Abriß einer funktionellen Semantik 9783110811858, 9789027925190


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German Pages 124 Year 1973

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INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Ziel und Methode der Forschung
Art und Beschaffenheit des Kontexts
Die nominative Funktion der Sememe
Die grammatische Funktion der Sememe
Die stilistische Funktion der Sememe
Synonymik: Der Weg zur Systematisierung der Sememe
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Abriß einer funktionellen Semantik
 9783110811858, 9789027925190

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JANUA LINGUARUM STUDIA M E M O R I A E N I C O L A I VAN W I J K D E D I C A T A edenda curat C.H. VAN SCHOONEVELD Indiana University

Series Minor, 137

ABRISS EINER FUNKTIONELLEN SEMANTIK von

GÂBOR O. N A G Y ABTEILUNGSLEITER DES SPRACHWISSENSCHAFTLICHEN INSTITUTS DER UNGARISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, BUDAPEST

1973

MOUTON THE H A G U E • PARIS

© Copyright Akademiai Kiado, Budapest 1973 No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publishers. Co-edition with Akademiai Kiado, Budapest in Hungary

Printed in Hungary

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Ziel und Methode der Forschung Art und Beschaffenheit des Kontexts Die nominative Funktion der Sememe 1. Relationen im Kontext 2. Kontexttypen und Elementarkontexte 3. Abgrenzung der Bedeutungen 4. Veränderungen der nominativen Funktion in der Synchronie 5. Probleme der Phraseologie a) Die phraseologische Einheit b) Typen der phraseologischen Einheiten c) Phraseologische Gebundenheit des Wortgebrauchs Die grammatische Funktion der Sememe Die stilistische Funktion der Sememe Synonymik: Der Weg zur Systematisierung der Sememe

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VORWORT

In der vorliegenden Arbeit möchte ich den Versuch unternehmen, kurz die Funktionen der bedeutungstragenden sprachlichen Elemente im aktuellen Sprechen, d. h. in der Rede, im Sprechakt dann aber im Bereich der Sprache selbst darzustellen. D a ich seit fast zwanzig Jahren an verschiedenen einsprachigen Wörterbüchern der ungarischen Sprache arbeite, befasse ich mich seit langer Zeit mit der Aufgabe, aus Hunderttausenden von Exzerpten, die aus literarischen Werken, Zeitungen usw. angefertigt wurden, die Bedeutungen einzelner Wörter und stehender Wortverbindungen (phraseologischer Einheiten) durch Textanalyse herauszufinden und sie sprachgemäß zu bestimmen. Als ich dann im Sommersemester des Jahres 1968 von Professor Wolfgang Schlachter den ehrenvollen Auftrag bekam, Vorlesungen im Finnischugrischen Seminar der Universität zu Göttingen zu halten, war ich gezwungen, meine lexikographischen Erfahrungen vom Gesichtspunkt der allgemeinen Semantik aus zu systematisieren und die Ergebnisse, die meine Untersuchungen zutage gebracht hatten, zu Papier zu bringen. So ist vorliegende Abhandlung entstanden, deren Inhalt und Form vielseitig von den Umständen ihrer Entstehung bestimmt ist: 1. Da sie aus einer Reihe von Vorlesungen entstanden ist, enthält sie viel weniger Hinweise auf die Fachliteratur als ein Werk, das schon ursprünglich für Leser und nicht für Hörer bestimmt war.

