. Denn 29

Dazu z. B. in einem prägnanten Überblick über die Entwicklung des Adels in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Lorenz Erren: Rossijskoe dvorjanstvo pervoj poloviny XVIII v. na službe i v pomest‘e, in: Ol‘ga E. Glagoleva/Ingrid Schierle (Hrsg.): Dvorjanstvo, vlast‘ i obščestvo v provincial’noj Rossii XVIII v. Moskau 2012, S. 51–88.

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natürlich kamen Adlige, selbst wenn sie ihren Dienst auf einem niederen Rang begannen, auf der Skala der Ränge schneller voran als Nichtadlige.30 Auch war mit der Rangtabelle eine für die Gesellschaftsreformen der Autokratie typische Ambivalenz angelegt: Dem ständischen Charakter des Adels stand seine grundsätzliche Offenheit gegenüber. Dieses System war in sich bereits konfliktträchtig. Doch begnügte sich der Reformzar ebenso wie seine Vorfahren nicht mit den Dienstleuten, die ihm bei seinem Herrschaftsantritt zur Verfügung standen, oder mit deren Söhnen und Enkeln. Vielmehr setzte sich die Erweiterung des Dienstleutepotenzials durch Zuzug von außen in der petrinischen Zeit nicht nur fort, sondern speiste sich auch aus zusätzlichen Quellen. Längst schon war die Anwerbung von Mittel- und Westeuropäern gang und gäbe, insbesondere für Ausbildung und Kommandierung der stehenden Truppen, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts das Adelsaufgebot langsam verdrängten. Traditionell ergänzte sich das Personal, das die Zaren mit Funktionen in der Herrschaftsorganisation betrauten und mit Privilegien belohnten, um Angehörige der Eliten aus eroberten Gebieten. Was die muslimische Oberschicht in den im 16. Jahrhundert eroberten Gebieten des Khanats von Kazan’ betrifft, so geriet sie in der Zeit Peters des Großen unter erheblichen Druck, entweder zur Orthodoxie überzutreten und sich in den Adel des Russländischen Reiches zu integrieren oder ihren Glauben beizubehalten, dafür aber ihren Elitestatus zu verlieren und lastenpflichtig zu werden.31 Der Assimilationsdruck gegenüber den Eliten der noch nomadisierenden Ethnien im Südosten des europäischen Russlands war zu dieser Zeit noch geringer, dafür kam in diesem Fall auch keine Kooptierung in den russischen Adel in Frage. Im Westen waren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit territorialen Gewinnen von Polen-Litauen so unterschiedliche Oberschichten wie die Ältesten der ukrainischen Kosaken und die zum Teil polnischsprachige und katholische Smolensker szlachta (russifiziert šljachta) ins Russländische Reich gekommen, nach dem Frieden von Nystad mit Schweden 1721 sollte der protestantische deutschbaltische Adel folgen. Dabei erwiesen sich ausgerechnet die ukrainischen Kosakenältesten – Brüder in der Orthodoxie und somit aus Sicht der petrinischen Autokratie gleichsam naturgemäß Leute des Zaren – als besonders widerspenstig und stellten Petersburg vor die Aufgabe, den Abfall ihres Hetmans Ivan Mazepa an den schwedischen König Karl XII. gebührend und nachhaltig als Verrat zu

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Erren sieht auch deutliche Unterschiede je nach Stellung einer Person innerhalb des Adels; vgl. Erren: Rossijskoe dvorjanstvo (wie Anm. 29), S. 69. Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. 1. Aufl., München 1992, S. 107.

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sanktionieren,32 aber auch Missbräuchen dieser Stigmatisierung des Hetmans vorzubeugen.33 Unter Peter dem Großen trat noch eine weitere Gruppe auf den Plan, deren Präsenz jedoch nicht auf bereits vollzogene imperiale Expansion verwies, sondern auf die hoch fliegenden Ambitionen, die mit dem Beitritt des Zarenreiches zur Heiligen Liga einhergingen. Gern hätte Peter einen Aufstand der orthodoxen Christen auf dem Balkan gegen den Sultan gesehen. Da aber eine Expansion Russlands ins Osmanische Reich außerhalb der Möglichkeiten des Zaren lag, führte sein Engagement stattdessen zu einem verstärkten Zustrom von Untertanen des Sultans – gerade auch ambitionierten Angehörigen der orthodoxen Eliten – ins Russländische Reich. Der spektakulärste Fall war der Dmitrij Kantemirs (rumänisch Dimitrie Cantemir), des Herrschers (Hospodars) der Moldau, eines Satellitenstaates des Osmanischen Reiches. Mit Kantemir schloss Peter ein Bündnis ab, in welchem er ihm für den Fall des Scheiterns seiner Erhebung gegen den Sultan Asyl versprach.34 Damit verhalf er Russland übrigens zu einem seiner bedeutendsten Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Dmitrijs Sohn Antioch. Dass der Vater in den russischländischen Adel einheiratete, führte letztendlich unter der Herrschaft Anna Ioannovnas zu einem Erbkonflikt, der in einem der großen politischen Prozesse dieser Periode instrumentalisiert werden sollte. Das petrinische Projekt der Bildung eines adligen Standes zielte vor allem auf den orthodoxen, ethnisch russischen Adel im Zentrum des Reiches ab. Das eben Gesagte zeigt aber, vor welchen Herausforderungen an die Integration von Eliten die Zarenherrschaft im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts eigentlich stand. Die petrinische Obrigkeit musste griffige Loyalitätsproben und Loyalitätsbewertungen mit den Mitteln der Zeit wirksam präsentieren. Dies ergab sich auch angesichts der zweifelhaften Legitimität einer Politik, die einem wenngleich religiös geächteten, so doch völkerrechtlich anerkannten Herrscher – dem Sultan – laufend Untertanen zu entziehen suchte.35 Überdies 32

33

34 35

Orest Subtelny: Mazepa, Peter I, and the Question of Treason, in: Harvard Ukrainian Studies 2 (1978), S. 158–183. Die symbolische Hinrichtung Mazepas in dessen Abwesenheit fand bereits das Interesse Voltaires; vgl. Michel Mervaud (Hrsg.): Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand. The complete work of Voltaire 47, hrsg. von der Voltaire Foundation, Oxford 1999, S. 735. So etwa, als ein ukrainischer Untertan aus offenkundigem Eigeninteresse auch die Anordnungen des „verräterischen“ Hetmans aus der Zeit vor seinem Abfall vom Zaren nicht mehr gelten lassen wollte; vgl. RGADA, f. 248, o. 29, kn. 1793, Nr. 71, l. 343. Pis’ma i bumagi imperatora Petra Velikogo, Bd. XI, Teil 1, Moskau 1962, Nr. 4385, S. 173– 176, hier S. 176. Jedenfalls berief sich Peter gegenüber dem Sultan auf das Völkerrecht, vgl. seine Argumentation mit dem „droit de suite“ nach der Flucht Karls XII. und Mazepas ins Osmanische Reich; vgl. Vladimir E. Grabar: The History of International Law in Russia 1647–1917. A Bio-Bibliographical Study, Oxford 1990, S. 632. Die Behandlung des Sultans als Teilhaber am Völkerrecht entspricht einer in Europa bereits zur Zeit des Westfälischen Friedens verbreiteten Haltung, vgl. Heinhard Steiger: Der Westfälische

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war nie auszuschließen, dass Abenteurer ohne jedes religiöse Motiv im Stil der Edelsöldner vergangener Jahrhunderte Dienst nach Gelegenheit suchten und von einem christlichen Herrscher ebenso abtrünnig werden würden, wie sie es von einem nichtchristlichen geworden waren. Diese Befürchtung wurde von denen, die die balkanischen Günstlinge Peters des Großen als Konkurrenten betrachteten, offensichtlich auch verbreitet.36 Die Aufnahme von Dienstleuten von der Peripherie des Reiches und darüber hinaus in die Funktions- und Herrschaftselite konnte deren alte Spitze nicht ersetzen. Die Spitze des Adels hatten im Moskauer Reich die Träger von Fürstentiteln beziehungsweise jene Adligen gestellt, die den obersten Rang im Rat des Zaren – der Bojarenduma – besetzten. Eben diese Familien bildeten noch Jahre nach dem Tod Peters des Großen die Elite im Militärdienst, die „Generalität“.37 Wie populäre Geschichtsbilder sattsam kolportiert haben, waren die Bojarenfamilien des Moskauer Reiches zu Lebzeiten Peters innerhalb des umgestalteten Adels ein nicht unbeträchtliches Protestpotenzial, das sich gegen die nord-, mittel- und westeuropäisch inspirierten Reformen des Zaren richten konnte. Doch war die Wirklichkeit ungleich komplexer. Neben dem neuen Adelsstand und den nationalen, auch konfessionell konturierten Oberschichtgruppen, die ebenfalls zum Reich gehörten, bestanden Gruppen von Dienstleuten aus der Moskauer sozialen Ordnung noch eine Weile weiter: nicht nur die hochadligen Bojaren, sondern auch weit niedriger gestellte Adlige38 einschließlich solcher, die im Moskauer Reich gar nicht als erbliche Dienstleute – also Adlige im Moskauer Sinne – gegolten hatten. Für die Autokratie galt es, in dieser Gemengelage ihre Definitionsmacht hinsichtlich der vom Herrscher beanspruchten Loyalität der Eliten zu behaupten, Schlüsselgruppen mit Prestige auszustatten, das mit dem herrscherlichen Anspruch konform ging, und die Einhaltung der so gesetzten Normen zu kontrollieren. Zu diesem Zweck gründete die petrinische Obrigkeit auch neue Institutionen – und war dabei wiederum auf die Kooperation der Eliten angewiesen.

36

37 38

Frieden – Grundgesetz für Europa?, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 33–80, hier S. 73–74. So im Konflikt zwischen dem Herzegowiner Michail Miloradovič und seinem Rivalen, dem Generalrichter der ukrainischen Kosaken. Miloradovič fühlte sich von seinen Gegnern beleidigt: Diese behaupteten, er habe schon einmal verraten (will sagen: den Sultan, als er aus der Herzegowina nach Russland ging), und er werde es wieder tun; vgl. O. Bodjanskij (Hrsg.): Delo gadjackogo polkovnika Michaila Miloradoviča s general’nym sud‘eju Černyšem 1716 g. Moskau 1870. Erren: Rossijskoe dvorjanstvo (wie Anm. 29), S. 65 unter Berufung auf Brenda MeehanWaters. Z. B. die deti bojarskie, vgl. Jurij V. Got’e: Istorija oblastnogo upravlenija v Rossii ot Petra i do Ekateriny II, Bd. II: Črezvyčajnye i vremennye oblastnye učreždenija, Moskau 1941, S. 75.

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3. Mit neuen Ämtern gegen Korruption und Majestätsverbrechen Selbst wenn sie zum Teil nur bereits vorhandene Tendenzen fortführten, griffen die Reformen Peters des Großen doch spürbar in die Gesellschaft ein. Sie schufen eine Atmosphäre des Umbruchs und brachten Nachrichten in Umlauf. Das Gerücht, Peter sei in Wahrheit der Antichrist, kursierte. Die Obrigkeit erhielt Meldungen über Mordgelüste der mit Steuern und Zwangsrekrutierung belasteten Bauern.39 Veränderungen im Alltag, bedingt vor allen durch die wachsende Bedeutung des Militärs, wurden registriert und in apokalyptischen Visionen gedeutet.40 Gleichzeitig mit der Militarisierung fand eine Mobilisierung von Ressourcen statt, einschließlich des Zugriffs auf neue Orte wirtschaftlicher Aktivität – Eisenvorkommen im Ural ebenso wie westeuropäische Börsenplätze. Damit war aber auch das Feld der aus Sicht der Obrigkeit streng zu ahndenden devianten Handlungen erweitert, nämlich um all die denkbaren Missbräuche, die die Früchte der wirtschaftlichen Expansion dem herrscherlichen Zugriff zu entziehen drohten. Zielscheiben solcher Kriminalisierung waren naturgemäß vor allem diejenigen, denen diese Expansion zu größerem Einfluss verhalf. Während Gerüchte über den Zaren als Antichrist von Angehörigen aller sozialen Gruppen gestreut werden konnten, gehörte zur Umleitung großer Summen in die eigenen Taschen eine Position, die diese ermöglichte. Die Autokratie bekämpfte nicht nur Kritik, sondern auch das, was in der Sprache des Gesetzes ausdrücklich in die Nähe des Majestätsverbrechens gerückt und zugleich klar davon unterschieden wurde: die Schmälerung des fiskalischen „Staatsinteresses (russisch ,interes‘)“, also den Diebstahl von Staatseigentum.41 Nur wie weit ging sie dabei, wo doch die ins Visier geratenden Personen in aller Regel Angehörige der Eliten waren? Aufschlussreich ist diesbezüglich das Schicksal zweier Institutionen, die unter Peter dem Großen zur Bekämpfung von Amtsmissbrauch und staatsschädigender Korruption eingerichtet wurden: der Fiskale und des „Obersten Gerichts“.

3.1 Organe zur Verfolgung von Korruption

Unter Peter dem Großen wurden Fiskale eingesetzt, die den Missbrauch staatlicher und kirchlicher Ämter eindämmen sollten, indem sie Schuldige anzeigten und sich damit eine satte Belohnung sicherten. Die Fiskale rekru39 40

41

Peter als Antichrist: z. B. RGADA f. 371 o. 1 d. 2774 l. 10ob; d. 3307 l. 4. Wunsch, den Zaren zu töten, vgl. RGADA f. 371 o. 1 d. 3311. Z. B. die Umgestaltung der Friedhöfe zwecks Vereinfachung von Truppenaufzügen unter Peter dem Großen, vgl. den Prozess gegen die Soldatenehefrau Akulina Petrova von 1723: RGADA f. 7 o. 1 d. 151, v.a. l. 27ob. Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 20.

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tierten sich oft aus Emporkömmlingen; die für weltliche Angelegenheiten zuständigen Fiskale befanden sich in einem Spannungsverhältnis zu den hochadligen Mitgliedern des Senats, der obersten Regierungs- und Verwaltungsbehörde im petrinischen Russland, der sie unterstanden. Der den Fiskalen 1711 eingeräumte Schutz vor einer Bestrafung für falsche Anzeigen wurde schon 1714 wieder aufgehoben. Noch zu Lebzeiten Peters wurden den Fiskalen Prokuroren vorgesetzt. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde das Amt der weltlichen Fiskale abgeschafft.42 Ein weiterer Versuch, ein spezielles Organ für die Verfolgung von Dienstverbrechen und Verletzung des staatlichen fiskalischen „Interesses“ zu schaffen, wurde 1722/1723 unternommen. Anlässe für die Schaffung dieses „Höchsten Gerichts“ waren zum einen die Strafverfolgung eines Mitstreiters Peters des Großen und führenden außenpolitischen Kopfes im Nordischen Krieg, Petr Pavlovič Šafirovs, zum anderen ein Korruptionsverfahren ausgerechnet gegen Fiskale. Ein zeitgenössischer Gesandtenbericht teilt mit, dieses „Höchste Gericht“ stehe „höher als der Senat und alle Kollegien (petrinischen „Ministerien“, A.R.)“43 . Aber schon der Plan, bereits gefällte Urteile in größerem Stil von diesem „Obersten Gericht“ überprüfen zu lassen, scheiterte. Unter Peters Gattin und Nachfolgerin Katharina I. wurde es abgeschafft.44 Die ebenfalls mit der Verfolgung von Verbrechen gegen das fiskalische Interesse eingerichteten Kriegsgerichte der Garde waren bereits 1724 liquidiert worden.45 Auch ein Kontor des Senats, das Korruption verfolgen sollte, konnte sich nicht lange halten.46 Zwar wurden unter Peter dem Großen gegen Adlige schwerste Strafen für Korruption verhängt und auch vollzogen. Fürst Matvej Petrovič Gagarin – Gouverneur von Sibirien – wurde 1720 sogar in Gegenwart des Zaren wegen Amtsmissbrauchs hingerichtet.47 Doch hatte, wie gezeigt wurde, keine der Institutionen zur Verfolgung von Dienstverbrechen Bestand – offenbar hatte niemand mit Einfluss ein dringendes Interesse an ihrem Erhalt. Die Urteile in Korruptionsverfahren waren zudem nicht immer dauerhaft wirksam, wie spektakuläre Fälle von vollständiger Begnadigung und Wiederaufstieg Verur42

43 44 45 46 47

Ebd., S. 152; Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649–1796. Stuttgart 1996, S. 146; Natal’ja Viktorovna Platonova: Gosudarstvennyj kontrol‘ (fiskalitet) v Rossii i russkoe obščestvo v pervoj četverti XVIII v. Diss. Rossijskij gosudarstvennyj gumanitarnyj universitet, Moskau 2000, S. 169; L. A. Stešenko: Fiskaly i prokurory v sisteme gosudarstvennych organov Rossii pervoj četverti XVIII v. , in: Vestnik Moskovskogo universiteta 1966, Reihe 12, Nr. 22, S. 51–58. Zitiert in Serov: Sudebnja reforma (wie Anm. 1), S. 317–18, 320. Ebd., S. 325, 327. Jurij Nikolaevič Smirnov: Russkaja gvardija XVIII v. Kujbyjšev 1989, S. 40. Igor‘ Kurukin/Elena Nikulina: Povsednevnaja žizn‘ Tajnoj kanceljarii, Moskau 2008, S. 73. Smirnov: Russkaja gvardija (wie Anm. 45), S. 49. Dass Gagarin auch separatistische Pläne verfolgt habe, ist nicht nachweisbar; vgl. Michail Olegovič Akišin: Policejskoe gosudarstvo i sibirskoe obščestvo. Novosibirsk 1996, S. 203. – An dem oben erwähnten Šafirov wurde „nur“ einer Scheinhinrichtung vollzogen; vgl. Dmitrij Olegovič Serov: Administracija Petra I, Moskau 2007, S. 102.

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teilter zeigen. Die Verurteilung Eliteangehöriger in Korruptionsverfahren ließ also den Herrschern und Herrscherinnen Spielraum für Revision. Sie war aber auch besonders brisant. Ein zufälliger Quellenfund weist darauf hin, dass Verfahren wegen Korruption von Eliteangehörigen und ihre Folgen sogar Schatten auf die Herrscher und Herrscherinnen selbst fallen lassen konnten: Auch diese waren nicht frei von Käuflichkeit.48 In Verfahren wegen Majestätsverbrechen war die Rolle des Herrschers/der Herrscherin als angegriffenem Part hingegen stets eindeutig. Majestätsverbrechen hatten bereits an der Spitze der Mitte des 17. Jahrhunderts gesetzlich fixierten Hierarchie der Verbrechen gestanden. Die petrinische Epoche wertete sie ausdrücklich auch gegenüber der Korruption noch einmal auf. Ein Mittel dafür war wiederum die Gründung spezieller Behörden – und diese waren im Gegensatz zu den mit der Verfolgung von Amtsmissbrauch betrauten Institutionen von Dauer.

3.2 Zentralbehörden zur Verfolgung von Majestätsverbrechen

1702 wies Peter der Verwaltung des Preobraženskij-Garderegiments die alleinige Zuständigkeit für Anzeigen zu, die einem Verbrechen gegen den Herrscher galten. Dieser Regimentsverwaltung waren schon einige Jahre zuvor Aufgaben zugeteilt worden, die über die direkten Angelegenheiten des Regiments hinausgingen, so etwa Polizei- und Gerichtsfunktionen zugunsten der Aufrechterhaltung guter Ordnung in der Stadt Moskau.49 Unmittelbar für die Verfolgung von Majestätsverbrechen qualifizierten die Kanzlei wohl die Rolle des Regiments als Erziehungsinstitution für den Adel, die als oberstes Ziel zweifellos die Loyalität zum Zaren und Gründer des Regiments hatte, und die persönliche Beziehung des Zaren zu dieser Truppe. Dieser mit Majestätsverbrechen befasste Preobraženskij prikaz war für seine Folterungen nicht nur der Angeklagten und der Urheber von Anzeigen, sondern auch der Zeugen gefürchtet.50 Er stand jedoch in Verbindung zur städtischen Lebenswelt in Moskau, deren Akteure diese Behörde durchaus im Sinne einer Justiznutzung in ihre alltäglichen Konflikte einzubeziehen ver48

49 50

Begnadigung der wegen Korruption verurteilten Brüder Dmitrij und Osip Solov’ev schon zu Lebzeiten Peters des Großen, später sogar Ernennung zu Baronen. 1725 Rückgabe des konfiszierten Amsterdamer Besitzes und der Londoner Aktien; vgl. Dmitrij Olegovič Serov: Stroiteli imperii. Očerki gosudarstvennoj i kriminal’noj dejatel’nosti spodvižnikov Petra I, Novosibirsk 1996, S. 101–121. Dies erfolgte offenbar aufgrund reicher Geschenke an die Zarin. Als dieser Umstand 1740 in einem Gerichtsverfahren Erwähnung fand, wurde die mit Majestätsverbrechen befasste Geheimkanzlei eingeschaltet! RGADA f. 7 o. 1 d. 743, insbesondere ll. 3–3ob. Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 105; Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 12. Angst eines Zeugen vor der Folter im Preobraženskij prikaz dokumentiert in RGADA f. 371 o. 1 d. 2735 l. 48.

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suchten.51 Ebenso wie in Konflikten zwischen Angehörigen der städtischen Unterschichten wirkte die Behörde aber auch an aufwändigen Prozessen gegen hochgestellte Persönlichkeiten mit. Sie war keinem anderen Organ in der Zentralverwaltung zur Rechenschaft verpflichtet, auch nicht dem 1711 eingerichteten, vom Hochadel besetzten obersten Regierungs- und Gesetzgebungsorgan unter dem Zaren selbst, dem Senat.52 Offensichtlich war das Personal des Preobraženskij prikaz auch immun gegen die Verfolgung von Amtsmissbrauch.53 Martialische Konkurrenz erwuchs dieser Behörde erst 1718 infolge eines Skandals von innen- und außenpolitischer Tragweite, wie ihn die Romanov-Dynastie bis dahin noch nicht gekannt hatte. Der Thronfolger Aleksej Petrovič hatte sich heimlich ins Habsburgerreich abgesetzt. Nach seiner Rückholung wurde er auf der Peters- und Paulsfestung in St. Petersburg inhaftiert. Dort wurde für die Untersuchung seiner Angelegenheit eine eigene Geheimkanzlei eingerichtet, unter deren Folterwerkzeugen Aleksej am 26. Juni (7. Juli) 1718 starb. Die zur Aufklärung des Falls Aleksej geschaffene Kanzlei blieb bestehen und war einige Jahre lang ebenso wie der Preobraženskij prikaz für Anzeigen wegen Majestätsverbrechen und die darauf folgenden Verfahren zuständig. Entfiel im Fall der Geheimkanzlei – der russländischen „Bastille“ (Anisimov) – die beim Preobraženskij prikaz gegebene Verbindung zur Stadtgesellschaft, so blieben viele Elemente, die die Aktivität der älteren Moskauer Behörde gekennzeichnet hatten, erhalten. Dies gilt auch für Verfahren, die Preobraženskij prikaz und Geheimkanzlei gegen Adlige führten. Beide Organe waren nicht explizit Gerichte. Peter setzte zwar – unter Bruch mit der traditionellen Einheit von Verwaltung und Rechtsprechung in den Zentralämtern (prikazy) – Gerichte als eigene Institutionen ein.54 Ein Beispiel ist das eben genannte „Oberste Gericht“, das Dienstverbrechen ahnden sollte. Sowohl der Preobraženskij prikaz als auch die Geheimkanzlei waren jedoch der Form nach Verwaltungsorgane. Ebenso wie das „Oberste Gericht“ waren diese Behörden für Angehörige aller Stände zuständig, vom leibeigenen Bauern bis zum Fürsten, während im 17. Jahrhundert die regionale und soziale Zuständigkeit verschiedener Zentralämter auch bei Majestätsverbrechen gegriffen hatte.55 Eine allständische Reichweite bedeutete natürlich keinesfalls, 51 52 53 54

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Z. B. RGADA f. 7 o. 1 d. 250, 2589, 2590, 2762, 3306. Serov: Sudebnaja reforma (wie Anm. 1), S. 273. Das „Oberste Gericht“ konnte gegen zwei Sekretäre des Preobraženskij prikaz nichts ausrichten, ebd., S. 279. Schmidt: Sozialkontrolle (wie Anm. 42), S. 125, 128, 133; A. S. Smykalin: Sudebnaja sistema Rossijskogo gosudarstva ot Ivana Groznogo do Ekateriny II (XV (sic!)–XVIII vv., in: Voprosy istorii 2004, Nr. 8, S. 49–69, hier S. 60. Beispiele für je nach sozialem Rang und regionaler Herkunft des/der Anzeigenden unterschiedliche Ämter als Adressaten: RGADA f. 201 Prikaznyj stol, stolbec 608 l. 51; stolbec 434 l. 5; f. 141, Jahr 1678, d. 117, l. 1. In Sibirien griff bei Majestätsverbrechen noch längere Zeit die separate Gerichtsbarkeit für Kirchenleute; vgl. Natal’ja Dmitrievna

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dass die Behörde für die gesellschaftliche Hierarchie im petrinischen Russland blind gewesen wäre.

4. Ermittler, Richter, privilegierte Angeklagte: Adlige in Majestätsverbrecherprozessen unter Peter dem Großen In der Zeit Peters des Großen lag der Schwerpunkt der Verfahren wegen Majestätsverbrechen quantitativ eindeutig nicht bei Angeklagten aus dem Adel.56 Jedoch fanden Verfahren gegen Adlige statt bis hinauf zu solchen mit dem höchsten Rang, den das petrinische Russland aus dem vorpetrinischen Moskauer Reich übernommen hatte: den Bojaren. Nina Golikova hat gezeigt, in welchem Maße Adlige – auch und gerade Bojaren – an den Prozessen gegen ihresgleichen im Preobraženskij prikaz als Ermittler und Richter beteiligt waren. Schon der erste Richter im Preobraženskij prikaz war ein Bojar mit langem Stammbaum: Fürst Fedor Jur’evič Romodanovskij. Allerdings ließ Peter ihn nicht allein agieren. In einem Prozess gegen drei hochrangige Verschwörer im Jahr 1697 – gegen den Duma-Adligen (dumnyj dvorjanin) Ivan Eliseevič Cikler, den okol’ničij 57 Aleksej Prokof ’evič Sokovin sowie Fedor Matveev Puškin, Truchsess (stol’nik) und Sohn eines Bojaren – urteilte die Bojarenduma und befand alle drei Angeklagten der Todesstrafe für würdig.58 Mit der Beteiligung der Bojarenduma entsprach das Verfahren dem vom Zaren 1606 garantierten Recht. Ein aufwändiges Verfahrens wegen eines Majestätsverbrechens nach Rückkehr des Zaren von seiner Europareise im folgenden Jahr wurde ebenfalls nicht von Romodanovskij und dem Preobraženskij prikaz allein geführt. 1698 hatten die Strelitzen, die im 16. Jahrhundert eingerichtete erste stehende Truppe des Moskauer Reiches, den Aufstand geprobt. Die Strelitzen gehörten in der sozialen Schichtung des Moskauer Reiches zu den niederen, nichtadligen Dienstleuten. Aufgrund des immer noch beträchtlichen militärischen Gewichts der Strelitzen und ihrer Revoltentradition kam der Abrechnung mit den Aufständischen aus Sicht Peters erhebliche Bedeutung zu. Folgerichtig wurden zu Beginn des Prozesses Bojaren als Ermittler benannt, die

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Zol’nikova: Institut „slova i dela“ i sibirskoe duchovenstvo v XVIII v., in: Leonid Michajlovič Gorjuškin (Hrsg.): Social’no-˙ekonomičeskie otnošenija i klassovaja bor’ba v Sibiri dooktjabr’skogo perioda, Novosibirsk 1987, S. 117–130). Das ergibt schon die Gegenüberstellung der Zahlen der adligen und der bäuerlichen Angeklagten im Preobraženskij prikaz, ungeachtet der Angeklagten aus anderen sozialen Gruppen: Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 183. Zweiter Rang in der Bojarenduma nach den Bojaren selbst. Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 99.

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den Fürsten Romodanovskij und seinen Preobraženskij prikaz unterstützen sollten. 1699 erhielt das Bojarenkollegium den Befehl, wöchentlich zu tagen. Bis 1706 sind Urteile überliefert, die unter Beteiligung des Bojarenkollegiums gefällt wurden. Allerdings fanden danach laut Nina Golikova auch bis zu den Verfahren gegen den Thronfolger Aleksej und seine Helfer 1718 keine bedeutenden Prozesse mehr statt, in denen Bojaren Angeklagte gewesen wären.59 Nach der Ersetzung der Bojarenduma durch den Senat im Jahr 1711 waren die Bojaren theoretisch nicht mehr durch ihre dominante Stellung im höchsten Beratungsgremium in der Umgebung des Herrschers legitimiert. Dennoch blieb es zunächst bei der hochadligen Besetzung der Behörden, die mit der Verfolgung von Majestätsverbrechen betraut wurden. Die Leitung der 1718 zusätzlich zum Preobraženskij prikaz für das Verfahren gegen den Thronfolger Aleksej eingerichteten Geheimkanzlei übernahm Graf Petr Andreevič Tolstoj. Der Graf hatte sich um die Lösung der Affäre im Sinne Peters des Großen verdient gemacht. Unter anderem war die – bedingt – freiwillige Rückkehr Aleksejs nach Russland seiner Taktik des Drohens und Beschwichtigens in der neapolitanischen Festung, in der der Wiener Hof den unbequemen Gast versteckt hatte, zu verdanken gewesen. Tolstoj stammte aber überdies aus einer Familie mit angestammtem Sitz in der Bojarenduma,60 er war also ein hoher Adliger gemäß der soziopolitischen Hierarchie des Moskauer Reiches. Auch Tolstoj handelte nicht allein: Seine Geheimkanzlei bereitete das Urteil über den Thronfolger zwar vor, inszeniert wurde es jedoch als Konsens der weltlichen und geistlichen Elite.61 Das Todesurteil gegen Aleksej, das Peter selbst gewünscht hatte, traf mit Sicherheit nicht das Einverständnis des gesamten hohen Adels. Es kam aber mit seiner Mithilfe zustande. Bei allen demonstrativen Bekundungen Peters, gnadenlose Strenge gegenüber allen Gegnern seiner Reformen bis hin zum eigenen Sohn walten zu lassen: Die starke Beteiligung von Adligen als Ermittler und Richter musste Auswirkungen auf den Umgang mit Angehörigen dieses Standes in den Prozessen haben. Die allständische Zuständigkeit des Preobraženskij prikaz bedingte, dass dieselben Personen zur gleichen Zeit Verfahren gegen Angehörige verschie-

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Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 39–41, 101. Petr Ivanovič Ivanov: Alfavitnyj ukazatel‘ familij i lic, upominaemych v bojarskich knigach, Moskau 1853, S. 415. Nikolaj Gerasimovič Ustrjalov: Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. VI, Carevič Aleksej Petrovič, St. Petersburg 1859, S. 518–523 (Stellungnahme der hohen Geistlichkeit), S. 529–535: Prigovor ministrov, senatorov, voennych i graždanskich činov, za sobstvennoručnoju podpis’ju, po delu careviča Alekseja, 24 ijunja 1718 g.; S. 533–35: Liste der Unterzeichner des Todesurteils, eines Kreises von Angehörigen der militärischen und administrativen Elite).

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dener Stände führten. Dadurch tritt die ständische Privilegierung beziehungsweise Diskriminierung der Angeklagten deutlich hervor. Adlige wie Nichtadlige wurden in Prozessen wegen Majestätsverbrechen gefoltert, Erstere allerdings seltener oder in milderer Form.62 Auch Adlige wurden in solchen Verfahren hart verurteilt und bestraft. So verfuhr die Bojarenduma im gerade erwähnten Bojarenprozess von 1697. Nicht nur, dass die drei Hauptschuldigen hingerichtet wurden, auch die Familie des verurteilten Fedor Puškin wurde abgestraft, indem sein Vater seinen Bojarenrang verlor und in die Verbannung geschickt wurde. Die Söhne Sokovins und Ciklers erbten nur einen kleinen Teil des ansonsten konfiszierten Besitzes der Väter und wurden in Regimenter in der Provinz abkommandiert. Damit nicht genug, wurde auch jene Adelsfamilie symbolisch bestraft, die Peter gewissermaßen für die politische Sippe der Verurteilten hielt: die Miloslavskie. Sie waren als Angehörige der ersten Gattin Zar Aleksej Michajlovičs – des Vaters Peters – Feinde der Familie seiner Mutter – der Naryškiny – gewesen. Peter hatte sich 1689 nur mittels eines Umsturzes gegen seine Halbschwester – die Regentin Sof ’ja Alekseevna – durchsetzen können. Daran erinnerte er nun: Die Hinrichtung Sokovins und Ciklers wurde von der Schändung der sterblichen Überreste des Bojaren Ivan Andreevič Miloslavskij begleitet.63 Im Ganzen gesehen wurden jedoch gegen adlige Majestätsverbrecher unter Peter dem Großen, soweit die einschlägigen Verfahren untersucht sind, deutlich geringere Strafen verhängt als gegen Nichtadlige, und Adlige wurden häufiger freigesprochen.64 Zu den Privilegien adliger Angeklagter in Verfahren wegen Majestätsverbrechen gehörte auch die Eindämmung der Anzeigen Abhängiger – Bauern, Gesindeleute und zunächst auch noch Sklaven (Cholopen), einer sozialen Gruppe, die unter Peter dem Großen verschwand – gegen ihre Herren und Herrinnen. Hierfür hatte bereits das erste neuzeitliche Gesetzbuch im Zarenreich (1649) durch strenge Anforderungen an Beweise und Androhung drakonischer Strafen für falsche Meldungen Vorkehrungen getroffen.65 Zwar 62

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Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 398; Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 183: Zwischen 1695 und 1709 starben von 106 im Preobraženskij prikaz verhörten Adligen zwei an den Folgen der Folter, von 223 verhörten Bauern vierzehn. Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 99–100. Bei früheren Hinrichtungen hochgestellter Personen wegen Verrats im 17. Jahrhundert – 1634, 1682 und 1689 – war auf theatralische Inszenierung verzichtet worden (Shields Kollmann: Crime [wie Anm. 4], S. 339). Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 51, 162, 291, allerdings nur anhand von Akten aus der Zeit zwischen 1695 und 1709: generell geringere Strafen für Adlige als für Angehörige anderer Stände, aber selbst Adlige erhalten für Majestätsbeleidigung die Knute. Von den Angeklagten wurden 81 % der Offiziere und 54 % der Gutsherren freigesprochen, aber nur 2,2 % der Soldaten und 7,1 % der Bauern. Golikova: Političeskie processy (wie Anm. 15), S. 54, 61: Hinrichtungen Abhängiger für solche „falschen“ Anzeigen; Anzeigen von Sklaven und Bauern gegen ihre Herren nur zugelassen, wenn Zeugen vorgewiesen werden konnten.

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gewährleistete die besondere Stellung der Anzeige von Majestätsverbrechen, dass die Untertanen der Zaren das Eingreifen der Obrigkeit und immer wieder auch die Einschaltung der zuständigen Zentralbehörden erzwingen konnten: Eine spezielle Formel, „Wort und Angelegenheit des Herrschers“, die verwenden sollte, wer ein Majestätsverbrechen zu melden hatte, verpflichtete alle, die sie hörten, für die Beachtung und Weitergabe der Anzeige zu sorgen.66 Trotzdem hatten keineswegs alle die gleichen Möglichkeiten, mit ihrer Anzeige auch eine Verurteilung des oder der Beschuldigten zu erwirken. Anzeigen von Sklaven und leibeigenen Bauern gegen ihre Herren und Herrinnen waren – wohl aufgrund des hohen Risikos für die Urheber solcher Anzeigen und der geringen Chancen, damit eine Verurteilung zu erreichen – recht selten. Immerhin stand der Preobraženskij prikaz in dem Ruf, das Bedürfnis Abhängiger nach Rache befriedigen zu können. Mit seiner Hilfe könne man einen hochfahrenden Gutsherrn wenigstens hart an seiner Ehre strafen, wenn er zusammengeschmiedet mit seinem Leibeigenen und Ankläger die Reise nach Moskau antreten müsse.67 Zu einer Verurteilung des Herrn führte die Anzeige eines Abhängigen in Verfahren wegen Majestätsverbrechen, die schon in der Publizistik des beginnenden 17. Jahrhunderts als unlautere Waffe der Zaren gegen unliebsame Adlige gegeißelt worden war, aber offensichtlich nur dann, wenn dies aus Sicht der Autokratie unumgänglich erschien.68 Eine bemerkenswerte Abweichung von dem Bestreben, die Anzeige Abhängiger gegen Adlige einzudämmen, findet sich im petrinischen Militärrecht. Das Militär war der Kern des petrinischen Staates, sein Ausbau Sinn und Zweck der Reformen, seine innere Ordnung und seine gesellschaftliche Stellung der zentrale Gegenstand der petrinischen Rechtssetzung. Peter wünschte eine reguläre Armee, in der nichtadlige niedere Ränge von adligen Offizieren befehligt wurden, mit der theoretischen Möglichkeit für besonders verdiente 66

67 68

Fürst Boris Ivanovič Kurakin suggeriert in seiner Autobiographie sogar, dass sich häufende Anzeigen von Gesindeleuten der Bojaren den Ausschlag für die Formierung des Preobraženskij prikaz als Spezialbehörde gegeben hätten; vgl. Michail Ivanovič Semevskij: Archiv knjazja F. A. Kurakina, Bd. I, Bumagi knjazja Boris Ivanoviča Kurakina, St. Petersburg 1890, S. 257. Der Clan der Kurakiny kooperierte allerdings mit dem der Puškiny, dem der 1697 exekutierte Fedor Puškin angehört hatte, daher ist Kurakin gerade im Hinblick auf Majestätsverbrecherprozesse kein neutraler Zeuge. Ich danke Aleksandr Lavrov für diesen Hinweis. RGADA f. 371 o. 1 d. 2652. So bei einer Anklage im ersten Jahr der selbständigen Herrschaft Peters wegen Schadenszaubers gegen den Zaren mit einem Angeklagten, den Peter als Angehörigen der gegnerischen Hofpartei betrachtete: Andrej Il‘ič Bezobrazov (Rozysknye dela o Fedore Šaklovitom i ego soobščikach, Bd. II, St. Petersburg 1885. Sp. 9–11, 367, 371, 400). Die Gesindefrau Tat’jana Michajlova hingegen scheiterte 1701 letztlich mit ihrer Anzeige gegen ihren Herrn, Nikita Borisovič Puškin, der angeblich den Versuch unternommen hatte, den Zaren zu verhexen. Ihr half auch nicht, dass es sich bei Nikita Borisovič um einen Verwandten des 1697 hingerichteten Fedor Puškin handelte; vgl. Aleksandr Lavrov: Russische Zauberer und ukrainische Zauberinnen. Zaubereiprozesse von 1700 bis 1740 als historische Quelle. JGO 53 (2005), S. 177–195, hier S. 178.

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Nichtadlige, selbst in den Offiziersrang aufzusteigen und nach Maßgabe der Rangtabelle adlig zu werden. Das Strafrecht Peters des Großen bildete die Werthaltungen des Zaren ab, indem es den Offizier zwischen dem Vater und dem Herrscher auf einer Vertikale besonders geschützter Autoritäten platzierte. Rangierte das Majestätsverbrechen auf der Skala der besonders verabscheuenswerten Taten ganz oben, so gehörten auch Gewaltverbrechen gegen den militärischen Vorgesetzten – ähnlich wie solche gegen den eigenen Vater – in diese Kategorie.69 Umgekehrt war der Offizier zu besonderer Loyalität gegenüber dem Herrscher verpflichtet, und seine Untergebenen sollten ihn diesbezüglich kontrollieren. Verräterische Offiziere sollten von ihren Dienern oder Burschen (sluga, denščik) angezeigt werden,70 wobei der im nach wie vor geltenden Gesetzbuch von 1649 bei Anzeigen von Sklaven und Bauern gegen ihre Herren geforderte Beweis durch Zeugen nicht verlangt wurde. Die im Strafrecht gewissermaßen negativ entworfene ideale Militärmonarchie konnte die alten Regeln außer Kraft setzen, zumindest in der Theorie. Mit dem Tod Peters des Großen 1725 begann eine Epoche von fast vierzig Jahren, während derer stets Einheiten der Garderegimenter – der Spitzen der regulären Armee – entschieden, wer nach dem Tod eines Herrschers oder einer Herrscherin den Thron bestieg. Das nachpetrinische 18. Jahrhundert insgesamt war zunächst von einer Hochkonjunktur der Verfahren gegen Adlige mit scharfen Sanktionen, dann von einer allgemein milderen Führung von Prozessen gegen Adlige wie Nichtadlige auf quantitativ hohem Niveau und schließlich von einem deutlichen Rückgang der Verfahren wegen Majestätsverbrechen gekennzeichnet.

5. „Terror“ und adliger „Stand“ unter Anna Ioannovna Die Prozesse gegen Adlige unter Anna Ioannovna, die den Jahren 1730 bis 1740 das Etikett der Terrorherrschaft eingebracht haben, lassen sich zum einen auf Krisenphänomene dieser Jahre zurückführen. Zum anderen stehen sie in der Logik der petrinischen institutionellen und gesellschaftlichen Reformen. Ich skizziere zunächst die Umstände, die den Herrschaftsantritt Annas und ihr Zartum prägten, umreiße dann die Verfolgung von Majestätsverbrechen – insbesondere drei herausragende Strafverfahren – und gehe abschließend auf 69

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Am deutlichsten im Marinestatut (Morskoj ustav) von 1720: Als besonders verabscheuenswerte Delikte sind die Tötung des Herrschers, des Vaters und des eigenen Offiziers ausgewiesen, während der Kriegsartikel (1715) auch noch die Tötung der Mutter hervorhob: vgl. Kriegsartikel, Kap. 9, Art. 163 und Marinestatut, Kap. 15, Art. 116; Ksenija Aleksandrovna Sofronenko (Hrsg.): Pamjatniki russgogo prava, Bd. VIII, Zakonodatel’nye akty Petra I, Moskau 1961, S. 359, 518. Marinestatut, Kap. 11, Art. 86, ebd., S. 511.

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strukturelle Momente ein, die Prozesse gegen Adlige unter Anna Ioannovna befördert haben könnten. Peter der Große hatte nach der Flucht seines ältesten Sohnes unter die Fittiche des Kaisers die Primogenitur außer Kraft gesetzt. Thronfolger sollte fortan sein, wen der vorherige Herrscher dazu ernannt hatte. Stattdessen entschieden jedoch, wie bereits gesagt, in den Jahrzehnten nach Peters Tod die Sympathien von Einheiten der Garderegimenter darüber, wer der nächste Zar oder die nächste Zarin wurde. Bereits die Thronbesteigung der Witwe Peters Katharina I. (1725–1727) wurde von der Garde abgesichert. 1730 halfen die Garderegimenter dann der Nichte Peters, Anna Ionannovna, bei ihrem Herrschaftsantritt eine Attacke gegen die Autokratie abzuwehren. Im Jahr 1730 erlegten Vertreter des Hochadels der kurländischen Herzogin Anna Wahlkonditionen auf und hebelten damit die Autokratie aus. Kurzzeitig konzentrierte sich die Macht im Staat in den Händen des hochadlig besetzten Obersten Geheimen Rats. Bezug nehmend auf die kursierenden Verfassungsprojekte konstituierte sich in Petersburg und Moskau ebenfalls für eine kurze Weile etwas wie eine debattierende adlige Öffentlichkeit.71 Das Jahr 1730 zeigte aber auch, dass Peters einheitlicher adliger Stand aus der Sicht des niederen und mittleren Adels – häufig ansässig in der Provinz, ohne Zugehörigkeit zu den alten Bojarenfamilien und von deren märchenhaftem Reichtum an Land und Leuten weit entfernt – eine Fiktion war. Die selbst nicht zur Aristokratie zählenden Adligen versprachen sich von einer intakten Autokratie mehr als von einer durch Wahlkapitulationen der Zarin abgesicherten Herrschaft einiger mächtiger Familien. Auch waren die hohen Adligen untereinander uneins. Doch obwohl die Projekte zur Errichtung einer durch Adelsrechte beschränkten Monarchie an diesen Widersprüchen scheiterten, schienen sie doch zu demonstrieren, dass das krasse Alternativmodell zur Autokratie – die polnisch-litauische Adelsrepublik – auch in einer Zeit ihrer wachsenden Abhängigkeit von ausländischen Mächten politische Akteure im Zarenreich noch beeindruckte. Die politische und militärische Intervention Russlands in die Angelegenheiten der Adelsrepublik unter Anna Ioannovna ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Anna Ioannovna belohnte die loyale Haltung der Masse des Adels in der Krise von 1730 mit der Rücknahme des bei den Adligen generell äußerst unbeliebten Verbots Peters des Großen, das Land eines Adligen im Erbfall in traditioneller Manier unter allen Söhnen aufzuteilen, und verabschiedete sich damit von Peters Wunsch nach einer voll vom Staatsdienst abhängigen Schicht landloser Adliger.72 Gleichzeitig wurden die Institutionen, mittels derer der hohe Adel in den Jahren nach dem Tod Peters des Großen Macht ausgeübt 71

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Igor‘ Vladimirovič Kurukin: „Vremja, tob samoderžaviju ne byt’. . . “ (Generalitet, dvorjanstvo i gvardija v 1730 godu), in: Otečestvennaja istorija, 2001, Nr. 5, S. 12–21, hier S. 16. Erren: Rossijskoe dvorjanstvo (wie Anm. 29), S. 68–69.

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hatte, in ihren Befugnissen eingeschränkt. Der Oberste Geheime Rat wurde abgeschafft, die Mitbestimmungsmöglichkeiten des Senats, der unter Peter als höchstrangiges, selbstverständlich adlig besetztes Beratungsorgan an die Stelle der Moskauer Bojarenduma getreten war, wurden beschnitten.73 Die wiederhergestellte autokratische Herrschaft der Zarin ermöglichte es dem Kurländer von Biron, sich als erster Günstling einer Zarin beziehungsweise eines Zaren im Stil der Favoriten an weiter westlichen europäischen Höfen zu etablieren, mit einem halb offiziellen Status, der ihn auch für ausländische Diplomaten zum unumgänglichen Gesprächspartner machte.74 Entsprechend wurde das noch neue Phänomen weiblicher Zarenherrschaft von den Untertanen auch durch das Prisma des Favoritentums wahrgenommen.75 Weniger unter dem Einfluss von Birons als in der Folge der Expansionspolitik Peters des Großen und gemäß der bewährten imperialen Strategie, Eliten in neu gewonnenen Gebieten zu integrieren, gewannen Deutschbalten im Zarenreich an Einfluss.76 Der Politik der Privilegierung und Integration des deutschbaltischen Adel im Nordwesten des Reiches stand im Südosten eine regelrechte Kriegssituation gegenüber: Im südlichen Ural führten Angehörige der Oberschicht der Baschkiren mehrere Revolten gegen die zunehmende Präsenz des Zentralstaates an, die mit Truppen und scharfen Sanktionen bis hin zu Todesurteilen gegen Männer an der Spitze dieser Erhebungen niedergeschlagen wurden. Auch über die Sicherung bereits eingegliederter Territorien hinaus wurden in den 1730er Jahren imperiale Ansprüche verfolgt. Sie führten unter anderem zu einer Wiederaufnahme der Feldzüge gegen das Krimkhanat, den benachbarten Satelliten des Osmanischen Reiches. Im scharfen Kontrast zu diesen Ambitionen standen die begrenzten finanziellen Kapazitäten des Staates, die wesentlich auf astronomische Steuerrückstände zurückgingen.77 Vor diesem Hintergrund ist der Umgang der Obrigkeit mit dem petrinischen Sanktionsrepertoire in den Jahren 1730 bis 1740 zu betrachten. Anna erbte Sanktionsmittel gegen Korruption und Majestätsverbrechen. Die petrinische Drohkulisse mit ihren Strafandrohungen für Unterlassungen wie auch Handlungen zum Schaden der Herrscherin und des Staates bestand – und damit die Möglichkeit, Konflikte mit Eliteangehörigen im Zuge symbolischen Herrschaftshandelns auf die Spitze zu treiben. Unter Anna Ioannovna, wie unter Peter, wurden Prozesse wegen Amtsmissbrauchs und Schädigung der Interessen des Fiskus geführt – zwangsläufig auch gegen adlige Amtsträger. Wie unter Peter konnten solche Verfahren so73 74 75 76 77

˙ Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Epocha „dvorskich bur’“. Očerki političeskoj istorii poslepetrovskoj Rossii, Rjazan‘ 2003, S. 226. Ebd., S. 229. Beispiele: Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 68–69. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich (wie Anm 31), 1. Aufl., S. 114. ˙ Zu den Steuerrückständen: Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 251.

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gar mit einem Todesurteil und dessen Vollstreckung enden.78 Bemerkenswert ist allerdings, dass auch in der Zeit Anna Ioannovnas, die als Tiefpunkt in der Geschichte des hochadlig besetzten Senats gilt, der Senat immerhin berechtigt war, bei Korruptionsfällen Untersuchungskommissionen zu benennen.79 Allerdings versuchte die Krone, das aus der oben skizzierten petrinischen Strafverfolgung herauszulesende ungeschriebene Gesetz, nach dem Kontrolle tendenziell an den sozialen Grenzen endet, mithin „innerständisch“ stattfinden sollte, bei Korruption außer Kraft zu setzen. Ausdrücklich wurde den Angehörigen aller Stände erlaubt, Adlige, die unzureichende Steuereintreibung vertuschten, anzuzeigen.80 Zwischen 1730 und 1740 fand unter Federführung der 1731 neu gegründeten Geheimkanzlei auch eine beträchtliche Zahl von Verfahren gegen Adlige wegen Majestätsverbrechen statt. Tat‘jana Černikova hat ermittelt, dass zwar der größte Teil der Verfahren – ebenso wie unter Peter dem Großen – gegen Vertreter der unteren Schichten (des „Volkes“) geführt wurde, jedoch in 126 von 128 als besonders wichtig erachteten Prozessen Adlige angeklagt waren.81 Die Obrigkeit sah also offensichtlich in vielen Fällen Anlass, Adlige nicht unter dem immer naheliegenden Vorwand der Korruption, sondern ostentativ als Majestätsverbrecher zu verfolgen. Das Profil der Prozesse ist uneinheitlich. Unter den weniger bekannten Verfahren gegen Adlige aus der Zeit Anna Ioannovnas stoßen wir zum Beispiel auf solche, die den Verwaltungsalltag in der Provinz spiegeln. So entluden sich etwa Konflikte zwischen Staatsvertretern und Adelsfrauen, die, wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer auch im europäischen Vergleich relativ günstigen Stellung hinsichtlich des Landeigentums, selbstbewusst auftraten, in Anzeigen wegen verbaler Majestätsbeleidigung.82 Die große Aufmerksamkeit der Obrigkeit unter Anna Ioannovna für die umfassende und korrekte Leistung des Treueids auf die Zarin durch die Untertanen konnte zu einer Sanktionierung der Selbstdarstellung Adliger als Herren über Land und Leute führen. So nahmen sich die Behörden 1730/31 des Gutsbesitzers Tolbugin an, der selbst bei einem Oberstleutnant des Preobraženskij-Garderegiments als Verwalter 78 79 80 81

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Got’e: Istorija oblastnogo upravlenija (wie Anm. 38), S. 77. Ebd., S. 54. Černikova: Gosudarevo slovo i delo (wie Anm. 2), S. 159. Ebd., S. 157. Die „besonders wichtigen“ Fälle wurden dieser Autorin zufolge von der Geheimkanzlei gemeinsam mit Senat oder Kabinett behandelt. Anisimov betont, dass sich bei der Berücksichtigung aller Prozesse eine andere Verteilung ergibt: 1732/33 z. B. waren die Verurteilten der Geheimkanzlei insgesamt zu 37,5 % Kirchenleute und nur zu 6,3 % Adlige; vgl. Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 716. RGADA f. 7 o. 1 d. 426, 667, 674, Jahre 1735–39, Gebiet Obonež’e im Gouvernement Novgorod; gleiche Konstellation, aber uezd Toropec: d. 465 (1735). Die Eigentumsrechte adliger Frauen wurden unter Anna Ioannovna im Zusammenhang mit der Rücknahme des petrinischen Verbots der Erbteilung gestärkt; vgl. Michelle Lamarche Marrese: A Woman’s Kingdom: Noblewomen and the Control of Property in Russia 1700–1861, Ithaca/ London 2002, S. 30–31.

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tätig war. Tolbugin hatte von seinem Hausgesinde einen Treueid verlangt und damit die ungeschriebene Regel gebrochen, nach der Treueide nur gegenüber der Herrscherin geleistet werden durften.83 Neben solche wenig bekannten Verfahren traten spektakuläre Prozesse, die das Bild der Zeit geprägt haben. Die drei wohl bekanntesten Prozesse der Zeit Anna Ioannovnas waren gegen Angehörige von Familien mit langem Stammbaum und hoher Stellung in den petrinischen Institutionen gerichtet: gegen die Fürsten Dolgorukov, gegen den Fürsten Volynskij und gegen den Fürsten Golicyn. Diese Verfahren sollen kurz hinsichtlich ihres Hintergrunds, des Inhalts der Anklagen und der an den Prozessen Beteiligten skizziert werden. Angehörige des Fürstenfamilie Dolgorukov84 , die bemüht war, ihr Geschlecht auf den Stammvater des Aufstiegs Moskaus im Mittelalter zurückzuführen, hatten 1729 einen Versuch unternommen, der eigenen Familie durch ein waghalsiges Manöver Aussichten auf den Zarenthron zu eröffnen: Sie verheirateten eine Fürstin Dolgorukova mit dem bereits auf dem Sterbebett liegenden Zaren Peter II. – dem unmittelbaren Vorgänger Anna Ioannovnas – und fälschten wohl auch sein Testament zugunsten einer Thronbesteigung seiner buchstäblich in letzten Augenblick Angetrauten. Im Weiteren unterstützten die Dolgorukovy zwar die Thronkandidatur Annas, waren aber auch in der konstitutionellen Bewegung aktiv. Annas Ungnade war damit programmiert. Diese wirkte sich zunächst so aus, dass Mitglieder der Familie auf weit abgelegene Provinzstatthalterposten oder in ihre Dörfer verbannt wurden. Außerdem wurden sie bezüglich der Manipulation des herrscherlichen Testaments verhört. 1735 wurde erstmals ein Mitglied der Familie von einem Einwohner seines Verbannungsortes wegen verdächtiger Äußerungen über die herrschende Zarin angezeigt. 1737 folgten Anzeigen eines Offiziers und eines Schreibers beim Zoll. Daraufhin wurden die Verbannten ins westsibirische Tobol’sk verlegt. Dort wurde eine eigene „Expedition“ zur Untersuchung des Falls gegründet. Einer ihrer beiden Vorsitzenden war der Bruders des Vorstehers der Geheimkanzlei. Für die Urteilsfindung wurde dann eine prominent besetzte „Generalversammlung“ einberufen, der neben Kabinettsministern, Senatoren und Vertretern der obersten Verwaltungsbehörden sogar Vertreter des Heiligsten Regierenden Synods – der obersten Kirchenbehörde – angehörten. Das von der Versammlung 1739 gefällte Todesurteil wurde von der Zarin umgehend bestätigt. Die Hinrichtung Ivan Alekseevič Dolgorukovs, der als Fälscher des zarischen Testaments verurteilt worden war, sowie seines Onkels Vasilij Lukič Dolgorukov waren die härtesten, aber nicht die einzigen Sanktionen gegen die Familie. Die meisten der einschlägig biographisch erfassten Dolgoruko83 84

Opisanie dokumentov i del, chranjaščichsja v archive Svjatejščego pravitel’stvujuščego sinoda, Bd. 11, St. Petersburg 1903, Dokument Nr. 186, Sp. 244–247. Bei der Skizzierung des Falls der Dologorukovy stütze ich mich auf Korsakov: Iz žizni (wie Anm. 10) S. 102–134.

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vy konnten aufgrund der Ungnade Anna Ioannovnas in den 1730er Jahren keine Karriere machen. Eine bemerkenswerte Ausnahme gewährte Anna Ioannovnas Feldherr von Münnich allerdings dem jugendlichen Fürsten Vasilij Michajlovič Dolgorukov, der sich 1736 im Krimfeldzug beim Sturm auf die Festung Perekop auszeichnete und daraufhin eben doch zum Offizier befördert wurde.85 Einen weiteren spektakulären Prozess wegen Majestätsverbrechen gegen einen Vertreter des alten Hochadels mit großem Einfluss am Hof hat Igor’ Kurukin kürzlich rekonstruiert. Den Kabinettsminister Artemij Volynskij verband eine innige Feindschaft mit dem Grafen Ostermann, der „Seele“ des Kabinetts.86 Volynskij stand auch in einem gespannten Verhältnis zum Favoriten von Biron. In der für den Fiskus während der 1730er Jahre zentralen Frage, welche privaten Unternehmer an den Keimlingen der russländischen Montanindustrie beteiligt werden sollten, unterlag Volynskij dem Favoriten, aber bei der nicht minder wichtigen Auswahl eines Bräutigams für die Nichte und designierte Nachfolgerin der Zarin setzte er sich durch.87 Dass Ostermann und von Biron sich dann gegen ihn verbündeten, hatte für Volynskij fatale Folgen: Als er in den Räumen des Favoriten bei Hofe handgreiflich wurde, war ein Vorwand gefunden, ihn wegen eines Gewaltakts in unmittelbarer physischer Nähe zur Zarin anzuklagen. Bei Volynskij wurden die Wahlkonditionen sowie Verfassungsprojekte aus dem Jahr 1730 gefunden.88 Außerdem war er selbst Verfasser eines Projekts, das beispielsweise die Vergabe von Ämtern nur an Adlige vorsah89 und somit das Prinzip der Rangtabelle Peters des Großen, Adel nach Dienst zu verleihen, umkehrte. Inkriminiert wurde Volynskij vor allem, dass er selbst nach dem Thron gestrebt habe.90 Einem entscheidenden Zeugen gegen Volynskij öffnete die Zarin mit einem von ihr persönlich unterzeichneten Brief den Mund: Volynskijs Haushofmeister. Dieser sagte unter anderem aus, Volynskij habe mit einer Adelsrepublik polnisch-litauischen Musters als Option für Russland sympathisiert. Obgleich Volynskij auch bei seiner zweiten Folterung jegliche Ambitionen auf den Thron abstritt, fällte die in ein Gericht verwandelte Ermittlungskommission Todesurteile gegen ihn und seine „Komplizen“. Nachdem weite Teile des Verfahrens nicht von dieser Kommission, sondern von der Geheimkanzlei 85

86 87 88 89 90

Biografičeskij slovar‘, Dabelov-Djad’kovskij. Izdan pod nabljudeniem A. A. Polovcova, St. Petersburg 1905. Reprint New York 1962, S. 522. Der Fall des Kriegshelden Dmitrij Dolgorukov (Beiname „Krymskij“) legt nahe, einen möglichen Erfolg von Nebenlinien in Adelsfamilien im Schatten der Ungnade, welche die bis dahin dominierenden Linien wegen des Verdachts auf Majestätsverbrechen getroffen hatte, in Betracht zu ziehen. ˙ Igor‘ Vladimirovič Kurukin: Artemij Volynskij. Moskau 2011, S. 320; ders.: Epocha (wie Anm. 73), S. 227. Ebd., S. 325–326. Ebd., S. 347. ˙ Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 265. Kurukin: Artemij Volynskij (wie Anm. 86), S. 356.

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dominiert worden waren, wurde Volynskij schließlich vom Generalprokuror, von Generälen, einem Kabinettminister, Beamten und Gardeoffizieren verurteilt.91 Ein dritter bekannter Prozess gegen ein Mitglied des alten Hochadels galt im Gegensatz zu den Verfahren gegen Volynskij und die Dolgorukovy zunächst keinem Majestätsverbrechen: Fürst Dmitrij Michajlovič Golicyn92 , Autor eines der Verfassungsprojekte von 1730, übrigens ein persönlicher Feind des späteren Justizopfers Volynskij, wurde 1736 stattdessen der Bevorteilung eines Verwandten in einem bedeutenden Prozess um Eigentumsrechte und somit der Korruption bezichtigt. Zunächst war ein „höchstes Gericht“, also ein temporäres Organ mit dem gleichen Namen wie das unter Peter dem Großen gescheiterte zentrale Gericht für die Verfolgung von Amtsverbrechen, eingesetzt worden, um die als rechtswidrig befundene Entscheidung in dieser Eigentumssache zu überprüfen. Zusätzliche Brisanz hatte die Angelegenheit dadurch, dass es sich um einen Konflikt zwischen Witwe und Sohn der Symbolfigur petrinischer Ambitionen in Südosteuropa, nämlich des früheren Hospodars der Moldau Kantemir handelte. Wieder trug die Aussage eines Subalternen – diesmal eines niederen Beamten – zur Verurteilung bei. Dessen Aussage gab auch Gelegenheit, die Korruptionsanklage gegen Golicyn politisch zuzuspitzen: Nicht nur habe der Fürst seine Pflicht „als Senator und Bewahrer unserer (der Zarin; A.R.) und des Staates Rechte“ verletzt, er habe auch in „gotteswidriger Weise“ mit der Behauptung, das Gewissen unterstehe allein Gottes Gericht, die weltliche Gerichtsbarkeit in Frage gestellt, „wohl wissend, dass das weltliche Gericht (sud graždanskij) Gottes Gericht ist“93 . Das Todesurteil der zwanzigköpfigen „Generalversammlung“ mit einem Kabinettsminister, Generälen und Admirälen, hochrangigen Vertretern von Kollegien, aber auch dem Vorsteher der Geheimkanzlei verwandelte Anna Ioannovna in Festungshaft.94 Was zeichnete diese Verfahren aus? Spezifisch war natürlich ihr politischer Hintergrund: die konstitutionelle Bewegung von 1730, mit der die Herrscherin in allen drei Prozessen abrechnete. Im Prozess gegen Golicyn verband sich die Rache der Zarin für die kurzzeitige Einschränkung der Autokratie mit der Selbstdarstellung gerechter zarischer Justiz im Auftrag Gottes. Davon abgesehen, lassen sich substanzielle Ähnlichkeiten zu älteren Verfahren erkennen. Todesurteile in Prozessen wegen Majestätsverbrechen gegen hohe Adlige und Verfolgung ihrer Familien hatte es auch unter Peter dem Großen gegeben. Anders als in den Bojarenprozessen des späten 17. Jahrhunderts urteilte in den hier skizzierten Verfahren unter Anna Ioannovna zwar nicht mehr ein 91 92 93 94

Ebd., S. 344, 345, 358. Verfahren hier wiedergegeben nach Dmitrij Korsakov: Sud nad knjazem D. M. Golicynym, in: Drevnjaja i novaja Rossija, 15 (Oktober 1879), S. 20–62. Korsakov: Sud nad knjazem (wie Anm. 92), S. 40–41. Ebd., S. 39–40 (Fußnote 1: Liste der Mitglieder der „Generalversammlung“), 42.

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fest institutionalisierter Rat des Hochadels, sondern eine Kommission aus hohen Beamten unterschiedlicher Provenienz, die gewissermaßen den Staat repräsentierten. Auch dies war jedoch nicht neu: Ähnlich war schon der Kreis derjenigen gezogen gewesen, die 1718 das Urteil über den Zarensohn Aleksej fällten.95 Wie unter Peter, können in den Verfahren Partikularinteressen tonangebender Personen am Hof und in den entscheidenden Ämtern identifiziert werden. Doch hatten sich die an den Prozessen beteiligten Institutionen verändert, und dies dürfte sowohl den beschriebenen Verfahren gegen diese drei Aristokraten Auftrieb gegeben als auch zur Hochkonjunktur der Prozesse gegen Adlige unter Anna Ioannovna insgesamt beigetragen haben.

5.1 Wiederherstellung und Neuorientierung der Geheimkanzlei

Die Geheimkanzlei Peters des Großen war 1726 zunächst abgeschafft worden. Dass diese Institution damals dem Wunsch des Fürsten Menšikov, des einflussreichsten Günstlings Peters des Großen, die Machtbefugnisse ihres Vorstehers, des Grafen Tolstoj, zu beschneiden, geopfert wurde96 , weist darauf hin, dass die Eigendynamik ihrer Entwicklung als Behörde zur Verfolgung von Majestätsverbrechen nicht übertrieben werden darf. Noch war die Geheimkanzlei auch ein institutioneller Auswuchs der Machtfülle eines alteingesessenen Großen. Nach der Abschaffung der Geheimkanzlei übernahm zunächst der hochadlige Oberste Geheime Rat ihre Funktion. 1729 wurde auch der Preobraženskij prikaz aufgelöst, die ältere der beiden petrinischen Behörden zur Verfolgung von Majestätsverbrechen. Bereits im Jahr nach der Thronbesteigung Anna Ioannovnas, 1731, wurde die Geheimkanzlei jedoch wieder eingerichtet und ihre Spitze neu besetzt – nach offenkundig anderen Maßgaben als denen, die zur Zeit Peters des Großen gegolten hatten. Mit Romodanovskij und Tolstoj hatten unter Peter dem Großen an der Spitze der mit Majestätsverbrechen betrauten Behörden Vertreter der privilegiertesten und mächtigsten Familien des vorpetrinischen Moskauer Reiches gestanden. Die Leitung der wiederhergestellten Geheimkanzlei unter Anna übernahm bezeichnenderweise ein Mann mit anderem Profil: Andrej Ivanovič Ušakov stammte aus einer armen Adelsfamilie in der Provinz.97 Zweifellos war sein Weg an die Spitze der Kanzlei dadurch geebnet worden, dass er bereits zu den „ministry“ der für die Angelegenheit des Thronfolgers Aleksej 1718 geschaffenen Behörde gezählt hatte.98 Nun jedoch übernahm der Aufsteiger – auch Gardeoffizier und frisch ernannter Senator – die alleinige Leitung der 95 96 97 98

Ustrjalov: Istorija (wie Anm. 61), Bd. VI, S. 533–35, s.o. Kurukin/Nikulina: Povsednevnaja žizn‘ (wie Anm. 46), S. 75. Ebd., S. 76. Smirnov: Russkaja gvardija (wie Anm. 45), S. 40.

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neuen Geheimkanzlei. Er kumulierte darüber hinaus weitere Zuständigkeiten und hatte direkten Zugang zu Annas Favoriten.99 In allen drei eben skizzierten Verfahren spielte Ušakov eine Rolle. Einen Beweis für die in der älteren sowjetischen Historiographie verfochtene These, die Verfahren hätten durchweg „objektiv“ die Interessen des niederen Adels gegen die Aristokratie bedient, liefert seine Person jedoch nicht. So hatte z. B. das erwähnte „Projekt“ des Prozessopfers Volynskij generell adelsfreundliche Züge, die auch den Anliegen des niederen Adels entsprochen hätten.100 Ušakovs Geheimkanzlei war – ebenso wie die petrinischen Vorgängerbehörden – innerhalb der Zentralbürokratie weitgehend autonom, weil sie nicht dem Senat unterstand. Im Behördengefüge der Zeit fällt die Geheimkanzlei jedoch keinesfalls durch reiche personelle Ausstattung auf.101 Wie schon seinen Vorgängern, stand Ušakov allerdings zusätzlich Personal aus den Garderegimentern zur Verfügung. Im spezifischen Charakter der Garde in den 1730er Jahren könnte ein zweiter Grund dafür liegen, dass sich das Misstrauen der Zarin infolge der Ereignisse des Jahres 1730 so stark in Prozessen gegen Adlige niederschlug.102

5.2 Positionierung und Struktur der Garde

Um die Rolle der Garde in den Majestätsverbrecherprozessen unter Anna Ioannovna bewerten zu können, ist ein Rückblick auf die Zeit Peters des Großen erforderlich. Eine der Vorgängerbehörden der Geheimkanzlei unter Anna Ioannovna, der oben erwähnte Preobraženskij prikaz, war im Herzen des ältesten Garderegiments gegründet worden. Im Interesse der Garderegimenter spielte der Preobraženskij prikaz denn auch eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung dessen, was Jahrzehnte des Aufbaus stehender Truppen europäischen Typs von der militärischen Organisation des Moskauer Reiches zu Beginn der Herrschaft Peters noch übrig gelassen hatten. Während die Existenz irregulärer Truppen an der Peripherie vorerst nicht in Frage gestellt wurde, galten die auch im Reichsinnern dienenden stehenden Formationen älteren Typs, die Verbände der nichtadligen, aber in vieler Hinsicht privilegierten Strelitzen, als überflüssig. Ihre Rolle als Militärmacht in der Residenzstadt, die in Konfliktsituationen politischen Einfluss ausübte, übernahm die Garde. 99 100 101

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˙ Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 232. Neben der erwähnten Vergabe von Ämtern nur an Adlige auch das Branntweinmonopol ˙ für diesen Stand: Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 265, s.o. ˙ Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 244. Den Charakter einer regelrechten Geheimpolizei, als welche selbst wissenschaftliche Darstellungen diese Behörde gern charakterisieren (s.o.), hatte sie also mitnichten. Auf die Schlüsselrolle der Garde hat schon John Keep aufmerksam gemacht; vgl. Keep: The Secret Chancellery (wie Anm. 1), allerdings zielte er auf die Garde als Kontrollproblem für die Autokratie ab, nicht als Akteur in den Prozessen.

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Nach der Niederschlagung des Aufstands der Moskauer Strelitzen 1698 waren unter Federführung des Preobraženskij prikaz zahlreiche Todesurteile gefällt und mehr als tausend Strelitzen hingerichtet worden.103 Um die reguläre Armee im Allgemeinen und die Garde im Besonderen gegenüber der Moskauer militärischen und gesellschaftlichen Ordnung zu etablieren, war jedoch mehr erforderlich: Die Strelitzen als Träger der Tradition mussten ihrer Ehre entledigt werden, um ihre Unterdrückung zu rechtfertigen und um die neue Armee in gebührender Weise mit Ehre auszustatten. In diesem Sinne verfolgten Peters Preobraženskij prikaz und auch noch Anna Ioannovnas Geheimkanzlei Fälle, in denen Personen als „Strelitzen“ beschimpft worden waren.104 Gewissermaßen komplementär wurden Verfahren wegen „ungehöriger Worte“ über Personen und Symbole der regulären Armee in ihrer Funktion als langer Arm des Herrschers beziehungsweise der Herrscherin geführt. Über die Verfolgung verbaler Majestätsbeleidigung wurde die Ehre der neuen Armee gegen eine mit deren Unterhalt schwer belastete und dementsprechend unwillige Bevölkerung verteidigt.105 Die enge Verbindung des Preobraženskij prikaz mit dem gleichnamigen Garderegiment dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die Garde direkt Funktionen in Prozessen wegen Majestätsverbrechen übernahm. Seit Ende des 17. Jahrhunderts oblag Angehörigen der Garde die Festnahme von Personen, die eines Majestätsverbrechens oder der Korruption verdächtigt wurden. Mitglieder der Garde stellten auch die Listen des zu konfiszierenden Eigentums der Betroffenen zusammen.106 Wenig überraschend brachten es die höheren Polizeifunktionen der Garde mit sich, dass Mitglieder dieser Regimenter bei der Neuverteilung konfiszierter Güter verurteilter Adliger reichlich bedacht wurden. Das wiederum bedingte handfeste Interessen, die Auswirkungen auf das politische Handeln der Gardemitglieder hatte: Wer von der Verurteilung des einen oder anderen hoch gestellten und entsprechend reichen Herrn profitiert hatte, musste darauf bedacht sein, dass ein Wechsel auf dem Zarenthron und eine Neuverteilung herrscherlicher Gnade und Ungnade dies nicht rückgängig machten.107 Zwei Umstände trafen in der Zeit Anna Ionnovnas zusammen. Zum einen wurde die Garde, wie Lorenz Erren betont, in diesen Jahren deutlich vom Adel dominiert, was von der Herrscherin gewünscht und gefördert wurde.108 Zum anderen hatten die Ereignisse des Jahres 1730 gezeigt, dass sich in der Garde Haltungen durchsetzen konnten, die von mittleren und niederen Adligen ver-

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Viktor Ivanovič Buganov: Moskovskie vosstanija konca XVII v. Moskau 1969, S. 404. Noch im Jahr 1725: RGADA f. 371 o. 1 d. 2529 l. 6, d. 2604 ll. 1–1ob., 4, d. 2488; selbst noch 1733: Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 327. Beispiele: Rustemeyer: Dissens und Ehre (wie Anm. 17), S. 277–283. Smirnov: Russkaja gvardija (wie Anm. 45), S. 22. Ebd., S. 61. Erren: Rossijskoe dvorjanstvo (wie Anm. 29), S. 69.

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treten wurden. Die Garde hatte sich in einem Schlüsselmoment als von der Aristokratie unabhängig erwiesen. Als Adelsinstitution ständisch legitimiert und zugleich durchaus mit eigenem politischem Profil, realisierte die Garde als Akteurin in Verfahren gegen Adlige wegen Majestätsverbrechen unter Anna gewissermaßen die petrinische Militärmonarchie. Allerdings waren dem Grenzen gesetzt. Nach Annas Tod verschoben sich in der Garde die Kräfteverhältnisse, und 1741 bestimmten die Sympathien nichtadliger Gardemitglieder das Vorgehen der Garde in der Thronfolgekrise.109 Somit nicht mehr deutlich als Adelsinstitution markiert, war die Garde als Akteur für Prozesse gegen Adlige womöglich disqualifiziert. Die spezifische Konstellation in Geheimkanzlei und Garde schuf günstige Bedingungen für jene Verfahren, für die Anna Ioannovna berüchtigt ist. Ein weiterer Faktor, der unter Anna Prozessen wegen Majestätsverbrechen gegen Adlige Auftrieb gegeben haben könnte, ist die Verschärfung der Pflicht, Majestätsverbrechen jeder Art anzuzeigen. Die Hofdienerschaft wurde noch einmal per feierlichen Eid zur Anzeige alles Verdächtigen verpflichtet.110 Die Obrigkeit versuchte überdies, die Adligen mit martialischen Mitteln davon zu überzeugen, dass die Pflicht, Majestätsverbrechen jeder Art nicht nur stets, sondern stets sofort anzuzeigen, auch für sie bedingungslos gelte. 1732 erhielt ein Adliger wegen seiner Säumigkeit bei einer Meldung die Knute.111 Allerdings war die Anzeige gegen Spitzen der soziopolitischen Ordnung, selbst wenn sie von Adligen selbst ausging und somit als Instrument innerständischer Kontrolle gehandhabt wurde, ein zweischneidiges Schwert. Die Abhängigkeit von Anzeigen schränkte die Lenkbarkeit der Verfahren ein. Um dies zu demonstrieren, soll noch ein viertes Verfahren gegen einen hohen Adligen skizziert werden: das gegen den Smolensker Gouverneur Aleksandr Andreevič Čerkasskij von 1734.112 Čerkasskij hatte ein politisches Komplott geplant, das ohne große Erfolgschancen, aber mit weitreichenden Plänen verbunden war. Es ging um nichts Geringeres als die Einsetzung des Herzogs von Holstein als Nachfolger Anna Ioannovnas, um die Einsetzung Stanisław Leszcyzńskis als polnischem König (was den russländischen Plänen zuwiderlief) und die Wiedereingliederung des 1654 vom Moskauer Reich eroberten Smolensk in den polnisch109

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Von 308 Gardemitgliedern, die 1741 die Tochter Peters des Großen Elisabeth auf den Thron brachten, waren nur 54 adliger Herkunft; vgl. Erren: Rossijskoe dvorjanstvo (wie Anm. 29), S. 69–70 unter Berufung auf Anisimov und Kurukin. ˙ Kurukin: Epocha (wie Anm. 73), S. 228. Konstantin Gennad’evič Pereladov: Zakonodatel’nye akty v sfere političeskogo syska (1730–1762 gg.), in: Elena Konstantinovna Romodanovskaja (Hrsg.), Obščestvennaja mysl’ i tradicii russkoj duchovnoj kul’tury v istoričeskich i kul’turnych pamjatnikach XVI–XX vv. Novosibirsk 2005, S. 84–92, hier S. 85. RGADA f. 6 o. 1 d. 188; kurze Ausschnitte in: M. Michajlov (Hrsg.): Sbornik istoričeskich materialov i dokumentov, otnosjaščichsja k novoj russkoj istorii XVIII–XIX vv. St. Petersburg 1873, S. 198–239.

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litauischen Staat. Čerkasskijs Komplize aus dem Kreis des polnisch geprägten Adels in der Region – der Smolensker šljachta – zeigte das Komplott an. Im Verlauf des Verfahrens gelang es dem Vorsteher der Geheimkanzlei, dem Fürsten Čerkasskij ein Geständnis abzupressen.113 Doch geriet die Lage auf dessen Gütern außer Kontrolle. 41 Personen waren bei Smolensk in Haft genommen worden, für deren Unterhalt die Bauern Čerkasskijs aufkommen sollte. Das provozierte Widerstand. Dem Beauftragten der Untersuchungskommission gelang es nicht, die durch die Verhaftung des Fürsten eingebrochene Autorität zu kompensieren. Im Frühjahr 1734 brachen heftige Bauernunruhen los, die erst im September unterdrückt werden konnten.114 Damit nicht genug, geriet im Laufe des Verfahrens die gesamte Smolensker šljachta – eine im Spiel um russländischen Einfluss in Polen-Litauen nicht unbedeutende Gruppe – unter Verratsverdacht. Dieser erwies sich als falsch, und die Zarin musste die Smolensker Adligen mit Rangerhöhungen entschädigen.115 Verfahren gegen die Spitzen der soziopolitischen Ordnung konnten also in den Regionen destabilisierend wirken. Anzeigen wegen Majestätsverbrechen waren gerade aufgrund ihrer Durchschlagkraft unberechenbar. Kein Wunder, dass die Obrigkeit es auch unter Anna bei allem Interesse an triftigen Meldungen vermied, dem massenhaften Gebrauch von Anzeigen – und das wäre wohl die Anzeige Abhängiger gegen ihre Herren gewesen – Vorschub zu leisten. Von den Behörden ernst genommene Anzeigen Leibeigener gegen ihre wohlgeborenen Eigentümer blieben Ausnahmen.116 Die Autokratie gerierte sich auch unter Anna mitnichten als Beschützerin der Abhängigen. So gesehen wurden bei der Verfolgung von Majestätsverbrechen selbst in einer Zeit, in der der Adel davon stark betroffen war, die Standesgrenzen dort, wo sie am schärfsten waren, respektiert. Keine ernsthaften Argumente gibt es für einen nationalen Konflikt als Motor der Verfahren gegen Adlige unter Anna Ioannovna. Gardeangehörige ermittelten mit Eifer in Strafprozessen gegen die Gegner des deutschbaltischen Favoriten von Biron,117 aber dies lässt sich ebenso wenig nationalen 113 114 115 116

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Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 246. RGADA f. 6 o. 1 d. 188 č. VIII (1) ll. 1–16 ob. Siehe das entsprechende Manifest ebd., č. I (2), l. 102. Im Todesjahr Peters des Großen 1725 laut Findbüchern – f. 371, Preobraženskij prikaz, o. 1, f. 7, Geheimkanzlei, o. 1 – keine solchen Anzeigen, aus dem Jahr 1735 in f. 7 eine einzige Anzeige von ca. sechzig als solche identifizierbar (o. 1 d. 431 a). Nicht berücksichtigt wurde bei dieser Zählung f. 349. Dieser Bestand enthält Meldungen aus Moskau und dem gesamten Rest des Reiches an das Moskauer Kontor der Geheimkanzlei; als wichtig betrachtete wurden nach St. Petersburg weitergeleitet, bei den verbliebenen handelt es sich vorwiegend um Anzeigen, die als Verleumdungen eingestuft wurden. – Über die Seltenheit von Anzeigen Abhängiger gegen ihre eigenen Herren in den 1730er Jahren insgesamt Tat‘jana Vasil’evna Černikova: Političeskie processy 30-ych gg. XVIII v. v Rossii, Diss. Moskovskij gosudarstvennyj universitet, Moskau 1989, S. 154. Smirnov: Russkaja gvardija (wie Anm. 45), S. 6.

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Sympathien oder Antipathien zuschreiben wie die „ungehörigen Worte“ über den Favoriten, die unter Anna verfolgt wurden.118 Im Hinblick auf „Russland als Vielvölkerreich“ (Kappeler) fällt ein ganz anderer Aspekt ins Auge: Adlige Anführer der Baschkirenaufstände im Südural wurden offensichtlich ohne die Geheimkanzlei und speziell für Ermittlungen und Verurteilungen wegen Majestätsverbrechen geschaffene Kommissionen gerichtet und bestraft.119 Die Verfahren wegen Majestätsverbrechen gegen Adlige grenzten somit einen Kreis von Eliteangehörigen, deren Illoyalität sie sanktionierten, von jenen ab, deren Illoyalität als „fremde“ Eliten an der Peripherie des Reiches anderweitiger Ahndung unterlag. Diese Exklusivität der Verfahren blieb in der Historiographie unbeachtet. Stattdessen wurde der Mythos vom Terror der Fremden kultiviert, der sich in den Prozessen unter Anna Ioannovna niedergeschlagen habe. Dies war eine Vorlage für die wirkungsvolle Denkfigur einer von der Emanzipation des Russentums getragenen Humanisierung unter Annas mittelbarer Nachfolgerin Elisabeth in der Historiographie, die, wie Tat’jana Černikova gezeigt hat, in ihren Ursprüngen bereits auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgeht.120

6. Ständisches Prinzip und Rückgang der Prozesse Zwei der fünf Nachfolgerinnen und Nachfolger Anna Ioannovnas im 18. Jahrhundert hatten ihr gegenüber keinerlei Legitimitätsvorsprung. Elisabeth wurde etwa ein Jahr nach Annas Ioannovnas Tod durch einen Putsch der Garde gegen den von Anna ernannten und somit legitimen Thronfolger beziehungsweise seine die Regentschaft führende Mutter auf den Thron gebracht; ihren Vorgänger ließ Elisabeth in die Festung Schlüsselburg einsperren. Katharina ließ ihren Gatten Peter III. ein knappes Jahr nach seiner 118

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Černikova kennt nur wenige Fälle, in denen es tatsächlich um Kritik an der Macht der „Ausländer“ ging; die in den Prozessakten überlieferte Kritik am Favoriten zeuge eher von „antioligarchischen“ Stimmungen als von einem nationalen Konflikt; vgl. Černikova: Gosudarevo slovo i delo (wie Anm. 2), S. 160. Über solche Exekutionen: Nikolaj Vladimirovič Ustjugov: Baškirskoe vosstanie 1737– 1739 gg. Moskau/Leningrad 1950, S. 138. Es existierte eine Senatskommission, die für die Niederschlagung des Aufstands insgesamt zuständig war (ebd., S. 13). Die Staatsvertreter in der Region, unter ihnen der Historiker Vasilij Nikitič Tatiščev, der bereits als Informant in Verfahren wegen Majestätsverbrechen in Erscheinung getreten war und dem diese Verfahren mithin vertraut waren, standen im Austausch mit Kabinett und Senat (ebd., S. 11–16). Ich fand keine Hinweise auf eine Beteiligung der Geheimkanzlei an der Abrechnung mit Anführern der Aufstände, weder in den Findbüchern der Archivbestände der Geheimkanzlei noch in Quellenpublikationen zu diesen Revolten; vgl. zuletzt Natal’ja Fedorovna Demidova (Hrsg.): Materialy po istorii Baškortostana. Bd. VI. Orenburgskaja e˙kspedicija. i baškirskie vosstanija 30–ch godov XVIII v. Ufa 2002. Černikova: Gosudarevo slovo i delo (wie Anm. 2), S. 160.

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Thronbesteigung ermorden. Dementsprechend verfügte auch sie über keinerlei Willensbekundung ihres Vorgängers, die sie nach petrinischer Rechtslage als Nachfolgerin legitimiert hätte. Die beiden Kaiserinnen hatten also allen Anlass, oppositionelle Regungen bis hin zu Äußerungen über ihre Personen verfolgen zu lassen, weil der Verdacht einer Infragestellung ihrer Legitimität stets bestand. Dennoch unterschieden sich die Prozesse wegen Majestätsverbrechen in den langen Herrschaftsperioden Elisabeths und Katharinas von denen in der Zeit Anna Ioannovnas. Unter Elisabeth fanden zwar mehr Prozesse statt als unter Anna, doch waren die Strafen weniger grausam, und die Folter wurde gemäßigt.121 Partiell bahnte sich auch bereits ein quantitativer Rückgang der Prozesse an. Diese Tendenzen setzten sich unter Katharina fort. Wodurch war die insgesamt geringere Rigorosität in der Verfolgung von Majestätsverbrechen bedingt? Zweifellos spielten Anforderungen an die Repräsentation der Zarenherrschaft, die sich von denen unter Anna Ioannovna unterschieden, hier eine gewisse Rolle. Elisabeths zweifelhafte Legitimität stützte sich auf das rasch ausgeformte Narrativ von der unterdrückerischen „Fremdherrschaft“ (inozemnoe zasil’e) unter Anna, und dies erforderte deutlich größere Milde.122 Elisabeth verstand sich noch nicht als aufgeklärte Herrscherin. Katharina hingegen schrieb die europäische Aufklärung auf ihre Fahnen und bezog unter Berufung darauf explizit gegen Auswüchse bei der Verfolgung von Majestätsverbrechen Stellung.123 Weder das Selbstbild der gnädigen russischen Herrscherin noch das der aufgeklärten Monarchin erklärt jedoch letztlich den Wandel in der Verfolgung von Majestätsverbrechen, die ja viel mehr als die Umsetzung eines Herrscherbildes in Herrschaftshandeln gewesen war. Bemerkenswert ist auch, dass alle Abgrenzung von der „Fremdherrschaft“ keine komplette Rehabilitierung von Personen herbeiführte, die in dieser nunmehr berüchtigten Zeit wegen Majestätsverbrechen verurteilt worden waren.124 Die Gründe für die zunächst insgesamt mildere und später dann rückläufige Verfolgung von Majestätsverbrechen nach 1740 müssen also tiefer liegen. Zu suchen sind sie in einer veränderten Wahrnehmung der Ressourcen, auf die sich die Autokratie stützte, sowie in Ordnungskonzepten, die an die petrinischen Reformen anknüpften, dabei aber neue Akzente setzten. Unter Peter war die Verfolgung von Majestätsverbrechen befördert worden durch den demonstrativen Zugriff auf Fremde verschiedenster Provenienz als Unterstützer herrscherlicher Reform- und Expansionspolitik. Alte und Neue

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Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 442; ders.: Russkij zastenok. Tajny Tajnoj kanceljarii, Moskau 2010, S. 386; Kurukin/Nikulina: Povsednevnaja žizn’ (wie Anm. ), S. 341. Anisimov: Zastenok (wie Anm. 121), S. 373. Ihrer Kayserlichen Majestät Instruction für die zu Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen Gesetz-Buche verordnete Commission, St. Petersburg 1770, S. 303–4, Nr. 470, S. 309, Nr. 477. Anisimov: Zastenok (wie Anm. 121), S. 376.

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waren unter dem Dach des Staatsdiensts zu integrieren. Unter diesen Umständen herrschte nicht nur besondere Aufmerksamkeit gegenüber möglichen verräterischen Machenschaften, sondern auch gegenüber der subversiven Wirkung von Verratsvorwürfen, die die Konkurrenz zwischen den höchst disparaten Stützen der Autokratie hervorrief. Beides förderte die Bereitschaft, nicht nur suspektes Verhalten durch die Privilegierung der Anzeige von Majestätsverbrechen zur Kenntnis der Obrigkeit bringen zu lassen, sondern auch verbale Äußerungen über die Illoyalität von Untertanen gegenüber dem Zaren streng zu verfolgen. Zwar war das Personal der Autokratie unter Elisabeth in der Realität auch nicht komplett autochthon. Doch bedingte das demonstrierte Selbstverständnis der Herrscherin als einer Monarchin, die sich auf autochthone Kräfte stützte, dass die Herrscherin und ihre Umgebung weniger Integrationserfordernisse sahen. Hinzu kam ein Verständnis der verschiedenen Funktionen im Staatsdienst, das die petrinischen Reformen vorbereitet hatten, das aber zweifellos erst im Laufe der auf sie folgenden Jahrzehnte zum Tragen kam. Im Zuge der Verwissenschaftlichung von Militär und Verwaltung wurde immer deutlicher, dass militärische Erfolge und administrative Effizienz nicht so sehr eine Frage der Loyalität zum Herrscher wie eine Frage der Kompetenz waren. Dies alles trug dazu bei, dass der Stellenwert von Verratsvorwürfen in all ihren Varianten – als präventive Drohung des Herrschers gegen Staatsdiener, als Erklärung für deren Misserfolge, aber auch als unautorisiert im Konkurrenzkampf der Dienstleute eingesetzte und somit obrigkeitlich zu verfolgende Ehrverletzung – zurückging. Die Atmosphäre, die die strikte Verfolgung jeder Andeutung eines Majestätsverbrechens befördert hatte, entspannte sich. Ein Projekt für ein neues Strafrecht von 1754 sah einen milderen Umgang zumindest mit verbaler Majestätsbeleidigung vor.125 Es trat nie in Kraft, ebenso wenig wie später ein geplantes aufklärerisches Gesetzbuch Katharinas II. Doch haben womöglich schon die Entwürfe Impulse für einen Abbau der Verfolgung zumindest der verbalen Majestätsbeleidigung gegeben. Überdies realisierte Elisabeth das ständische Ordnungsprinzip, das Peter eingeführt hatte, in einer Weise, die das Kriminalisierungspotenzial dieser leichtesten Form des Majestätsverbrechens abschwächen sollte. In einem Ukas gegen „erlogene Nachrichten“ und „lasterhaftes Gerede“ über „staatliche, politische und militärische Angelegenheiten“ drohte die Kaiserin deren Urhebern und versprach zugleich ihr Wohlwollen dem, „der sich allein entsprechend seinem Amt, seinem Stand und seinem Handwerk befleißigt“126 . Unautorisierte Äußerungen über Staatsangelegenheiten waren aus dieser Sicht nicht mehr Majestätsbeleidigung, sondern Verletzung der Standesdisziplin. Das ständische Prinzip dürfte sich, wie oben erwähnt, auch auf die Einschätzung der Garde als einem bedeutenden Akteur in den Verfahren ausge125 126

Anisimov: Dyba (wie Anm. 13), S. 86–88. Polnoe sobranie zakonov rossijskoj imperii. Erste Sammlung, Bd. XIV, St. Petersburg 1830, S. 771, Dokument Nr. 10 733.

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wirkt haben. In der Krise von 1730 war die Garde als bewaffneter Arm der Adelsschichten unterhalb der Aristokratie in Erscheinung getreten. Elf Jahre später dominierten in den Gardeeinheiten, die Elisabeth zum Thron verhalfen, nichtadlige Elemente. Zahlreiche große Prozesse gegen Adlige unter reger Beteiligung der Garde, wie es sie unter Anna gegeben hatte, hätten somit womöglich das ständische Prinzip wieder in Frage gestellt. Angesichts der Vorbehalte gegen unkontrollierte Anzeigen Abhängiger dürfte sich auch ein Wandel im sozialen Profil derjenigen, die mit Anzeigen wegen Majestätsverbrechen auftraten, auf die Bereitschaft der Obrigkeit, Majestätsverbrechen selbst in ihren geringfügigeren Ausprägungen zu verfolgen, ausgewirkt haben. Am Ende der Epoche Peters des Großen waren die dominierende Gruppe unter den Anzeigenden Militärangehörige gewesen, was dem Kontrollinteresse der Obrigkeit entsprach. Dreißig Jahre später dominierte zumindest unter den Urhebern der als falsch eingestuften Anzeigen das leibeigene Gesinde.127 Selbst wo sich dessen Anzeigen nicht gegen die eigenen Herren wandten, dürften sie in ihrer großen Zahl der Obrigkeit kaum willkommen gewesen sein. Anzeigen von Untergebenen gegen ihre Herrschaften hatten sich selbst unter Anna nicht in nennenswertem Maße gegen ihren traditionell schlechten Ruf und eine ihnen vorbeugende Rechtslage durchsetzen können. Diese Vorbehalte und der scheele Blick der Obrigkeit auf das Gesinde als eine Gruppe, die eine unverkennbare Gefahr für die gute Policey darstellte,128 trafen im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zusammen und ließen die Anzeige mehr denn je als potenzielle Quelle der Desinformation erscheinen. Dies traf direkt vor allem das Moskauer Kontor der Geheimkanzlei, wo die Fälle missbräuchlicher Verwendung der Anzeige von Majestätsverbrechen verblieben. Aber auch die Geheimkanzlei blieb nicht unberührt von der Entwicklung, denn das Verhältnis von Anzeigen, die als triftig eingestuft wurden, und als Missbräuchen identifizierten Meldungen verschob sich insgesamt zugunsten Letzterer.129 Die Geheimkanzlei behauptete unter Elisabeth ihr Recht, Senat wie Synod bestimmte Informationen zu verweigern.130 Aber rechtfertigte ihre Funktion in den Augen der Obrigkeit noch ihre besondere Stellung? Unter Elisabeths Nachfolgern Peter III. und Katharina II. war dies offenkundig nicht mehr der Fall. Der Abbau der privilegierten Anzeige von Majestätsverbrechen131 stand ebenso an wie eine Umwandlung der Behörde, die solche Anzeigen behandelte. 127 128

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Vgl. RGADA f. 371 o. 1 und f. 7 o. 1 mit f. 7 o. 2 und f. 349 o. 2. Hierzu genauer Angela Rustemeyer: Majestätsverbrechen und Policey im Russland des 18. Jahrhunderts, in: Karl Härter/Beatrice de Graaf (Hrsg.), Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012, S. 23–48, hier S. 42–45. 1725 wurden knapp zwanzig Prozent der Anzeigen als triftig eingestuft, 1755 rund neun, vgl. RGADA f. 371 o. 1 und f. 7 o. 1 mit f. 7 o. 2 und f. 349 o. 2. Kurukin/Nikulina: Povsednevnaja žizn‘ (wie Anm. 46), S. 86. Durch Katharina II. im Jahr ihres Herrschaftsantritts: Abschaffung der Formel „Wort

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Angela Rustemeyer

Die Behörde zur Verfolgung von Majestätsverbrechen wurde aber keineswegs gänzlich abgeschafft.132 Als nunmehr dem Senat unterstellte „Expedition“ stand sie Katharina II. weiter zur Verfügung. Trotz aufklärerischen Bekenntnisses verzichtete Katharina denn auch keinesfalls auf Verfahren wegen Majestätsverbrechen. Allerdings wurden nur 12 der 153 „besonders wichtigen“ Verfahren im Zeitraum zwischen 1762 und 1796 gegen Adlige geführt.133 Auch unter Katharina forderten die Adligen keine rechtliche Absicherung ihres Standes gegen Anklagen wegen Majestätsverbrechen. Wo sie Einfluss auf die Verfahren nehmen konnten, etwa als Provinzgouverneure, denen Fälle verbaler Majestätsbeleidigung aus den unteren Schichten zugetragen wurden, machten sie stattdessen das Vernunfturteil des aufgeklärten Staatsdieners geltend, der Subversion von harmlosem Gerede zu unterscheiden wusste. Der Diskurs der Gouverneure über verbale Majestätsbeleidigung in den unteren Schichten erklärte diese in aufklärerischer Vormundschaft über das „Volk“ zum Ergebnis kultureller Unterentwicklung.134 Bemerkenswert ist, dass diese Position nicht primär ständisch, sondern über die kulturelle Position des aufgeklärten Beamten begründet wurde. Sein Urteilsvermögen sollte die starke Präsenz zentraler Institutionen nunmehr überflüssig erscheinen lassen. Der Verzicht auf die Forderung nach rechtlichen Garantien gegen Anklagen wegen Majestätsverbrechen für den eigenen Stand, wie sie der Adel in Polen-Litauen bereits im 16. Jahrhundert durchgesetzt hatte, ist für das Selbstverständnis der Adligen im Russland des 18. Jahrhunderts charakteristisch. Ebenso charakteristisch ist für die petrinische und nachpetrinische Autokratie, dass sie bei aller Bedeutung, die sie der Verfolgung von Majestätsverbrechen einräumte, die Verfahren gern im Rahmen innerständischer Kontrolle beließ. Dies betrifft insbesondere die Anzeige wegen Majestätsverbrechen: Ausgestattet als Instrument, diesbezügliche Meldungen auch aus den unteren sozialen Schichten und selbst aus fernen Gegenden des Reiches der Zentralverwaltung zuzutragen, ließ die Anzeige erfolgreiche Justiznutzung durch Angehörige anderer Stände zu Lasten Adliger doch nur

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und Angelegenheit des Herrschers“. Polnoe sobranie zakonov. Erste Sammlung, Bd. XVI, St. Petersburg 1830, Dokument Nr. 11 687, S. 82–86. Laut Konstantin Pereladov handelte es sich bei der Umbenennung dieser Behörde und ihrer Unterstellung unter den Senat um einen Schachzug Peters III., der die Prozesse wegen Majestätsverbrechen auf diesem Wege seinen persönlichen Vertrauten übertrug: Konstantin Gennad’evič Pereladov: Političeskaja bor’ba v Rossii v seredine XVIII veka i likvidacija kanceljarii Tajnych rozysknych del, in: Elena Konstantinovna Romodanovskaja (Hrsg.), Problemy istorii, russkoj knižnosti, kul’tury i obščestvennogo soznanija, Novosibirsk 2000, S. 367–377, hier 377. Černikova: Gosudarevo slovo i delo (wie Anm. 2), S. 157. Zu diesem Diskurs und seinen Hintergründen vgl. Angela Rustemeyer: Prestupnik v optike Prosveščenija. Normotvorčestvo administrativnoj e˙lity v otnošenii deviantnogo povedenija v rossijskoj provincii XVIII v., in: Glagoleva/Schierle (Hrsg.), Dvorjanstvo (wie Anm. 12), S. 433–466, hier S. 450–463.

Adel und Majestätsverbrechen im Russland Peters des Großen

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begrenzt zu. Über die bei bedeutenden Verfahren eingesetzten, ermittelnden und richtenden Kommissionen sowie über die Garde waren verschiedene Schichten im Adel an Verfahren gegen Adlige beteiligt. Der Höhepunkt der Verfolgung Adliger wegen Majestätsverbrechen unter Anna Ioannovna fiel bezeichnenderweise in eine Zeit, in der die Garde klar als Adelsinstitution profiliert war. Waren die Verfahren wegen Majestätsverbrechen dennoch letztlich eine Waffe der Autokratie, die die propagierte Einheit des adligen Standes immer gleich wieder untergrub und den Adel so gefügig hielt? Das würde voraussetzen, dass sich die Autokratie trennen ließe von den Individuen und Clans, die die jeweiligen Herrscher und Herrscherinnen umgaben und, wie die Serie spektakulärer Verfahren unter Anna zeigt, im Machtkampf auch das Majestätsverbrechen zu instrumentalisieren versuchten. Eine solche Trennung ist kaum möglich. In jedem Fall waren die Verfahren wegen Majestätsverbrechen im Russland des 18. Jahrhunderts Erscheinungen der Transformation des sozialen Gefüges und der Ordnungskonzepte des Moskauer Reiches, die, anders als die Reformen Peters des Großen suggerierten, Jahrzehnte in Anspruch nahm und sich nie in der Standesbildung erschöpfte.

III. Adelige Justiznutzung und oberste Gerichtsinstitutionen im Alten Reich

Tobias Schenk

Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel BrandenburgPreußens 1. Einführung Die Feststellung, dass die Reichsgeschichtsforschung seit mehreren Jahrzehnten zu den produktivsten Zweigen der deutschen Frühneuzeithistoriographie zählt und dass das lange als Verfallsprodukt geschmähte Alte Reich mittlerweile als prinzipiell durchaus funktionsfähiges Rechts- und Friedenssystem gewürdigt wird, dürfte gegenwärtig kaum noch auf Widerspruch stoßen. Durchaus ernüchterndes Potential besitzt jedoch die Frage, welche Zweige der Geschichtswissenschaft an diesem Paradigmenwechsel, zu dem die Reichskammergerichtsforschung einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, überhaupt partizipieren oder ihn zumindest rezipieren. Gewiss – auf Ebene der Handbücher und Überblicksdarstellungen hält das „neue Bild vom Alten Reich“1 seit einigen Jahren Einzug. Bruno Gebhardt hätte sich gewiss nicht träumen lassen, dass man den Zeitraum zwischen 1648 und 1763 einst als „Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches“2 würdigen würde. Ein disparateres Bild bieten freilich bis heute weite Teile der deutschen Landesgeschichte. Hier ist eine weitgehende Trennung von Reichs- und Landesebene nicht nur für vermeintlich „reichsferne“ Regionen zu konstatieren, sondern auch in Gegenden zu beobachten, an deren intensiver Beeinflussung durch die Judikatur des Reichskammergerichts kein Zweifel bestehen kann.3 Dies gilt beispielsweise für den Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis, aus dem prozentual betrachtet die meisten der am Reichskammergericht 1

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Anton Schindling: Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648–1806. Das neue Bild vom Alten Reich, in: Olaf Asbach/Klaus Malettke/Sven Externbrink (Hrsg.), Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 25–54. Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648– 1763, Stuttgart 2006. Siehe mit Blick auf Westfalen und Brandenburg die Überlegungen bei Tobias Schenk: Reichsgeschichte als Landesgeschichte. Eine Einführung in die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Westfalen 90 (2012), S. 107–161; ders.: Das Alte Reich in der Mark Brandenburg. Landesgeschichtliche Quellen aus den Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: JBLG 63 (2012), S. 19–71.

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Tobias Schenk

nachweisbaren Kläger stammten.4 Gleichwohl erweckt das für die Geschichte des Fürstbistums Paderborn maßgebliche Handbuch aus dem Jahr 2007 den Eindruck, über dem Paderborner Hofgericht komme nur noch der liebe Gott oder doch zumindest nicht die Reichsgerichtsbarkeit, die bei der Schilderung der Justizverfassung mit keinem Wort erwähnt wird.5 Vollends mit Blick auf Preußen wirkt die von der kleindeutschen Geschichtsschreibung gestrickte „Legende von der landesherrlichen Souveränität“6 – aller wohlfeilen Kritik an den „Borussen“ zum Trotz – bis heute munter nach. Das im Jahre des Herrn 2006 publizierte Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte sieht in den Kurfürsten von Brandenburg bzw. Königen von Preußen schon im 17. und 18. Jahrhundert „souveräne Herrscher in brandenburg-preußischen Landen“7 . Ganz im Sinne Droysens und Treitschkes, denen zufolge das Reich spätestens seit 1648 in einem Zustand anarchischer Verfassungslosigkeit seinem unausweichlichen Ende entgegen dämmerte,8 würde dies freilich bedeuten, dass der Untergang des Reiches aus Berliner Perspektive gar keine staatsrechtliche Bedeutung mehr gehabt hätte. Derartige Defizite, die nicht allein dem landes- und verfassungsgeschichtlichen Syntheseanspruch diametral zuwiderlaufen, sondern die auch die analytische Tiefenschärfe der Reichsgeschichtsschreibung unnötig einschränken, mögen vordergründig in der Inkongruenz verschiedener Forschungsnetzwerke ihre Erklärung finden. Sie gründen allerdings auch in forschungsstrategischen Schwerpunktsetzungen der jüngeren Reichsgeschichtsforschung. Denn während nicht nur für das Reichskammergericht, sondern auch für den Reichstag, die Reichskreise, das Kurkolleg und die Reichsritterschaft mittlerweile eine ganze Reihe empirischer Studien vorliegt, existiert zum Kaiseramt noch immer „keine einzige umfassende Analyse“9 . Unsere Kenntnis über das volatile Spannungsfeld von reichsständischer Liber-

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Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = künftig QFHG 36), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 35–41. Hans Jürgen Brandt/Karl Hengst: Das Bistum Paderborn von der Reformation bis zur Säkularisation 1532–1802/21, Paderborn 2007, S. 90–92. Johannes Burkhardt: Der Westfälische Friede und die Legende von der landesherrlichen Souveränität, in: Jörg Engelbrecht/Stephan Laux (Hrsg.), Landes- und Regionalgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2004, S. 197–220. Peter Brandt/Kurt Münger: Preußen, in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch/Werner Daum (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 785–850, hier S. 801. Siehe beispielsweise Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde. Leipzig 1928 (erstmals 1879), hier Bd. 1, S. 9 („so blieb der deutsche Staat in Wahrheit verfassungslos“). Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806, 4. Aufl., Darmstadt 2009, S. 170.

Der Reichshofrat als oberster Lehnshof

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tät und habsburgischem Kaisertum ist deshalb weiterhin von ganz erheblichen Ungleichgewichten gekennzeichnet.10 Vor diesem Hintergrund verbinden sich mit der laufenden Erschließung der Akten des Reichshofrats11 weitreichende Perspektiven für alle Zweige der Frühneuzeitforschung und der Rechtsgeschichte. Von welchen Größenordnungen hier die Rede ist, mag der Hinweis verdeutlichen, dass das schriftliche Erbe dieser wohl wichtigsten kaiserlichen Reichsbehörde im Magazin des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs rund 1,3 Regalkilometer füllt.12 In dieser beeindruckenden, bis heute gleichwohl kaum erforschten Schriftgutproduktion spiegeln sich zwei verfassungsgeschichtliche Tatsachen. Erstens bewältigte der Reichshofrat in seiner Funktion als Höchstgericht seit dem 17. Jahrhundert eine wesentlich größere Zahl von Prozessen als das Reichskammergericht.13 Zweitens wirkte die Behörde neben ihren gerichtlichen Funktionen auch als Beratungsgremium des Reichsoberhaupts, als Administrationsorgan für die kaiserlichen Reservatrechte und als oberster Lehnshof. Das archivalische Erbe des Reichshofrats bildet deshalb auch in qualitativer Hinsicht eine Überlieferung solitären Zuschnitts, die – zumal in Verbindung mit den übrigen Reichsbeständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs – tiefer in die deutsche Geschichte der Frühen Neuzeit hineinführt als jedes andere uns zur Verfügung stehende Quellenkorpus.

2. Adelsgeschichtliche Perspektiven der Reichshofratsforschung Kaum ein Zweig der Frühneuzeitforschung ist in ähnlicher Weise dazu prädestiniert, in Auseinandersetzung mit den Reichshofratsakten neue Per10

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Vgl. die treffende Feststellung bei Matthias Schnettger: „Principe sovrano“ oder „civitas imperialis“? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit (1556–1797), Mainz 2006, S. 6, wonach in den vergangenen Jahrzehnten „bisweilen die erste Hälfte des Begriffspaars ,Kaiser und Reich‘ und mit ihr manches andere, das weniger geeignete Anknüpfungspunkte für die Gegenwart zu bieten schien, in Vergessenheit zu geraten drohte“. Siehe Tobias Schenk: Präsentation archivischer Erschließungsergebnisse analog und digital. Das deutsch-österreichische Kooperationsprojekt „Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats“, in: Thomas Aigner/Stefanie Hohenbruck/Thomas Just/Joachim Kemper (Hrsg.), Archive im Web. Erfahrungen, Herausforderungen, Visionen/Archives on the Web. Experiences, Challenges, Visions, St. Pölten 2011, S. 187–202. Der Beitrag steht zusammen mit weiteren Projektinformationen zum Download bereit unter www.reichshofratsakten.de. Eine neuere Bestandsübersicht bildet ein Desiderat. Siehe vorerst weiterhin Lothar Groß: Reichsarchive, in: Ludwig Bittner (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1, Wien 1936, S. 273–394. Hierzu grundlegendes statistisches Material bei Eva Ortlieb/Gert Polster: Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519–1806), in: ZNR 26 (2004), S. 189–216.

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Tobias Schenk

spektiven und Fragestellungen zu entwickeln wie die Adelsgeschichte. Zur Verdeutlichung dieser These soll im Folgenden nicht von der hochkarätigen Überlieferung die Rede sein, die in den momentan zur Erschließung anstehenden, vornehmlich das 16. und 17. Jahrhundert betreffenden reichshofrätlichen Judizialserien zu Tage gefördert wurde, wenngleich sich hierfür etwa mit Blick auf die hessische Adelsgeschichte zahlreiche Anknüpfungspunkte finden ließen. Unlängst verzeichnet wurden beispielsweise dickleibige Akten zu den Konflikten zwischen den Darmstädter und Kasseler Hauptlinien des Hauses Hessen und den Nebenlinien Braubach, Rheinfels, Rotenburg und Eschwege um die Einführung der Primogenitur oder zu Auseinandersetzungen zwischen der Ritterschaft von Hessen-Kassel und ihrem Landesherrn um das ständische Selbstversammlungsrecht.14 Die Erschließung der Reichshofratsakten bildet freilich eine Generationenaufgabe. Große Teile des Bestandes werden noch über Jahrzehnte hinweg nur unzureichend verzeichnet sein. Vor diesem Hintergrund soll der Fokus der folgenden Ausführungen bewusst auf den Gesamtbestand erweitert werden, um zu verdeutlichen, dass sich die Reichshofratsforschung nicht auf die neuverzeichneten Akten beschränken sollte, da ungeachtet aller Hindernisse auch weitere Serien schon heute mit großem Gewinn bearbeitet werden können. Anknüpfen ließe sich dabei an Äußerungen des Göttinger Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter, der in den 1790er Jahren betonte, der Kaiser sei „nach dem Herkommen alter und neuer Zeiten außer allem Zweifel die Einzige, wahre, Allerhöchste Quelle alles Adels in Teutschland“15 . Das kaiserliche, durch den Reichshofrat administrierte Standeserhebungsrecht schlägt sich in mehr als 20 000 Adelsakten nieder, denen als Komplementärüberlieferung im Bestand der Reichskanzlei Hunderte von Register- und Taxbüchern16 gegenüberstehen. Allein diese Überlieferung erhebt das Österreichische Staatsarchiv in den Rang des wichtigsten Archivs für die Geschichte des Adels in Europa. In der oben genannten Zahl von 1,3 Regalkilometern sind die reichshofrätlichen Adelsakten noch 14

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Siehe Tobias Schenk: Wiener Perspektiven für die hessische Landesgeschichte: Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Archivnachrichten aus Hessen 11/2 (2011), S. 4–8 (Download des Beitrages über www.reichshofratsakten.de). Johann Stephan Pütter: Anleitung zum Teutschen Staatsrechte, Bd. 2/1. Bayreuth 1792, S. 38; ders.: Über den Unterschied der Stände, besonders des hohen und niedern Adels in Teutschland. Göttingen 1795, S. 84. Dass Standeserhebungen ein einträgliches Geschäft waren, verdeutlicht unter anderem die 1659 erlassene Taxordnung der Reichskanzlei, abgedruckt bei Johann Christian Lünig: Das Teutsche Reichs-Archiv, Bd. 1, Leipzig 1710, S. 330–333. Ein Fürstenbrief wurde beispielsweise mit 15 000, das Prädikat „Durchleuchtig“ mit 7500 und ein Ritterbrief immerhin noch mit 460 Gulden berechnet. Zu den Amtsbuchserien der Bestandsgruppe „Reichsarchive“ vgl. Tobias Schenk: Die Protokollüberlieferung des kaiserlichen Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, in: Wilfried Reininghaus/Marcus Stumpf (Hrsg.), Amtsbücher als Quellen der landesgeschichtlichen Forschung, Münster 2012, S. 125–145.

Der Reichshofrat als oberster Lehnshof

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nicht einmal enthalten, da sie im 19. Jahrhundert an die oberste österreichische Adelsbehörde abgegeben wurden und sich heute in der Staatsarchivabteilung des Allgemeinen Verwaltungsarchivs befinden.17 Die Serie enthält wichtige Quellen für den reichsunmittelbaren Adel, griff doch der Kaiser durch die Verleihung distinguierender Prädikate wie „Durchlauchtig“ und „Ew. Liebden“ in den dynastischen Wettbewerb der reichsfürstlichen Häuser ein.18 Mit Blick auf Hessen reicht die Bandbreite von dem 1707 an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt verliehenen Titel eines „Fürsten zu Hersfeld und Grafen von Schaumburg“19 bis hin zum Konzept einer Urkunde, die auf der politischen Landkarte Deutschlands in Gestalt des Kurfürstentums Hessen bis 1866 präsent blieb – die Rede ist von der Verleihung der Kurwürde an die Landgrafen von Hessen-Kassel am 24. August 1803.20 Im Kontext adeliger Rechtskultur kommt dem kaiserlichen Standeserhebungsrecht jedoch vor allem deshalb weitreichende Bedeutung zu, weil aus ihm auch in vermeintlich „kaiserfernen“ Regionen direkte Kontakte zwischen Reichshofrat und landsässigem Adel erwuchsen. Beispielsweise hat die Preußenforschung bis heute kaum wahrgenommen, dass noch 1815 25 von 71 Grafen- und 25 von 90 Freiherrenfamilien der Provinz Brandenburg ihren Adel nicht etwa einem landesherrlichen, sondern einem kaiserlichen Gnadenakt verdankten,21 und dass es sich auch bei den großen ostpreußischen Geschlechtern wie den Dohna, Dönhoff oder Finckenstein nicht um preußische, sondern um Reichsgrafen handelte. Anknüpfend an neuere Studien, die im Reichshofrat und im Reichskammergericht „komplementäre Gerichte für jeweils spezifische Klientelgruppen“22 erblicken, wäre also danach zu fragen, inwiefern die Ausübung des kaiserlichen Standeserhebungsrechts auf Seiten des landsässigen Adels Bindungen schuf, die auch in Prozessangelegenheiten die Wahl zwischen Wetzlar und Wien beeinflussten. Doch auch um das 17

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Walter Goldinger: Das ehemalige Adelsarchiv, in: MÖSTA 13 (1960), S. 486–502. Zur Kanzleiheraldik des Kaiserhofes Michael Göbl: Die Wappenmaler an den Wiener Hofkanzleien von 1700 bis zum Ende der Monarchie, in: Herold-Jahrbuch. NF 9 (2004), S. 9– 69. Einen lexikalischen Überblick über erfolgte Standeserhebungen bietet Karl Friedrich von Frank: Standeserhebungen und Gnadenakte für das Deutsche Reich und die Österreichischen Erblande bis 1806 sowie kaiserlich österreichische bis 1823 mit einigen Nachträgen zum „Alt-Österreichischen Adels-Lexikon“ 1823–1918, 5 Bde., Schloss Senftenegg 1967–1974. Heinrich Gottfried Scheidemantel/Karl Friedrich Häberlin: Repertorium des Teutschen Staats- und Lehnrechts, Bd. 2, Leipzig 1783, S. 123. ÖStA AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten, K. 183, Nr. 44. ÖStA AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten, K. 183, Nr. 42. René Schiller: Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 249–250. Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 267.

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kaiserliche Standeserhebungsrecht soll es im Folgenden nicht oder doch nur am Rande gehen. Stattdessen soll mit dem Lehnswesen ein Feld vermessen werden, das auch durch die jüngere Reichshofratsforschung kaum Beachtung gefunden hat.

3. Das Reichslehnswesen als Gegenstand der Frühneuzeitforschung Während die Mediävistik das Lehnswesen seit einigen Jahren geradezu neu entdeckt,23 tut sich die Frühneuzeitforschung mit der Thematik noch immer schwer. Zwar riefen Karl Otmar von Aretin, Matthias Schnettger und Leopold Auer die immense Bedeutung des Lehnsrechts für die Festigung der kaiserlichen Stellung in Italien während des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts in Erinnerung,24 während Barbara Stollberg-Rilinger die Funktion der Thronbelehnungen im Rahmen der „Präsenzkultur“ des Alten Reiches betonte.25 Diese verdienstvollen Einzelstudien ändern jedoch nichts daran, dass selbst neuere Handbücher, die der oberlehnsherrlichen Stellung eine große Bedeutung für die Ausübung des kaiserlichen Amtes zubilligen, nähere Ausführungen in Ermangelung grundlegender Studien schuldig bleiben müssen.26 Die einzige 23

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Im Mittelpunkt der maßgeblich durch Susan Reynolds (Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted. Oxford 1994) angestoßenen Debatte steht die Frage, ob die Annahme feudo-vasallitischer Institutionen zur Beschreibung früh- und hochmittelalterlicher Strukturen geeignet ist oder ob die zugrundeliegenden Vorstellungen erst durch frühneuzeitliche Juristen geprägt und von diesen auf frühere Jahrhunderte rückübertragen worden seien. Siehe zum gegenwärtigen Forschungsstand die Beiträge in: Jürgen Dendorfer/Roman Deutinger (Hrsg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz, Ostfildern 2010. Karl Otmar von Aretin: Der Heimfall des Herzogtums Mailand an das Reich im Jahre 1700, in: ders.: Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648–1806, Stuttgart 1992, S. 241–254; ders.: Reichsitalien von Karl V. bis zum Ende des Alten Reiches. Die Lehensordnungen in Italien und ihre Auswirkungen auf die europäische Politik, in: ebd., S. 76–163; Matthias Schnettger: Kooperation und Konflikt. Der Reichshofrat und die kaiserliche Plenipotenz in Italien, in: Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (QFHG 52), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 127–149; Leopold Auer: Reichshofrat und Reichsitalien, in: Matthias Schnettger/Marcello Varga (Hrsg.): L’Impero e l’Italia nella prima età moderna/Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit, Bologna/Berlin 2006, S. 27–40. Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, insbesondere S. 64–73, 119–131, 210–217, 287–297. Siehe beispielsweise Gotthard: Alte (wie Anm. 9), S. 5. Auch eine Durchsicht neuerer rechtshistorischer Handbücher liefert widersprüchliche Befunde. Eine große machtpolitische Bedeutung misst dem frühneuzeitlichen Lehnswesen etwa bei Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934), Heidelberg

Der Reichshofrat als oberster Lehnshof

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Monographie über das frühneuzeitliche Reichslehnswesen stammt aus der Feder des Rechtshistorikers Rüdiger von Schönberg. Sollte dessen Einschätzung zutreffen, wonach das Lehnsrecht noch im 18. Jahrhundert „eine gewaltige Macht“27 darstellte, wäre zu fragen, warum der Frühneuzeitforschung zu einem wesentlichen Bestandteil der Reichsverfassung bis heute bemerkenswert wenig einfällt. Wie groß die Forschungsdefizite weiterhin sind, verdeutlicht die von Georg Schmidt angestoßene Debatte um die Staatlichkeit des Reiches.28 Auf das Für und Wider dieser Kontroverse, die in den Jahren um die Jahrtausendwende die Gemüter erhitzte, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Zu problematisieren ist im vorliegenden Kontext lediglich die von Schmidt vorgenommene Abgrenzung eines engeren, an der sogenannten „Reichsreform“ um 1500 partizipierenden „Reichstagsdeutschlands“ von einem weiteren „Lehnsreich“ unter Einschluss Reichsitaliens. In Reichstagsdeutschland als dem eigentlichen „Reichsstaat“ habe sich danach die „kaiserliche Reichsgewalt aus der Reichsverfassung, keineswegs aus lehnsrechtlichen Gegebenheiten“ abgeleitet, so dass die Fokussierung der Forschung auf ein „imaginäres Lehenreich“ lediglich der zeitgeistigen Propagierung übernationaler Zusammenhänge diene.29

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2008, S. 149–150. Konträre Einschätzung bei Thomas Olechowski: Rechtsgeschichte. Einführung in die historischen Grundlagen des Rechts. 3. Aufl., Wien 2010, S. 170: „In der Neuzeit verlor das Lehnswesen durch das Aufkommen des absolutistischen Beamtenstaates seine politische Funktion und verfiel allmählich; die formelle Aufhebung erfolgte aber erst im 19. Jh. [. . . ] Dem praktischen Bedeutungsverlust stand eine juristische Perfektionierung gegenüber.“ In diesem Sinne auch Rudolf Weber-Fas: Epochen deutscher Staatlichkeit. Vom Reich der Franken bis zur Bundesrepublik, Stuttgart 2006, S. 52: Gegenüber der „moderne[n] Landesstaatlichkeit [. . . ] ruhte die Reichshoheit bis zuletzt auf althergebrachten, von der Realität zunehmend widerlegten lehensrechtlichen Theorien, welche die gesamtdeutsche Staatsgewalt nicht mehr zu fundieren vermochten“. Rüdiger Freiherr von Schönberg: Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, Heidelberg/Karlsruhe 1977, S. 221. Erstmals entwickelt bei Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 40–44; als neuere Zusammenfassung ders.: The Old Reich: The State and Nation of the Germans, in: R. J. W. Evans/ Michael Schaich/Peter H. Wilson (Hrsg.), The Holy Roman Empire 1495–1806, Oxford 2011, S. 43–62; Kritik u. a. bei Heinz Schilling: Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: HZ 272 (2001), S. 377–395; Wolfgang Reinhard: Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich, in: ZHF 29 (2002), S. 339–357; Holger Thomas Gräf/Alexander Jendorff/Andrea Pühringer: Staatsgewalt im Alten Reich der Neuen Zeit? Bemerkungen zu drei Neuerscheinungen und ihrer Bedeutung für die Landesgeschichte, in: HessJBLG 51 (2001), S. 257–267, hier insbesondere S. 263–265; Karl Otmar von Aretin: The Old Reich: A Federation or Hierarchical System?, in: Evans/Schaich/Wilson: Empire, ebd., S. 27–42, hier S. 40–41. Zitate bei Georg Schmidt: Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und

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Als Archivar muss man nicht im Österreichischen Staatsarchiv tätig sein, um dieser These entschieden zu widersprechen und mit Reinhart Koselleck auf das „Vetorecht der Quellen“30 zu verweisen, denn die Vorstellung eines weitgehend entfeudalisierten „Reichsstaats“ wird bereits auf territorialer Ebene durch die Aktenlage widerlegt. Landauf, landab, in weltlichen wie geistlichen, großen wie kleinen Territorien zählte der Vollzug landesherrlicher Rechtsakte auf dem Gebiet des Lehnswesens seit dem Spätmittelalter zu den zentralen Aufgaben landesherrlicher Kanzleien.31 Es dürfte deshalb schwer fallen, zwischen Kiel und München, Düsseldorf und Berlin auch nur ein einziges deutsches Staatsarchiv ausfindig zu machen, dessen Bestände zu dem Schluss verleiten könnten, dem Lehnswesen sei im 17. oder 18. Jahrhundert auf territorialer Ebene keine tragende verfassungsgeschichtliche Bedeutung mehr zugekommen. Rund 80 Regalmeter bzw. 5600 Akten und Amtsbücher mit einer Gesamtlaufzeit von 1365 bis 1810 umfasst beispielsweise der Bestand „Kurmärkische Lehnskanzlei“ im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam.32 1558 aus der kurfürstlichen Kanzlei ausgegliedert,33 bildete die kleine, aber hochkarätig besetzte Behörde, der unter anderem

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föderative Nation, in: HZ 273 (2001), S. 371–399, hier S. 377, und bei ders.: Das frühneuzeitliche Reich – Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation, in: Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 247–277, hier S. 272, 274–275; ders.: The Old Reich (wie Anm. 28), S. 46; dort ist mit Blick auf den Zeitraum vor 1806 die Rede von „two empires of different size and intensity, which denoted different strata of political concentration: the Empire of the German Nation, the complementary state that emerged on the threshold of modernity and became established in the sixteenth century, on the one hand, and the surviving medieval feudal Empire on the other. To be sure, the latter included Burgundy, large sections of northern Italy, and, depending on one’s perspective, also Bohemia, but in the early modern period served primarily to legitimize the Viennese imperial court’s sovereignty over those territories. [. . . ] Thus in the Empire of the German Nation, the division of political power between the emperor and the Estates also did not rest on the feudal basis of mutual obligation, but rather on contractual regulations of the imperial basic laws and recesses.“ Reinhard Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 176–207, hier S. 206. Bernhard Diestelkamp: Lehnrecht und spätmittelalterliche Territorien, in: Hans Patze (Hrsg.), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, Bd. 1, Sigmaringen 1970, S. 65– 96; ders.: Lehnrecht und Lehnspolitik als Mittel des Territorialausbaus, in: RhVjbll 63 (1999), S. 26–38. Heiko Wartenberg: Archivführer zur Geschichte Pommerns bis 1945, Oldenburg 2008, S. 227. Friedrich Holtze jun.: Zur Geschichte der kurmärkischen Lehnskanzlei im 16. Jahrhundert, in: FBPG 6 (1893), S. 57–81. Die administrative Verselbstständigung von Lehnskanzleien ist im 16. Jahrhundert in zahlreichen Reichsterritorien zu beobachten. Vgl. Ernst Schubert: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter. 2. Aufl., München 1996, S. 71; vgl. als Fallbeispiel Michael Scholz: Der Bischof als Landesherr. Zur Entwicklung des Hochstifts Halberstadt zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorium, in: Harz-Zs. 63 (2011), S. 25–50, hier S. 36.

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die Ausfertigung der Lehnsbriefe, die Erteilung güterrechtlicher Konsense und Titulaturangelegenheiten oblagen, weit über 1648 hinaus eine wichtige „Schaltstelle“ für die Adelspolitik des Hofes.34 Neben dem landsässigen Adel zählten zum brandenburgischen Lehnshof darüber hinaus beispielsweise die Fürsten von Anhalt und Hohenzollern, die Landgrafen von Hessen-Homburg sowie die Grafen von Mansfeld, Stolberg, Schwarzburg, Barby, Reinstein, Hoya und Holstein-Schaumburg.35 Letztmalig im Januar 1799 empfingen etwa die Stolberger die Grafschaft Wernigerode von Friedrich Wilhelm III. als Kurfürsten von Brandenburg zu Lehen.36 Ein großer Lehnshof erhöhte nicht nur die Magnifizenz des Lehnsherrn innerhalb der Adelsgesellschaft des Alten Reiches,37 sondern bot diesem darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten zu gezielter „realpolitischer“ Einflussnahme. Noch in den 1790er Jahren ließ Preußen zur juristischen und propagandistischen Vorbereitung der Mediatisierung der Reichsritterschaft in Ansbach und Bayreuth auf Geheiß Hardenbergs nach kaiserlichen Lehnsbriefen und anderen Lehnsurkunden fahnden, um diese in einer mehrbändigen Edition der Öffentlichkeit vorzulegen. In den Memoiren des Ritters von Lang, der als Archivar für diese Edition verantwortlich zeichnete, kann man nachlesen: „Diese Maschine ward unverzüglich der Sturmbock, mit dem man die Mauern der Insassen niederrannte.“38 Vor dem Hintergrund solcher Befunde kann nicht einmal für die Adels- und Territorialpolitik der preußischen Mon34

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Peter Bahl: Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 125. Zum großen Stellenwert des Lehnsrechts für die Adelspolitik Friedrichs III./I. nunmehr Frank Göse: Friedrich I. (1657–1713). Ein König in Preußen. Regensburg 2012, S. 150–152. Bis zur Umwandlung der Ritterlehen in Eigentum durch die von Friedrich Wilhelm I. dekretierte Allodifikation (1717) wurde das landesherrliche Obereigentum beispielsweise zur Einziehung von Gütern bei Lehnsfehlern des Vasallen genutzt und war „ein reales Machtmittel, kein bloßer Formalismus“; vgl. Lieselott Enders: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Spätfeudalismus im Bestand der Kurmärkischen Lehnskanzlei, in: Archivmitteilungen 6 (1984), S. 197–199, hier S. 197. Georg Wilhelm von Raumer: Nachweisung noch bestehender Lehnsverhältnisse in der preußischen Monarchie, in: Allgemeines Archiv für die Geschichtekunde des preußischen Staates 10 (1833), S. 308–356, hier S. 319–325. Das kurbrandenburgische dominium directum ging 1806 auf den König von Westphalen über und wurde von diesem aufgehoben. Preußen bestätigte dies 1822; vgl. Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 325–326. Mit Blick auf den Abt des Klosters Neuzelle, der das in der Neumark gelegene Dorf Aurith vom Kurfürsten zu Lehen trug, gutachtete die Kurmärkische Lehnskanzlei noch 1730, es habe bislang „zum splendeur des Churbrandenburgischen Haußes gereichet, daß ein bey den Catholischen Reichs-Ständen und Clero in ansehnlichen Würden stehender Praelat notwendig in Person vor dero Regierung zu Cüstrin erscheinen und den Vasallen Eyd abschweren müße“. Zitiert nach Winfried Töpler: Das Kloster Neuzelle und die weltlichen und geistlichen Mächte 1268–1817, Berlin 2003, S. 283. Memoiren des Karl Heinrich Ritters von Lang. Skizzen aus meinem Leben und Wirken, meinen Reisen und meiner Zeit, Bd. 1. Braunschweig 1842, S. 285. Zur Mediatisierung der Reichsritter nunmehr auf breiter empirischer Grundlage Michael Puchta: Mediati-

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archie, die doch den „paradigmatischen Fall frühmoderner Staatsbildung“39 in Deutschland darstellt, von einer Bedeutungslosigkeit des Lehnsrechts gesprochen werden. Dass das Lehnswesen auch auf Reichsebene – und zwar nicht nur in Italien, sondern auch in „Reichstagsdeutschland“ – weit über 1648 hinaus eminente Bedeutung für das kaiserliche Amt sowie für das Verhältnis zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen besaß, ließe sich anhand zahlloser Beispiele belegen. Heranziehen ließe sich etwa die bis 1806 maßgebliche Reichshofratsordnung von 1654, die lehnsrechtliche Materien umfangreich regelte.40 Darüber hinaus basierte das Lehnswesen keineswegs allein auf „ideas and ceremony“41 , sondern auf harter Währung, denn für die Finanzgeschichte des Kaiserhofes und die Behördenentwicklung der Reichskanzlei, die ohne die Lehnsgebühren kaum arbeitsfähig gewesen wäre, erweist sich eine Analyse des Lehnswesens als unerlässlich.42 Unzutreffend ist auch die verbreitete Ansicht, wonach die kaiserliche Oberlehnsherrlichkeit durch das den Reichsständen 1648 zugestandene Bündnisrecht weitestgehend neutralisiert worden sei und den Spielraum der Reichsfürsten als Völkerrechtssubjekte kaum noch eingeschränkt habe.43 Vielmehr hatte der Westfälische Friedensvertrag (Art. VIII § 2 IPO) das reichsständische Bündnisrecht einem lehnsrechtlichen „Treuevorbehalt“ unterworfen.44 Wer als Reichsfürst geschworen hatte, der „Kaiserl. Maj., allen derselben Nachkommen am Reich, Römischen Kaisern und Königen, und dem H. Reich, treu, hold, gehorsam und gewärtig seyn“45 zu wollen, war nicht souverän und wurde auf europäischer Ebene auch nicht so behandelt. Der Große Kurfürst bekam vielfach zu spüren, dass der hierarchisch aufgebaute Reichslehnsverband und das sich formierende europäische Mächtesystem zwei nicht miteinander kompatible „Klassifikationssysteme“46 bildeten. 1656 sah er sich beispielsweise mit der Forderung des Zaren kon-

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sierung „mit Haut und Haar, Leib und Leben“. Die Unterwerfung der Reichsritter durch Ansbach-Bayreuth (1792–1798), Göttingen 2012. Reinhard: Staat (wie Anm. 28), S. 352–353. Ordnung abgedruckt bei Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766 (QFHG 8/I, II), Köln/Wien 1980–1990, hier Bd. 2, S. 45–260. Schmidt: The Old Reich (wie Anm. 28), S. 61. Allein in der Regierungszeit Karls VI. (1711–1740) sollen sich die Lehnsabgaben auf schätzungsweise 1,2 Millionen Gulden belaufen haben. Siehe Schönberg: Reichslehen (wie Anm. 27), S. 145. Rudolf Vierhaus: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648–1763). 2. Aufl., Göttingen 1984, S. 23. Anton Schindling: Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991, S. 32–33. Formular des reichsfürstlichen Lehnseides abgedruckt bei Scheidemantel/Häberlin: Repertorium (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 348–349. Barbara Stollberg-Rilinger: Völkerrechtlicher Status und zeremonielle Praxis auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: Michael Jucker/Martin Kintzinger/Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 147–164, Zitat S. 163; vgl. André Krischer: Das

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frontiert, diesem seine Lande zu Lehen aufzutragen oder aber zu versichern, „daß die Lehnbarkeit des Churfürsten von Kaiser und Reich der Hoheit desselben keinen Eintrag thue. Erst nachdem dieser letztere Eid [durch den kurfürstlichen Gesandten], wiewohl in willkührlichen Worten wirklich geleistet worden, bequemte sich der Czaar zu einer Courtoisie, wie gegen andere gekrönte Häupter“47 . Der Aufstieg Brandenburg-Preußens in die Pentarchie der europäischen Großmächte erforderte deshalb nicht allein eine hinreichende territoriale, militärische und ökonomische Machtbasis, sondern setzte eine schrittweise Emanzipation von oberlehnsherrlichen Aufsichtsfunktionen voraus. Doch zurück ins Reich: Auch ein Blick auf die Reichsacht48 als eines der schärfsten der frühneuzeitlichen Strafjustiz zu Gebote stehenden Instrumente verdeutlicht, dass das Lehnsrecht nicht außerhalb der Reichsverfassung zu verorten ist, sondern einen wichtigen Teil derselben bildete. Gewiss hatte die kaiserliche Ächtungsgewalt bereits im 16. Jahrhundert durch die Wahlkapitulation Karls V., den Reichslandfrieden von 1521 und die Reichskammergerichtsordnung von 1555 reichsrechtliche Einschränkungen erfahren, die das Reichsoberhaupt dazu verpflichteten, niemanden ohne vorangegangene Zitation in die Acht zu erklären.49 Darüber hinaus setzten die Kurfürsten, beginnend mit der Wahlkapitulation für Ferdinand III. aus dem Jahr 1636, ihren Anspruch durch, dass eine kaiserliche Acht gegen einen Kurfürsten nur mit Zustimmung der übrigen Kurfürsten verhängt werden dürfe.50 So wichtig diese reichsrechtlichen Verbindlichkeiten auch waren, bliebe die verfassungsgeschichtliche Bedeutung der kaiserlichen Ächtungsgewalt ohne eine Berücksichtigung des Lehnsrechts unverstanden. Denn dass der Kaiser die im Laufe des Dreißigjährigen Krieges wegen notorischen Landfriedensbruchs ausgesprochenen Achterklärungen mit der Schutzpflicht

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Gesandtschaftswesen und das vormoderne Völkerrecht, in: ebd., S. 197–239, hier S. 235 („Reichsverfassung und europäische Völkerrechtspraxis nicht miteinander kompatibel“). Zitiert nach Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 308–309. Friedrich Battenberg: Art. Acht, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 59–65; Matthias Weber: Die Bedeutung der Reichsacht in der Frühen Neuzeit, in: Johannes Kunisch (Hrsg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 55–90. Christoph Kampmann: Reichsrebellion und kaiserliche Acht. Politische Strafjustiz im Dreißigjährigen Krieg und das Verfahren gegen Wallenstein 1634, Münster 1992, S. 35– 36. Die ebd., S. 36–42, erörterte Ausnahmeregelung bei notorischem Landfriedensbruch kann hier außer Acht bleiben. Kampmann: Reichsrebellion (wie Anm. 49), S. 217–219; Franz Feldmeier: Die Aechtung des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern und die Uebertragung der Oberpfalz mit der fünften Kur an Kurpfalz (1702–1708), in: Oberbayerisches Archiv 58 (1914), S. 145– 269, hier S. 152, 154, 205. Seit der Wahlkapitulation Karls VI. von 1711 war eine Achtverhängung an die Zustimmung des Reichstags gebunden; vgl. Weber: Reichsacht (wie Anm. 48), S. 66.

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begründete, die ihm als oberstem Richter und oberstem Lehnsherrn gegenüber allen Reichsangehörigen zukomme,51 war keine bloße Propaganda. Im Falle einer Achterklärung gegen einen Reichsfürsten ist die oberlehnsherrliche Funktion des Kaisers allein deshalb stets mit zu berücksichtigen, weil eventueller Lehnsbesitz des Geächteten an den Lehnsherrn zurückfiel.52 Eben deshalb betrieb während des Spanischen Erbfolgekrieges Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz am Kaiserhof die Achtverhängung über seinen mit dem französischen Reichsfeind paktierenden bayerischen Vetter Max Emanuel, schien sich doch auf diese Weise die Möglichkeit zu bieten, vom Kaiser neben der bayerischen Kur auch mit der heimfallenden Oberpfalz belehnt zu werden. Derweil nutzte Joseph I. die 1706 erfolgende Achterklärung gegen die Kurfürsten von Köln und Bayern dazu, sich als Oberlehnsherr glanzvoll in Szene zu setzen. Flugblätter, Druckgrafiken und die gelehrte Reichspublizistik trugen die Kunde ins Reich, dass der Kaiser die beiden Ächter aus der Reihe „der getreuen Churfürsten und Glieder des Reichs ausgeschlossen und verstoßen“53 habe. Der performative Akt, mit dem dieser Ausschluss zweier Kurfürsten aus dem Reichsverband vollzogen wurde, ließ keinen Zweifel daran, dass das Reich aus Sicht des Kaisers ein vornehmlich durch den Lehnsnexus zusammengehaltenes System darstellte. Denn bei den Gegenständen, die im Rahmen der Achtdeklaration das durch die Geächteten verletzte Normengefüge symbolisierten, handelte es sich um nichts anderes als um Lehnsbriefe. Höchstpersönlich zerriss das Reichsoberhaupt die ihm vom Reichsvizekanzler gereichten kurkölnischen und kurbayerischen Lehnsurkunden und ließ die durch seine Reichsherolde noch weiter zerkleinerten Schnipsel sodann zum Fenster der Hofburg hinaus in den Graben befördern – „damit, gleichwie solche Stücke alsdann durch den Wind zerstreuet, herum flattern und zernichtet würden, also ihr [der beiden Kurfürsten] Nahme und Gedächtniß gantz vernichtet werden solte“. Nun ließe sich freilich einwenden, dass der Kaiserhof lange mit der Verhängung der Acht gezögert hatte und sich erst nach der vernichtenden Niederlage des bayerischen Kurfürsten in der Schlacht von Höchstädt zu diesem spektakulären Schritt durchringen konnte. Verbirgt sich hinter der geschilderten Szene also letztlich doch nur „fratzenhafter Mummenschanz“54 , der den Blick 51 52

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Kampmann: Reichsrebellion (wie Anm. 48), S. 207–208, 220, 226. Kampmann: Reichsrebellion (wie Anm. 48), S. 34, 71, 222–223, 225. Zum Verlust der Lehnsfähigkeit durch die Reichsacht mit Blick auf das Mittelalter auch Friedrich Battenberg: Reichsacht und Anleite im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der höchsten königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert, Köln/Wien 1986, S. 387. Dieses und das folgende Zitat nach der „Beschreibung, mit was vor Solennitäten die Achts-Erklährung derer Chur-Fürsten zu Cölln und Bayern am Kayserl. Hofe Anno 1706 geschehen“, abgedruckt bei Johann Christian Lünig: Das Teutsche Reichs-Archiv, Bd. 1/2, Leipzig 1710, S. 128–130, hier S. 129. So mit Blick auf das Reichslehnswesen Treitschke: Geschichte (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 9.

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auf die realpolitisch allein entscheidende Frage verstellt, wer über die stärkeren Bataillone verfügte? Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich der Vollzug von Rechtsakten auf dem Gebiet des Lehnswesens auch im Mittelalter gewiss nicht im luftleeren Raum abspielte. Auch die Mediävistik steht deshalb vor der Herausforderung, „die konkrete Ausformung einzelner Lehnsbindungen in ihrer Kongruenz oder im Widerstreit mit anderen, z. B. verwandtschaftlichen oder politischen Verpflichtungen [zu] untersuchen“55 . Das große Potential, das ein solcher Forschungsansatz auch für die frühneuzeitliche Dynastie- und Adelsgeschichte bietet, soll im Folgenden am Beispiel Brandenburg-Preußens aufgezeigt werden.

4. Vasallität – ein Strukturelement brandenburgischpreußischer Geschichte in der Frühneuzeit Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts würdigten namhafte preußische Rechtshistoriker wie Carl Wilhelm von Lancizolle und Georg Wilhelm von Raumer das Lehnswesen als wichtigen Faktor im Rahmen des preußischen Staatsbildungsprozesses.56 Diese Einschätzung war nicht nur dem bereits angedeuteten Stellenwert des brandenburgischen Lehnshofes geschuldet, hing also nicht allein mit den Aktivlehen der Hohenzollern zusammen. Auch die Passivlehen des Hauses boten ein reiches Forschungsfeld, denn die bis heute durch die Literatur geisternden „souveränen Herrscher in brandenburgpreußischen Landen“57 unterlagen bei näherem Hinsehen einer spezifischen Mehrfachvasallität,58 die der geopolitischen Situierung des brandenburgischpreußischen Territorienkomplexes in Ostmitteleuropa geschuldet war. Im Osten bildete das Herzogtum Preußen zwischen 1525 und 1657 ein Lehen der polnischen Krone.59 Weitaus länger – nämlich bis 1773 – hielt sich der polnische Lehnsnexus in den 1657 erworbenen Landen Lauen-

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Karl-Heinz Spieß: Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter. 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 16; vgl. Steffen Patzold: Das Lehnswesen, München 2012, S. 119: „Eine Geschichte von Lehen und Vasallität muß eingebettet sein in eine größere Sozial-, Wirtschafts-, Rechts- und Politikgeschichte.“ Carl Wilhelm von Lancizolle: Geschichte der Bildung des preußischen Staats, Bd. I/1. Berlin/Stettin 1828, S. 317–370; Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35). Brandt/Münger: Preußen (wie Anm. 7), S. 801. Im Rahmen der zur Zeit in der Mediävistik geführten Forschungskontroverse um das frühmittelalterliche Lehnswesen steht auch die Mehrfachvasallität zur Debatte. Eine neuere Studie geht davon aus, dass es sich um ein Phänomen handelt, das im Reich erst seit dem 12. Jahrhundert vermehrt auftrat; vgl. Roman Deutinger: Seit wann gibt es die Mehrfachvasallität?, in: ZRG GA 119 (2002), S. 78–105. Stephan Dolezel: Das preußisch-polnische Lehnsverhältnis unter Herzog Albrecht von Preußen (1525–1568), Köln/Berlin 1967.

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burg und Bütow sowie in der Starostei Draheim.60 Mit den Habsburgern war die Kurlinie der Hohenzollern nicht nur durch den Reichslehnsnexus verbunden. Von der Krone Böhmen lehnsrührig waren bis 1742 die im 15. und 16. Jahrhundert erworbenen Herrschaften Beeskow, Storkow, Cottbus, Peitz, Teupitz und Zossen sowie das der Neumark inkorporierte Herzogtum Crossen mit Züllichau und dem Ländchen Bobersberg.61 Gleiches gilt für das oberschlesische Herzogtum Jägerndorf (im Besitz der Kurlinie zwischen 1603 und 1622)62 und den Kreis Schwiebus (1686–1695). Weder die Preußenforschung, noch die brandenburgische Landesgeschichte haben sich hiermit bislang auseinandergesetzt.63 Auch die allgemeine Frühneuzeitforschung hat kaum je die Frage nach der Bedeutung dieses Strukturelements für die kaiserliche Stellung im Reich gestellt. Dabei verfügte die böhmische Krone bis zum Frieden von Pressburg (1805) über einen der bedeutendsten Lehnshöfe des Alten Reiches, der neben dem Kurfürsten von Brandenburg auch die Kurfürsten von Sachsen, Bayern und der Pfalz umfasste.64 Einen noch wichtigeren 60

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Roderich Schmidt: Die Lande Lauenburg und Bütow in ihrer wechselnden Zugehörigkeit zum Deutschen Orden, zu Pommern und Polen und zu Brandenburg-Preußen, in: Dietmar Willoweit/Hans Lemberg (Hrsg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, München 2006, S. 93–106, hier S. 103, 105; Christoph Motsch: Grenzgesellschaft und frühmoderner Staat. Die Starostei Draheim zwischen Hinterpommern, der Neumark und Großpolen (1575– 1805), Göttingen 2001. Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 313–314. Matthias Weber: Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 1992, S. 188–194. Zu diesem Desiderat Frank Göse: „Und weil ich den orthen etwas weit entsessen“. Zum Verhältnis Kurfürst Joachims II. zu Kaiser und Reich in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: BlldtLG 145/146 (2009/2010), S. 13–47, hier S. 32. Carl Renatus Hausen: Abhandlungen und Materialien zum neuesten deutschen Staatsrechte und Reichsgeschichte des Jahres 1779 seit dem Absterben des letzten Churfürsten von Bayern Maximilian Josephs, Bd. 5, Berlin/Leipzig 1779, S. 109 (böhmischer Lehnshof einer „der ansehnlichsten in Deutschland“). Eine zeitgenössische Beschreibung des Empfangs der böhmischen Lehen durch die sächsischen Gesamthänder im Jahre 1660 findet sich bei Katrin Keller/Martin Scheutz/Harald Tersch (Hrsg.): Einmal Weimar – Wien und retour. Johann Sebastian Müller und sein Wienbericht aus dem Jahr 1660, München 2005, S. 112–116 (Der Verfasser dankt Holger Th. Gräf für den freundlichen Hinweis auf diese Quelle.). Interessant wäre unter anderem die Frage, inwiefern sich nach 1648 dem Kaiser als böhmischem König weitere oberlehnsherrliche Spielräume eröffneten als mit Blick auf die Reichslehen. So musste sich der nach der Achtverhängung gegen den bayerischen Kurfürsten (1706) auf eine Restitution der Oberpfalz unter Einschluss der böhmischen Lehen drängende kurpfälzische Gesandte durch den böhmischen Hofkanzler Graf Wratislaw sagen lassen, dass der Kaiser bei der Vergabe der böhmischen Lehen nicht gebunden sei, sondern „freye Hände“ habe. Zitiert nach Feldmeier: Aechtung (wie Anm. 50), S. 255; vgl. auch Hanns Hubert Hofmann: „Böhmisch Lehen vom Reich“. Karl IV. und die deutschen Lehen der Krone Böhmen, in: Bohemia 2 (1961), S. 112–124, hier S. 122–123: „Die Hofburg hat [. . . ] stets die Doppelstellung des vom Reiche stammenden Rechts der böhmischen Kurwürde und des Eigenrechts der böhmischen Krone stark betont, nicht erst seit der vor dem Hintergrund der Pragmatischen

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Faktor bildete freilich die Bindung der Hohenzollern an das Reich, von dem die Berliner Linie neben dem kur- und neumärkischen Stammbesitz nahezu sämtliche Neuerwerbungen des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu Lehen trug. Sieht man von der zeitweilig in brandenburgischem Besitz befindlichen Festung Großfriedrichsburg in Westafrika einmal ab, wurden vor 1740 aus dem brandenburgisch-preußischen Territorienbestand neben Preußen lediglich das Oberquartier Geldern und die aus dem oranischen Erbe stammenden Fürstentümer Neuchâtel und Valangin nicht durch den Reichslehnsnexus erfasst. Dass diesem Faktum entgegen aller späteren historiographischen Vernebelungsmaßnahmen weit über 1648 hinaus verfassungsgeschichtliche Bedeutung zukam, verdeutlichen Äußerungen aus berufenem Munde, nämlich dem eines Hohenzollern selbst. Planspielen seiner Räte, die Kurmark Brandenburg zu einem Königreich zu erheben, erteilte Friedrich III. im Jahr 1699 eine klare Absage: „Wan ich [. . . ] wegen meiner Reichs Lande ein Souverainer König werden und wegen derselben nicht mehr ein Vasal des Reichs sein wolte, so müste Ich nicht allein des Keysers sondern auch des gantzen Reichs consens dazu haben, welchen ich in Ewigkeit nicht werde bekommen. [. . . ] Wan Ich die Königliche Dignitet auf meine Brandenburgsche Lande nehmen wil, so bin ich Kein souverainer König sondern ein Lehn König, und werde ich deshalb mit dem gantzen Reich zu thun haben, und bekommen; wan Ich aber wegen Preussen die Königliche Dignitet annehme, so bin ich ein independanter König.“65

Die Geburtszeremonie der preußischen Monarchie fand deshalb zwei Jahre später nicht an der Spree, sondern am Pregel statt; aus Kurfürst Friedrich III. wurde kein König von Brandenburg, sondern ein König in Preußen. Für Droysen verkörperte das Lehnsrecht das vormoderne „Reichsunwesen in einer seiner zehrendsten Schmarotzerbildungen“ und „zähesten Wucherwurzeln“.66 Angesichts solcher Invektiven kann es durchaus als Treppenwitz der

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Sanktion betriebenen Readmission der böhmischen Kur von 1708. [. . . ] Ihre Gerechtsame an diesen deutschen Lehen [. . . ] hat die Krone Böhmen sehr entschieden zu wahren gewußt.“ Zu den böhmischen Lehen in der Oberpfalz auch Wilhelm Volkert: Pfälzische Zersplitterung, in: Max Spindler/Andreas Kraus (Hrsg.), Geschichte der Oberpfalz und des bayerischen Reichskreises bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. 3. Aufl., München 1995, S. 72–141, hier S. 116 („Die durch die böhmische Lehensoberhoheit veranlaßte materielle Einbuße der Pfalzgrafen war nicht allzu groß. Bis zur endgültigen Beseitigung dieser Lehen im Jahre 1805 hatte die böhmische Krone dadurch jedoch immer einen Vorwand zur Einmischung in oberpfälzische Angelegenheiten.“). Andtwohrt auf denen Puncten oder Aufsatz des von Fuchs, wegen der Königlichen Würde, zitiert nach Albert Waddington: L’acquisition de la couronne royale de Prusse par les Hohenzollern, Paris 1888, S. 405–409, Zitate S. 406, 408. In dem Gutachten, auf das sich der Kurfürst bezog, hatte der kurfürstliche Rat Paul von Fuchs die bemerkenswerte These aufgestellt, der Kurfürst habe in seinen Reichslanden „eine Souveraine Regierunge, und rühret der nexus welchen E. Ch. D. mit dem Kayser und dem Reiche haben mehr ex foedere her als aus einer Dependence“. Deshalb könne sich der Kurfürst auch in Berlin die Krone aufs Haupt setzen und zu einem König von Brandenburg aufsteigen. Zitiert nach Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 219. Johann Gustav Droysen: Geschichte der preußischen Politik. Vierter Teil, zweite Abt. (Friedrich Wilhelm I.), Bd. 1, Leipzig 1869, S. 200.

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Wissenschaftsgeschichte gelten, dass die Preußenforschung diesem „realpolitisch“ angeblich bedeutungslosen Rechtsinstitut nichts Geringeres verdankt als ihren Namen. Angesichts des weitgehenden Fehlens von Vorarbeiten kann es im Folgenden nicht um eine umfassende Bestimmung des verfassungsgeschichtlichen Stellenwerts des Reichslehnswesens für die Geschichte Brandenburg-Preußens gehen – dies wäre allein in monographischem Rahmen möglich. In dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen hat sich die Darstellung auf die Diskussion ausgewählter Probleme zu beschränken, deren Relevanz auch mit Blick auf andere Reichsterritorien zu prüfen wäre. Um den empirischen Zugriff weiterer Forschungen zu erleichtern, soll die historische Analyse mit quellenkundlichen Ausführungen über die Struktur der für das Thema relevanten Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs verbunden werden.

5. Quellen zum Reichslehnswesen der deutschen Expedition im Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Ein Überblick Innerhalb der über das Onlineportal des Österreichischen Staatsarchivs (www.archivinformationssystem.at) einsehbaren Tektonik des Haus-, Hof- und Staatsarchivs bildet der Reichshofratsbestand den dominierenden Teil der Bestandsgruppe „Reichsarchive“. Der Bestand, der im Übrigen auch eine reichhaltige Amtsbuchüberlieferung umfasst,67 gliedert sich wiederum in eine Judizial- und eine Gratialregistratur mit jeweils mehrere Aktenserien. Für Forschungen zum Reichslehnswesen sind vor allem mehrere Aktenserien der Gratialregistratur einschlägig. Aus Platzgründen kann hier nur auf die Reichslehnsakten deutscher Expedition mit 260 Kartons auf 35 Regalmetern eingegangen werden.68 Die alphabetisch nach Territorien geordnete 67 68

Schenk: Protokollüberlieferung (wie Anm. 16). Eine wichtige Komplementärüberlieferung enthält der Bestand „Reichskanzlei“ mit hunderten von Tax- und Registerbüchern, deren Erforschung wichtige Einblicke in die finanzielle Komponente des Lehnswesens eröffnen dürfte. Von besonderer Bedeutung für alle mit dem Zeremoniell der Belehnungen zusammenhängende Fragen ist der Bestand „Obersthofmeisteramt“. Zu nennen sind hier neben den älteren Zeremonialakten vor allem die seit 1652 geführten Zeremonialprotokolle. Zu deren Einführung Johanna Atzmannstorfer/Adam Christian/Hansdieter Körbl/Roland Starch/Bettina Weisskopf/ Dagmar Weltlin: Much of the Same? Das Leben am Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652–1800). Ein quellenkritischer Werkstattbericht, in: Irmgard Pangerl/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonialprotokolle (1652–1800). Eine Annäherung, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 229–253, zum Lehnswesen insbesondere S. 237–238. Fehlerhaft Moser: Zusätze, S. 204: „Von der würklichen Belehnung mit denen Thronlehen kommt nichts in das Reichshofraths- wohl aber in das Kays. Obrist-Hofmarschallenamts-Protocoll [muss heißen: Obersthofmeis-

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und deshalb schon heute vergleichsweise leicht nutzbare Aktenserie enthält u. a. Mutungen (Gesuche um Belehnungen), Vollmachten für Vertreter der Reichsfürsten zum Lehnsempfang, Gutachten des Reichshofrates, Konzepte von Indulten69 und Lehnsbriefen sowie Formulare der Lehnseide.70 Fünf der 260 Kartons beziehen sich auf die Kurlinie der Hohenzollern und enthalten Akten mit einer Gesamtlaufzeit von 1484 bis 1799. Im Einzelnen gliedert sich die Überlieferung in folgende Akten: Kurmark Brandenburg (1521–1799), Herzogtum Hinterpommern mit Cammin (1515–1799), Grafschaft/Fürstentum Ostfriesland (1541–1755), Bistum/Fürstentum Minden (1557–1639), Erzstift/Herzogtum Magdeburg (1484–1696), Stettin (1731– 1734), Neumark und Land Sternberg (1565–1622), Grafschaft Mark (1610), Grafschaft/Fürstentum Moers (1559–1718). Der Aufstellung ist zu entnehmen, dass die Laufzeit mehrerer Akten zum Teil erheblich hinter den Zeitpunkt der brandenburgischen Besitzergreifung zurückreicht. Ältere Akten wurden also im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts als Vorakten der kurbrandenburgischen Überlieferung eingefügt. Darüber hinaus fällt auf, dass zwar die Laufzeit mancher Akten während des 17. und 18. Jahrhunderts abbricht, es jedoch zu keiner Zeit zu einer Zusammenführung aller Vorgänge in einer einzigen Akte kam. Diese durch die zeitgenössischen Registratoren angelegte Gliederung ist keineswegs zufällig, sondern verdeutlicht die durch die teleologische „Gesamtstaatsideologie“71 der älteren Historiographie verdeckte Tatsache, dass zahlreiche Territorien des brandenburgischpreußischen Länderkomplexes zumindest phasenweise je eigenen lehnsrechtlichen Bedingungen unterlagen. Zu berücksichtigen sind beispielsweise die Einrichtung der Sekundogenitur Brandenburg-Küstrin im Jahre 153572 oder die im Westfälischen Friedensvertrag gründenden und bis zum Ende des Reiches fortbestehenden schwedischen Ansprüche auf Mitbelehnung mit Hinterpommern. Mithin spiegelt sich auch im Reichslehnsrecht der durch die jüngere Forschung intensiv diskutierte kompositäre Charakter BrandenburgPreußens wider.73

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teramtsprotokoll]; darin der ganze Actus, mit allen dabey vorgefallenen Umständen, genau beschriben wird. Bey denen geringern Reichslehen hingegen wird die beschehene Ablegung des Leheneydes in dem Reichshofraths-Protocoll angemerkt.“ Zu Indulten als Fristverlängerungen im Sinne von „Interimsbelehnungen“ vgl. Schönberg: Reichslehen (wie Anm. 27), S. 131. Zum Lehnseid im Überblick Schönberg: Reichslehen (wie Anm. 27), S. 137–143. Michael Kaiser: Kleve und Mark als Komponenten einer Mehrfachherrschaft: Landesherrliche und landständische Entwürfe im Widerstreit, in: Ders./Michael Rohrschneider (Hrsg.), Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640–1688), Berlin 2005, S. 99–119, hier S. 100. Hierzu Schenk: Reich (wie Anm. 3), S. 48–55. Siehe Karin Friedrich: Brandenburg-Prussia 1466–1806. The Rise of a Composite State, Basingstoke 2012; Michael Rohrschneider: Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit. Aspekte und Perspektiven der neueren Forschung am Beispiel Brandenburg-

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6. Zur Bedeutung des Reichslehnswesens für die Entwicklung des Hausrechts der Hohenzollern Eine nähere Bestimmung des verfassungsgeschichtlichen Stellenwerts reichslehnsrechtlicher Strukturen für die Geschichte des dynastischen Fürstenstaates setzt sinnvoller Weise beim Hausrecht der Hohenzollern74 ein. Die infolge einseitiger Fixierung auf die Bildung des preußischen Macht- und Behördenstaates lange in den Hintergrund gedrängte Dynastiegeschichte der Hohenzollern stößt seit einigen Jahren völlig zu Recht auf verstärkte Aufmerksamkeit.75 Freilich gilt auch hier, was Wolfgang Neugebauer der Preußenhistoriographie unlängst ganz allgemein ins Stammbuch schrieb: „Neue Archivforschung, nicht Zusammenfassung ist geboten.“76 Die Erkenntnis, dass die Geschichte der verschiedenen Linien des Hauses Hohenzollern über Jahrhunderte hinweg vor allem in reichsrechtlichen Bahnen verlief, stellt sich dabei nicht erst im Österreichischen Staatsarchiv, sondern bereits im Geheimen Staatsarchiv Berlin ein. Zu den wichtigsten, bis heute kaum beachteten Archivalien des Hausarchivs der Hohenzollern zählen lange Reihen von kaiserlichen Urkunden in Lehns- und Privilegienangelegenheiten. Neue Perspektiven erwarten die Forschung hier gewiss ebenso wie in jenem Aktenbestand, der als Repositur 1 der Hauptabteilung I die gesamte Berliner Tektonik anführt und gewiss nicht von ungefähr den Titel „Beziehungen zu Kaiser und Reich“ trägt.77 Von wenigen Ausnahmen abgesehen klammert die vorliegende dynastiegeschichtliche Literatur die mit der Reichsebene verbundenen Fragen jedoch

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Preußens, in: AKG 90 (2008), S. 321–349; zusammenfassend Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit, München 2012, S. 98–99. Eine rechtshistorische Einführung in die Gattung der Hausnormen bietet Jürgen Weitzel: Die Hausnormen deutscher Dynastien im Rahmen der Entwicklungen von Recht und Gesetz, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982, S. 35– 48. Neuere Darstellungen bieten: Wolfgang Neugebauer: Die Hohenzollern, 2 Bde., Stuttgart/Berlin/Köln 1996–2003; Frank-Lothar Kroll: Die Hohenzollern, München 2008, sowie in ders.: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. 2. Aufl., München 2009. In diesem Zusammenhang auch die innovative Studie zur höfisch-zeremoniellen Praxis von Thomas Biskup: Friedrichs Größe. Inszenierungen des Preußenkönigs in Fest und Zeremoniell 1740–1815, Frankfurt/New York 2012. Einen aktuellen Forschungsüberblick bieten die Tagungsbeiträge zur Konferenz „Friedrich der Große und die Dynastie der Hohenzollern“, online abrufbar unter URL: (abgerufen am 10.03.2013). Wolfgang Neugebauer: Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert?, Berlin 2012, S. 14. Rita Klauschenz/Sven Kriese/Mathis Leibetseder (Bearb.): Tektonik des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2011, S. 13–15.

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bis heute weitgehend aus.78 In der maßgeblichen Biographie des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm heißt es beispielsweise, der Kurfürst sei berechtigt gewesen, testamentarisch über die im Reich gelegenen „Neuerwerbungen seiner Regierungszeit frei zu verfügen“79 . In Johann Christian Lünigs „Teutschem Reichsarchiv“ kann man unterdessen nachlesen, dass Kaiser Leopold im April 1664 ein im Vormonat aufgesetztes Testament Friedrich Wilhelms auf dessen Wunsch konfirmiert habe – unter der Voraussetzung, dass dieser Letzte Wille „Uns und dem Heil. Reich, auch unsern Erb-Königreich, Fürstenthumb und Landen an unsern und sonst männiglich an seinen Rechten und Gerechtigkeiten unvergriffen und unschädlich“80 sei. Ausgerechnet jener Kurfürst, der im Herzogtum Preußen die Souveränität errungen hatte, suchte also in einer Hausangelegenheit am Kaiserhof um eine Confirmatio nach, obwohl ein solcher Akt nach zeitgenössischem Rechtsverständnis ein Herrschaftsverhältnis abbildete.81 Warum er dies tat, verdeutlicht bereits ein flüchtiger Blick in die gelehrte Feudistik des 17. und 18. Jahrhunderts. Denn eine über privatrechtliche Materien hinausgehende testamentarische Verfügung über Reichslehen82 bildete eben keine interne Haus-, sondern eine Reichsangelegenheit. Die volle Verfügungsgewalt über das Lehnsobjekt, ganz gleich ob es sich nun um ein landsässiges Ritterlehen oder um ein Reichslehen handelte, teilte sich nämlich in das lehnsherrliche Obereigentum (dominium directum) und das vasallitische Nutzeigentum (dominium utile). Durch dieses dinglich-persönliche Verhältnis wurde der Vasall in seiner Verfügungsgewalt beschränkt und darauf verpflichtet, die Substanz des Lehens – also nicht zuletzt jene in der zitierten Confirmatio angeführten „Rechte und Gerechtigkeiten“ von Kaiser und Reich – nicht zu beeinträchtigen.83 Die Funktion des Reichshofrats als oberster Lehnshof beschränkte sich deshalb keineswegs auf eine gleichsam routinemäßige Administration von Belehnungen nach erfolgtem Herren- oder Mannfall, sondern umfasste zahl78 79 80

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Vgl. hingegen den Hinweis bei Neugebauer: Hohenzollern (wie Anm. 75), Bd. 1, S. 101. Ernst Opgenoorth: Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg, 2 Bde., Göttingen 1971–1978, hier Bd. 2, S. 317. Die am 29.04.1664 erfolgte Konfirmation des am 23.03.1664 aufgesetzten Testaments ist abgedruckt bei Johann Christian Lünig: Das Teutsche Reichs-Archiv, Bd. 5, Leipzig 1713, S. 132–137, Zitat S. 137. Heinz Mohnhaupt: Confirmatio privilegiorum, in: Barbara Dölemeyer/Ders. (Hrsg.): Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt am Main 1999, S. 45–64, hier S. 45. Dies war im vorliegenden Fall gegeben, da das Testament von 1664 vorsah, dass der 1657 geborene Prinz Friedrich, der zu diesem Zeitpunkt noch hinter dem 1674 verstorbenen Kurprinzen Karl Emil zurückstand, die Landesherrschaft über das Fürstentum Halberstadt erben solle. Siehe Hermann von Caemmerer: Die Testamente der Kurfürsten von Brandenburg und der beiden ersten Könige von Preußen, München/Leipzig 1915, S. 195– 209. Siehe etwa Karl Friedrich Häberlin: Handbuch des teutschen Staatsrechts, Bd. 3, Bamberg 1797, S. 334; neuere Zusammenfassung bei Schönberg: Reichslehen (wie Anm. 27), S. 154–155.

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reiche weitere Tätigkeiten, die mit dem oberlehnsherrlichen Amt des Kaisers in engem Zusammenhang standen – von der Bestätigung fürstlicher, die Sukzession in Reichslehen betreffender Testamente84 und Primogeniturordnungen über Volljährigkeitserklärungen85 bis hin zur Obervormundschaft über reichsunmittelbare Personen86 und der Legitimation unehelicher Kinder.87 Der Kaiser und mit ihm der Reichshofrat bildeten deshalb bis zum Ende des Alten Reiches – man kann es bei Johann Jacob Moser in extenso nachlesen – einen wichtigen Faktor für die Entwicklung des Familienstaatsrechts der deutschen Reichsstände.88 Wie für jedes andere reichsfürstliche Haus enthalten die Reichshofratsakten deshalb auch für die Hohenzollern erstrangige dynastiegeschichtliche Quellen. Beginnen ließe sich bei den Erbverbrüderungen als einem wichtigen Instrument dynastischer Territorialpolitik. Soweit von den dabei getroffenen Vereinbarungen Reichslehen betroffen waren, galt ein Konsens des kaiserlichen Oberlehnsherrn reichsrechtlich als notwendig.89 Kaiserlich bestätigt 84

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Mit Beispielen für kaiserlich konfirmierte Eheverträge Johann Jacob Moser: FamilienStaats-Recht derer teutschen Reichsstände, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1775, S. 192–196; Justus Christoph Leist: Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts. Göttingen 1803, S. 92; Susan Richter: Fürstentestamente der Frühen Neuzeit. Politische Programme und Medien intergenerationeller Kommunikation, Göttingen 2009, S. 102–117. Danach diente die Confirmatio „in erster Linie dazu, fürstliches Hausrecht im Konsens und mit der Autorität des Reichsoberhauptes zu konsolidieren und Konflikte mit dem Kaiser sowie innerdynastische, hoheitliche und zwischenstaatliche Probleme zu vermeiden“; Zitat ebd., S. 105. Leist: Lehrbuch (wie Anm. 84), S. 103, 105, 509–511; Werner Tetzlaff : Der Kaiser als Obervormund der Fürsten, Diss. jur. Frankfurt am Main 1966, S. 69–72; vgl. mit Blick auf die zahlreichen vor dem Reichshofrat geführten Prozesse um das Primogeniturrecht die Fallstudie von Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung (wie Anm. 22). Neuere Studien zu diesem verfassungsgeschichtlich bedeutenden Tätigkeitsfeld fehlen weitgehend. Zu den lehnsrechtlichen Wurzeln der kaiserlichen Obervormundschaft Tetzlaff : Kaiser (wie Anm. 85), S. 22, 44–45. Leist: Lehrbuch (wie Anm. 84), S. 513–515. So hätte beispielsweise eine vom Kaiser nicht anerkannte Scheidung Herzog Karl Leopolds von Mecklenburg-Schwerin von Sophia Hedwig von Nassau-Dietz und die anschließende Heirat einer Nichte des russischen Zaren die Lehnsfolge der dieser Ehe entsprungenen Söhne im Herzogtum in Gefahr gebracht. Hierzu Siegrid Westphal: Der kaiserliche Reichshofrat als protestantisches „Scheidungsgericht“, in: ÖZG 20 (2009), S. 31–58, hier 50; vgl. auch den Beitrag der Autorin in diesem Band. Noch der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. wies deshalb auch eine reichslehnsrechtliche Dimension auf. Dieses zumeist übersehene Faktum betonte unlängst Peter-Michael Hahn: Friedrich II. von Preußen. Feldherr, Autokrat und Selbstdarsteller, Stuttgart 2013, S. 35. Leist: Lehrbuch (wie Anm. 84), S. 91; Nicolaus Thaddäus Gönner: Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, S. 360–361 („Nützlich ist die kaiserliche Bestätigung in allen Fällen, aber nothwendig nur in so weit, als die Länder, worauf sich eine Erbverbrüderung erstreckt, Reichslehen sind, doch muss hiebei das Vorrecht der Kurfürsten, Reichslande ohne kaiserliche Einwilligung zu erwerben, berücksichtiget werden, auch kann die Einwilligung des Reichs erforderlich sein, wenn von Reichslehen, welche etwas merkliches eintragen,

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waren beispielsweise die 1442 bzw. 1570 abgeschlossenen Erbverbrüderungen der Hohenzollern mit den Herzögen von Mecklenburg90 und Pommern. Der somit erlangte oberlehnsherrliche Schutz der mit den Erbverbrüderungen verbundenen Anwartschaften erschöpfte sich nicht in einem einmaligen Beurkundungsakt, sondern wurde zum Teil über Jahrhunderte hinweg stets aufs Neue in Erinnerung gerufen. Zum einen wurden die Kurfürsten fortan mitbelehnt, wenn die Mecklenburger oder Pommern ihre Reichslehen empfingen.91 Zum anderen flossen die Anwartschaften auch in das Formular des brandenburgischen Lehnsbriefes ein, in dem der Kaiser etwaigen Verletzern der brandenburgischen Rechte eine empfindliche Geldstrafe androhte.92 Dass derartigen Instrumenten noch im 17. und 18. Jahrhundert im Rahmen der brandenburgischen Territorialpolitik eine nicht zu unterschätzende legitimierende Funktion zukam, zeigt ein Blick in die Schlussphase des Dreißigjährigen Krieges. Denn nachdem das Herzogsgeschlecht der Greifen 1637 im Mannesstamm ausgestorben war, bildete die in Aussicht gestellte oberlehnsherrliche Durchsetzung der pommerschen Anwartschaft durch den Kaiser einen wichtigen Ansatzpunkt, um den brandenburgischen Kurfürsten zu einem Übertritt ins kaiserlich-sächsische Lager zu bewegen.93 Zugleich stieß Schweden 1648 zunächst auf den Widerstand der pommerschen Landstände, die sich auf ihren dem brandenburgischen Kurfürsten als kaiserlich anerkanntem Eventualsukzessor geleisteten Eid beriefen.94 Noch die 1744 vollzogene preußische Besitznahme Ostfrieslands, bei der sich Friedrich der

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die Rede ist. Der Kaiser ist verbunden, die bereits aufgerichteten oder noch aufzurichtenden Erbverbrüderungen auf gebührendes Ansuchen zu confirmiren. Ohne Consens eines dritten Lehnherrn kann eine Erbverbrüderung, selbst wenn sie vom Kaiser bestätiget wurde, zu dessen Nachtheil nicht wirken.“) Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 309. Zum 1442 zwischen Brandenburg und Mecklenburg abgeschlossenen und später vom Kaiser konfirmierten Erbvertrag von Wittstock Mario Müller: Besiegelte Freundschaft. Die brandenburgischen Erbeinigungen und Erbverbrüderungen im späten Mittelalter, Göttingen 2010, S. 114; Moser: FamilienStaats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 996–998. Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 309 (Mecklenburg); Moser: FamilienStaats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 999 (Pommern). Siehe beispielsweise mit Blick auf die mecklenburgische Anwartschaft den Lehnsbrief Kaiser Leopolds für Kurfürst Friedrich Wilhelm vom 02.06.1685, abgedruckt bei Lünig: Reichs-Archiv (wie Anm. 80), Bd. 5, S. 180–184. Bereits in den zwischen kursächsischen und kaiserlichen Gesandten im November 1634 ausgehandelten Pirnaer Noteln war „austrücklichen bedinget worden, daß der Kfl. Dt. zu Brandenburg, wann sie sich zu dieser pacification verstehen und in allem bequemen, die anwartung und darüber habende belehnung an den Pommerischen landen allerdings verbleiben, von Ihrer Ksl. Mt. auch dieselbe darbei geschüzt werden solle“.Noteln abgedruckt in: Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Neue Folge: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten 1618–1651, 2. Teil, Bd. 10/4, bearb. v. Kathrin Bierther, München 1997, S. 1545–1598, Zitat S. 1566; vgl. Ulrich Kober: Eine Karriere im Krieg. Graf Adam von Schwarzenberg und die kurbrandenburgische Politik von 1619 bis 1641, Berlin 2004, S. 324–325. Fritz Dickmann: Der Westfälische Frieden. 2. Aufl., Münster 1959, S. 305.

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Große mit konkurrierenden Ansprüchen Kurhannovers konfrontiert sah, basierte nicht bloß auf der Macht der Bajonette, sondern auf einer 1695 vom Kaiser verliehenen Anwartschaft und einem auf dieser Basis im Jahre 1745 durch das bayerische Reichsvikariat ausgestellten Lehnsbrief.95 Auch in der wohl wichtigsten Frage, die jede Dynastie zu regeln hat, nämlich der Erbfolge, waren Reichs- und Hausrecht seit dem Spätmittelalter eng miteinander verflochten. Für die weltlichen Kurfürstentümer schrieb bereits die Goldene Bulle Unteilbarkeit und Primogenitur vor.96 Darüber hinaus ruhte eines der wichtigsten Hausgesetze der Hohenzollern – die vom Kaiser konfirmierte Dispositio Achillea von 1473 – auf reichslehnsrechtlichem Fundament. Indem Kurfürst Albrecht Achilles den Kurprinzen verpflichtete, die Reichslehen gemeinsam mit seinen jüngeren Brüdern aus den Nebenlinien Ansbach-Bayreuth bzw. Kulmbach zur Gesamten Hand zu empfangen,97 bediente er sich eines Instruments, auf das auch andere reichsfürstliche Häuser zur Verhütung von Lehnsheimfall wie zur Verklammerung verschiedener dynastischer Zweige zurückgriffen.98 Der Vorgang verdeutlicht, wie abwegig es wäre, das Lehnsrecht als Hemmschuh des neuzeitlichen Staatsbildungsprozesses zu betrachten. Über Jahrhunderte hinweg bildete die vom Kaiser empfangene Belehnung zur Gesamten Hand auch für die Hohenzollern ein wie selbstverständlich genutztes Mittel, um unter den Strukturbedingungen des dynastischen Fürstenstaats Herrschaft auf Dauer zu stellen. Nicht nur hausintern, sondern auch mit Blick auf die eigenen Untertanen bedienten sich die Kurfürsten der legitimatorischen Kraft des Reichsrechts. Der Wortlaut des Huldigungseides der Untertanen, welcher sich nicht allein auf den jeweiligen Kurfürsten und dessen Erben, sondern auch auf die Eventualsukzessoren aus den fränkischen Nebenlinien bezog, rief den Schwörenden ins Gedächtnis, dass diese Nachfolgeordnung nicht allein dem Willen des Landesherrn entsprach, sondern kraft „Kaiserlicher und Königlicher Versammlung, und Kurfürstlicher Bestätigunge“99 legitimiert war. 95 96

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Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 178, 217. Johannes Kunisch: Staatsbildung als Gesetzgebungsproblem. Zum Verfassungscharakter frühneuzeitlicher Sukzessionsordnungen, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Berlin 1984, S. 63–88, hier S. 72. Neugebauer: Hohenzollern (wie Anm. 75), Bd. 1, S. 71; vgl. allgemein Susanne Lepsius: Gesamthand, gesamte Hand, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller/ Christa Bertelsmeier-Kierst (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 264–269. Hierzu am welfischen Beispiel Gerhard Pfannkuche: Patrimonium – Feudum – Territorium. Zur Fürstensukzession im Spannungsfeld von Familie, Reich und Ständen am Beispiel welfischer Herrschaft im sächsischen Raum bis zum Jahre 1688, Berlin 2011, S. 296; eine zeitgenössische Beschreibung der sächsischen Samtbelehnung von 1660 bei Keller/Scheutz/Tersch: Weimar (wie Anm. 64), S. 107–116. Formular des Huldigungseides von Alt- und Neustadt Brandenburg aus dem Jahr 1571 abgedruckt bei Friedrich Wadzeck/Wilhelm Wippel: Geschichte der Erbhuldigungen der Brandenburgisch-Preußischen Regenten aus dem Hohenzollerschen Hause. Berlin 1798,

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Besondere Bedeutung entfalteten die Dispositio Achillea und das Reichslehnsrecht in der schweren dynastischen Krise, in die das Hohenzollernhaus nach dem Tod Kurfürst Johann Georgs im Jahre 1598 stürzte.100 Dieser hatte zwei Jahre zuvor ein vom Kaiser bestätigtes Testament aufgerichtet,101 das zugunsten der Markgrafen Christian, Joachim Ernst und Georg Albrecht als den jüngeren Stiefbrüdern von Kurprinz Joachim Friedrich die Abtrennung der Neumark und einiger weiterer Landesteile vorsah. Mit dem Argument, das väterliche Testament verletzte die in der Dispositio Achillea festgelegte Primogeniturordnung, kassierte Joachim Friedrich den Letzten Willen seines Vaters jedoch unmittelbar nach seinem Regierungsantritt. Es ist im vorliegenden Kontext von untergeordneter Bedeutung, dass die Dispositio bei näherem Hinsehen gar nicht als Primogeniturordnung angesehen werden kann, da sich das in ihr festgeschriebene Veräußerungsverbot nur auf die unmittelbaren Nachkommen des Albrecht Achilles bezog.102 Zu fragen ist stattdessen nach dem Nutzen, den Joachim Friedrich in einer äußerst kritischen Phase der brandenburgischen Dynastie- und Territorialgeschichte aus der Tatsache ziehen konnte, dass dieses Hausgesetz vom Kaiser konfirmiert worden war. Denn nach Johann Jakob Moser bestand der Dreh- und Angelpunkt der kurfürstlichen Argumentationsstrategie darin, dass die Dispositio „wegen des Kaysers und Reichs Bestättigung pro pragmatica Sanctione & Lege Imperii zu halten seye“103 und folglich auch durch das Testament des Vaters, welches der Kaiser nur „Salvo jure tertii“104 bestätigt habe, nicht habe eingeschränkt werden dürfen. Tatsächlich bildete das Reichsrecht eines der wichtigsten Geschütze im kurfürstlichen Arsenal, als Joachim Friedrich daran ging, in der dem Markgrafen Christian testamentarisch verschriebenen Neumark die Huldigung von Ritterschaft und Städten entgegenzunehmen. Ein aufschlussreiches Beispiel bildet die Stadt Landsberg an der Warthe, die mit Blick auf die Ansprüche Christians Bedenken gezeigt hatte, Joachim Friedrich als Landesherrn anzuerkennen. Dezidiert begründeten hierauf die kurfürstlichen Kommissare die geforderte Huldigung mit der Goldenen Bulle, den Reichsabschieden und der mit „des Reichs Bewilligung“ erlassenen Dispositio Achillea.105

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S. 76–78. Zur Instrumentalisierung von Huldigungseiden zum Zweck dynastischer Herrschaftssicherung vgl. Wolfgang E. J. Weber: Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaates, in: ders. (Hrsg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln 1998, S. 91–136, hier S. 124–125. Hierzu Schenk: Reich (wie Anm. 3), S. 51–55. Abgedruckt bei Caemmerer: Testamente (wie Anm. 82), S. 136–163. Konzept der kaiserlichen Bestätigung vom 14.03.1596 in ÖStA HHStA, RHR, Confirmationes privilegiorum, deutsche Expedition, K. 23, Konv. 2, Nr. 5. Neugebauer: Hohenzollern (wie Anm. 75), Bd. 1, S. 71. Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 114. Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 115. Wörtlich hatten die kurfürstlichen Huldigungskommissare erklärt, „es wäre an dem, daß nicht allein die Städte, sondern auch die Ritterschaft allen Erben geschworen, es hätte aber die Meinung nicht, daß nach Absterben eines Landesfürsten alle Erben zur

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Zugleich gehörte es zu den ersten Amtshandlungen Joachim Friedrichs, ein Schreiben an den Kaiser aufzusetzen, den Tod des Vaters anzuzeigen und gegenüber Kaiser und Reich die Würde eines Kurfürsten einzunehmen.106 Für sich genommen war dies freilich nichts Besonderes. Ebenso wie das binnen Jahr und Tag an den Kaiserhof zu richtende Belehnungsgesuch (die Mutung) bildete ein solches Schreiben – auch wenn es bis heute in kaum einer Biographie eines Reichsfürsten gewürdigt wird – einen selbstverständlichen Bestandteil jedes Regierungswechsels in einem Reichsterritorium. Im konkreten Fall musste Joachim Friedrich jedoch besonders darauf bedacht sein, sich des Kaisers als Oberlehnsherrn zu versichern, um seine Position gegenüber seinen Stiefbrüdern zu festigen. Tatsächlich kam es bereits im März 1598, also zwei Monate nach dem Tod Johann Georgs, am Prager Kaiserhof zu vertraulichen Gesprächen zwischen dem Oberkämmerer des neuen Kurfürsten und einem kaiserlichen Hofsekretär, an denen auch der Gesandte Markgraf Georg Friedrichs von Brandenburg-Ansbach teilnahm. Im Rahmen dieser Gespräche, über die Genaueres nicht bekannt ist, scheint es gelungen zu sein, mögliche kaiserliche Bedenken gegen eine Annullierung des Testaments Johann Georgs auszuräumen. Jedenfalls wurde die Belehnung des Kurfürsten vom Reichshofrat auf April 1599 terminiert. Ende März 1599 ging am Kaiserhof jedoch ein Protestschreiben des Markgrafen Christian ein, in dem dieser für sich und im Namen seiner jüngeren Brüder Einspruch gegen die bevorstehende Belehnung Joachim Friedrichs erhob und um Verschiebung des Termins bat. Dass das Reichsoberhaupt diesem Gesuch nicht folgte, hing nicht zuletzt mit dem hohen Stellenwert zusammen, welcher der Lehnsbindung zwischen Kaiser und Reichsfürsten beigemessen wurde. Der Geheime Rat hatte es gegenüber Rudolf II. als außerordentlich bedenklich bezeichnet, wenn „so ain ansehenlicher Churfürst [wie Joachim Friedrich] unter yezigen schwirigen läufften Euer Kayserlichen Mayestät, dem Reich und dero Cron Behaim mit Lehens-Pflicht und Ayden unverwandt oder

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Regierung kommen und für regierende Herrn erkannt werden könnten, sondern nur der fürstliche Lehenserbe, dem es von Natur und Rechtswegen gebührte. Nun wäre S.[eine] C.[hurfürstlich] G.[naden] nicht allein ein Miterbe, sondern auch des verstorbenen gnädigsten Churfürsten ältester Sohn und vermöchte die güldene Bull in den Reichsabschieden, daß der Aelteste allein in der Chur- und den dazugehörigen Landen succediren sollte, ingleichen daß die Mark Brandenburg nicht sollte getheilet werden, so wäre die Neumark alle wege bei allen vorigen Churfürsten vor ein Pertinenz der Chur Brandenburg gehalten worden und hätte sonderlich Markgraf Albrecht mit des Reichs Bewilligung verordnet, daß die Chur mit diesen Landen Ein Theil seyn und ungetrennet bleiben solle.“ Zitiert nach Georg Wilhelm von Raumer: Der Regierungs-Antritt Churfürst Joachim Friedrichs und die Landeshuldigung der Churmark Brandenburg im Jahre 1598. Nach einer gleichzeitigen Erzählung des Lehn-Sekretairs Nicolaus v. Kötteritzsch, in: Allgemeines Archiv für die Geschichtekunde des preußischen Staates 4 (1831), S. 349–382, hier S. 379. Raumer: Regierungs-Antritt (wie Anm. 105), S. 354.

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unverbunden lenger bleiben“107 sollte. Gleichwohl überhäufte Christian seinen Stiefbruder noch über mehrere Jahre hinweg am Kaiserhof mit Klagen, denen sich schon bald auch die Witwe Johann Georgs anschloss. Einen Ausweg aus diesen innerhalb der reichshofrätlichen Judizialserien in zwei Akten überlieferten Auseinandersetzungen, auf die Kurfürst Joachim Friedrich im Rahmen seiner Reichs- und Konfessionspolitik Rücksicht zu nehmen hatte,108 bot erst das kinderlose Ableben des politischen Schwergewichts Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach. Auf Basis des 1599 abgeschlossenen Geraer Hausvertrages verzichteten die Markgrafen Christian und Joachim Ernst im Onolzbacher Vergleich von 1603 auf ihre Ansprüche in den Kurlanden, wofür sie mit den Markgrafentümern Ansbach und Bayreuth als erblichen Sekundogenituren abgefunden wurden. Im Gegensatz zur Dispositio Achillea stellte der Geraer Hausvertrag tatsächlich eine Primogeniturordnung für die Mark Brandenburg dar. Reichsrechtlich war die Frage umstritten, ob eine solche Ordnung einer kaiserlichen Konfirmation bedürfe.109 Gleichwohl riet Johann Jacob Moser hierzu dringend, um innerdynastische Auseinandersetzungen, langwierige Prozesse vor den Reichsgerichten und eine damit einhergehende Offenlegung von Vermögensverhältnissen zu vermeiden.110 Die Hohenzollern suchten indes weder für den Geraer Hausvertrag, noch für den Onolzbacher Vergleich am Kaiserhof um Konfirmation nach.111 Dass der dahinterstehende Anspruch, die Sukzessionsfrage fortan hausintern zu regeln, mit Risiken verbunden war, verdeutlicht ein Blick in die reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle aus dem Jahre 1628.112 Offenbar sorgte Johann Georg, der jüngste Sohn des 1598 verstorbenen gleichnamigen Kurfürsten, für einige Unruhe am kurbrandenburgischen Hof und verweigerte eine Anerkennung der 1599 bzw. 1603 verabschiedeten Hausgesetze. So musste Kurfürst Georg Wilhelm im September und Oktober 1628 durch den Grafen von Schwarzenberg 107 108

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Gutachten vom 31.03.1599 in ÖStA HHStA, RHR, Reichslehnsakten, Deutsche Expedition, K. 14. ÖStA HHStA, RHR, Judicialia Miscellanea, K. 13 u. K. 14, Konv. 3. Den Einfluss des Erbfolgestreits auf die kurbrandenburgische Reichspolitik und den 1603 erfolgten Anschluss ans kaiserliche Lager betont Gerd Heinrich: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981, S. 60. Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 323–325. Die Bestätigung von Primogeniturordnungen oblag im Übrigen exklusiv dem Reichshofrat; vgl. ebd., S. 328: „Die Bestättigung des Erstgeburts-Rechts, und alles dessen was dahin einschläget, kann nicht bey dem Cammergericht gesuchet, noch allda anhängig gemachet werden: Dann ob es gleich in der That eine Justizsache ist; so ist es doch nun einmal Herkommens, daß es privative vor den Kayser gehöret; wie dann auch das Cammergericht dergleichen etwa incidenter allda mit eingeflochtene Puncten selbsten von dem übrigen separiret, und es gehöriger Orten hin verweiset . . . “ Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 325–326. Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 120. Hierzu Schenk: Reich (wie Anm. 3), S. 55.

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tatsächlich am Kaiserhof darum bitten, ein etwaiges Gesuch Johann Georgs um Belehnung mit der Neumark zurückzuweisen und dem renitenten Markgrafen eine schriftliche Anerkennung der Dispositio Achillea anzubefehlen. Der Reichshofrat Kaiser Ferdinands II. kam diesem der Forschung bislang offenbar unbekannten Gesuch am 12. Oktober 1628 nach. Auch nach 1648 beeinflusste das oberlehnsherrliche Amt des Kaisers das Hausrecht der Hohenzollern, wie die bereits erwähnte kaiserliche Konfirmation eines Testaments des Großen Kurfürsten von 1664 belegt.113 Darüber hinaus verfasste der Hohenzoller im gleichen Jahr eine Disposition zur Bekräftigung des Geraer Hausvertrags. Er begründete diesen Vorgang ausdrücklich damit, dass der Pakt vom Kaiser nicht konfirmiert worden sei.114 Auch für sein letztes, im Januar 1686 aufgerichtetes Testament,115 das den jüngeren Söhnen des Kurprinzen Friedrich die Fürstentümer Minden und Halberstadt, die Grafschaft Ravensberg, das pommersche Amt Naugard, die Lande Lauenburg und Bütow, die Starostei Draheim sowie das westfälische Amt Egeln unter Ausschluss landesherrlicher Rechte, die allein dem Kurfürsten zustehen sollten, anwies, suchte der Kurfürst die Unterstützung Kaiser Leopolds. Am 21./31. Januar 1686 bat er das Reichsoberhaupt, seinen Letzten Willen „krafft habenden höchsten keyserlichen ambts“ unter Wahrung strengster Geheimhaltung zu konfirmieren und sich zugleich bereit zu erklären, dereinst die Vollstreckung zu übernehmen, damit er – Friedrich Wilhelm – „desselben festhaltung desto mehr versichert seyn möge“. Der Kaiser entsprach diesem Wunsch am 10. April.116 Dass die durch Friedrich III. nach dessen Regierungsantritt im Jahre 1688 vorgenommene Kassation dieses Testaments zu keinen weiterreichenden innerdynastischen Spannungen unter Beteiligung des Kaisers führte, dürfte vornehmlich mit dem insgesamt guten Verhältnis Friedrichs zu seinen Stiefbrüdern zusammenhängen, deren standesgemäße Abfindung er

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Siehe oben bei Anm. 80. Zweite Disposition über die Versorgung des Markgrafen Friedrich vom 22.03. bzw. 02.04.1664, abgedruckt bei Caemmerer: Testamente (wie Anm. 82), S. 195–209, hier S. 201; vgl. die Ausführungen bei Moser: Familien-Staats-Recht (wie Anm. 84), Bd. 1, S. 322, 326. Abgedruckt bei Caemmerer: Testamente (wie Anm. 82), S. 273–279; vgl. die Ausführungen bei Opgenoorth: Friedrich Wilhelm (wie Anm. 79), Bd. 2, S. 318; Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte. 4. Aufl., Berlin 1915, S. 250–252; Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 71–75; Heinrich Jobst Graf von Wintzingerode: Schwierige Prinzen. Die Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, Berlin 2011, S. 58. ÖStA HHStA, RHR, Confirmationes privilegiorum, Deutsche Expedition, K. 24, Konv. 1. Die Abschrift eines weiteren kurfürstlichen Testaments vom 20.03.1688 findet sich in ÖStA HHStA, RHR u. RK, Verfassungsakten, Reichshofrätliche Hofkommission zur Verwaltung der Reichshofratsakten, Testamente, Sperr- und Verlassenschaftsakten, K. 67, Konv. 1.

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in einem 1692 durch den Herzog von Sachsen-Zeitz vermittelten Erbvergleich sicherstellte.117 Gleichwohl stand die wohl schärfste jemals an den Kaiserhof herangetragene innerdynastische Auseinandersetzung der Hohenzollern erst noch bevor. Zur Wahrung ihrer Sukzessionsrechte in den fränkischen Fürstentümern strengten die Markgrafen Georg Friedrich Karl und Albrecht Wolfgang von Brandenburg-Kulmbach 1716 einen Prozess gegen Friedrich Wilhelm I. an, um den von dessen Vater 1703 mit den fränkischen Zweigen der Familie abgeschlossenen „Schönberger Sukzessionsvertrag“ annullieren zu lassen.118 Eifrig unterstützt wurden sie dabei durch das Haus Schönborn, das sowohl den Mainzer Kurfürsten als auch den Reichsvizekanzler stellte und den kaiserlichen Gerichtshof letztlich erfolgreich für die eigene Territorialpolitik in Franken instrumentalisierte. 1722 sah sich der Soldatenkönig gezwungen, den Schönberger Vertrag zu annullieren und die kulmbachischen Sukzessionsrechte ausdrücklich anzuerkennen. Der darüber geschlossene Vergleich wurde sodann – auf Antrag der Markgrafen, nicht des Königs – vom Kaiser konfirmiert.119 Friedrich dem Großen war diese Blamage des Hauses eine Lehre. Als er 1752 mit den fränkischen Vettern das „Pactum Fridericianum“ abschloss,120 welches beim Aussterben der beiden Nebenlinien die Vereinigung Ansbachs und Bayreuths mit Preußen vorsah, einigten sich die Parteien auf strenge Geheimhaltung. Der Versuch der Hofburg, den König im Vorfeld des Friedens von Hubertusburg erneut auf die Dispositio Achillea festzulegen, die im Falle des Aussterbens der Nebenlinien die Einrichtung einer Sekundogenitur unter einem nachgeborenen Sohn der Kurlinie vorsah, blieb erfolglos. Während Friedrich gegenüber dem Kaiser erklärte, es handele sich bei der fränkischen Sukzession um eine interne Angelegenheit des Hauses Hohenzollern, ließ er sich jene Sukzession 1769 durch Zarin Katharina vertraglich garantieren. 1779 erreichte der König im Teschener Frieden auch die Garantie durch Österreich. Die fränkische Sukzession wurde durch die Zurückdrängung der oberlehnsherrlichen Befugnisse des Kaisers also nicht zu einer internen Angelegenheit der Hohenzollern, sondern verlagerte sich stattdessen auf das diplomatische

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Zur Versorgung von Friedrichs Stiefbrüdern und zum Erbvergleich von 1692 Wintzingerode: Prinzen (wie Anm. 115), S. 95–100; Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 113. Zu berücksichtigen ist auch die Rückgabe des Kreises Schwiebus an den Kaiser (1694). Siehe hierzu Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 217. Hierzu und zum Folgenden Rudolf Endres: Die Erbabreden zwischen Preußen und den fränkischen Markgrafen im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 25 (1965), S. 43–87. Konzept der Konfirmation vom 03.08.1723 in ÖStA HHStA, RHR, Confirmationes privilegiorum, deutsche Expedition, K. 24, Konv. 2, Nr. 3. Abgedruckt bei Hermann Schulze: Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, Bd. 3, Jena 1883, S. 740–747.

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Parkett des europäischen Mächtesystems – der Preis bestand in verbrieften Mitspracherechten der Zaren in Reichsangelegenheiten.121

7. Reichsrechtliche Implikationen des preußischen Staatsbildungsprozesses Die durch die Hauspolitik Friedrichs des Großen beförderte Zurückdrängung kaiserlich-oberlehnsherrlicher Aufsichtsfunktionen und die mit ihr einhergehende Europäisierung dynastischer Territorialpolitik wies mit Blick auf den Reichsverband zweifellos systemsprengende Potenzen auf und sollte deshalb nicht isoliert betrachtet werden. Dies gilt umso mehr, als die Erforschung der reichsrechtlichen Implikationen des preußischen Staatsbildungsprozesses im Gegensatz zu dessen militärischen, administrativen und ökonomischen Grundlagen ein unübersehbares Desiderat der Preußenhistoriographie darstellt. Bereits 1932 bemerkte Hans Erich Feine, die Stellung BrandenburgPreußens zum Reich werde „stets weniger nach der rechtlichen, mehr nach der politischen Seite“122 betrachtet, und bis heute hat sich daran wenig geändert. Denn noch immer lebt die im 19. Jahrhundert erfundene Mär von imperialer Verfassungslosigkeit und landesherrlicher Souveränität in abgeschwächter Form fort und verstellt den Blick für Friktionen und konkurrierende Geltungsansprüche, die mit der schrittweisen Ablösung Preußens vom Reich nicht nur außen-, sondern auch innenpolitisch einhergingen und die insbesondere die Rechtskultur des landsässigen Adels betrafen. Die weißen Flecken erstrecken sich nicht lediglich auf noch unbearbeitete Archivbestände, sondern umfassen auch Schlüsseldokumente preußischer Geschichte wie beispielsweise die Geburtsurkunde der Hohenzollernmonarchie. Obwohl zentrale Passagen des zwischen Kaiser Leopold I. und Kurfürst Friedrich III. im November 1700 abgeschlossenen Krontraktats123 die künftige Stellung des Kurfürsten-Königs innerhalb des Reichsverbandes betreffen, beschränkt sich die Rezeption dieses Dokuments zumeist auf Fragen der militärischen Zusammenarbeit im Spanischen Erbfolgekrieg.124 Die hier nicht 121

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Hierzu bei weitgehender Ausklammerung der lehnsrechtlichen Dimension Johannes Kunisch: Hausgesetzgebung und Mächtesystem. Zur Einbeziehung hausvertraglicher Erbfolgeregelungen in die Staatenpolitik des ancien régime, in: Ders.: Fürstenstaat (wie Anm. 74), S. 49–80, hier S. 72–79. Hans Erich Feine: Zur Verfassungsentwicklung des Heil. Röm. Reiches seit dem Westfälischen Frieden, in: ZRG GA 52 (1932), S. 65–133, hier S. 105. Abgedruckt bei Theodor von Moerner (Hrsg.): Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601–1700, Berlin 1867, S. 810–823. Dies gilt noch für die neueste Darstellung bei Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 233– 234, wo zumindest knapp auf das Zeremoniell des Berliner Hofes betreffende Restriktionen eingegangen wird.

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im Einzelnen zu würdigenden reichsrechtlichen Vereinbarungen zielten darauf ab, einen schleichenden Souveränitätsimport in die brandenburgischen Reichsterritorien zu verhindern. Dem neuen Monarchen sollten lediglich jene Ehrenrechte zustehen, die der Kaiser den Königen von Schweden, Dänemark und Polen einräumte, welche als Reichsstand in den Reichslehnsnexus eingebunden waren.125 Gleichwohl, und dessen war man sich in Wien durchaus bewusst,126 barg der Königsberger Krönungsakt perspektivisch erhebliche Risiken für den Reichsverband. Denn die rechtliche Trennung des in einer Person vereinigten Königs in Preußen und Kurfürsten von Brandenburg blieb zweifellos eine problematische Konstruktion. Beachtung verdient vor diesem Hintergrund die 1702 publizierte Krönungsgeschichte des preußischen Oberzeremonienmeisters Johann von Besser. Darin war nicht nur zu lesen, dass die neue Majestät dazu berechtigt sei, „Gott den Herrn/ als den eintzigen Geber Jhrer Königlichen Würde/ für Jhren Lehns= und Ober=Herrn zu erkennen/ und demselben zu huldigen“127 . Darüber hinaus hieß es über die brandenburgischen Reichsterritorien, diese seien „zwar nicht das Königreich; aber doch eines Königes Länder: nicht die Krone/ aber doch deren Edelgesteine; die/ weilen sie mit der Krone vereiniget/ ja ihr einverleibet/ nohtwendig dann auch als die wahrhafften Reichs=Kleinodien/ des Namens und Vorzuges der von ihnen umbschlossenen Krone/ mit geniessen“.128 Tatsächlich verschärften der Kronerwerb und der damit verbundene Anspruch auf gleichberechtigte Partizipation im europäischen Konzert der Mächte bereits bestehende Friktionen innerhalb des hierarchisch strukturierten Reichsverbandes. Zwei den landsässigen Adel vornehmlich betreffende Problemkreise sind hier hervorzuheben. Zum einen verstärkten sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Bemühungen der Kurfürsten-Könige, Ap125

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Hierzu Andreas Pečar: Symbolische Politik. Handlungsspielräume im politischen Umgang mit zeremoniellen Normen: Brandenburg-Preußen und der Kaiserhof im Vergleich (1700–1740), in: Jürgen Luh/Vinzenz Czech/Bert Becker (Hrsg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, S. 280–295, hier S. 287. Später sollte Pütter urteilen: „Ob aber überhaupt im politischen Verhältnisse des Berliner Hofes das keinen Einfluß gehabt habe, daß der königliche Titel den damit verbundenen Begriff einer völligen Unabhängigkeit und Gleichheit mit allen anderen Mächten vielleicht überwiegender gemacht hat, an statt daß der churfürstliche Titel, so lange derselbe voranstand, an sich schon eine gewisse Abhängigkeit und Ungleichheit gegen gekrönte Häupter mit sich führte; das ist eine andere Frage. [. . . ] wo politische Rücksichten oft doch unvermeidlich waren, oder das Persönliche selbst sich nicht trennen ließ, da zeigten sich doch bald erhebliche Folgen der persönlichen Einheit eines unabhängigen Königes und zugleich Teutschen Reichsstandes“; vgl. Johann Stephan Pütter: Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 2, Göttingen 1786, S. 358, 360. Johann von Besser: Preußische Krönungs=Geschichte [. . . ], in: Peter-Michael Hahn/ Knut Kiesant (Hrsg.), Johann von Besser (1654–1729). Schriften. Bd. 1: Schrifften in gebundener und ungebundener Rede, bearb. von Andreas Keller, Heidelberg 2009, S. 173– 335, hier S. 194. Besser: Krönungs=Geschichte (wie Anm. 127), S. 179.

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pellationen aus ihren Reichsterritorien an die Reichsgerichte zu unterbinden. Diesen Bestrebungen kam außerhalb der Kurlande erhebliche verfassungsgeschichtliche Bedeutung zu, denn durch den Erwerb der Herzogtümer Kleve und Magdeburg, der Fürstentümer Minden und Halberstadt sowie der Grafschaften Mark und Ravensberg hatte der kurbrandenburgische Länderkomplex jene weitgehende jurisdiktionelle Geschlossenheit, welche die Hohenzollern in den Jahrhunderten zuvor durch eine extensive Auslegung der Goldenen Bulle und durch das 1586 durch Rudolf II. verliehene Privilegium de non appellando illimitatum erlangt hatten, wiederum verloren.129 Auch das 1702 durch Kaiser Leopold verliehene beschränkte Appellationsprivileg130 änderte nichts daran, dass in den außerhalb der Kurmark gelegenen Reichsterritorien noch über Jahrzehnte hinweg vom Rechtsmittel der Appellation an die Reichsgerichte – und das heißt vor allem: an den Reichshofrat – reger Gebrauch gemacht wurde. Als Beschwerdeführer traten dabei neben den Domkapiteln von Magdeburg, Minden und Halberstadt sowie den verbliebenen katholischen Klöstern im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt vor allem landsässige Adelsgeschlechter hervor. Welche Bedeutung dem Kaiser für die adelige Rechtskultur in Magdeburg, Halberstadt, Minden und Kleve noch im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zukam, verdeutlicht der Stoßseufzer des Prinzen Eugen, der sich 1725 gegenüber seinem Berliner Sondergesandten Seckendorff darüber beklagte, dass der Reichshofrat mit Brandenburg-Preußen beinahe genauso viel zu tun habe wie mit dem gesamten übrigen Reich zusammengenommen.131 Hinter dieser scherzhaften Übertreibung verbarg sich durchaus ein wahrer Kern, wie noch heute Dutzende im Haus-, Hof- und Staatsarchiv überlieferte Prozessakten derer von Alvensleben, von der Schulenburg, von der Asseburg oder von Krosigk belegen.132 Durch massiven Druck auf die Appellanten gelang es Friedrich Wilhelm im Laufe der 1720er 129

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Jürgen Weitzel: Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/Wien 1976, S. 87–139; Privileg von 1586 abgedruckt bei Kurt Perels: Die allgemeinen Appellationsprivilegien für Brandenburg-Preußen, Weimar 1908, S. 129–136. Das Privileg erhöhte den für eine Appellation an die Reichsgerichte notwendigen Mindeststreitwert in den Herzogtümern Magdeburg, Kleve und Pommern, den Fürstentümern Halberstadt, Minden und Cammin sowie den Grafschaften Mark und Ravensberg auf 2500 Goldgulden. Abgedruckt bei Perels: Appellationsprivilegien (wie Anm. 129), S. 137–142; vgl. Arnold Berney: König Friedrich I. und das Haus Habsburg (1701–1707), München/Berlin 1927, S. 225–228. Friedrich Förster: Friedrich Wilhelm I. König von Preußen, Potsdam 1835, Urkundenbuch, S. 27. Hierzu Tobias Schenk: Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats als Quelle mitteldeutscher Adelsgeschichte. Eine Einführung am Beispiel des Fürstentums Halberstadt und des Herzogtums Magdeburg (1648/80–1740), in: Enno Bünz/Ulrike Höroldt/Christoph Volkmar (Hrsg.), Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.–18. Jh.) (im Druck).

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und 1730er Jahre jedoch, die Anrufung der Reichsgerichte weitgehend zu unterbinden. Zu Gute kam dem König dabei neben dem Abschreckungspotential seiner Armee auch die stillschweigende Zustimmung des Kaiserhofes, der die Unterstützung Berlins bei der diplomatischen Durchsetzung der Pragmatischen Sanktion benötigte.133 Hinter diesem Hausmachtinteresse musste das kaiserlich-oberstrichterliche Amt umso eher zurückstehen, als der Kaiserhof im Norden des Reiches kaum über Möglichkeiten verfügte, missliebige Urteile gegen einen Reichsstand vom Gewicht BrandenburgPreußens durchzusetzen. Anlässlich seiner Thronbesteigung im Jahre 1740 sah sich Friedrich II. deshalb im Fürstentum Halberstadt mit der ständischen Forderung konfrontiert, Appellationen an die Reichsgerichte nicht weiter zu unterdrücken.134 Den Intentionen des Preußenkönigs entsprach dies freilich keineswegs. Das unbeschränkte Appellationsprivileg, das er 1741 dem bayerischen Kurfürsten als Gegenleistung für seine Kurstimme abhandelte und das schließlich 1750 (rückwirkend zum 31. Mai 1746) in Kraft trat,135 sanktionierte den zwei Jahrzehnte zuvor faktisch erfolgten Rückzug der Reichsjustiz aus den brandenburgischen Reichsterritorien. Der im Tabakskollegium des Soldatenkönigs mitunter bierselig zelebrierte Reichspatriotismus verleitet Teile der Forschung bis heute zu der Fehleinschätzung, Friedrich Wilhelm sei Kaiser Karl VI. in einer geradezu naiven Vasallentreue ergeben gewesen.136 Hinsichtlich der aggressiven Bestrebungen Preußens, sich jeder reichsgerichtlichen Justizkontrolle zu entledigen, kann das Jahr 1740 jedoch kaum als Zäsur gelten. Friedrich der Große brachte hier lediglich ein politisches Werk zu seinem formalen Abschluss, das zum Zeitpunkt seiner Thronbesteigung bereits sehr weit gediehen war. Noch nicht so weit vorangekommen war 1740 der preußische Souveränitätsimport in die Reichsterritorien auf dem Feld des Nobilitierungsrechts. Für die Rechtskultur des landsässigen Adels war dieser Bereich von noch größerer Bedeutung als das Appellationsrecht an die Reichsgerichtsbarkeit, zumal hiervon auch der Adel in den Kurlanden unmittelbar betroffen war.137

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Hierzu detailliert Tobias Schenk: Reichsjustiz im Spannungsverhältnis von oberstrichterlichem Amt und österreichischen Hausmachtinteressen. Der Reichshofrat und der Konflikt um die Allodifikation der Lehen in Brandenburg-Preußen (1717–1728), in: Anja Amend-Traut/Albrecht Cordes/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution, Berlin/New York 2013, S. 103–219. Perels: Appellationsprivilegien (wie Anm. 129), S. 73. Zum preußisch-bayerischen Vertrag vom 04.11.1741 August Siemsen: Kur-Brandenburgs Anteil an den kaiserlichen Wahl-Kapitulationen von 1689 bis 1742, Weimar 1909, S. 81–86. Siehe etwa Peter Baumgart: Friedrich Wilhelm I. (1713–1740), in: Kroll: Preußens Herrscher (wie Anm. 75), S. 134–159, hier S. 157. Hierzu Schenk: Reich (wie Anm. 3), S. 58–61.

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Die schrittweise Usurpation des kaiserlichen Standeserhebungsrechts durch die Hohenzollern hatte bereits in der Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm eingesetzt. Dieser ging in den 1650er Jahren nach kursächsischem Beispiel dazu über, den Genuss einer vom Kaiser erlangten Nobilitierung von einer landesherrlichen Konfirmation abhängig zu machen.138 Darüber hinaus nahm Friedrich Wilhelm nicht nur im Herzogtum Preußen, sondern seit 1675 auch in den brandenburgischen Reichsterritorien selbst Standeserhebungen vor.139 Der Kurfürst verletzte damit nicht allein kaiserliche Reservatrechte, sondern auch die Interessen des Mainzer Kurfürsten als Reichserzkanzler, denn die für Adelsdiplome berechneten Taxgebühren bildeten eine wichtige Einnahmequelle der Wiener Reichskanzlei. Im Krontraktat vom November 1700 musste Friedrich III. deshalb gegenüber Kaiser Leopold einräumen, „dasz in dem heyl. röm. Reich die macht und würde, fürsten, graffen, freyherrn, ritter und edle zu machen, auch palatinaten und dergleichen privilegia zu ertheilen, einem röm. Kayser alsz eines von denen höchsten kayserl. reservatis allein“ zukomme. Kurfürstlich-königliche Diplome für im Reich begüterte Vasallen sollten hingegen „null und nichtig“140 sein. Das kaiserliche Standeserhebungsrecht, das von Teilen der Preußenforschung bis heute verkannt wird,141 bildete deshalb auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen prägenden Faktor für die brandenburgische Adelslandschaft.142 Friedrich der Große rang dem bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht und zukünftigen Kaiser Karl VII. im November 1741 als Gegenleistung für die brandenburgische Kurstimme zwar das exklusive landesherrliche

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Wilhelm von Raumer: Ueber das Recht der Churfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen, in den Adelstand zu erheben, in: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 5 (1831), S. 259–270, hier S. 262. Georg Freiherr von Fröhlichsthal: Nobilitierungen im Heiligen Römischen Reich, in: Sigismund Freiherr von Elverfeldt-Ulm (Hrsg.), Adelsrecht. Entstehung – Struktur – Bedeutung in der Moderne des historischen Adels und seiner Nachkommen, Limburg 2001, S. 67–119, hier S. 94; vgl. Maximilian Gritzner: Chronologische Matrikel der Brandenburgisch-Preußischen Standeserhöhungen und Gnadenakte von 1600–1873, Berlin 1874. Zitiert nach Moerner: Staatsverträge (wie Anm. 123), S. 822. So heißt es bei Göse: Friedrich I. (wie Anm. 34), S. 161, mit Blick auf Standeserhebungen brandenburgischer Vasallen durch das kursächsische Reichsvikariat 1711: „Aus verständlichen Gründen sah er [Friedrich I.] solche konkurrierenden [!] Einflüsse auf die Nobilitierungspolitik nicht gern, denn als nunmehr ,souveräner‘ Herrscher wollte er in einer für die damalige Adelsgesellschaft so bedeutenden Angelegenheit sich nicht das Zepter aus der Hand nehmen lassen.“ Einige Beispiele bei Schenk: Reich (wie Anm. 3), S. 60–61. Das Juxdiplom, mit dem Friedrich Wilhelm I. dem „lustigen Rat“ Jakob Paul von Gundling im Jahre 1724 den Freiherrentitel verlieh, stellte also eine Verletzung kaiserlicher Rechte dar. Diplom und Wappen sind abgedruckt bei Anton Balthasar König: Leben und Thaten Jakob Paul Freiherrn von Gundling [. . . ], Berlin 1795, S. 39–47.

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Nobilitierungsrecht in allen brandenburgisch-preußischen Territorien ab.143 Der Kaiserhof ließ den preußischen Gesandten allerdings noch 1788 unter Bezugnahme auf den Krontraktat wissen, dass allein der Kaiser „Foro omnis nobilitatis et dignitatis in imperio sey“.144 Derweil schrieb das 1794 publizierte Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten fest, dass in Preußen nur der König als „das Oberhaupt des Staates“145 den Adel verleihen könne. Die mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen dieser konkurrierenden Ansprüche auf die Adelslandschaften in den Reichsterritorien der preußischen Monarchie sind bislang noch weitgehend unerforscht. Dass es sich hierbei um keine rein theoretische Fragestellung handelt, beweisen Standeserhebungen preußischer Untertanen, zu denen es am Kaiserhof nachweislich noch im späten 18. Jahrhundert gekommen ist.146

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Fröhlichsthal: Nobilitierungen (wie Anm. 139), S. 96: „Dies ist in dieser Form keinem anderen Reichsfürstentum gelungen.“ Siehe den Bericht des Reichsreferendars Fanz Josef von Albini über ein Gespräch mit dem preußischen Gesandten Jacobi über die Frage einer Belehnung Friedrich Wilhelms II. vom 04.05.1788 in ÖStA HHStA, RHR, Thronbelehnungen und Zeremonialanstände, K. 3, Konv. 3, Bl. 163–165, hier Bl. 163–164. Dem Gesandten habe Albini vorgehalten, dass der König nur in seinen außerhalb des Reiches gelegenen Territorien zur Vornahme von Standeserhebungen berechtigt sei. „Seinen Reichs-Unterthanen hingegen dürfe der König nach dem deutlichen Buchstaben des angezogenen Art. 5 Separati des Cron-Tractats, den ich Ihm allenfalls vorlegen wollte, gar keine Standes-Erhöhungen ertheilen. Foro omnis nobilitatis et dignitatis in imperio sey blos der Kaiser, in Ansehung der Reichslanden sey der König mehr nicht als Kurfürst und Fürst, es könne ihm also so wenig als einem andern Kur- und Fürsten das Recht, Standes-Erhöhungen zu ertheilen, eingeräumt werden, sonst alle ander dasselbige verlangen würden. Als König in Preussen aber könne Er überhaupt blos einen preussischen und nie einen ReichsAdel ertheilen; daß er jedoch auch nicht einmal einen preussischen Adel seinen ReichsUnterthanen geben möge, dafür habe sich der Kays. Hof durch den Crontractat sicher gestellt.“ Jacobi habe die Gültigkeit des Krontraktats daraufhin anerkannt, jedoch zu bedenken gegeben, dass der Vertrag auch in beiderseitigem Einvernehmen abgeändert werden könne. Ohnehin beabsichtige der König nicht, Reichsadelsdiplome zu erteilen. Stattdessen sei lediglich an die Erteilung des preußischen Adels an im Reich ansässige Personen gedacht. Die Taxeinnahmen der Reichskanzlei würden hierunter nicht leiden, da die preußischen Untertanen bereits wüssten, „daß es der König nicht gern sehen und daß Ihnen die erhaltenen Titels nicht gegeben würden, dermal wenig oder wohl gar keine Standes-Erhöhungen dahier nachsuchten. Indessen begreife Er doch auch, daß der König diese Sache zugleich mit Sr. Kurfst. Gn. zu Mainz wird ausmachen müssen.“ Siehe Walter Demel: Preußisches und bayerisches Adelsrecht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Vergleich der großen Kodifikationen, in: Maximiliane Kriechbaum (Hrsg.), Festschrift für Sten Gagnér zum 3. März 1996, Ebelsbach 1996, S. 151– 180, hier S. 175; Harald v. Kalm: Das preußische Heroldsamt (1855–1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung, Berlin 1994, S. 70. Dass dies sogar mit Blick auf Ostpreußen gilt, belegt das prominente Beispiel Theodor Gottlieb Hippels, der 1790 gemeinsam mit einem Bruder und mehreren Vettern vom Kaiser in den Reichsadelsstand erhoben wurde; vgl. ÖStA AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten, K. 188, Nr. 28; Frank: Standeserhebungen (wie Anm. 17), Bd. 2, S. 207.

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8. Der Reichshofrat als oberster Lehnshof und der landsässige Adel Als Höchstgericht wie als Administrationsorgan kaiserlicher Standeserhebungen nahm die Prägefunktion des Reichshofrats für landadelige Rechtskulturen in Brandenburg-Preußen im Laufe des 18. Jahrhunderts zweifellos ab. Freilich ist über dieser durch weitere empirische Studien zu präzisierenden Feststellung nicht zu übersehen, dass die Zurückdrängung kaiserlicher Aufsichtsfunktionen kein Selbstläufer war, sondern gegen Teile des Adels mit machtpolitischen Mitteln durchgesetzt werden musste. Die Forschungsdiskussion um die Herausbildung einer spezifisch preußischen, auf den königlichen Dienst bezogenen „Regimentskultur“147 sollte deshalb nicht allein um die Pole Rittergut, Garnison und Residenz148 kreisen, sondern auch gegenläufige, auf Kaiser und Reich bezogene Loyalitäten berücksichtigen. Hierzu ist abschließend noch einmal auf die Funktion des Reichshofrats als oberster Lehnshof zurückzukommen. Der skizzierte Einfluss des Kaisers auf die Entwicklung des hohenzollernschen Hausrechts bestätigt ebenso wie die im vorliegenden Beitrag weitgehend ausgesparte Geschichte der Thronbelehnungen die Sichtweise Frank Göses, wonach die Analyse lehnsrechtlicher Bindungen gerade in vermeintlich kaiserfernen Reichsregionen reizvolle Forschungsperspektiven eröffne.149 Dieser Befund gilt nicht allein für dynastiegeschichtliche Forschungen oder für Analysen des neuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, sondern auch für den landsässigen Adel. Anzuknüpfen ist dabei an die von Matthias Schnettger aufgeworfene Frage, ob Untertanen frühneuzeitlicher Lehnsfürstentümer über ein Bewusstsein für die Vasallität ihres Lehnsherrn verfügten und versuchten, diesbezügliche politische Handlungsspielräume zu nutzen.150 Mit Blick auf BrandenburgPreußen ließe sich beispielsweise auf die Stadt Magdeburg verweisen, die sich unmittelbar vor ihrer Unterwerfung unter Administrator August von Sachsen und Kurfürst Friedrich Wilhelm (Vertrag von Kloster Berge, 28. Mai 1666) mit der Bitte an Kaiser Leopold wandte, dem kurbrandenburgischen Lehnsbrief künftig die Magdeburger Privilegien einzuverleiben.151 Der Versuch, 147 148 149 150

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Hierzu vor allem Jürgen Kloosterhuis (Bearb.): Legendäre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713–1740, Berlin 2003. Vgl. Frank Göse: Rittergut – Garnison – Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648–1763, Berlin 2005. Frank Göse: „Fern vom Kaiser?“ Mittel- und norddeutsche Reichsterritorien 1450–1700 – eine Einführung, in: BlldtLG 145/146 (2009/2010), S. 1–12, hier S. 4. Matthias Schnettger: Päpstliches und kaiserliches Lehnswesen in der Frühen Neuzeit – einige Vorüberlegungen, in: zeitenblicke 6 (2007), Nr. 1, [10.05.2007], URL: http:// www.zeitenblicke.de/2007/1/editorial/index_html. Gesuch Magdeburgs vom 05./15.03.1666 in ÖStA HHStA, RHR, Reichslehnsakten, Deutsche Expedition, K. 18, ebd. auch ein diesbezügliches, vom 01.04.1666 datierendes Reichshofratsgutachten. Anmerkung: Im Rahmen einer durch den Autor geplanten

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städtische Autonomierechte durch den dominus directus des Landesherrn abzusichern, legt den Schluss nahe, dass das oberlehnsherrliche Amt nicht nur von großer Bedeutung für das kaiserliche Selbstverständnis war, sondern darüber hinaus auch die Wahrnehmung des Kaisers im Reich beeinflusste. Die Problemstellung ist hinsichtlich des landsässigen Adels wie folgt zuzuspitzen: Wenn sich die Verfügungsgewalt über ein Lehnsobjekt in ein lehnsherrliches Obereigentum (dominium directum) und ein vasallitisches Nutzeigentum (dominium utile) teilte, wie verhielt sich dann das landesherrliche dominium directum über die Rittergüter zum dominium directum, das Kaiser und Reich über die Reichsfürstentümer ausübten? Wurde ersteres durch letzteres in irgendeiner Form begrenzt? Natürlich nicht – meinte 1782 der Hallenser Jurist Karl Friedrich Zepernick. Das Dominium directum des Landesherrn über die Rittergüter könne „unmöglich ein Theil desjenigen dominii utilis seyn, welches der Landesherr vom Kaiser und Reiche hat; und wodurch sein Land ein Reichslehen wird. Denn wie könnte der Landesherr hier zugleich dominus utilis und dominus directus dieser Güter seyn? Wie wäre es in diesem Falle möglich, daß das dominum directum des Landesherrn mit dem dominio utili seines Vasallen, zusammengenommen, ein völliges dominium ausmachen könnte? Was bliebe alsdann für den obersten Lehnsherrn, nemlich Kaiser und Reich, übrig? [. . . ] Kaiser und Reich sind in Ansehung derselben so wenig mittelbare, als unmittelbare Lehnsherrn.“152 Teile des brandenburgischen Adels hatten dies ein halbes Jahrhundert zuvor freilich noch ganz anders gesehen. Sie hatten diese Auffassung auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, als Friedrich Wilhelm I. 1717 eine Allodifikation der Rittergüter dekretiert hatte, mit der die Pflicht zur Stellung des Lehnsaufgebotes im Kriegsfall durch eine Steuer abgelöst werden sollte.153 Die Ankündigung des Königs, den Rittergutsbesitzern im Gegenzug sein landesherrliches dominium directum zu übertragen, diesen also eine volle güterrechtliche Verfügungsgewalt einzuräumen, wurde von den Betroffenen – zur großen Überraschung des Monarchen – keineswegs allseits dankbar aufgenommen. Stattdessen hielten ihm Teile der Ritterschaft im Herzogtum Magdeburg, im Fürstentum Halberstadt und in der zu den Kurlanden gehörenden Altmark entgegen, dass der Lehnsnexus den landsässigen Adel mittelbar auch an Kaiser und Reich binde. Folglich könne der König gar nicht eigenmächtig über jene oberlehnsherrlichen Rechte verfügen, die er im Rahmen der Allodifikation abtreten wolle. Der König fand dies „impertinent“, doch war selbst mancher königliche Amtsträger der Ansicht, es sei „nicht

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Ordnungs- und Erschließungsmaßnahme kann es mittelfristig zu einer Änderung der hier angegebenen Kartonnummer kommen. Karl Friedrich Zepernick: Sammlung auserlesener Abhandlungen aus dem Lehnrechte, Bd. 3, Halle 1782, S. 59. Hierzu detailliert Schenk: Reichsjustiz (wie Anm. 133).

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wohl zu begreiffen“, dass dem Kaiser als Oberlehnsherrn „in Sachen der SubVasallen gar keine Cognition solte zustehen“.154 Auch am Kaiserhof, den die Magdeburger Adelsopposition durch konspirative Kontakte zum kaiserlichen Gesandten beim Niedersächsischen Kreis über die Pläne des Königs in Kenntnis gesetzt hatte, war man der Ansicht, dass der Preußenkönig im Begriff stand, seine „Eydespflichten“ gegenüber Kaiser und Reich zu verletzen.155 Der Reichshofrat wies seinen Herrn darauf hin, dass, „wenn alles in die Allodialität verkehret worden, die materie der Lehnssachen weiters nit subsistiren“ könne und eine „Versperrung des Recursus zum Kayserlichen Justiz-Thron“ die unweigerliche Folge sei. Deshalb bewirke eine Umwandlung der mittelbaren Lehen in Eigentum eine weitere „Entziehung solcher [brandenburgischen] Reichslande aus des heiligen Reichs Bothmäßigkeit und Einschrenckung unter die independente preußische Beherrschung“. Das Mandat, das der Kaiser im Februar 1725 gegen den preußischen König erließ und mit dessen Exekution er den König von Polen als Kurfürsten von Sachsen, den König von Schweden als Herzog von Pommern und die Kurfürsten von Trier und von der Pfalz als ausschreibende Fürsten des Oberrheinischen Kreises betraute, ließ sich freilich nicht durchsetzen.156 Gleichwohl schärft die von Teilen des landsässigen Adels gegen den eigenen Landesherrn ins Feld geführte mittelbare Treuebindung an Kaiser und Reich das Bewusstsein für die Bedeutung, die dem Reichslehnswesen auch auf Untertanenebene zukam. In einer neueren Überblicksdarstellung über das Lehnswesen heißt es hierzu: „Jedes einzelne Belehnungsritual, auf welcher Ebene des Verbandes es sich auch abspielte, konstituierte das gleiche Verhältnis, wie es zwischen der Spitze, dem König, und den Reichsfürsten bestand, und verlieh dem Lehnsverband damit eine homogene Struktur bis in die untersten Verästelungen hinein.“157 Eine solche Verknüpfung von Reichs- und Territorialebene durch das Lehnswesen scheint in der oben geschilderten Bezugnahme der Kurfürsten auf die kaiserliche Konfirmation der Dispositio Achillea im Rahmen der Landeshuldigungen158 zumindest für das 16. Jahrhundert einen gewissen Rückhalt zu finden. Bekannt ist darüber hinaus, dass die Stände von Kleve und Mark den Kurfürsten noch zur Mitte des 17. Jahrhunderts an die Oberauf-

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Gutachten des Justizrats Ludwig Otto von Plotho vom Januar 1715 in GStA PK, I. HA, Rep. 18, Nr. 31, Fasz. 63, Bl. 40. Reichshofratsgutachten vom 16.06.1724 in: ÖStA HHStA, RHR, Vota, K. 33 (M 1), hiernach auch die folgenden Zitate. Hierzu detalliert Schenk: Reichsjustiz (wie Anm. 133), S. 185–196. Barbara Stollberg-Rilinger: Das Reich als Lehnssystem, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Begleitband zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Berlin 2006, S. 55–67, hier S. 57. Vgl. oben bei Anm. 99.

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sicht des Kaisers als „Ober Lehnherren“159 und „verus protector privilegiorum patriae“160 erinnerten. Derartige Bezugnahmen auf die traditionelle Funktion des Kaisers als Lehnsherrn und Garanten der landständischen Verfassung161 besaßen in Kleve und Mark aufgrund der fragilen landesherrlichen Position in Folge des erst 1666 beigelegten Erbfolgestreits mit Pfalz-Neuburg besonderes Gewicht. Insofern dürfen sie nicht unbesehen auf die übrigen Adelslandschaften Brandenburg-Preußens übertragen werden, zumal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch in Kleve und Mark eine Entwicklung einsetzte, die auf eine stärkere herrschaftliche Überformung des überkommenen Treuebegriffs hinauslief.162 Ungeachtet der mentalitätsgeschichtlich gewiss nicht gering einzuschätzenden Bedeutung des Kronerwerbs blieben im Huldigungs- und Belehnungszeremoniell indirekte Bezüge zu Kaiser und Reich jedoch selbst in den Kurlanden erhalten. Der Eid, den die kurmärkische Ritterschaft im April 1713 im Berliner Stadtschloss schwor, richtete sich an den „Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friderich Wilhelmen, Könige in Preussen, als Marggrafen zu Brandenburg, des Heil. R. Reiches Ertz-Cämmerern und Churfürsten“ etc. etc.163 Der brandenburgische Kurhut staubte derweil nicht etwa in einer längst vergessenen Kammer des Stadtschlosses vor sich hin, sondern befand sich bis 1806 im Einsatz. Noch Friedrich Nicolai erwähnt in seiner 1786 publizierten Beschreibung Berlins und Potsdams den im Lehnsarchiv in der Friedrichstadt verwahrten Hut, der „bey den Belehnungen gebrauchet wird“164 . Über das diesbezügliche 159 160

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Quelle von 1642 zitiert nach Michael Kaiser: Landständische Reformen in Kleve? Der Streit um die Landtagsordnung von 1639, in: RhVjbll 73 (2009), S. 159–204, hier S. 167. Quelle von 1652 zitiert nach Volker Seresse: Politische Normen in Kleve-Mark während des 17. Jahrhunderts. Argumentationsgeschichtliche und herrschaftstheoretische Zugänge zur politischen Kultur der frühen Neuzeit, Epfendorf 2005, S. 165. Dass diese Rolle in weiten Teilen des Reiches noch in napoleonischer Zeit nicht vergessen war, verdeutlichten beispielsweise die Landstände des Herzogtums Westfalens, die sich 1805 nach Wien wandten, nachdem ihnen der Großherzog von Hessen-Darmstadt als neuer Landesherr die Bestätigung ihrer Privilegien verweigert hatte. Siehe Harm Klueting: Vom Aufgeklärten Absolutismus zu den Reformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Helmut Reinalter/Ders. (Hrsg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 331–360, hier S. 344. Seresse: Politische Normen (wie Anm. 160), S. 233. Formular der der Ritterschaft verlesenen „Fürhaltung der Lehens-Pflicht“, abgedruckt in: Die europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, Bd. 145 (1713), S. 214–215 (Hervorhebung durch den Verfasser). Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, Bd. 1, Berlin 1786, S. 329; vgl. ebenso Friedrich Gottlob Leonhardi: Erdbeschreibung der Preußischen Monarchie, Bd. 1, Halle 1791, S. 235. Die Lehnskanzlei war 1735 aus dem Stadtschloss in das Kollegienhaus in der Lindenstraße, in dem sich auch das Kammergericht befand, umgezogen; vgl. Holtze: Lehnskanzlei (wie Anm. 33), S. 70. Auch in der Memorialkultur des Fürstentums Halberstadt kam dem Kurhut gemeinsam mit dem Lehnssessel, auf

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Zeremoniell berichtet Georg Wilhelm von Raumer: „Im Belehnungstermin liest der Lehnarchivar den Lehneid vor, der Vasall schwört ihm nach, faßt dann mit der rechten Hand die Spitze des Churhutes an (welchen auch die Gesammthänder mit angreifen) und hält ihn so lange fest als die Investiturformel verlesen wird.“165 Als materielles Symbol, auf das der Eid als „Sakrament der Herrschaft“166 nicht verzichten kann, diente also auch im „Zeitalter des Absolutismus“ ein Gegenstand, der die Einbindung des preußischen Königs in den Reichsverband zum Ausdruck brachte. Erst 1809 legten die preußischen Könige den Titel eines Kurfürsten und Erzkämmerer des Reiches ab.167 Insofern hat es durchaus seine Richtigkeit, wenn es in einer 1841 erschienenen Biographie Friedrich Wilhelms III. über die Landeshuldigungen des Jahres 1798 heißt: „In Königsberg huldigte das Königreich dem souverainen Scepter, in Berlin die deutschen Reichsländer dem Kurhut des Herrschers.“168 Zumindest in Magdeburg und Halberstadt, wo stiftsadelige Mentalitäten aus der Zeit vor 1648 offenbar noch lange fortlebten, war diese Einbindung des Landesherrn in das Rechtssystem des Alten Reiches bis ins 18. Jahrhundert hinein von praktischer Bedeutung. Von Friedrich Wilhelms 1722 postulierter Forderung, keinen herren [zu] Kennen als Gott und den Köhnig in Preussen169 , waren dort viele Familien noch weit entfernt. Selbst der böhmische Lehnsnexus war noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zumindest für Teile des landsässigen Adels konkret erfahrbar. Verantwortlich hierfür waren die schwedischen Könige, die nach 1648 als Rechtsnachfolger der Herzöge von Pommern über eine Anwartschaft auf die

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dem Kurfürst Friedrich Wilhelm 1650 die Huldigung entgegen genommen hatte, eine nicht unbedeutende Rolle zu. Hierzu Nils Grübel: Halberstadt, in: Wolfgang Adam/ Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, 3 Bde., Berlin/Boston 2012, Bd. 2, S. 713– 755, hier S. 746. Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 339. Paolo Prodi: Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. Berlin 1997. Zum Eid als „der metaphysischen Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung“ vgl. André Holenstein: Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: Peter Blickle (Hrsg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 11–63, Zitat S. 12. Raumer: Lehnsverhältnisse (wie Anm. 35), S. 312; vgl. zur Präsentation von Kurschwert und Kurhut im Rahmen des Trauerzuges zur Beisetzung Friedrichs des Großen (1786) Biskup: Friedrichs Größe (wie Anm. 75), S. 148. Johann Karl Kretzschmer: Friedrich Wilhelm III. Sein Leben, sein Wirken und seine Zeit. Ein Erinnerungsbuch für das deutsche Volk, Bd. 1, Danzig 1841, S. 232; zu den zeremonialpolitischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Berliner Huldigungsfeier von 1798 nunmehr Biskup: Friedrichs Größe (wie Anm. 75), S. 167–175. Zitiert nach Richard Dietrich (Hrsg.): Die politischen Testamente der Hohenzollern, Köln/Wien 1986, S. 229.

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Neumark verfügten und zur Geltendmachung dieses Rechtsanspruchs Deputierte zu den in Küstrin stattfindenden neumärkischen Landeshuldigungen entsandten. Die Huldigung der Ritterschaft aus den der Neumark inkorporierten böhmischen Lehen – u. a. dem Herzogtum Crossen – musste deshalb separat erfolgen.170 Die spezifische lehnsrechtliche Verfassung des eigenen Territoriums wurde dessen Einwohnern somit bei jedem Regierungswechsel in Erinnerung gerufen, sie blieb „physisch wahrnehmbar“171 . Noch 1717 zog die Crossener Ritterschaft in der Auseinandersetzung um die Allodifikation der Lehen eine Anrufung Karl VI. in Erwägung – wohlgemerkt nicht in dessen Funktion als Kaiser, sondern als König von Böhmen.172

9. Fazit Die immense Bedeutung, die das Reichskammergericht seit dem 16. Jahrhundert für den landsässigen Adel in zahlreichen Regionen des Alten Reiches besaß, ist der Forschung bereits seit den grundlegenden Studien Filippo Ranieris bekannt.173 Mit der voranschreitenden Erschließung zweier Gerichtsaktenserien aus der Judizialregistratur des Reichshofrats wird sich der Zugang zu zentralen Quellen adliger Justiznutzung im Alten Reich in den folgenden Jahren weiter verbessern. Freilich kann schon zum jetzigen Zeitpunkt kein Zweifel daran bestehen, dass sich mit den Reichshofratsakten gerade aus adelsgeschichtlicher Perspektive viel weiterreichende Forschungsperspektiven verbinden als mit jedem anderen Quellenbestand. Diese Gewissheit verdankt 170

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Beschreibung Der Neu=Märckschen und Pommerschen Huldigung/ Geschehen zu Cüstrin den 5ten und zu Stargard den 9ten Octobr. dieses itzt lauffenden 1699. Jahres, in: Hahn/Kiesant: Johann von Besser (wie Anm. 127), S. 159–168, hier S. 162; Johann Christian Lünig: Theatrum Europaeum, Bd. 15, Frankfurt am Main 1707, S. 551. Mit Blick auf die herzoglich pommersche Zeit die Beschreibung der neumärkischen Huldigung von 1598: Raumer: Regierungs-Antritt (wie Anm. 105), S. 359. Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693–1806), Konstanz/München 2012, S. 27. Der Autor bezieht sich auf die Analyse frühneuzeitlicher Zeugenverhörprotokolle, die im Rahmen von Reichskammergerichtsprozessen entstanden. Die mit der Ausübung von Herrschaft verbundenen physisch wahrnehmbaren Handlungen wie Huldigungen, Steuereintreibung oder die Bestrafung von Delinquenten bildeten demnach eine wichtige „Ordnungskategorie von Erinnerung“ innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Schenk: Reichsjustiz (wie Anm. 133), S. 144–145. Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG 17/I, II), Köln/Wien 1985, hier Bd. 1, S. 230–233; vgl. aus neuerer Zeit mit weiterer Literatur Christian Wieland: The Violence of the Nobility and the Peaceableness of the Law. The Rhetoric and Practice of German Aristocrats towards the “New” Judiciary in the Sixteenth Century, in: Jörn Leonhard/Christian Wieland (Hrsg.), What Makes the Nobility Noble?, Göttingen 2011, S. 35–51.

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sich neben der reichhaltigen Überlieferung zu kaiserlichen Standeserhebungen nicht zuletzt der Tätigkeit des Reichshofrats als oberster Lehnshof. Nicht nur Volker Press wies auf die große Bedeutung der oberlehnsherrlichen Funktion für die Stellung des Kaisers im Reich nach 1648 hin.174 Schon Zeitgenossen betonten, man müsse den Kaiserhof schlecht kennen, wollte man übersehen, wie sehr dort oberstrichterliche und oberstlehnsherrliche Tätigkeitsbereiche „in einander laufen“175 . Doch erweist sich der Reichslehnsnexus nicht lediglich als konstitutiv für die noch zu schreibende Geschichte des frühneuzeitlichen Kaisertums. Auch auf territorialer Ebene ist die Bedeutung vasallitischer Strukturen noch im 18. Jahrhundert bei näherem Hinsehen unverkennbar. Wer sich von der massiven Komplexitätsreduktion der „kleindeutschen Geschichtsbaumeister“176 des 19. Jahrhunderts zu lösen vermag, wird rasch feststellen, dass dieser Befund auch für einen Reichsstand vom Gewicht BrandenburgPreußens gilt. Denn lehnsrechtliche Faktoren beeinflussten nicht allein die Dynastiegeschichte der Hohenzollern, sondern sind auch zum Verständnis der brandenburgisch-preußischen Reichs- und Außenpolitik unerlässlich. Die durch die neuere Preußenforschung angestrebte Einbettung der Dynastiegeschichte des Hohenzollernhauses in europäische Zusammenhänge läuft deshalb ohne eine angemessene Berücksichtigung reichsrechtlicher Strukturen unweigerlich Gefahr, die bis ins 18. Jahrhundert hinein vielfach limitierte Stellung des Hauses innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft zu überzeichnen.177 Dass der oberlehnsherrlichen Position des Kaisers selbst mit Blick auf den mittelbaren Adel ein beträchtliches Analysepotential innewohnt, verdeutlicht schließlich die Anrufung Karls VI. als dominus directus durch Teile des brandenburgischen Adels in der Auseinandersetzung um die Allodifikation der Lehen. Es gebe, so bilanzierte Matthias Weber 1997, „nicht mehr sehr viele große Themen der Rechts- und Verfassungsgeschichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die noch völlig unbearbeitet sind“178 . Das Lehnswesen, das noch Generationen von Frühneuzeitforschern und Rechtshistorikern reichhaltigen Stoff für innovative Studien bieten wird, gehört zweifellos dazu. 174

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Volker Press: Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich. Stuttgart 1989, S. 51–80, hier S. 69–70. Anonym: Ist es rathsam, den deutschen Kayser in der neuen Wahl-Capitulation noch mehr einzuschränken, als er es jezt schon ist? Und welche Veränderungen sind bei der Wahl-Capitulation überhaupt zu treffen?, Frankfurt am Main/Leipzig 1790, S. 23–24. Trotz Polemik noch immer lesenswert Onno Klopp: Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, Freiburg 1863. Nach Kroll: Hohenzollern (wie Anm. 75), S. 8, verdeutliche gerade der europäische Vergleich „den oftmals unterschätzten Rang, der vielen Repräsentanten des hohenzollernschen Herrscherhauses zukam, und der die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige gegenüber ihren Kollegen [!] in Frankreich, England oder Spanien keineswegs zurückstehen ließ“. Weber: Reichsacht (wie Anm. 48), S. 56.

Kathrin Rast

Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank1 am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665) Die wissenschaftliche Erschließung der obersten juristischen Amtsträger in der Epoche der Frühen Neuzeit fokussierte sich im bisherigen Forschungsdiskurs in erster Linie auf das Personal des Reichskammergerichts – Kammerrichter, Assessoren und Prokuratoren.2 Die Funktionselite des kai1

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Entgegen den normativen Angaben in den Reichshofratsordnungen offenbarten die serielle Untersuchung und die Analyse der Sitzordnungen in den einzelnen Sessionen resp. die Auswertung der Be- und Zusammensetzung der beiden Bänke anhand der Protocolla Rerum Resolutarum XVII über einen Zeitraum von 35 Jahren (1630–1665), dass die Sitzverteilung keineswegs starr gehandhabt wurde, sondern dass für nichtadelige Juristen von der bürgerlichen Gelehrtenbank in der Praxis tatsächlich die Möglichkeit zur sozialen Dynamik in Form eines Aufstiegs auf die vom Reichshofratspräsidenten aus gesehen sich rechts anschließende adelige Herrenbank bestand. Da es also auch vereinzelt nichtadlige Mitglieder auf der Herrenbank gab, wurde der Zusatz „adlige“ in den Beitragstitel aufgenommen. Vgl. auch HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 20. Genannt seien an dieser Stelle die einschlägigen Studien zum Personal des Reichskammergerichts: Sigrid Jahns: Die Assessoren des Reichskammergerichts in Wetzlar (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 2), Wetzlar 1986; dies.: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 26 I und II 1,2), Teil II: Biographien, Köln/Weimar/Wien 2003. Teil I: Darstellung, Köln/Weimar/Wien 2011. Zugleich Habil. Gießen 1991; Heinz Duchardt: Nicht-Karrieren. Über das Scheitern von Reichskammergerichtskandidaturen und -Präsentationen (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 7), Wetzlar 1989; Hartmut Schmidt: Der Rechtspraktikant Goethe (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 15), Wetzlar 1993; Jürgen Weitzel: Damian Ferdinand Haas (1723–1805) – ein Wetzlarer Prokuratorenleben (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 18), Wetzlar 1996; Sönke Lorenz: Erich Mauritius († 1691 in Wetzlar) – Ein Jurist im Zeitalter der Hexenverfolgung (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 27), Wetzlar 2001; Anette Baumann: Anwälte am Reichskammergericht. Die Prokuratorendynastie Hofmann in Wetzlar (1693–1806) (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 28), Wetzlar 2001; dies.: Korruption und Visitation am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert: eine vorläufige Bilanz (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 41), Wetzlar 2012; dies.: Berufliche, politische und biographische Hintergründe der Richter und Anwälte in der Spätzeit des Reichskammergerichts, in: Albrecht Cordes/Georg Schmidt-von Rhein (Hrsg.), Altes Reich und Neues Recht. Von den Anfängen der bürgerlichen Freiheit. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 15.09.–

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serlichen Reichshofrats – Präsidenten, Vizepräsidenten und Räte -3 hingegen bildet v.a. im Hinblick auf seine praktische Diensttätigkeit, seinen Wirkungskreis sowie seinen Einsatz- und Einflussbereich weiterhin ein elementares

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10.12.2006 im Reichskammergerichtsmuseum und im Stadt- und Industriemuseum Wetzlar, Wetzlar 2006; dies.: Manifestation von Standesdünkel. Die Grabmäler der Reichskammergerichtsangehörigen im Wetzlarer Dom, in: Reiner Sörries (Hrsg.), Kultur des Todes. Interdisziplinäre Beiträge zur Sepulkralkultur aus dem Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute (AsKI), Kassel 2007, S. 9–20; dies.: Die Prokuratoren der Reichsstädte Esslingen und Reutlingen am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert, in: Esslinger Studien 43 (2004), S. 105–123; dies.: Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Wirkens, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Der Weg zur Gründung des Reichskammergerichts und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451– 1527) (QFHG 45), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 161–196; dies.: Die Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar – Stand der Forschung und Forschungsdesiderate, in: Anette Bauman/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Sigrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 179–198; dies.: Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer (1495–1690). Berufswege in der Frühen Neuzeit, in: ZRG GA 117 (2000), S. 550–565; Bernhard Diestelkamp: Gesellschaftliches Leben am Hof des Kammerrichters (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 29), Wetzlar 2002; Martin Dressel: Graf Eitelfriedrich II. von Zollern (1452–1512). Kaiserlicher Rat Maximilians I. und erster Richter am Reichskammergericht, Wetzlar 1995; Hartmut Harthausen: Geistiges Leben im Umkreis des Reichskammergerichts in Speyer (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 19), Wetzlar 1997; Anette Baumann/Anja Eichler: Die Affäre Papius – Korruption am Reichskammergericht. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 01.06.–30.09.2012 im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar, Wetzlar 2012; Magistrat der Stadt Wetzlar und Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung (Hrsg.): Goethe, Götz und die Gerechtigkeit. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar, Wetzlar 1999; Steffen Wunderlich: Das Protokollbuch von Mathias Alber. Zur Praxis des Reichskammergerichts im Frühen 16. Jahrhundert (QFHG 58), Köln/Weimar/Wien 2011. Besonders verwiesen sei an dieser Stelle an die Dissertation von Maria von Loewenich: Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711–1806) (im Erscheinen). Außer den kurzbiographischen Angaben, die Oswald von Gschließer 1942 für seine Dissertation über die Verfassung und die Besetzung dieser federführenden Reichsbehörde zusammengetragen hat, gibt es nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen zum Personal des Reichshofrats: Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942; ders.: Das Beamtentum der hohen Reichsbehörden (Reichshofkanzlei, Reichskammergericht, Reichshofrat, Hofkriegsrat), in: Günther Franz (Hrsg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400–1800, Limburg/Lahn 1972, S. 1–26; Walter Vogel: Der Reichsvizekanzler Georg Sigmund Seld. Sein Leben und Wirken, Diss. phil. Leipzig 1933; Andreas Edel: Johann Baptist Weber (1526–1584). Zum Lebensweg eines gelehrten Juristen und Spitzenbeamten im 16. Jahrhundert, in: MÖSTA 45 (1997), S. 111–185; Reinhard Eichwalder: Georg Adam Fürst Starhemberg (1724–1804). Diplomat, Staatsmann und Grundherr, Diss. phil. Wien 1970; Grete Mecenseffy: Im Dienste dreier Habsburger. Leben und Wirken des Fürsten Johann Weikhard Auersperg (1615–1677), in: Archiv für Österreichische Geschichte 114 (1938), S. 295–509; Victor Bibl: Die Berichte des Reichshofrates Dr. Georg Eder an die Herzöge Albrecht und Wilhelm von Bayern über die Religionskrise in

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Desiderat des weiten Forschungsfeldes Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich.4 Diente das Reichskammergericht ausschließlich als Höchstgericht im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, wirkte und agierte der Reichshofrat multifunktional als Konvergenzzentrale für Kaiser und Reich, welche die verschiedensten Zuständigkeiten in sich verschmolz und in der folglich die unterschiedlichsten Aufgaben- und Anforderungsstränge zusammenliefen. Als federführendes Reichs- und Regierungsorgan5 , das zugleich auch immer habsburgische Haus- und Hofbehörde war, bildete der Reichshofrat eine der

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Niederösterreich (1579–1587), in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich. Neue Folge 8 (1909), S. 67–154; Heinrich Demelius: Reichshofrat Schwarz und sein Testament, in: Nikolaus Grass/Werner Ogris (Hrsg.), Festschrift für Hans Lentze (Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte 4), Innsbruck/München 1969, S. 117–135; Joseph Bergmann: Leibniz als Reichshofrat in Wien und dessen Besoldung. Über den kaiserlichen Reichshofrat nebst dem Verzeichnisse der Reichshofrats-Präsidenten von 1559–1808 (Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. PhilosophischHistorische Klasse 26), Wien 1858; Margot Faak: Leibniz als Reichshofrat, Diss. phil. OstBerlin 1969; Margret Nolte: Der Reichshofrat Johannes von Crane. Der „pacificator“ in den Friedensverhandlungen zu Münster und Osnabrück 1643–1648 und seine Brüder Petrus und Henricus, bedeutende Söhne der kurkölnischen Stadt Geseke in Westfalen (Schriftenreihe des Vereins für Heimatkunde Geseke e.V. 7), Geseke 1992. Lediglich die Gruppe der Reichshofratsagenten, die ähnlich wie die Prokuratoren am RKG als die Parteien vertretender Anwaltstand vor Ort agierten, jedoch anders als diese nicht in die Gerichtsorganisation mit eingebunden waren und somit auch nicht zum eigentlichen Personal der Behörde, d.h. als Mitglieder des kaiserlichen Reichshofrats, zählten, fanden bisher entsprechend Würdigung in der Forschungsliteratur: Thomas Dorfner: „Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an . . . “. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation mit dem und über den Reichshofrat (1658– 1740), in: Anja Amend-Traut/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hrsg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis (bibliothek altes Reich = baR 11), München 2012, S. 97–111; Stefan Ehrenpreis: Die Reichshofratsagenten. Mittler zwischen Kaiserhof und Territorien, in: Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Reichspersonal (wie Anm. 2), S. 165–177; Wolfgang Sellert: Die Agenten und Prokuratoren am Reichshofrat, in: Deutscher Anwaltverein (Hrsg.), Anwälte und ihre Geschichte. Zum 140. Gründungsjahr des Deutschen Anwaltvereins, Tübingen 2011, S. 41–64; Jürgen Weitzel: Die Anwaltschaft an Reichshofrat und Reichskammergericht, in: L’assistance dans la résolution des conflits (Récueils de la Société Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions 65), 4eme partie: L’Europe médiévale et moderne, Brüssel 1998, S. 197–214. Ulrich Eisenhardt: Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtsprechungs- und Regierungsorgan, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hrsg.), Zur Erhaltung guter Ordnung. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245–267; Gabriele Haug-Moritz: Des „Kaysers rechter Arm“: Der Reichshofrat und die Reichspolitik des Kaisers, in: Harm Klueting/Wolfgang Schmale (Hrsg.), Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinander, Münster 2004, S. 23–42; Friedrich Hertz: Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre politische Bedeutung, in: MIÖG 69 (1961), S. 331–358.

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„Herzkammern“ des mächtigen frühneuzeitlichen Zentralverwaltungsapparates. Am Kaiserhof in Wien lokalisiert, den Kaiser auf allen Reisen begleitend und allein von diesem besetzt und unterhalten, und somit dem Einfluss der Stände komplett entzogen, verfügte der Reichshofrat – was die Höchstgerichtsbarkeit betrifft – nicht nur über einen sowohl geographisch, als auch fachspezifisch weitaus größeren Zuständigkeitsbereich als das Reichskammergericht6 , sondern wirkte neben seiner Funktion als höchste juristische Instanz im Reich7 auch exklusiv als eine der wichtigsten kaiserliche Verwaltungsbehörden, Oberster Reichslehenshof8 sowie als autorisiertes Organ für die kaiserlichen Reservatrechte und war somit auch mit Standeserhöhungen, Privilegien- und Gnadenangelegenheiten9 betraut. Außerdem agierte der Reichshofrat zusätzlich als persönliches Beratungsgremium des Kaisers im Sinne eines Staatsrats, wodurch die privilegierte Stellung gegenüber dem durch den Einfluss der Stände dominierten Reichskammergericht deutlich zum Ausdruck kam. Zusätzlich dienten die Reichshofräte den Kaisern auch immerwährend als bevorzugte eigene Personalreserve für diplomatische Missionen jeglicher Art.10 Entsprechend der Vielschichtigkeit der Zuständigkeitsbereiche des Reichshofrats gestaltete sich in der Praxis auch der erweiterte Aktions- und Kompetenzradius seiner einzelnen adligen und/oder juristisch gebildeten Räte - eine Tatsache, die aus den rein normativen Quellen, wie den Reichshofratsordnungen11 , nicht hervorgeht. 6

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Vgl. hierzu: Wolfgang Sellert: Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973; ders.: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (QFHG 34), Köln/Weimar/Wien 1999; ders.: Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Aalen 1965; Manfred Ulhorn: Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats (QFHG 22), Köln/Wien 1990. So galt das „Reichshoffraths Collegium“ – und zwar nicht nur in seinem eigenen natürlichen Selbstverständnis, sondern auch in der allgemeinen Rechtsauffassung des 17. Jahrhunderts – „als das höchste Reichs Justiz-Tribunal“ HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 20. Jean-François Noel: Zur Geschichte der Reichsbelehnungen im 18. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 21 (1968), S. 106–122. Eva Ortlieb: Gnadensachen vor dem Reichshofrat (1519–1564), in: Leopold Auer/Werner Ogris/Dies. (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (QFHG 53), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 177–202. Vgl. hierzu: Leopold Auer: The Role of the Imperial Aulic Council in the Constitutional Structure of the Holy Roman Empire, in: R. J. W. Evans/Michael Schaich/Peter H. Wilson (Hrsg.), The Holy Roman Empire 1495–1806 (Studies of the German Historical Institute London), Oxford 2011, S. 63–75. Wolfgang Sellert (Hrsg.): Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766 (QFHG 8 I und II), Bd. 1: Köln/Wien 1980, Bd. 2: Köln/Wien 1990; Ders.: Der Mainzer Erzkanzler und die Reichshofratsordnungen, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Kurmainz, das Reichs-

Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder

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Was die Aufgabenverteilung betrifft, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass grundsätzlich zwischen den adligen Räten auf der Herrenbank und den gelehrten Räten auf der gegenüberliegenden bürgerlichen Bank differenziert werden muss. Aber auch innerhalb der Herrenbank und der Gelehrtenbank variierten Art und Dauer der Einsatzfelder und Zuständigkeiten der einzelnen Räte erheblich. So inhomogen sich die aktive Dienstverrichtung und die Stellung seiner Mitglieder gestalteten, so unterschiedlich ist auch die Bedeutung der Tätigkeit im Reichshofrat für die jeweilige Biographie. Wie die im Rahmen meines Dissertationsprojektes vorgenommene Erschließung seines weit gefächerten reichshofrätlichen Aktionsprofils ergab, ist die Bedeutung der Dienstverrichtung im Reichshofrat für die gesamte Biographie im konkreten Fall des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665) sehr hoch einzuordnen – stand er doch mehr als die Hälfte seines Lebens in höchsten kaiserlichen Diensten. Notthafft entstammte einem alten bayerisch-böhmischen Ministerialengeschlecht. Er war unter den drei habsburgischen Kaisern Ferdinand II., Ferdinand III. und Leopold I. über den langen Zeitraum von 35 Jahren eine reichsweit für „seine fürtreffliche experienz und erfahrenheit in Reichs- und Justitzsachen [. . . ] beruhmbt und bekandt“ gewordene feste Konstante auf der Herrenbank des kaiserlichen Reichshofrats in Wien.12 Von 1663 bis zu seinem Tod bekleidete der adlige Jurist das Amt des Vizepräsidenten, in welcher Funktion er dem gesamten Konsilium bei Abwesenheit des Präsidenten vorstand, die in der Regel zweimal täglich stattfindenden Sitzungen leitete und als Gutachter auch regelmäßig zu den Beratungen des Geheimen Rats zugezogen wurde.13 Von November 163014 bis Juli 166515 verhandelte er in zahlreichen Delegationen als Kommissar16 reichsweit im Namen des Kaisers,

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erzkanzleramt und das Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert (Geschichtliche Landeskunde 47), Stuttgart 1998, S. 153–171. Vgl. HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 26. U. a. BayHStA München, Familienarchiv (= FA) Notthafft, Literalien (= Lit.) 451, 663, 1454; HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 26. Vgl. HHStA Wien, Protocolla rerum resolutarum, XVII (= Res.prot. XVII)/93, fol. 71v; HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, Kanzleibücher/10, fol. 7r. Vgl. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Totenbeschreibamt, B1, Totenbeschauprotokolle: Bd. 7 fol. 163v; HHStA Wien, RHR, Gratialia et Feudalia, Reichslehensakten deutscher Expedition/124. Vgl. hierzu: Eva Ortlieb: Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG 38), Köln/Weimar/Wien 2001; dies.: Reichspersonal? Die kaiserlichen Kommissare des Reichshofrats und ihre Subdelegierten, in: Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hrsg.), Reichspersonal (wie Anm. 2), S. 59–87; dies.: Gerichtsakten und Parteiakten. Zur Überlieferung der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (QFHG 37), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 101–118; Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–

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führte mit voller Gewalt des Reichsoberhaupts „vor Ort“ wochenlang Verhöre und Zeugenvernehmungen mit den Streitparteien, unternahm im kaiserlichen Auftrag unzählige Kommissionen zur Einnahme des Augenscheins, versuchte als Schlichter gütliche Einigungen zu erzielen und schloss eine nicht zu unterschätzende Anzahl an Vergleichen zwischen Klägern und Beklagten. Darüber hinaus vertrat er als mit höchster Befugnisgewalt und allen Rechten bevollmächtigter Gesandter drei habsburgische Kaiser in zahllosen diplomatischen Missionen, auf Kreis-, Reichs-, Exekutions- und Deputationstagen im gesamten Herrschaftsgebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Entsprechend seines reichsweiten „In-Aktion-Tretens“ hat Notthafft von Hamburg bis Rom und von Straßburg bis Prag eine Unmenge an Spuren hinterlassen - und zwar in Form von Akten in Archiven in Österreich, Deutschland und der Tschechischen Republik.17 Neben den Quellenkorpora zur Rechtsprechung – hier seien v.a. die Resolutionsprotokolle18 und die Prozessakten19 des Reichshofrats genannt - der

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1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz / Abteilung für Universalgeschichte 214) und (Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 18), Mainz 2006; dies.: Schiedlichkeit und gute Nachbarschaft. Die Verfahrenspraxis der Kommissionen des Reichshofrats in den territorialen Hoheitskonflikten des 16. Jahrhunderts, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (ZHF, Beiheft 44), Berlin 2010, S. 129–155. Akten zu Johann Heinrich Notthafft lagern u. a. im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv, dem Archiv der Metropolitan- und Domkirche zu St. Stephan in Wien, dem Archiv des Schottenstiftes Wien, dem Pfarrarchiv St. Michael in Wien, dem Oberösterreichischen Landesarchiv Linz, dem Niederösterreichischen Landesarchiv St. Pölten, dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, dem Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv Regensburg, dem Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg, dem Archiv des Bistums Passau, dem Staatsarchiv Amberg, dem Staatsarchiv Landshut, dem Staatsarchiv Nürnberg, dem Fürstlich Fürstenbergischen Archiv, dem Fürstlich Oettingen-Wallersteinschen Archiv Harburg, dem Staatsarchiv Ludwigsburg, dem HohenloheZentralarchiv Neuenstein, dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, dem Hessischen Staatsarchiv Marburg, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland in Düsseldorf, dem Hauptstaatsarchiv Hannover, den Stadtarchiven Weiden i.d.Opf. und Cham, dem Nationalarchiv Prag, dem Staatlichen Gebietsarchiv Pilsen, dem Staatlichen Gebietsarchiv Leitmeritz, dem Stadt- und Kreisarchiv Eger, dem Staatlichen Regionalarchiv Krumau. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/93 (1630) – XVII/224 (1668). Zu den Resolutionsprotokollen: Lothar Groß: Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806, Wien 1933 (Inventare der österreichischen staatlichen Archive 5/I), S. 247–260; ders.: Reichshofratsprotokolle als Quellen niederösterreichischer Geschichte, in: Jahrbuch für Landeskunde Niederösterreichs 26 (1936), S. 119–123. Anders als die Wetzlarer Registratur des RKG verblieben die Akten des kaiserlichen Reichshofrats nach dem Ende des Alten Reiches nahezu geschlossen in Wien. Der Bestand „Reichshofrat“ in den „Reichsarchiven“ des HHStA Wien besteht neben einem Fiskalarchiv und Verfassungsakten aus einer Lehens- und Gratial- sowie einer Judizialregistratur. Allein die Judicialia des Reichshofrats bestehen aus 11 Serien (Alte Prager

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offiziellen Reichsüberlieferung und dem Schriftgut, das die Tätigkeit des Reichshofrats als Verwaltungsbehörde dokumentiert, galt es auch die diplomatische Überlieferung in den Reichstags-, Kreistags-, Landtags- und anderen Deputationsakten, die sich zum Gesandtschaftswesen der kaiserlichen Räte niedergeschlagen hat, heranzuziehen. Als Quelle von unschätzbarem Wert erwiesen sich die persönlichen Handakten, Aufzeichnungen und Korrespondenzen Notthaffts, die sich im Familienarchiv, das als Depot im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München lagert, zu vielen Reichshofratsprozessen erhalten haben. Berücksichtigt wurden auch die Parteienüberlieferung und die Aufzeichnungen seiner Verhandlungspartner. Entsprechend dem Thema der Tagung „Adel und (höchste) Gerichtsbarkeit – adelige Rechtskultur im Alten Europa“ sollen im Folgenden einzelne Aspekte der „Fallstudie Notthafft“ etwas näher beleuchtet werden. Das Hauptaugenmerk des Beitrags liegt dabei auf der zentralen Frage, wie der Reichshofrat und Kämmerer Johann Heinrich Notthafft die Institution Reichshofrat – und zwar in ihrer vielschichtigen Funktion als höchstes Reichsjustiztribunal, als oberster Reichslehenshof und als eine der wichtigsten Reichsbehörden des habsburgischen Zentralverwaltungsapparates – für eigene Interessen und Zwecke frequentiert, d.h. genutzt und auch in Anspruch genommen hat. Akten, Judicialia Miscellanea, Judicialia latinae Expeditiones, Antiqua, Antiquisima, Denegata Antiqua, Denegata recentiora, Decisa, Obere Registratur, Relationes, Vota ad Imperatorem) mit insgesamt 70 000–80 000 Verzeichnungseinheiten und sind bis dato weder inhaltlich noch formal zureichend erschlossen. Nach Klägernamen aufgebaute Findbehelfe aus dem 19. Jahrhundert vereiteln thematisch orientierte Zugänge nahezu vollständig. An dieser Stelle sei auf das Langzeitprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen zur Neuverzeichnung der Prozeßakten des Reichshofrats im HHStA Wien [www.uni-goettingen.de und www.reichshofratsakten.de] verwiesen. Vgl. hierzu: Leopold Auer: Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117–130; Eva Ortlieb: Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (QFHG 57), Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 205–224; Leopold Auer: Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon, in: Thomas Olechowski/Christian Neschwara/Alina Lengauer (Hrsg.), Grundlagen der europäischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 1–13; Friedrich Battenberg: Reichshofratsakten in den deutschen Staatsarchiven. Eine vorläufige Bestandsaufnahme, in: Sellert: Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 6), S. 221–240; Barbara Staudinger: Die Reichshofratsakten als Quelle zur Geschichte der österreichischen und böhmischen Länder im 16. und 17. Jahrhundert, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Quellenkunde der Habsburger Monarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, in: MIÖG, Ergänzungsband 44, Wien/München 2004, S. 327–336; Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis: Prozessakten als Quelle (wie Anm. 16).

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Die im Rahmen des Dissertationsprojekts vorgenommene Typisierung und Kategorisierung der einzelnen Aktionsstränge seines reichshofrätlichen Tätigkeitsprofils ergab, dass Notthafft den Reichshofrat über drei verschiedene Zugänge genutzt hat: 1. als Kläger mit der Absicht, eigene Rechtspositionen durchzusetzen, 2. als Bewerber um Ämter und Privilegien, Gnaden und Standeserhöhungen sowie bei der Eingabe von Suppliken an den Kaiser, 3. als Antragsteller bei der Vergabe vakant gewordener Lehen.

1. Notthafft als Kläger am Reichshofrat Schaut man sich einmal die umfangreiche Überlieferung zu Johann Heinrich Notthafft im familieneigenen Archiv näher an, so wird schnell deutlich, welchen Raum private, d.h. eigene Rechtshändel jeglicher Art, in seinem außerberuflichen Leben eingenommen haben. Mehrere Regalmeter an offiziellem wie persönlichem Schriftgut zu juristischen Streitigkeiten, in denen er als Kläger für sich, seine Familie, seine engere und nähere Verwandtschaft, sowie als Rechtsbeistand für Freunde, in seiner Funktion als Vormund, als Testamentsexekutor und als Zessionar etc. wegen Besitzansprüchen, Schuldforderungen, Erbanwartschaften und vielen anderen Belangen, für die es sich offensichtlich lohnte, vor Gericht zu streiten, an verschiedenen Instanzen auftritt20 , lassen den Schluss zu, dass die Juristerei durchaus als eine Art „privater Passion“ des Reichsgrafen von Wernberg charakterisiert werden kann. Um all seiner Zwistigkeiten und Händel – war er doch bedingt durch das „Prinzip der Resonanz“ in mindestens ebenso vielen Rechtsstreitigkeiten auch selbst Beklagter – Herr zu werden, v.a. auch in logistischer Hinsicht, unterhielt der versierte Jurist an den Gerichtsorten seiner großen Güter in Bayern, Franken, Niederösterreich und Böhmen zeitlebens einen ständigen Stab besoldeter Advokaten und eigener „Agenten“.21

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Hier v.a.: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 5, 18, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42,44, 45, 49, 51, 59, 64, 67, 68, 69, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 91, 93, 94, 95, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 105, 106, 107, 108, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 145, 147, 149, 152, 176, 138, 140, 146, 178, 184, 195, 206, 207, 208, 209, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 218, 221, 223, 225, 227, 230, 234, 237, 238, 240, 244, 367, 370, 377, 384, 387, 395, 403, 404, 409, 426, 444, 447, 450, 456, 459, 461, 481, 488, 489, 513, 514, 516, 519, 523, 524, 525, 526, 527, 528, 529, 530, 531, 532, 533, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 551, 554, 559, 574, 575, 581,591, 593, 594, 603, 611, 606, 608, 611, 619, 620, 625, 627, 647, 666, 667, 673, 721, 743, 748, 682, 693, 694, 701, 702, 703, 704, 706, 716, 735, 736, 764, 794, 795, 797, 870, 878, 1031, 1055, 1056, 1057, 1085, 1206, 1289, 1291, 1292, 1293, 1296, 1297, 1312, 1313, 1329, 1389. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 632, 828, 1247, 1401.

Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder

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Wie die Eingaben an den Reichshofrat anschaulich dokumentieren, wurden viele seiner Rechtsstreitigkeiten privater Observanz erst- oder auch letztinstanzlich am kaiserlichen Reichshofrat ausgetragen.22 Der Kreis der Beklagten ist dabei ebenso groß wie aufschlussreich. So prozessierte der streitbare Reichsgraf – wohlgemerkt neben seiner zeit- und arbeitsintensiven Dienstverrichtung im Reichshofrat – gegen die direkte (u. a. auch die wiederverheiratete Mutter), nähere und angeheiratete Verwandtschaft, Trauzeugen, Taufpaten seiner Kinder, diverse Kollegen, Geschäftspartner, Nachbarn etc. Die Liste ließe sich beliebig fortführen.23 Bereits zwei Jahre nach seiner Installation zum Reichshofrat auf der Herrenbank tritt Notthafft, der nachweisbar in Altdorf24 , Ingolstadt25 und Padua26 Rechtswissenschaften studiert und seine Laufbahn als Jurist in kurfürstlich bayerischen Diensten begonnen, diese aber nur als „Durchgangsstation“ betrachtet hat27 , am 24. Juli 1632 auch schon selbst als Kläger am Reichshofrat auf.28 Bis zu seinem Tod 1665 nutzte er den Reichshofrat auch regelmäßig als oberste Appellationsinstanz.29 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Notthafft bei der Verhandlung seiner eigenen Rechtsstreitigkeiten von den Sitzungen ausgeschlossen war und somit auch nicht mitvotierte. 22 23

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HHStA Wien, RHR, Ant. 438/1–16. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. Nr. 33, 36, 38, 39, 40, 41, 42, 189, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 215, 217, 218, 221, 223, 225, 230, 235, 237, 270, 279, 289, 290, 292, 293, 294, 301, 302, 305, 307, 313, 314, 321, 322, 325, 327, 338, 339, 340, 359, 364, 365, 366, 367, 396, 456, 489, 554, 593, 620, 663, 666, 692, 693, 694, 749, 795, 797, 833, 1085, 1292; FA Notthafft, Urkunden (= U) Nr. 3118. Notthafft immatrikulierte sich am 1.02.1621 (Nr. 4969) an der Akademie in Altdorf: Elias von Steinmeyer (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Altdorf (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte IV/2), 2 Bde., Würzburg 1912, S. 166. Nach seiner Konversion immatrikulierte sich Notthafft 23.10.1622 an der Universität Ingolstadt: Götz Freiherr von Pöllnitz: Die Matrikel der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt-Landshut-München, Teil I Ingolstadt, Band II. 1600–1700, 1. Halbband 1600– 1650, München 1939, S. 438; Johann Nepomuk Mederer: Annales Ingolstadiensis Academiae, 4 Bde., Ingolstadt 1782, Bd. 2, S. 234f. Wie aus den Matrikeln hervorgeht, immatrikulierte sich Notthafft am 4.11.1623 (Nr. 1913) an der Universität Padua: Elisabetta Dalla Francesca Hellmann (Hrsg.): Matricula nationis Germanicae iuristarum in Gymnasio Patavino. Natio Germanica IV/2 (Fonti per la storia dell’Universita di Padova 21), Roma/Padua 2008, S. 160. Den, dem jungen Kandidaten vom kurfürstlichen bayerischen Hofrat zur juristischen Erörterung gestellte komplexe Rechtsfall, hat Notthafft, wie seine Proberelation unter Beweis stellt, derart versiert gemeistert, dass ihm eine Anstellung im kurfürstlich bayerischen Dienst, und zwar im Rentamt Straubing, sofort bewilligt wurde. Der Onkel des um raschen Aufstieg bemühten jungen Kavalliers, Sigmund Notthafft von Wernberg, wandte sich bereits 1627 in einem Schreiben an Kurfürst Maximilian, in dem er sich beklagte, sein Neffe hätte angedeutet „dass er [Notthafft] sich mit gehabter session nit begniegen zelassen gedenckht“ und sich also zu höheren Diensten berufen fühle: BayHStA München, Personenselekt, Kart. 268, Nothaft F IV. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/100, fol. 111r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/1–16.

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Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, auf alle Klagen Notthaffts am Reichshofrat einzugehen, die dieser über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren eingereicht hat, jedoch sollen zumindest die herausragendsten der von ihm am höchsten Reichstribunal angestrengten Rechtshändel skizziert werden. Hervorzuheben ist, dass der beschlagene Jurist Notthafft zeitlebens Netzwerke zu den reichsweit renommiertesten Professoren30 der juristischen Fakultäten verschiedener deutscher, lothringischer, niederländischer und italienischer Universitäten genutzt und unterhalten hat, die, wie aus den entsprechenden Matrikelbüchern und aus zahlreichen Einträgen in studentischen Stammbüchern31 hervorgeht, bereits zur Zeit seiner Ausbildung, des Studiums und der eng daran gekoppelten Kavalierstour nach Lothringen, in die Niederlande, nach Belgien, Brabant, Frankreich und Italien32 , die ihn auch an die rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Heidelberg, Tübingen, Leipzig, Pont-à-Mousson, Löwen, Bologna, Siena, Turin und Rom führte, begründet wurden.33 In vielen privaten Rechtsgeschäften ließ er deshalb in eigener Sache – quasi als potenzierenden Faktor der eigenen einschlägigen Schriftsätze – Rechtsgutachten dieser juristischen Fakultäten einholen und an der jeweiligen Gerichtsinstanz einreichen.34 Viele seiner eigenen umfassenden juristischen Traktate – Klaglibelle, Gegendarstellungen und „wahrhaffte“ Berichte – ließ er in unterschiedlichen Städten publizieren. Gedruckte rechtswissenschaftliche Abhandlungen Notthaffts sind nicht nur im Notthafftschen Familienarchiv35 und in der Bayerischen Staatsbibliothek36 , sondern auch in der Universitätsbibliothek Leipzig37 überliefert. 30

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So z. B. zum Tübinger Rechtsprofessor Christoph Besold, von dessen gedruckten juristischen Abhandlungen er nicht nur Exemplare in den Beständen seiner Wiener Bibliothek (BayHStA, FA Notthafft, Lit. 458), sondern auch im Schloß Runding besaß und die er übrigens auch gerne verlieh, oder zu Prof. Nicolas Guyot von der Universität in Pont-àMousson, der sich persönlich um die juristische Ausbildung der beiden Söhne Notthaffts, Georg und Wolf Heinrich annahm (BayHStA, FA Notthafft, Lit. 828/9 und Lit. 828/11). Stammbuch Johann Friedrich Ochsenbach: Württembergische Landesbibliothek, HB XV 3; Stammbuch Tobias Olfen: im Privatbesitz Schloßberger; Stammbuch „in der Dietrichsteinschen Handschrift des (Wiener) Titurel“ abgedruckt in: Wiener Zeitschrift für Kunst, schöne Literatur, Theater und Mode Nr. 87 (21. Juli1821), S. 737–741, Nr. 88 (24. Juli 1821), S. 745–748 und Nr. 89 (26. Juli 1821), S. 753–758; Stammbuch Tobias Franz von Breitenlandenberg abgedruckt in: Anzeiger für die Kunde der Deutschen. Organ des Deutschen Museums, Neue Folge, 4. Jahrgang, Nr. 12 (1857), S. 395f. Vgl. BayHStA München, Personenselekt, Kart. 268 Nothaft F IV; BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 612. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828, 985, 986, 1454. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 916; HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 183, 264, 915. Insgesamt haben sich in der BSB 8 juristische Traktate von ihm überliefert. Johann Heinrich Notthafft: Dissertationum juridicarum pentas: de testamentis s. ultimis voluntatibus inter liberos et fideicommissis, Luzern 1651: Universitätsbibltiohek Leipzig, Bibliotheca Albertina, Tract. jur. 465. Bei dieser Abhandlung über Familienfideikommis-

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Als einer der langwierigsten, komplexesten und zugleich interessantesten Prozesse, mit dem sich Notthafft als rechtsuchender Privatmann an den Reichshofrat gewandt hat, gelten die Streitigkeiten in Angelegenheiten des Familienfideikommisses.38 Da sich anhand der „Causa Fideicommissi“ der Zug des Klägers Notthafft an den Reichshofrat besonders schön aufzeigen lässt, soll das Prozessverfahren exemplarisch näher ausgeführt werden. Den Auftakt zu diesem, aus vielen einzelnen an unterschiedlichen Gerichtsorten ausgetragenen und letztlich auch am Reichshofrat anhängigen Prozess um die Veräußerung zahlreicher bayerisch-böhmischer Fideikommissgüter, die darauf ruhenden Schuldobligationen und die Restitution bzw. Rückführung dieser Güter in den Besitzstand der Familie Notthafft von Wernberg, bildete 1636 der von ihm selbst als „Bellum Aholmingianum“39 bezeichnete Rechtsstreit um das Familienfideikommissgut Aholming, das 1416 einem seiner Urväter, Heinrich Notthafft V., „dem Erwerber“, von Wernberg durch Fürstbischof Georg von Passau als Lehen des Hochstifts verpfändet worden war. Nachdem dessen direkte Linie mit seinen Urenkeln 1520 im Mannesstamm ausgestorben war, betrachtete man von Seiten des Hochstifts Passau das Lehen Aholming als heimgefallen, während die Wernberger Notthaffte weiterhin Besitzanspruch darauf erhoben. Um die Streitigkeiten zu entschärfen, parzellierte Fürstbischof Wolfgang II. von Passau 1557 das Lehen Aholming, so dass nur noch ein Drittel der Gütermasse bei den Wernberger Notthafften verblieb. Um die Hausgesetze von 1440, die das Verbleiben Aholmings im Notthafftschen Mannesstamm bestimmten und eine Veräußerung des Drittels an Aholming in fremde Hände untersagten, zu wahren, und um sich den Anfechtungen der Passauer Bischöfe zu entziehen, verkaufte die Witwe des letzten direkten Rechtsnachfolgers, Eva Notthafft, mit Einbehaltung des Nutz- und Nießrechts auf Lebenszeit, ihren Anteil an Aholming inklusive der darauf liegenden Schulden von 14 000 Gulden, am 22. Juni 1636 an ihren Vetter Johann Heinrich Notthafft, der daraufhin unverzüglich seine „neuen“ Untertanen mit einem offenen Patent auf sich verpflichtete.40 Fürstbischof Leopold Wilhelm von Passau hatte aber inzwischen das seiner Meinung nach heimgefallene Aholminger Lehen an Urban von Pötting verliehen, der unverzüglich bei der kurfürstlich bayerischen Regierung im Rentamt Landshut ein Immissionsdekret erwirken konnte, das dem Pfleggericht Nat-

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se in den Beständen der Leipziger Universitätsbibliothek handelt es sich übrigens um das einzig sich erhaltene und überlieferte Exemplar. Die Familienfideikommiss-Streitigkeiten füllen allein im Familienarchiv mehrere Regalmeter an Akten: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 57, 59, 67, 68, 69, 195, 286, 302, 336, 447, 484, 513, 514, 519, 539, 559, 569, 571, 574, 582, 591, 603, 868, 1027, 1031, 1206, 1209, 1305, 1308, 1312, 1313, 1321/I–II, 1401. Vgl. Johann Heinrich Notthafft von Wernberg: Bellum Aholmingianum: Quo tanquam Troiano, hactenus ad Decennium usque vexatus sum, s.l. 1645 (BSB, 4 App.mil. 100 a). Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2, 828/5; Notthafft: Bellum Aholmingianum (wie Anm. 39); HHStA Wien, RHR, Ant. 438/5.

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ternberg zur Exekution übertragen wurde. In Anwesenheit Hochstift Passauischer Kommissare wurden daraufhin die Untertanen Aholmings Notthafft ent- und Pötting verpflichtet.41 Aufgrund dieser „Natternbergischen Spolii“ reichte Notthafft am 27. Dezember 1636 auf dem kurfürstlichen Kollegial- und Wahltag in Regensburg, dem er als kaiserlicher Gesandter beiwohnte, ein Memorial bei Kurfürst Maximilian I. von Bayern ein, während Pötting sich synchron dazu über eine Unterschlagung des ihm zustehenden Getreides durch Notthafft beschwerte. Beide Klageschriften wurden an die kurfürstlich bayerische Regierung Landshut verwiesen, wo auch das schriftliche Verfahren eröffnet wurde.42 Nachdem der Prozess mehr als drei Jahre schwebte, erging am 7. Juli 1639 der Abschied, dass die Einsetzung Pöttings in Aholming rechtmäßig, Notthafft jedoch das Petitorium vorbehalten sei.43 Daraufhin hat Notthafft am 28. Juli 1639 erneut von Wien aus an Kurfürst Maximilian von Bayern, resp. den kurfürstlichen Hofrat in München „provociert“ und seine Appellationsschrift dem kurbayerischen Gesandten Wolf Ludwig Freiherr von Gumppenberg zur Beförderung „anverthrauet, welcher sye aber unfürsichtig verlohren“ hat, so dass diese niemals in München angekommen ist und folglich auch nicht beim Hofgericht eingereicht wurde. Als der Kläger im fernen Wien davon erfuhr, war die Gerichtsfrist für die Appellation bereits verstrichen.44 Trotz dieser „lapsa fatalia“ verlangte Notthafft Anhörung – hatte er doch zusätzlich wegen Nichtigkeit geklagt –, wurde jedoch von Seiten des Hofrats wegen eines entsprechenden Bescheids, der die Annahme der Klage legitimiert hätte, immer wieder vertröstet. Nach dem Tod Eva Notthaffts 1641 fiel das Nutz- und Nießrecht an Aholming vollständig an Johann Heinrich Notthafft, der daraufhin unverzüglich durch seinen Pfleger die neue Huldigung der Untertanen einholen ließ, woraufhin Freiherr Hans Georg von Closen im Namen seiner Frau, der Haupterbin Eva Notthaffts, bei der Regierung Landshut ein Inhibitionsdekret erwirken konnte. Am 12. und 16. Februar sowie am 20. März 1642 wurde der Reichsgraf „von München im Verthrauen“ darüber informiert, dass seine Appellationsschrift aufgrund des Landshuter Abschieds abzuweisen sei. Das „Petitorium in summario oder das possessorium in ordinario undt alle andere competirende rechtsmitl“ blieben ihm aber weiterhin vorbehalten. Erneut riet man, d.h. ein ihm wohl gewogener Teil des Münchner Hofrates, Notthafft streng vertraulich, er solle „keckhlich zu weitern processen greiffen und ohne Zweiffel bessern bschaidt darüber gewerttig sein“.45 41 42 43 44 45

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/5. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/5.

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Eine völlig neue, die gesamte Streitigkeit nicht nur in einem neuen Licht erscheinen lassende, sondern auch auf ein völlig anderes Fundament stellende Rechtslage ergab sich, als der genealogisch ambitionierte Reichsgraf bei der Durchsicht alter Geschlechtsdokumente auf den Original „Geschäfts- und Teilbrief “ Heinrich Notthaffts V. von Wernberg von 1440,46 der die Unveräußerlichkeit des Familienbesitzes und das gegenseitige Erbrecht innerhalb der verschiedenen Linien der Wernberger Notthaffte47 bestimmte, stieß. Der versierte Jurist deutete dieses Vertragswerk, bestätigt durch ein Rechtsgutachten der Universität Ingolstadt48 , als im rechtlichen Sinne wirkliches Familienfideikommiss. Eva Notthafft wäre demnach also niemals rechtmäßige Erbin gewesen. Nach dem Tod ihres Mannes und Sohnes hätte der dritte Teil Aholmings, und zwar zu gleichen Teilen, auf die noch lebenden männlichen Notthaffte der Linie Wernberg fallen müssen. Der Streit zwischen von Closen, der diesen Teilbrief „Triplicando“ anfocht, und Notthafft, der „Quatruplicando pro vero fideicommissi“ argumentierte, ging in eine zweite Runde. Die kurfürstliche Regierung in Landshut kommunizierte von Closen nun die Notthafftsche Quadruplik als Quintuplik und setzte auf den 30. Juni 1643 eine Tagsatzung zur Güte aus. Nachdem beide Parteien am besagten Tag zu den Vergleichsverhandlungen erschienen waren, eröffnete Closen, dass er seine Rechte an Aholming inzwischen an Ortlieb von Pötting – trotz eines vorher von Notthafft bei der Regierung Landshut erwirkten Verbots – verkauft habe. Dieser Unterlassung der Veräußerung ungeachtet, genehmigte die Regierung Landshut die Closen-Pöttingische Handlung und setzte die Notthafft vorbehaltenen Besitzrechte an Aholming kurzerhand außer kraft. Um einen günstigeren Abschied zu erwirken, prangerte der routinierte Jurist in einer erneuten Beschwerdeschrift an Kurfürst Maximilian I. von Bayern die Inkompetenz und die Armseligkeit der mit seinem Fall betrauten Richter49 aufs schärfste an. Bei einer erneuten Abweisung seiner Appellationsklage gedenke er „durch offnen truckh, gannz Teütschlandt mit disen ungerechtigkheiten anzufillen“.50 Von seiner forschen Drohung offensichtlich

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Eine gedruckte deutsche wie lateinische Abschrift dieses „Geschäfts- und Teilbriefs“, die Johann Heinrich Notthafft 1645 publizieren ließ, findet sich im entsprechenden Reichshofratsprozeßakt: HHStA Wien, RHR, Ant. 438. Die Originalpergamenturkunde hat sich im Familienarchiv nicht überliefert. Neben den Notthafft von Wernberg gab es auch noch die Familienzweige Notthafft von Weißenstein, Notthafft von Bodenstein sowie die schwäbische Linie Notthafft von Hohenberg. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. „Iudex spoliatus amplius competens“, „Incompetentia Judicis“: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2 Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2.

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unbeeindruckt wies der Münchner Hofrat den Appellanten Notthafft erneut entschieden ab.51 Daraufhin ließ Notthafft seinen Worten Taten folgen und lancierte das angekündigte Bombardement an Streit-, Beweis- und Informationsschriften.52 Die Veröffentlichung seiner Traktate brachte ihm schließlich die rechtskräftige Annullierung der Pöttingschen Immission und seine eigene Restitution in Aholming.53 In den sich anschließenden Vergleichsverhandlungen am Hofrat in München verpflichtete sich Pötting, als Wiedergutmachung 4000 Gulden an Notthafft abzustatten.54 Der Rechtsstreit um das Familienfideikommiss war für Johann Heinrich Notthafft damit keinesfalls beendet. Der Fund des alten „Geschäfts- und Teilbriefs“ von 1440 und der Streit um Aholming animierten ihn vielmehr dazu, am 20. Dezember 1646 zusammen mit seinem Onkel Albrecht und seinen Vettern Christoph Meinrad und Franz Ignatz, einen Erbvertrag und ein neues Fideikommiss, das durch Rechtsgutachten der Juristischen Fakultäten der Universitäten Ingolstadt und Pont-à-Mousson55 zusätzlich untermauerte „Rundinger Familienfideikommiss“, für die Linie der Notthafft von Wernberg zu stiften.56 Damit war nicht nur der Grundstein für den Kampf um die Restitution bzw. „Heimholung“ weiterer Notthafftischer Fideikommissgüter gelegt, son51 52

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Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2, 828/5. Johann Heinrich Notthafft: Kurtze doch Gründtlich: und Warhaffte Erzehlung/ der gantzen Aholmingischen Geschicht/ und bißherigen Verlauffs selbiger Strittsachen : allen den Jenigen/ so meinem weitleüffigen Vernemmen nach/ ex hactenus infoelici successu & mala informatione meiner Gegentheil/ hiervon allerhandt widerige Concept gefast/ und zum theil hinwiderumb/ mir nicht zu geringem praeiudiz, spargiren dörfen/ bessern Berichts und Nachricht halber/ publiciret, s.l. 1644 (BSB, 4 Bavar. 1350); ders.: Oesterreichischer Willkumb/ Mit welchem von einem Oesterreichischen Cavallier, Herr Johann Heinrich Notthafft/ Graff und Herr von Wernberg ... Zu seinem vorhabend: widermaligen Eintritt in Oesterreich empfangen wirdt. Das ist/ Grundthaffter Gegenbericht/ Wardurch der unlangst in Truck außgesprengten Notthafftischen vermainten Erzöhlung der gantzen Aholmingischen Geschicht die Farb abgestrichen wirdt, s.l. 1644 (BSB, Res 4 Bavar. 3001,34); ders.: Deo Gratias. Woher so Spat? Gleichwol noch eben recht. Das ist: Kurtze Dancksagung/ und fernerer warhaffter Gegenbericht/ in Aholmingischen Strittsachen : Einem diser Tagen wie ohne Namen: also auch ohne Grundt der Warheit/ spargirtem, und ob schon in Bayrn geborn: unzimblich intitulirtem Oesterreichischem Willkhumb/ entgegen gestellet, s.l. 1644 (BSB, 4 Bavar. 1350); ders.: Bellum Aholmingianum: Quo tanquam Troiano, hactenus ad Decennium usque vexatus sum, s.l. 1645 (BSB, 4 App.mil. 100 a); ders.: Qui acceperit Gladium, Gladio peribit. Das ist: Gar kurtze doch gründliche Antwort/ und Erleuterung/ auff die/ mir Johann Heinrich Nothafften Graffen und Herren von Wernberg [et]c. verwichner Tagen/ under dem Titul Gladii Delphici, abermahls zuhanden gelangte: Vier und Sechtzig Plätterige Calumnien, in Aholmingischen Strittsachen, s.l. 1645 (BSB, 4 Feud. 70, 7/8). Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/5. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/2; 828/5. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 569, 1308. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, U Nr. 1106 I–V.

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dern auch für eine erhebliche Erweiterung des Beklagtenkreises, der juristischen Zuständigkeit und damit verbunden auch die Basis für neue Klagen und Suppliken. Zwischen 1647 und 1653 wurden die Notthafftschen Familienfideikommiss-Streitigkeiten am Reichshofrat ausgetragen.57 Am 16. Juni 1647 ließ Notthafft durch seinen am Reichshofrat hierzu bestellten Agenten Andreas Neumann seinen Antrag auf „Citatio ad videndum et audiendum“ in punkto der Notthafftischen Fideikommissangelegenheit einreichen, in der alle derzeitigen Inhaber der gemäß den Bestimmungen des „Geschäfts- und Teilbriefs“ von 1440 faktischen Notthafftischen Fideikommissgüter einberufen werden sollten.58 Neben dem bereits seit der Causa Aholming „alten“ Beklagten Ortlieb von Pötting, sollten nun auch Kurfürst Maximilian I. von Bayern als jetziger Inhaber der Herrschaft Eggmühl, Bischof Melchior Otto von Bamberg als Inhaber der Stadt und des Amtes Vilseck, das Domkapitel von Regensburg als Inhaber des Gutes Aufhausen und der Prälat von St. Emmeram in Regensburg als Inhaber des Notthafftischen Fideikommisshofs, genannt der „Pfälzische Hof “ in Regensburg, sowie weitere vier Parteien, darunter die gräflich Khevenhüllerschen59 „Erben und Gerhaben“60 als jetzige Inhaber des Notthafftischen Stammsitzes Wernberg, vorgeladen werden.61 Lag doch die Mehrzahl der betroffenen Herrschaften, Schlösser und Güter außerhalb Bayerns, erachtete Notthafft die Zuständigkeit des Reichshofrats in dieser Strittigkeit als gegeben. Die „unrechtmäßigen“ Besitzer sollten unverzüglich der Fideikommissgüter enthoben, Notthafft und den anderen Erben hingegen die rechtskräftige Immission erteilt werden.62 Kaiser Ferdinand III. ließ am 25. Juni 1647 tatsächlich die gewünschte Zitation wider den von Notthafft aufgeführten Personenkreis – auch gegen den bayerischen Kurfürsten – ergehen, mit der Auflage, innerhalb einer zweimona-

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Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/5-438/7. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Dem Schreiben des Khevenhüllerschen Anwalts liegt eine Abschrift der von Kaiser Ferdinand III. Am 10.05.1650 ausgestellten Belehnungsurkunde für den kaiserlichen Geheimen Rat Franz Christoph von Khevenhüller über die Herrschaft Wernberg, mit allen ihren Ein- und Zugehörungen als Lehen der Böhmischen Krone, bei. Gegen die Erben Khevenhüllers, der bereits einen Monat nach der Belehnung Wernbergs verstorben war, ließ Notthafft sechs Argumente zur „schuldigen wider abtrett: und restitution“ des „Stammenhauses und Herrschafft Wernberg cum pertinentiis“ umfassenden „libello summario“ über seinen Agenten Neumann am Reichshofrat einreichen. Es handelt sich dabei um den Freiherrn Albrecht von Zinzendorf und Pottendorf – nicht nur ein Reichshofratskollege Notthaffts, sondern über dessen zweite Ehefrau, einer geborenen von Zinzendorf und Pottendorf, auch mit diesem in engerer verwandtschaftlicher Beziehung stehend. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/5. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6.

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tigen Frist selbst oder durch einen Anwalt am kaiserlichen Hof zu erscheinen und in dieser Angelegenheit vorzusprechen.63 Wie den Eingaben an den Reichshofrat in der Folgezeit zu entnehmen ist, forderte Notthafft die Beklagten, resp. Pötting und Zinzendorf, in regelmäßigen Abständen vergeblich auf, ihre Stellungnahme und Erklärung schriftlich einzureichen. Von seiner am 7. März 1649 im Reichshofrat angestrebten Nullitätsklage gegen Kurbayern riet das Kollegium entschieden ab, würden doch dadurch nicht nur das Privilegium de non appellando missachtet werden, sondern Notthafft darüber hinaus nachhaltig negative Konsequenzen erwachsen.64 Auch das Hochstift Passau wollte Notthafft zur Verantwortung ziehen – sah er doch in der vom damaligen Bischof vorgenommen Dreiteilung des Lehensgutes Aholming die Wurzel allen Übels. Im September 1650 bat er deshalb in einer Supplik um die Einsetzung einer Kommission auf den Bischof von Regensburg, was sich jedoch in den Reichshofratprotokollen nicht nachweisen lässt, sondern nur im Prozessakt selbst dokumentiert ist.65 Am 30. März 1651 erbat Ortlieb von Pötting die Gewährung einer zweimonatigen Aufschubfrist, da er zuerst einen schriftlichen Bericht seines bestellten Advokaten bei der kurfürstlich bayerischen Regierung in Landshut einholen wolle. Die Frist wurde ihm am 20. April 1651 gewährt.66 Brisant wurde der Fall, als Kurfürst Maximilian I. für Ortlieb von Pötting eigenhändig eine am 5. Mai 1651 ausgestellte Beschwerde gegen Notthafft und seine Vettern am Reichshofrat einreichen ließ, wie Notthafft vom kurbayerischen Kammerpräsidenten, der zu dieser Zeit in Wien weilte, in Erfahrung bringen konnte. Notthafft, der sich als Opfer einer Intrige von Pöttings sah, versuchte daraufhin unverzüglich mit der schriftlichen Darstellung der Beschaffenheit des Notthafftschen Fideikommisses, der Sachlage und der zugrunde liegenden rechtlichen Beweisführung, Kurfürst Maximilian von der Richtigkeit seiner Darstellung zu überzeugen.67 Wie aus der „Beschwährschrifft oder declinatorias fori“ Kurfürst Maximilians I. hervorgeht, bezeichnete er Notthaffts Anrufung des Reichshofrats als eine „unverantwortliche anmassung“ und bezichtigte den Reichsgrafen unter Verweis auf die in einem solchen Falle greifende „nambhaffte Poen“ scharf der Verletzung des Privilegium de non evocando. Neben des Widerrufs der 1647 ausgewirkten Vorladung seines Landsassen von Pötting, forderte der bayerische Kurfürst, dass Notthafft auch seines „Unfuegs“ halber dahin gehalten werde, den Rechtsstreit tunlichst an der Regierung Landshut zu belassen.68 63 64 65 66 67 68

Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/145, fol. 303v-304r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/150, fol. 330v. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/150, fol. 331r.

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Seiner Ehre, der Enttarnung der Vorspiegelung falscher Tatsachen69 und der Aufdeckung der Wahrheit verpflichtet, konnte Notthafft nicht verhalten, ausführlich zu den Unterstellungen seines einstigen Dienstherrn, resp. dem Vorwurf der Missachtung und Verletzung des kurfürstlichen Privilegiums de non evocando Stellung zu nehmen.70 In seinem am 28. August 1651 im Reichshofrat eingegangen Bericht widerlegte er die Argumentation Pöttings systematisch mit den genauen Angaben der herangezogenen Rechtsquellen seiner Beweisführung. So sei es eine falsche Behauptung, dass der Streit zwischen ihm und Pötting bereits an einem anderen Gerichtsort anhängig gewesen sei. Denn, nachdem er den dritten Teil Aholmings nicht nur käuflich an sich gebracht, sondern auch wirklich besessen habe, und Closen – und eben nicht Pötting – den Kaufpreis gefordert habe, wurde der die Rechtslage völlig verändernde Teilbrief in den alten Geschlechtsdokumenten entdeckt, auf dem die am 25. Juni erwirkte Zitation ausschließlich gegründet sei.71 Der Landshuter Revisionsabschied bestimmte zwar die Immission Pöttings, reservierte ihm jedoch explizit „die actionem ad fideicommissum absonderlich“. Eine Verletzung des Privilegiums de non evocando hätte dann bestanden, wenn ausschließlich Aholming Fideikommissgut gewesen und von Pötting der einzige Beklagte wäre. Da aber das Gros der Kommissgüter außerhalb des Kurfürstentums Bayern gelegen wäre, sei die Zuständigkeit des Reichshofrats als erwiesen, was übrigens auch die Universität Ingolstadt mit einem Gutachten bestätigen würde. Ein Verweisen an die Regierung Landshut wäre somit hinfällig, da ja auch der Kurfürst von Bayern Notthafftische Fideikommissgüter besäße und folglich auch zitiert worden sei.72 Zudem forderte Notthafft erneut die Vorladung bzw. Stellungnahme Pöttings.73 In seinem Entschuldigungsschreiben an den bayerischen Kurfürsten vom 31. August 1651 verwies Notthafft noch einmal explizit auf die juristisch geprüfte Richtigkeit des Familienfideikommisses durch verschiedene Universitäten, die „in Teütsch: und Wellischen Landten, hirüber zu Rath gezogen“ worden seien. Pötting hätte den Kurfürsten gegen ihn und seine Vettern aufbringen wollen, was ja faktisch durch den Beschwerdebrief auch gelungen sei. Um das Lügengebilde Pöttings zum Einsturz zu bringen, genüge es, diesem aufzulegen, schriftliche Belege für seine Behauptungen zu liefern.74 Auch führte Notthafft in seiner Beweisführung detailliert die Rechtfertigung für seinen Gang an den Reichshofrat aus.

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Die juristische Fakultät Ingolstadt in genere und Dr. Rath im Speziellen bescheinigten den nachweislichen Rechtsbruch und die Rechtserschleichung Pöttings. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/154, fol. 113v– 114r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6.

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So bezeuge die allgemeine Reichspraxis, dass bisher in ähnlich gelagerten Fällen eine Zuständigkeit der Höchstgerichtsbarkeit nicht angezweifelt und die Verletzung der Spezial- oder Generalprivilegien de non evocando auch nicht debattiert wurde. Notthafft möchte Kurfürst Maximilian jedoch „für dismal“ nicht mit weiteren Rechtsgutachten anderer Universitäten beladen, sondern bittet diesen ausschließlich darum, das von der „aignen hochberüehmbten Universitet Ingolstatt“ abgefasste Gutachten vom 2. September 1643 einzusehen.75 Weniger zu seiner Entschuldigung, als vielmehr als geschickten Schachzug zur Beförderung der eigenen Interessen, machte ihm Notthafft abschließend unter der Hand und im Vertrauen ein interessantes Angebot: würde der Kurfürst seine Entschuldigung annehmen, würde man von Seiten der Familie Notthafft von Wernberg von der Restitution der Herrschaft Eggmühl absehen.76 Der Tod des bayerischen Kurfürsten nicht einmal vier Wochen nach dem Notthafftschen „Entschuldigungsschreiben“ vereitelte bedauerlicherweise die weiteren Entwicklungen dieser Verhandlungen. Pötting selbst blieb seine Beweisführung gegenüber dem Kurfürsten schuldig. Nachdem das Verfahren noch mehr als zwei Jahre am Reichshofrat geschwebt hatte, die Klärung des Sachverhalts aber unerörtert blieb, nahm Notthafft im Juli 1653 einen erneuten Anlauf und bat um eine Wiederholung der Zitationen.77 Eine Aufnahme des Verfahrens fand dann allerdings ein jähes Ende, da der Supplikant, wie es in den Resolutionsprotokollen heißt, den zwischen dem von Closen und Pötting geschlossenen Vertrag „nicht zur Hand bringen“ könne.78 Nichtsdestotrotz war für Notthafft die Sache damit noch nicht erledigt. So trug er sich 1654, unterstützt durch Dr. Rath von der juristischen Fakultät Ingolstadt, mit dem Gedanken, sein Gravamen erneut beim kurbayerischen Hofrat in München oder beim nächsten Landtag einzureichen.79 Das Verhältnis zu Kurbayern war allerdings nachhaltig getrübt.80 Noch 1663 instruierte Notthafft seine beiden Söhne in einer seiner zahlreichen hausväterlichen Ermahnungen dahingehend, sich am kurbayerischen Hof – sei es durch Dienste oder Heiraten – beim Kurfürsten, dem Münchner Hofadel und den Beamten beliebt zu machen, damit Sie nicht wie er „verfolgung leiden, sondern villmehr in ihren gerechten Sachen nach billigkheit sekundiert wer-

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Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/6. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/158, fol. 480r. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/5. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451.

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den“ würden, was ihm selbst durch seine Tätigkeit in höchsten kaiserlichen Diensten zeitlebens verwehrt geblieben wäre.81 Die Fideikommissstreitigkeiten setzten sich bis zu seinem Lebensende fort. Noch sieben Tage vor seinem Tod wandte er sich von Wien aus in einem Schreiben an Kurfürst Ferdinand Maria von Bayern, in dem er sich darüber entrüstete, „was für liederliche: unnd calumniose Einwürff, in p[unc]to fideicommissi Rundingiani“ von seinen Widersachern gemacht werden würden.82 Er habe trotz seines Alters und seiner Krankheit nicht umgehen können, zur Rettung seiner Ehre, etliche derselben in offenen Druckschriften zu widerlegen83 – verbunden mit der herausfordernd-drohenden Ankündigung, dass er die direkte Auseinandersetzung noch niemals gescheut hätte.84 Durch die jahrelange intensive Beschäftigung mit der eigenen Fideikommissstreitigkeit galt Notthafft reichsweit als ausgewiesener „Kenner der Materie“. Umso mehr fühlte er sich durch die vermeintliche Kritik an seinem Lebenswerk provoziert, dass er – vergleichbar einem offenen Patent – in seinem Schreiben an den bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria in einer Art Poenformel verkünden ließ, er würde jedem Rechtsgelehrten dem es gelingen würde, seine Abhandlung über das Familienfideikommisswesen zu widerlegen, 100 Reichstaler zahlen.85 Johann Heinrich Notthafft war durch die Konstituierung des eigenen Familienfideikommisses und die damit einhergehenden jahrzehntelangen Rechtshändel an verschiedenen Instanzen derart auf diese juristische Disziplin spezialisiert, dass er nicht nur eine Vielzahl eigner Traktate veröffentlichen 81 82 83

84 85

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/10, fol. 34r. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1308. Bayerische Staatsbibliothek München: Ders.: An Ihre Churf. Durchl. in Bayern Seinen Gnädigisten Herrn/ [et]c. Underthänigstes Klag-Libell in puncto Fideicommissi Rundingiani. Johann Heinrichen Nothaffts Grafens von Werenberg [et]c. für sich/ und in invermeltem Namen [et]c. Contra Die Eybische Glaubiger. Et quoscunque alios, So zu dieser Herrschafft Runding praetendirn. Umb inbegriffene Churfürstl. Gnädigiste Erkandnus und Declaration: Den 16. Martii 1662. mit Beylagen A. B. C. und D. bey Churf. Regirung Straubing eingeben, s.l. 1662 (BSB, 4 Bavar. 1350); ders.: Fideicommissum Nothafftianum. Daß ist: Kurtzer: doch gründlicher Bericht/ wie es mit dem/ von Weyl: Herrn Heinrich Nothafften Herrn zu Wernberg seel: vermög dessen/ am Sambstag vor St. Pauli Bekehrung/ Anno 1440. zwischen seinen Söhnen/ Herrn Heimeran/ Heinrich: unnd Albrechten den Nothafften/ &c. auffgerichten Theilbrieffs/ uber unterschiedene seine Herrschafften und Gütter constituirten Fideicommisso, infacto & iure beschaffen sey?: Zu Menniglichs Nachricht in offenen Druck gegeben, s.l. 1664 (BSB, 4 Bavar. 1350); ders.: Appendix ad Fideicommissum Nothafftianum. Das ist: Kurtzer Bericht/ was es mit Weyland Herrn Heinrichen Notthaffts zu Wernberg/ Vicedoms in Nieder-Bayern seel. [et]c. am Sambstag vor St. Pauli Bekehrung Anno M.CD.XL. Zwischen seinen Söhnen Herrn Heimeran/ Heinrich: und Albrechten den Nothafften [et]c. auffgerichtem Theilbrieff/ Dessen Originals: und Ferttigung halber für ein Beschaffenheit hab: Etlichen Hactenus quidem extra iudicialibus tantum, sed mere calumniosis impugnatiobus entgegen gestellt. Und zu Männigliches Nachricht in offenen Truck gegeben, s.l. 1665 (BSB, 4 Bavar. 1350). Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1308. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1308.

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ließ86 , sondern auch ein in eigener Sache im Zuge des Rundingischen Fideikommisses von der juristischen Fakultät Ingolstadt eingeholtes Rechtsgutachten87 verwarf und sich selbst dazu „verursacht“ sah, eine eigene Abhandlung mit dem Titel „Dissertationum Juridicarum Pentas“88 zu publizieren.89 Er war in der Folgezeit nicht nur verstärkt im Reichshofrat, quasi als Ressortmann für Familienfideikommiss-Streitigkeiten, als Kommissar, Referent und Gutachter herangezogen90 , sondern übernahm auch die Ausgestaltung der Familienkommisse von Freunden und Verwandten.91 Eine weitere Klage Notthaffts am Reichshofrat soll deshalb kurz skizziert werden, da sie in mehrfacher Hinsicht einen realistischen Einblick in die alltägliche Geschäftspraxis dieser Reichsbehörde und ihres Personals gibt – zeigt sie doch an einem konkreten Fallbeispiel, wie die Kommissionen des Reichshofrats überhaupt finanziert wurden, d.h. wer die Kommissionskosten eigentlich zu tragen hatte und wie lange die Kommissare, welche die Mittel für ihre An- und Abfahrt zu den jeweiligen Verhandlungsorten, die ja mitunter mehrere Tagesreisen vom kaiserlichen Hof entfernt lagen, sowie für Kost und Logis vor Ort erst einmal vorzustrecken hatten, bisweilen ihren Auslagen bei den Auftraggebern hinterherlaufen mussten. Im besagten Fall gelang die Erstattung der Kosten nur, nachdem der Rechtsweg eingeschlagen und ein Verfahren gegen den damaligen Antragsteller der Kommission eingeleitet worden war. 1661 klagte Notthafft beim Reichshofrat von Graf Johann Franz von Öttingen-Spielberg die seit 25 (!) Jahren ausständigen Kommissionskosten in Höhe von „100 ducaten“92 ein, die ihm bedingt durch die damaligen Kriegswirren bisher nicht hatten erstattet werden konnten.93 In seiner Klageschrift94 verwies Notthafft ausdrücklich auf den Erfolg seiner damaligen Kommissionshandlungen – gelang es ihm doch im großen Öttingen-Wallersteinschen, Öttingen-Balderschen und Öttingen-Spielbergischen Erbschafts- und Vormundschaftsstreit einen gütlichen Vergleich auszuhandeln und die Parteien zu befrieden.95 86 87 88 89 90

91 92 93 94 95

Vgl. Anmerkungen 61, 63, 76 und 107. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 916. Johann Heinrich Notthafft: Dissertationum juridicarum pentas: de testamentis s. ultimis voluntatibus inter liberos et fideicommissis, Luzern 1651. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/5. Wie z. B. aus den 40 Produkte umfassenden Notthafftschen Handakten über die Verhandlungen zum Revisionsgesuch des Bened. Spindlo wegen des Entscheides über das Fideikommissgut „Vergagni feudum“ hervorgeht: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 631; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/139, fol. 129v; HHStA Wien, RHR, Ant. 68, 474, 476, 551 fasz. 6, 613, 851. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 5, 131, 173, 195, 336, 385, 519, 539, 611, 668. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1465. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/190, fol. 19r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/11. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 476, 480, 485; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/189, fol. 219r, 246v; XVII/190, fol. 19r, 222v; BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 483.

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Es sei an dieser Stelle kurz eingefügt, dass das juristische Verhandlungsgeschick Notthaffts seinerzeit dermaßen überzeugte, dass die verwitwete Gräfin Isabella Eleonora von Öttingen-Baldern im Februar 1656 beim Kaiser selbst mehrmalige Bittgesuche einreichte, um zu erreichen, dass Notthafft als Vormund für ihren minderjährigen Sohn Ferdinand Maximilian eingesetzt werde.96 Trotz der „anführung undterschiedlicher ursachen“97 von Seiten des beschlagenen Reichsgrafen gegen die Aufbürdung dieser Vormundschaft – zog dieses Amt doch viele Pflichten nach sich, resp. viele weitere Rechtshändel98 –, wurde Notthafft auf mehrmalige persönliche Anordnung Kaiser Ferdinands III.99 mit dieser Vormundschaft100 betraut. „Obwohlen IKM dero Reichshofräthe mit Vormundtschafft beladen zu lassen, nit gemeinet“101 , der „sachen und dem Pupillen“ allerdings nicht anders geholfen werden könne, wurde Notthafft auf höchste Anweisung hin als Vormund eingesetzt.102 Die Ableistung des Vormundschaftseides erfolgte schließlich am 19. Dezember 1656 – mehr als ein dreiviertel Jahr nach der Antragstellung durch die verwitwete Gräfin.103 Dieser kleine Exkurs zur Causa Öttingen contra Öttingen, die hier repräsentativ für die Vielzahl der unterschiedlichen Komponenten aus dem sich das vielschichtig gelagerte, weit über den Wirkungskreis des Wiener Hofs hinaus reichende Netzwerk Notthaffts zusammensetzte, zeigt anschaulich, dass Patronagebeziehungen und Klientel also auch über seine Tätigkeit im Reichshofrat entstanden sind. Doch zurück zur Klage Notthaffts gegen Johann Franz von Öttingen-Spielberg. Wie aus der Klageschrift hervorgeht, war es für ihn sehr ungewohnt, um ein solches „Pedtlgelt“ am Reichshofrat zu klagen.104 Nachdem aber der Beklagte sich nun schon mehr als zwei Jahrzehnte unter Angabe der unterschiedlichsten Schutzbehauptungen weigerte, die von ihm vorgestreckten und noch ausständigen Kommissionskosten zu erstatten, beschloss der Reichshofrat die Einsetzung einer Kommission auf den Reichshofrat von Königseck, um Notthafft die Ausstände zu erstatten.105 96 97 98 99 100

101 102 103 104 105

Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/169, fol. 53v. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/168, fol. 261r. Die auch in Serie am Reichshofrat ausgetragen wurden: HHStA Wien, RHR, Ant. 476, 480, 485. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/168, fol. 261r; XVII/169, fol. 227v. Notthafft war noch für viele weitere hochadelige Pupillen bestellter Vormund, u. a. bei Katharina Elonora von Fürstenberg, der Tochter des verstorbenen Reichshofratspräsidenten Wratislaw von Fürstenberg. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/169, fol. 53v; BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1465. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/168, fol. 261v. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/170, fol. 204v; Zur Eidesformel: HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, Kanzleibücher, 10. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 483. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/189, fol. 246v.

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Die intensive Beschäftigung mit den Akten zu Verfahren am Reichshofrat, die sich im Familienarchiv Notthafft überliefert haben, zeigte, dass sich diese Prozessakten zum Zeitpunkt seines Todes offensichtlich in seinem damaligen Wiener Quartier am Kohlmarkt 14106 (heute Café Demel) befunden haben. Interessant ist hier weniger der Umstand, dass Reichshofräte Akten zum Privatstudium mit nach Hause nahmen107 , als vielmehr die Tatsache, dass Notthafft Akten zu Prozessen zu Hause108 hatte, an denen er nachweislich nicht primär als Kommissar, Referent oder Gutachter beteiligt war. Über die Motivation lässt sich spekulieren: entweder er hatte einfach Interesse an diesen Verfahren an sich oder aber, und das erscheint weitaus wahrscheinlicher, er war außerhalb seiner Tätigkeit im Reichshofrat in eben diesen Fällen als juristischer Berater und Unterhändler tätig. Aus einer Vielzahl an Korrespondenzen geht nämlich hervor, dass Notthafft „unter der Hand und im Vertrauen“ in vielen Fällen privat – und zwar für Freunde, Befreundete und wichtige Netzwerkpartner im habsburgischen Patronage- und Klientelsystem im Umkreis des Wiener Hofes und weit darüber hinaus – juristische Schriftsätze, Klagen, Gutachten und andere Eingaben an den Reichshofrat verfasst hat. Exemplarisch sei hier auf den „außerdienstlichen“ Rechtsbeistand Notthaffts für Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels verwiesen. Wie die reichhaltig überlieferten Korrespondenzen dokumentieren109 , hat der passionierte Jurist Notthafft den Konvertiten Ernst von Hessen-Rheinfels bei den langwierigen Erbfolgestreitigkeiten im Zuge der Einführung der Primogenitur in HessenKassel als Advokat seines besonderen Vertrauens mit Rat und Tat unter die Arme gegriffen. In der Praxis hat Notthafft besagten Landgrafen nicht nur beraten, sondern auch Schriftsätze für ihn ausgefertigt und korrigiert sowie Gutachten angefertigt. So beschwerte sich der Hessen-Kasselische Gesandte Wilhelm von Krossigk 1652 bei Kaiser Ferdinand III. sogar, Notthafft habe sich unterstanden, einen zum Druck abgegebenen Schriftsatz in dem Prozess 106

107

108

109

Vgl. WStLA, Totenbeschauprotokolle: Bd. 7 fol. 163v; Zu den anderen Quartieren Notthaffts: OeStA, Alte Hofkammer, Hofquartiersakten und -bücher, Hofquartiersbücher, 9 Nr. 36, 388, 632, 1155, 1672, 2185; 14 Nr. 481, Nr. 1162, 1116. So wurden, wie den Resolutionsprotokollen und Verfassungsakten an mehreren Stellen zu entnehmen ist, die Reichshofräte regelmäßig aufgefordert, die Akten von den Privatgemächern wieder mit in den Reichshofrat zu bringen. Interessant erscheint hier allerdings die Tatsache, dass Notthafft nicht nur Akten in seiner Wiener Behausung lagerte, sondern wie aus seinem eigenhändig verfassten „Inventarium meines Rundingischen Registratur Casstens, wie derselbe Ao. 1641 eingereicht worden“ hervorgeht, sich hinter Position 49 „underschidene frembde: und keyserliche Commissionssachen“ verbergen; aufschlußreich ist auch folgender Eintrag „3 Vässer mit Biechern, und Acten nach Wiesenfelden transportieren lassen“: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/7. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 183, 184, 185, 186, 187, 188; Hessisches Staatsarchiv Marburg, Hessische Nebenlinien, Hessen-Rheinfels und -Rotenburg, Nr. 248.

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der Landgrafen Friedrich und Ernst von Hessen, gegen ihren Vetter Landgraf Wilhelm von Hessen, eigenhändig zu korrigieren.110 Notthafft wurde daraufhin von Kaiser Ferdinand III. selbst per Dekret zu einer schriftlichen Stellungnahme und zur Vorlage des vermeintlich von ihm eigenmächtig überarbeiteten und zum Nachdruck in Auftrag gegebenen Traktats aufgefordert. Der Vorwurf der Fälschung von Beweismitteln und der Preisgabe von Interna – die Notthafft als böswillige und intrigante Machenschaften des Kasselischen Gesandten, der dies aus dem niederen Beweggrund heraus angezettelt hätte, um ihn von den weiteren Verhandlungen gänzlich auszuschließen, abtat, – wurde erst nach einem langen Prozedere beigelegt.111 Von entscheidender Bedeutung aber ist die Tatsache, dass es unter der Hand und im Vertrauen sehr wohl geheime Absprachen und Parteilichkeit gegeben hat112 – und eben auch „Arrangements“ und Abreden einzelner Reichshofräte mit den Streitparteien. Dieses konkrete Fallbeispiel steht zum einen symptomatisch für die Möglichkeit der Reichshofräte, ihr Wissen und ihre Informationen auch außerhalb der Dienststelle gewinnbringend zum Einsatz zu bringen und verdeutlicht zum anderen einmal mehr die einflussreiche Stellung der Reichshofräte auch außerhalb der Behörde und des Wiener Hofes – war es doch der Wunsch vieler Parteien, in direktem oder sogar freundschaftlichem Kontakt zu einem Mitglied dieses obersten Reichs- und Regierungsorgans zu stehen. Interessant erscheint, an diesem Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels erwiesenen Freundschaftsdienst, die Motive Notthaffts, derartige Kommunikationsstrukturen und Netzwerke zu unterhalten und sich auch privat mit juristischen Streitgegenständen in nicht primär eigener Sache zu beschäftigen, aufzuzeigen. Denn selbstverständlich machte er dies nicht aus reiner christlicher Nächstenliebe oder – bei aller Passion für die Juristerei – aus einem übermäßig rechtsliebenden oder gar rechtsbesessenen Gemüt heraus – offenbarten doch die Quellen eine klare „Quid pro quo-Beziehung“ Notthaffts zu seinen privaten Klienten. Beispielsweise brachte ihm seine mehrmalige diplomatische Tätigkeit als kaiserlicher Gesandter auf den fränkischen Kreistagen letztendlich 1653 die Aufnahme in das Fränkische Grafenkollegium. Denn, wie es in der Aufnahmeurkunde heißt, so waren dabei nicht nur die Hilfe und der Beistand, welche Notthafft beim Reichstag von 1641 geleistet hat, damit das Grafenkollegium zu seinem alten Sitz und Stimme beim Reichsfürstenrat hatte gelangen können, sondern auch bei gegenwärtigem Reichstag von 1653 und allen künftigen 110 111 112

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 186. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 183, 184, 185, 186, 187, 188, 264, 632, 1130. So heißt es beispielsweise im Notthafftschen „Appendix ad votum Hassiacum“: „dieweill causa nicht mehr integra, sondern solche resolution, sowoll den Partheyen, als Herrn Commissariis schon offenbahr: unndt intimiret wordten“: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 184.

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Reichsversammlungen zu leisten gewillt wäre, das entscheidende Aufnahmekriterium.113 Besagter Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels reichte zur Unterstützung und als die Rezeption des Reichsgrafen beschleunigenden Faktor zusätzlich eine Interzession beim Fränkischen Grafenkollegium ein.114 Dies alles geht freilich nicht aus der offiziellen Reichsüberlieferung hervor, sondern aus den privaten Korrespondenzen. Auch Kardinal Ernst Adalbert von Harrach, Erzbischof von Prag, der regelmäßig am Wiener Hof residierte und über mehrere Jahrzehnte eine feste Konstante im hochadeligen Netzwerk der Habsburgermonarchie bildete, bezeugt in seinen Diarien und Tagzetteln an vielen Stellen die tatkräftige juristische Unterstützung durch Notthafft.115 Abschließend zu diesem Kapitel soll noch ein weiteres Beispiel angeführt werden, wie Notthafft seine Stellung als Reichshofrat für eigene Interessen genutzt hat. 1658 bewarb sich ein Freund des auch mit „schönen gemühtsgaben“ gesegneten Notthafft, der Protestant Johann Wilhelm Freiherr von Stubenberg, ebenso wie Notthafft Mitglied im alten Herrenstand des Erzherzogtums Österreich unter der Enns116 , um eine Anstellung im Reichshofrat.117 Wie aus den Verfassungsakten hervorgeht, wurde er aufgrund seiner Glaubenshaltung auf unbestimmte Zeit abgelehnt, da das „Sollbedürfnis“ an protestantischen Räten für Kaiser Leopold I. bereits erfüllt war. Gleichzeitig wurde ihm aber in Aussicht gestellt, dass, würde er konvertieren, man seiner Installation in naher Zukunft eingedenk sein würde.118 Wichtiger ist jedoch, dass Stubenberg – praktisch zeitgleich mit seiner Bewerbung in den Reichshofrat – Notthafft und dessen Reichshofratskollegen Gottlieb von Windischgrätz in die Fruchtbringende Gesellschaft des Palmordens aufnahm, d.h. dass er auf dessen Vermittlung hin durch Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar in die „societas fructifera“119 , die mitgliederstärkste barocke Sprachgesellschaft, aufgenommen worden ist. Aus den Aufzeichnungen Stubenbergs und Notthaffts 113 114 115

116 117 118

119

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, U Nr. 1113; Lit. 828/10. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, U Nr. 1113. Ernst Adalbert von Harrach: Die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598–1667) (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 104), hrsg. von Katrin Keller und Alessandro Catalano, unter Mitarbeit von Marion Romberg. Wien u. a. 2010; OeStA Wien, AVA, FHKA, FA Harrach, Kt. 445, StK 28; BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 166. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 413. Vgl. HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, Dekrete 11. Soll „dem von Stubenberg so viel angezeigt werden, EKM hetten albereits sechs der Augsp. Confession zuegethanen ReichsHoffräthe aufgenomben, und darmit auff dis mahl die anzahl deren, Sii von selbiger confession anzunehmen gesonnen gewsen, ersezet. Wan Er sich aber zu der Catholischen Religion bequemen wollte, würden EKM seiner accomodation eingedenk sein“: HHStA Wien, RHR/RK Verfassungsakten, 11, fol. 44v. Georg Neumark: Der Neu-sprossende Teutsche Palmbaum, Nürnberg 1668, ND München 1970.

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geht dabei klar hervor, dass Notthafft ihm dafür einen Gefallen tun wollte – es liegt natürlich nahe, dass Notthafft Stubenberg als Reichshofratsmitglied vorgeschlagen und versucht hat, ihm bei der Installation behilflich zu sein.120 Auch zur „Konkurrenzbehörde“ pflegte Johann Heinrich Notthafft über den seit seinen „Straubinger Zeiten“ befreundeten ReichskammergerichtsAssessoren Karl August Freiherr von Leiblfing121 besonderen Kontakt, d.h. er ließ sich – wie aus den Korrespondenzen anschaulich hervorgeht – von seinem persönlichen Gewährsmann in Speyer regelmäßig nicht nur über den aktuellen Stand der dort anhängigen Verfahren selbst, Neuigkeiten verschiedenster Natur, politische und juristische Entwicklungen, die Haltung, Gesinnung sowie den Stand der generellen Stimmung informieren, sondern auch über internen „Klatsch & Tratsch“ auf den aktuellen Stand bringen.122 Besonders interessant ist hierbei die Tatsache, dass Notthafft über seinen Informanten noch Informationsmaterial ganz anderer Art bezogen zu haben scheint: so haben sich im Familienarchiv der Notthafft Aktenstücke zu verschiedensten Reichskammergerichtsprozessen erhalten,123 darunter ein Schreiben des Reichskammergerichtsassessoren Wolfgang Gemmingen an den hessisch-darmstädtischen Kanzler Philipp Ludwig Fabricius aus dem Jahre 1656, bei denen zwar die Frage ihrer Herkunft bzw. ihrer Zuordnung als Kammergerichtsakten aus Speyer, nicht aber die ihres Weges in den Notthafftischen Besitz geklärt ist. Wie seinen Memorialbüchern zu entnehmen ist, trug sich Notthafft sogar selbst ernsthaft mit dem Gedanken, sich auch bezüglich der im Zuge des Notthafftschen Familienfideikommisses entstandenen mehrere Jahrzehnte schwelenden Rechtsstreitigkeiten parallel auch an das Reichskammergericht zu wenden, schrieb ihm doch Leiblfing, dass man in Speyer die Rechtslage anders als in Wien sehen würde, und dass ihm dort, anders als bei der eigenen Behörde, der angestrebte Appellationsprozess sehr wohl bewilligt werden würde.124 Der große Familienfideikommissstreit wurde allerdings – wie bereits ausgeführt – dann doch „nur“ an der kurfürstlich bayerischen Regierung im Rentamt Landshut und dem Hofrat in München, fortgeführt und ausgetragen.125

120 121

122 123 124

125

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 148; vgl. auch: Martin Bircher: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) und sein Freundeskreis, Berlin 1968. Karl August Freiherr von Leiblfing war Assessor am RKG und später kurfürstlich bayerischer Revisionsrat, der „bey denen zu den Speyrischen sachen verordneten Rhäten das Directorium füehren solle“: BayHstA München, HR I, Fasz. 504/65. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 585, 1401. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 205, 385. „Sub dato 9. April 1659 schreibt mir Herr Carl August Freyherr von Leiblfing aus Speyer, was massen Er der meinung sey wan Ich die habendte fideicommissachen, bey dem Löb. Cammergericht Speyer anbringen wollte, das mir alldortten ex continentia causarum, ohne allen respect, die verlangte process würdten erkhennt werden.“: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/11. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/5–6.

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In der Aktenüberlieferung des Reichskammergerichts greifbar ist Notthafft allerdings dennoch, wenn auch nicht als Kläger. In der erstinstanzlich am Hofrat in München anhängigen Rechtsstreitigkeit mit dem kurfürstlich bayerischen Erblandhofmeister Georg Christoph von Haslang um das adelige Rittergut Kronheim war der kaiserliche Reichshofrat und Kämmerer als Zessionar des Bischofs Marquardt von Eichstätt von 1662 bis 1663 Mitbeklagter.126

2. Die Notthafftische Inanspruchnahme des Reichshofrats als Instanz bei der Bewerbung um die Verleihung von Ämtern, Privilegien, Gnaden und Standeserhöhungen sowie bei der Eingabe von Suppliken an den Kaiser Wie aus den Hofzahlamtsbüchern127 und vielen Korrespondenzen Notthaffts128 hervorgeht, war es nicht die Besoldung, die eine Anstellung für junge Adlige und/oder juristisch gebildete „Cavalliren“129 im Reichshofrat so lukrativ machte. Im Gegenteil: Vielen Schreiben Notthaffts ist klar zu entnehmen, dass die Reichshofräte noch auf eigene finanzielle Mittel zurückgreifen mussten, um ihr Amt, die damit verbundenen Reisen zu Kommissions- und Deputationseinsätzen sowie das Leben bei Hof bestreiten zu können.130 Zwar erhielt Notthafft für besondere Leistungen – also im konkreten Fall erfolgreiche Kommissionseinsätze – Sonderzahlungen131 , die in den sog. Gedenkbüchern überliefert sind.132 Die tatsächlich 1300 Gulden umfassende jährliche Besoldung, die den Reichshofräten zumindest laut der normativen Quellen in vierteljährlichen Raten ausbezahlt werden sollte, wurde jedoch – wie die Auswertung der Hofzahlamtsbücher für den Zeitraum von 1630 bis

126

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132

Vgl. BayHStA, Reichskammergericht, Nr. 6413; BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 373, 374; Staatsarchiv Ludwigsburg, Odenwald Ritterkanton, B 583 Bü 4; HohenloheZentralarchiv Neuenstein, Grafentagssachen La 70 Bü 47, Wa 35, Bü 1178. Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (OeStA) Wien, FHKA, Alte Hofkammer, Hofzahlamtsbücher 77/1 (1630) – 110 (1665). So z. B. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 363, 414, 434, 451, 1248; OÖLA Linz, Herrschaftsarchiv Steyr, 23/385. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1307. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451, 828/2, 828/5, 828/10, 1307, 1308. Vgl. OeStA Wien, FHKA, Alte Hofkammer, Gedenkbücher, Österreichische Reihe 179 (1642), fol. 355r–355v; 189 (1652–1653), fol. 210v–212r, 518ff.; 193 (1656–1659), fol. 356r–358v, fol. 492r–493r; 194 (1658) fol. 78r–80r. Vgl. OeStA Wien, FHKA, Alte Hofkammer, Gedenkbücher, Österreichische Reihe 170– 200.

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1665 ergab – in den wenigsten Fällen zeitnah erstattet, und wenn, dann auch nur auf mehrmalig vorgebrachte dringliche Bittgesuche hin. In den Verfassungsakten des Reichshofrats haben sich viele dieser Suppliken, in denen das ganze Reichshofratskollegium inklusive des Präsidenten und Vizepräsidenten kollektiv seine aus- und rückständige Besoldung erbat, überliefert.133 Im Jahr 1639 leisteten die Reichshofräte sogar geschlossen einen Abschlag von 325 Gulden (der Präsident Johann von Reck 650 Gulden) ihres Gehalts als „freiiwillige Contribution“, so dass Kaiser Ferdinand III. durch diese außerordentliche Abgabe die stattliche Summe von insgesamt 25 219 Gulden und 51 Kreuzern übergeben werden konnte.134 Auch als die „Türkengefahr“ drohte, trat Kaiser Leopold I. mit einem pekuniären Anliegen an das Reichshofratskollegium heran – erachtete es doch das Reichsoberhaupt als unumgänglich, von allen Einwohnern die Leistung einer „freiwilligen“ Türkensteuer, von der also auch die Haus- und Hofbehörden nicht ausgenommen waren, einzufordern. Mit der Kommission der Eintreibung des begehrten Beitrags zur Türkenabwehr beauftragte Kaiser Leopold I. seinen Reichshofratsvizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft, alle Räte innerhalb einer Woche vorzuladen, ihnen die gegenwärtige Gefahr zu erörtern und diese zu einer entsprechenden materiellen Hilfeleistung anzuhalten. Gemäß der Instruktion sollte Notthafft jeden einzelnen seiner Kollegen mit Namen und der jeweiligen Summe der Geldspende auflisten. Ebenso sollte vermerkt werden, wer von den Räten sich strikt von der Kollekte ausnähme.135 Die Notthafftsche Relation seiner Kommissionsverrichtung enthält nicht nur die Stellungnahmen der einzelnen Reichshofräte, sondern auch den Verweis, dass er es von sich heraus als nötig zu sein ermessen hätte, nicht unversucht zu lassen, den einen oder anderen seiner Kollegen „zu beytragung Eines halben oder ganzen quartals seiner ReichsHoffRhats Besoldung“ zu motivieren, wozu sich immerhin die Herren Grafen von Portia, Harrach und Dietrichstein – nach entsprechender Einwirkung durch Notthafft – alsbaldt willfherig erbotten hätten.136 Im konkreten Fall Notthaffts hatte sich so über die Jahre seiner Dienstzeit im Reichshofrat ein erheblicher Besoldungsrückstand angehäuft, der sich zum Zeitpunkt seines Todes auf 17 000 Gulden belief.137 Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass sich der Reichsgraf geradezu animiert fühlte, nach zusätzlichen Einnahmequellen zu suchen. Eine Möglichkeit dazu sah er in der Erlangung von Standeserhöhungen. Konnte Notthafft bereits 1626 von Kurfürst Maximilian I. eine Interzession bei Kaiser Ferdinand II. für die Erlangung

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Vgl. HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 15–17. Vgl. OeStA Wien, FKHA, Alte Hofkammer, Hofzahlamtsbücher 85 (1639), fol. 46v–47r. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 663. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 663. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451.

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bzw. Restitution seines Freiherrenstandes erwirken138 , so erfolgte die tatsächliche Erhebung in den erblichen Freiherrenstand und die Ausfertigung des Diploms verbunden mit einer zweifachen Wappenmehrung139 erst, nachdem er sich schon zwei Jahre im Reichshofrat, v.a. durch seine fast zwei Jahre dauernde erfolgreiche Kommission in den Streitigkeiten zwischen dem Bischof und der Stadt Regensburg wegen geistlicher Jurisdiktion, bewährt hatte.140 Am 26. Januar 1636 wurde Notthafft als wirklicher Landmann in der Steyermark aufgenommen, nachdem er sich dort entsprechend begütert hatte.141 Ebenfalls seiner treu geleisteten Dienste für Kaiser und Reich verdankte er 1638 die Verleihung der erblichen Grafenwürde durch Kaiser Ferdinand III.142 Da er sich als kaiserlicher Reichshofrat auch „absonderlich umb das H: Röm: Reich und hochlöb. Erzhaus Österreich in Underschiedlichen occasionen woll meritirt gemacht“ hat, erhielt Notthafft 1642 die Mitgliedschaft im alten Herrenstand des Erzherzogtums Österreich unter der Enns. Als ordentlicher Landmann hat er in der Folgezeit bis zu seinem Tod „unzehlig villmahl undter denen Eltern“ auch selbst in eigener Person „session genommen und votiert“.143 1652 erlangte Notthafft in Prag Sitz und Stimme im alten Herrenstand des Königreichs Böhmen. Das Inkolat in Böhmen hatte er dabei schon längere Zeit vorher erhalten und selbiges auch in Schlesien und dem Königlichen Tribunal in Mähren durch die Königliche Kanzlei ankündigen lassen144 – hatte er sich doch aufgrund verschiedener Netzwerke auch in Böhmen entsprechend begütern können.145 1660 wurde Notthafft durch Erzherzog Leopold Wilhelm mit dem Erbmarschallamt des Hochstifts Passau belehnt.146 Im selben Jahr verlieh ihm Kaiser Leopold I. das Erbtruchsessenamt des Hochstifts Regensburg.147 1663 schließlich wurde Nothafft von Kaiser Leopold I. zum Reichshofratsvizepräsidenten ernannt.148 Parallel dazu erhielt er auch das Kleine Palatinat,

138 139 140

141 142 143 144 145 146 147 148

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 305. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, U Nr. 1086; OeStA Wien, AVA, Adelsarchiv, Reichsadelsakten, Notthafft. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 549, 1012; BayHStA München, Reichshofrat, 555, 637; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/93 (1630) – 99 (1632); HHStA Wien, RHR, Ant. 693/5. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828, 1248, 1307. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1306; U 1091; OeStA Wien, AVA, AA, RA, Notthafft. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 413. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 828/10. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1387. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 495; U Nr. 1122. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 454, 548; U Nr. 1121. Vgl. HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 26.

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also die in Primogenitur erbliche Pfalz- und Hofgrafenwürde mit den gewöhnlichen Rechten.149 Ein weiterer Grund für das lebenslange Streben Notthaffts nach Promotion und weiteren Aufstiegsmöglichkeiten in den Reichsbehörden lag seiner Meinung nach in der sich eher schleppend entwickelnden Karriere im Reichshofrat, hatte er sich doch bereits 1645 um die nach dem Tod des Freiherren Karl Fuchs von Fuchsberg vakante Vizepräsidentenstelle beworben.150 Wie aus einem Schreiben an den kaiserlichen Obersthofmeister Fürst Johann Ferdinand von Portia hervorgeht, dachte Notthafft retrospektiv, den „unglücklichen“ Verlauf seiner Karriere selbst mit verschuldet zu haben – hatte er doch die ihm 1630 noch vor dem Kollegialtag in Regensburg von Kaiser Ferdinand II. angebotene Stelle in der Hofkammer seinerzeit ausgeschlagen, und lieber auf die Installation in den Reichshofrat am Ende des Reichstages gewartet. Rückblickend habe er also die mit „Pley gefilte Pixen, an statt der guldenen erwöhlet“.151 In unzähligen Gesuchen versuchte er bis zu seinem Tod vergeblich, eine Aufnahme in den Geheimen Rat zu erlangen.152 Obwohl er spätestens seit seiner Ernennung zum Reichshofratsvizepräsidenten 1663 regelmäßig zu den Geheimen Ratssitzungen zugezogen wurde, dort referierte und mitvotierte, blieb ihm die offizielle Aufnahme aber verwehrt. Unzähligen Korrespondenzen ist zu entnehmen, dass er sich tatsächlich anderen jüngeren und rechtskundig erheblich weniger versierten Neulingen im Kollegium gegenüber benachteiligt fühlte. Interessant ist, dass er in seinen Ausführungen keine Gelegenheit ausließ, um potentielle Konkurrenten bei Dritten in ihrem Lebensstil zu kritisieren oder mitunter gar anzuschwärzen suchte, darunter auch den ihm an Dienstjahren vorstehenden und somit die Vizepräsidentenstelle „unnötig“ lange blockierenden Grafen Georg Ulrich von Wolkenstein, der als Junggeselle ein „vitam solitariam“ führe, was sich für einen richtigen Kavallier nicht gehören würde.153 Es sei an dieser Stelle kurz angeführt, dass die „Umtriebigkeit“, der Drang zu Höherem und die gezielte Karriereorientierung Notthaffts bereits in seinen frühen Jahren, schon zur Zeit seiner Anstellung in kurfürstlich bayerischen Diensten, nicht nur sehr stark ausgeprägt, sondern auch augenfällig geworden waren. Wie aus einem Schreiben seines eigenen Onkels Sigmund Notthafft von Wernberg, kurfürstlich bayerischer Rat und Landrichter im Rentamt Straubing, an Kurfürst Maximilian I. von Bayern hervorgeht, fürchtete man in Straubing regelrecht, der junge, dynamisch-aufstrebende und juristisch be149 150 151 152 153

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, U Nr. 1129; OeStA Wien, AVA, AA, RA, Notthafft. Vgl. HHStA Wien, RHR/RK, Verfassungsakten, RHR, 26. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1307. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1248, 1307, 1308. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451, 1248, 1306, 1307.

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schlagene Freiherr könnte den alteingesessenen Herren vorgezogen werden oder diese gar übervorteilen, da dieser angedeutet hätte, „daß er [Notthafft] sich mit gehabter session nit begniegen zelassen gedenckht“.154 Vor diesem Hintergrund ist umso mehr zu verstehen, dass sich Notthafft parallel zu seiner Meinung nach „ins Stocken“ geratenen Beförderung im Reichshofrat um eine Vielzahl weiterer Ämter beworben hat. Genannt sei hier sein Gesuch an Kaiser Ferdinand III. aus dem Jahre 1644 um die Belehnung mit dem vakant gewordenen Statthalteramt von Augsburg, nicht zuletzt aus der Motivation heraus, dass er dem Münchner Hof und seinen dort anhängigen Prozessen räumlich näher wäre.155 Bevor sich nun die Frage nach der logistischen Umsetzung bzw. Bewältigung dieses Amtes stellt, sei angeführt, dass sich Notthafft für die Zeit der Konsolidierung und Sanierung seiner privaten Güter in Bayern von der aktiven Teilnahme an den Reichshofratssitzungen beurlauben ließ und für diesen Interimstausch „einen Fugger“ als seinen Stellvertreter nach Wien schicken wollte.156 Auch bewarb sich Notthafft nach dem Aussterben der Grafen von Thurn im Mannesstamm 1643 bei Kaiser Ferdinand III. um das vakant gewordene Erbschenkenamt des Fürsterzbistums Salzburg. Wie aus seinen Suppliken hervorgeht, versuchte der Reichsgraf mit der Verleihung dieses Lehens, seinem Geschlecht ein weiteres Erbamt zukommen zu lassen – hatte doch der Wernberger Familienzweig schon traditionell seit dem 15. Jahrhundert das Erbtruchsessenamt des Hochstifts Regensburg und das Erbmarschallamt des Bistums Passau als Lehen inne.157 Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch der Plan Notthaffts, seine „gethreueste devotion“ gegenüber der kaiserlichen Majestät, dem hochlöblichen Erzhaus Österreich und dem Heiligen Römischen Reich auch über seine Profession als „unwürdiger Reichshofrat“ hinaus unter Beweis zu stellen. Wie aus seinem Gesuch an Kaiser Ferdinand III. aus dem Jahr 1655 hervorgeht, hat er sich tatsächlich „erkhüenet“, sich mit einem Reiterkontingent für den aktiven Kriegs- und Militärdienst anzubieten.158 Dies ist weniger im Hinblick auf die Tatsache interessant, dass Notthafft 1628 an der Universität Ingolstadt eine Abhandlung über Militärarchitektur159 eingereicht hat, als vielmehr 154 155 156

157 158 159

Vgl. BayHStA München, Personenselekt, Kart. 268, Nothaft F IV. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Notthafft war insgesamt drei Jahre vom Reichshofrat abwesend – selbstverständlichn mit Erlaubnis des Kaisers – um sich um seine im Zuge der Wirren des Dreißigjährigen Krieges stark verwüsteten und zerstörten Privatgüter in Bayern und Böhmen kümmern zu können. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Johann Heinrich Notthafft: Tractatuum aliquot Architectonico-militarium accurata Dispositio: Das ist: Ungefährliche doch fleissige Ab- und Außtheilung etlicher Baw: und Kriegstractat, So künfftig/ vilen Cavalliren zugefallen/ an das Liecht gelangen möchten, s.l. 1628 (BSB 4 App.mil. 100 a).

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als Beweisführung dafür, dass er keine Mittel und Wege scheute, die mangelhafte Reichshofratsbesoldung und die seiner Meinung nach zu geringen Aufstiegschancen im Reichshofrats-Kollegium zu kompensieren und darüber hinaus durch andere Initiativen um die Gunst der Kaiser zu werben und somit letztendlich trotzdem die von ihm gewünschte Karriere zu erreichen.160 Als einer der raffiniertesten Schachzüge Notthaffts in seinem Streben um Ämter, Gnaden und Privilegien gilt seine Bewerbung um das kaiserliche Reichshofpostmeisteramt 1642 für die Dauer des Reichs- und Kollegialtages in Regensburg. Notthafft gelang es, einen am Reichshofrat anhängigen Rechtsstreit zwischen Reichs- und Landespost, also konkret zwischen der Reichspostmeisterin Gräfin Alexandrine von Taxis als Vormundschaftsvertreterin für ihren minderjährigen Sohn Graf Lamoral Taxis, und dem kaiserlichen Hof- und Erbland-Postmeister Johann Christoph Freiherr von Paar für sich zu nutzen und sich selbst bei Kaiser Ferdinand III. um das schwebende Reichshofpostamt zu bewerben.161 Das Hofpostamt sollte bei Anwesenheit des Kaisers im Reich nur die Briefe des Kaisers und des Hofes befördern, alle übrigen Briefe sollten aber durch die Reichspost laufen. Der österreichische Erblandpostmeister durfte sich außerhalb der Grenzen der kaiserlichen Erblande faktisch nicht mit der Postbeförderung befassen. Wie der Reichspostmeister dem Hofpostamt in den kaiserlichen Erblanden, so durfte auch der kaiserliche Hofpostmeister der Reichspost im Reich keinen Eintrag tun. Trotzdem kam es zwischen den beiden Postamtsinhabern und ihren verschiedenen Posthaltern in regelmäßigen Abständen zu Zwistigkeiten bei der Briefbeförderung.162 Wie den Reichshofratsakten zu entnehmen ist163 , erging im August 1641 tatsächlich das Conclusum, „das der Herr Notthafft conditionaliter unnd dergestalt mit dem Kaii. Gebettenen Reichshofpostambt zu begnadigen, dafern Er, da solches Ihr KM vacant, gegen die Gräfin von Taxis unnd Freiiherrn von Paar zu recht ausführen werde, zu welchem Ende alsdan auch dem Fiscali, das Er Ihme assistire anbefohlen werden khönte“.164 Dem kaiserlichen Reichshofrat und Kämmerer Notthafft gelang es also, sich in dieser Strittigkeit gegen

160 161 162

163 164

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/122, fol. 41r, 157r, 181r, 182r, 182v, 190r, 228v, 238r, 261v, 284v, 323v. Vgl. hierzu: Ludwig Kalmus: Weltgeschichte der Post. Mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachgebietes, Wien 1937, S. 38–269; Paul Mechtler, Der Kampf zwischen Reichspost und Hofpost, in: MIÖG 53 (1939), S. 411–422; Wolfgang Behringer: Thurn und Taxis, München/Zürich 1990; ders.: Im Zeichen des Merkur, Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003; Martin Dallmeier: Quellen zur Geschichte des europäischen Postwesens 1501–1806, 2 Bde., Kallmünz 1977. Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 623, 637, 639, 640, 642; HHStA Wien, Mainzer Erzkanzlerarchiv, Postalia, 3–4; HHStA Wien, RHR, Fiskalarchiv, 14 Q–R. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/122, fol. 238r.

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die Postmeisterdynastien von Taxis und von Paar durchzusetzen. Die Tatsache, wie vielfältig es ihm gelang, den Reichshofrat effektiv für eigene Zwecke und Interessen zu nutzen, lässt dabei die Frage nach der logistischen Umsetzung dieses Amtes in den Hintergrund treten. Notthafft reichte bis zu seinem Tod noch viele weitere Suppliken beim kaiserlichen Reichshofrat ein. Nennenswert ist sein im Jahre 1632 eingereichtes Gesuch um die Gewährung eines fünfjährigen Moratoriums165 , hatte er doch im Dreißigjährigen Krieg, v.a. durch Truppendurchzüge, große Verluste und Zerstörungen an seinen bayerischen Schlössern und böhmischen Landgütern erlitten. Die Schulden- und Verlustrechnungen füllen mehrere Regalmeter im Familienarchiv. Er war sogar gezwungen, einige der Familienstammsitze zu veräußern. Bis weit in die 1630er Jahre hinein wurde auch regelmäßig wertvoller Schmuck, Besteck und Geschirr aus dem Notthafftischen Hausrat verpfändet. Die Zerstörungen durch die Schwedeneinfälle an den bayerischen Gütern, in der Oberpfalz und um Augsburg waren so massiv, dass ihm Kaiser Ferdinand II. das Moratorium und die Steuerbefreiung nicht nur einmalig bewilligte, sondern 1637 sogar noch um zwei Jahre verlängerte.166 Außerdem zwangen die Plünderungen und Kriegseinfälle ihn, seinen aktiven Dienst im Reichshofrat für drei Jahre auszusetzen, um sich vor Ort um seine privaten Geschäfte kümmern zu können.167 Auch dies wurde ihm von Kaiser Ferdinand II. bewilligt. Seine Reichshofratsstelle blieb ihm so lange reserviert.168

3. Die Notthafftschen Bewerbungen um die Vergabe vakant gewordener Lehen Wie die Fallstudie Notthafft anschaulich belegt, machte für viele junge Adlige und promovierte Juristen gerade auch die Monopolstellung des Reichshofrats als oberster Reichslehenshof, bei welchem die gesamte Reichslehensregistratur zusammenlief, eine Installation auf der Herren- oder Gelehrtenbank besonders reizvoll. Da alle Lehensstreitigkeiten, die Suppliken der Interessenten um die Bewerbung vakant gewordener und heimgefallener Lehen und deren weitere Vergabe in den Reichshofratssitzungen verhandelt und in pleno entschieden wurden, waren die Räte sowohl über die Reichslehen in genere als auch im speziellen über die Größe, Lage, Beschaffenheit sowie den Einnahme- und Vermögenswert einzelner Lehenstücke im gesamten 165 166

167 168

Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/1. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 442; HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/100, fol. 122v, 128r, 141v; XVII/109, fol. 108V; XVII/110, fol. 4r; HHStA Wien, RHR, Ant. 438/2. Vgl. OeStA, Hofzahlamtsbücher 104 (1658), fol. 116r. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 451, 1307.

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Herrschaftsgebiet des Habsburgerreiches wohl unterrichtet und wussten so aus erster Hand, welche Lehen besonders lukrativ waren und es lohnten, sich selbst um deren Vergabe beim Reichsoberhaupt zu bewerben.169 Zudem wurden alle Reichslehen, Pfandschaften, Zollkonzessionen und andere hohen Regalien in regelmäßigen Abständen durch reichshofrätliche Kommissionen neu registriert und verwaltet. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges wirkten sich auch nachhaltig negativ auf die reichshofrätliche Lehensprotokollführung aus, so dass Informationen und Änderungen im Besitzstatus vieler Reichslehen nur notdürftig oder gar nicht schriftlich festgehalten worden waren, was eine spätere Einsichtnahme in die Protokolle für die Ermittlung der bisherigen Empfänger und Lehensträger schwierig und zeitintensiv gestaltete.170 Vor diesem Hintergrund instruierte Kaiser Ferdinand III. Johann Heinrich Notthafft zusammen mit den Kollegen Graf Ernst von Öttingen und Dr. Otto Melander im Jahr 1640 mit der „erseh: und examinirung aller Reichslehen, auch Anderer hochen Regalien, possessionen, Diplomaten, Begnadungen, Pfanndtschafften, Zohl Erhöhungen, unnd Expectanzen“171 , um die Gesamtheit aller Lehen - sowohl der deutschen, als auch der lateinischen Expedition - zum einen auf den aktuellen Stand zu bringen und zum anderen alle Mängel in der bisherigen Registratur zu ermitteln.172 Diese wurden tatsächlich, nachdem sich die verordneten Kommissare ins Archiv begeben hatten, in multipler Hinsicht gefunden. Notthafft und seine beiden Kollegen eruierten, dass ein Teil der Lehen verschiedenen Ständen zugeschrieben oder erteilt worden waren, dass wieder andere Lehenstücke auf unterschiedliche Lehenbriefe verteilt worden waren und dass v.a. der Status der Italienischen Lehensregistratur für große Verwirrung sorgen könnte.173 Auch wurde befunden, dass von den meisten Lehensurkunden nur wenige oder veraltete Abschriften vorhanden waren. Würde nun von Seiten der Lehensmänner der Besitzstatus dieser Güter angefochten werden, hätte der Reichshofrat aufgrund der mangelhaften Überlieferung der Lehensprotokolle in den Archiven große Mühe, schriftliche Belege vorzuweisen.174 In ihrer Relation berichteten die Kommissare auch darüber, dass Ihnen unmöglich gewesen wäre, alle Lehen einzusehen und dass eine Neuregistratur nicht in wenigen Stunden angefertigt werden könnte. Notthafft, Öttingen und Melander rieten in ihrem Gutachten, dass sich das Reichsoberhaupt in dieser Angelegenheit mit dem Kurfürsten von Mainz zu weiterer Erörterung beraten

169 170 171 172 173 174

Dieses Emergenz brachte die Analyse der Resolutionsprotokolle für den Zeitraum von 1630–1665. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1439. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1439. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/119, fol. 182v. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1439. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1439.

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sollte, wie man in Anlehnung an den Gebrauch in anderen Königreichen und Ländern Ordnung und Struktur in die Registratur bringen könnte.175 Aus dem Conclusum vom 27. Juli 1640 geht hervor, dass man den als Kommissare in dieser Angelegenheit der Neuordnung der Reichslehensregistratur betrauten Reichshofräten zu diesem Zweck sogar erlaubte, die Lehenbücher und Lehenprotokolle mit nach Hause zu nehmen.176 Darüber hinaus wurde beschlossen, den Reichshofratssekretär Paul Thoman dauerhaft als Lehenssekretär zu bestellen, um somit einen konstanten Ressortmann für alle Lehensbelange zu haben. Die mit derartigen Kommissionen betrauten Reichshofräte, welche so stets aus erster Quelle wussten, welche Lehen vakant waren oder bald zu werden drohten, suchten ihre geringe und zumeist rückständige Reichshofratsbesoldung nicht zuletzt dadurch auszugleichen, dass sie sich beim Kaiser selbst um die Verleihung dieser wichtigen Reichslehen bewarben. Für Notthafft ist eine Vielzahl an Bewerbungen um vakant gewordene Lehen nachweisbar177 , so im Falle der Geitzkoflerischen Lehen178 , den Reischachischen Reichslehen179 , dem Blutbann auf Schneeberg, Reichenstein und Schönsee180 , den Wildstromischen Reichslehen181 , den Appianischen Reichslehen182 oder den Örtlischen Reichslehen183 . In den meisten Fällen war er auch nachweisbar erfolgreich. Auch aus seiner Tätigkeit als kaiserlicher Kommissar bei Lehensstreitigkeiten entstanden eigene Bewerbungen Notthaffts um die strittigen Lehensgüter, so. z. B. im Falle der „Wirsbergischen Reichslehen“ und des „Blutbanns zu Waldthurn“.184 Selbstredend zog der Wettbewerb um die Vergabe der Reichslehen viele weitere Klagen und Rechtsstreitigkeiten Notthaffts am Reichshofrat 175 176 177 178

179 180

181 182 183 184

Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 1439. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/119, fol. 182v. Vgl. hierzu auch: BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 307, 484, 522, 617, 744, 1143, 1209, 1291, 1461, 1465. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/145, fol. 219v; XVII/159, fol. 113r; XVII/162, fol. 248v; XVII/162, fol. 376r; XVII/162, fol. 402v; XVII/163, fol. 38v, XVII/163, fol. 81r; XVII/163, fol. 98v; XVII/163, fol. 113v; XVII/177, fol. 309r; XVII/180, fol. 287v; XVII/182, fol. 43v; HHStA Wien, RHR, Ant. 438/8. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/150a, fol. 182r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/162, fol. 402v; XVII/163, fol. 3v; XVII/168, fol. 272r; XVII/169, fol. 236r, XVII/168, fol. 278v; XVII/169, fol. 242v; XVII/193, fol. 260r; XVII/197, fol. 119v; XVII/197, fol. 120r; XVII/198, fol. 128v; XVII/198, fol. 129v; XVII/198, fol. 335v, XVII/197, fol. 350r; XVII/198, fol. 394r; XVII/201, fol. 168r; XVII/201, fol. 176r; XVII/201, fol. 259r; XVII/201 fol. 269r; HHStA Wien, RHR, Ant. 438/8, 438/12, 438/14. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/189, fol. 58, XVII/190, fol. 50r. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/168, fol. 265v; XVII/169, fol. 223v; XVII/189, fol. 58v; XVII/190, fol. 50v; XVII/193, fol. 46v. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/189 fol. 263v; XVII/190 fol. 256v; XVII/192 fol. 188r; XVII/191, fol. 352r; XVII/195, fol. 231v. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/133, fol. 19r, 26v; XVII/145, fol. 284r.

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nach sich.185 Besonders aufschlussreich ist es, zu analysieren, wie wertvoll und ertragreich die Lehen im Einzelnen waren, sich die Güterbeschreibungen anzusehen, die Zahl der Untertanen und die damit verbundenen jährlichen Einnahmen, die Rechte und Gerechtigkeiten und somit ihren pekuniären Realwert zu ermitteln.186 In Abschlag seiner rückständigen Reichshofratsbesoldung supplizierte Notthafft auch um die lehensweise Überlassung der Burg Eger, die selbiger Stadt zunächst für 5000 Gulden und dann sogar für 7000 Gulden versetzt worden war und inzwischen als Lehen an den Kaiser heimgefallen, somit vakant wäre und neu vergeben werden könnte.187 Ebenfalls interessant ist zu beobachten, für welche Lehensempfänger Johann Heinrich Notthafft stellvertretend die Ableistung des Lehenseides übernahm. So sind viele Lehensmänner nachweisbar, die Notthafft nachweisbar ausdrücklich für die Vollziehung dieses formalen Aktes in Wien wünschten. So bat beispielsweise Markgraf Christian von Bayreuth Notthafft, stellvertretend für seinen Sohn die Lehenempfängnis abzuleisten.188 Analoge Ersuchen wurden von Fürstbischof Albrecht Sigismund von Freising189 , den Markgrafen Christian und Albrecht von Brandenburg190 , Abt Joachim von Fulda191 oder Enno Ludwig von Ostfriesland gestellt.192

4. Resümee Wie einleitend dargestellt, diente der Reichshofrat nicht nur als oberste juristische Instanz im Alten Reich, sondern verschmolz exklusiv eine Reihe zusätzlicher Kompetenzen. Fungierte das ständisch besetzte Reichskammergericht ausschließlich als Höchstgericht, wirkte und agierte der Reichshofrat über seine Zuständigkeit als höchstes Reichsgericht hinaus multifunktional als Konvergenzzentrale für Kaiser und Reich. Als federführende Schalt- und Schnittstelle des mächtigen habsburgischen Verwaltungsapparates, die direkt, unmittelbar und ausschließlich dem Kaiser unterstellt war, muss der Reichshofrat nicht nur als Reichs- und Regierungsorgan, sondern zugleich 185 186 187 188 189 190 191 192

Vgl. HHStA Wien, RHR, Ant. 438/8, 438/12, 438/14. Vgl. BayHHStA München, FA Notthafft, Lit. 115, 487, 522, 582, 617, 744, 884, 1209, 1291. Vgl. BayHHStA München, FA Notthafft, Lit. 451. Vgl. BayHStA München, FA Notthafft, Lit. 757. Vgl. HHStA Wien, RHR, Res.prot. XVII/182, fol. 77r; HHStA Wien, RHR, Gratialia et Feudalia, Reichslehensakten deutsche Expedition, 45. Vgl. HHStA Wien, RHR, Gratialia et Feudalia, Reichslehensakten deutsche Expedition, 14. Vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Reichsabtei, Stift, Urk. 75 Nr. 1885, 1869. Vgl. HHStA Wien, RHR, Gratialia et Feudalia, Reichslehensakten deutsche Expedition, 16.

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auch immer als Haus-, und Hofbehörde charakterisiert und gesehen werden. Entsprechend dieser vielschichtigen Zuständigkeitsbereiche des Reichshofrats erweiterte sich in der Praxis auch der Aktions- und Kompetenzradius seiner einzelnen Räte gegenüber den ausschließlich mit juristischen Aufgaben betrauten Mitgliedern des Reichskammergerichts erheblich. Analog zu den vielschichtigen juristischen, administrativen, diplomatischen, innen- und außenpolitischen Anforderungen, die eine Anstellung in höchsten kaiserlichen Diensten für seine Funktionselite mit sich brachte, hatten die Reichshofräte parallel dazu aber auch vielfältige Möglichkeiten, die eigene Behörde als Privatperson zu nutzen wie das Fallbeispiel des juristisch versierten Vizepräsidenten exemplarisch beweist. Festzuhalten ist, dass es dem adligen Juristen Notthafft über mehr als 35 Jahre gelungen ist, den Reichshofrat unter den Kaisern Ferdinand II., Ferdinand III. und Leopold I. regelmäßig und ausgiebig in „eigener Sache“ über drei verschiedene Zugänge für verschiedenste Intentionen selbst zu nutzen und in Anspruch zu nehmen. Zum einen trat er am Reichshofrat in seiner Funktion als höchstes Reichsjustiztribunal regelmäßig als privater Kläger in Erscheinung mit der Absicht, eigene Rechtspositionen durchzusetzen. Zum anderen beanspruchte er den Reichshofrat als federführende Verwaltungsbehörde und bewarb sich zeitlebens um Ämter, Privilegien, Gnaden und Standeserhöhungen. Darüber hinaus reichte er beim Kaiser zahlreiche Suppliken ein um eigene Belange zu befördern. Zum dritten frequentierte er den Reichshofrat in seiner Funktion als oberster Reichslehenshof und bewarb sich selbst um viele vakant gewordene Lehen. Wie am Präzedenzfall Notthafft exemplarisch aufgezeigt, bestand für die Reichshofräte also in der Praxis die Möglichkeit, die eigene Reichs- und Regierungsbehörde in ihrer vielschichtigen Funktion als Reichsjustiztribunal, als oberster Reichslehenshof und als Verwaltungsbehörde für eigene Interesse und Zwecke zu nutzen. Ob die Kollegen Notthaffts auf Herren- und Gelehrtenbank den Reichshofrat ebenso stark frequentiert und in Anspruch genommen haben wie er selbst, werden erst vergleichende Studien zu anderen Reichshofräten aufzeigen können. Erst dann kann auch eine endgültige Einordnung Notthaffts als idealtypischer und repräsentativer Reichshofrat oder eben als singuläre Ausnahmeerscheinung innerhalb des Kollegiums in genere und der Herrenbank in specie erfolgen.

Siegrid Westphal

Adel und eheliche Konflikte vor dem Reichshofrat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Durch William Hogarths Bildfolge „Marriage à la Mode“, die im Alten Reich durch Georg Christoph Lichtenbergs (1742–1799) Kommentar im „Göttinger Taschen Calender“ bekannt geworden war, wusste die aufgeklärte Gesellschaft, dass Ehen ohne Liebe, die allein aus ökonomischen Gründen geschlossen wurden, in eine Katastrophe münden mussten, nämlich in moralischen Verfall und Tod. Dies galt umso mehr für eine Eheschließung zwischen zwei so ungleich sozialisierten Partnern wie einem Sprößling einer verarmten Adelsfamilie und der Tochter eines reichen Kaufmanns.1 Diese Bildserie kann gleichsam für zwei Entwicklungen des späten 18. Jahrhunderts stehen. Zum einen spricht die Adelsforschung von der vielzitierten Krise des Adels, der Strategien des „Obenbleibens“ entwickeln musste, um sich als führender Stand behaupten zu können.2 Zum anderen hat die Bürgertumsforschung im engen Zusammenhang mit der Herausbildung der bürgerlichen Kernfamilie bestimmte Entwicklungen wie Emotionalisierung, Individualisierung oder Herausbildung des Selbst in den Blick genommen.3 Bezogen auf die ehelichen Beziehungen wird in diesem Zusammenhang von dem Wandel der Vernunft- hin zur Liebesehe bzw. vom Arbeitspaar hin zum Liebespaar gesprochen.4 Die Adelsforschung geht jedoch davon aus, dass der Adel diese Entwicklung nicht nachvollzogen habe, weil bei ihm weiterhin Strategien des Konnubiums dominierten und Heiraten innerhalb der sozialen Gruppe der ständischen Abgrenzung dienten. Dies sei gerade in Krisenzeiten eine wichtige Verhaltensweise gewesen, um die Machtpositionen und Privilegien des Adels zu bewahren. Erst ab etwa 1820 sollen sich die freie Partnerwahl, allerdings innerhalb des 1

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Lydia Schieth: William Hogarth, in: Ursula Rautenberg (Hrsg.), Über die Ehe. Von der Sachehe zur Liebesheirat. Eine Literaturausstellung in der Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt 18. April–31. Oktober 1993, Schweinfurt 1993, S. 166–169. Ronald Asch: Einführung: Adel in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 317–325, S. 319. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Ute Frevert u. a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt am Main 2011. Siegrid Westphal/Inken Schmidt-Voges/Anette Baumann: Venus und Vulcanus. Krisen einer Ehe in der Frühen Neuzeit (bibliothek altes Reich = künftig baR 6), München 2011; Anne-Charlott Trepp: Liebe – erlebte Emotion und gesellschaftliche Wertsetzung. Geschlechterbeziehungen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 30 (2001), S. 14–21.

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Standes, sowie die Idee der Liebesheirat auch im Adel durchgesetzt haben.5 Leidenschaftliche Liebe, die keine Standesinteressen kannte, galt jedoch weiterhin als potentielle Gefahr der festgefügten adligen Familienordnung und wurde deshalb abgelehnt.6 Lediglich finanzielle Vorteile des weitgehend ökonomisch schlecht gestellten niederen Adels werden als möglicher Grund für Ehen mit unstandesgemäßen Töchtern aus vermögenden Bürgerfamilien genannt. Allerdings scheint „dieser Ausweg aus adliger Finanznot [. . . ] im Reich allem Anschein nach aus Sorge um die Standesqualität sehr viel seltener beschritten worden [zu sein] als in Frankreich oder England“7 , auch wenn die Popularität von Hogarths Bildfolge im Alten Reich einen anderen Eindruck vermittelt. Jedoch führten die beiden Phänomene – die Krise des Adels sowie neue Vorstellungen von der Qualität einer Ehe – innerhalb des Adels zu Verwerfungen und Auseinandersetzungen, denn die bürgerlichen Idealvorstellungen über eine Ehe wurden keinesfalls ignoriert, sondern intensiv reflektiert. Eine Reihe von adligen Selbstzeugnissen verweist darauf, dass Liebe und Zuneigung bei der Wahl des Ehepartners durchaus eine Rolle spielten und zumindest von Seiten der jungen männlichen Adligen auch Eheschließungen mit Bürgerlichen zunehmend ins Auge genommen wurden, selbst wenn am Ende bei der Eheschließung standesspezifische Interessen dominierten.8 Dennoch stieg der Druck auf die ehelichen Beziehungen, auch emotionalen Gesichtspunkten zu genügen. Wenn dies nicht der Fall war, dann scheinen die Ehepartner vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereit gewesen zu sein, ihre Situation nicht hinzunehmen, sondern zu verändern und notfalls die Auflösung oder Befriedung der Ehe auf gerichtlichem Weg zu erzwingen. Im Folgenden soll es nun nicht darum gehen, die bereits gut untersuchten Konflikte über standesungleiche Ehen des hohen Adels in den Blick zu nehmen oder die Problematik von gemischtkonfessionellen Ehen des Adels vorzustellen, auch wenn hierzu noch einiges gesagt werden könnte.9 Es geht vielmehr um eine Gruppe des niederen Adels, die sowohl eine spezielle verfassungsrechtliche Stellung besaß als auch von den krisenhaften Erscheinungen des 18. Jahrhunderts besonders schwer betroffen war. Es handelt sich um den reichsritterschaftlichen Adel, der zum einen durch das Problem zunehmender Verschuldung, zum anderen durch die seit den 1790er Jahren einsetzenden massiven Mediatisierungsbestrebungen diverser Territorialherrscher sowie durch die Koalitionskriege zusätzlich geschwächt wurde. Insbesondere die 5 6 7 8 9

Heinz Reif : Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 35), Göttingen 1979, S. 260–299. Silke Lesemann: Liebe und Strategie. Adlige Ehen im 18. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 189–207, hier S. 196. Michael Sikora: Der Adel in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2009, S. 118. Heike Düselder/Olga Weckenbrock/Siegrid Westphal (Hrsg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2008. Vgl. den Beitrag von Sikora in diesem Band.

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an die fränkischen Markgrafentümer Ansbach und Bayreuth angrenzenden Mitglieder des fränkischen Ritterkreises hatten nach dem Anfall AnsbachBayreuths an die zollersche Kurlinie unter der preußischen Arrondierungspolitik zu leiden, die zwischen 1792/93 und 1798 zu ihrer Unterwerfung unter die preußischen Landeshoheitsansprüche führte.10 Aufgrund der engen Einbindung der Reichsritterschaft in die Reichsverfassung und ihre Schutzmechanismen war die Existenz des Altes Reiches und der Reichsritterschaft aufs engste miteinander verknüpft. Wer die Reichsritterschaft angriff, der stellte gleichzeitig die Reichsverfassung in Frage.11 Nicht zuletzt die wirtschaftlichen Probleme der Reichsritterschaft und die politischen Auflösungserscheinungen des Reichsverbandes in Verbund mit den gewandelten Vorstellungen von einer Ehe dürften eine Rolle dabei gespielt haben, dass gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die ehelichen Beziehungen zunehmend krisenhafter verliefen und eine Reihe von Prozessen in Eheangelegenheiten aus der Reichsritterschaft vor dem Reichshofrat ausgetragen wurde. Auch wenn es sich nicht um eine quantitativ bedeutende Gruppe handelt, so sind es doch symptomatische Fälle, welche die oben aufgezeigten Entwicklungen exemplarisch widerspiegeln. Zunächst werden die Gruppe der Reichsritterschaft und ihre spezielle Stellung zu Kaiser und Reich kurz umrissen, um die Zuständigkeit des Reichshofrates für deren Eheangelegenheiten zu erklären. Dann wird der besondere Stellenwert von Eheschließungen für den Adel behandelt, um die Brisanz von ehelichen Problemen und Scheidungsbegehren für diesen Stand zu demonstrieren. Im Anschluss wird anhand von zwei Beispielen aus dem fränkischen Ritterkreis (Kanton Rhön-Werra) erläutert, warum die Konflikte an den Reichshofrat gelangten und welche Argumentationsmuster dabei eine Rolle spielten. Abschließend soll beurteilt werden, welche Funktion der Reichshofrat in solchen Fällen für die Reichsritterschaft hatte. Insbesondere geht es um die Frage, ob dieses kaiserliche Gericht eine besondere disziplinierende Rolle einnahm und den reichsritterschaftlichen Adel als Stand vielleicht auf diese Weise stützen wollte.

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Vgl. Michael Puchta: Mediatisierung „mit Haut und Haar, Leib und Leben“. Die Unterwerfung der Reichsritter durch Ansbach-Bayreuth (1792–1798) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 85), Göttingen 2012. Puchta: Mediatisierung (wie Anm. 10), S. 17.

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1. Die verfassungsrechtliche Stellung der Reichsritterschaft Die Reichsritter konzentrierten sich im Südwesten des Reiches und hatten es im Spätmittelalter verstanden, sich gegen die um sich greifende Territorialisierung und die Ambitionen der Landesherren zur Mediatisierung zu behaupten und ihre Reichsunmittelbarkeit zu sichern.12 Sie waren sowohl persönlich als auch mit ihren Gütern in den Ritterkreisen inkorporiert13 und verfügten über hohes Prestige, das aus dem Besitz eines reichsunmittelbaren, in die Matrikel der Ritterkreise eingetragenen Territoriums resultierte. Sie besaßen im Reich zwar nur geringe politische und wirtschaftliche Einflussmöglichkeiten – so hatten sie keine Reichsstandschaft inne und waren nicht auf dem Reichstag vertreten, verfügten in ihren Territorien – vergleichbar zu großen Territorialfürsten – aber über eine große Machtfülle.14 Sie übten beispielsweise häufig die Vogteilichkeit über ihre Untertanen aus, worunter die freiwillige und streitige Zivil- sowie die niedere und mittlere Strafgerichtsbarkeit verstanden wurden. Zudem stand ihnen das Ius reformandi zu. Sie konnten im Rahmen der Reichsgesetze durch Verordnungen in ihren Territorien die öffentliche Ordnung regeln. Sie waren Patronatsherren über die Kirchen ihrer Herrschaft. Ein protestantischer Reichsritter konnte in seinem Territorium zudem die Stellung als Summus episcopus einnehmen und hatte die geistliche Gerichtsbarkeit und das Kirchendirektorium inne, wenn seine Untertanen ebenfalls protestantisch waren.15 Dies beinhaltete vor allem die Beschäftigung mit Eheangelegenheiten. Aus ihrer persönlichen Reichsunmittelbarkeit leiteten sie eine gesellschaftliche Vorrangstellung gegenüber jedwedem landsässigen niederen Adligen ab.16 Ehre und Selbstbild orientierten sich dabei weniger an der tatsächlichen 12

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Grundlegend und mit umfangreicher Literaturliste: Volker Press: Reichsritterschaft, in: HRG Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 743–748; ders.: Kaiser und Reichsritterschaft, in: Rudolf Endres (Hrsg.), Adel in der Frühneuzeit. Ein regionaler Vergleich, Köln 1991, S. 163–194; ders.: Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. Franz Brendle u. a., Tübingen 1998; Gabriele Haug-Moritz: Ritterschaftliche Organisation zwischen Westfälischem Frieden (1648) und Ende des Alten Reiches (1806), in: Kurt Andermann/ Sönke Lorenz (Hrsg.), Zwischen Stagnation und Innovation. Landsässiger Adel und Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, S. 9–21; Eckart Conze/ Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 70), Marburg 2010. Sylvia Schraut: Reichsadelige Selbstbehauptung zwischen standesgemäßer Lebensführung und reichskirchlichen Karrieren, in: Walter Demel/Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern, München 2008, S. 251–268. Vgl. dazu Puchta: Mediatisierung (wie Anm. 10), S. 39–66; Rüdiger Teuner: Die fuldische Ritterschaft 1510–1656 (Rechtshistorische Reihe 18), Frankfurt am Main 1982, S. 12–37. Teuner: Ritterschaft (wie Anm. 14), S. 33. Schraut: Selbstbehauptung (wie Anm. 13), S. 258.

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Stellung im Alten Reich, sondern bezogen sich vielmehr auf ein „ideelles Reich, auf eine tradierte Reichsidee, in der Reich, Kaiser und „seine“ Ritter in einem harmonischen Interessenzusammenhang standen und den es nach außen und innen zu verteidigen galt“17 . Die adlig-ritterliche Standesehre basierte auf einem Wertekanon ritterlicher Tugenden, der eingehalten werden musste, wollte man nicht die als existenziell empfundene Reputation verlieren.18 Dazu zählte vor allem die Treue gegenüber dem Kaiser, den man als Lehensherren und höchsten Richter einzig uneingeschränkt akzeptierte. Aber auch eine den ritterlichen Tugenden entsprechende Lebensweise wurde von den Mitgliedern erwartet, wozu standesgemäße Ehen und die angemessene Behandlung von Ehefrau und Kindern gehörten. Bei ungebührlichem Verhalten eines Reichsritters konnte im Extremfall sogar der Verlust der persönlichen Reichsunmittelbarkeit drohen.19 Die Reichsunmittelbarkeit räumte den Reichsrittern zudem die Möglichkeit ein, sich direkt an das Reichskammergericht und den Reichshofrat als höchste Reichsgerichte zu wenden. Daher stand es ihnen auch zu, Auseinandersetzungen mit anderen Reichsunmittelbaren im Austrägalverfahren auszutragen. Am Ende des Alten Reiches existierten rund 350 ritterschaftliche Familien, die seit 1577 in drei Kreisen organisiert waren.20 Dazu zählte der schwäbische Kreis, unterteilt in fünf Kantone (Donau, Hegau-Allgäu-Bodensee, Kocher, Kraichgau, Neckar-Schwarzwald-Ortenau), der fränkische Kreis mit sechs Kantonen (Odenwald, Gebirg, Rhön-Werra, Steigerwald, Altmühl, Baunach) und der rheinische Kreis mit drei Kantonen (Oberrhein, Mittelrhein, Niederrhein). Die Zahl der inkorporierten Rittergüter wird auf 1 000 bis 1 730 geschätzt. „Auf den reichsritterschaftlichen Besitzungen sollen über 200 000 oder sogar mehr als 400 000 Untertanen bzw. rund ein bis zwei Prozent der Bevölkerung des Alten Reichs gelebt haben.“21 Während bei der schwäbischen Reichsritterschaft der Kanton Donau permanenter Direktor war, wechselte das Direktorium bei den anderen Ritterkreisen. Seit 1577 fanden Generalkorrespondenztage aller drei Ritterkreise unter einem wechselnden Generaldirektorium statt, um allgemein verbindliche Beschlüsse zu fällen und die reichsritterschaftlichen Aktionen insbesondere gegenüber dem Kaiser abzustimmen. De facto besaßen sie aber kaum Gewicht. Einer allzumächtigen oberstritterschaftlichen Instanz 17 18 19

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Schraut: Selbstbehauptung (wie Anm. 13), S. 258. Dagmar Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt 2006, S. 33f. Vgl. den Fall von Carl Friedrich Freiherr von Crailsheim aus dem Ritterkreis Franken (Ritterkanton Steigerwald), dem aufgrund einer Selbstscheidung und ungebührlichen Verhaltens 1777 die Reichsunmittelbarkeit aberkannt wurde, in: Westphal/Schmidt-Voges/Baumann: Venus (wie Anm. 4), S. 221–226. Nach anderen Berechnungen wird sogar von mindestens 500 reichsritterschaftlichen Familien ausgegangen; vgl. Puchta: Mediatisierung (wie Anm. 10), S. 45. Puchta: Mediatisierung (wie Anm. 10), S. 46.

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stand das Selbstverständnis der Reichsritter von ihrer ritterlichen Freiheit entgegen.22 Die eigentlichen Akteure blieben die Kantone oder Orte. Die Gesamtheit der stimmberechtigten sog. ordentlichen Mitglieder eines Kantons wählte einen Ritterhauptmann und Ritterräte auf Lebenszeit als Interessenvertretung. Diese bildeten das Orts- oder Kantonsdirektorium. Im Verlauf der Frühen Neuzeit bauten die Kantone ihren bürokratischen Apparat mehr und mehr aus mit bürgerlichen Syndici, Konsulenten und sonstigen Beamten. Das Ritterhaus der Kantone beherbergte Registratur, Archiv und Rittertruhe. Fast alle wichtigen Entscheidungen wurden von der Mitgliederversammlung auf den Orts- bzw. Kantonstagen gefällt. „Dies entsprach ganz dem Selbstverständnis der Rittergenossen von ihrer Freiheit, wonach sie sich allein dem Willen der Korporation, dem Mehrheitsbeschluss auf dem Ortstag beugen wollten, nicht aber dem Willen irgendwelcher – wenn auch gewählter – Vertreter.“23 Dem Ritterhauptmann und seinen Räten blieb zum einen die Überwachung der Beschlüsse. Zum anderen nahmen sie „eine Fülle administrativer und jurisdiktioneller Funktionen wahr, hielten den Kontakt zu den übrigen Kantonen aufrecht und vertraten ihren Ritterort sowie bei Bedarf auch einzelne Mitglieder in Verhandlungen nach außen“.24 Da die Kantone die Steuerhoheit (Charitativsubsidien) über die Untertanen ihrer Kantone besaßen, bestand das Hauptaufgabengebiet in der Einziehung der Steuern. Neben einer Reihe weiterer Kontrollaufgaben – beispielsweise bei der Überwachung der Einhaltung kaiserlicher Befehle oder der Kontrolle der Finanzen – zählte auch die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Kantonsmitgliedern mittels eines Austrägalverfahrens zu den Aufgaben der Ritterhauptleute. Dazu gehörten bei protestantischen Reichsrittern auch eheliche Konflikte, die nicht als Privatangelegenheit galten.

2. Adlige Ehen Welch große strategische Bedeutung Eheschließungen für den hohen und niederen Adel im Alten Reich und in Europa hatten, hat die Adelsforschung immer wieder hervorgehoben. Bei der Auswahl des Ehepartners ging es eben nicht nur um sozioökonomische, sondern vor allem um dynastische und politische Gesichtspunkte.25 Dies hängt vor allem mit der spezifischen Rechtssituation und den Besonderheiten des adeligen Familienrechts zu22 23 24 25

Teuner: Ritterschaft (wie Anm. 14), S. 20. Teuner: Ritterschaft (wie Anm. 14), S. 24. Puchta: Mediatisierung (wie Anm. 10), S. 47f. Margit Ksoll-Marcon: Erziehung und Heirat – zwei Faktoren zum Erhalt der adligen Reputation, in: Walter Demel/Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern, München 2008, S. 233–249.

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sammen.26 Eheschließungen innerhalb des Adels hatten in erster Linie eine Mehrung des Ansehens und die Sicherung der Dynastie zum Ziel, persönliche Gesichtspunkte waren diesen Interessen unterzuordnen.27 Deshalb konnten Eheprobleme des Adels erhebliche Konsequenzen für das Paar, aber auch den adligen Familienverband haben. Wie eine Reihe von Arbeiten zeigt, entwickelten sich massive emotionale Spannungen mitunter zu regelrechten „Rosenkriegen“, aus denen es – zumindest für den Mann – in Grenzen tolerierte Auswege gab.28 Während von den Frauen eine keusche und tugendhafte Lebensweise erwartet wurde, wurde der Ehebruch des Mannes stillschweigend geduldet und durch das Mätressenwesen quasi institutionalisiert.29 Unstandesgemäße Beziehungen, die Ehe zur linken Hand oder Mehrfachehen sind weitere Formen von Geschlechterbeziehungen des Adels, die jedoch für die Dynastien eher Belastungen darstellten und in der Regel zu schweren Auseinandersetzungen führten.30 Für adlige Frauen gab es dagegen so gut wie keine tolerierte Alternative, einer zerrütteten Ehe zu entfliehen.31 Weiblicher Ehebruch stellte die legitime Kontinuität der Dynastie in Frage und wurde deshalb schwerer geahndet als der Ehebruch des Mannes. Wenn sich schwere Differenzen nicht überwinden ließen, blieb als letzter Weg die Auflösung der ehelichen Beziehung. Dies bedeutete für den katholischen Adel eine Trennung von Tisch und Bett bzw. für den protestantischen Adel eine Scheidung. Weil mit der Scheidung einer adligen Ehe auch politi26

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Heide Wunder (Hrsg.): Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002; Michael Sikora: Ungleiche Verbindlichkeiten. Gestaltungsspielräume standesverschiedener Partnerschaften im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3, [13.12.2005], URL: http:// www.zeitenblicke.de/2005/3/Sikora/index.html; Katrin Iffert: Gescheiterte Ehen im Adel. Trennung und Scheidung des Herzogspaares Alexius Friedrich Christian und Marie Friederike zu Anhalt-Bernburg (1794–1817), in: Eva Labouvie (Hrsg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 95–120; Stephanie Marra: Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln/Weimar/ Wien 2007. Wolfgang E. J. Weber: Dynastiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaats, in: ders. (Hrsg.), Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 91–136; Heide Wunder: Einleitung: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, in: dies.: Dynastie (wie Anm. 26), S. 9–28. Vgl. Sikora: Verbindlichkeiten (wie Anm. 26). Sybille Oßwald-Bargende: Die Mätresse, der Fürst und die Macht. Christina Wilhelmina von Grävenitz und die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 2001. Vgl. Marra: Allianzen (wie Anm. 26), S. 105–168. Vgl. Beatrix Bastl: Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit. Wien/ Köln/Weimar 2000; Sylvia Schraut: „Die Ehen werden in dem Himmel gemacht“. Ehe- und Liebeskonzepte der katholischen Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert, in: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau (Hrsg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000, S. 15– 32.

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sche Konsequenzen verbunden sein konnten, sind gerade für den Adel längere Vermittlungsphasen und intensive Versöhnungsversuche durch verschiedene Parteien und Institutionen charakteristisch. Prinzipiell funktionierte das Scheidungsverfahren aber ähnlich wie bei nichtadligen Ehepartnern. Auch hier ging es in erster Linie darum, die Ehe zu erhalten und die Situation zunächst durch eine Trennung von Tisch und Bett zu entspannen, wobei in der Regel die Frau auf einem Nebengut oder einem städtischen Adelssitz der Familie untergebracht wurde und auf Kosten des Mannes einen eigenen Haushalt führen konnte. Falls sich die Ehe nicht mehr retten ließ, bildete bei protestantischen Adligen schließlich die Ehescheidung den letzten Akt eines längeren Auflösungsprozesses. Es galten die protestantischen Ehescheidungsgründe wie Ehebruch oder böswilliges Verlassen, die ebenfalls erwiesen sein mussten.32 Austräge, Konsistorien und gegebenenfalls Gutachten von juristischen und theologischen Fakultäten bildeten den rechtlichen Rahmen. Ein besonderes Problem beim reichsunmittelbaren protestantischen Adel stellte die Selbstscheidung dar.33 Bei einem protestantischen Landesherrn, der seit der Reformation gleichzeitig oberster Kirchenherr in seinem Territorium war, bestand immer die Gefahr, dass er bei einer Scheidung in eigener Sache Einfluss auf die zuständige Institution zu seinen Gunsten hätte ausüben können. Nicht zuletzt deshalb beanspruchte der Kaiser bei Scheidungsbegehren von protestantischen Reichsunmittelbaren, die zuständige Instanz zu sein.34 Auch wenn darüber innerhalb der Reichspublizistik und unter Rechtsgelehrten heftige Debatten geführt wurden, wurde eine Reihe von strittigen Scheidungsbegehren an den höchsten Gerichten des Alten Reichs, speziell dem Reichshofrat ausgetragen.35 Üblicherweise führte dann aber nicht der Reichshofrat selbst das Verfahren durch, sondern setzte entweder eine Reichshofratskommission ein, die den Fall vor Ort klären sollte, oder schickte die Vorakten an eine juristische und/oder theologische Fakultät, um Gutachten einzuholen, die als Grundlage einer Entscheidung dienten.36 Aus dem besonderen rechtlichen Verhältnis von Kaiser und Reichsritterschaft resultierte der Umstand, dass protestantische Ritterkantone zwar in Zivilangelegenheiten in erster Instanz die Zuständigkeit besaßen, aber bei eigenen Eheangelegenheiten, die aus protestantischer Sicht als „causa mixta“ angesehen wurden und eigentlich vor einem Konsistorium/Kirchenrat 32

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Vgl. Westphal/Schmidt-Voges/Baumann: Venus (wie Anm. 4), S. 193–198; Joachim Stolz: Zur Geschichte der Trennung von Ehegatten. Rechtsinstitut, Versöhnungsmittel, Scheidungsvoraussetzung, Kiel 1983. Marra: Allianzen (wie Anm. 26), S. 136. Siegrid Westphal: Der kaiserliche Reichshofrat als protestantisches ,Scheidungsgericht‘, in: ÖZG 20 (2009), S. 31–58. Siegrid Westphal: Ehen vor Gericht – Scheidungen und ihre Folgen am Reichskammergericht (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 35), Wetzlar 2008. Vgl. Marra: Allianzen (wie Anm. 26), S. 136.

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behandelt werden sollten,37 Kaiser und Reichshofrat angerufen werden mussten, die in Fragen der geistlichen Gerichtsbarkeit die Zuständigkeit über protestantische Reichsunmittelbare beanspruchten.

3. Scheidungsbegehren aus dem fränkischen Ritterkreis vor dem Reichshofrat Zwei Beispiele von 1796/97 und 1800/01 sollen vorgestellt werden, um zu demonstrieren, auf welche Weise Ehekonflikte von protestantischen Reichsrittern an den Reichshofrat gelangten. Beide stammen aus dem fränkischen Ritterkreis, Kanton Rhön-Werra, mit dem Sitz des Direktoriums in Schweinfurt. Im genannten Zeitraum war Friedrich Freiherr von und zu der Tann (1751–1810) Ritterhauptmann des Kantons, übrigens der letzte überhaupt, bevor die Ritterschaft aufgelöst wurde. Beim Ritterkreis Franken handelt es sich um jenen Ritterkreis, der laut seiner Ritter- und Ratsordnung aus dem Jahre 1590 über die meisten Kompetenzen über die dem Kanton inkorporierten Mitglieder und deren Untertanen verfügte.38 Allerdings waren diese Kompetenzen durch die Mediatisierungsbemühungen Preußens in den an die Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth angrenzenden Ritterkantonen massiv unter Druck geraten und in Frage gestellt worden. Zudem hatten französische Truppen im Ersten und Zweiten Koalitionskrieg auch Territorien der Reichsritterschaft in Besitz genommen. Durch die Friedensverhandlungen und die vorgesehenen Entschädigungen drohten nicht nur die Säkularisierung der Reichskirche und die Mediatisierung von Reichsunmittelbaren wie den Reichsrittern, sondern auch die Umstrukturierung des gesamten Reichsverbandes. Begleitet wurde diese Entwicklung von großer Verunsicherung, gepaart mit dem Wunsch, die alten Strukturen zu bewahren, aber auch von der Hoffnung auf politische Reformen und gesellschaftliche Veränderung. Bei beiden Konflikten waren Mitglieder der lutherischen Familie von Müller involviert, die wiederum in lutherische Familien einheirateten, so dass konfessionelle Aspekte bei der Analyse der Verfahren vernachlässigt werden können. Die Familie von Müller wird als sogenannter Neuer Adel bezeichnet, der von dem Nürnberger Bankier und Marktvorsteher Johann Heinrich von Müller abstammte, der erst 1728 geadelt worden war und 1732 den hochverschuldeten Teil der boyneburgischen Herrschaft Stadtlengsfeld gekauft hatte.39 Obwohl der reichsritterschaftliche Adel auf korporative Abschließung 37 38 39

Westphal/Schmidt-Voges/Baumann:Venus (wie Anm. 4), S. 196. Teuner: Ritterschaft (wie Anm. 14), S. 23. Dieter Wunder: Neuer Adel und Alter Adel in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im

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und Exklusion neu geadelter Familien bedacht war, stand die Sicherung von Rittergütern im Vordergrund. Die zunehmende Verschuldung von Mitgliedern der Reichsritterschaft, die entweder eine Zwangsverwaltung durch das Direktorium oder in letzter Konsequenz sogar einen Verkauf an finanzkräftige Nichtadlige notwendig machte, erwies sich in diesem Sinne als Faktor der ständischen Öffnung. Allerdings scheinen die Neuadligen dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls in eine finanzielle Schieflage geraten zu sein, was sie wiederum nötigte, die angestrebte Integration zum Teil wieder aufzugeben.40 Denn beide hier vorgestellten Mitglieder der Familie von Müller heirateten nicht in den alten Adel ein, sondern gingen eher problematische Eheverbindungen ein, die letztlich die Gesamtsituation der Familie noch zusätzlich belasteten. Problematisch scheint um 1800 zudem die innerfamiliäre Situation gewesen zu sein, denn neben den Scheidungsbegehren finden sich in den Protokollen des Kantons auch zwei Verfahren von Mitgliedern der Familie von Müller, die auf massive Konflikte zwischen Söhnen erster und zweiter Ehe sowie zwischen der verwitweten zweiten Freifrau und ihren Stiefsöhnen aus der ersten Ehe verweisen.41 Im ersten Scheidungsbegehren aus dem Jahre 1797 handelt es sich um einen Ehekonflikt zwischen Christine von Müller und ihrem Ehemann Wolf von Geyso42 , der aus einer Familie stammte, die ebenfalls dem Neuen Adel zugerechnet wird, allerdings bereits 1658 geadelt worden war.43 Den Geysos gehörten die Rittergüter Völkershausen und das halbe Rittergut Mansbach sowie Wenigentaft und – nach dem Verkauf von Völkersdorf – das halbe Rittergut Roßdorf, wodurch sie Mitglied des fränkischen Ritterkreises (Kanton Rhön-Werra, Quartier Buchen) wurden.44 Da die Einkünfte der Güter für einen angemessenen Lebensstil oft nicht genügten, begaben sich die Söhne häufig in Militärdienste. Caspar Adam Erhard von Geyso, der alle drei Rittergüter wieder in einer Hand vereinigen konnte, starb 1767 „mit Hinterlassung vieler Kinder, hoch verschuldet (wohl 1774 festgestellt: 181 128 Gulden), vor

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Kanton Rhön-Werra der fränkischen Reichsritterschaft (1650–1750) – Integration und Exklusivität, in: Conze/Jendorff/Wunder (Hrsg.), Adel (wie Anm. 12), S. 329–358, S. 354. Wunder: Adel (wie Anm. 39), S. 358. HStAM Best. 109 Nr. 870, Protocolla rerum exhibitarum judicialia (1793–1799); Protokolle von 1799: Unter dem 16. März heißt es: „Gegenerklärung und wiederhohlte Bitte in Sachen A. des Herrn Oberforstmeister und Herrn Heinrich Freiherr von Müller wider ihren Halbbruder, den Herrn Kammerherrn Heinrich Adalbert Freih. von Müller zu Lengsfeld; brüderliche Auseinandersetzung, insbesondere einstweilige sichere Wohnung betreffend, . . . “; Unter dem 8. August: Klage mit rechtlicher Bitte der verwitweten Frau von Müller zu Lengsfeld gegen ihre beiden Stiefsöhne, den Oberstforstmeister und seinen Bruder Heinrich von Müller, öffent. und offenbare Ehrenkränkungen betr. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 311/7, Christine von Geyso, geb. von Müller c. ihren Gemahl pto. divortii, präs. 20. Feb. 1797 (nicht foliert). Wunder: Adel (wie Anm. 39), S. 355. Wunder: Adel (wie Anm. 39), S. 336.

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allem durch in Jahrzehnten aufgehäufte Schulden der Familie“.45 Durch einen Debitvergleich, bei dem die Söhne von Geysos unter Sequester kamen, sorgte der Kanton Rhön-Werra dafür, dass die Familie ihre Güter behalten konnte. Die Versteigerung der besten Mobilien und die Verringerung der Kosten für den Unterhalt sollten die finanzielle Notlage entschärfen.46 Allerdings bleibt festzuhalten, dass die von Geysos Ende des 18. Jahrhunderts zu den verarmten reichsritterschaftlichen Familien zählten und möglicherweise die Verheiratung des Sohnes Wolf von Geyso mit einer Tochter aus der Familie von Müller als weitere Strategie gewertet werden muss, um die angespannte finanzielle Situation zu meistern. Im zweiten Fall, der sich seit 1799 entwickelte, geht es um die Verbindung des Witwers Adalbert Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller mit der aus einer reichen Eisenacher Kaufmannsfamilie stammenden Bürgerlichen Sophie Bohr, deren Vater dem Bräutigam außerhalb des Ehevertrags bei der Eheschließung 9500 Reichstaler Paraphernalgelder zugesagt, diese aber nicht gezahlt hatte.47 Er weigerte sich zudem, seinem Schwiegersohn ohne Sicherheiten einen Kredit zu gewähren. Hinzu kam ein problematischer Hausvertrag, der für die Mitglieder der Familie von Müller festlegte, dass sie nur eine standesgemäße Ehe mit einem Abkömmling einer alten Adelsfamilie schließen dürften, andernfalls drohte der Verlust von Einkünften aus dem Familienvermögen, solange sie in diesen untersagten Ehen lebten. Die Stiefbrüder des Freiherrn hatten – laut seinen eigenen Aussagen – wegen der Verbindung von Adalbert mit einer Bürgerlichen bereits eine Klage angestrengt, was die ohnehin schon angespannte familiäre Situation zusätzlich belastete. In beiden Fällen ging der Wunsch nach einer Scheidungsklage von den Ehefrauen aus, was dem üblichen Muster entsprach.48 Es handelt sich um Officialanzeigen (Anzeige in Ehesachen) der Ritterschaft am Reichshofrat verbunden mit der Bitte um Anheimstellung. Beiden Anzeigen gingen – entsprechend des protestantischen Ehescheidungsverfahrens – ein Güteverfahren und intensive Versöhnungsbemühungen des Direktoriums voraus,49 die von einer der beiden Eheparteien blockiert wurden. Damit waren die Möglichkeiten des Kantons und von Ritterhauptmann und Ritterräten aus45 46

47

48 49

Wunder: Adel (wie Anm. 39), S. 337. Dieter Wunder: Ökonomie des Niederadels in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im Kanton Rhön-Werra am Beispiel der Geyso und Verschuer (1650–1800), in: Conze/ Jendorff/Wunder (Hrsg.), Adel (wie Anm. 12), S. 403–433, hier S. 422f. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Officialanzeige und Anheimstellung der Reichsritterschaft Franken, Ort Rhön-Werra, zur damaligen Zeit fränkisches Directorium (nicht foliert). Westphal/Schmidt-Voges/Baumann: Venus (wie Anm. 4), S. 174. Cordula Scholz-Löhnig: Eheauflösung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 52–57, Sp. 57.

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geschöpft. Für die weitere Behandlung der Ehesachen war der Reichshofrat zuständig. In der Officialanzeige der Reichsritterschaft vom 6. Januar 1800 wird die Anrufung von Kaiser und Reichshofrat dementsprechend begründet: „Da nun die von Eurer kaiserlichen Majestät dem Ritterort allergnädigst verliehene erste Instanz sich nur auf Civilsachen beschränket; so erfordert unsere pflichtmäßige Obliegenheit, diesen Vorgang allergehorsamst anzuzeigen, und uns wegen der ferneren rechtlichen Behandlung der vorliegenden Ehestreitigkeitssache nicht nur Eurer kaiserlichen Majestät allergnädigste Weisung, sondern auch zugleich allerhöchst kaiserlichen Auftrag in derienigen allertiefsten Ehrfurcht zu erbitten.“50

Die Einschaltung von Kaiser und Reichshofrat diente letztlich dazu, eine im Rahmen der ritterschaftlichen Verfassung nicht zu lösende Konfliktlage einer Entscheidung zuzuführen. In beiden Fällen wurden daraufhin auf höchstrichterlichen Befehl ritterschaftliche Subdelegationen eingerichtet, die der Ritterrat von Stein auf Bitten von Ritterhauptmann und Direktorium des Kantons Rhön-Werra übernahm und im kaiserlichen Auftrag durchführte, was ihm eine höhere Akzeptanz verschaffte. Die ehelichen Konflikte waren durchaus unterschiedlich gelagert. Im Fall des Ehepaares von Geyso heißt es im Bericht der Ritterschaft an Kaiser und Reichshofrat vom 10. Februar 1797:51 Zwischen Wolf von Geyso, fürstlich hessischer Hauptmann, und seiner Frau Christine, geb. von Müller, beide protestantisch, hätten sich Ehestreitigkeiten zu einem unversöhnlichen Hass ausgeweitet. Christine habe sich darauf veranlasst gesehen, bei der Ritterschaft eine Klageschrift einzureichen und um die förmliche Trennung der Ehe zu bitten. Die Ritterschaft sei zunächst davon ausgegangen, dass dieser Schritt in der ersten Hitze geschehen und eine Wiederversöhnung noch möglich sei. Deshalb habe die Ritterschaft die Schrift Wolf von Geyso bekannt gemacht und beide Eheleute zweimal nachdrücklich dazu aufgefordert, sich wieder miteinander zu versöhnen, auch um die mit einem Eheprozess verbundenen Unannehmlichkeiten zu verhindern. Die Freifrau habe jedoch auf der Scheidung beharrt. Aus Sicht der Ritterschaft habe auch sein Verhalten keine Hoffnung darauf gemacht, dass beide wieder miteinander versöhnt werden könnten. Daher gehe die Ritterschaft davon aus, dass der Prozess seinen rechtlichen Gang gehen müsse. Die Ritterschaft melde demnach den Vorgang an den Kaiser und erbitte sich Weisung bzw. einen kaiserlichen Auftrag.

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HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Officialanzeige der Reichsritterschaft Franken vom 6. Januar 1800, präs. 6. Februar 1800. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 311/7, Christine von Geyso, geb. von Müller c. ihren Gemahl pto. divortii, präs. 20. Feb. 1797, Officialanzeige und Anheimstellung der Ritterschaft in Franken, Rhön-Werra, Bericht vom 10. Februar 1797 aus Schweinfurt.

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Der zweite Fall beginnt mit der Anzeige der Reichsritterschaft vom 6. Januar 1800.52 Darin wird berichtet, dass sich zwischen beiden Eheleuten von Müller – Angehörigen der Reichsritterschaft Franken – im letzten halben Jahr so heftige Ehestreitigkeiten entsponnen hätten, dass sich die Ehefrau bemüßigt gesehen habe, gegen ihren Mann richterliche Hilfe zu suchen. Die Ritterschaft habe alles versucht, die beiden miteinander zu versöhnen, aber die beigelegten Schriftstücke zeigten ihrer Meinung nach, dass der Mann fest auf seinem Vorsatz beharre, nicht mehr zu seiner Ehefrau zurückzukehren. Daher sei der Ritterschaft nichts anderes übrig geblieben, als das Scheidungsverfahren am Reichshofrat in Gang zu setzen. Auf die eigentlichen Gründe des Zerwürfnisses wird nicht eingegangen, im Vordergrund steht der Aspekt der Zuständigkeit des Reichshofrats.

4. Scheidungsgründe und Argumentationsmuster Erst aus den beiliegenden Beweismitteln wird ersichtlich, welche Gründe für die eheliche Zerrüttung angeführt werden. Aus verschiedenen Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Scheidungspraxis ist bekannt, dass sich die Scheidungsursachen durchaus ähnelten.53 „Gewalt und Misshandlungen in allen Formen sowie der Vorwurf des schlechten Haushaltens häufig verbunden mit Trunksucht sowie der klassische Ehebruch oder anderes sexuelles Fehlverhalten finden sich über alle Stände und Religionen wie Konfessionen hinweg . . . als Scheidungsbegehren auslösende Faktoren.“54 Auch enttäuschte Erwartungen, die mit dem Partner oder dessen Familie verbunden worden waren, konnten zu massiven Konflikten führen. Für die Argumentation in Scheidungsprozessen war es lange Zeit wichtig, dass Versöhnung vor Trennung ging, im protestantischen Scheidungsrecht nur zwei Scheidungsgründe (Ehebruch und böswillige Verlassung/Desertion) anerkannt wurden und das Schuldprinzip galt. Nur der am Scheitern der Ehe unschuldige Teil durfte nach einer angemessenen Frist wieder heiraten, was jedoch in aller Stille geschehen sollte. Der schuldig Erklärte war zur 52 53

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HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii. Rainer Beck: Frauen in Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien Régimes, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung IV, Frankfurt am Main 1992, S. 137– 212; Sylvia Möhle: Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740–1840 (Geschichte und Geschlechter 18), Frankfurt am Main u. a. 1997; Alexandra Lutz: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006; Julia Haack: Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert (Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 6), Köln 2008. Westphal/Schmidt-Voges/Baumann: Venus (wie Anm. 4), S. 173.

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Ehelosigkeit verdammt. Erst im 18. Jahrhundert wurden unter Einfluss naturrechtlicher Vorstellungen weitere Scheidungsgründe wie Lebensbedrohung, Verweigerung der ehelichen Pflicht oder lebenslange Haft des Ehepartners akzeptiert, eine einvernehmliche Scheidung jedoch weiterhin strikt abgelehnt. Bei den hier behandelten Scheidungsbegehren finden sich ganz klassische Begründungen wie Desertion, körperliche oder seelische Grausamkeit oder auch unerfüllte Erwartungen. Bemerkenswert ist aber vor allem die Einführung eines neuen Arguments, das in beiden Fällen als Hauptursache genannt wird und auf aktuelle rechtliche Entwicklungen sowie den Liebesdiskurs Bezug nimmt. In beiden Fällen wird auf das Allgemeine Preußische Landrecht rekurriert. 1794 hatte sich unter Einfluss der Aufklärung und der französischen Revolution im Allgemeinen Landrecht Preußens (ALR) ein liberales Scheidungsrecht herausgebildet. Die Idee der Liebesheirat war intensiv diskutiert worden und damit zusammenhängend auch die einvernehmliche Ehescheidung aufgrund von Unverträglichkeit der Ehepartner. Eine Abkehr vom rigorosen protestantischen Scheidungsrecht war die Folge. Die sogenannte Unvereinbarkeit der Gemüter bzw. „unüberwindliche Abneigung“ galten in den Territorien des ALR bereits als anerkannter Scheidungsgrund.55 Auch wenn weder die Familie von Müller noch die Familie von Geyso von den Mediatisierungsbemühungen Preußens am Rande der Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth direkt betroffen war, dürfte man doch durch die Mitgliedschaft im Ritterkreis Franken über diese Entwicklungen informiert gewesen sein und auch das ALR und die in preußischen Territorien vorherrschenden Rechtsvorstellungen und Normen gekannt haben. Daher scheint es kein Zufall zu sein, dass in beiden hier vorgestellten Fällen intensiv über die Liebe bzw. erloschene Liebe und unüberwindlichen Hass reflektiert wird, was ganz die zeitgenössischen Diskussionen über die emotionalen Grundlagen einer Ehe widerspiegelt und auf ein gewisses Verständnis auch bei den Juristen zu stoßen versprach. Im Falle der Eheleute von Geyso insistierte die Ehefrau am 8. November 1796 gegenüber der Ritterschaft nachdrücklich darauf, dass sie sich gegenseitig so hassen, dass das Zusammenleben die Hölle bedeute.56 Eine Versöhnung sei für beide nicht mehr im Bereich des Möglichen. Sie behauptet, dass der Hass von ihm ausgegangen sei und er auch der Betreiber einer freiwilligen Scheidung gewesen sei. Er hätte sogar bestimmte Punkte aufgesetzt, auf die

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Dirk Blasius: Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987; ders.: Reform gegen die Frau. Das preußische Scheidungsrecht im frühen 19. Jahrhundert, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 659–669. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 311/7, Christine von Geyso, geb. von Müller c. ihren Gemahl pto. divortii, präs. 20. Feb. 1797, Schreiben der Christine von Geyso an die Ritterschaft vom 8. November 1796.

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sich beide geeinigt hätten. Er wolle ihr das von ihr in die Ehe eingebrachte Vermögen zurückgeben. Die drei Söhne wolle er behalten und erziehen, während sie die Tochter aufziehen solle. Dafür solle sie jährlich 200 Reichstaler erhalten. Er sei, koste es was es wolle, zur Scheidung entschlossen gewesen, habe dann aber seine Meinung geändert, weil er wolle, dass sie die Scheidung betreibt. Gründe für den Meinungsumschwung werden von ihr nicht genannt, jedoch verweist sie in weiteren Schreiben an die Ritterschaft darauf, dass er sie letztlich dazu gezwungen habe, die Scheidung von ihrer Seite aus zu betreiben. Am 14. Januar 1797 berichtet sie beispielsweise: Er habe sie „offt mit derben Ohrfeigen mißhandelt, an den Haaren herum geschleifft, mit Füßen getretten, und sichs zur Gewohnheit gemacht hat, mich bey jeder Gelegenheit, sogar in Gegenwart anderer Menschen und der Kinder eine Canallie, Bestie, und dergleichen zu nennen, und sich der Ausdrücke zu bedienen, ich werffe dich die Treppe hinunter, daß du den Halß brichst, der Teufel soll dir den Halß zerbrechen, und was dergleichen Dinge mehr sind, welche nur aus dem Munde des niedrigsten Pöbels gehört werden. Wenn man voraussetzt, daß ein Mann von Erziehung ja so gar von Würde auf der Bühne stehet, so ist das Benehmen nicht wohl glaubwürdig, und doch rede ich schaudervolle wahrheit, welche sich daraus erklären läßt, daß ehelicher Haß um alle Verhältniße unbekümmert in seinen Aussprüchen keine Schranken hat. Ich habe mich, ehe ich mich zur Gerechtigkeit meine Zuflucht genommen habe, von den Unannehmlichkeiten eines Consistorialprozeßes unterrichten laßen, weil mein Beschluß aus der reiffen Überlegung genommen zu werden verdienete, allein dieselben konnten mich nicht zuruckschrecken, da ich mir Ruhe und Zufriedenheit schuldig bin.“57

Ganz im Stile aufklärerischer Rhetorik bezeichnet sie beide Werte als die einzigen Quellen menschlicher Glückseligkeit, die sie nicht habe, wenn sie nicht von ihrem Mann geschieden werde. Sie scheint sich auch bereits von ihm getrennt zu haben, denn sie berichtet, dass ihr Mann ihr die Kleidung und Wäsche vorenthalte. Hintergrund der Schuldzuweisung an ihren Mann scheint gewesen zu sein, dass sie sich die Möglichkeit einer Wiederheirat offenhalten wollte, denn sie bat darum, ihr eine anderweite Verheiratung zu erlauben. Mit dem Hinweis darauf, dass der zwischen ihnen bestehende unversöhnliche Hass den Rechten nach einen hinlänglichen Scheidungsgrund abgebe, nimmt sie schließlich sogar direkt Bezug auf das ALR. Im Falle des Ehepaares von Müller war die Situation eine andere, aber auch hier fanden die neuen Argumentationsmuster des ALR Eingang in die juristische Rhetorik. Einem Schreiben des Anwalts von Sophie von Müller ist zu entnehmen, dass beide Ehepartner mit Zustimmung der Eltern bzw. der Mutter des Bräutigams am 29. Mai 1798 geheiratet hatten.58 Aus der Abschrift des Ehevertrags vom 6. Mai 1798 geht hervor, dass als Heiratsgut eine relativ ge57

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HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 311/7, Christine von Geyso, geb. von Müller c. ihren Gemahl pto. divortii, präs. 20. Feb. 1797, Schreiben der Christine von Geyso an die Ritterschaft vom 14. Januar 1797. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig

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ringe Summe von 1 500 Reichstalern vereinbart worden war, im Todesfall des Ehemannes sollte die Witwe dafür 400 Reichstaler erhalten.59 Der Anwalt betont, dass das Ehepaar zusammengelebt und auch eine Tochter gezeugt habe. Nachdem die Freifrau am 15. März 1799 im Haus ihrer Eltern ihr Kind geboren hatte, habe der Freiherr erklärt, dass er seine Frau und ihr gemeinsames Kind nicht mehr in seinem Haus aufnehmen und nicht mehr mit ihr zusammenleben wolle. Der Anwalt hebt hervor, dass die Ehefrau ohne rechtlichen Grund vom Genuss der ihr zustehenden Rechte abgehalten werde, womit bereits auf die Schuldfrage angespielt wird. Er verweist auf ihren untadeligen Lebenswandel, auf ihre Schuldlosigkeit und den Ansehensverlust, der ihr durch das Verhalten ihres Mannes zugefügt werde. Insbesondere solle die Tochter standesgemäß erzogen werden. Die Reichsritterschaft habe den Freiherrn zwar aufgefordert, seine Ehefrau und sein Kind unverzüglich wieder aufzunehmen, er habe dies aber nicht getan. Deshalb war es das Anliegen des Anwalts, in erster Linie die Versorgung von Frau und Kind zu regeln. Er zielte darauf ab, dass das von der Ehefrau in die Ehe eingebrachte Gut wieder herausgegeben wird und sie sowie ihr Kind eine ausreichende Alimente während des laufenden Scheidungsverfahrens erhalten. Dabei orientierte er sich an den Absprachen des Ehevertrags, wonach die Freifrau als Witwe 400 Reichstaler jährlich sowie Naturalien im Wert von 250 Reichstalern erhalten sollte. Zu den eigentlichen Gründen, die den Freiherrn zur Ablehnung von Frau und Kind bewogen, äußert sich der Anwalt jedoch nur sehr allgemein. Die Freifrau sei getäuscht worden, der Freiherr handle aus einer „bloßen Grille“ heraus. Dabei stehe sein Verhalten in höchst seltsamen Widerspruch zu seinen für die Frau und sein Kind günstigen Aussagen.60 Erst aus den dem Scheidungsbegehren beigelegten Beweismitteln werden die Hintergründe deutlicher. In einem längeren Schreiben an den Schwiegervater vom 25. März 1799 offenbarte von Müller „das Geheimnis seines Herzens“ – seine Trennungsabsicht – und nannte erstmals einen Grund für sein Verhalten, der ganz den zeitgenössischen Diskussionen über die emotionalen Grundlagen einer Ehe entsprach.61 Er habe seine Frau aus Liebe geheiratet ohne auf Geld zu schauen. Aber jetzt sei ihm offenbar, dass er zu seiner Frau nicht passe, dass sie ganz verschiedene Charaktere besitzen und er Sophie nicht

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Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Spolienklage des Anwalts Johann Christoph Fichtel an die Ritterschaft, präs. am 23. Juli 1799. Margareth Lanzinger u. a. (Hrsg.): Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln u. a. 2010. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Spolienklage des Anwalts Johann Christoph Fichtel an die Ritterschaft, präs. am 23. Juli 1799. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Spolienklage des Anwalts Johann Christoph Fichtel an die Ritterschaft, Beilage: Schreiben des Freiherrn von Müller an den Schwiegervater Bohr vom 25. März 1799.

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glücklich machen könne. Der Umgang mit ihr sei ihm in der Zwischenzeit unerträglich. Wörtlich heißt es: „Sie ist freilich so, wie ich, Mensch, Sie hat ihre Fehler eben so, wie ich. Doch kann ich ihrer Tugend, ihrem Verstande, den größten Theile ihres Betragens nichts vorrücken. Ich bin ihr wegen ihres hertzen gut. Nur lieben kann ich sie nicht, mit Jhr leben kann ich nicht, wenn ich selbst nicht meinen Tod befördern will.“62 Auch das Kind habe nicht mehr Liebe gebracht. Er leide schon viele Monate. Nur eine Trennung könne sie beide noch retten. Im Juli 1799 wandte sich die Freifrau an das Direktorium in Schweinfurt und bat um Unterstützung. Ihr Fall wurde vom Konsulenten gegenüber dem Ritterhauptmann sogleich als „merkwürdige Klage“ eingeschätzt, „die billig Erstaunen und bei dem Publikum Aufsehen erregen muß, als der Herr Kammerherr von Müller so ganz ohne allen rechtlichen Grund, wie es den Augenschein hat, sich von seiner Frau Gemahlin trennen zu können glaubt und durch sein Benehmen der ganzen reichsritterschaft. Genossenschaft Unehre und unangenehme Vorwürfe zuziehe.“63 Damit verwies der Konsulent zum einen auf den problematischen Aspekt der Selbstscheidung, zum anderen auf die fehlenden klassischen Scheidungsgründe. Nicht zuletzt deshalb ging er davon aus, dass der Fall an den Reichshofrat gelangen würde. Mit Blick auf das kaiserliche Gericht sowie das zu erwartende öffentliche Aufsehen riet er, mit aller Entschiedenheit zu verdeutlichen, „daß das hohe Kantonsdirectorium eine solche Handlungsart keineswegs billiget; so wird nötig seyn, ein ernstliches Ab- und Anmahnungsschreiben an gedachten Freiherrn von Müller zu erlassen“64 . Der Ritterhauptmann schloss sich diesem Vorschlag an und am 26. Juli 1799 erging ein Schreiben, in dem für den Fall, dass sich der Freiherr nicht vernünftig zeigen und seine Frau sowie sein Kind nicht wieder aufnehmen sollte, unter Bezug auf die Ritterordnung eine Strafe von 1000 Reichstalern angedroht wurde. Aber auch diese Drohung führte zu keiner Versöhnung. Der Freiherr ließ die erste Frist zur Erwiderung verstreichen mit der Begründung, er sei verreist gewesen, und antwortete vor Ablauf der zweiten Frist mit einem ausführlichen Schreiben, in dem er seine Gründe nochmals erläuterte.65 Hier werden der Bezug auf den zeitgenössischen Liebesdiskurs und der Verweis auf die „unüberwindliche Abneigung“ als Scheidungsgrund noch deutlicher. Er vertrete zwar einerseits die Ansicht, dass Ehen erhalten werden 62 63

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Ebd. HStAM Best. 109 Nr. 1016/5, Relationen der Rhön-Werraischen Consulenten an den Ritterhauptmann, 1799–1803, Relation vom 31. Juli 1799 aus Schweinfurt nach Tann, Punkt 3. Ebd. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Beilage: Schreiben des Freiherrn (ohne Ort und Datum) an das Direktorium der Reichsritterschaft Franken, Ort Rhön-Werra, präs. am 30. Oktober 1799.

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müssten, auf der anderen Seite sei er aber auch der festen Überzeugung, dass die Ehe bei Unglück getrennt zu werden verdiene. Seine Ehe sei unglücklich. Er empfinde große Abneigung gegen seine Frau, die er sich nicht erklären könne. In solchen Fällen sei bekannt, „daß Ehescheidungen alsdann nothwendig werden, wenn Eintracht – eheliche Glückseligkeit gar nicht zu erwarten ist“. In dieser Situation befinde er sich, weil er seinem Herzen nicht die geringste Liebe für seine Frau abringen könne.66

5. Ausgang des Scheidungsverfahrens Unabhängig davon, ob der Verweis auf unüberwindliche Abneigung als prozessstrategisches Argument eingeführt wurde oder nicht, bleibt die Tatsache, dass sich der Reichshofrat nicht auf die Scheidungswünsche der Ehepaare einließ, sondern den Ritterkanton nachdrücklich zu einer Versöhnung der Ehepartner aufforderte. In der Ehesache von Geyso erging am 24. Februar 1797 folgendes Reskript an die Ritterschaft: Nach dem Vortrag der Sache wird der kaiserliche Auftrag mit dem Befehl erteilt, „in gänzlicher Entstehung der Güte, beide Theile auctoritate Nostra Caesarea vorzuladen, rechtlicher Ordnung nach gegen einander zu hören, causa factis instructa“. Dann sollen die Akten zum Spruch Rechtens an entsprechende Fakultäten versendet und das Urteil publiziert werden. Ähnlich lautete das Reskript im Fall des Ehepaares von Müller vom 10. Februar 1800. Es wird befohlen, den Beklagten zuvorderst „in Güte, jedoch ernstlich und dringend“ zur Wiedervereinigung mit der Impetrantin zu ermahnen. Falls eine Versöhnung scheiterte, sollte der Scheidungsprozess eingeleitet werden. Die Akten sollten für diesen Fall an eine theologische und juristische Fakultät Augsburger Konfession eingesendet werden. Die Reichsritterschaft Franken, Kanton Rhön-Werra, setzte entsprechend des kaiserlichen Befehls jeweils eine besondere Kommission ein, welche mit den Partnern noch einmal über eine Versöhnung verhandeln sollte. Gerade diese Kommissionsaufgabe galt als besonders unangenehm, in beiden Fällen wurde aus pragmatischen Gründen der Ritterrat von Stein vorgeschlagen, der in der Nähe der betroffenen reichsritterschaftlichen Familien wohnte und sich aus Pflichtgefühl dazu bereit erklärte.67 Über den weiteren Verlauf der Verfahren existieren unterschiedliche Überlieferungen, was mit dem abweichenden Ausgang der Scheidungsbegehren 66 67

Ebd. HStAM Best. 109 Nr. 1016/5, Relationen der Rhön-Werraischen Consulenten an den Ritterhauptmann, 1799–1803, Relation vom 26. Februar 1800, Kommentar des Ritterhauptmann vom 1. März 1800 bezogen auf das Scheidungsbegehren von Müller: „Jm Ganzen genommen sind fast alle Commissionen unangenehm. Gewiß aber gehört die, wovon hier die Rede ist, unter die unangenehmsten.“

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zusammenhängt. Denn im Falle der von Geysos führte die Kommission einen einvernehmlichen Vergleich herbei, der die Scheidung und finanzielle Vereinbarungen zum Ergebnis hatte. Da der Konflikt auf der Ebene der Reichsritterschaft letzten Endes gelöst werden konnte, wurden Kaiser und Reichshofrat nicht mehr involviert. Daher enden die Akten des Reichshofrats mit dem Befehl, eine Kommission einzusetzen. Aufschluss über den weiteren Verlauf des Verfahrens bietet dagegen der Bestand der Reichsritterschaft Franken, Kanton Rhön-Werra.68 Daraus lassen sich zudem die Hintergründe dafür entnehmen, warum das Scheidungsbegehren von Frau von Geyso angestrengt wurde und sie um die Möglichkeit zur Wiederheirat bat. Denn aus Sicht der Ritterschaft waren mit ihrem Gesuch durchaus problematische Umstände verbunden, die den Ritterhauptmann immer wieder zögern ließen, den Wünschen der Freifrau entgegenzukommen. Sie war – ob vor oder nach der Trennung von ihrem Mann ist unklar – ein Verhältnis mit dem Mitglied einer prominenten Familie eingegangen, der diese Verbindung nicht genehm war. Es handelte sich um den Bruder des bekannten Diplomaten und Gesandten Graf Görtz, der sich mit dem Ritterhauptmann von und zu der Tann immer wieder austauschte und hoffte, dass sein Bruder zur Vernunft kommen würde. Auch der Ritterhauptmann ging bis zu der für den 2. Oktober 1797 angesetzten sogenannten Tagfahrt davon aus, dass eine Versöhnung noch möglich sei.69 Alle Bemühungen, insbesondere die mündlichen Unterredungen scheiterten jedoch. In der Folge der Tagfahrt kam es zu einem Vergleich. In der Relation des Konsulenten vom 7. November 1797 an den Ritterhauptmann heißt es unter Punkt 7: „Haben der Herr Ritterrath von Geyso und dessen Frau Gemahlin den unter sich abgeschlossenen Vergleich eingeschickt, und um dessen Confirmation sowohl, als um völlige Ehetrennung gebeten.“70 Der Ritterhauptmann hatte noch massive Bedenken gegen den Vergleich, insbesondere gegen den Paragraphen 6, in dem die Freifrau ihren vier Kindern aus erster Ehe mit Ausschluss ihrer etwaigen künftigen Kinder allen Anteil an der Müllerschen Familienstiftung überließ. Von der Tann glaubte nicht, „daß sie solches zum Nachtheil der Kinder thun kann, die sie mit G. Görtz wahrscheinlich noch erhalten wird“71 . Letztlich konnten auch diese Einwände nicht verhindern, dass die Scheidung schließlich vollzogen wurde. 68

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Für diesen Hinweis möchte ich Herrn Dieter Wunder danken, der mich auf den Bestand des Ritterkantons Rhön-Werra im Hessischen Staatsarchiv Marburg aufmerksam gemacht hat. HStAM Best. 109 Nr. 1016/4, Relationen der Rhön-Werraischen Consulenten an den Ritterhauptmann, 1796–1798, Relation vom 23. September 1797 aus Schweinfurt. HStAM Best. 109 Nr. 1016/4, Relationen der Rhön-Werraischen Consulenten an den Ritterhauptmann, 1796–1798. HStAM Best. 109 Nr. 1016/4, Relationen der Rhön-Werraischen Consulenten an den Ritterhauptmann, 1796–1798, Kommentar des Ritterhauptmanns vom 10. November 1797 auf die Relation des Consulenten vom 7. November 1797.

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Anders entwickelte sich das Scheidungsverfahren im Falle des Ehepaares von Müller. Der Freiherr ließ die Termine zur Güte immer wieder verstreichen und erschien nicht zu den vereinbarten Treffen. Daraufhin bat das Direktorium des Kantons Rhön-Werra Kaiser und Reichshofrat um ein verschärftes Reskript, was es auch am 12. Februar 1801 erhielt.72 Erst dann kam es zu zwei Terminen, bei denen eine gütliche Einigung zwischen den Parteien versucht wurde, die letztlich aber scheiterte, weil die Bedingungen über die Fortsetzung der Ehe zu weit voneinander abwichen. Deshalb bestand die Freifrau auf der Versendung der Akten, um eine richterliche Entscheidung über die Bedingungen für eine Fortsetzung der Ehe herbeizuführen. Infolgedessen wurden die Akten an die juristische und theologische Fakultät nach Halle versendet, die ausführliche Gutachten erstatteten.73 Die Fakultäten entschieden sich gegen eine Scheidung, weil aus ihrer Sicht keine ausreichenden Scheidungsgründe vorhanden waren. Die Argumente der mangelnden Liebe und der unüberwindbaren Abneigung werden als vorgeschützte Ausflüchte charakterisiert. Als der eigentliche Grund der Trennung werden vielmehr die politischen Verhältnisse und ökonomischen Einrichtungen in der freiherrlichen Familie von Müller benannt. Die Ehe solle friedlich fortgesetzt werden, denn die Dauer einer Ehe könne nicht dem menschlichen Willen unterliegen. Letzten Endes werden die Forderungen der Freifrau für die Fortsetzung der Ehe im Sinne der zeitgenössischen Definition der hierarchisch organisierten Geschlechterbeziehungen mit dem Argument zurückgewiesen, dass die Gesetze den Ehemann zum Haupt des Hauses erklären. Ein Eingehen auf die Forderungen seiner Frau sei nicht mit der Würde des Ehemannes vereinbar. Unter Hinweis auf die Gesetzeslage und die lutherische Konfession, die sie zu schuldigem Gehorsam gegenüber ihrer Obrigkeit und zu Versöhnlichkeit gegenüber Beleidigern verpflichte, wird der Freifrau die Rückkehr zu ihrem Ehemann befohlen. Auf der Basis des Gutachtens erging ein entsprechendes Urteil, gegen das die Freifrau Revision einlegte.74 Aller Widerspruch fruchtete jedoch nichts, eine Scheidung wurde nicht zugelassen. Vielmehr drohte die Reichsritterschaft der Freifrau an, sie als diejenige zu bezeichnen, die ihren Mann böswillig verlassen habe, wenn sie nicht zu ihm zurückkehren würde. Das Ehepaar musste sich deshalb miteinander vergleichen, und es kam am 30. August 1801 zu einer Versöhnung, woraufhin die Ritterschaft Kaiser und Reichshofrat das Ende der Klage verkünden konnte. 72 73

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HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, kaiserliches Reskript vom 12. Februar 1801. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Schreiben der Reichsritterschaft Franken (Ort Rhön-Werra) an den Kaiser aus Schweinfurt vom 1. Juni 1801, präs. am Reichshofrat am 18. Juni 1801. HHStA Wien, RHR, Ob. Reg. 735/9, Freifrau Sophie von Müller c. Heinrich Ludwig Eberhard Freiherr von Müller pto. divortii, Bericht der Reichsritterschaft Franken (Ort RhönWerra) an den Kaiser aus Schweinfurt vom 18. September 1801.

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6. Fazit Abschließend bleibt zu klären, welche Funktion der höchsten Gerichtsbarkeit bei Ehestreitigkeiten und Scheidungsklagen von Mitgliedern der Reichsritterschaft zukam. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Reichshofrat keinesfalls direkt in die Verfahren eingriff, sondern diese lediglich steuerte, gestützt auf die in der Reichspublizistik umstrittene Auffassung, bei ehelichen Streitigkeiten und Scheidungsklagen von protestantischen Reichsunmittelbaren in erster Instanz zuständig zu sein. Die Entscheidung in der Sache wurde an juristische und theologische Fakultäten verwiesen, die ihre Gutachten jeweils auf den konkreten Einzelfall bezogen. Über Wien gelangten die Gutachten, die wie Urteile angesehen wurden, wiederum an den Ritterkanton, dessen Hauptmann dann für die Exekution des Urteils zu sorgen hatte. Die Einschaltung des Reichshofrates ging also keinesfalls von den Betroffenen selbst aus, vielmehr ist für den reichsritterschaftlichen Adel kennzeichnend, dass er sich zunächst um eine gütliche Einigung innerhalb der eigenen korporativen Organisationsstrukturen bemühte. Erst wenn diese nicht gelang, wandte sich die Ritterschaft, vertreten durch den Ritterhauptmann und die Ritterräte, an Kaiser und Reichshofrat, um die Angelegenheit an höherer Stelle anzubringen. Dass eheliche Konflikte gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer weniger gütlich gelöst werden konnten, zeigt einerseits, dass die neuen Entwicklungen keinesfalls vor einer auf Exklusion bedachten Korporation wie der Ritterschaft Halt machten und „unüberwindliche Abneigung“ zumindest als Argument Eingang in die Scheidungsverfahren fand. Andererseits wird aber auch die Begrenztheit der ritterschaftlichen Schlichtungsinstrumentarien deutlich, die offenbar nicht von den auf Autonomie bedachten Mitgliedern der Ritterschaft anerkannt wurden. Um Entscheidungen Akzeptanz zu verleihen, bedurfte es der höchsten Autorität des Kaisers, den die Reichsritter als einzigen Herren anerkannten. Erst wenn dieser eingeschaltet worden war, konnten die reichsritterschaftlichen Instrumentarien greifen, da sie nun im kaiserlichen Auftrag wirkten. Nicht zuletzt deshalb trug jeder neue Konflikt dazu bei, die Bindung an den Kaiser zu stärken. Gleichzeitig offenbarte sich aber dadurch auch die Schwäche der Reichsritterschaft, die im Prinzip nur durch die enge Anbindung und damit Abhängigkeit vom Kaiser existieren konnte. Von kaiserlicher Seite aus bestand dagegen ein Interesse daran, die zunehmenden Auflösungserscheinungen der Reichsritterschaft im 18. Jahrhundert einzudämmen, um diese nicht nur in ihrem Bestand zu schützen, sondern auch die Ordnung und Stabilität der Reichsverfassung insgesamt aufrechtzuerhalten, die letzten Ende auch die kaiserliche Herrschaft gewährleistete. Beide Seiten profitierten also gleichermaßen und stützten sich gegenseitig.

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Der „wilde Wolf von Merzien“ oder „Cavalier von ansehnlichen Character“? – Ein anhaltischer Adliger im Konflikt mit seinem Landesherrn1 Eigentlich war es nur darum gegangen, einen Graben zu beräumen. Dieser Graben verlief durch den Anhalt-Köthen’schen Ort Merzien2 und gehörte zu den Besitzungen zweier Mitglieder der Familie von Schlegel. Diese Familie,3 erstmals 1222 in Sachsen nachweisbar, erhielt 1342 von Fürst Bernhard von Anhalt Lehnsbesitz.4 Im 16. Jahrhundert mit dem nahe Merzien gelegenen Gut Zehringen belehnt,5 erhielt die Familie 1614 aus der Hand des Fürsten von Anhalt-Köthen das Gesamtlehen Zehringen – Merzien. Der anhaltische Hauptmann Wolf Ludwig von Schlegel und sein Vetter Adolf Emanuel von Schlegel hatten sich die Rechte an den Gewässern geteilt, dergestalt, dass die Nutzung der Gräben Wolf Ludwig von Schlegel zustand. Als sein Vetter am 30. April 1737 seine Knechte anwies, diesen Graben zuzuschütten, erschien Wolf Ludwig von Schlegel und wollte diese wieder wegschicken. „Als aber selbe in Güte nicht weggehen wollen, habe er nach selben mit dem Hirschfänger geschlagen, darauf aber einer den andern zugerufen: „Schlagt zu“ Wie er sich nun eingebildet, es weren die Leute angestiftet ihme eine Tracht Schläge zu geben, habe er sich, da sie mit denen bey sich 1

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Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Der letzte Raubritter“? – Die Fehden und Prozesse des anhaltischen Adligen Wolf Ludwig von Schlegel, in: Enno Bünz/Ulrike Höroldt/Christoph Volkmar (Hrsg.): Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.– 18. Jahrhundert), Leipzig 2014 (in Vorbereitung). Vgl. zur Ortsgeschichte die Zusammenstellung „Zwei Orte an der Ziethe“ Das alte Rittergut und Ritterdorf bei Köthen. Geschichte und Chronik von Zehringen. Ort zwischen Jordansberg und Pfarrbusch. Geschichte und Chronik von Merzien, Merzien/Zehringen o.J. (um 2007) Vgl. zur Genealogie dieser Familie Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser A 39, Gotha 1940, S. 572–581, Art. Schlegel(l), in: Adelslexikon, bearb. v. Walter von Hueck, Bd. XII, Limburg/Lahn 2001, S. 462, sowie Johann Christoph Beckmann: Historie des Fürstenthums Anhalt, Bd. 6, Zerbst 1710, S. 267f. Die zwischen Schlegel und Schlegell alternierende Schreibweise wird im Folgenden zu Schlegel vereinheitlicht. Vgl. das Lehnbuch des Fürsten Bernhard III von Anhalt v. 1342, in: Otto Heinemann (Hrsg.), Codex diplomaticus Anhaltinus, Bd. 5: 1380–1400, Dessau 1881, S. 377: „Den Slegelen lech he negen morgen landes, en holt und enen hof.“ Die genaue Lage der Besitzungen wird nicht genannt. Vgl. die Kopie des Lehnbriefes in Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Dessau (im Folgenden: LHASA, DE), Z 4 Anhaltisches Gesamtarchiv. Alte Ordnung, Bd. IV, 505b Nr. 34.

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gehabten Spaaten auf ihn zu gelaufen, in Positur gesetzt, seine bey sich gehabte Flinte ergriffen und dieselbe nach den Füßen jener gehalten, auch würcklich den Hahnen abgedrückt, es habe aber ihm dieselbe versaget, und were der Schuß allso nicht erfolget, womit dann die Leute auf ihn loßgeschlagen, worüber er confus worden, und wüsste nicht wie der Schuss darauf erfolgt, ob er selbst den Hahnen abgedrückt, oder ob solches die Bauern in der confusion selbst gethan, denn er were von dem Schlage außer sich selbst gewesen, und könnte er Eyd erhalten, daß er nicht recht wisse wie der Schuß geschehen, noch wo er hingezielet (. . . )“6 . Als das Handgemenge vorüber war, lag der Tagelöhner Tobias Oeltze7 von einer Kugel tödlich getroffen auf dem Feld und Wolf Ludwig von Schlegel befand sich auf der Flucht. Der Merziener Gerichtshalter Johann Georg Hanckwitz zeigte den Vorfall noch am gleichen Tag in Köthen an, worauf der Kanzleidirektor Vierthaler einen Steckbrief auf Wolf Ludwig von Schlegel ausstellte. Gleichzeitig erschien dort der Chirurg Johann David Sommer und berichtete, dass er in Prosigk den schwer am Hinterkopf verletzten Schlegel verbunden hatte, und referierte, wie sich der Tathergang aus dessen Sicht darstellte. Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen ordnete umgehend eine Obduktion der Leiche und ein Zeugenverhör an, das schon am 1. Mai vorgenommen wurde.8 Der Tagelöhner Andreas Wagner, der in dem Handgemenge an Oeltzes Seite gewesen war, schilderte den Verlauf zwar in vielen Punkten ähnlich und räumte ein, dass er sich mit einer Schippe gewehrt habe, betonte aber Schlegels aggressives Verhalten, dessen Beschimpfungen sowie die Verletzungen, die dieser ihm mit seinem Hirschfänger zugefügt hatte. Weder Oeltze noch er selbst hätten einander aufgefordert, auf Schlegel einzuschlagen. Der Schuss habe sich nicht im Streit um die Flinte gelöst, vielmehr hätte Schlegel diese frei in der Hand gehabt. Er wisse aber nicht, ob und auf wen der Schuss gezielt war. Außerdem verwies er auf seine Tochter als Zeugin, die gesehen hatte, wie Schlegel die Flinte nochmals geladen und ihn auf der Flucht verfolgt habe, was diese auf Befragen bestätigte. In der Zwischenzeit hatte Schlegel mit Christian Gottfried Wessel einen Advokaten gefunden, der am 4. Mai erschien und die blutigen Kleidungsstücke seines Mandanten und ein Schreiben Schlegels vorlegte, in dem dieser die Aufhebung des Steckbriefs und freies Geleit in der Überzeugung verlangte, „daß

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Der Chirurg Johann David Sommer referiert hier die Aussagen Wolf Ludwigs von Schlegel vom 30.4.1737, LHASA, DE, Z 70 Abteilung Köthen, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 2f. Nähere Informationen über Tobias Oeltze konnten nicht ermittelt werden. Die Kirchenbücher von Merzien sind 1916 bei einem Brand des dortigen Pfarrhauses verbrannt. – Vgl. Die Kunstdenkmale des Landes Anhalt. Erster Teil. Die Stadt Köthen und der Landkreis außer Wörlitz, bearb. v. Ernst Haetge und Marie-Luise Harksen, Burg 1943, S. 398. Der fürstliche Erlass und die Zeugenaussagen befinden sich in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 4–18.

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poena propter homicidium wieder mich nicht erkannt werden könne“9 . Fürst August Ludwig gab dem Ansuchen umgehend statt, worauf Schlegel um eine Anhörung bat,10 die nach mehreren Aufschüben auf Wunsch Schlegels schließlich auf den 1. November 1737 angesetzt wurde. Die Zeugenvernehmungen waren indes fortgeführt worden und bekräftigten die Aussagen Wagners. Als Schlegel und sein anhaltischer Anwalt Wessel zum vereinbarten Termin in Köthen erschienen, waren sie weit davon entfernt, nur eine Aussage zu machen und sich dem fürstlichen Richterspruch zu unterwerfen. Sie forderten stattdessen eine Aushändigung der Zeugenaussagen, die ihnen Fürst August Ludwig bewilligte. Neuerliche Aufschübe ergaben sich u. a. durch die Aussage von Oeltzes Ehefrau, die laut Schlegels Anwalt vermutete, ihr Mann sei zur Tatzeit betrunken gewesen, und durch den Versuch, durch ein Probeschießen vor Ort die Zielgenauigkeit der Flinte zu erheben. Schließlich legte Wessel im Mai 1738 dar, warum eine Spezialinquisition gegen seinen Mandanten nicht rechtens sei. In seiner Schrift lenkte er den Verdacht auf Wagner, den man anstelle einer Untersuchung gegen ihn als Zeugen behandelt habe. Aufgrund des Handgemenges um die Flinte könne auch Wagner den tödlichen Schuss verursacht haben und sei daher als Zeuge zu eigener Entlastung nicht glaubwürdig. Seine Angaben, Oeltze sei beim Schuss drei Ellen weit von der Flinte entfernt gewesen, widersprächen den mit der Flinte gemachten Versuchen. Oeltze und Wagner seien ohnehin betrunken gewesen. Die Juristenfakultät der Universität Altdorf, die der Fürst in dieser Angelegenheit um ein Gutachten gebeten hatte, empfahl dagegen, mit der Untersuchung gegen Schlegel fortzufahren.11 Dieser sah sich also einer „SpecialInquisition“ ausgesetzt, an deren Ende mindestens ein erheblicher Verlust an Ansehen, im schlimmsten Fall sogar eine Leibstrafe drohte. Bis zu diesem Punkt ging das Verfahren allen taktischen Verzögerungen zum Trotz einen regulären, erwartbaren Gang, und vielleicht mag schon die Frage aufgekommen sein, ob dieser Fall sich überhaupt zu thematisieren lohnt. Was nun jedoch folgte, war schon den Zeitgenossen sehr bemerkenswert, und Schlegel ist in der Erinnerung des Ortes als der „wilde Wolf von Merzien“ bis heute lebendig.12 Wolf Ludwig von Schlegel griff zu den Waffen und machte mit einigen Anhängern das Fürstentum Anhalt-Köthen unsicher, bis er schließlich das Faustrecht mit dem Reichsrecht vertauschte, nach Wetzlar ging und erreichen konnte, dass das Reichskammergericht

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Wolf Ludwig von Schlegel an Fürst August Ludwig von Anhalt, 4.5.1737, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 22. Vgl. Wolf Ludwig von Schlegel an Fürst August Ludwig von Anhalt, 11.5.1737, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 29. Das Gutachten vom 13.7.1738 ist überliefert in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 108–127. Vgl. Matthias Prasse: Motte ohne Flügel, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 21.7.2011.

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seine Angelegenheit aufgriff. Dieser Fall beschäftigte den Fürsten von AnhaltKöthen, das Reichskammergericht, die Reichsstände, schließlich sogar den Regensburger Reichstag und die Visitatoren des Reichskammergerichts jahrzehntelang noch über den Tod Fürst August Ludwigs und Wolf Ludwigs von Schlegel hinaus. Erst in den 1780er Jahren konnten die Akten geschlossen werden. Dem Gothaer Gymnasialprofessor Johann Georg August Galletti war dieser Fall eine Aufnahme in seine „Allgemeine Welthistorie“ wert.13 Deshalb überrascht es nicht, dass die Quellen zu diesem Fall reichlich und an vielen Orten fließen. „Standbein“ der Überlieferung sind die Akten des Fürstentums Anhalt-Köthen und des Reichskammergerichts,14 die in der Abteilung Dessau des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt verwahrt werden. Unter der Überlieferung der anderen Reichsstände sind diejenigen der enger mit der Angelegenheit befassten Territorien Kursachsen im Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden und Braunschweig im Niedersächsischen Landesarchiv – Staatsarchiv Wolfenbüttel hervorzuheben. Zu den Akten kommen verschiedene Druckschriften, die beide Seiten im Laufe der Prozesse in Auftrag gaben, sowie Berichte in der zeitgenössischen Publizistik. Darunter ist auch der „Becmannus enucleatus“ von Samuel Lentz, wo dieser den Stand des Verfahrens schilderte und damit die Grundlage zur bislang einzigen einschlägigen Publikation gab.15

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Vgl. Johann Georg August Galletti: Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie durch eine Gesellschaft von Gelehrten in Deutschland und England ausgefertiget. Ein und sechzigster Theil, Halle 1795, S. 206f. Vermutlich über diese Publikation fand der Fall auch Eingang in das Handbuch der teutschen Geschichte von Peter von Kobbe, Leipzig und Sorau 1824, S. 590f. Vgl. den Nachweis bei Mark Alexander Steinert: Die Überlieferung des Reichskammergerichts im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Dessau, http://www.gsta.spkberlin.de/uploads/pdf/rkgalleonline.pdf, Angaben zu dem Prozess S. 297. Diese Akten gehören entgegen den dortigen Angaben nicht zu den Kriegsverlusten. Vgl. Samuel Lentz: Becmannus enucleatus et continuatus, oder: Historisch-Genealogische Fürstellung des Hochfürstlichen Hauses Anhalt, . . . , Köthen/Dessau 1757, S. 906– 911, sowie Bernhard Heese: Der „wilde Wolff “ von Merzien, in: Askania. Wochenblatt für Vaterländische Geschichte, Köthen 1926, S. 54. Den weiteren Fortgang des Verfahrens hat Heese nicht erhoben, und auch „Zwei Orte an der Ziethe“ (wie Anm. 2), S 179 sieht den Fall fälschlicherweise als um 1752 abgeschlossen an. – Vgl. zu Samuel Lentz Michael Hecht: Die Kraft der Vergangenheit. Historiographie und dynastische Erinnerung der Askanier im 18. Jahrhundert, in: Holger Zaunstöck (Hrsg.), Das Leben des Fürsten. Studien zur Biografie von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817), Halle 2008, S. 197–210; Reinhold Specht: Zur Historiographie Anhalts im 18. Jahrhundert, in: Sachsen und Anhalt 6 (1930), S. 251–305.

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1. Die Entwicklung des Prozessgeschehens Nach diesen Quellen war der mit der Untersuchung vom Fürsten beauftragte Kammerrat Christian Friedrich Vierthaler am 17. September mit dem fürstlichen Wagen und Pferden in Anhalt-Köthen unterwegs, als ihn auf der Landstraße Wolf Ludwig von Schlegel den Weg versperrte und versuchte, ihn durch Beleidigungen zu einem Duell herauszufordern, wobei er Vierthaler nach dessen Aussagen mit einer Pistole bedrohte. Als dieser seinen Degen nicht zog, habe Schlegel mit einer Peitsche nach dem Wagen geschlagen und sei fort geritten. Schlegel ging nun gänzlich dazu über, sein Recht mit den Waffen zu suchen, und hat „darauf in dem Anhalt-Cöthnischen Territorio mit gewaffneter Hand nebst 2 Kerln zu Pferde, so hinten und forne mit Flinten und Pistohlen bepacket, herum vagirt“16 . Dabei suchte er das Gut Merzien auf, schlug dort bei seinem Bruder Emanuel Leberecht die Fensterscheiben ein und drohte ihm an, seinen Onkel Leberecht von Schlegel zu erschießen. Später verwüstete er den Weidenbestand des Gutes. Das bis dahin geltende Recht auf freies Geleit erachtete Fürst August Ludwig nun als verwirkt und behandelte Schlegel als gewöhnlichen Delinquenten. Am 19. September 1738 besetzten anhalt-köthensche Truppen das Gut Merzien in der Absicht, Wolf Ludwig von Schlegel zu verhaften. Dieser jedoch war nach Dessau geflohen, dessen Fürst ihn zunächst nicht auslieferte. August Ludwig setzte eine Belohnung von 100 Reichstalern auf Schlegel aus und entband dessen Untertanen von ihren Pflichten.17 Die Grenznähe nutzte Schlegel dazu, sich in AnhaltDessau einzuquartieren18 und von dort aus Knechte des Gutes Merzien zu überfallen, ihre Pferde auszuspannen und wegzuführen sowie Drohungen und Beleidigungen gegen die fürstlichen Räte auszustoßen, „und dieses Spectacul hat um ein gantzes Jahr gewehret“19 . 16 17

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Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 200. Mandat von Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen vom 30.9.1738, in: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung nebst einer Specie facti und actenmäßigen Deduction auf gnädigsten Special-Befehl des Regierenden Herrn Fürsten Herrn August Ludwigs, zu Anhalt-Cöthen Hoch-fürstl. Durchl. betreffend die in Criminal-Sachen des Hauptmanns Wollf Ludwig von Schlegel zu Mertzin, von dem Hochlöbl. Kayserl. Cammer-Gericht angemaßte Cognition und darinn ergangene Urthel cum petito übergebene abgemüßigte Vorstellunge, o.O. 1744, S. 47. Schlegel mietete sich in Dessau ein und konnte sogar einen Passierschein Fürst Leopolds erwirken. – Sammlung derer fürnehmsten in Sachen des Hauptmanns Wolff Ludwig von Schlegel, Erb- und Gerichts-Herrn auf Mertzien und Zähringen, entgegen den regierenden Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Hochfürstliche Durchlaucht Mandati de abducendo milite etc. an einem Höchstpreißlichen Cammer-Gericht verhandelten Schrifften samt vollständigem Protocollo judiciali in eben derselben Sache, o.O. 1747, o.P., zit. nach LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 224. Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 209.

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Unter Berufung auf § 206 der Carolina hielt August Ludwig das Gut Merzien mit seinen Soldaten besetzt und übertrug die Verwaltung des Guts Schlegels Bruder, dem Lieutenant Emanuel Leberecht von Schlegel. Am letzten Ostertag 1739 stellten köthnische Soldaten Wolf Ludwig von Schlegel im Gespräch mit seinem Bruder, verfolgten und feuerten auf ihn, konnten ihn jedoch nicht festnehmen, obwohl sie ihm bis weit auf das Territorium von Anhalt-Dessau gefolgt waren.20 Der Gipfel seiner Provokationen war schließlich erreicht, als er „selbst vor Ew. Hoch-Fürstl. Durchl. Residentz zur Bravade solchergestalt vorbey geritten und Dero Fürstlichen Dienern aufgepasset, so daß Hochdieselbe keinen derselben ohne Salve-Guarde aus der Residentz schicken dürfen.“21 Obgleich sich Anhalt-Köthen in dieser Sache zunächst als unfähig erwies, diesen Nadelstichen mit eigenen polizeilichen und politischen Mitteln ein Ende zu bereiten, konnte Schlegel nicht darauf bauen, damit dauerhaft einer Untersuchung zu entkommen. Ohne eigene Machtbasis und kontinuierliche Einkünfte war eine Niederlage in dem selbst angezettelten Kleinkrieg, eine Auslieferung an den Fürsten von Anhalt-Köthen und ein Gerichtsverfahren abzusehen, in dem er auf keine richterliche Milde zu hoffen hatte. Fürst Leopold von Anhalt-Dessau zeigte sich nach den Erfahrungen mit Schlegel zu einer Auslieferung durchaus geneigt: „Dieser unsinnige Mensch wird alle Tage kecker und wird sich selbsten fangen, welches in kurtzem geschehen kann und wird, und alsdann wird wohl das Beste seyn, dass Mann ihn als einen Rasenden nach Amsterdam schicke, dass er daselbst seinen Geist auffgebe.“22 In dieser Situation verfiel Schlegel darauf, die Waffen zu wechseln, und wandte sich an das Reichskammergericht. Im Gepäck seiner Reise nach Wetzlar hatte er eine Reihe von Verhörprotokollen zu den Vorgängen in Merzien, die der Dessauer Notar Dietrich nur drei Tage nach der Besetzung des Gutes im Auftrag Schlegels durchgeführt hatte. Auf Basis dieser Aussagen warf der Anwalt Schlegels am Reichskammergericht – Wilhelm Ludwig Ziegler23 – dem Fürsten eine Reihe von Handlungen vor, die seine Güter und seine Ehre schwer geschädigt hätten. Auf Grundlage all dieser Vorkommnisse forderte Ziegler den Fürsten auf, die Soldaten aus Merzien abzuziehen und das freie

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Undatiertes (1739) Schreiben Zieglers an das Reichskammergericht, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 8f. Responsum einer Löblichen Juristen Facultät auf der Königlichen Preußischen Universität Halle die vom Hoch=Preißlichen Kayserlichen und des Reichs Cammer Gerichte zu Wetzlar, zur Ungebühr zu dessen Cognition gezogene Inquisitions=Sache contra den Hauptmann Wolff Ludwig von Schlegel von Schlegel in Mertzin betreffend, o.O. 1744, Abdruck im Anhang zu: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung (wie Anm. 17). Fürst Leopold von Anhalt-Dessau an Kanzleirat Vierthaler, 13.11.1738, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 5 (o.P.). Vgl. zu Ziegler die kurzen biographischen Angaben bei Andreas Klass: Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693–1806), Frankfurt/Main 2002, S. 358.

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Geleit für seinen Mandanten zu erneuern. Damit hatten Ziegler und Schlegel den Spieß umgedreht und den Schwerpunkt des Verfahrens vom Totschlag Oeltzes auf die Frage abgestellt, ob Schlegel als Gutsbesitzer ein Recht auf freies Geleit und ehrenvolle Behandlung zustehe. Aus der Rolle eines Delinquenten war Schlegel in die Rolle eines Klägers gegen seinen Landesherrn geschlüpft und forderte das Reichskammergericht sogar auf, den Fürsten und seine Räte ihrerseits vorzuladen.24 Mit diesem Schwenk von der ursprünglichen Strafsache hin zu Verfahrensfragen konnte man hoffen, zumindest erhebliche Verzögerungen, wenn nicht gar die Aufhebung des drohenden Prozesses in Köthen zu erwirken. Sie erreichten in der Tat, dass das Reichskammergericht am 23. September 1739 in einem Mandatum de abducendo milite sine clausula una cum salvo conductu25 die Schlegel’schen Forderungen als rechtens ansah. Das Fürstentum hielt dagegen und führte aus, dass mehrere Angaben Schlegels falsch seien und das Reichskammergericht in einer reinen Kriminalsache ohnehin nicht befugt sei. Daraufhin kassierte es am 29. April 1740 dieses Urteil und wies Schlegel sogar an, dem Fürsten die aufgelaufenen Kosten zu erstatten.26 Diese Sentenz wiederum ließ den Verurteilten nicht ruhen, der nunmehr als einfacher Delinquent einer Auslieferung entgegenzusehen hatte. Dennoch dauerte es bis zum 20. Dezember 1741, dass Schlegel sich erneut mit einer Beschwerde an das Gericht wandte – und Erfolg hatte. Mit Urteil vom 16. März 1742 setzte das Reichskammergericht fest, der Fürst von AnhaltKöthen habe Schlegel erneut in das Recht eines freien Geleits einzusetzen und ihm das sequestrierte Gut Merzien wieder einzuräumen. Schlegel wurde zwar verpflichtet, zum Prozess in Köthen zu erscheinen und sich gegen jedermann friedlich zu verhalten, konnte für seine Anreise aber auch 50 Reichstaler aus den Einkünften des Gutes Merzien beanspruchen. Die Hoffnung der Richter, damit diesen Fall wieder nach Köthen zurückgegeben zu haben, trog jedoch. Schlegel und Ziegler ließen sich von der gerichtlichen Terminsetzung nicht beeindrucken und stellten das Erscheinen Schlegels zum Prozess in Köthen in Frage, was Ziegler wegen „unzuläßiger und dem fürstlichen Respect zuwider seyender Schreibart“27 einen ernstlichen Verweis einbrachte und abgelehnt wurde. Erreicht hatte er allerdings, dass die von Anhalt-Köthen zu entrichtende Summe sich auf 250 Reichstaler erhöhte. Wiederholte Vorstellungen des fürstlichen Hauses, ein solches Urteil sei angesichts des Verhaltens des Delinquenten gegen die fürstlichen Räte verfehlt, und der erneute Verweis auf die Nichtzuständigkeit des Reichskammergerichts hatten keinen Erfolg; Ende

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Vgl. Sammlung der fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 198. Diese Forderung wurde jedoch abgewiesen. Das Mandat befindet sich in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 167–172. Das Urteil ist abgedruckt in: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung (wie Anm. 17), S. 51f. Urteil des Reichskammergerichts vom 20.12.1742, in: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung (wie Anm. 17), S. 56f.

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1743 hob ein erneutes Urteil die auszuzahlende Summe sogar auf 500 Reichstaler an und wies den Kurfürsten von Sachsen als kreisausschreibenden Fürsten des obersächsischen Kreises an, das Urteil zu vollstrecken.28 Dessen Assessor Johann Friedrich von Heynitz29 war reserviert gegenüber einem Beschluss, „dem ich wohl mit beygewohnet, aber gar nicht beygestimmet habe, weil es mir viel zu bedencklich ist, denen hohen Stände des Reichs in ihre habende Criminal-Jurisdiction einzugreiffen.“30 Auf solche Haltungen setzend, ging Anhalt-Köthen nun seinerseits in die Offensive und entschloss sich, den Reichstag in Regensburg anzurufen, „da jedem Reichs-Stande eben dergleichen bey ereignenden Fällen wiederfahren könnte“31 . August Ludwig legte eine umfangreiche Schrift vor, die nicht nur eine Vielzahl einschlägiger Köthener Akten zum Fall, sondern auch ein Gutachten der Juristenfakultät in Halle beinhaltete.32 Dieses sah ganz im Sinne des Fürsten nicht nur Schlegels Recht auf Erneuerung des freien Geleits als verwirkt an, sondern bestritt auch, dass das Reichskammergericht befugt sei, diesen Fall an sich zu ziehen, ja gestand Anhalt-Köthen sogar das Recht zu, Schlegel selbst bei vorliegendem kaiserlichen Geleitsbrief zu inhaftieren. Die Vollstreckung des Urteils gegen Anhalt-Köthen zog sich weiter hin, zumal Kursachsen, dessen Prokurator Georg Melchior Hofmann33 „schwehr fassen [konnte], wie ein Hochpreißliches und Kayserliches Cammer-Gericht bey schon gegebener ersteren Sententz auf den jetzigen Weeg gerathen mögen“,34 zwar Mahnschreiben an August Ludwig versandte, eine tatsächliche Vollstreckung jedoch mit Hinweis auf das beim Reichstag schwebende Verfahren hinausschob, bis ein Urteil vom 18. Januar 1746 Friedrich August von Sachsen dazu anhielt, zur Exekution notfalls „mit erforderlicher Mannschaft in das Fürstlich-Anhalt-Cöthenische auf Unkosten des Herrn Beklagten ein 28 29

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Urteil des Reichskammergerichts vom 22.12.1743, in: Ebd., S. 59. Vgl. zu von Heynitz Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = künftig QFHG 26 II,2: Biographien), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1225–1238. Relation von von Heynitz aus Wetzlar, den 23.12.1742, Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden (im folgenden HStADD), 10025 Geheimes Konsilium Loc. 4911, Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. I., f. 6. August Ludwig an den Reichstag zu Regensburg, Abdruck in: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung (wie Anm. 16), o.P. Die Verhandlungen auf dem Regensburger Reichstag, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können, dokumentieren die Akten in: LHASA, DE, Z 15 Gesandtschaftsarchiv, Nr. 571 und 572. Responsum (wie Anm. 21). Vgl. zu Hofmann die biographischen Angaben bei Klass: Standes- oder Leistungselite? (wie Anm. 23), S. 288, sowie Anette Baumann: Anwälte am Reichskammergericht. Die Prokuratorendynastie Hofmann in Wetzlar (1693–1806), Wetzlar 2001. Erklärung Dr. Hofmanns vor dem Reichskammergericht am 26.6.1744, in: Sammlung derer fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 247.

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[zu] rucken“.35 Erneute Monita Kursachsens blieben unbeantwortet, stattdessen ging Anhalt-Köthen seinerseits in die Offensive und hob den Konflikt auf eine neue Stufe. Nach Abstimmungen mit den anderen anhaltischen Linien36 reichte der anhaltische Gesandte von Wülcknitz37 beim Regensburger Reichstag ein Pro memoria ein, in dem Anhalt-Köthen seine Forderung nach einem Reichsgutachten erneuerte.38 In Regensburg hatte der anhaltische Gesandte von Pfau die meisten Reichsstände hinter sich bringen können,39 die Erstellung eines gemeinsamen Reichsgutachtens zog sich jedoch in die Länge. Da Kursachsen trotzdem abwarten wollte, übertrug das Reichskammergericht die Vollstreckung an den Niedersächsischen Kreis und dessen Fürsten, König Georg II. von England und Kurfürst von Braunschweig und König Friedrich II. von Preußen.40 Trotz deren Ermahnungen dauerte es bis 1750, als unter dem Druck einer militärischen Exekution Anhalt-Köthen mittlerweile 2300 Reichstaler über Hannover an Schlegel entrichtete. Dieser pochte weiterhin auf die Restituierung seines Gutes und freies Geleit,41 stellte hohe Forderungen, ohne seine Gläubiger zu bezahlen, und erreichte die Auszahlung von weiteren 450 Reichstalern.42 Anhalt-Köthen schlug als Kompromiss vor, Schlegel solle seinen Prozess durch einen Bevollmächtigten von Kursachsen aus betreiben. Da der Fürst dessen Beauftragten Dietrich von Schierstedt nicht anerkannte und Schlegel niemand anderen für diesen Auftrag gewinnen konnte,43 sah er sich in die Defensive gedrängt. Schließlich verweigerte sich auch Hannover den Schlegel’schen Forderungen. Der Geheime Rat von Münchhausen ließ dem Reichskammergericht mitteilen, dass sie „Als auch gedachter Hauptmann allen von ihm hieraus, so offt münd- und schriftlich wiederhohlten, zu Erlangung seines Zweckes gereichten Bedeutungen, kein 35 36 37

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Urteil des Reichskammergerichts vom 18.2.1746, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 85. Vgl. beispielsweise die Abstimmung mit Bernburg in LHASA, DE, Z 18 Abt. Bernburg, A 18b Nr. 32. Bis 1745 war August Ludwig von Wülcknitz Gesandter in Regensburg. Er wurde von Heinrich Karl von Pfau abgelöst. – Vgl. Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden, Bd. 2, Zürich 1950, S. 1 sowie Bd. 3, Graz/Köln 1965, S. 2. Der Druck dieses Schreibens befindet sich in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 4, f. 79–86. Die Stimmen unter den Reichsständen fasst die Liste in LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 4, f. 74f. zusammen. Die Akte enthält neben den Berichten von Pfaus mit Stimmen der Reichsstände zum Prozess zahlreiche zustimmende Schreiben einzelner Reichsfürsten. Urteil des Reichskammergerichts vom 31.10.1746, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 264. Wolf Ludwig von Schlegel an König Georg II., 23.5.1750, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 5, f. 210. Pro Memoria von von Pfau an den Reichstag, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 5, f. 289f. Erklärung von Schierstedts, 17.5.1755, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9, f. 134.

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Gehör geben will, hingegen auf lauter Ausschweifungen verfällt, mithin nichts fruchtbares mit ihm auszurichten stehet; [...] sich dessen weiter nicht annehmen könnten.“44 Das Reichskammergericht fuhr unbeeindruckt mit der Beauftragung an Hannover fort, bis dieses mit Verweis auf die Senioratsregelungen des Hauses eine Übertragung der Angelegenheit auf BraunschweigWolfenbüttel erwirkte.45 Dessen Regierung wurde erst nach Ende des Siebenjährigen Krieges aktiv und erreichte die Auszahlung kleinerer Beträge an Schlegel, machte gegenüber dem Reichskammergericht aber auch deutlich, dass man angesichts von dessen Eingriffen in die Rechtsprechung eines Reichsstandes keine Exekution durchführen werde. Wolf Ludwig von Schlegel – mittlerweile ein „erbarmungswürdiger Mensch am ganzen Leib geschwollen, wie ein armer Lazarus lieget, und kein Glied regen kann“46 – starb am 7. Mai 1767 und wurde „in aller Stille und ohne viele Kosten“47 begraben. Auch nach seinem Tod fand das Verfahren kein Ende, da dessen in Wetzlar gemachte Schulden in Höhe von über 5000 Reichstalern nach wie vor auf Begleichung warteten. Braunschweig, das bis dahin auf der Auszahlung der Gelder durch Anhalt-Köthen bestanden hatte, schob eine Eintreibung auf,48 da der Konflikt kurz davor stand, eine neue Dimension zu gewinnen. Die Vorgänge um den Hauptmann sollten Gegenstand der Visitation des Reichskammergerichts49 werden, das mit Aufforderungen an Braunschweig trotzdem fortfuhr. Die Monita der visitierenden Kommission empfahlen, die Vollstreckung einzustellen, und verurteilten das Vorgehen des Gerichts.50 Noch 1780 druckten die Gläubiger ein Pro Memoria mit Aktenstücken zur nicht durchgeführten Exekution, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen,51 und riefen den fränkischen Kreis um Unterstüt44

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Münchhausen an Johann Jacob Zwierlein, 24.4.1753, Abdruck in: Weiterer Nachtrag zu dem am 10. Novembr. a. pr. übergebenen Pro memoria in Sachen von Schlegel, modo intervenirenden Creditoren contra Fürstliches Haus Anhalt-Cöthen, S. 8. Vgl. zu Zwierlein die biographischen Angaben bei Klass: Standes- oder Leistungselite? (wie Anm. 23), S. 359f. Vgl. die Transscriptio mandati, 7.9.1761, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9, f. 161– 163. Zwierlein an das Braunschweigische Ministerium, 16.7.1765, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 12, f. 72. Johann Christoph Seipp an das Reichskammergericht, Dezember 1767, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9, f. 242. Vgl. zu Seipp die biographischen Angaben bei Klass: Standes- oder Leistungselite? (wie Anm. 23), S. 334. Vgl. Johann H. von Bötticher an Johann Jacob Zwierlein, 30.1.1769, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9, f. 367. Vgl. zu dieser Visitation Karl Otmar von Aretin: Kaiser Joseph II. und die Reichskammergerichtsvisitation 1767–1776, Wetzlar 1991. Vgl. den entsprechenden Berichtsentwurf in LHASA, DE, Z 15 Gesandtschaftsarchiv, Nr. 572. Pro Memoria in Sachen weyl. Herrn Hauptmanns Wolf von Schlegel, itzo dessen intervenirende Creditoren zu Wetzlar contra des regierenden Herrn Fürsten zu Anhalt-

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zung an. Die Akten des Reichskammergerichts schließen mit einer erneuten Bitte der Gläubiger aus dem Jahr 1785.52 Zwei Jahre zuvor hatte Karl Georg Leberecht von Anhalt-Köthen das hochverschuldete Gut Merzien übernommen.53

2. Eine Causa – ein Gegenstand? Faktorenanalyse „Wenn man die Erzählung seiner Händel lieset, so sollte man sich, wo nicht in frühere Zeiten, doch wenigstens in die eines Götz von Berlichingen, oder anderer in dieser Geschichte angeführten Befehder, versetzt glauben.“54 Das Erstaunen der Zeitgenossen ergreift selbst noch den, der aus der Distanz von über dreieinhalb Jahrhunderten den Fall untersucht. Ein Handgemenge mit tödlichem Ausgang mag alles andere als alltäglich gewesen sein. Dass das Verfahren aber derart eskalierte, dass der Beschuldigte bewaffnet durch das Land zog und sich Reichskammergericht, der Reichstag und die Reichskammergerichtsvisitation damit befassten, war mehr als ungewöhnlich. Die Causa Schlegel präsentierte sich dem Betrachter zwar als ein Fall mit klar abgegrenzten Verfahrensgegnern, Verfahrensbeteiligten und Streitgegenständen. Beim näheren Hinsehen aber erweist sich, dass in ihr mehrere Konflikte zum Ausbruch kamen und sich im Wechselspiel bedingten und hochschaukelten, aber auch Lösungen blockierten. Adliges Selbstverständnis und Handeln prallte mit den Ansprüchen und Verfahrensweisen des sich formierenden hoheitlichen Staates zusammen. Diese Faktoren sollen nun analysiert werden. Beginnen wir mit dem Protagonisten des Geschehens. Zu dessen Eskalation trug der auch bei wohlwollender Betrachtung als problematisch zu bezeichnende Charakter Wolf Ludwigs von Schlegel erheblich bei. Bedienstete in Merzien mieden ihn als „schabernackisch“.55 Schon Jahre vor dem Tod Oeltzes hatte er mit dem Hofrat von Wülcknitz eine Auseinandersetzung, bei der Schlegel Wülcknitz „mit dem Deegen zu Leibe gelauffen“56 . Schon 1720 war er

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Durchlaucht decisi Mandati de abducendo milite etc. jetzo die von Schlegelische intervenirende Glaubiger betr., o.O. 1780, in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 10, f. 19– 26. Erklärung des Anwalts Scheurer vom 27.9.1785, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 11, f. 150. Vgl. „Zwei Orte an der Ziethe“ (wie Anm. 2), S. 186. Eine Aufstellung über die Lage des Gutes findet sich in LHASA, DE, Z 70, A 3 Nr. 15, f. 48. Johann Christoph Krause: Fortsetzung der Bertramischen Geschichte des Hauses und Fürstenthums Anhalt, Bd. 2, Halle 1782, S. 685. Vgl. die Aussage von Maria Louise Donat „weil [sie] wisse, daß er etwas schabernackisch: So hätte sie ihrer Schwester verbothen, sich umzusehen, damit er nicht zu ihnen komme.“ – LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 25 Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 209.

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in Wien „mit einem Kayserl. Officier in eine Ungelegenheit gerathen und darüber in Arrest gekommen“57 . Mit seinem Onkel Leberecht von Schlegel hatte er 1720 einen Prozess über Vormundschaftsgelder geführt, und auch später blieben Querelen auf den Gütern Zehringen und Merzien nicht aus. Unterstützung durch die Familie hatte Schlegel also nicht zu erhoffen. Im Fall Oeltzes räumten auch die ihm wohlgesonnenen Zeugen ein, dass er mit Hirschfänger und Flinte auf Oeltze und Wagner losgegangen sei. Sein Duell mit Riedesel in Wetzlar wies ihn erneut als streitbaren Verfechter seiner tatsächlichen und vermeintlichen Adelsrechte aus. Affektkontrolle jedenfalls war seine Stärke nicht. Das Verfahren aber, das Vierthaler nach dem Tod Oeltzes gegen ihn anstrengte, traf seine Person und zugleich seinen Stand. Es musste ihn auf das Äußerste in Rage bringen, dass man gegen ihn wie gegen einen gewöhnlichen Verbrecher ermittelte. Als besonderen Affront empfand er den Steckbrief, dessen Formulierungen nicht gerade aus einem Titulaturbuch entnommen waren, sondern den Angehörigen eines jahrhundertalten Adelsgeschlechts beschrieb als „Fugitivum, welcher mittler und hagerer Statur, spitzen Gesichte, seine eigene Haare trägt und mehrenteils grün gekleidet, auch ohngefehr 40 Jahre alt ist“58 . Damit fühlte er sich in seiner Ehre zutiefst verletzt, und seine Reaktionen lassen sich durchaus in den Termini des Ehrkonflikts beschreiben. In den Briefen und Denkschriften, die er aus Wetzlar an seine Ankläger, Richter und Fürsprecher schickte, wurde er nicht müde, eben diesen Ehrenpunkt zu betonen. Die Erneuerung des freien Geleits und die Restituierung seines Guts sollten natürlich seine taktische und materielle Position in dem zu erwartenden Verfahren stärken, die zentrale Rolle und häufigen Wiederholungen, die die – tatsächlichen oder vermeintlichen – obrigkeitlichen Ehrverletzungen in seiner Argumentation einnahmen, zeigen aber auch, wie sehr es ihm um die Wiederherstellung seiner adligen Ehre ging. Noch gegenüber Vierthaler wandte er sich gegen die Vernehmung des Begleiters von Oeltze, Andreas Wagner, als Zeugen mit der Begründung, „ob er schon ein Tagelöhner et infimae sortis homo und nicht mit 50 Thaler Werth in der Welt angesessen ist“ 59 , während Schlegel als „Cavalier von ansehnlichen Character“60 Verfolgung erleide. Zu diesem Selbstverständnis gehörten freilich nicht nur Privilegien, sondern auch Pflichten als Lehnsnehmer, deren er sich immer bewusst war. Wie sich diese Auffassung in dem Konflikt niederschlug, zeigte seine Rechtfertigung, der zufolge der Angriff auf Vierthaler sein „Privat Werk wäre, indem er sich selben wegen der gegen ihn in der Homicidien Sache ausgelassenen Steckbrieffe zu rächen gesucht, und nicht anders gethan als was ein ehrlich Kerl 57 58 59 60

So der Bericht der Köthener Räte vom Oktober 1720, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 101a, f. 14. Steckbrief vom 30.4.1737, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 18°. Undatierte Deduktion Wessels, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 75. Ebd.

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thun müsse, ja dass er Ihro Hochfürstl. Durchl. weder selbst noch in der Persohn des würcklichen Raths zu beleidigen den Sinn gehabt.“61 Als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ sah er den Angriff also gar nicht an, „zumahlen gegen seinen Lands-Fürsten hat sich derselbe niemahls, weder mit Worten noch Wercken, vergriffen, sondern demselben, zu allen Zeiten, den schuldigen unterthänigsten Respect bezeuget“62 . Schlegel trüge lediglich eine private Fehde gegen eine Person aus, die ihn mit ihren Steckbriefen beleidigt hatte. „Canaille, hast du Steckbriefe bei dir“63 , rief er Vierthaler zu, als dieser in der Kutsche unterwegs war. Dieser berichtete, Schlegel versuchte, „auch alsobald mit einer großen langen par forçe Peitschen über die Chaise herüber zu hauen, ohne jedoch mich zu treffen: Wie ich nun mich gegen solche angefangene Gewalt zu defendiren, nach dem bey mir gehabten kleinen stählernen Degen gegriffen, und selben pro defensione ziehen wollen, so ist zum Unglück derselbe eingerostet gewesen, daß ich ihn nicht entblößen, und die intendirte Defension nur einiger maßen thun können, womit der Hauptmann von der Lincken zur rechten Seite der Kutsche geritten und gerufen: Canaille herunter, hier ist der Degen, hat sodann nach einem bey sich gehabten großen Rauf-Degen gegriffen, und wie derselbe gesehen, daß ich mit äußerster Force, wovon mir die Haut von den Händen abzugehen begunte, den Degen nicht aus der Scheide zu bringen vermocht, hat derselbe unter beständigen Schimpfen, ich hätte wie ein &c. gehandelt, daß ich ihn mit Steck-Briefen verfolget, noch 2 mal, wiewohl vergebens mit der Peitsche nach mir in die Kutsche gehauen, und dabey zu wissen verlangt; Ob ich Curage hätte; Da ich nun darauf geantwortet: Ja, zu rechter Zeit und Ort / hie aber bin ich außer stande mich zu wehren, er möchte sich menagiren, ich wäre hier in fürstlicher Commission und Verrichtung, hat derselbe wieder versetzet: Was er darnach frage, er sey auch ein fürstlicher Commissarius bey der Sache; und mich verschiedentlich noch ausgeschimpft, welches ich ihm dann, weil die gedult sich auch bey mir entfernete, mit den in Rechten erlaubten Retorsions-Worte: Rückeprall, Rückeprall; sine offendendi animo beantwortet. Hierüber aber ist derselbe aus aller Contenance kommen, mir wieder auf die lincke Seite der Kutschen auf den Leib geritten, darauf eine geladene Pistole aus dem Halfter gezogen, die darüber gewesene Leinewand abgenommen, und selbe auf mich gehalten, mit der Bedrohung, wo ich nicht aufhörete und schwiege, so wollte er auf mich schießen, wobey er dann 61

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Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 213. Diese Einschätzung der Köthener Räte bestätigt auch das Schreiben Zieglers an das Reichskammergericht vom 27.4.1740: „Dann was zwischen Anwalds Herrn Principali und dem Cantzley-Rath Vierthaler passiret, ist eine Privat-Sache, welche niemand anders als sie beyde angegangen oder noch angehet [. . . ]“ – LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102 Bd. 3, f. 211. Ziegler an das Reichskammergericht, 4.7.1742, in: Sammlung derer fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 238. Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 203.

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die höchst unchristliche und unvernünftige Worte ausstieß; Er stürbe dieses oder eines anderen Todes, so wäre es ihm gleich viel, er müsse einmal sterben. Wie ich nun in äußerster Consternation, zumalen derselbe sich wie einen von Sinnen gekommenen desperaten Menschen in Geberden bezeugte, denselben nochmalen zurief: Herr Hauptmann, contenanciren sie sich. Sie sehen, ich bin außer Stande, mich zu wehren; und endlich nach dem Stocke griff, weil den untauglichen Degen zu nichts gebrauchen konnte, rief derselbe mir wieder zu: warum ich so einen &c. Degen hätte, und als ich ihm erwiederte, ich wäre auf Unfug nicht ausgefahren, sondern in Fürstlichen Verrichtungen in einem sichern Lande hieher gekommen, hat derselbe die Pistole eingesteckt und gesprochen; wer mir tort thut / den verfolge ich bis in den Tod / und er wollte es mir noch gedencken, somit aber fort geritten“64 . In einem Brief an August Ludwig stellte Schlegel die Vorkommnisse so dar, als habe „der Canzley Rath Vierthaler durch ausgestossene Schimpfreden seine gehabte Commission gänzlich vergessen, und mich hierdurch, wo ich nicht vor dem Fürstlichen Nahmen und Commission gar zu große Veneration und Respect gehabt hätte, zu weiteren Thatlichkeiten gar leicht verleiten können, dieses ist also die ganze Sache“65 , und interpretierte die Vorkommnisse als einen Konflikt mit einer „Privat Person die mir den ersinnlichsten Tort zu thun, in alle Wege gesucht“66 , die aber seine Stellung als treuer Vasall des Fürsten nicht tangiere. Die Äußerungen Schlegels, die spätere Verhöre zutage förderten, beleidigten denn auch in erster Linie Vierthaler und dessen Gehilfen. Eine Rehabilitierung als treuer Untertan war damit freilich kaum zu erreichen. Selbst wenn man zugestand, er trüge lediglich einen Ehrenhandel mit einer oder mehreren Privatpersonen aus, war damit nur ein neuer Vorwurf ausgesprochen. Er habe sich wie jemand „aufgeführt, welcher Land und Leuthe mit Gewalt zu überziehen, zu befehden und in Furcht zu setzen vorhabens“67 . Er führe also eine Fehde, was aus Sicht der Träger des staatlichen Gewaltmonopols kriminell, für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts ein Rückfall in finstere Zeiten war. Zugleich hatten die fürstlichen Räte damit einen Terminus aufgegriffen, der seit dem Erscheinen der Autobiographie des Götz von Berlichingen nur wenige Jahre zuvor68 wieder in der Diskussion

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Bericht Vierthalers vom 17.9.1738, in: An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche ReichsVersammlung (wie Anm. 17), S. 25f. Die mit &c. bezeichneten Passagen sind nach Aussage des Kutschers als „Hundsfott“, „hundsföttisch“ zu ergänzen. Undatierter Brief Schlegels an Fürst August Ludwig, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 145. Undatierter Brief Schlegels an Fürst August Ludwig, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 146. Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 209. Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen, zugenannt mit der Eisern Hand, Nürnberg 1731. Den Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Horst Carl.

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stand.69 Trifft diese Einschätzung aus rechtshistorischer Sicht zu? Definiert man Fehde als „förmlich angesagte Feindschaft und in deren Rahmen eigenmächtig-gewaltsame Rechtsverfolgung“70 , so fällt zunächst auf, dass es formale Merkmale wie einen Fehdebrief oder eine andere formelle Kampfansage nicht gegeben hat.71 Ebenso wenig kann inhaltlich die Rede davon sein, dass Schlegel eine wie auch immer geartete Rechtsverfolgung im Sinne hatte, zumal sie sich auch gegen viele verschiedene Personen richtete, den Rat Vierthaler und seine Gehilfen, Mitglieder seiner Familie und schließlich gegen den Fürsten selbst. Vielmehr sollte man Schlegels Handlungen als eine Kette von Provokationen zu einem Duell bzw. versuchten Duellen sehen. Dagegen hätte der Landesfürst die Ehre von Schlegels auf das Äußerste gekränkt, indem er „ohnangesehen, daß er ein Officier und Guter von Adel ist, in Cöthen auf öffentlichen Markte durch den Mark-Meister vor infam ausruffen lassen, und auf hohe landesobrigkeitliche ordre für einen Mord-Brenner, Straßen-Räuber und Mörder declariret“72 habe. Der Aussage einer Zeugin gemäß hätten die Soldaten sogar einen Bullenbeißer dabei gehabt, der vom Fürsten dazu bestimmt gewesen sei, auf Wolf Ludwig von Schlegel gehetzt zu werden. Zu der versuchten Festnahme sagten andere Zeugen aus, die Köthener Soldaten hätten Schlegel als „Hunde- und Schweine-Junge“ bezeichnet.73 Seine Beschwerden gipfelten in dem Vorwurf, für die anhaltischen Räte gelte er „nicht allerdings wie ein Mensch, sondern gleichsam als ein Monstrum, und wie die allerärgste Malefitz-Person von der Welt, die sich nicht mit Ausübung eines Lasters allein begnügen lassen, sondern gleichsam alle Classes Delictorum, wie solche in denen beyden libris Pandectarum beschrieben werden, durchwander habe, auf das allerabscheulichste abgemahlet“74 . Anhalt-Köthen wies diese Anschuldigungen zurück und räumte lediglich ein, Schlegel aus

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Vgl. zur Geschichte der Fehderezeption v.a. aus landesgeschichtlicher Sicht Alexander Jendorff : Fehdediskurse – Herrschaftsdiskurse. Adelige Gewaltkultur am Beginn der Frühen Neuzeit und ihre Rezeption im modernen Deutschland, in: Franz Hederer/Christian König/Christina Milz (Hrsg.), Handlungsräume. Facetten politischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Albrecht P. Luttenberger zum 65. Geburtstag, München 2011, S. 195–218. Vgl. zur Fehde einführend Gerald Kohl: Art. Fehde, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Sp. 866–868. Lentz: Becmannus enucleatus (wie Anm. 15), S. 908, behauptet, Schlegel habe von Wetzlar aus Schmähschriften drucken lassen, die nicht nur die Räte, sondern auch den Fürsten selbst beleidigt hätten. Diese Schmähschriften befinden sich jedoch weder in der Aktenüberlieferung, noch konnten sie anderweitig bibliographisch ermittelt werden. Undatiertes (1739) Schreiben Zieglers an das Reichskammergericht, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 8. Verhörprotokolle vom 9.4.1739, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 97. Ziegler an das Reichskammergericht, 5.12.1741, Sammlung der fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 212.

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dem Gebet ausgeschlossen zu haben.75 In Spiegelung des Fehdevorwurfs konterte Schlegel, dass die anhaltischen Räte mit ihrer üblen Nachrede „wohl gar das abgeschaffte Vehm=Gericht wieder in die Mode zu bringen trachteten“76 . Wie aber stand es um ein ehrenhaftes und standesgemäßes Leben in der Reichsstadt Wetzlar? Ob er dort, wie Münchhausen es formulierte, ausschweifend lebte, lässt sich nicht genau sagen; das ständige Anwachsen seiner Schulden kann, muss aber nicht als Indiz dafür gelten. Er selbst klagte gegenüber dem sächsischen Kurfürsten, er habe „durch diese allzu lange Verweilung meine zeitliche Glückseeligkeit verschertzet, indeme bey jetziger einer so favorablen Gelegenheit sich zu distinguiren, da von allen Mittlen völlig entblößet, versäumen, auch deswegen nicht im Stande gewesen eine Compagnie zu acceptiren“77 . Die Begleichung seiner Schulden durch AnhaltKöthen war für ihn auch deshalb erforderlich, um „mit Reputation von hier wegzukommen“78 . Ob Schlegel in Wetzlar standesgemäß leben konnte, ist schwer einzuschätzen. Einige der nach seinem Tod noch offenstehenden Rechnungen haben sich in den Akten des Reichskammergerichts erhalten und verzeichnen kostbarere Stoffe und Accessoires sowie weitere Luxusgüter. Hohe Kosten entstanden ihm ferner durch die Prozessführung, für Anwälte und den Druck der Streitschriften.79 Er scheint auch durchaus Kontakt mit den in der Stadt ansässigen Honoratioren gehabt zu haben. So erwähnt er „honette Leute“80 , die ihm Geld vorstreckten, und 1757 fungierte er als Zeuge für ein Testament des Hofrats Gerster.81 Streitsüchtig blieb er jedoch: Im Herbst 1752 geriet er mit dem pensionierten Generallieutenant Johann Volbrecht Freiherr von Riedesel so sehr aneinander, dass sie sich schließlich mit Pistolen duellierten.82 75 76 77

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Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, Vgl. LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 211. Wolf Ludwig von Schlegel an König Georg II., LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 5, f. 210. HStADD, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 4913 Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. II, f. 5f. Schlegel an August Ludwig, 22.5.1742, in: Sammlung der fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 224. Vgl. LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9. Schlegel an August Ludwig, 22.5.1742, in: Sammlung der fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 224. Vgl. Actenmäßiger Verlauf und abgedrungene Vertheidigung der Gerechtsame in Extra und Judicialsachen derer Schulerschen Erben, Georg Balzer Herts, Johann Georg Kinklers, namens seiner Ehefrauen, Marien Philippinen, einer gebohrnen Hernigks, und Andreas Gabriel Hernigk, wider des höchstpreißlichen kaiserlichen kammergerichts Advocaten, Herrn Licentiaten, Johann Valentin Gerster, und dieses wider jene, o.O. 1757, S. 20. Vgl. Art. Johann Volbrecht Freiherr von Riedesel von Eisenbach, in: Biographisches Lexikon aller Helden und Militairpersonen, welche sich in Preußischen Diensten berühmt gemacht haben, Teil III, Berlin 1790, S. 289, sowie Friedrich Karl Gottlob Hirsching

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Worin aber bestand die Ehre, für die Wolf Ludwig von Schlegel hier einzutreten vorgab? Schon Zeitgenossen räumten die Unbestimmtheit des Begriffs ein, der sächsische Jurist Hans Ernst von Globig sprach von „Ehre, dieses eingebildete Gut“83 , und auch die neuere Forschung hat in dieser Frage noch keinen Konsens gefunden.84 Während der Soziologe Niklas Luhmann Ehre noch als „symbolisch generalisierte Interaktionsfähigkeit in der Oberschicht“85 beschrieb, haben neuere Forschungen sie sozial erheblich ausgeweitet. So begreift Pierre Bourdieu sie als symbolisches Kapital, wogegen Martin Dinges den Begriff des „Ehrvermögens“86 setzt und Wolfgang E. J. Weber von einem „Regelsystem wechselseitiger Wertzumessung“87 spricht. Gemeinsam ist allen genannten Ansätzen, dass individueller und kollektiver Ehrbegriff nicht unveränderlich feststanden, sondern vor allem dann auf den Plan traten, wenn der oder die Träger der Ehre sich Anfechtungen ausgesetzt sahen. Ausgehend von der Analyse fränkischer Adelsfehden des Spätmittelalter, hat Hillay Zmora dargelegt, solche Fehden hätten einen materiellen Kern, der behauptete Ehrenpunkt betreffe die soziale Zugehörigkeit der Kontrahenten zum Adel, die vor den Augen der Zuschauer Schmähungen hinterfragen und Rehabilitationen befestigen sollten.88 In der Tat standen nicht nur Schlegels persönliche Ehre auf dem Spiel, sondern auch die materielle Grundlage seiner Familie wie des gesamten anhaltischen Adels. In die staatliche Verwaltung war die Familie Schlegel durchaus integriert. Mit Wolf, Hans Heinrich und dessen Bruder Christian Ludwig von Schlegel gehörten drei Familienmitglieder der von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen initiierten Fruchtbringenden Gesellschaft an.89 Wolf Ludwigs Großvater und Vater Christian Ludwig und Wolf Ernst von Schlegel

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(Hrsg.): Historisch-literarisches Handbuch berühmter und denkwürdigen Personen, welche in dem 18. Jahrhundert gelebt haben, Bd. 9, Leipzig 1806, S. 274. Hans Ernst von Globig: Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung. Eine von der ökonomischen Gesellschaft in Bern gekrönte Preisschrift, Franfurt/Main 1969, Unveränderter Neudruck der Ausgabe Zürich 1783, S. 39. Vgl. Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff : Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: Dies. (Hrsg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 1–28; Martin Dinges: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, in: Ebd., S. 29–62. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, zit. nach: Schreiner/Schwerhoff : Verletzte Ehre (wie Anm. 78), S. 7. Vgl. Schreiner/Schwerhoff : Ehre (wie Anm. 84), S. 8–11. Wolfgang E. J. Weber: Art. Ehre, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 78. Vgl. Hillay Zmora: Adelige Ehre und ritterliche Fehde: Franken im Spätmittelalter, in: Schreiner/Schwerhoff : Ehre (wie Anm. 84), S. 92–109. Ekkehard Kaufmann: Das spätmittelalterliche Schadenersatzrecht und die Reszeption der „actio iniuriarum aestimatoria“, in: ZRG GA 78 (1961), S. 93–139. Vgl. die Eintragungen der Mitgliederdatenbank auf http://www.die-fruchtbringende-gesellschaft.de/index.php?category_id=4&article_id=16 (Aufruf am 29.1.2013).

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standen als Kammerjunker in anhalt-köthenschen Diensten, viele Familienmitglieder dienten im Militär des kleinen Fürstentums. Andere Mitglieder wie Wolf Ludwigs Bruder Emanuel Leberecht hatten sich in preußische Dienste begeben.90 Zu dem Dessauer Hofmarschall Wolf von Schlegel unterhielt Fürst August Ludwig auch während der Eskalation des Prozesses gute Beziehungen.91 Wolf Ludwig selbst war als Kapitän zwar Köthener Dienstmann, doch dürfte dieser Rang in dem militärisch unbedeutenden Fürstentum wenig exponiert gewesen sein.92 Seine Zeit verbrachte Wolf Ludwig von Schlegel weniger auf Feldzügen denn auf den familiären Gütern. Die Familie Schlegel war in Zehringen und Merzien nicht nur Grundeigentümer, sondern auch Gerichtsherr. So wurden unmittelbar nach dem Tod Oeltzes noch vor der Leiche die Zuständigkeiten beräumt. Der Hofadvokat und Gerichtshalter zu Merzien, Johann Georg Hanckwitz, zeigte den Todesfall mit dem Zusatz an, „er der Gerichtshalter trüge Bedenken, sich des Cörpers anzumaßen, und selben aufzuheben, weil er als Gerichtshalter von dem fugitivo mit-dependire, und sein Principal sich nicht der Sachen unterziehen wollte [...]“93 . Mit der landesherrlichen Untersuchung gegen einen adeligen Grund- und Gerichtsherrn brachen diese bis dahin latenten Konflikte offen aus. Die Stellung des Adels in Anhalt-Köthen ist nur in Ansätzen erforscht. Die ohnehin spärlichen Forschungen zum Adel in Anhalt konzentrieren sich v.a. auf Anhalt-Dessau, so dass ich hier nur Einzelbeobachtungen aneinanderreihen kann. In Anhalt-Köthen waren weder im Geheimen Rat noch im Geheimen Kabinett Adlige vertreten.94 Zwar war dort noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Anteil adeligen Grundbesitzes sehr hoch, zerfiel aber auch in viele sehr kleine Güter.95 Doch selbst wenn man in Köthen den Weg zum Domänenstaat erst nach 1765 einschlug:96 Die Vorgänge im benachbarten Anhalt-Dessau, wo nur wenige Kilometer von Merzien entfernt Fürst 90 91 92

93 94 95 96

Vgl. die Angaben zu den Familienmitgliedern in Gothaisches Genealogisches Taschenbuch (wie Anm. 3), S. 572–581. Vgl. die Korrespondenz zwischen beiden in LHASA, DE, Z 70, A 10 Nr. 26. Während das Wirken des Fürsten Leopold in preußischen Militärdiensten vergleichsweise gut erforscht ist, fehlen zu Umfang, Organisation und Stellung des Militärs in den anhaltischen Fürstentümern selbst grundlegende Forschungen. Vgl. zur Stellung des Adels im Militär im europäischen Vergleich Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 207–218. Aktennotiz vom 30.4.1739, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 1, f. 1. Vgl. Hermann Wäschke: Geschichte Anhalts von der Teilung bis zur Wiedervereinigung, Köthen 1913, S. 245. Vgl. die Aufstellung der Güter bei Heinrich Lindner: Geschichte und Beschreibung des Landes Anhalt, Teil III, Dessau 1833, S. 531f. Vgl. Jan Brademann/Michael Hecht: Anhalt vom Mittelalter bis 1918 – Eine integrative Dynastie- und Herrschaftsgeschichte, in: BlldtLG 141/42 (2005/06), S. 558; Günther Hoppe: Domänen, Drescher und Kossaten. Zu den agrarischen Verhältnissen im Köthener Land bis zur Revolution von 1848, Köthen 1983, S. 10f. Eine kurze Aufstellung der aufgekauften Rittergüter liefert Werner Michaelis: Die agrarhistorische und betriebswirtschaftliche Entwicklung des Domänenbesitzes in Anhalt, Halle/Saale 1926, S. 11.

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Leopold adligen Grundbesitz auskaufte,97 dürfte Ängste des Adels beflügelt haben. Schlegel gerierte sich auch als Sprecher für die „gesambte und in diesem Seculo schon über einige Millionen geschwächte, mithin in Agonie liegende Anhaltische Noblesse“98 . Unabhängig davon, dass es ihm in erster Linie darum ging, die eigene Angelegenheit aufzuwerten, war die prinzipielle Dimension dieses Konflikts sowohl dem anhaltischen Adel als auch dem Fürsten klar. Schlegels Vorwurf, August Ludwig ginge es wohl darum, „die Anzahl des Adels in dem Land um einen zu vergeringern, und zugleich dessen Guth bey dieser Gelegenheit sich zuzueignen“99 , stand als Drohkulisse vielen anhaltischen Adeligen lebhaft vor Augen. Schon Mitte 1739 setzte sich die anhaltische Ritterschaft dafür ein, ihm erneut freies Geleit zu erteilen. Auf Anraten, die „Cöthnische Ritterschaft warnen zu lassen, sich nicht in des von Schlegels injustificirliche Sache zu meliren“100 , lehnte August Ludwig dies mit Verweis auf dessen Verhalten ab. Dass die Ritterschaft die Angelegenheit nicht weiter betrieben hat, deutet nicht nur auf ihre Schwäche hin. Mit seinem illoyalen und teilweise gewalttätigen Verhalten gegen den Fürsten, aber auch gegen seine eigene Familie hatte Schlegel sicherlich auch in den Augen vieler Adeliger seine Ansprüche auf die Solidarität der Standesgenossen weitgehend eingebüßt. Schlegels Angelegenheit mochte deren Ängste widerspiegeln. Ihm aber deswegen in seinem Kampf beizustehen, konnte sich kein anhaltköthenscher Adeliger entschließen.101 Von August Ludwigs Warte aus stellten sich die Dinge gänzlich anders dar. Ihm ging es darum, die fürstliche Gewalt im kleinen Anhalt-Köthen durchzusetzen und adelige Sonderrechte weitgehend einzuebnen. Schlegels Attacke auf Vierthaler war ihm mehr als eine einfache kriminelle Handlung, nämlich ein direkter Angriff auf seine landesfürstliche Hoheit. Mit Vierthaler habe Schlegel keine Privatperson, sondern „Ihro Hochfürstl. Durchl. als seinen Lehn- und Landesherrn in der Persohn seines würcklichen Cantzley- und Cammer

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So kaufte Fürst Leopold von Anhalt-Dessau schon 1712 das nahe Merzien gelegene Rittergut Scheuder. Vgl. Ulla Machlitt: Die anhalt-dessauischen Domänen in der Periode des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsweise (etwa 1700 bis 1800), Diss. Halle/Saale 1972, S. 74. HStADD, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 4913 Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. II, f. 6. Ziegler an das Reichskammergericht, 4.7.1742, in: Sammlung derer fürnehmsten . . . Schrifften (wie Anm. 18), zit. nach: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 3, f. 239. Entwurf ohne Unterschrift (wahrscheinlich aus der Feder Vierthalers), in: LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 6, o.P. Zur adeligen Sicht auf diese Gewaltkultur vgl. Alexander Jendorff : Eigensinn in geschwinden Zeiten. Adeliges Selbstverständnis und adeliges Handeln in den strukturellen Veränderungsprozessen vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 131 (2011), S. 234–236; dort auch ältere Literatur.

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Raths und ihm gesetzten Commissarii Inquisitionis“102 angegriffen, einen Amtsträger in fürstlichen Geschäften und mit fürstlichen Pferden und Wagen auf fürstlichem Territorium und Wegen unterwegs. Die Attacke auf Vierthaler als solche war für die fürstlichen Räte ebenso wie Schlegels Sicht des Geschehens Frontalangriffe auf die Hoheit des richtenden und strafenden Staates. In dessen Verständnis erschien es höchst bedrohlich, „wie Supplicant nach der in seinem Kopfe allein sich findenden Fantaisie seine Facten auslegen will, da auf die Art ein jeder Maleficant sich allzeit von der Straffe loswürcken könnte, wann er seine Thaten nach seiner vorgegebenen Imagination interpretiren dürfte, sondern es muß und wird ein jedes Verbrechen so titulirt, angenommen und bestrafft, wie das factum solches nahmhafft zu machen anhanden giebt“103 . Schlegels Vorwurf der Ehrverletzung wandten die Räte gegen diesen selbst und warfen ihm vor, „Ihro Hochfürstl. Durchl. als seinen Landes- und Lehnsherren höchst blamable zu denigiren und was Dieselbe mit größten Fug rechtens verordnen können als widerrechtlich und injurieus anzugeben“104 . Die landesherrliche Gewalt von Fürst Ludwig August stand mit diesem Prozess nicht nur nach innen auf dem Spiel. Schließlich hinderte ihn keine geringere Institution als das Reichskammergericht in Wetzlar daran, den Delinquenten Schlegel vor Gericht zu stellen. Sie stellte sogar seine landesherrliche Gerichtskompetenz vor den Augen der anderen Reichsstände in Frage und drohte ihm mit kaiserlicher Autorität immer von neuem eine demütigende Zwangsvollstreckung der Schlegel’schen Forderungen durch einen anderen Reichsstand. Das kleine Fürstentum Anhalt-Köthen hatte nur wenig Möglichkeiten, sein Recht materiell oder informell durchzusetzen, konnte aber auf die Solidarität der Reichsstände rechnen. Die Einzelterritorien sahen sich von dieser Rechtsprechung des Reichs in ihren Kompetenzen empfindlich beschnitten. Die Argumentation des anhaltischen Gesandten im Reichsfürstenrat rührte an stets vorhandene Ängste, als er das Szenario entwarf, dass „ein Reichs-Stand resolviren müste, sich der Dispositioni arbitriae der Reichs-Gerichter zu unterwerffen, und auf Recht Ordnung und a Seculis hergebrachte Freyheiten zu renunciiren“105 . Dass ein hohes Reichsgericht die Partei eines Landstands ergriff, war manchen ein Präzedenzfall. So äußerte sich Kursachsen, man könne in Dresden „schwehr fassen, wie ein Hochpreißliches und Kayserliches Kammer-Gericht bey schon gegebener ersten

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Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 200. Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2, f. 213f. Gutachten der fürstlichen Räte vom 13.1.1740, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 2., f. 198. Reichsfürstenratsprotokoll vom 10.4.1750, in: Anton Faber (Hrsg.), Der Europäischen Staats-Cantzley Hunderter Teil, darinnen zum Behuff der neuesten Politischen-, Kirchen und Reichs-Historie . . . , Frankfurt und Leipzig 1751, S. 60.

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Sententz auf den jetztigen Weeg gerathen mögen“106 . Als die Sache vor dem Reichstag sich befand, wurde die Kritik deutlicher: Die Angelegenheit sei „von solcher Erheblichkeit, daß sämtliches des Cammer-Gerichts zu Wetzlar bisheriges Verfahren in der Schlegelischen Sache nach denen Reichs-Verfassungen keinesweges bestehen könne, sondern denen Reichs-Ständen competirender Criminal-Jurisdiction so hefftig als unbefugt eingegriffen“107 . Hannover und später Braunschweig machten ähnliche Gründe geltend, Hannover antwortete auf ein erneutes Ansuchen des Gerichts sogar mit der Bemerkung, „daß Se. Königl. Majestät mehr nicht thun könten, und sich von dem CammerGerichte versprächen, in Ruhe gelassen zu werden.“108 Derart gereizte Töne blieben zwar die Ausnahme, dennoch hatte sich das Reichskammergericht mit seinem eigenmächtigen Vorgehen fundamentale Kritik von vielen Seiten zugezogen. Der Assessor von Heynitz kommentierte das Geschehen in Wetzlar: „Ich wollte, Anhalt-Cöthen könnte sich, mit Vorbehalt seiner ungekränckten Criminal-Jurisdiction, entschließen, von dem sequestrirten Guthe Merzin, die anbefohlen Alimenten-Gelder einzuschicken, und zu erwarten, ob sich Herr von Schlegel als denn sub clypeo unsers ex officio erkannten CameralRecesses, einfinden werde; denn, so würden wir doch einmahl seiner alhier loß, und glaube gewiß, daß er dem Frieden nicht trauen, und mit seiner Gegenwart dem Herrn Fürsten lästig fallen würde. So aber gehet Camera mit Erhöhung der einzuschickenden Gelder immer weiter, und es ist eine Schwäche in unserm teutschen Justiz-Cörper, die sehr auf Stärkung oder gänzliche Abschaffung wartet.“109 In der Tat hat die höchste richterliche Instanz des Heiligen Römischen Reichs über den ganzen Prozessverlauf hinweg eine zumindest unglückliche Rolle gespielt. Sie hatte ein Urteil gleich zweimal umgestoßen und mit der letztendlichen Entscheidung auf freies Geleit für Schlegel weit über AnhaltKöthen hinaus Unverständnis unter den Reichsständen bis hin in der juristischen Öffentlichkeit erregt. Die Juristenfakultäten in Altdorf und Halle hatten gegenteilige Auffassungen verfochten. Das Gutachten der Universität Halle fand nicht nur über den gedruckten Rekurs an den Regensburger Reichstag Verbreitung. So ging es in die Sammlung von Rechtssprüchen und Gutachten ein, die der Hallesche Jurist Christian 106

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108 109

Dr. Hofmann, 26.6.1744, HStADD, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 4911 Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu AnhaltCöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. I. HStADD, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 4923 Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. III, f. 43. Münchhausen an Johann Jacob Zwierlein, 26.5.1755, LHASA, DE, Z 70, C 3e Nr. 102, Bd. 9, f. 130. Relation von von Heynitz aus Wetzlar, den 10.11.1744, HStADD, 10025 Geheimes Konsilium Loc. 4911, Das auf Ihro Königl. Maj. in Pohlen in Sachen den von Schlegel contra des Herrn Fürsten zu Anhalt-Cöthen Durchl. erkannte Mandat . . . , Bd. I., f. 209.

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Friedrich Hempel als juristische Hausapotheke edierte,110 aber auch der Marburger Johann Carl König gab Aktenstücke heraus.111 Über die Debatten am Reichstag gelangten weitere Denkschriften in den Druck, die Vorwürfe gegen das Reichskammergericht erhoben.112 Nicht zuletzt räumte der anhaltische Geschichtsschreiber Samuel Lentz in seiner aus Köthener Sicht geschriebenen Geschichte Anhalts dem noch schwelenden Prozess breiten Raum ein und stellte die Verfahrensweise des höchsten Gerichts im Reiche in Frage.113 Was aber hatte das Reichskammergericht zu diesem Urteil bewogen? Es lässt sich nur mutmaßen. Von einer Bestechung durch Schlegel, wie sie Bernhard Heese unterstellte,114 ist nicht auszugehen, selbst wenn sich das Gericht zu dieser Zeit entsprechenden Vorwürfen ausgesetzt sah.115 Abgesehen davon, dass der enteignete Schlegel die erforderlichen Gelder kaum hätte aufbringen können,116 fiel das Urteil gar nicht so eindeutig in dessen Sinne aus. Hauptpunkt der reichsständischen Kritik am gerichtlichen Verhalten war der Vorwurf, landesherrliche Rechte nicht zu achten und Prozesse willkürlich an sich zu ziehen. Dem ist entgegen zu halten, dass das Reichskammergericht die richterliche Hoheit Anhalt-Köthens gar nicht grundsätzlich in Frage stellte. Die Erteilung des freien Geleits diente möglicherweise sogar als Bauernopfer, um Schlegel seiner Vorwände zu berauben und aus Wetzlar heraus bald seinem Richter in Köthen zuzuführen. Wie schlecht dieser Schachzug kalkuliert 110

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Vgl. Christian Friedrich Hempel: Allgemeines Lexicon juridico-consultatorium, oder Repertorium der nützlichsten Responsorum, Decisionum, und Decisiv-Rescripten, auch theologischer Bedenken und Medicinischer Gutachten, so nicht nur von den berühmtesten Universitäts-Facultäten, Catholischer sowohl, als Protestantischer Seits, ingleichen von Schöppen-Stühlen, Hof- und Appellations-Gerichten, und anderen hohen Provincial-Judiciis; sondern auch von den höchsten Reichs-Gerichten selbst, ertheilet und ausgesprochen worden, (...), Sechster Theil, Frankfurt und Leipzig 1754, Sp. 1102–1137. Vgl. zu Hempel die Artikel im Deutschen Biographischen Archiv I 510, S. 199–207. Vgl. Johann Carl König: Selecta Iurs Publici Novissima zum Behuf der Reichs-Historie und der Staats-Rechten mitgetheilt, Bd. 9, Marburg 1745, S. 17–50. Vgl. bspw. das Pro Memoria von Pfaus vom 23. März 1746, in: Vollständige Sammlung von Actis Publicis und Staats-Schriften zum Behuf der neuesten Welt- und Teutschen Reichs-Geschichten, unter Kayser Franz, Bd. 2, Frankfurt 1749, S. 519–21. Der Schriftwechsel mit Hannover ist abgedruckt in Wöchentlicher Welt- und Staats-Spiegel des Jahrs 1750, Stück XV, S. 336–353. Vgl. Lentz: Becmannus enucleatus (wie Anm. 15), S. 906–911. „Mit Degen und Pistolen wird er wohl die Perückenträger, die durch ihre „Recht“sprechung sich schon oft zum Gespött im ganzen Reich gemacht hatten, nicht bedroht haben; aber er fand andere Wege, sie sich wolgesinnt zu erhalten.“ – Heese: Der „wilde Wolff “ (wie Anm. 15), S. 54. Vgl. Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG 36), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 27; Aretin: Reichskammergerichtsvisitation (wie Anm. 49), S. 14f. Vgl. zu diesem Thema Anette Baumann: Korruption und Visitation am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert: eine vorläufige Bilanz, Wetzlar 2012.

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war, zeigte sich nur zu bald. Der Hauptmann selbst dachte nicht im Traum daran, sich vor einem Richter in Anhalt-Köthen zu verantworten. Es hätte also an Fürst August Ludwig gelegen, durch ein Annehmen des Urteils den Ball an Schlegel und das Reichskammergericht zurückzuspielen. Diesen jedoch hatte das Gericht mit dem partiellen Eingriff in seine richterliche Hoheit derart verprellt, dass er an kein Entgegenkommen mehr dachte. Durch den Prokurator Johann Goy117 ließ er bestellen, dass er „den von Schlegel keinen Creutzer eher würden verabfolgen lassen, bis er sich alhier zur Justiz sistiret, daß man sich seiner Person versichern könne“118 . Eine Rücknahme des Urteils wiederum kam für das Reichskammergericht nicht mehr in Frage. Ein Nachgeben angesichts einer sich einem Urteil verweigernden Partei hätte einen ebenso großen Gesichtsverlust bedeutet wie die dann dreimalige Urteilsrücknahme in einer Streitsache, so dass sich das Gericht gezwungen sah, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Dass man den Rekurs an den Reichstag ignorierte und Kursachsen eigenmächtig die Zuständigkeit entzog, brachte zudem die Stände gegen das Gericht auf. Der Ball, den man nach Köthen zurückspielen wollte, erwies sich als Bumerang. Die langjährige Pattsituation hatte seitens des Köthener Fürsten jedoch auch handfeste finanzielle Gründe. Als Zweitgeborener erst 1728 nach dem Tode seines älteren Bruders zur Regentschaft gelangt, hatte Fürst August Ludwig mit der Witwe sowie der Tochter seines Bruders Prozesse durchzustehen,119 zu denen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter noch hinzukamen.120 Die angespannte finanzielle Lage des kleinen Fürstentums erlaubte es ihm schlichtweg nicht, dem Urteil des Reichskammergerichts zu entsprechen, Schlegel „freizukaufen“ und ihm in Köthen den Prozess zu machen. Die Erträge des Ritterguts Merzien und damit die durch ihn zu zahlende Summe

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Vgl. zu Goy die biographischen Angaben bei Klass: Standes- oder Leistungselite? (wie Anm. 20), S. 267. An E. Hochlöbliche, Hochansehnliche Reichs-Versammlung (wie Anm. 17), S. 6. Vgl. Einleitung zu einer Geschichte der Chur- und Fürstlichen Häuser in Teutschland, angef. v. August Benedict Michaelis, fortges. v. Julius Wilhelm Hamberger, Bd. 3, Lemgo 1785, S. 670, sowie Hermann Wäschke: Geschichte Anhalts von der Teilung bis zur Wiedervereinigung, Köthen 1913, S. 183f. Vgl. zu den Auseinandersetzungen mit seiner Mutter Katrin Rawert: Regentin und Witwe. Zeitliche Herrschaft und das Verhältnis zwischen Gisela Agnes von Anhalt-Köthen und ihren Kindern, in: Eva Labouvie (Hrsg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 68–73.

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setzten August Ludwig und Schlegel natürlich sehr verschieden an121 und zogen den Prozess mit in die Länge. Hinzu kam, dass es alles andere als sicher war, dass Schlegel von einem erneuten freien Geleit einen friedlichen Gebrauch machen würde. Dem Reichstag gegenüber befürchtete Anhalt-Köthen, dass „das Reichs-Cammer-Gericht Uns diesen frevelhaften Menschen, welcher vor ihren eigenen Augen nicht viel vernünftige actiones verrichtet, von neuem mit einem offenen Salvo conductu und Geleits=Briefe versehen, und Uns auf den Hals schicken will, dadurch ihm, wenn er sich in Unserm Lande auf freyen Fusse wieder befinden dürfte, Thür und Thore zu mehrern und vielleicht noch gröbern Verbrechen geöffnet, und unsere Räthe und Ministres neuen Händeln exponiret würden“122 .

3. Fazit Wolf Ludwig von Schlegel war ein Landadeliger, wie aus einem radikal adelskritischen Buch des 18. Jahrhunderts herausgefallen.123 Seine Einstellungen und sein Verhalten gaben all jenen Recht, die im Landadel nur das Relikt einer ungerechten und barbarischen Epoche sahen. Sie sicherten ihm aber später Beachtung in einer Zeit, in der Figuren wie Franz von Sickingen, Götz von Berlichingen und Hans Kolhase zu zugkräftigen literarischen Stoffen avancierten. Dass Schlegel mit seinen Einstellungen und seinen Methoden in seiner Streitsache trotz einer schwachen Ausgangsposition eine Pattsituation erreichen und behaupten konnte, zeigt, wie rudimentär und löchrig der Territorialstaat im 18. Jahrhundert, namentlich in Anhalt-Köthen, noch war. 121

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Einen Auszug aus den Administrationsrechnungen der Jahre 1738 bis 1766 enthält die Druckschrift Weiterer Nachtrag (wie Anm. 44), S. 10f. Zuverlässige Angaben über die tatsächlichen Erträge des Ritterguts Zehringen mit Merzien sind schwer zu ermitteln. Um 1712 hatte das Gut 40 Lehnstücke mit neunzehn Hufen Landes auf zwölf Feldmarken. – Vgl. „Zwei Orte an der Ziethe“ (wie Anm. 2), S. 170. Nach den Angaben der Lehnbriefe im Saalbuch des Amts Köthen handelte es sich um ein Gut mittlerer Größe, dessen Einkünfte aber durch die Teilung der Besitzungen erheblich geschmälert worden sein dürften. Albert Kraaz: Bauerngut und Frohndienste in Anhalt vom 16. bis 19. Jahrhundert, Jena 1898, S. 242f. Zur Größe und zum Zuschnitt adeligen Grundbesitzes in der Region vgl. Ulla Jablonowski: Zur Besiedlungsgeschichte der Gaue Serimunt und Coledici im 10./11. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 8 (1999), S. 55–92. Dass das Gut nach Darstellung Schlegels sehr ertragreich war, ist eher nicht anzunehmen, da schon 1705 erstmals Schulden auf das Gut aufgenommen werden mußten und beim 1783 erfolgten Verkauf über 20 000 Reichstaler Schulden aufgewachsen waren. – Vgl. „Zwei Orte an der Ziethe“ (wie Anm. 2), S. 169 und 186. August Ludwig von Anhalt-Köthen an den Reichstag zu Regensburg, April 1746, Druckschrift, o.P. Vgl. zum Thema Adelskritik einführend Franziska Hirschmann: Formen adliger Existenz im 18. Jahrhundert. Adel zwischen Kritik und Reformen, München 2009.

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Sie zeigt aber auch, in welch tiefer Krise sich das Heilige Römische Reich und namentlich das Reichskammergericht in dieser Zeit bereits befanden. Den landsässigen Adel im kleinen Anhalt-Köthen trennte von seinem Landesherrn ebenso viel wie diesen von den Autoritäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Insofern war es immer um einen Graben gegangen.

Dieter Wunder

Landsässiger hessischer Adel vor den Reichsgerichten. Grenzen des Fürstenstaates im 18. Jahrhundert1 Den Ritterschaftsvertretern auf dem Landtag Kurhessens 1815 war ein souveränes Kurfürstentum, gegen dessen Rechtsprechung es keine Appellationsmöglichkeit gab, ein Stein des Anstoßes; sie diskutierten daher im Zusammenhang der Wiederherstellung und Modernisierung des Kurfürstentums immer wieder die Notwendigkeit eines Bundesgerichtes2 ; offensichtlich hatten sie Reichsinstitutionen wie das Reichskammergericht (RKG) oder den Reichshofrat (RHR) in guter Erinnerung. Diese Position der kurhessischen Ritterschaft ist der des ehemaligen Reichsritters Frhr. vom Stein in seiner „ausgeprägten Affinität zum Alten Reich“ nicht fern.3 Wohl im Juni 1815 formulierte er in einer Notiz für Gagern: „Nassau hat Reichsgerichte gehabt, die schützten“.4 Die Reichsverbundenheit der „hessischen Ritterschaft“5 wird erklärlich, wenn man sich die Erfahrungen vor Augen hält, die der landsässige Adel mit der Reichsgerichtsbarkeit gemacht hatte. Zwar galt in Hessen-Kassel seit 1650 das erweiterte „privilegium de non appellando“, verschärft seit 1742 (Hessen-Darmstadt seit 1747), aber entgegen der Meinung hessischer Rechtsgelehrter wie Carl Philipp Kopp6 nicht uneingeschränkt: Bei 1 2

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Für klärende Kritik danke ich Heide Wunder. Winfried Speitkamp: Restauration als Transformation. Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschichte 1813–1830 (QuuFhG 67), Darmstadt 1986, S. 319–322. In der Instruktion für den Deputierten des Fuldastroms zum Landtag 1815 wurde die Erwartung an den Wiener Kongress geäußert, er werde ein „höchstes Bundesgericht“ einrichten. Hellmut Seier (Hrsg.): Akten zur Entstehung und Bedeutung des kurhessischen Verfassungsentwurfs von 1815/16, bearbeitet von Winfried Speitkamp und Hellmut Seier (Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 2), Marburg 1985, S. 8– 42, hier S. 14; vgl. auch S. 78. Heinz Duchhardt: Stein. Eine Biographie. Münster 2007, S. 40. Vgl. auch Steins sonstige Einstellung zum Reich („ein Verbund von Gemeinwesen, die . . . ihre Konflikte mittels eines gut aufgestellten und hoch elaborierten rechtlichen Instrumentariums entfalteten“; S. 40) und seine positiven Äußerungen zum Adel und zur Reichsritterschaft (S. 47). Frhr. vom Stein: Briefe und Amtliche Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, neu hrsg. v. Walther Hubatsch, Fünfter Band, neu bearb. v. Manfred Botzenhart, Stuttgart 1964, S. 315. Ich habe gezeigt, dass die exklusive „hessische Ritterschaft“ in Trennung von sonstigem hessischen Adel erst 1736/1771 entstanden ist (ansatzweise: Fürstenmacht und adlige Selbstbehauptung. Die Konstituierung der althessischen Ritterschaft im 18. Jahrhundert, in: HessJBLG 59 (2009), S. 37–71; demnächst ausführlicher in meiner Monographie: Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts − Herrenstand und Fürstendienst, Marburg 2014). Carl Philipp Kopp: Ausführliche Nachricht von der ältern und neuern Verfassung der

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Rechtsverweigerung stand auch nach 1742 der Weg zu den Reichsgerichten offen. Drei solcher Erfahrungen will ich analysieren. Zuerst untersuche ich einen Prozess innerhalb einer Lehnsgemeinschaft um die Lehnsfolge im Besitz des Rittergutes Imshausen, der 1694 vor dem RKG begann und 1743/1744 für den Sohn des Klägers mit einem Teilerfolg abgeschlossen wurde. Anschließend stelle ich zwei abgebrochene Prozesse von Repräsentanten der Ritterschaft gegen ihre Landgrafen um Rechte der Korporation „hessische Ritterschaft“ vor dem RHR dar: den Prozess um das der Ritterschaft gehörende Stift Kaufungen 1726–1729 sowie den Prozess um die Verleihung des Erbmarschallamtes 1777–1781, dessen Träger das Haupt der hessischen Ritterschaft war. Ich beschreibe und erläutere jeweils den Prozessverlauf sowie das Prozessergebnis und prüfe dabei die Reichweite des „privilegium de non appellando“. Die Prozessparteien kamen aus den beiden Landgrafschaften HessenKassel und Hessen-Darmstadt. Diese waren zusammengesetzte Territorien. Sie bestanden aus Nieder- und Oberhessen, letzteres seit 1604/1648 auf beide Fürstentümer aufgeteilt, außerdem den beiden Teilen der Grafschaft Katzenelnbogen, der hessischen Grafschaft Schaumburg, seit 1736/85 der Grafschaft Hanau u. a. Die hessische Ritterschaft7 umfasste den Adel von Nieder- und Oberhessen ungeachtet der territorialen Zugehörigkeit zu Hessen-Kassel oder Hessen-Darmstadt. Sie war eine „samthessische“ Korporation wie auch ihr Stift Kaufungen.

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geistlichen und Civil-Gerichten in den fürstl. hessen-casselischen Landen, Andrer oder practischer Theil worin der bey diesen Gerichten anitzt übliche Proceß . . . beschrieben wird, Kassel 1771, § 543, S. 438. Neben ihr gab es nur noch die schaumburgische Ritterschaft, in Katzenelnbogen und Hanau gab es keinen landsässigen Adel.

Landsässiger hessischer Adel vor den Reichsgerichten

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1. Der Prozess um den Besitz des adligen Gutes Imshausen vor dem RKG 1694–17488

1.1 Voraussetzungen

Der Besitz eines Rittergutes war im Hessen des 18. Jahrhunderts eine Grundbedingung adliger Existenz; es sicherte zumindest einen Teil des Lebensunterhaltes. Daher ist es nicht erstaunlich, dass Prozesse um den Besitz innerhalb einer Lehnsgemeinschaft zum adligen Alltag gehörten. Solche Prozesse bewegten sich häufig im Spannungsverhältnis von Lehnrecht und Privatrecht mit ihren unterschiedlichen Vererbungsregelungen. Allod9 − sei es ein räumlich zusammenhängender Besitz (zuweilen einschließlich des Burgsitzes), sei es ein größerer Komplex in der Gemarkung (durchaus auch in Gemengelage mit den Hintersassen) − wurde wie Erbe − einzelne kleinere oder größere Grundstücke in der Gemarkung − im Prinzip unter die Kinder gleichmäßig verteilt, es sei denn, durch Familienverträge oder Testamente waren andere Festlegungen getroffen. Lehen waren in Hessen überwiegend Mannlehen, die nur an männliche Mitglieder einer Lehensgemeinschaft fallen konnten. Diese gewährleistete, dass kein Mannlehen an den Lehnsherrn zurückfiel, solange männliche Mitglieder der Lehnsgemeinschaft lebten. Der jeweilige Besitzer eines Lehens ergab sich aus Familienverträgen, Testamenten u. a. und war damit Ergebnis von Entscheidungen, die umstritten sein konnten. Lehen, Allod und Erbe wurden von den Besitzern oft unterschiedslos behandelt. So wurden bei der Bestellung der Äcker Grenzen nicht beachtet, in Testamenten kein Unterschied gemacht. Daher kam es nach dem söhnelosen Tod des letzten Angehörigen innerhalb eines Zweiges der Lehnsgemeinschaft oft zu schwierigen Auseinandersetzungen über die Lehnsfolge und über den Charakter von Be-

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Siehe Genalogische Skizze, Abb. 1. Ich stütze mich fast ausschließlich auf Akten aus dem Depositum des Geschlechts Trott zu Solz-Imhausen, z. T. auch Depositum Trott zu Solz (StAM Bestand 340). Die zahlreichen Akten zum Prozess enthalten die Materialien vielfach mehrfach; sie stammen teilweise aus dem RKG. Alle genealogischen Angaben entnehme ich Rudolf v. Buttlar-Elberberg: Stammbuch der Althessischen Ritterschaft, Kassel 1888, der für das 18. Jahrhundert im Großen und Ganzen zuverlässig ist. Im Depositum Verschuer findet sich nur eine Akte (StAM Bestand 340 v. Verschuer Nr. 398, mit etwa 18 Briefen aus der Zeit 1710 bis 1747). Im Vergleich der Prozessgegner 1748 war vereinbart worden, dass alle Akten zu Imshausen den Trott zu Imshausen übergeben werden, tatsächlich finden sich in deren Archiv viele Akten, die als Verschuersche Akten anzusehen sind. Für die Verschuer waren nach dem endgültigen Verlust von Imshausen Akten zum Prozess und Imshausen wertlos, denn ein Adelsarchiv der Frühen Neuzeit existierte nicht als historische Fundgrube, sondern als Nachweis von Besitz und Besitzansprüchen. Lehen, Allod und Erbe unterscheide ich gemäß Johann Georg Estor: Neue kleine Schriften. Zweiter Band, Marburg 1761, 6. Stück II, S. 510f.

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sitz. Ein solcher Streit entwickelte sich bei dem hessen-kasselischen Geschlecht Trott seit 1691.10 Das Geschlecht Trott bildete eine Lehensgemeinschaft,11 von deren fünf hessischen Zweigen zwei zu Solz saßen, je einer zu Imshausen, Libenz und Schwarzenhasel, alle nördlich Bad Hersfeld gelegen.12 Dieser und weiterer Besitz in Hessen und im Braunschweigischen waren Samtlehen des Geschlechts, verliehen von den Landgrafen von Hessen-Kassel, dem Herzog von Braunschweig oder dem Abt von Fulda. 1.2 Der Streit der Lehnsfolger

1691 starb der kinderlose Besitzer von Imshausen, der gothaische Rittmeister Hugo Volpert Trott (1660–1691), auf dem Weg nach Ungarn in Prag. 1688 hatte er – damals kasselischer Dragonerkornett – ein Testament angefertigt, mit dem er entgegen dem geltenden Lehnrecht seine eventuelle Nachfolge im Lehen Imshausen regelte. Er ging offensichtlich davon aus, dass im Fall seines Todes sein Onkel Volpert (1630–1705), der einzig überlebende Mann des Zweiges Imshausen, ehemaliger Hofmeister des 1693 gestorbenen Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, wie dieser katholisch geworden, nicht Lehnsfolger sei, da er auf die Lehnsfolge verzichtet habe13 , so dass er ihn im Testament nicht einmal erwähnte. Zudem schloss er selbstherrlich seine lehnsfolgeberechtigten Vettern zu Solz, seine nächsten Verwandten, aus der Nachfolge aus, Johann Friedrich zu Solz (1632–1697), weil er „auch absonderlichen mir 10 11

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Die Trott sahen damals ,von‘ nicht als Namensbestandteil an, erst im Laufe des 18. Jahrhundert wurde das ,von‘ üblich. Die Lehen eines Stammvaters (im Fall Trott: Johann Trott, Burgmann Rotenburg, 1339/80) oder die Lehen, die Neuerwerber der gesamten Lehnsgemeinschaft verleihen ließen, bildeten den Lehnsbesitz aller männlichen Angehörigen der Lehnsgemeinschaft. Hessen-kasselische Lehen: Solz, Imshausen, Schwarzenhasel, Boxrode, Dens, Süß, u. v. a. m. (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Karton 32). Fuldische Lehen: Trottenwald (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 169, Extrakt fuldischer Lehnbrief 1667). Braunschweigische Lehen waren verschiedene Güter und Abgaben in Solz und im regionalen Umfeld (StAM 340 v. Trott zu Solz Karton 32). Der brandenburgische Zweig der Trott hatte seine Hälfte von Solz 1577 an die Vettern zu Solz verkauft. Er hatte 1665 auf seinen Anteil an Imshausen und am Trottenwald (15/144) zugunsten seiner Brüder Georg Reinhard und Rudolf gegen eine jährliche Zahlung von 41 Rtl. über 20 Jahre verzichtet. Dazu bewog ihn, wie er angab, die Geringfügigkeit des Besitzes, die Schuldenlast auf Imshausen sowie auch die Entlegenheit dieses Gutes, das er von Rheinfels aus nicht verwalten könne (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, 8.2.1686, Q (Quadrangel) 55). Vgl. a. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 96, Erklärungen Volperts 8.2.1686, 28.6.1686, 13.10.(st.n.)1686; StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 100, „Kurtzer Auszug und Entwurff des gerichtlichen Processus“ (Druck), S. 1–14. Dieser „Kurtze Auszug“ ist eine Verteidigungssschrift Otto Gottfrieds v. Verschuer von 1740. In der Akte StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109 ist sie handschriftlich mit dem Vermerk erhalten, dass der Druck in sechs Exemplaren „ad Lectoriam cameralen“ in Wetzlar „deponiret worden“ sei.

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Abbildung 1: Genealogische Skizze zur Verwandtschaft im Zusammenhang des Imshausenprozesses 1694–1748 (zwei Zweige Solz, ein Zweig Imshausen)

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selbsten sich jederzeit wiederspenstig u[nd] gantz gehäßig erzeiget und noch die Stunde zeigt, [. . . ] waß aber die vbrigen beide [Philipp Friedrich (1661– 1720) und sein Onkel Adam Georg Trott zu Solz (1642–1698] anreichet, selbe wie jedermann bekandt, sich wie einem rechtschaffenen von Adel zustehet nicht, sondern vielmehr ganz liederlich verhalten“. Als Erbin setzte er, guten Lebenswandel vorausgesetzt, sein Schwester Hedwig Gertrud (1653–1728) ein; falls die Agnaten dem widersprächen, hatte er vorgesehen, dass sie zumindest „Meliorationskosten“ und andere Verbesserungen in Imshausen erstattet bekäme.14 Hedwig Gertrud Trott hatte mit ihrem Bruder schon länger in heftigen Auseinandersetzungen über die ihr zustehenden Rechte aus dem Besitz Imshausen gestanden15 . Nach seinem Tod nahm sie seine Güter ohne Beachtung der Agnaten in Besitz, ließ sich mit den fuldischen Güter belehnen und unterließ jede Information an Volpert.16 Die Kasseler Belehnung stand aus, da sie dazu die Zustimmung der Lehnsgemeinschaft brauchte. Volpert beschwerte sich über die verspätete Information über Hugo Volperts Tod und bestritt einen generellen Verzicht17 , er habe nur seine zwei Brüder und deren männliche Nachkommen gemeint. In der nun folgenden Auseinandersetzung mit Hedwig Gertrud kam es schnell zu einem Vergleich18 . Volpert übernahm das Lehen, übertrug es Hedwig Gertrud zur Nutzung, sie behielt Allod und Erbe. Dagegen wandten sich nun die Agnaten, die rechtmäßigen Lehnsfolger zu Solz. Dort hatte sich inzwischen eine ungewöhnliche Veränderung der Lehnsgemeinschaft ereignet. Als die schon erwähnten überschuldeten Adam Georg Trott und sein Neffe Philipp Friedrich Trott aus dem einen der beiden Solzer Zweige unfähig waren, ihrem Neffen und Vetter Otto Christoph Verschuer (1650–1712), einem „ObristWachtmeister vnd Commendanten bey der holländischen Artillerie“19 , die seit 43 Jahren seiner Mutter Margarethe Verschuer 14

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StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 169, „Testamentarische Disposition“ 1688. Falls die Schwester sich anders verhalte als er erwarte, bestimmte er den Landgrafen zum Erben. StAM Bestand Protokolle II Kassel Cb 8 LXIX 1687: „Interimsvergleich“ vor der Regierung mit dem Bruder über das Heiratsgut. Vgl. a. StAM Bestand 340 v. Trott zu SolzImshausen Nr. 140, Q 9. 1687 setzt sich Johann Friedrich Trott gegenüber ihrem Bruder für sie ein (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 80, „Wenige Nachricht“). StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109, in: „Implorationsschrift“ (Position Verschuer mit Randbemerkungen Karl Trotts 1743). StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, 4.12.1692, Q 23. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, Brief Volperts 4.2.1694, Camp, Q 23. Amtsbezeichnung entsprechend Adelsbrief vom 9.2.1696 (Österreichisches Staatsarchiv AVA Reichsadelsakte Verschuer 1696). Er wurde zum Freiherrn erhoben und er war angeblich adlig, dies traf aber nicht zu; vgl. Dieter Wunder: Neuer Adel und Alter Adel in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und im Kanton Rhön-Werra der fränkischen Reichsritterschaft (1650–1750) Integration und Exklusivität, in: Eckart Conze/Alexander Jendorff/ Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert (VHKH 70), Marburg 2010, S. 329–358, hier: S. 332–

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geb. Trott (1626–1694) geschuldeten Heiratsgelder einschließlich Zinsen auszuzahlen, mussten sie ihre Hälfte von Solz 1692 an Verschuer verkaufen und die Lehensgemeinschaft verlassen, während Verschuer „in ius familiae et sanguinis“ aufgenommen wurde.20 Johann Friedrich Trott und Verschuer sahen sich seither als die rechtmäßigen Lehnsfolger. Sie nahmen das Lehen Imshausen im Konflikt mit Hedwig Gertrud in Besitz. Die folgenden teilweise heftigen und gewaltsamen Auseinandersetzungen,21 bedingt durch Unklarheiten über die Abgrenzung von Lehen/Erbe/Allod, endeten damit, dass Hedwig Gertrud ihre Allod- und Erbgüter für 3150 Reichstalern an Verschuer verkaufte (1696),22 worüber sich Johann Friedrich Trott – der Mitinhaber des Lehens Imshausen – beschwerte, so dass Verschuer seinen Kauf mit ihm teilen musste. Zusätzlich verglichen sich Hedwig Gertrud und die neuen Herren von Imshausen, Johann Friedrich Trott und Verschuer, indem sie Hedwig Gertrud bei Bedarf ein Kapital von 600 Reichstalern gegen Kaution zubilligten. Darüber kam es später zum Streit zwischen Hedwig Gertrud und den Trott zu Solz, weil Johann Eustachius v. d. Brinck – der Vormund der Kinder Johann Friedrich Trotts – ihr dessen Anteil von 300 Reichstalern verweigerte, während Verschuer gezahlt hatte.23 Fragt man nach den Interessenlagen der Beteiligten, so wird man Hedwig Gertruds wechselndes Verhalten wohl aus ihren schwierigen Lebenschancen erklären. Sie musste sich zur Wahrung von Heiratschancen – 1696 war sie 43 Jahre alt24 – eine möglichst gute materielle Ausgangsbasis schaffen. Als sie das Lehen verlor und zudem mit den Lehnsfolgern in erbitterten Streit geriet, hatte sie durch den Verkauf von Allod/Erbe wenigstens ein ansehnliches Kapital erworben, dazu die Aussicht auf einen günstigen Kredit. Verschuer musste es darauf ankommen, zu seinem Gut Solz möglichst weitere Güter zu erwerben, um eine tragfähige Lebensgrundlage für sich und seine Nachkommen zu schaffen.25 Es gelang ihm im Zuge seiner Erwerbspo-

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334. Er trat 1704 als Generalmajor in hessische Dienste, wurde 1706 Chef der Artillerie und Kommandant der Festung Rheinfels, 1709 Generalleutnant (Vgl. August Woringer: Ausländer als Offiziere im hessischen Heere, in: Hessenland 27. Jg. (1913), S. 250–253, hier: S. 252). Wunder: Neuer Adel (wie Anm. 19), S. 333f. Eine solche Erweiterung der Lehnsgemeinschaft eines Adelsgeschlechtes durch einen eingeheirateten Verwandten ist mir sonst aus Hessen unbekannt. Vergleichbar ist die Lehnsgemeinschaft Scheffer (nichtadlige Beamtenfamilie) / Capella (Adelsgeschlecht) für Lüderbach seit 1626/1627 (StAM Bestand 17 c Nr. 3827). StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 1; StAM Bestand 340 v. Trott zu SolzImshausen Nr. 96, z. B. Supplikation Volperts 22.4.1695, Q 30 und Notariatsinstrument 12.3.1695, p. Wetzlar 16.8.1695, Q 31. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, 23.3.1696,Q 51. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 80, Briefe insbesondere Hedwig Gertruds 1699–1709. Sie heiratete 1705 mit 52 Jahren Otto Heimart v. Buchenau, kasselischen Hauptmann. So erwarb er 1693 Boxrode (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 141) und

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litik, sich nach Johann Friedrichs Tod 1697 – in der Zeit der Vormundschaft von Johann Eustachius v. d. Brinck – den Großteil der Imshäuser Güter anzueignen. Die daraus entstandenen Spannungen zwischen dem Vormund, dann dem Sohn Adam Rudolf Trott einerseits und Otto Christoph Verschuer bzw. seinen Söhnen Wolf Dietrich und Philipp Wilhelm26 andererseits versuchte die Kasseler Regierung beizulegen. Schließlich gab das hessische Oberappellationsgericht den Verschuer weitgehend Recht (1711, 1738), nur den Zehnt mussten die Verschuer an den trottschen Vetter zu Solz abtreten.27 Der Lehnhof in Kassel belehnte bei der fälligen Belehnung der Lehnsgemeinschaft 1694 Johann Friedrich Trott und Otto Christoph Verschuer. Volperts Verlangen nach Mitbelehnung war von den Mitgliedern der Lehnsgemeinschaft abgelehnt worden, ebenso vom Kasseler Lehnhof.28 Daraufhin klagte Volpert 1694 gegen die Vettern zu Solz sowohl bei der Kasseler Regierung wie beim Reichskammergericht, wo seine Klage unerwartet angenommen wurde.29 1.3 Der Prozess vor dem RKG 1694/1695 und seine Wiederaufnahme 1724

Der entstehende Prozess dauerte 50 Jahre, mit einem Nachspiel 54 Jahre, und umfasste zwei bis drei Generationen der beteiligten Familien. Im Prozess standen dem Kläger aus dem Imshausener Zweig Volpert Trott, später seinem Sohn

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1694 Bauhaus (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 152). Seine Schwiegertochter Charlotte Sophie v. Schilling, Wolf Dietrichs Witwe, hielt jedes unrechtmäßige Verhalten des Schwiegervaters für undenkbar. Sie äußerte im Briefwechsel mit dem Verschuerschen Anwalt Johann Georg Becker zum Imshauser Prozess (3.5.1746): „ich bin versichert dass mein sehliger schwiger vatter nihmals geglaubt dass er einen ungerechten heller besessen hätte sonstens hätte er gewiß sein redlig und genereus gemüth nichts gekaufft noch in posession genommen haben welches ihm nicht zuköhm“ (StAM Bestand 340 v. Verschuer Nr. 180). Im Allgemeinen trat Wolf Dietrich als Wortführer auf, sein Bruder war niederländischer Offizier und ließ sich schließlich in den Niederlanden nieder. Wolf Dietrich war Oberhofmeister von Marie Luise v. Nassau-Diez in Leeuwarden (Friesland), der Tochter Landgraf Karls, und Vertrauensmann des Landgrafen für die Sicherung der Rechte der Tochter, er wurde zu Lebensende Minister in Kassel; vgl. Wunder: Neuer Adel (wie Anm. 19), S. 334, 337–339. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, 11.12.1734, Q 97. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 100, in: „Kurtzer Auszug“ (vgl. Anm. 13), S. 4: Volpert sei in keiner der vorherigen Belehnungen genannt worden; StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109; StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 96, Supplikation an hessische Regierung 16.7.1694, Q 35: Volpert stellt die Lage so dar, als habe er den Tod Hugo Volperts erst nach einem halben Jahr erfahren und sich sofort um Belehnung bemüht; da es sich um ein Samtlehen handelt, konnte aber keine separate Belehnung stattfinden. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 100, in: „Kurtzer Auszug“ (vgl. Anm. 13), S. 8.

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Karl (1687–1754) die Beklagten des Solzer Zweiges Johann Friedrich Trott, später dessen Sohn Adam Rudolf (1678–1733), sowie Otto Christof (Frhr. v.) Verschuer, dann dessen Söhne Wolf Dietrich Frhr. v. Verschuer (1676–1737) und Philipp Wilhelm (1678–1735), schließlich Wolf Dietrichs Söhne Karl Wilhelm (1715–1748) und Otto Gottfried (1719–1762) gegenüber. Der Lehnhof zu Kassel forderte vom RKG zunächst einen Prozess erster Instanz, mit zwei Argumenten: Volpert habe keine Klage vorgebracht, nur mündliche Einwände ohne Beweiskraft, zudem habe das Mannlehen einen so geringen Wert, dass es unter das „privilegium de non appellando“ falle (Streitwert 1000 rheinische Goldgulden).30 Der Prozess vor dem RKG kam schon 1695 zum Erliegen, möglicherweise weil der erblindete Volpert nicht mehr die notwendige Energie aufbrachte oder zu arm war.31 Er, die Vormünder seiner Kinder, dann sein Sohn Karl kümmerten sich zunächst nicht um anstehende Belehnungen (so 171432 ). Neunundzwanzig Jahre nach dem Ruhenlassen des Prozesses vor dem RKG nahm Karl Trott – rotenburgischer Hofkavalier33 – 1724 das Verfahren wieder auf. Den späten Zeitpunkt begründete er mit seiner Kindheit, „entferntem“ Aufenthalt sowie Mangel an Dokumenten. Der eine Prozessgegner – sein Vetter Adam Rudolf zu Solz34 , Oberamtmann zu Vacha und Obereinnehmer der Ritterschaft – bekundete, am Prozess nicht mehr teilnehmen zu wollen, auch wenn er in der Sache Verschuers Position für richtig halte. Er habe wenig Interesse an diesem Prozess, weil die Verschuer das meiste von Imshausen besäßen.35 Adam Rudolf Trott leitete dann aber 1728 die Wende in der Auseinandersetzung Trott contra Trott/Verschuer ein, indem er einen Vergleich mit dem besitzlosen Karl abschloss: Er trat diesem seinen Anteil am Lehen Imshausen ab36 , um ihn zum „wirklichem Besitzer eines Stücks des Gesamtlehens“ zu ma30 31

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StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, „Interventionalanzeige“ Lehnhof Kassel, Q 34. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 100, in: „Kurtzer Auszug“ (wie Anm. 13), S. 7. Vgl. auch StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen 93, Spezialprotokoll, sowie StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 82, Spezialprotokoll: nach 9.12.1695 folgt „Annis subsequentibus nihil actum, Completum 23.Oct.1723“. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Karton 32. Er war Hofkavalier zu Rotenburg und wurde 1730 Hofmeister, 1731 Samthofmeister und schied anscheinend 1735 aus dem Dienst aus; vgl. StAM Bestand 340 v. Trott zu SolzImshausen Nr. 121, Bl. 2–17. Er war der adlige Kommissar in der dreiköpfigen Verhandlungskommission mit Sachsen über Entschädigungen für die zu erwartende hanauische Erbschaft; vgl. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Karton 2, Blauer Umschlag: FamilienNachrichten et Personalia, Bl. 19–26 Personalia, Bl. 24; StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz (Prozesse) Karton 41. Er wurde1730 zudem Obervorsteher des Stiftes Kaufungen; vgl. StAM 304 Kaufungen Amtsbücher Nr. 22 Konferenzprotokolle 1, Bl. 283. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93 „Schrifftliche Handlung“ 11.12.1724, Q 57; vgl. auch Schreiben an Kasseler Regierung 20.11.1724, Q 71. Wert 1746: 318 Gulden; vgl. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Nr. 109.

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chen. Die Begründung des studierten Karl Adam37 war sehr deutlich: Er habe die Dokumente genau geprüft und für ihn stehe zweifelsfrei fest, dass Volpert nur zugunsten der Brüder und ihrer männlichen Nachkommen verzichtet habe, nicht aber für den Fall, dass diese söhnelos stürben; daher seien Volpert und sein Sohn die rechtmäßigen Lehnsfolger.38 Adam Rudolf argumentierte, er wolle, alt und schwächlich werdend, seine Kinder nicht bei einem Verlust des Prozesses gegen Karl mit der Zahlung für entgangenen „Nutzen“ seit 1696 belasten. Der Hinweis aus seiner Leichenpredigt, dass er sich seit seiner Rückkehr von Berlin 1713 – er war Kammerjunker König Friedrichs I. gewesen – um die Einstellung der vielen Prozesse seiner Familie bemüht habe,39 zeigt ein zentrales Motiv seines Verhaltens. Offensichtlich hatte sich der Vater Johann Friedrich Trott − er wurde im Imshausenprozess, wohl als der ältere und Namensträger Trott, immer als erster genannt − auf viele Streitigkeiten eingelassen, die dann erst sein Sohn Adam Rudolph beilegte.40 Als Gegenleistung für die Abtretung musste Karl zusichern, von Adam Rudolf keine Entschädigung für entgangenen „Nutzen“ und für Prozesskosten zu verlangen, und auch für den Fall eines gewonnenen Prozesses die Imshausener Güter als Trottsche Stammgüter anerkennen, Verkäufe daher nur mit Zustimmung der Agnaten vornehmen. Adam Rudolf deutete an, der Vetter Wolf Dietrich Frhr. v. Verschuer habe ebenfalls einen Vergleich anbieten lassen; er habe sein Verhalten Verschuer erklärt, auch wenn dessen Rechtsvertreter anderes behaupte.41 Damit wurde der Prozess Trott contra Trott/Verschuer zum Prozess Trott contra Verschuer. Karl erklärte die Verschuer nun zu den Alleinschuldigen. Es gelang ihm bis 1728, mit welchem Mittel auch immer, die Verwandten Trott zu Libenz und Schwarzenhasel auf seine Seite zu ziehen, insbesondere aber die verwitwete kinderlose Kusine Hedwig Gertrud v. Buchenau geb. Trott, die in bescheidenen Umständen zu Spangenberg lebte und nun 1726 ihren Verkauf von 1696 als unrechtmäßig erklärte.42 Außerdem erreichte Karl Trott 1734, 37 38

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StAM Bestand 340 Trott zu Solz Karton 2, Blauer Umschlag: „FamilienNachrichten et Personalia“, Bl. 19–26 Personalia. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, 10.12.1727 Schreiben an Kasseler Regierung, Q 72 B; StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 100 bzw. Nr. 109, Vergleich 16.10. 1728 in: „Kurtzer Auszug“ (wie Anm. 13), S. 8. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Karton 2, Bl. 19–26, hier Bl. 23: Leichenpredigt. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz Karton 2 (Personalia Adam Rudolf in einem blauen Umschlag „FamilienNachrichten et Personalia“, Bl. 19–26, hier Bl. 23). Ich erinnere auch an das Urteil Hugo Volprechts in seinem Testament. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, Schreiben 19.11.1729, Q 86. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 97, Q 128: Die Güter gehörten alle zum Lehen; sie hätte nichts verkaufen dürfen. Eigenartig ist das Verhalten Karl Trotts nach dem Tod der Hedwig Gertruds (13.12.1728). Erst erklärte er sich (angeblich) zum einzigen Erben, dann nur zum Lehnsfolger; vgl. StAM Bestand 340 Trott zu Imshausen Nr. 100, „Kurtzer Auszug“ (wie Anm. 13).− Eigenartigerweise gibt es von 1726 einen Brief Wolf Dietrichs v. Verschuer an Hedwig Gertrud, mit dem er ihr Gertreide sowie Geld übersendet und zusagt, beim Fürsten Nassau-Oranien etwas für sie erreichen zu

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von Fulda mit dem Imshausener Anteil am Trottenwald belehnt zu werden. Ein Prozess der Verschuer gegen diese Belehnung beim RHR endete 1744 mit ihrer Niederlage.43 Bei der nächsten Belehnung in Kassel 1738 aber wurde Karl Trott nicht berücksichtigt,44 da er nach Meinung des Kasseler Lehnhofs nach wie vor nicht zur Trottschen Lehnsgemeinschaft gehörte.45

1.4 Ein Vergleich trotz gewonnenen Prozesses

Der 1724 wieder aufgenommene Prozess vor dem RKG46 endete im Lehnsstreit um Imshausen 1743/1744 mit dem Erfolg Karl Trotts gegen die Söhne Wolf Dietrichs, Karl Wilhelm Frhr. v. Verschuer und Otto Gottfried Frhr. v. Verschuer, wohl dem aktiven Part auf Verschuerscher Seite.47 Verschuer musste das Lehen Imshausen samt dem anteiligen Trottenwald an Karl Trott abtreten. Das maßgebliche Urteil stammt von 1743, es basierte auf der Anerkennung Volperts als rechtmäßigen Lehnsfolgers sowie der Rechtsan-

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wollen (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 80). Näheres ist mir unklar: War dies eine Verpflichtung aus früheren Jahren? Wollte er ihre Absage an ihn rückgängig machen? 1734 hatte der fuldische Lehnhof betr. den Imshauser Anteil am Trottenwald zugunsten Trotts entschieden (StAM Bestand 255 RKG T Nr. 51, Q 5 Bl. 34–53). Dagegen hatte sich Verschuer vergeblich an den RHR gewandt (StAM Bestand 340 v. Trott zu SolzImshausen Nr. 132, 70, 81); StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 111 und 132; StAM Bestand 95 Nr. 2370. Karl Trott hatte in den Prozess eine fuldische Belehnung von 1667 eingebracht, in der Volpert mitbelehnt wurde. Wolf Dietrich v. Verschuer war 1737 gestorben. Er war seit 1714 der Senior des Trottschen Lehnsverbandes; vgl. z. B. StAM Bestand 95 Nr. 2372, Fasc. X Bl. 3f. Vgl. auch den Prozess vor dem OAG Kassel und Urteil 1739 (StAM Bestand 55 Nr. T 51). Karl Trott hatte im Laufe des Prozesses zudem seine Position radikalisiert. Sein Vater habe als Agnat nicht in den Verkauf von Solz eingewilligt, daher sei der Verkauf rückgängig zu machen, wenn die männlichen Nachkommen des Verkäufers ausstürben (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109). Der Prozess verlief nicht ohne diffamierende Untertöne gegen Verschuer, die sich in die Familie eingeschlichen hätten (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109, in: „Contra praetensam resitutionem in integrum“). Otto Christoph galt als ein Fremder („als einem frembden einkömling, daß dieser frembde ihme seine güther mit gewaldt und betruh hinweg genommen“, so „Implorationsschrift“ Verschuer mit Randbemerkungen Karl Trotts 1743, in: StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 109), „ein holländischer Schelm“, so beschimpfte ihn eine verbauerte Kusine; vgl. Wunder: Neuer Adel (wie Anm. 19), S. 333, Anm. 24; er stand bis 1703 in holländischen Diensten. Verschuer war in Solz geboren, sein Vater war ein holländischer Offizier, dessen Mutter eine Trott zu Lispenhausen war, und hatte mittels einer List eine Trott zu Solz zur Ehefrau gewonnen. Der Kauf von halb Solz 1692 wurde von dem einen Verkäufer, Philipp Friedrich Trott, der seine Güter heruntergewirtschaftet hatte und hochverschuldet war, als Betrug dargestellt (Verschuer habe sich mit Alkohol die Zustimmung erkauft) – die hessische Regierung hatte allerdings Verschuer gestützt und ihn 1692 mit Solz belehnt; vgl. Wunder: Neuer Adel (wie Anm. 19), S. 332–334; vgl. auch Anm. 26. StAM Bestand 340 v. Verschuer Nr. 142 und Nr. 180.

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schauung, dass alle Güter in Imshausen Teil des Mannlehens seien, der Gang zum RKG also gerechtfertigt gewesen, der Verkauf von Gütern als Allod und Erbe48 1696 betrügerisch oder irrtümlich vorgenommen worden sei. Aber den Verschuer wurde freigestellt, gegebenenfalls den Beweis des rechtmäßigen Besitzes von Allod zu erbringen. Volperts Lehnsverzicht sah das RKG nur als bedingt an, gültig für seine Brüder und deren Söhne, nicht aber für den Fall, dass diese ohne männliche Nachkommen stürben. Formfehler wie Nicht-Nachsuchen der Belehnung hoben seine Mitgliedschaft im Lehnsverband nicht auf.49 Verschuer wurde zur Rückzahlung der Hälfte aller Einnahmen zwischen 1694 und 1728 und der gesamten Einnahmen seit 1728 verurteilt.50 Eine Appellation dagegen wurde 1744 zurückgewiesen und als missbräuchliche Gerichtsnutzung mit Geldstrafen belegt.51 Bis zur Umsetzung des Urteils vergingen weitere vier Jahre. Verschuer versuchte die Exekution möglichst hinauszuzögern, vor allem aber den Allodvorbehalt zu nutzen. Karl Trott nahm an, dass die Verschuer genügend Einfluss bei den Landgrafen hätten, um dort Entscheidungen zu ihren Gunsten zu erreichen.52 Immerhin war Otto Gottfried v. Verschuer damals schon Assessor bei der Regierung. Den Verschuer kam zugute, dass der von der Regierung eingesetzte Exekutionskommissar zur Umsetzung des RKG-Urteils – Hartmann Christoph Karl Frantz, seit 1741 Reservatenkommissar zu Rotenburg53 – seine Befugnisse überschritten und offensichtlich auch verschuersche Lehen von Braunschweig und Fulda – Zehnte und Wald – Karl Trott eingeräumt hatte, 48 49

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In den Akten ist zuweilen zusätzlich auch von Weiberlehngütern (fuldische Lehen) die Rede; zuweilen wird nur von Allod geschrieben. Dies erinnert an eine Auskunft des hannoverschen Lehnsfiskals an die dortige Regierung 1755 auch im Fall Karl Trotts: Solange ein Vasall nicht „per sententiam“ wirklich „priviert“ sei, stehe er in Mitbelehnschaft; Fehler könnten vom Lehnsherrn korrigiert werden (NHStA Hannover Bestand Cal.Br. 15 Nr. 4083, v. Trott Lehn). StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 93, Urteil RKG 27.3.1743 (im Spezialprotokoll dargestellt); StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 99 (Urteil gedruckt). Der Verlust für Verschuer belief sich auf die Hälfte des Ertrages von Solz, er wurde durch die Erbschaft Libenz zum gleichen Zeitpunkt fast ausgeglichen, so dass der Reinertrag aus dem Rittergut Solz auf nur 88 % der Zeit vor 1748 sank: Abgang Imshausen 693 Reichstaler 8 Albus 9 Heller, Zugang Libenz 525 Reichstaler 26 Albus 11 Heller (StAM Bestand 340 v. Verschuer Nr. 380). StAM Bestand 95 (Fulda Lehen) Nr. 2370. Möglicherweise gibt es ein Senatsprotokoll dieses Prozesses (Bundesarchiv Berlin); dies konnte ich nicht rechtzeitig klären. Karl Trott an seinen Advokaten Grau 29. 11.1744 (StAM Bestand 340 v. Trott zu SolzImshausen Nr. 104). Er nennt insbesondere die Witwe Wolf Dietrichs v. Verschuer (Die Generalin) und Beziehungen des Fürsten (des Statthalters oder des Königs?) zum Kaiser. Otto Gottfried war 1741 Assessor geworden, konnte aber noch Reichsgerichte besuchen, 1744 erhielt er die halbe Regierungsratsbesoldung, am 22.12.1747/2.1.1748 wurde er zum Regierungsrat bestellt (StAM Bestand 340 v. Verschuer Nr. 177). Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlagen zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte, Bd. 4, Göttingen 1784, S. 162.

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wogegen Verschuer erfolgreich Klage beim RKG erhoben hatte (Urteile 1746 und 1747), mit der Folge, dass die Verschuer bei der hessischen Regierung die Ablösung von Frantz durch den Stadtschultheißen von Allendorf Johann Dietrich v. Hagen († 1757) erreichten.54 Zudem wurde Karl Trott zur Rückzahlung unrechtmäßig bezogener Einnahmen aus den verschuerschen Lehen verpflichtet. Ein Rückschlag für Karl war die Tatsache, dass Verschuer in das ihm zustehende Allod, die Bauerngüter, „immittirt“ wurde, er also den Prozess um das Allod offensichtlich gewonnen hatte.55 Da Trott zu Zahlungen nicht in der Lage war, nahm v. Hagen gegen ihn eine Exekution vor.56 Der Prozess um das Lehen Imshausen war zwar für den Kläger Karl Trott zu Imshausen erfolgreich zu Ende gegangen – dass er nun ein eigenes Lehngut besaß, war für ihn unschätzbar −, aber das Übermaß an Exekution und die Tatsache, dass es den Verschuer gelang, den rechtmäßigen Besitz der Bauerngüter nachzuweisen, brachte für Karl Trott in eine schwierige Lage, so dass ein Vergleich zwingend wurde. Wer als Vermittler auftrat, ist unbekannt. Wie so oft während oder nach Prozessen unter verwandten Adligen schlossen Otto Gottfried Frhr. v. Verschuer und Karl Trott am 4. April 1748 einen Vergleich, fast überstürzt, denn sie lagen mitten im Streit um die Exekution: Verschuer trat alle Imshäuser Güter, also auch die Bauerngüter, mit Zubehör ab und zahlte als Entschädigung für entgangenen „Nutzen“ 1500 Reichstalern sowie kleinere Beträge an Früchten und Gefällen, dafür verzichtete Trott auf alle sonstigen Forderungen an ihn sowie alle Prozesse in Kassel, Fulda, Wetzlar oder Wien. Verschuer kam also sehr gut weg, wenn man z. B. die 1738 erwogenen Forderungen über 30 589 Reichstalern 11 Albus 4 Heller (1738) bedenkt.57 Trott und Verschuer erkannten einander als Mitglieder der Lehnsgemeinschaft an.58 Dass am Ende ein Ausgleich stand, war für den sozialen Frieden in der Lehnsgemeinschaft wie auch unter den benachbarten Gutsbesitzern vorteilhaft.

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StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 105, insbesondere der Brief der Brüder Verschuer an die Regierung (in Kassel empfangen 2. 9.1747). Sie bezifferten den Schaden auf 2000 Reichstalern. Ich fand kein Urteil zur Rückgabe der Bauerngüter, auch keine sonstigen Unterlagen dazu. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 106, Schreiben v. Hagens vom 28.3.1748. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 103. Diese Unterlagen sind wohl Unterlagen Karl Trotts für den Advokaten. 1745 berechnete Trott erneut seine Verluste und teilte sie dem Exekutionskommissar mit; eine Gesamtberechnung seiner Forderungen 1745 fehlt; vgl. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 98, Q 156–162. StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 169, Vergleich 4.4.1748.

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1.5 Zur Analyse des Lehnsprozess Imshausen

Grundlegend für das Verständnis von Prozessen Adliger um Besitz59 ist immer die Tatsache, dass ein Adliger ein privilegiertes Rittergut besaß und dies seine gesellschaftliche Spezifität ausmachte; das Gut bildete seine einzige sichere Lebensgrundlage. Insofern sind solche Prozesse typisch für Adlige, aber auch andere privilegierte Personen mit Grundbesitz als Existenzgrundlage. Die Hartnäckigkeit, mit der Karl Trott den Prozess führte, erklärt sich aus dieser Bedeutung. Vermutlich stand Karl Trott als Schreckbild der Vetter Philipp Friedrich Trott vor Augen, der seit 1692 mit seiner Familie ohne Gut unstandesgemäß lebte.60 Für den dargestellten Einzelfall lässt sich festhalten: a) Bestimmend für den Prozess und seine Ausgänge 1744 und 1746/47 war der für Rittergüter typische Mischbesitz aus Lehen, Allod und Erbe, deren Erwerb zu unterschiedlichen Zeiten, sei es im Erbweg oder durch Kauf, und deren Nutzungsformen die jeweilige rechtliche Zuordnung oft schwer möglich machte. Der Prozess war sowohl ein Prozess um die Berechtigung zur Lehnsfolge wie um den Rechtscharakter des Imshausener Besitzes. b) Nur indem das RKG den gesamten Besitz oder doch den größeren Teil zum Lehen erklärte, war es zur Annahme der Klage berechtigt. Wieweit diese Anfangsentscheidung den Prozessgang seit 1724 bis zum Urteil von 1744 präjudizierte, muss offen bleiben. c) Mangels Unterlagen bleibt offen, welche Gründe das RKG dazu bestimmten, dem Allodvorbehalt von 1744 durch Entscheidungen 1746/47 nachzugeben, in welchem Umfang zudem, ist unbekannt. Daher ist es auch unklar, ob damit die Anfangsentscheidung hätte gefährdet werden können. d) Der Prozess um Lehen und Allod spielte sich wie oft innerhalb der Lehnsgemeinschaft ab, in diesem Fall zwischen den verarmten, politischen einflusslosen Trott61 und den wohlhabenden, politisch einflussreichen Verschuer; am Ende stand ein Vergleich. Das erinnert an die Situation der oberhessischen v. Nordeck zu Rabenau (Hessen-Darmstadt), die 1784 in einem Schreiben an 59

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Die Durchsicht vieler Akten in Adelsarchiven vermittelt den Eindruck: Prozesse um Besitz sind ein wichtiger Teil jeden Adelsarchivs, Prozesskosten sind ein regelmäßiger Ausgabeposten in den Gutsrechnungen. Dessen Witwe gelang es allein mit Hilfe ihrer Verwandten, 1750 wenigstens ein Bauerngut in Vernawahlshausen als Afterlehen von Verwandten für die Söhne zu erwerben (StAM Bestand 49 d Hofgeismar Nr. 367 Rectific. Repositur Gde Vernawahlshausen). Karl Trott klagte sehr bewegt über den Schaden, den ihm die Verzögerung der Exekution bringe. Er schrieb am 29. 11.1744 an seinen Advokaten Grau, wenn ihm der Regierungsrat Ries zu Geduld rate, „kann ich auch davon mit meiner Frauen und 6 Kinderen nicht leben“ (StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 104). 1747 schrieben die Gebrüder Verschuer vom „bekannten Unvermögen“ Karl Trotts, den Schaden von 2000 Reichstaler zu ersetzen, den Frantz verursacht habe (präsentiert Kassel 2.9.1747, StAM Bestand 340 v. Trott zu Solz-Imshausen Nr. 105); vgl. Anm. 53.

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ihren Lehnsherrn, den Fürsten von Nassau-Weilburg, dessen Zustimmung zu einem Familienpakt beantragten: „Seit Menschen Gedencken ja solange man nur Nachrichten vorfindet, hat in unserer Familie beständig Zwiespalt Zank und Uneinigkeit geherrschet. So oft einer aus der Familie ohne lehensfähige Descendenz mit Tode abgegangen, sind über die Absonderung des Lehen vom Erbe weitläufige und kostspielige Prozeße entstanden.“62 e) Der Gang zum RKG lohnte sich für Volpert und seine Nachkommen, weil sie erreichten, dass die hessische Rechtsprechung von Lehnhof und Oberappellationsgericht vom RKG als dem Fürstenstaat übergeordnetem Gericht wenigstens teilweise aufgehoben wurde. Die Reichsgerichte wurden als Rechtsinstitutionen genutzt. Der landsässige Adel sah sich selbstverständlich, wie andere fürstliche Untertanen auch, als Teil des Reiches.

2. Prozesse um Rechte der Korporation Ritterschaft Der Prozess der Obervorsteher und der des Erbmarschalls – genauer gesagt, waren es Anläufe zu Prozessen − betrafen Rechte der Korporation hessische Ritterschaft und richtete sich gegen die Herrschaftswillkür der Landgrafen gegenüber ritterschaftlichen Einrichtungen.

2.1 Der Prozess der Obervorsteher von Kaufungen vor dem RHR gegen die Landgrafen wegen eines landgräflichen Damenstifts (1726–1729)63 2.1.1 Voraussetzungen

1726 griffen die Landgrafen Karl von Hessen-Kassel und Ernst Ludwig v. Hessen-Darmstadt in die Befugnisse der Ritterschaft über ihr Stift Kaufungen (in Hessen-Kassel) ein. Dieses gehörte seit der Säkularisierung 1527 der Ritterschaft. Seine Einkünfte dienten seit 1532 der Finanzierung einer „Ehesteuer“ für Töchter des Adels in Höhe von 100 Gulden (seit 1700 200 Gulden). Auf alle drei Jahre stattfindenden Rechnungstagen prüften landgräfliche Beamte und Ritterschaftsvertreter jeweils die Rechnungen, erörterten Probleme des unter der Leitung von vier Obervorstehern stehenden Stifts und trafen Entscheidungen, die die Landgrafen jeweils bestätigen mussten.64 62 63

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HHStAW Bestand 121 v. Nordeck Nr. 45, Bl. 18 § 1. Die Akten sind allein in Akten der landgräflichen Regierungen vorhanden, merkwürdigerweise nicht, soweit ich bisher sehe, in den Akten des Stiftes, auch nicht des Adels. In den Akten des RHR in Wien findet sich nur eine Spur; vgl. Anm. 71. Vgl. den Überblick zur Geschichte des Stiftes bei Dieter Wunder: Das ritterschaftliche Stift Kaufungen 1532–1810, in: 1000 Jahre Kaufungen. Arbeit Alltag Zusammenleben,

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2.1.2 Einleitung des RHR-Prozesses

Als die Einkünfte aus Kaufungen Ende des 17. Jahrhunderts reichlicher flossen, entwickelten die Landgrafen Karl von Hessen-Kassel und Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt seit 1705 den Plan, aus den Einkünften ein Damenstift für „arme Töchter“ „vom Adel“ einzurichten,65 d.h. das Stift entgegen der Festlegung von 1532 nicht mehr primär zur Finanzierung der „Ehesteuer“ zu nutzen, sondern das Stift zum Lebensort einer begrenzten Zahl von adligen Töchtern zu machen, etwa wie das Stift Fischbeck oder Obernkirchen in Hessisch-Schaumburg. Diese Absicht stieß auf den anhaltenden Widerstand der Ritterschaft. Nach 21jährigem Streit mit der Ritterschaft gaben die Landgrafen auf dem Rechnungstag 1726 am 17. Juli das Statut des Stifts bekannt und wollten so die Umsetzung ihres Vorhabens beginnen.66 Zwei Tage später, am 19. Juli, kündigten die Obervorsteher Johann Volprecht Riedesel, Bernhard Walrab Keudell, Karl Ludwig Schenck v. Schweinsberg und Georg Friedrich v. Breidenbach an, den RHR anzurufen.67 Sie verlangten ein Mandat des RHR, um die hessischen Landgrafen an der Einrichtung des adeligen Damenstifts zu hindern. Das Stift sei 1532 der Ritterschaft von Landgraf Philipp geschenkt worden; diese „Fundatio“ zu verändern verstoße gegen den Münsterschen Frieden von 1648, der den säkularisierten Stiften den Zustand von 1624 garantiere.68 Sie sahen insbesondere die „Ehesteuer“ für ihre Töchter in Gefahr, wohl auch die Kreditmöglichkeiten, die das Stift seit dem 16. Jahrhundert dem Adel bot. Unausgesprochen befürchteten sie, dass der Ritterschaft ihr organisatorisches Zentrum verloren gehen werde, denn die Obervorsteher stellten zusammen mit dem Erbmarschall die Führung der Ritterschaft. In

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hrsg. v. Gemeindevorstand der Gemeinde Kaufungen und Sparkassenstiftung Landkreis Kassel-Kultur, Kaufungen 2012, S. 28–37, 596f. Diese Darstellung vereinfacht den Ablauf der Ereignisse. Ursprünglich wollte Ernst Ludwig eine Ritterschule gründen, erst 1718 schloss er sich Karls Vorhaben an; vgl. Wunder: Fürstenmacht (wie Anm. 5). Zum Streit vgl. Wunder: Fürstenmacht (wie Anm. 5). Die Einzelheiten werden hier nicht dargestellt; vgl. StAM Bestand 5 Geh. Rat Nr. 18518, Bl. 709–723 und 724–732; Frhr. Wilfried Schenck zu Schweinsberg-Wäldershausen: Der Ritterschaftliche Kaufunger Stiftsfonds (Großherzogtum Hessen), Darmstadt 1910, S. 106–114. Die Kosten für ein Stift von 18 Töchtern mit Äbtissin und Dekanin wurden auf 7752 ½ Gulden veranschlagt, aus den Einnahmen des Stifts blieben somit für andere Zwecke wie die Ehesteuer 4711 ½ Gulden übrig; vgl. StAM Bestand 5 Geh. Rat Nr. 18518, Bl. 738f. Nach dieser Rechnung wäre die Finanzierung der Ehesteuer nicht gefährdet gewesen. StAM Bestand 5 Geh. Rat Nr. 18520, Bl. 106–108: am 22.7.1726 wurde die Appellation notariell beglaubigt; ebd., Bl. 145–148. Ernst Ludwig berichtete mit Schreiben vom 9.5.1727, einige Adlige hätten „privatim“ erklärt, sie hätten keinen Anteil an der Klage (ebd., Bl. 344). Der Landgraf von Hessen-Darmstadt bzw. sein zuständiger Beamter hatte eine Klage vor Reichsgerichten befürchtet; vgl. StADa Bestand E 1 K Nr. 140/5–6, 1723, Bl. 44. Landgraf Karl hatte dies nicht bekümmert. Osnabrücker Friedensvertrag Art. V § 25 (Internetportal „Westfälische Geschichte“: http://www.westfaelische-geschichte.de/que740).

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Kaufungen konnte sie sich relativ unkontrolliert von den Landgrafen treffen. In der Auseinandersetzung der hessischen Ritterschaft mit den Landgrafen von Hessen-Kassel in den Jahren 1639 bis 1655 waren die Obervorsteher das Zentrum des Widerstandes.69 Die Empörung beider Landgrafen – besonders Landgraf Karls – über das Vorgehen der Obervorsteher war groß, es sei ein „verhalten seditionis, er wäre zu sofortiger ahndung befugt gewesen“.70 Allerdings gelang es den Landgrafen nicht, die Klage dadurch abzuweisen, dass sie den Obervorstehern vorwarfen, keine Legitimation durch die Ritterschaft zu besitzen. Der RHR verlangte am 12. September 1726 binnen zwei Monaten eine Stellungnahme zur Klage.71 Genaueres über den Prozessverlauf ist nicht bekannt. Der letzte Brief zum Prozess stammt vom 7. Juni 1729. Der Kasseler Geheime Rat erkundigt sich darin beim Agenten Daniel Hieronymus v. Praun in Wien nach dem Stand der Angelegenheit.72 Die Landgrafen hofften auf Grund von dessen Bericht auf eine für sie günstige Entscheidung. Die Obervorsteher gingen noch im Juli 1729 von der eventuellen Fortführung des Prozesses aus.73 Zum Ende des Prozesses fanden sich bisher keine Akten.74 Offensichtlich ließen beide Parteien den Prozess stillschweigend ruhen. Die Obervorsteher hatten erreicht, dass die Landgrafen vom Vorhaben Damenstift abließen.75 Die Landgrafen verhinderten allerdings die Kostenübernahme für den Prozess durch das Stift, obwohl die Obervorsteher dies jahrelang versuchten.76 69 70 71

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Armand Maruhn: Necessitäres Regiment und fundamentalgesetzlicher Ausgleich. Der hessische Ständekonflikt 1646–1655 (QuuFhG 139), Marburg 2004. StAM Bestand 5 Geh. Rat Nr. 18520, Bl. 176−178: Karl an Ernst Ludwig 2.7.1726. Ebd., Bl. 237–270. Auch am 8.10.1726 beriet das Plenum des Rates (ÖStA HHSTA, RHR, Resolutionsprotokolle, saec. XVIII, Bd. 65, Bl. 192, 248). Weiteres ist derzeit nicht zu finden (freundliche Auskunft von Tobias Schenk). StAM Bestand 5 Geh. Rat. Nr. 18518 Bl. 752; StAM Bestand 4 e Nr. 697. Im Aktenverzeichnis nach dem Tode Prauns wird der Prozess erwähnt, ohne Kommentierung (StAM Bestand 4 e Nr. 701 und Nr. 759). Praun (1685–1742) war von 1712 bis 1742 Agent Hessen-Kassels (ebd., Nr. 724 und 759), auch Agent anderer Höfe (z. B. Hessen-Darmstadt und Hessen-Rheinfels; vgl. HADIS StAD). Zu Praun vgl. F. v. Praun: Aus der Geschichte des fränkisch-braunschweigischen Geschlechts Praun/v. Praun V, in: Genealogie XVIII (1985), S. 506–514, hier S. 503. StAM Bestand 304 Kaufungen Nr. 11. Nach den Erledigungsvermerken im Nachlass des Agenten gab es keine weitere Befassung durch den RHR. In StAM fehlen die Akten des Geheimen Rats ab Mitte 1729. Allein die zur Visitation Kaufungens 1729 sind erhalten, ohne jede Erwähnung des Prozesses. Es gibt ein Kasseler „Conceptschreiben“ vom 23.9.1727 an Ernst Ludwig, in dem vom Misserfolg der Obervorsteher ausgegangen und daher ein Inkraftsetzen des Vorhabens vorgeschlagen wird; vgl. StAM Bestand 5 Geh. Rat Nr. 18520, Bl. 340. Dieser Text steht isoliert, kann daher nicht gedeutet werden. Im Kaufunger Archiv war Mitte des 18. Jahrhunderts allein die kaiserliche Aufforderung an die Landgrafen zu einem Bericht verzeichnet; vgl. StAM Bestand 304 Nr. 110, Repertorium, wohl nach 1744, S. 469. Dies war oft der eigentliche Zweck solcher Prozesse. Für Hinweise zu dieser Erklärung des Endes des Prozessbegehrens danke ich Siegrid Westphal (Osnabrück). Visitationsbericht des kasselischen Beamten Grusemann 1732 (StAM Bestand 22 a Nr. 11

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2.1.3 Die Beendigung der Auseinandersetzung

Dieses Ende des Prozesses mag auf verschiedene Umstände zurückzuführen sein. Möglicherweise erkannten beide Seiten rechtzeitig, dass bei einer genaueren Prüfung der Klage durch den RHR das hessische Eigentum am Stift gefährdet sein könnte, weil das Reichsstift entgegen einem Urteil des RKG von 1537 säkularisiert geblieben war.77 Vielleicht wollten die Landgrafen auch der Ritterschaft entgegenkommen. Schließlich hatte in der Schlussphase der Regierungszeit des erkrankten Karl († 1730) sein Sohn Wilhelm VIII. zunehmend die Statthaltergeschäfte übernommen. Ein Vergleich zum Stift konnte für den Regierungsbeginn Friedrichs I. von Schweden (1730–51) und Wilhelms VIII. als Landgrafen von Hessen-Kassel die Stimmung der Ritterschaft verbessern und die Finanzierung der Hanauer Erbschaft durch den Landtag erleichtern; bezeichnenderweise erfüllte Friedrich I. bei seinem Besuch in Kassel 1731 viele Forderungen der Stände. Ein Landtag wurde „nur zur Behandlung von Beschwerden und Wünschen der Landstände anberaumt“78 . Ernst Ludwig zu Darmstadt war das Stift nie ein Herzensanliegen gewesen. Nach Prozessende führten die Beratungen auf den Rechnungstagen 1732 und 1735 zu einem Kompromiss der Landgrafen Wilhelm VIII. und Ernst Ludwig mit der Ritterschaft − wieder also ein Vergleich nach einem Prozess, auch wenn dieser nie so bezeichnet wurde. Das Stift verblieb in den Händen der Ritterschaft, aber diese war nun bereit, auf Antrag armen adligen Töchtern und Witwen eine dauerhafte oder einmalige „Steuer“ aus den steigenden Einnahmen zu zahlen. Zum Kompromiss gehörte auch die Aussicht der Ritterschaft, den Anspruch auf die „Steuern“ an die Zugehörigkeit zur Ritterschaft zu binden, und zwar derart, dass ein Geschlecht im Mannesstamm der Ritterschaft Hessens zur Zeit Philipps angehört haben musste79 , womit der hessische Adel hinfort seine Exklusivität begründete. Offensichtlich konnte die hessische Ritterschaft allein mittels eines Reichshofratsprozesses ihre unabhängige Position qua Stift Kaufungen gegen die

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Kaufungen/Wetter Paket 6); hessen-kasselische Instruktion für Abhörung 1738–40: Prozesskosten, wenn angeführt, sind zu streichen (StAM Bestand 22 a Nr. 11 Kaufungen/ Wetter Paket 5). Dieses Vorgehen der Landgrafen ist der einzige Anhaltspunkt dafür, dass die Obervorsteher mit ihrem Antrag beim RHR gescheitert waren. Wilhelm Dersch: Hessisches Klosterbuch. 2. Aufl., Marburg 2000, S. 99; Wilhelm Wolff : Die Säkularisierung und Verwendung der Stifts- und Klostergüter in Hessen-Kassel unter Philipp dem Grossmütigen und Wilhelm IV. Ein Beitrag zur deutschen Reformationsgeschichte, Gotha 1913. Bei Christoph Rommel: Geschichte von Hessen. Bd. 3, Marburg 1827, Anmerkungen S. 318, findet sich in einer Urkunde eines Herzogs von Sachsen 1706 der Hinweis: „ein Kaiserliches freyes adliches weltliches Stift“. Günther Hollenberg (Hrsg.): Hessen-Kasselische Landtagsabschiede 1649–1798 (VHKH 48, 3), Marburg 1989, S. XXIV. Entgegen der bisherigen Annahme handelte es sich hierbei um kein damals gegebenes Zugeständnis der Landgrafen. Erst 1769 stimmten die Landgrafen einer solchen Regelung zu. Näheres dazu in Wunder: Adel (wie Anm. 5).

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Landgrafen, vor allem Karl, behaupten; nur dieser Weg sicherte weiterhin ein eigenständiges Handeln der Ritterschaft, was existentiell für diese war. Der Besitz des Stiftes war für die Ritterschaft Teil der hessischen ,Verfassung‘, die von wesentlichen Kompromissen zwischen Landgrafen und Ritterschaft geprägt war; Art. V des Osnabrücker Friedensvertrages (als Teil des Münsterschen), auf den sich die Ritterschaft zur Sicherung ihrer Position berief, wurde derart als Teil dieses Kompromiss gesehen. Der Weg zum RHR war daher selbstverständlich, andere Rechtsgründe für die Klage mussten nicht geprüft werden, das „privilegium de non appellando“ von 1650 war hier irrelevant. Den Landgrafen wurde mit dem Prozess schmerzhaft vor Augen geführt, dass ihre Souveränität begrenzt war.

2.2 Der Prozess Johann Wilhelm Riedesels mit den Landgrafen um die Verleihung des Erbmarschallamtes vor dem RHR (1777–1781)80 2.2.1 Das Erbmarschallamt

Ebenfalls vor den RHR trug Johann Wilhelm Frhr. Riedesel zu Eisenbach auf Burg Lauterbach (Hessen-Darmstadt) (1705–1782)81 seine Klage gegen die 80

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Siehe Genalogische Skizze, Abb. 2. Die Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf die Akten des Geschlechts Riedesel (StADa Bestand F 27 A Nr. 75/18–22, insgesamt 191 nummerierte Akten – die Nummerierung findet sich als einfache Zahl ohne weitere Kennzeichnung jeweils unten auf der ersten Seite der nummerierten Akte; die Nummern werden wiedergegeben mit Unterstreichung −, oft aus mehreren Schriftstücken bestehend; die Bestände 20–22, im Wesentlichen ab 1780, sind unnummeriert). Die Regierungsakten der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt sind im 2. Weltkrieg vernichtet worden. Die Landtagsakten Darmstadt geben zum Streit kaum etwas her (StADa Bestand E 2 Nr. 49/1, Landtag zu Butzbach 1776 (Landständ Akten) 1. Bd. (A–Z), nach Akte (Q) ein pro memoria Riedesel, dann Vorgänge bis Akte (V)), sie gehen nicht über die Riedeselakten hinaus. In den Regierungsakten Kassel finden sich nur dürftige Spuren (StAM Bestand Protokolle II Kassel Nr. C e E Lehnprotokoll 5 u. 6, 1776 S. 136; StAM Bestand 17 c Nr. 7063, Schreiben Friedrichs II. an Ludwig IX. 17.5.1776; StAM Bestand 4 c Nr. 216). Im Verzeichnis der Wiener Akten ist der Streit bisher nicht aufzufinden, wohl wegen der bisher unzureichenden Erfassung der Akten des RHRs. Über den Streit hat zuletzt sehr kurz: Karl Murk (Hrsg.): Hessisch-Darmstädtische Landtagsabschiede 1648–1806 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N.F., Bd. 22). Darmstadt 2002, S. 522, Anm. 43. Der Streit hatte einen Vorlauf im Resignationswunsch des bisherigen Erbmarschalls Georg Friedrich zu Ludwigseck (1764), bei dem Johann Wilhelm als Sprecher auftrat und diese Resignation zum Ärger seines Ludwigsecker Vetters zweimal verhinderte (1764, 1772). Der Verfasser bereitet zu beiden Auseinandersetzungen eine ausführlichere Darstellung vor in Wunder: Adel (wie Anm. 5). Seine auf das RKG bezogene Biographie bei Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 26 II,1: Biographien), Köln 2003, Biographie 39, S. 389–405. Die Stadt Lauterbach war reichsritterschaftlich, die Cent Lauterbach hessen-darmstädtisch.

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Landgrafen, die ihm die Verleihung des samthessischen Erbmarschallamtes verweigerten. Der Erbmarschall bildete zusammen mit den Obervorstehern die Führung der hessischen Ritterschaft. Dieses Amt war seit 1429 im Besitz des Geschlechts Riedesel zu Eisenbach, jeweils an den Senior des Geschlechts verliehen. Wie ähnliche Ämter war es wohl schon im 15. Jahrhundert ein funktionsloses Amt geworden.82 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde der Erbmarschall „Haupt“ der Ritterschaft. Die genaue Entwicklung dazu ist bisher nicht erkennbar, sie hängt wohl mit der Teilung der Landgrafschaft nach Landgraf Philipps Tod 1567 zusammen.83 Für die Landgrafen repräsentierte der Erbmarschall hinfort die Ritterschaft, insbesondere bei der Einberufung eines Landtages: Er wurde deren Direktor, er leitete ihn also, er war seither zudem Vorsitzender der Kurie der Prälaten und Ritter.84

2.2.2 Die Auseinandersetzungen vor dem Prozess 1776–1777

Nachdem Johann Wilhelm Riedesel – ehemaliger Assessor am RKG, osnabrückischer Geheimrat – im November 1775 Senior des Geschlechts Riedesel zu Eisenbach geworden war und sich um die übliche Belehnung mit dem Erbmarschallamt bemühte, kam es zu einem einzigartigen Vorfall in der hessischen Belehnungsgeschichte. Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt – als damaliger Senior des Landgrafenhauses für die Belehnung mit diesem Amt zuständig – setzte im Februar für den im Juli 1776 einzuberufenden Landtag den Obervorsteher und Hofrichter Georg Friedrich Wilhelm v. Breidenbach (1733–1784) als Erbmarschallamtsverweser ein,85 nicht aber Riedesel, der zwar nicht formal belehnt war, aber der zukünftige Erbmarschall sein würde, also nach Herkommen dann auch Verweser hätte sein müssen. Zunächst reagierte Riedesel zurückhaltend; er erhielt von seinem Dienstherrn, dem König von England, die Zustimmung zum Antrag auf Belehnung und 82

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Hermann Riedesel trat zum ersten Mal 1437 mit diesem Titel auf; vgl. Eduard Edwin Becker: Die Riedesel zu Eisenbach: Geschichte des Geschlechts der Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, Erbmarschälle zu Hessen, 1. Vom ersten Auftreten des Namens bis zum Tod Herrmanns III. Riedesel 1500, Lauterbach 1923, S. 170f. 1429 hatte er die Expektanz erhalten; vgl. Eduard Edwin Becker: Die Riedesel zu Eisenbach: Geschichte des Geschlechts der Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, Erbmarschälle zu Hessen, 2. Riedeselisches Urkundenbuch 1200 bis 1500, Lauterbach 1924, S. 114. So die Vermutung Hollenbergs: „Erst nach der Landesteilung [1567] wuchs der Erbmarschall in die Rolle eines Hauptes der gesamthessischen Ritterschaft hinein und auch sein Rang auf den Landtagen erhöhte sich (1584/1586)“; vgl. Günter Hollenberg (Hrsg.): Hessische Landtagsabschiede 1526–1603 (VHKH 48, 5), Marburg 1994, S. 19. Johann Philipp Kuchenbecker: Gegründete Abhandlung von den Erb-Hof-Aemtern der Landgrafschaft Hessen . . . , Marburg 1744, § XVI, S. 145f. Der Erbmarschall verwaltete auch das ritterschaftliche Landtagsarchiv, sein Syndikus war der des Landtages. Die Lehnbriefe machen keine Aussage zur Ausfüllung des Amtes. StADa Bestand F 27 A Nr. 75/18, Q 16 und 17.

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Abbildung 2: Stammtafel Riedesel zu Eisenbach und Skizze zum Prozess Johann Wilhelm Riedesel. (EM = Erbmarschall; Personen mit Lebenszeit ohne Klammer = Teilnahmeberechtigte „Familienkonferenz“ 1776–1782; fett = wichtige genannte Personen)

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reichte diesen im März 1776 ein.86 Das Belehnungsverfahren zog sich hin. Im November 1776 verweigerte Ludwig IX. in Absprache mit dem Kasseler Landgrafen Friedrich II. Riedesel endgültig die Belehnung.87 Als Grund der Verweigerung wurde zuerst das auswärtige Amt Riedesels angegeben, dann aber seine Person. Die Verweigerung war sicherlich weniger auf Ludwig IX. zurückzuführen als auf seinen allmächtigen Minister Friedrich Karl v. Moser, der in den Riedesel die Köpfe der Landtagsopposition gegen die Tabaks- und Kaffeeakzise sah.88 Die Ritterschaft war vorsichtig und distanzierte sich von Riedesel. Die adligen Landtagsdeputierten des darmstädtischen Landtags schrieben Riedesel am 18. Juni 1775: „dann es hatt denen Ständten allzu bedenklich, auch der Sache selbsten nach ihrer jetzigen Lage nicht fürträglich geschienen, ein landständisches Desiderium aus einem Gegenstand zumachen, der zwischen denen beyden Durchl. Häusern als Lehnsherrn und Ew We Hochwohlgeb als Lehnsträgern bestritten wird.“89 Landgraf Ludwig IX. und Moser forderten das Geschlecht zur Präsentation „eines andern tüglichen Lehnträgers aus ihrer Familie“ auf; sie nutzten, weil Riedesel politisch unbequem war, eine bis dahin nie angewandte Formel aus der ersten Belehnungsurkunde für Hermann Riedesel von 1429: „der eldiste von mynen lybeslehinserben, der dartzu toig“, und setzten sich damit über das Herkommen der Belehnung hinweg.90 Man respektiere zwar die Reputation und die Verdienste des Geheimrats, aber er stehe als Person nicht für eine „verträgliche Communication“ zwischen Landesherrn und Ritterschaft. Nähere Erklärungen wurden verweigert. Mit ihrer Antwort wiesen sie auf eine Problematik des Erbmarschallamtes hin, die bis dahin nicht thematisiert worden war. Der Erbmarschall war zwar das Haupt der Ritterschaft, zugleich sollte er aber zwischen Landgrafen und Ritterschaft vermitteln können. Die autonome Amtsübernahme durch den jeweiligen Senior des Geschlechts stellte die

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Mitteilung Riedesels an den Amtmann Wüstenfeld 12.3.1776 (StADa Bestand F 27 A Nr. 75/18, Q 18). Ein Empfehlungsschreiben Georgs II. (August 1776) nützte ihm in Darmstadt und Kassel nichts. Murk: Landtagsabschiede (wie Anm. 80), S. 522, sieht entsprechend der bisherigen Literatur und den Landtagsunterlagen 1776 eine Kampagne der Riedesel gegen die Tabaks- und Kaffeeakzise. Der Landgraf warf ihnen eine Konföderation gegen ihn vor. In der entscheidenden Ministerratssitzung über die Rücksendung von Schreiben der Riedesel, in dem diese die übliche Formel Erbmarschälle verwandten, setzten sich die Moser gegen die anderen durch (Bericht Wüstenfeld 7.9.1776, Q 70). – Zunächst hatte Johann Wilhelm Riedesel die Einsetzung eines Verwesers nicht sonderlich schwer genommen. Unter dem Einfluss des Amtmanns entwickelte er dann eine harte Position. StADa Bestand F 27 A Nr. 75/18, Q 55. Eine Reaktion der hessen-kasselischen Ritterschaft ist nicht bekannt. Ausdruck aus dem ersten Lehnbrief 1429 (Expektanzbelehnung), der dann jeweils wiederholt wurde, vgl. Becker 2 (wie Anm. 82). Der Ausdruck wurde zuerst im Brief des Landgrafen vom 23.1.1977 verwandt; vgl. StADa Bestand F 27 A Nr. 75/18, Q 97.

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Landgrafen vor vollendete Tatsachen. Sie konnten keinen Einfluss auf die Besetzung des Amtes nehmen. Der Lehnssekretär teilte im Auftrag des Landgrafen Riedesel auf seine Anfrage zur Erklärung der Ablehnung am 17. März 1777 mit, über des Regentenamts „Gesetz und Vertragsmäßige Verwaltung Ihro Hochfürstl. Durchl. niemand als Gott zur Rechenschaft sich verbunden erkennen, am allerwenigsten aber ihrer Regenten und FürstenWürde jemals so vergeßen seyn werde, um hierüber vor Ihre eigene Diener zu Red und Antwort sich ziehen zu laßen“.91 Diese Auskunft zeugt vom absolutistischen Herrschaftsverständnis Ludwigs IX. Sie verstieß gegen den 1738 von Darmstadt übernommenen kasselischen Landtagsabschied von 1655, in dem der Ritterschaft zwei Rechtswege gegen den Landgrafen zugesichert wurden: „wan 2°Sachen, dabey Ihre F. G., so von keinem sonderbaren praejudicio sein, vorfallen, das Austrägalgericht“, oder „wan 6°Lehensachen vorfallen, so zwischen Ihrer F. G. alß domino directo und Dero Vasallen entstehen möchten“, das „Lehngericht“.92 Riedesel war über die Ablehnung und deren Begründung aufs Tiefste empört. Er klärte daraufhin mit dem Juristen und Hofrat Pütter in Göttingen mögliche Vorgehensweisen gegen die Landgrafen, schon seit März 1776 hatte er über rechtliche Schritte an ein Reichsgericht nachgedacht.93 Pütters 72seitiges Gutachten vom 6. Januar 177794 bestärkte die riedeselsche Rechtsauffassung, dass das Amt der Familie verliehen werde, ein Verweser nur aus der Familie kommen könne und auswärtige Dienste kein Verweigerungsgrund seien. Aber er hielt weder das Austrägalgericht wegen des Appellationsprivilegs noch das Lehn- oder Manngericht wegen „Vorschuss der Kosten und anderer Weitläufigkeit“ für geeignet, so dass beide im Abschied von 1655 vorgesehenen Rechtswege entfielen. Wenn aber, so Pütter, „Untertanen Weg Rechts versagt oder statt dessen via facti mit Hintansetzung und Kränkung ihres Besitzstandes verfahren wird“, können sie trotz des „privilegium de non apellando“ von 1747 den Weg zu den höchsten Reichsgerichten gehen.95 Pütter empfahl, uns Heutigen fast als Weg durch die Hintertür vorkommend, den Gang zum Lehnhof, der zur Verschickung der Akten an einen auswärtigen Unparteiischen – üblicherweise eine Universität – aufzufordern sei; im Ablehnungsfall könne man wegen Rechtsverweigerung zu einem Reichsgericht gehen.96 91 92 93

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StADa Bestand F 27 A Nr. 75/19, Q 103. Vergleich Landgraf Wilhelms VI. mit der Ritterschaft 2 (b) und 2 (f); vgl. Hollenberg: Landtagsabschiede (wie Anm. 78), S. 56–66, hier S. 60–62. Etwa so, dass er das Austrägalgericht anrufe, das der Darmstädter Landgraf wegen des Fehlens genügend adliger Räte dann nicht besetzen könne, so dass er wegen Rechtsverweigerung klagen könne. StDA Bestand F 27 A Nr. 75/19, Q 94: „Rechtliches Bedenken“. Ebda., S. 67. Ebda., S. 54f.

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In längeren Diskussionen suchte Riedesel mit dem riedeselschen Samtamtmann Georg Arnold Wüstenfeld (Amtmann 1776–1790) und mit seinen Verwandten nach einer Lösung, wobei die in Lauterbach oder der Nähe lebenden Riedesel – Georg Ludwig Riedesel zu Altenburg (1725–1800)97 , ehemals holländischer Major, und Johann Wilhelms Bruder Ludwig, ehemals kasselischer Oberst – die gegebenen Diskussionspartner waren. Sowohl der Rechtsweg wie eine Amtsverweserschaft wurden erörtert. Georg Ludwig erklärte aber im März 1777 sehr deutlich, wohl im Bewusstsein der Unterstützung durch das Geschlecht,98 dass der Rechtsweg für das Geschlecht nicht in Frage komme, „indem ein solcher Process unserer Samt-Casse als eine von den HauptGrundVesten unserer Verfassung stürzen und noch überdieses beträchtliche Summen kosten, ein an die 400 Jahre von unsern Vorfahren mit Reputation geführtes Erb-Amt in fremden Händen laßen, unser Ansehen bey der Ritter- und Landschafft schwächen und uns durante lite, deßen Ende wohl keiner von uns jetzt Lebenden sehen wird, unzählichen Bedrückungen von Seiten der fürstlichen Häuser, sonderlich des Darmstättischen aussezen würde.“ Vorsorglich lehnte er ebenfalls eine Beteiligung an den Kosten eines eventuellen Samtprozesses des Geschlechtes ab.99 In der Zwischenzeit hatte Ludwig IX., den Riedesel entgegenkommend, die Belehnung eines Verwesers angeboten. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, das Interesse des Geschlechts und das Johann Wilhelms zu trennen und letzteren einen Privatprozess führen zu lassen. Nachdem der Amtmann Wüstenfeld am 30. März 1777 ein ausführliches Gespräch mit den beiden Ministern Moser – dem Regierungspräsidenten Friedrich Karl Frhr. v. Moser sowie dem Kammerpräsidenten Wilhelm Gottfried v. Moser – geführt hatte, einigte sich das Geschlecht auf einer „Familienkonferenz“100 (s. Skizze 2), dass als Amtsverweser Riedesels Georg Ludwig eingesetzt werde; Johann Wilhelm behielt sich die sonstigen Rechte als Senior vor und verlangte vom Geschlecht die Erstattung der Prozesskosten für seinen Privatprozess.101

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Er heiratete 1771 seine Kusine Sophie Luise Dorothea, die Tochter Johann Volpert Riedesels zu Altenburg; dessen Witwe heiratete damals Johann Wilhelm Riedesel in zweiter Ehe. Volpert Hermann Friedrich Riedesel zu Ludwigseck, der darmstädtische Oberjägermeister, der das Vertrauen zumindest der Landgräfin († 1774) besessen hatte, denn er begleitete sie auf ihre Werbungsreise nach St. Petersburg, äußerte zu Wüstenfeld am 29.3.1777, er könne „bey denen dermaligen fatalen Conjecturen sich der Sach directe nicht annehmen“ (StADa Bestand F 27 A Nr. 75/19, Q 110). StADA Bestand F 27 A Nr. 75/19, Q 109. Die Mitglieder der „Familienkonferenz“ sind aus der Genealogischen Skizze 2 zu ersehen. StADA Bestand F 27 A Nr. 75/19, Q 110–117.

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2.2.3 Der Prozessanlauf

Riedesel ging nun den Weg, den Pütter vorgeschlagen hatte.102 Er wandte sich auf Empfehlung seines Sohnes Karl Georg, der beim RHR in Ausbildung gewesen war, derzeit in Stuttgart und Tübingen als Regierungsrat und Hofgerichtsassessor tätig und als Assessor für Wetzlar vorgesehen war103 , und seines Wiener Vetters – des preußischen Gesandten Johann Hermann Riedesel – im Mai 1777 nicht an das RKG, sondern an den RHR, der in der ersten Antwort von Riedesel entgegen Pütters Meinung eine Änderung des Petitum – nämlich einen Antrag auf ein Austrägalgericht – verlangte (Oktober 1777). Er forderte dann Hessen-Darmstadt zur Auskunft über den Grund der Verweigerung auf, ihn mit dem Erbmarschallamt zu belehnen (Februar 1778). Darmstadt verzögerte eine Antwort und erklärte endlich, Hessen-Kassel sei mitzuständig (April 1779). Dementsprechend wandte sich Johann Wilhelm am 1. September 1779 an beide Fürsten, die ihn am 1. Februar 1780 an das Samthofgericht Marburg verwiesen. Er tat dies – auch auf Empfehlung des riedeselschen Reichshofrat-Agenten Bernhard Samuel v. Matolay104 – trotz Bedenken wegen Parteilichkeit dieses von den Landgrafen abhängigen Gerichts. Das Verfahren wurde von den Landgrafen weiter verzögert, wieder versuchte Johann Wilhelm Hilfe vom RHR zu erhalten, die dieser „derzeit“ ablehnte (12. Oktober 1781).105 Einen Monat später – im November 1781 – teilte Johann Wilhelm dann aber dem Agenten mit, er stehe in gütlicher Verhandlung mit dem Lehnhof in Darmstadt und hoffe, das Amt zu erhalten.106 Diese Anbahnung hatte Riedesels Sohn Karl Georg (1746–1819) – inzwischen Reichkammergerichtsassessor, zu Wege gebracht107 – möglich wohl deswegen, weil Moser im November 1780 seine Entlassung genommen hatte, aber auch, weil die Amtsverwesertätigkeit Georg Ludwigs mit Wohlwollen gesehen wurde.108 Die Belehnung 102

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Als ehemaliger RKG-Assessor hatte er mehr Zutrauen zum RKG als zum RHR, aber sein Sohn und der Wiener Vetter überzeugten ihn, dass es besser sei, sich an den RHR zu wenden, der zudem den hessischen Lehngerichten wenig freundlich gesonnen sei. Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 81), Biographie 109, S. 1211–1221. Bernhard Samuel v. Matolay de Zsolsa, 1777 Reichshofrat der ungarischen Hofkanzlei in Wien (http://www.vrijmetselaarsgilde.eu/Maconnieke%20Encyclopedie/MMAP~1/ Mlenn-05.htm#Mlenn-19, 24. 2. 2012). StADa Bestand F 27 A Nr. 75/20. Erstmals angedeutet in einem Schreiben Johann Wilhelms an den Agenten v. Matolay am 6.11.1781 (StADa Bestand F 27 A Nr. 75/20). Belehnungsakten: StADa Bestand F 27 A Nr. 75/21. Brief Karl Georgs vom 20.4.1782; vgl. StADa Bestand F 27 A Nr. 75/21. Ebd.: Karl Georg schreibt von der Zufriedenheit des Landgrafen mit der Verwesertätigkeit Georg Ludwigs. Der Riedesel-Historiker für das 18. Jahrhundert v. Galéra (Karl Siegmar Baron von Galéra: Die Riedesel zu Eisenbach. Die Geschichte des Geschlechts der Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, Erbmarschälle zu Hessen. Bd. 5, Marburg 1961) schreibt, leider ohne Belege (S. 383): „Er hatte einen friedfertigen, ausgleichenden Charakter“.

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sollte nun erfolgen, doch Riedesel starb am 5. August 1782. Georg Ludwig Riedesel übernahm nun problemlos das Erbmarschallamt. 2.2.4 Bewertung des Konflikts

Die Verweigerung der Belehnung mit dem Erbmarschallamt war nicht allein ein persönlicher Affront, sondern zugleich eine politische Provokation, denn sie bedeutete, dass die Landgrafen sich das Recht anmaßten zu bestimmen, wer die Ritterschaft repräsentiere. Riedesel konnte nicht politisch antworten, da die Unterstützung der Ritterschaft, aber auch die des eigenen Geschlechts fehlte. Das Geschlecht – meist Offiziere – behandelte den Streit in wohl richtiger Einschätzung der Machtlage pragmatisch: Man suchte nach einem Kompromiss, der beide Seiten das Gesicht wahren ließ und der Machtprobe mit Ludwig IX. und Moser auswich. Der Jurist Johann Wilhelm stellte die rechtliche Grundsatzfrage nach der Geltung des Lehnrechtes. Er musste erkennen, dass er – der wichtigste hessische Adlige – in der Landgrafschaften nicht zu seinem Recht komme, so dass ihm gegen die Gefährdung des Spitzenamtes der Ritterschaft nur der Gang zu einem Reichsgericht verblieb. Auch der Landgraf hatte sich in eine schwierige Lage hineinmanövriert, indem er die Verweigerung mit der fehlenden Integrität Riedesels begründete, ohne dies näher auszuführen; der Konflikt eskalierte wegen des Amtsverständnisses Landgraf Ludwigs IX., der ihm die Auskunft über den Ablehnungsgrund verweigerte. Gelöst wurde das Problem im Zusammenwirken von drei Faktoren: a) Der RHR ließ sich auf ein Verfahren ein, das Darmstadt unter Beobachtung von außen setzte. Er übernahm damit eine Vermittlertätigkeit. b) Der Regierungspräsident Moser hatte wegen Eigenwilligkeit gegen den Landgrafen gehen müssen. Damit entfiel die Selbstherrlichkeit des höchsten Beamten. c) Das Geschlecht Riedesel wirkte von außen ausgleichend ein, zum einen durch Johann Wilhelms Sohn Karl Georg, zum andern durch die Verwesertätigkeit des kompromissbereiten Georg Ludwig. Gewinner und Verlierer in dieser Auseinandersetzung sind schwer auszumachen. Riedesel setzte sich zwar letztlich durch, aber erst nach fünfjährigem Streit, der ihn in der Ritterschaft und im Geschlecht Riedesel isoliert hatte. Der Landgraf gab endlich nach und wollte Riedesel – inzwischen 77 Jahre alt – belehnen. Dieser hatte sechs Jahre seine Missachtung ertragen müssen. Fürstliches Handeln und Öffentliches Recht hatten ein prekäres Gleichgewicht gefunden. 2.3 Analyse der Ritterschaftlichen Prozesse

Während der Besitzprozess um Imshausen die rechtliche Auseinandersetzung zwischen prinzipiell Gleichen war und das RKG dem Fürstenstaat seine Grenzen zeigte, indem die Befugnis des landgräflichen Lehnhofs wie des Obera-

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pellationsgerichts zu endgültigen Entscheidungen eingeschränkt wurde, ging es bei den Prozessanläufen um das Damenstift und um das Erbmarschallamt um eine direkte rechtliche Konfrontation der führenden landsässigen Adligen mit ihren Landesherren. Im Streit um das Damenstift prallte der Wille der Landgrafen, in Kaufungen auf Kosten der Ritterschaft ein Damenstift zu errichten, mit der Position der Ritterschaft zusammen, die die Verfügung über ihr Stift bewahren wollten. Im Erbmarschallamtsstreit versuchten die Landgrafen, sich das Geschlecht der Riedesel, das den Erbmarschall stellte, politisch gefügig zu machen, indem sie unbequeme Verhaltensweisen im Landtag mit Verlust des Erbmarschallamtes vergalten. In beiden Fällen wollten die Landgrafen sich über die geltende ,Verfassung‘ Hessens hinwegsetzen. Jedes Mal wurden Grundlagen ritterschaftlicher Existenz gefährdet: der Besitz des Stiftes Kaufungen, der Geltungsanspruch des Lehnsrechtes. Obervorsteher, Senior Riedesel sowie der riedeselsche Amtmann Wüstenfeld zeigten ein ausgeprägten Selbst- und Rechtsbewusstsein, das zu einer klaren Ablehnung fürstlicher Anmaßung führte; das Urteil des dissentierenden und nachgiebigen Georg Ludwig Riedesel über die Landgrafen war ebenfalls eindeutig: er fürchtete „unzähliche Bedrückungen“. Im Streit um das Damenstift durchkreuzte der RHR das absolutistisch anmutende Verhalten der Landgrafen, so dass die Ritterschaft in ihren Rechten ungeschmälert blieb. Im Erbmarschallstreit zwang der RHR Darmstadt immerhin zu einem Rechtsverfahren, das dann politisch beendet werden konnte. Somit verhinderte ein Reichsgericht das zeitgenössisch als Rechtsbruch einzustufende Verhalten der Landgrafen und sicherte damit der Ritterschaft ihren Status. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass im Erbmarschallamtsstreit die Riedesel ,ihre politische (!) Lektion gelernt‘ hatten, auf jeden Fall pragmatischer in Einschätzung der jeweiligen politischen Lage handelten, als es Johann Wilhelm getan hätte. Für eine kritische Sicht der nun amtierenden Erbmarschälle sprechen die folgenden Indizien; allerdings wäre es notwendig, ergänzend ihren Briefwechsel aus dieser Zeit zu analysieren. Der neue Erbmarschall Georg Ludwig zu Altenburg erwies sich als ein Ritterschaftsvertreter, der den Landgrafen in Landtagsangelegenheiten wenig Ärger bereitete.109 1792 hatten in Hessen-Kassel viele Adlige wegen dörflicher Unruhen die Einberufung eines Landtages gefordert. Der Erbmarschall machte es wohl dem Landgrafen Wilhelm IX. v. Hessen-Kassel leicht, diese Einberufung abzulehnen.110 Nach seinem Tod übernahm der dritte Sohn Johann Wilhelms – Johann Konrad (1746–1812) – ehemaliger 109

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Vgl. Anm. 108. Anders verhielt sich Georg Ludwig in Korporationsangelegenheiten. Bei der Neuaufnahme von Adligen in die Korporation beanspruchte er mit den Obervorstehern wiederholt Rechte, die die Landgrafen ihm nicht zugestehen wollten; vgl. Wunder: Adel (wie Anm. 5). Vgl. Winfried Speitkamp: Soziale Unruhe und ständische Reaktion in Hessen-Kassel, in:

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braunschweigischer Generalleutnant, das Amt und verhielt sich ähnlich. Er ließ es zu, dass Kurfürst Wilhelm I. den Landtag in Hessen-Kassel nicht mehr einberief, und stemmte sich nicht dagegen, als Landgraf Ludwig X. den Landtag in Darmstadt am 1. Oktober 1806 beseitigte. Auf einen Bericht schrieb er als Marginalie u. a.: „Die eingetretenen Dinge haben mich keineswegs überrascht, schon letzten Winter ahnte man diesen Schritt.“ Seinem Sekretär teilte er mit: „Ich, für meine Person, bin nicht unzufrieden, von den Funktionen eines lästigen und undankbaren111 Amts entledigt zu seyn“. Er riet bezeichnenderweise bei der Aufhebung der Steuerfreiheit am 4. Oktober 1806 von einer gemeinschaftlichen Beschwerde am französischen Hof dringend ab, und sie unterblieb auch.112 Trotz dieses politisch für die Ritterschaft eher demütigenden Endes der landständischen Verfassung hatten die vorhergehenden Auseinandersetzungen bestätigt, dass im Alten Reich die Reichsgerichte den Landgrafen rechtliche Grenzen für ihr politisches Handeln in ihrem eigenen Territorium setzten. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Streit der Landgrafen mit dem katholischen Adel der „hessischen Ritterschaft“. Diesem waren infolge der Assekurationsakte 1754 die „Steuern“ aus Kaufungen verweigert worden, nach langen Bemühungen gelang es dem katholischen Adel 1789, die „Steuern“ wieder zu erhalten.113 Ludwigs IX. Beamte argumentierten gegenüber der Regierung Hessen-Kassels in diesem Zusammenhang u. a. mit der Gefahr der Anrufung eines Reichsgerichtes.114 Diese indirekte Wirkung der Reichsgerichte näher zu untersuchen wäre lohnend. Sucht man die beiden dargestellten Ritterschaftsprozesse in den Prozess der modernen Staatsbildung einzuordnen, so handelt es sich beide Male um die Versuche der Fürsten, ihre Befugnisse in legitime adelige Besitzstände hinein auszudehnen; sie wollten die autonomen politische Rechte des Adels nicht anerkennen. Im Falle Kaufungen würde man diese traditionellen Rechte heute als private Rechte einer kleinen Standesgruppe – Eigentumsrechten vergleichbar – interpretieren, wofür auch die spätere Entwicklung des Stiftes zu einer ,privaten‘ Stiftung spricht. Im 18. Jahrhundert galt allerdings, dass die ständische Einrichtung Kaufungen ein Bestandteil des Ständestaates war. Im Falle des Erbmarschallamts handelte es sich nach unseren Vorstellungen um ein ,öffentliches‘ Amt, über das die Landgrafen nicht nach Belieben verfügen konnten, sondern nur nach den Regeln des Lehnsrechtes. Indem die Landgrafen diese autonomen ständischen Rechte einschränken oder außer Kraft setzen wollten, versuchten sie das öffentliche Recht so zu verändern, dass ein

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Helmut Berding (Hrsg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen 1988, S. 130–148, insgesamt S. 140–147, besonders S. 145f. Mit „undankbar“ bezeichnete er wohl die Zwischenstellung zwischen den zwei Landgrafen und der Ritterschaft. Murk: Landtagsabschiede (wie Anm. 80), S. 733–736; zu Riedesel, S. 736, Anm. 4: Marginalie sowie Schreiben an seinen Sekretär zur Beschwerde S. 735, Anm. 2. Zu diesem Streit demnächst ausführlicher Wunder: Adel (wie Anm. 5). StADa Bestand E 1 K Nr. 139/8, Q 34.

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Fürst keine Beschränkungen seiner Befugnisse zu beachten brauchte. Aber in beiden Fällen endete dieser Versuch mit der Rückkehr der Landgrafen zur geltenden ,Verfassung‘.115

3. Ausblick Der landsässige hessische Adel hatte in den geschilderten Prozessen die Erfahrung gemacht, dass die Reichsgerichte für ihn eine wesentliche Funktion erfüllten, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Landesherrn, die sich über geltendes Recht hinwegsetzen wollten. Es kann daher nicht verwundern, wenn die Ritterschaft Kurhessens in den Landtagsverhandlungen 1815 die Souveränität ihres Fürstentums in Frage stellte. Für sie ging es nicht um die bestmögliche Verfassung des neuen Staates, sondern um die Sicherung der hergebrachten ritterschaftlichen Rechte gegen die uneingeschränkte Macht des Kurfürsten. Damals sah sich die kurhessische Ritterschaft – jedenfalls in einem vermutlich repräsentativen Dokument116 − im Kern als mit den Landgrafen gleichberechtigte politische Kraft: „An der Spitze der besonderen Desiderien . . . steht der Grundsatz, daß die hessische Ritterschaft nicht bloß zu den konstituierenden Ständen von jeher und verfassungsmäßig gehörte, sondern daß ihr auch die dinglichen und persönlichen Rechte und Freiheiten, welche sie dermalen in Anspruch nimmt ... von der Urzeit her gebührt haben und ferner gelassen werden müssen, . . . daß solche sogar älter als die Landeshoheit, mit dieser wenigstens gleichen Ursprungs sind . . . und daß endlich all diese Rechte und Freiheiten durchaus keine andere Limitation anerkennen, als die bei den bisherigen Landtägen stattgefundenen freiwilligen Entsagungen und Modifikationen“. Mit dieser selbstbewussten Position versuchten sie wohl nicht, die alte Verfassung wiederherzustellen, sondern eine möglichst starke Verhandlungsposition zur Gestaltung des neuen monarchischen Staates zu erlangen.117 Die Erfahrungen mit den Reichsgerichten bildeten dabei einen Baustein in ihrer Vorstellung von der Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der nachnapoleonischen Zeit.

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Der napoleonische Umbruch schuf neue Möglichkeiten für die Fürsten, sich gegen die ,hessische Ritterschaft‘ durchzusetzen. Für Großherzog Ludwig I. bestand die Ritterschaft seit 1810 nicht mehr. Kurfürst Wilhelm II. hat sich in seiner Regierungszeit über die Rechte der hessischen Ritterschaft mehrfach hinweggesetzt; vgl. Gregory W. Pedlow: The Survival of the Hessian Nobility 1770–1870, Princeton 1988, S. 217–220. Instruktionsentwurf des Fuldastroms 1815; vgl. Seier: Akten (wie Anm. 2), hier S. 25. Dieses Fazit stützt sich auf Speitkamps Darstellung des Verfassungsstreites 1815/1816; vgl. Anm. 2.

Maria von Loewenich

Amt und Prestige. Die Kammerrichter zwischen Gericht und ständischer Ökonomie1 Der schlechte Ruf des Reichskammergerichts ist geradezu legendär. Ohne ausreichende Finanzmittel für genügend Personal und durch den stetig steigenden Geschäftsanfall überlastet, waren die Verfahren häufig über viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg am Gericht anhängig. Noch heute erzählt man gern die allseits bekannte Geschichte, in der Gerichtskanzlei seien die Akten mit Fäden an die Decke gehängt worden. Erst wenn einer dieser Fäden aus Altersschwäche gerissen sei, habe das Gericht den entsprechenden Fall zur Bearbeitung vorgenommen. Mit hoher Arbeitsbelastung und schlechter Bezahlung verbunden, stellte das Reichskammergericht gemessen an heutigen Kriterien also einen eher unattraktiven Arbeitsplatz dar. Dem entsprechend schreibt auch Johann Wolfgang Goethe in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“: „Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft“2 . Doch das Verhältnis der Zeitgenossen zumindest im 18. Jahrhundert – gerade zum Amt des Oberhaupts des Gerichtes – das des Kammerrichters, war durchaus positiv. Hatten die Kaiser im 16. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts häufig Schwierigkeiten, geeignete Kandidaten für das Kammerrichteramt zu gewinnen, gab es im 18. Jahrhundert nicht nur stets zahlreiche Bewerber, sondern auch zahlreiche Kammerrichter, die versuchten, ihr Amt an ihre Söhne oder andere Verwandte weiterzugeben. So bemühten sich zum Beispiel bei der Vakanz des Kammerrichteramts 1711 nicht nur Maximilian Karl von Löwenstein, der den Zuschlag erhielt, sondern mindestens auch noch Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein und Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst um das Amt.3 Die Kammerrichter Franz Adolf Dietrich von Ingelheim (Kammerrichter 1730–1742) und Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1746–1763), deren Amtszeiten 1

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Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen der Doktorarbeit „Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711–1806)“, die im Herbst 2011 von der Universität Münster angenommen wurde. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit, Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 588. Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im Folgenden: HHStA) Wien MEA WaKr 37, Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein an Melchior Friedrich von Schönborn, Bartenstein 9. Juni 1711; Melchior Friedrich von Schönborn an Lothar Franz von Mainz, Heusenstamm 16. Juni 1711; Lothar Franz von Mainz an Melchior Friedrich von Schönborn, Mainz 20. Juni 1711 (Kopie); Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst an Lothar Franz von Mainz, Ems 14. Juni 1711.

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im Folgenden im besonderen Fokus stehen sollen, versuchten jeweils ihr Amt an ihre Söhne weiterzugeben, was allerdings in beiden Fällen nicht gelang.4 Die Zeitgenossen hatten also offenbar ein anderes Verhältnis zum Reichskammergericht als es die heutige Sichtweise nahelegt.

1. Theoretische Grundlagen Bevor der Frage, welches Verhältnis die Kammerrichter zu ihrem Amt und zum Reichskammergericht hatten, nachgegangen wird, soll kurz auf die theoretischen Grundlagen der Überlegungen eingegangen werden. Im Folgenden wird auf das erweiterte Ressourcenverständnis Pierre Bourdieus zurückgegriffen. Bourdieu versteht unter Kapital „akkumulierte Arbeit“, die sich nicht nur in ökonomischen Profiten äußert, sondern unter anderem auch in sozialen, kulturellen und symbolischen Gewinnen.5 Soziales Kapital beruht nach Bourdieu auf einem dauerhaften Netz „mehr oder weniger institutionalisierter Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“6 . Es ist die Möglichkeit, andere – aus welchen Gründen auch immer – motivieren zu können, ihren Einfluss und ihre Möglichkeiten für sich selbst einzusetzen. Man besitzt also bei einem bestimmten Personenkreis „Kredit“.7 Kulturelles Kapital kann nach Bourdieu auf materiellen Bildungsgütern, auf Fertigkeiten und Wissensformen oder auf verinnerlichten Kompetenzen beruhen, die zur Ausprägung eines bestimmten Habitus gehören.8 Unter symbolischem Kapital wird schließlich die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung – oder anders gesagt: Prestige, Ehre und guter Ruf – verstanden, die einer Person oder einer Familie entgegengebracht wird bzw. die sie besitzt. Es ist meist, aber nicht zwangsläufig, an eine der anderen Kapitalsorten gekoppelt.9 So genießt eine besonders gebildete, eine sehr reiche oder sehr einflussreiche Person häufig auch besonderes Ansehen. Alle Kapitalsorten sind grundsätzlich inein4

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Vgl. die Schreiben in: Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) AR 1/Misc. 625. Vgl. auch Heinz Duchhardt: Reichskammerrichter Franz Adolf Dietrich von Ingelheim (1659/1730– 1742). Eine biographische Skizze, in: Nassauische Annalen 81 (1970), S. 173–202, hier S. 200. Vgl. auch Hohenlohe Zentralarchiv (im Folgenden: HZA) Neuenstein Ba 125 Bü 49, N.N. von Zedwitz an Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein, Schwetzingen 31. Juli 1761. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: ders., Soziale Ungleichheiten, hrsg. v. Reinhard Kreckel, Göttingen 1983, S. 183–198, hier S. 183– 185. Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd., S. 185–190. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2009, S. 335–337; ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992, S. 77; ders.: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 11, 135–154.

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ander transformierbar. Wer also über großes ökonomisches Kapital verfügt, kann dieses in seine eigene oder die Ausbildung seiner Kinder investieren und damit kulturelles Kapital erwerben. Mit kulturellem Kapital in Form einer guten beruflichen Qualifizierung kann wiederum eine einflussreiche berufliche Stellung erreicht werden, die sich in guten Kontakten zu anderen einflussreichen Persönlichkeiten – sozialem Kapital –, in einer angesehen Position innerhalb der Gesellschaft – symbolischem Kapital – und nicht zuletzt im Erwerb ökonomischer Mittel auszahlen kann.

2. Ökonomisches Kapital Die Attraktivität des Kammerrichteramtes bestand, wie bereits angedeutet, nicht in seinem ökonomischen Profit. Vielmehr musste, wer es anstrebte, bereit und in der Lage sein, hohe Kosten zu tragen. Ein Versorgungsamt im ökonomischen Sinne war es – wie die meisten vom Kaiser zu vergebenden Ämter – nicht. Das Reichskammergericht – und auch das Kammerrichteramt – wurden im Gegensatz zum Reichshofrat nicht allein vom Kaiser, sondern auch von den Reichsständen finanziert.10 Dazu sollten sie gemäß der Kammermatrikel den Kammerzieler entrichten. Doch die wenigsten Reichsstände zahlten tatsächlich den in der Matrikel festgelegten Betrag in voller Höhe. Bei einigen blieb die Zahlung sogar ganz aus. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Zahlungsmoral besonders schlecht. So ging zur Ostermesse 1673 in Frankfurt mit etwa 3976 Reichstalern nur ein Bruchteil des eigentlichen Betrages ein.11 Den fehlenden Kammerzieler versuchte man zum Teil durch das Nichtbesetzen insbesondere von Assessoren- und Präsidentenstellen auszugleichen, doch auch diese Maßnahme ersetzte die Fehlbeträge nur unzureichend und steigerte die Arbeitsbelastung des Gerichts immens. Wilhelm von Baden (Kammerrichter 1652–1677) hatte so während seiner Amtszeit nur einen Bruchteil seiner Salarien erhalten. Über seine 25-jährige Dienstzeit hinweg hatte sich ein Fehlbetrag von 40 244 Reichstaler aufgebaut.12 Und auch noch 1714 – also fast 40 Jahre nach dem Tod Badens – machten die Erben 60 366 Gulden 10

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Adolf Laufs (Hrsg.)/Christa Belouschek/Bettina Dick (Mitarb.): Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Köln/Weimar/Wien 1976, Teil 1, Titel I, § 1, S. 73 (im Folgenden: RKGO 1555). Johann Jacob Moser: Neues teutsches Staatsrecht: Nach deren Reichs-Gesetzen und dem Reichs-Herkommen, wie auch denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern und eigener Erfahrung, mit beygefügter Nachricht von allen dahin einschlagenden öffentlichen und wichtigsten neuesen Staatsgeschäften [...], Bd. 8,2: Von der Teutschen Justiz-Verfassung, Franckfurt/Leipzig 1774, ND Osnabrück 1967, § 10, S. 478f. Generallandesarchiv (im Folgenden: GLA) Karlsruhe Abt. 46/2716, Nr. 117 [Rechnung]. Vgl. ebd. auch die weitere Korrespondenz und die übrigen Rechnungen.

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geltend, von denen lediglich 28 744 Gulden abgetragen wurden.13 Weitere Zahlungen erhielt das Haus Baden nicht mehr, so dass beim Aussterben der Linie Baden-Baden 1771 immer noch ein Betrag von 30 520 Gulden ausstand.14 Auch Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch (Kammerrichter 1718–1722) erhielt seine letzten Bezüge erst nach seiner Resignation. Zum Zeitpunkt der Amtsaufgabe waren 11 847 Reichstaler und 3 Kronen noch nicht gezahlt worden.15 Noch 1724 machte Fürstenberg einen Restbetrag von etwa 1100 Reichstalern geltend, den er aber an das Kloster Altenburg bei Wetzlar, das Franziskanerkloster und die Residenz der Jesuiten in Wetzlar auszuzahlen bat. 60 Reichstaler gedachte er dem Reichspfennigmeister in Wetzlar Krebs zu.16 Betraf die unzureichende Auszahlung der Salarien alle Gerichtsangehörigen, so kam beim Kammerrichter noch hinzu, dass er der kaiserliche Repräsentant am Gericht war und deshalb eine dem kaiserlichen Rang entsprechende Hofhaltung unterhalten musste. Dementsprechend mieteten oder kauften die Kammerrichter in der Regel in Wetzlar repräsentative Wohnhäuser. Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch rechnete für die Miete eines angemessenen Hauses mit 900 Gulden.17 Für die Weitervermietung des Hauses des verstorbenen Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1746–1763) an den Reichskammergerichtspräsidenten von Bassenheim wurde ein Pachtzins von 500 Gulden pro Jahr berechnet.18 Hinzu kam die kostspielige Einrichtung dieser Häuser. Das Inventar des Wetzlarer Hauses Franz Adolf Dietrichs von Ingelheim (Kammerrichter 1730–1742) gibt einen Eindruck von der Ausstattung einer kammerrichterlichen Residenz. So führt es neben repräsentativen Möbeln, kostbare Tapeten aus Damast, Lack und bemaltem Stoff, zwei Porträts des Kaisers und zahlreiche Familienporträts auf. Des Weiteren besaß Ingelheim neben mehreren Kutschen einen 13 14 15 16 17

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GLA Karlsruhe Abt. 46/2716, Nr. 34 [Rechnung]. Moser: Neues teutsches Staatsrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 14, S. 370. Fürstlich Fürstenbergischen Archiv (im Folgenden: FFA) Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, [Rechnung], Meßkirch 4. April 1722. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Anweisung Froben Ferdinands von FürstenbergMeßkirch für die Verwendung der noch ausstehenden Salarien [1724] (Konzept). FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Specifikation Extractus und uberschlag, wie hoch die ordinaire Depente über fürstliche Hofstatt zu Wetzlar sich ohngefähr belauffen möchten [ca. 1717]. BArch AR 1/Misc. 630, Entwurf des abzuschliessenden Mieth-Contracts über die vormahlige Cammerrichterliche Wohnung, [1763/64]. Bei dem Haus handelte sich um das Ingelheimsche Palais in der Hausergasse 19, das der Reichskammergerichtspräsident und spätere Kammerrichter Franz Adolph Dietrich von Ingelheim erbaut hat. Nach dessen Tod wurde es an den neuen Kammerrichter Ambrosius Franz von Virmond verkauft und wiederum nach dessen Tod von Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein übernommen; vgl. Otto Volk: Die Wohnungen der Kameralen in Wetzlar. Verzeichnis der Häuser und Wohnungen der Angehörigen des Reichskammergerichts 1689/93–1806 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = künftig QFHG 39), Köln/ Weimar/Wien 2001, S. 47.

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prunkvollen Wagen samt „staatsgeschirr“, mit dem er zum Gericht zu fahren pflegte.19 Zur repräsentativen Ausstattung des Hauses kamen die laufenden Kosten hinzu. Vor seinem Amtsantritt hatte Fürstenberg gemeinsam mit seinen Räten überschlagen, welche Belastung ihm durch das Kammerrichteramt in etwa erwachsen würde. Sie kamen auf Ausgaben von rund 30 000 Gulden, wobei Kleidung, Reisekosten, Handwerker und ähnliches noch nicht eingerechnet war.20 Eine weitere Rechnung legt die tatsächlichen Kosten offen, die sich in Fürstenbergs erstem Amtsjahr 1718 ergaben. Sie reichten von den Reisekosten und den Livreen der Diener über den Lohn der Pagen und des Hauskaplans bis hin zu Gewürzen und anderen „essensachen“. Abzüglich von Kosten, die aufgrund der der Möblierung der kammerrichterlichen Residenz entstanden, ergibt sich eine Summe von rund 42 000 Gulden.21

3. Symbolisches Kapital War die Aussicht auf ökonomische Profite kein Grund, das Kammerrichteramt zu übernehmen, so sah es in Bezug auf symbolisches Kapital ganz anders aus. Die Möglichkeit, Ansehen, Prestige und Ehre zu gewinnen, war ein wesentlicher Faktor, der das Kammerrichteramt attraktiv machte. Wiederum Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch sah so 1714 als einen großen Vorteil des Kammerrichteramtes die Möglichkeit an, dass „die bekhleidung dieser Stelle sowohl meiner annoch von Gott verhofenden Posterität als auch den gesambten Haus [. . . ] zue einem nicht geringen [. . . ] ahnsehen geraichen würde“22 . Der Gewinn, den der Kammerrichter für sich und seine Familie aus seinem Amt ziehen konnte, war eng mit der hohen Stellung verbunden, die er als kaiserlicher Repräsentant am Gericht einnahm. Die Trennung von Amt und Person war in der Vormoderne nicht im heutigen Sinne ausgeprägt. Als kaiserlicher Stellvertreter repräsentierte der Kammerrichter den Kaiser nicht nur im dem Sinne, dass seine Handlungen demselben zugerechnet wurden, sondern er machte auch dessen Ehre und Würde sichtbar. Dies war nur möglich, wenn 19

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Reichsgräflich Ingelheimsches Archiv (im Folgenden: RGIA) Mespelbrunn Tit. 1, Abt. A, Nr. 18, Designation deren jenigen Mobilien, welche nach dem absterben seiner des Herrn Cammer Richter Graffens von Ingelheim Excell. höchstseel. gedächtnis aus dem Wetzlarer Haus nach Mayntz überführt worden, [1742]. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Specifikation Extractus und uberschlag, wie hoch die ordinaire Depente über fürstliche Hofstatt zu Wetzlar sich ohngefähr belauffen möchten, [ca. 1717]. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, [Abrechnung eines Bediensteten über die Begleichung der in Wetzlar zwischen Juni 1718 und Juni 1719 angefallenen Kosten, (1719)]. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch, Rationes pro et Contra, [Meßkirch Mai 1714].

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er selbst von hohem ständischem Rang war. Die hohe Stellung des Amtsinhabers symbolisierte also die hohe Würde des Amtes.23 Dementsprechend sah auch die Reichskammergerichtsordnung von 1555 vor, dass der Kammerrichter ein weltlicher oder geistlicher Fürst oder zumindest ein Graf oder Freiherr sein müsse.24 Die mangelnde Trennung von Amt und Person funktionierte aber auch umgekehrt. So strahlten die Ehrungen, die dem Amtsinhaber in seiner Rolle als Kammerrichter zuteil wurden, auch auf ihn als Person ab und erhöhten damit seine eigene und die Stellung seiner Familie. Ihren Ausdruck fand diese hohe Stellung des Kammerrichters in der Interaktion, vor allem in zeremoniellen Handlungen, in Form von Ehrbezeugungen und Ähnlichem. Bei Gericht wurde seine Stellung vor allem durch das Sitzen auf mit rotem Stoff bezogenen Thronsesseln und den Gebrauch von Baldachinen ausgewiesen, die zeitgenössisch Zeichen von Souveränität waren.25 Außerhalb des Gerichts bediente er sich unter anderem beim öffentlichen Kirchgang, bei Prozessionen oder vergleichbaren Gelegenheiten ebenfalls eines Baldachins. Darüber hinaus standen ihm eine Ehrenwache und das Recht zu, in einer sechsspännigen Kutsche zu fahren.26 Da das Kammerrichteramt durch die Möglichkeit, symbolisches Kapital zu erwerben, erheblich an Attraktivität gewann, versuchten die Inhaber dasselbe zu schützen bzw. zu vermehren. Dementsprechend reagierten sie in der Regel sowohl innerhalb als auch außerhalb des Reichskammergerichts auf die Schmälerung oder die vermeintliche Schmälerung der Würde ihres Amtes mit Empörung und Beschwerden. Zu den Bestätigungen der Würde des Kammerrichters gehörte, dass ihm die übrigen Angehörigen des Kameralkollegiums, aber auch Dritte zu bestimmten Gelegenheiten die Aufwartung machten bzw. ihm gratulierten. So berichtete der Geheimrat von Gudenus dem Grafen Alexander zu Wied 1765, dass Franz Joseph von Spaur (Kammerrichter 1763–1797) sehr genau vermerkt habe, welche Fürsten und Stände ihm zu 23

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Barbara Stollberg-Rilinger: Die Würde des Gerichtes. Spielten symbolisch-zeremonielle Formen an den höchsten Reichsgerichten eine Rolle?, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß (QFHG 56), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 191–216, hier S. 204. RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Titel I, § 1, S. 73. Hubert Winkler: Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Vermählungen – Gesandtschaftswesen – Spanischer Erbfolgekrieg, Wien 1993, S. 160–167; Zedlers Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, 64 Bde. u. 4 Supplementbde., Leipzig 1732–1754, Bd. 50, S. 1449; Günter Christ: Praesentia Regis. Kaiserliche Diplomatie und Reichskirchenpolitik vornehmlich am Beispiel der Entwicklung des Zeremoniells für die kaiserlichen Wahlgesandten in Würzburg und Bamberg, Wiesbaden 1975, S. 97–99. Vgl. die Ausführungen der beiden Präsidenten Ambrosius Franz von Virmond und Karl von Wied im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Kammerrichter Franz Adolf Dietrich von Ingelheim um das Prädikat „gnädigst“ in: HHStA Wien MEA RKG 200b, die Präsidenten Virmond und Wied an Kaiser Karl VI., Wetzlar 31. Juli 1735. Vgl. auch das Inventar zum Haus Ingelheims in: RGIA Mespelbrunn Tit. 1, Abt. A, Nr. 10.

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seinem Amtsantritt gratuliert hätten.27 Innerhalb des Gerichts wurde schon der Anschein von Missachtung dieser Ehrbezeugungen vom Kammerrichter unter Umständen hart geahndet. Der Kanzleiverwalter von Dresanus berichtete so etwa 1726 einem Mitglied der kurfürstlich-mainzischen Verwaltung, Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1722–1729) habe einen Assessor schwer gerügt, als dieser sich von dessen Mittagseinladung mit der Begründung zurückzog, am selben Tag noch nach Gießen reisen zu wollen.28 Bei aus der Sicht der Kammerrichter schwereren Verstößen gegen ihre Würde griffen sie auch zu drastischeren Maßnahmen, die wiederum das symbolische Kapital des jeweiligen Kameralen verkleinerten. Ebenfalls 1726 unterließ es der katholische Assessor des fränkischen Kreises Valentin Ferdinand von Gudenus, Hohenlohe zu dessen glücklicher Rückkunft nach Wetzlar zu gratulieren.29 Hohenlohe war so ernstlich verärgert, dass er diesen Vorfall vor das Plenum des Reichskammergerichts brachte.30 Er forderte, dass Gudenus ihm in einer Visite „Satisfaction“ gewähre, und schloss ihn bis auf weiteres von allen von ihm gegebenen Festen und Veranstaltungen, wie etwa dem Festmahl anlässlich der Namenstage des Kaisers und der Kaiserin, aus.31 Trotz der eifrigen Vermittlung des kurmainzischen Kanzleiverwalters von Dresanus waren beide Seiten zum Einlenken kaum bereit.32 Gudenus war sich keiner Schuld bewusst und sah sich von Hohenlohe unberechtigt brüskiert.33 Für sein Entgegenkommen machte er zur Bedingung, dass der Kammerrichter den ehrenrührigen Eintrag im Plenumsprotokoll über seine angebliche Verfehlung streichen solle. Dazu war der Kammerrichter aber nicht bereit und zog sich auf die Aussage zurück, dass dies nur auf kaiserlichen Befehl hin geschehen könne.34 So unterließ Gudenus auch in der Folgezeit die 27

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Bernhard Diestelkamp: Gesellschaftliches Leben am Hof des Kammerrichters (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 29), Wetzlar 2002, S. 22f. HHStA Wien MEA RKG 194a, Kanzleiverwalter Dresanus an den Mainzer Hofkanzler von Lasser, Wetzlar 18. August 1726. HHStA Wien MEA RKG 194a, Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn an Lothar Franz von Mainz, Wien 17. Juli 1726; Lothar Franz von Mainz an den Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn, Mainz 6. August 1726 (Konzept). HHStA Wien MEA RKG 194a, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 27. März 1726 (Kopie). HHStA Wien MEA RKG 194a, Rechtfertigung des Assessors Gudenus, 2. April 1726; Lothar Franz von Mainz an den Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn, Mainz 6. August 1726 (Konzept). HHStA Wien MEA RKG 194a, Lothar Franz von Mainz an Philipp Karl von HohenloheBartenstein, Mainz 10. August 1726 (Konzept). Vgl. ebd. auch die Berichte des Kanzleiverwalters Dresanus an den Mainzer Hofkanzler von Lasser, 7., 8., 14., 17. u. 18. August 1726. HHStA Wien MEA RKG 194a, Rechtfertigung des Assessors Gudenus, 2. April 1726. HHStA Wien MEA RKG 194a, Kanzleiverwalter Dresanus an den Mainzer Hofkanzler von Lasser, Wetzlar 14. August 1726; Lothar Franz von Mainz an den Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn, Mainz 20. August 1726 (Konzept).

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Visiten beim Kammerrichter, obwohl der Mainzer Erzbischof ihm dringend dazu geraten hatte.35 Der weitere Fortgang der Geschichte verläuft sich in den Quellen. Des Weiteren waren die Titel, mit denen der Kammerrichter innerhalb und außerhalb des Gerichtes angesprochen und angeschrieben wurde, für die Vermehrung und den Verlust des symbolischen Kapitals entscheidend.36 Titulaturen waren in der Frühen Neuzeit keine bloßen konventionellen Höflichkeitsfloskeln wie heute, deren Bedeutung nur bei groben Verstößen wahrgenommen wird. Titel bedeuteten vielmehr zeichenhaft vermittelte politisch-soziale Geltungsansprüche, die erhoben, anerkannt oder zurückgewiesen wurden.37 Für das symbolische Kapital, das der Kammerrichter durch sein Amt ansammeln konnte, hatte seine Titulatur besondere Relevanz. Denn am Reichskammergericht adressierten die Gerichtsparteien ihre Schriften nicht wie am Reichshofrat an den Kaiser, sondern an den Kammerrichter bzw. an Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren.38 Dabei beanspruchten die Kammerrichter zumindest im 18. Jahrhundert von allen, einschließlich der Fürsten, die Anrede „Hochgeboren“ und „gnädigst“, auch wenn sie selbst von geringerem Rang waren.39 Dementsprechend lautete die Titulatur „Hoch- und Hochwohlgebornen zum kayserl. und Reichs-Cammer-Gericht hochverordneten Richter, Praesidenten und Assessoren, meinen bzw. unsern gnädigst und gnädigen Herren“40 . Im Kontext von Briefen beanspruchten die Kammerrichter auch von Fürsten spätestens seit den 1720er Jahren den Exzel35

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HHStA Wien MEA RKG 194a, Franz Lothar von Mainz an Philipp Karl von HohenloheBartenstein, Mainz 16. August 1726 (Konzept); Kanzleiverwalter Dresanus an den Mainzer Hofkanzler von Lasser, Wetzlar 8. September 1726 (Extrakt); Mainzer Hofkanzler von Lasser an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, Mainz 29. Oktober 1726 (Konzept). Dementsprechend betonte der Geheimrat von Gudenus 1765 gegenüber Graf Alexander zu Wied, dass die Titulatur des Kammerrichters peinlich genau einzuhalten sei; vgl. Diestelkamp: Leben (wie Anm. 27), S. 23. André Krischer: Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 203f. Vgl. auch etwa den Artikel „Titul“ in: Zedlers Großes Universal-Lexicon (wie Anm. 25), Bd. 44, S. 473. Zur Bedeutung der Gestaltung von Schreiben vgl. Heiko Droste: Briefe als Medium symbolischer Kommunikation, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hrsg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005, S. 239–256. Moser: Neues teutsches Staatsrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 11, S. 363f. Johann Ulrich Frhr. von Cramer: Wetzlarische Nebenstunden, worinnen auserlesene, beym Höchstpreißlichen Cammergericht entschiedene Rechts-Händel zur Erweiter- und Erläuterung der Deutschen in Gerichten üblichen Rechts-Gelehrsamkeit angewendet werden, 128 Bde., Ulm 1755–1773, Bd. 76, S. 22f.; Moser: Neues teutsches Staatsrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 11, S. 363f. Vgl. auch in BArch AR 1/Misc. 636, die TitulaturBeispiele für die Kammerrichter Johann Hugo von Orsbeck und Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein. Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 76, S. 22. Der Geheimrat von Gudenus gibt in einem Memorial von 1765 für den Grafen Alexander zu Wied als Titulatur des Kammerrichters Spaur an: „Hochgeborner Reichsgraf, Hochverehrter Herr Kammerrichter“. Vgl. dazu Diestelkamp: Leben (wie Anm. 27), S. 23.

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lenz-Titel.41 Besonders Kammerrichter, die von vergleichbar geringem Stand waren, konnten von weit über ihnen stehenden Reichsständen also mehr verlangen, als sie aufgrund ihres Geburtsstandes jemals erreichen konnten. So schreibt der Reichsstaatsrechtler Johann Jakob Moser in seinem „Neuen teutschen Staatsrecht“: „Der Cammerrichter, wann er gleich nicht Fürstlichen Standes ist, siehet doch sein Amt als eine Fürstenmäßige Bedienung an“42 . Dieser Gewinn an symbolischem Kapital wurde aber insbesondere von höherstehenden Reichsständen nur ungern gewährt. So begannen einzelne Reichsstände und Reichskreise in der zweiten Hälfte der 1740er Jahren nach der Ernennung Karl Philipps von Hohenlohe-Bartenstein 1746 zum Kammerrichter, ihre Schreiben nicht mehr an diesen und das Gericht selbst zu richten, sondern an den Kaiser mit dem Zusatz „à Wetzlar“, um die Anrede des Kammerrichters mit „gnädigster Herr“ und „Excellenz“ zu vermeiden.43 Hohenlohe reagierte darauf brüskiert und wandte sich an den Kaiser, der den Reichsständen befahl, diese Praxis einzustellen und sich gemäß dem alten Herkommen zu verhalten.44

4. Soziales Kapital Neben dem Gewinn von symbolischem Kapital war es den Kammerrichtern auch möglich, durch ihr Amt soziales Kapital zu erwerben. Soziale Beziehungen sind in stratifikatorisch geprägten Gesellschaften – wie der des alten Reiches – mit defizitärer Staatlichkeit von besonderer Bedeutung.45 Gesellschaftliche Ressourcen wurden so in der Regel nicht primär nach funktionalen Kriterien vergeben – wie zum Beispiel die persönlichen Eignung bei der Bewerbung um ein Amt –, sondern aufgrund von Fürsprache mächtiger Persönlichkeiten. Dementsprechend war es notwendig, über ein entspre41

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Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 76, S. 22. Moser: Neues teutsches Staatsrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 11, S. 363f. Entsprechendes gibt auch der Geheimrat von Gudenus in einem Memorial von 1765 für den Grafen Alexander zu Wied an. Vgl. dazu Diestelkamp: Leben (wie Anm. 27), S. 23. Moser: Neues teutsches Staatsrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 12, S. 364. BArch AR 1/Misc. 802, Kaiser Franz I. an Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 13. Mai 1747; ders. an dens., Wien 1. März 1749. Vgl. auch Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 76, S. 22; Moser: Neues teutsches Staatrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 11, S. 363f. BArch AR 1/Misc. 802, Kaiser Franz I. an Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 13. Mai 1747; ders. an dens., Wien 1. März 1749. Vgl. auch Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 76, S. 22; Moser: Neues teutsches Staatrecht (wie Anm. 11), Bd. 8,2, § 11, S. 363f. Sharon Kettering: Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth-Century France, New York/Oxford 1986, S. 5–11, 184–231, bes. 224f.; Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003, S. 92f.

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chendes Beziehungsnetz aus einflussreichen Verwandten und Freunden zu verfügen – soziales Kapital –, das dem einzelnen die Partizipation an diesen Ressourcen ermöglichte.46 Diese Netzwerke wurden durch den Tausch von Gaben und Gefälligkeiten verschiedenster Art konstituiert und aufrecht erhalten, sie funktionierten also nach dem Prinzip „do ut des“. Deshalb war für jeden Einzelnen notwendig, selbst über Ressourcen zu verfügen, die er in den Gabentausch einbringen konnte. Als solche Ressource konnten die Kammerrichter die Möglichkeit nutzen, Prozesse im Sinne der einen oder anderen Partei zu beeinflussen. Formal war der Kammerrichter zwar nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt, doch verfügte er dennoch über weitreichende, für den Ausgang von Verfahren entscheidende Kompetenzen. Er entschied, wer entschied: Wenn ein Prozess zur Entscheidung kam, bestimmte der Kammerrichter aus dem Kreis der Assessoren, der eigentlichen Richter am Gericht, einen Referenten und – je nach Komplexität und Schwere des Falls – einen Korreferenten, die die Akte bearbeiteten. Dabei war der Kammerrichter nur an wenige normative Vorgaben gebunden. So sollte er im Wesentlichen nur darauf achten, dass alle Assessoren in etwa gleich stark mit Arbeit belastet waren.47 Er konnte also Referenten bestimmen, die einer der Konfliktparteien gewogen waren bzw. von denen bestimmte Auffassungen bekannt waren. Eine weitere Möglichkeit zur Prozessbeeinflussung ergab sich aus der Unterfinanzierung des Reichskammergerichts besonders in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Referenten trugen die Ergebnisse ihrer Aktenbearbeitung in einem Senat vor, der aus mehreren Assessoren bestand. Dieser beriet den Fall und fällte dann eine Entscheidung. Wurde ein Endurteil verhandelt, sollte der Senat aus mindestens acht Assessoren bestehen, in allen übrigen Fällen reichten vier bis sechs Assessoren aus. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 sah dementsprechend vor, dass am Gericht stets drei Senate mit jeweils acht Assessoren installiert sein sollten, die jeweils für mindestens ein Viertel- oder halbes Jahr Bestand haben sollten.48 Durch die mangelnde Finanzierung blieben aber stets viele Assessorenstel-

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Zur historischen Netzwerkforschung vgl. u. a. Wolfgang Reinhard: Freunde und Kreaturen. „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979; ders.: Amici e Creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert, Tübingen 1996; ders.: Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte, Stuttgart 2009, S. 3–136; Sharon Kettering: Patronage in Early Modern France, in: French Historical Studies 17,4 (1992), S. 839–862; dies.: Patronage and Kinship in early modern France, in: French Historical Studies 16,2 (1989), S. 408–435; dies.: Friendship and Clientage in early modern France, in: French History 6,2 (1992), S. 139–158; Birgit Emich [u. a.]: Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: ZHF 32 (2005), S. 233–265. RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Tit. 10, § 2, S. 83. Ebd., Teil 1, Tit. 10, § 10f., S. 85f.

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len unbesetzt, weshalb die Einrichtung dauerhafter Senate nicht möglich war. Stattdessen wurden die Assessoren in Dreier- und Vierergruppen eingeteilt, die der Kammerrichter für jeden Prozess individuell zusammenstellte.49 Auch hier konnte er also steuern, welche Assessoren an einer Entscheidung beteiligt waren. Dass zumindest ein Teil der Kammerrichter diese Möglichkeiten ihres Amtes tatsächlich in ihren Netzwerkbeziehungen nutzten, lässt sich am Beispiel Karl Philipps von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1746–1763) verfolgen. In seiner Korrespondenz finden sich zahlreiche Schreiben, in denen er mit Personen seines Netzwerkes über die Auswahl von Referenten bzw. Besetzung von Senaten berät oder darüber berichtet. So nahm Hohenlohe etwa auf Veranlassung von Friedrich von Leiningen Einfluss auf das Verfahren des Herrn von Hallberg gegen seine Nachbarn, die Grafen von Leininigen. Ende des Jahres 1760 hatte sich Leiningen an Hohenlohe mit der Bitte gewandt, dieser möge einen für ihn günstigen, evangelischen Korreferenten für den Fall bestimmen, dass der Prozess nicht schon im Extrajudicialverfahren – ein dem eigentlichen Verfahren vorgesetzter Prozessabschnitt –gestoppt werden könne. Im Postskriptum desselben Briefes konkretisierte er seinen Wunsch und bat darum, dass, wenn der Herr von Reuß wie im Extrajudicialverfahren Referent bliebe, Hohenlohe den Herrn von Cramer zum Korreferenten machen solle.50 Etwa eineinhalb Jahre später waren dann die Relationen wohl angefertigt, so dass der Kammerrichter in der Lage war, das Verfahren einem Senat zu übergeben. Er sagte Leinigen offenbar zu, diesen nach seinen Wünschen zu besetzen, da sich dieser bei Hohenlohe dafür bedankte, dass ein „hocherleuchteten Senat würde produciret werden“51 . Einen weiteren am Reichskammergericht anhängigen Prozess führten die Grafen von Leiningen gegen die Landgrafen von Hessen-Homburg um die Erbschaft Sophie Sybillas von Leiningen, verwitwete Landgräfin von Hessen-Homburg. Hier hielt es Friedrich von Leiningen jedoch nicht für notwendig, weiterreichende Schritte zu unternehmen, da bei der „Ernennung eines Herrn Referenten, so nicht partheyisch anstehe, [...] die Sache nicht andersten als gut auschlagen“52 könne.

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Johann Stephan Pütter: Freymüthige Betrachtungen über die Senate am kayserlichen und Reichskammergerichte, und was nach Anleitung des kayserlichen CommissionsDecretes vom 15. Febr. 1772 für eine dauerhafte Einrichtung damit zu treffen seyn möchte?, Göttingen 1792, S. 1–29; Julius Friedrich Malblank: Anleitung zur Kenntniß der deutschen Reichs- und Provinzial- Gerichts- und Kanzleyverfassung und Praxis, Bd. 1: Anleitung zur Kenntniß der Verfassung des Höchstpreißlichen Kaiserlichen und Reichskammergerichts, Nürnberg/Altdorf 1791, § 169, S. 322–327. HZA Neuenstein Ba 125 Bü 70, Friedrich von Leiningen an Karl Philipp von HohenloheBartenstein, Mannheim 16. Dezember 1760. HZA Neuenstein Ba 125 Bü 70, Friedrich von Leiningen an Karl Philipp von HohenloheBartenstein, Mannheim 25. Juni 1762. HZA Neuenstein Ba 15 Bü 70, Friedrich von Leiningen an Karl Philipp von HohenloheBartenstein, Mannheim 22. Februar 1761.

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Auch die beiden Verwandten Hohenlohes – Philipp Ernst und Karl Albrecht von Hohenlohe-Schillingsfürst – wandten sich regelmäßig wegen verschiedener ihrer anhängigen Verfahren an den Kammerrichter. Als Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst 1751 beispielsweise plante, einen Prozess in einer Schuldensache gegen die protestantischen Hohenloher Linien anzustrengen, bat er den Kammerrichter schon einmal vorsorglich, in diesem Fall „einen Senat von 4 gutgesinnten catholischen herren Assessoribus zu bestellen, um diesfalls eine gewuhrige Entschließung um so ehender zu erhalten“53 . Dessen Sohn Karl Albrecht teilte der Kammerrichter mit, dass dessen Prozess gegen die Stadt Schwäbisch Hall eine erfreuliche Entwicklung nehme und er selbst sich „diesen als auch dero übrige bey dahiesigen kaysl. und Reichß Cammer gericht obschon beide rechts sachen ferner hin bestens werde angelegen seyn laßen“54 werde. Eine ähnliche Funktion wie in ihrem sozialen Netzwerk hatte das Kammerrichteramt für seine Inhaber auch in ihrer Beziehung zum Kaiser. Auch diese beruhte auf dem Austausch von Gaben und Gegengaben, durch den eine Bindung zwischen beiden Seiten aufgebaut und immer wieder erneuert wurde.55 Die vom Kaiser zu vergebenden Ressourcen – Ämter, Fürsprachen und vor allem Standeserhöhungen – waren für den hohen Reichs- und erbländischen Adel von besonderem Interesse, da sie den Empfängern die Möglichkeit boten, das eigene symbolische, soziale und vor allem auch ökonomische Kapital zu vermehren.56 Auf der anderen Seite hatte auch der Kaiser ein Interesse an bestimmten Leistungen, die von dem jeweiligen Personenkreis erbracht werden konnten. Beispielsweise wurde von darin wirkenden Akteuren erwartet, dass sie auf Kreistagen oder auf dem Reichstag bestimmte Positionen unterstützten oder bei Bischofswahlen entweder selbst den kaiserlichen Kandidaten wählten oder Verwandte dazu veranlassten.57 War für den Erhalt des Kammerrichteramtes zunächst zwar die Aufwendung von Kredit in Form von eigenen Verdiensten oder der Fürsprache 53 54 55

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HZA Neuenstein Ba 125 Bü 58, Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst an Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein, Schillingsfürst 2. April 1751. HZA Neuenstein Ba 125 Bü 68, Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein an Karl Albrecht von Hohenlohe-Schillingsfürst, Wetzlar 22. März 1759. Sharon Kettering: Gift-giving and patronage in early modern France, in: French History 2,2 (1988), S. 131–151. Zur kaiserlichen Klientelbildung vgl. Volker Press: Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich, in: Antoni Mączak (Hrsg.)/Elisabeth Müller-Luckner (Bearb.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 19–46, hier S. 35–46. Zur Attraktivität kaiserlicher Ämter vgl. Pečar: Ökonomie (wie Anm. 45), S. 20–140. So befahl Kaiser Karl VI. 1714 beispielsweise Froben Ferdinand von FürstenbergMeßkirch (Kammerrichter 1718–1722) an, dass er seinen Vetter Anton Maria von Fürstenberg-Stühlingen veranlassen solle, bei der Koadjutorwahl in Eichstätt den kaiserlichen Kandidaten, Herzog Leopold von Lothringen, zu wählen; vgl. FFA Donaueschingen OB 19 Vol. 49 Fasz. 2, Kaiser Karl VI. an Froben Ferdinand von FürstenbergMeßkirch, 16. Oktober 1714 (Kopie).

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einflussreicher Verwandter oder Freunde am Kaiserhof notwendig, so bot Übernahme und Ausübung des Kammerrichteramtes die Möglichkeit, erneut Kredit beim Kaiser zu erwerben und so in den Genuss neuer Vergünstigungen des Kaisers für sich und seine Familie zu kommen. Eine besondere Rolle spielte beim Bemühen, den Kaiser zur Zuteilung weiterer Ressourcen zu motivieren, die hohen Kosten, die mit der Ausübung des Kammerrichteramtes verbunden waren. So forderten die Kammerrichter beim Kaiser mehr oder weniger offen Gegenleistungen für die von ihnen aufgebrachten hohen privaten Mittel ein. Als sich beispielsweise Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1746–1763) 1753 für die Beförderung seines ältesten Sohnes Ludwig Leopold einsetzte, der in einem kaiserlichen Kürrassierregiment diente, merkte er in seinem Bittschreiben an, dass er insbesondere aufgrund des „auffhabenden schweren cammer richter ambt“ und drei weiterer Söhne nicht in der Lage sei, für seinen ältesten Sohn in unbegrenztem Umfang aufzukommen.58 Kurze Zeit später wurde Ludwig Leopold tatsächlich zum Chef einer Kompanie im Kollowatschen Dragonerregiment ernannt.59 Darüber hinaus konnte der Kredit, den der Kammerrichter beim Kaiser erwirtschaftete, nicht nur von diesem selbst, sondern auch von seiner gesamten Familie bei Ansinnen gegenüber dem Kaiser angebracht werden. Verdienste konnten also wie ein Vermögen über Generationen angesammelt werden.60 Einem der Söhne Philipp Karls von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter, 1722–1729) – Joseph von Hohenlohe-Pfedelbach – diente dementsprechend die Tätigkeit seines Vaters als Kammerrichter als Argument, als er 1754 um die kaiserliche Unterstützung bei seiner Bewerbung um die Probstei im Stift Ellwangen bat. Er führte aus, dass er sich selbst nicht vieler Verdienste rühmen könne, doch seine „voreltern“ – insbesondere sein Vater als Kammerrichter – habe sich um das Erzhaus verdient gemacht, weshalb er auf die kaiserliche Unterstützung hoffe.61 Diese wurde ihm auch gewährt. Allerdings gab er seine 58 59 60

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HHStA Wien RK kleine Reichsstände 201, Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein an den Reichsvizekanzler Rudolph Joseph von Colloredo, Wetzlar 19. Juli 1753. HHStA Wien RK kleine Reichsstände 201, Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein an Kaiserin Maria Theresia, Wetzlar 9. September 1753. Derartige Beobachtungen haben auch Heiko Droste für die schwedischen Diplomaten im 17. Jahrhundert und Hillard von Thiessen für das Verhältnis des spanischen Königs zum römischen Adel gemacht; vgl. Heiko Droste: Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Münster [u. a.] 2006, S. 242–244; Hillard von Thiessen: Außenpolitk im Zeichen personaler Herrschaft. Die spanischrömischen Beziehungen in mikropolitischer Perspektive, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua, Tübingen 2004, S. 21–177, hier S. 136; Pečar geht dagegen davon aus, dass die aus kaiserlichen Ämtern zu gewinnenden Ressourcen in der Regel mit der Amtsaufgabe oder dem Tod des Amtsinhabers erloschen; vgl. Pečar: Ökonomie (wie Anm. 45), S. 266f., 300. HHSTA Wien RK kleine Reichsstände 201, Joseph von Hohenlohe-Pfedelbach an Kaiser Franz I., Pfedelbach 10. Juli 1754.

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Bewerbung um die Probstei vorzeitig zugunsten von Anton Ignaz von Fugger auf, um eine Stimmenmehrheit für Johann Theodor von Bayern zu verhindern.62 Das Kammerrichteramt war aber nicht allein eine Gelegenheit für die Inhaber, an kaiserlichen Ressourcen zu partizipieren. Zugleich bot es den Kaisern selbst die Möglichkeit, von den Kammerrichtern zu fordern, dass sie ihren Einfluss am Reichskammergericht bei Bedarf im kaiserlichen Sinne nutzten, zum Beispiel bei den sogenannten Präsentationsangelegenheiten. Die Kompetenz zur Besetzung eines Großteils aller Stellen am Reichskammergericht lag nämlich nicht beim Kaiser oder den Reichsständen, sondern beim Gericht selbst. Kaiser und Reichsstände besaßen nur ein Vorschlagsrecht.63 Um dennoch die eigenen Wunschkandidaten durchsetzen zu können, intervenierten die Kaiser regelmäßig bei den Kammerrichtern. So brachte zum Beispiel Kaiser Karl VI. gegenüber Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1722–1729) in der Präsentationssache Johann Stephan Speckmanns ein solches Ansinnen zum Ausdruck. Dieser war zuvor Reichskammergerichtsadvokat und Prokurator gewesen und im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts durch seine Aktivitäten im Prozess der Untertanen von Dreis gegen den Abt von Echternach in Verruf geraten. Das Reichskammergericht warf ihm vor, die Dreiser Bauern gegen ihren Herrn – den Abt von Echternach – aufgewiegelt zu haben, und strengte deshalb einen Fiskalprozess gegen ihn an.64 Als Speckmann 1720 erreichte, dass der Kaiser ihn für das böhmische Kreisassessorat präsentierte, war das Gericht empört und lehnte seine Bewerbung mit der Begründung ab, dass neben der fachlichen Qualifikation auch die persönliche Eignung eine unerlässliche Voraussetzung für eine Assessorenstelle sei.65 Erschwerend kam hinzu, dass das Reichskammergericht Speckmann kurze Zeit später darauf in der Dreiser Angelegenheit für schuldig befand. Der Kaiser erklärte daraufhin aus kaiserlicher Machtvollkommenheit die Beschlüsse des kammergerichtlichen Plenums für ungültig und befahl die sofortige Aufnahme Speckmanns.66 Den Kammerrichter wies Karl VI. an, dafür Sorge zu tragen, dass dessen Aufnahme nun „ohne verzögerung und unß mißfällige auszüglichkeit“67 vonstatten ginge. Hohenlohe tat offensichtlich sein Möglichstes, und so gab es Ende Juni 1725 schließlich im 62

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Joachim Seiler: Das Augsburger Domkapitel vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Säkularisation (1648–1802). Studien zur Geschichte seiner Verfassung und seiner Mitglieder, St. Ottilien 1990, S. 452f. Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (QFHG 26 I und II 1,2), Köln/Weimar/Wien 2003, Teil 1, S. 168–210. Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 63), Teil 2, Bd. 1, Biographie 18, S. 166f. Ebd., S. 168. Ebd., S. 168. HZA Neuenstein Ba 125 Bü 19, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 25. April 1725.

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Plenum eine Mehrheit für die Aufnahme Speckmanns als Assessor.68 Nach Wien berichtete er, dass die Aufnahme geglückt sei, die Voten der Assessoren aber „sehr niedrig“ ausgefallen seien. Er empfahl deshalb, möglichst bald für Speckmann eine andere Verwendung zu finden.69

5. Normenkonkurrenz Doch in welchem Verhältnis stand die Einbindung des Kammerrichteramts in das soziale Gefüge seiner Inhaber zum Reichskammergericht als Institution? Mit dem Reichskammergericht wurde auf dem Wormser Reichstag 1495 auf Betreiben mächtiger Reichsstände eine Institution gegründet, mit der sich die Ausübung der höchsten Gerichtsbarkeit im Reich aus dem kaiserlichen Einfluss teilweise herauslöste.70 Die höchste Gerichtsbarkeit im Reich war eines der wichtigsten Attribute kaiserlicher Macht.71 Dementsprechend wurde die höchste Rechtsprechung im Spätmittelalter in der Regel am kaiserlichen Hof durch das kaiserliche Hofgericht bzw. das kaiserliche Kammergericht ausgeübt, deren Besetzung und auch Finanzierung allein dem Kaiser oblagen. Zudem waren diese Gerichte – wie später auch der Reichshofrat – unmittel-

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Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 63), Teil 2, Bd. 1, Biographie 18, S. 169. HHStA Wien RK RKGVA 337a, Extrakt aus der Relation des Kammerrichters Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein an den Kaiser, Wetzlar 30. Juni 1725. Zur sogenannten Reichsreform vgl. Heinz Angermeier: Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; Peter Moraw: Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“ im deutschen Spätmittelalter, in: BlldtLG 122 (1986), S. 117–136; ders.: Reichsreform und Gestaltwandel der Reichsverfassung um 1500, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters. Festschrift zum 60. Geburtstag von Peter Moraw am 31. August 1995, Sigmaringen 1995, S. 277–292; ders.: Der Reichstag zu Worms von 1495, in: Claudia Helm (Hrsg.), 1495 – Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms. Ausstellung des Landeshauptarchivs Koblenz in Verbindung mit der Stadt Worms zum 500-jährigen Jubiläum des Reichstags von 1495, Koblenz 1995, S. 25–38. Friedrich Battenberg: Königliche Gerichtsbarkeit und Richteramt nach der Kammergerichtsordnung von 1495. Realisierung eines Reformanliegens oder politischer Kompromiß?, in: Serge Dauchy/Jost Monballyu/Alain Wijffels (Hrsg.), Auctoritates xenia Raoul C. Van Caenegem oblata: la formation du droit et ses auteurs. De Auteurs van de Rechtsontwikkeling (Die Autoren der Rechtsentwicklung), Iuris scripta historica 13, Brüssel 1997, S. 91–111, hier S. 99; ders.: Studien zum Personal des königlichen Hofgerichts im Mittelalter, in: ders./Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar/Köln/ Wien 1994, S. 61–77, hier S. 61–62. Vgl. auch Heinz Duchhardt: Das Reichskammergericht, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 1–13, hier S. 3.

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bar mit der Person des Kaisers verknüpft, weshalb sie beim Tod des Kaisers aufgelöst wurden und der neue Kaiser ein neues Gericht einsetzte.72 Das neu errichtete Reichskammergericht dagegen erhielt seinen Sitz außerhalb des kaiserlichen Einflussbereichs – zunächst in Worms, später in Speyer und Wetzlar –, und die Reichsstände wurden an den Stellenbesetzungen und der Finanzierung beteiligt.73 Darüber hinaus wurde das Reichskammergericht als eine überzeitliche Institution angelegt, die auch während eines Interregnums weiter Recht sprach.74 Selbst der Kammerrichter als kaiserlicher Repräsentant blieb im Amt und konnte auch vom nachfolgenden Kaiser nicht ausgetauscht werden. Mit dieser Herauslösung des Reichskammergerichts aus dem kaiserlichen Einflussbereich war ein Prozess der Ausdifferenzierung des Rechts verbunden, der einen Zugewinn an Autonomie für die oberste Rechtsprechung nach sich zog. Diese Entwicklung hin zu einer autonomen Gerichtsbarkeit wurde durch die Reichskammergerichtsordnungen unterstützt, in denen zahlreiche Bestimmungen enthalten sind, die auf eine autonome Rechtsprechung zielten. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie der Gleichheit der Parteien vor Gericht. So schworen Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren etwa in dem Eid, den sie vor ihrer Aufnahme in das Reichskammergericht ablegten, „den Hohen und Niedern, nach seiner besten Verständnuß, gleich zu richten, und kein Sach sich dagegen bewegen zu lassen“75 . Auch der Möglichkeit, frei von persönlichen Bindungen zu handeln, findet in den Ordnungen Beachtung. Da das Gerichtspersonal vor seiner Aufschwörung häufig in Diensten des Kaisers oder eines Reichsstandes stand oder diesen untertan waren, bestimmten sie, dass Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren von allen ihren früheren

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Wolfgang Hermkes: Das Reichsvikariat in Deutschland. Reichsvikare nach dem Tode des Kaisers von der Goldenen Bulle bis zum Ende des Reiches, Karlsruhe 1968. Jost Hausmann: Die Städte des Reichskammergerichts, in: ders. (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9–36; ders.: Die wechselnden Residenzen des Reichskammergerichts bis Speyer, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527) (QFHG 45), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 145– 160; Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 63), Teil 1, S. 160–210. Hermkes: Reichsvikariat (wie Anm. 72), S. 19. [Konzept Der Reichskammergerichtsordnung von 1613], in: Johann Jacob Schmauß: Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum, enthaltend des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation Grund-Gesetze, nebst einem Auszuge der Reichs-Abschiede anderer Reichs-Schlüsse und Vergleiche, hrsg. v. Gottlieb Schumann/Heinrich Gottlieb Franken, 2. Aufl., Leipzig 1794, ND Hildesheim/New York 1973, S. 330–703., Teil 1, Tit. 71, S. 497 (im Folgenden: CRKGO 1613); RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Tit. 57, S. 151. Vgl. auch Maria von Loewenich: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen im Verfahren des Reichskammergerichts, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010, S. 157–187, hier S. 175–177.

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Eiden gegenüber Kaiser, Kurfürsten und Ständen befreit sein sollten.76 Das Gerichtspersonal wiederum sollte sich in der Rechtsfindung und auch in ihren sonstigen Aufgaben bei Gericht durch keine andere Pflicht gegen wen auch immer an einem der Ordnung gemäßem Handeln hindern lassen.77 Ergänzt wurden diese allgemeinen Bestimmungen durch konkrete Handlungsanweisungen im Verfahrensablauf. So sollten der Kammerrichter, die Präsidenten und die Assessoren, wenn sie selbst von einem Fall betroffen waren oder aber durch Verwandtschaft oder Freundschaft mit einer der Prozessparteien als befangen gelten konnten, nicht am Verfahren teilhaben.78 Die soeben ausgeführten Bestimmungen passen schlecht zu den Interessen, die die Kammerrichter mit ihrem Amt verbanden. Dennoch kann das Zuwiderhandeln zumindest eines Teils der Kammerrichter gegen diese Bestimmungen nicht nur als Fehlverhalten im heutigen Sinne gedeutet werden. Denn selbst wenn die Kammerrichter sich gemäß den normativen Vorgaben der Reichskammergerichtsordnungen verhalten wollten, war ihnen dies nicht immer uneingeschränkt möglich, erwarteten doch sowohl ihre soziale Netzwerke als auch der Kaiser, dass sie die Möglichkeiten, die ihnen ihr Amt bot, in die jeweilige Tauschbeziehung einbrachten. Erfüllten die Kammerrichter solche Forderungen nicht, konnte dies zu schweren Konflikten führen, die die Partizipation des Kammerrichters und seiner Familie an Ressourcen in Domkapiteln, am Kaiserhof usw. gefährdeten. Die Kammerrichter standen also in ihrem sozialen Umfeld in einer Art Normensystem, das mit dem der Reichskammergerichtordnungen konkurrierte.79 Gerieten die Normen der Reichskammergerichtsordnungen oder auch allgemeine Interessen des Gerichts in einen Gegensatz zu den Interessen des Kaisers oder des Netzwerks eines Kammerrichters, konnte Letzterer deshalb in einen Zwiespalt geraten. In einer solchen Situation befand sich Philipp 76 77 78 79

RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Tit. 6, § 2, S. 80; CRKGO 1613 (wie Anm. 75), Teil 1, Tit. 5, § 10, S. 339. RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Tit. 6, § 2, S. 80; CRKGO 1613 (wie Anm. 75), Teil 1, Tit. 7, § 3, S. 343. RKGO 1555 (wie Anm. 10), Teil 1, Tit. 13, § 13, S. 96; CRKGO 1613 (wie Anm. 75), Teil 1, Tit. 12, § 8, S. 356 u. § 15, S. 357. Hillard von Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrundert, in: Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/ Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 91–120, hier S. 94f.; ders.: Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit, in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010, S. 205–220, hier S. 211f.; vgl. Maria von Loewenich: Korruption im Kammerrichteramt. Das Beispiel Karl Philipps von Hohenlohe-Bartenstein, in: Anja Amend-Traut/Albrecht Cordes/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution, Berlin/Boston 2013, S. 249–265, hier S. 259–263.

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Karl von Hohenlohe-Bartenstein (Kammerrichter 1722–1729) 1724 während des sogenannten Kalenderstreits. Die Ferien sowie die freien Tage des Reichskammergerichts richteten sich nach dem christlichen Festkalender. Als Folge der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 berechneten Katholiken und Protestanten diese Feste unterschiedlich, weshalb seit dem Visitationsabschied von 1587 das Gericht sowohl an den katholischen, als auch an den protestantischen Terminen die Arbeit einstellte.80 Ende des 17. Jahrhunderts einigten sich die protestantischen Reichsstände darauf, ab dem Jahr 1700 einen „verbesserten julianischen“ Kalender einzuführen, der mit der gregorianischen Kalenderberechnung übereinstimmte.81 In Folge dessen wurden die doppelten Ferien im Visitationsabschied von 1713 abgeschafft.82 Allerdings berechneten die Protestanten weiterhin den Ostertermin anders, was von Zeit zu Zeit zu Abweichungen beim Termin führte. Dies war 1724 das erste Mal der Fall.83 Das protestantische Osterfest wurde am 9. April, das katholische eine Woche später am 16. April gefeiert. Ferner verschoben sich auch alle anderen, von Ostern abhängigen Feste wie Himmelfahrt und Pfingsten. Bereits Anfang des Jahres 1723 hatten die protestantischen Assessoren auf Geheiß des Corpus Evangelicorum den Kammerrichter über die unterschiedlichen Ostertermine im folgenden Jahr informiert, damit das Gericht rechtzeitig eine Ferienlösung erarbeiten konnte.84 Kaiser Karl VI. war aber nicht bereit, eine solche Veränderung bei der Ferienregelung zu akzeptieren, sondern nutze diesen Anlass, um seine Stellung als Oberhaupt des Reichskammergerichts und oberster Richter im Reich zu demonstrieren. Er befahl Hohenlohe deshalb, den Protestanten nicht entgegenzukommen, sondern lediglich an den Terminen der 80 81

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Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 86, S. 22. Martin Scheutz: „Den neuen bäpstischen calender anlangende würdet derselb [. . . ] durchaus nit gehalten“. Der gregorianische Kalender als politischer und konfessioneller Streitfall, in: Wolfgang Hameter (Hrsg.), Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit, Innsbruck [u. a.] 2005, S. 116– 143, hier S. 135. [Reichskammergerichtsvisitationsabschied von 1713], in: Johann Jacob Schmauß: Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum (wie Anm. 75), § 38, S. 1159. Die Osterfestberechnung wich neben 1724 auch 1744 ab. Cramer: Nebenstunden (wie Anm. 39), Bd. 86, S. 22; Scheutz: Der gregorianische Kalender (wie Anm. 81), S. 136. 1776 wurde auf Betreiben des preußischen Königs Friedrich II. die protestantische Osterfestberechnung mit der katholischen vereinheitlicht, weshalb es 1778 und 1798 nicht erneut zu einer Datumsdivergenz kam; vgl. ebd., S. 136. Das Corpus Evangelicorum an Kaiser Karl VI., Regensburg 11. März 1724, in: Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth: Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben Und anderer übrigen Verhandlungen Des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum Von Anfang des jetzt fürwährenden Hochansehnlichen Reichs-Convents Bis auf die gegenwärtige Zeiten [1663–1752], [. . . ], Bd. 1, Regensburg 1751, S. 222–225, hier S. 223. Zu den Ferienregelungen an den höchsten Reichsgerichten im Allgemeinen vgl. Wolfgang Sellert: Urlaub, Ferien und Arbeitsbelastung an den Höchstgerichten des Heiligen Römischen Reichs, in: Rüdiger Krause/Martina Benecke (Hrsg.), Festschrift für Hansjörg Otto zum 70. Geburtstag am 23. Mai 2008, Berlin 2008, S. 519–536.

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katholischen Feiertage die Arbeit des Gerichtes einzustellen, da es dem Reichskammergericht nicht zukomme, die Gerichtsferien ohne Rücksprache mit dem Kaiser zu verändern.85 Dies stieß bei den protestantischen Assessoren des Gerichtes auf scharfen Protest und sie beschlossen, an den protestantischen Festterminen nicht bei Gericht zu erscheinen.86 Der Kammerrichter wie auch die katholischen Assessoren fürchteten, der Konflikt könne das Gericht spalten und damit arbeitsunfähig machen.87 Er bat deshalb die protestantischen Assessoren inständig, bis zu einer Entscheidung des Reichstags an den Gerichtsgeschäften teilzunehmen.88 Außerdem teilte er an den zweifelhaften Tagen vorsorglich keine protestantischen Assessoren für die kammergerichtlichen Audienzen ein.89 Gleichzeitig versuchte er gegenüber dem Kaiser, den Konflikt auszusitzen. Obwohl er schon mehrfach vom Kaiser den Befehl bekommen hatte, gegen die protestantischen Assessoren hart durchzugreifen, fragte er dennoch mehrfach in Wien nach, wie er sich weiter verhalten sollte. So hatte der Kaiser Hohenlohe bereits am 29. März 1724 unmissverständlich befohlen, „in solchen Fällen dein cammerrichterliches ambt gegen die, welchen ihnen hierunter etwas zu schulden kommen lasen [gemeint sind die evangelischen Assessoren] mit der straff der ungehorsamben [...] ohne ruckfrag stärklich zu verfahren“90 . Dieses Schreiben traf in Wetzlar per Eilkurier am 4. April 1724 ein und wurde bei Gericht verlesen. Als sich am 5. April – vier Tage vor dem protestantischen Ostertermin – die evangelischen Assessoren erneut nicht zur Kooperation bereitfanden, entschloss sich Hohenlohe gemeinsam mit den katholischen Assessoren, den Kaiser erneut um Instruktionen zu bitten.91 Am Kaiserhof durchschaute man offenbar Hohenlohes Taktik und dementsprechend ungehalten äußerte sich ihm gegenüber auch der Kaiser am 6. Mai 1724

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HHStA Wien MEA RKG 194a, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 16. Februar 1724 (Kopie). Die protestantischen Assessoren erschienen am 21. Februar 1724 nicht im Gericht, da an diesem Tag nach der evangelischen Osterfestberechnung die Fastenzeit begann. Vgl. BArch AR 1/IV–91, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 21. Februar 1724 (als Kopie in HHStA Wien MEA RKG 230). HHStA Wien MEA RKG 230, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 6. April 1724 (Kopie). Nicht in BArch AR 1/IV–91. BArch AR 1/IV–91, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 5. April 1724, fol. 16v– 17v, hier fol. 17f. (Als Kopie auch in HHStA Wien MEA RKG 230). HHStA Wien MEA RKG 230, Relation der kaiserlichen Prinzipalkommission am Reichstag, Regensburg 9. Juni 1724 (Kopie). HHStA Wien MEA RKG 194a, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, Wien 29. März 1724 (Kopie). Auch in HHStA Wien MEA RKG 230. BArch AR 1/IV–91, fol. 16v-17v, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 5. April 1724 (Kopie in HHStA Wien MEA RKG 230). HHStA Wien MEA RKG 230, Plenumsprotokoll des Reichskammergerichts, 6. April 1724 (Kopie). Nicht in BArch AR 1/ IV–91. Zur Wahrnehmung von Hohenlohes mangelndem Durchsetzungswillen vgl. HHStA Wien MEA RKG 194a, Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn an Baron von Kirchner, Wien 8. März 1724.

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über die „geringe Würckung“ seiner Befehle.92 Letztendlich zeigte die Hinhaltepolitik des Kammerrichters Erfolg. Mit dem Ende der protestantischen Pfingstfeiertage Ende Mai erledigte sich das Problem von selbst. Aber auch im Rahmen des persönlichen Netzwerks des Kammerrrichters konnte es zu Konflikten zwischen den beiden Regelsystemen kommen. So war Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch (Kammerrichter 1718–1722) offenbar nicht bereit, gegen die Normen der Reichskammergerichtsordnung zu verstoßen. Zugleich sah er sich aber den Erwartungen seiner Verwandten und sonstigen Personen seines sozialen Umfeldes ausgesetzt, dass er Verfahren zu deren Gunsten gegebenenfalls auch über den gesetzlichen Rahmen hinaus beeinflusste. Dieses Dilemma kommt in den Antworten Fürstenbergs zum Ausdruck, die er auf die zahlreichen Gesuche seines sozialen Umfeldes um Beförderung von Prozessen verfasste.93 Er antwortete auf diese in der Regel, dass er alles tun werde, was innerhalb des gesetzlichen Rahmens möglich sei, bzw. dass die Beschleunigung von Prozessen nicht seinen persönlichen Verdiensten zuzurechnen sei, sondern zu den Aufgaben seines Amtes gehöre. Auch wenn eine Partei fälschlicherweise annahm, dass sich Fürstenberg in besonderem Maße für ihren Prozess eingesetzt hatte, wies er deutlich darauf hin, dass er keinen besonderen Dienst geleistet und nichts getan habe, was nicht seinen Amtsobliegenheiten entspreche. So hatte etwa ein Rat der Grafen von Isenburg-Büdingen im Februar 1721 – Ernst Schmidt – um den schnellen Abschluss des Rechtsstreits seiner Herren mit der Stadt Gelnhausen um verschiedene Jagdrechte gebeten. Fürstenberg hatte darauf den Büdinger Grafen geantwortet, dass er ihren Prozess gern vornehmen ließe, jedoch derzeit zu viel anderes anliege.94 Als im Sommer überraschend dennoch ein Endurteil zugunsten der Grafen von Isenburg erging, sandten die Grafen von Büdingen ihren Rat Schmidt zu Fürstenberg, um ihm ihre tiefe Dankbarkeit ausdrücken zu lassen.95 Offenbar nahmen sie an, dass er ihnen damit einen außerordentlichen persönlichen Dienst erwiesen hatte. Fürstenberg dankte seinerseits für den so reichlich dargebrachten Dank, verwies aber erneut nachdrücklich darauf, dass er dazu gemäß der „obhabendenden Schuldigkeit“ seines Amtes sowieso verpflichtet gewesen sei.96 Doch nicht nur mit unberechtigtem Dank war Fürstenberg konfrontiert, sondern auch mit Ärger über seine mangelnde Dienstbereitschaft, der die Be92 93 94

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HHStA Wien MEA RKG 194a, Kaiser Karl VI. an Philipp Karl von Hohenlohe-Bartenstein, 6. Mai 1724 (Kopie). Vgl. in FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14a, die Konzepte der Schreiben Froben Ferdinands von Fürstenberg-Meßkirch. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch an Georg Albrecht, Karl August, Ernst Kasimir und Ferdinand Maximilian von IsenburgBüdingen, Wetzlar 21. Februar 1721. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Ferdinand Maximilian von Isenburg-Büdingen an Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch, Wächtersbach 7. Juli 1721. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14, Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch an Ferdinand Maximilian von Isenburg-Büdingen, Wetzlar 14. Juli 1721 (Konzept).

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ziehung zur jeweiligen Personen oder dem jeweiligen Personenkreis nachhaltig beschädigen konnte. So hatte sich etwa der Bischof von Speyer – Damian Hugo von Schönborn – an Fürstenberg mit der Bitte gewandt, seinen Prozess gegen die Reichsstadt Speyer und den Herzog von Württemberg um die Schifffahrtsrechte auf dem Rhein zu befördern. 1721 erließ das Gericht jedoch zugunsten der Stadt Speyer ein Mandatum sine Clausula, also eine umfassende einstweiligen Verfügung. Schönborn beschwerte sich daraufhin bei Fürstenberg auf das Äußerste.97 Dieser antwortete darauf, dass er den Prozess des Bischofs gemäß seinen Amtsobliegenheiten gefördert habe, dass „die Rheinfahrt und Stift Sache aber zu ew. Eminenz und lbd. vergnügen nicht, sondern anders ausgeschlagen, solches zu verhinderen ist, wie sie dieselbe von selbst gar wohl begreiffen in meinen händen nicht gestanden“98 .

6. Zusammenfassung Die Attraktivität des Kammerrichteramtes lag für seine Inhaber nicht in den Salarien, die sie für die Amtsausübung erhielten. Sie waren vielmehr sogar bereit, finanzielle Mittel in die Amtsausübung zu investieren. Der Profit, den sie erwirtschaften konnten, bestand dagegen in symbolischem und sozialem Kapital. Insbesondere der Erwerb von sozialem Kapital stand dabei jedoch in einem starken Gegensatz zu den Normen der Reichskammergerichtsordnungen, beruhte doch der mögliche Gewinn auf der Beeinflussung von Verfahren und sonstigen Entscheidungen des Gerichts zugunsten von Personen ihres sozialen Netzwerkes oder des Kaisers. Dennoch kann das Zuwiderhandeln zumindest eines Teils der Kammerrichter gegen diese Bestimmungen nicht als Fehlverhalten im heutigen Sinne gedeutet werden. Denn sie konnten sich nur sehr eingeschränkt den Erwartungen ihres sozialen Umfeldes auf Einbringung der kammerrichterlichen Ressourcen in ihre Tauschbeziehungen entziehen, da sie ansonsten die Teilhabe ihrer Familie an wichtigen Ressourcen gefährdeten. Sie unterstanden also neben den Normen der Reichskammergerichtsordnungen einem zweiten Regelsystem, das mit dem der Reichskammergerichtordnungen konkurrierte und damit im Widerspruch zu dem mit der Einrichtung des Reichskammergerichts verbundenen Gewinn von Autonomie der höchsten Gerichtsbarkeit im Reich stand. Die Logik der ständischen Gesellschaft und der Prozess der Ausdifferenzierung des Rechts standen hier also in einem Spannungsverhältnis.

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FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14h, Damian Hugo von Speyer an Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch, Bruchsal 1. März 1721. FFA Donaueschingen OB 12 Fasz. 14a, Froben Ferdinand von Fürstenberg-Meßkirch an Damian Hugo von Speyer, Wetzlar 21. März 1721 (Konzept).