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VORWORT

2. D a meine Hörerschaft in den Grundfragen der Sprachwissenschaft, in den Hauptproblemen der Semantik bewandert war, kann diese Abhandlung weder als »Einleitung in die allgemeine Semantik« noch als Zusammenfassung der semantischen Probleme unserer Zeit betrachtet werden. Sie befaßt sich ausschließlich mit der Analyse der Funktionen der Sememe (der bedeutungstragenden Einheiten der Sprache) von einem Gesichtspunkt aus, der bisher nicht genügend in Betracht gezogen wurde. Obwohl dieser Gesichtspunkt den Aufbau eines spezifischen semantischen Systems ermöglicht, das vorwiegend lexikalische und ausschließlich synchrone Tatsachen berücksichtigt, muß betont werden, daß diese Abhandlung nur die Grundzüge dieses Systems enthält und daß diese Systematisierung in erster Linie die semantischen Erscheinungen in Betracht zieht, die mit dem kontextuellen Funktionieren der Redeeinheiten in Beziehung stehen. Von anderen Gesichtspunkten aus wichtige Fragen der synchronen Semantik (z. B. die der Formalisierung der Wortbedeutung), aktuelle Probleme der syntaktischen Semantik (z. B. die der Tiefenstruktur 'deep structure') und grundlegende Fragen der diachronen Semantik (z. B. die des Bedeutungswandels) werden deshalb hier überhaupt nicht behandelt. 3. Das sprachliche Material, das als Grundlage zu meinen Beobachtungen diente, schöpfte ich aus dem Ungarischen. Da ich aber auch einige indogermanische Sprachen studierte, konnte ich die Richtigkeit meiner Folgerungen auch an Sprachen überprüfen, die eine ganz andere Struktur aufweisen als meine finnisch-ugrische Muttersprache. Semantische Erscheinungen, die auf das Ungarische beschränkt sind, die nur die ungarische Sprache kennzeichnen, wurden außer acht gelassen. Und wenn die sprachlichen Beispiele auch zum Teil aus dem Ungarischen genommen sind, geschah es nur deshalb, weil man die realen Grenzen des Wortgebrauchs deutlich ausschließlich in der Muttersprache wahrnehmen kann. Die Beispiele aus der ungarischen Sprache werden übrigens auch deutsch erklärt, und einem Deutschen, oder einem, der

VORWORT

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Deutsch versteht, wird es keine Schwierigkeit bereiten, ähnliche Spracherscheinungen auch in seiner Muttersprache zu finden. 4. Wie schon erwähnt, beruhen meine semantischen Beobachtungen in erster Linie auf einer langjährigen lexikographischen Arbeit. Auf diesem Gebiet der angewandten Sprachwissenschaft befaßte ich mich nicht nur mit der Wortbedeutungsanalyse — nämlich als einer der Redakteure des siebenbändigen ungarischen Wörterbuches A magyar nyelv ertelmezö szötära (Budapest, 1959 — 62) — sondern ich stellte auch ein phraseologisches W 7 örterbuch der ungarischen Sprache, in dem etwa 20000 Redensarten nach Bedeutung und Gebrauch erklärt wurden (Magyar szöläsok es közmondäsok. Budapest, 1966), zusammen. Seit sechs J a h r e n arbeite ich an einem großen ungarischen Synonymwörterbuch, das nicht nur als Nachschlagewerk zum Finden des treffenden Wortes dienen soll, sondern auch den semantischen Aufbau der ungarischen Sprache, d. h. ihre synonymischen Teilstrukturen, darstellen will. Das soll hier erwähnt werden, um zu begründen, weshalb in der vorliegenden Abhandlung die semantischen Fragen der Phraseologie u n d teilweise auch der Synonymik ziemlich eingehend behandelt werden*.

* Das Werk von Thea Schippan, Einführung in die Semasiologie (Leipzig, 1972.) ist erst dann erschienen, als das Manuskript dieses Buches schon in Druck war. Es war für mich Überavis erfreulich, aufgrund dieser tüchtigen Zusammenfassung festzustellen, daß meine Beobachtungen, die ich durch die Praxis in der Wörterbucharbeit erworben habe, in vieler Hinsicht mit den neuen Ergebnissen der theoretischen Untersuchungen der Semasiologie übereinstimmen.

ZIEL UND METHODE D E R FORSCHUNG

Seit man das Wesen der Sprache ergründen will, hat man es immer irgendwie mit dem Begriff der Funktion in Verbindung gebracht. Wenn Piaton im Kratylos angibt, die Sprache sei ein 'ogyavov, meint er, daß dieses »Werkzeug« eine Funktion hat, da man mit Hilfe der Sprache jemandem etwas mitteilen kann. 1 Die dynamische Sprachbetrachtung W. von Humboldts beruht auf der Ansicht, die Sprache sei nicht Ergon, sondern Energeia, d. h. eine Art geistiger Tätigkeit, seelischer Funktion. Die Sprache gibt sich nach seiner Auffassung als eine sich immer wieder erneuernde Arbeit der Seele kund, indem sie den artikulierten Laut fähig macht, den Gedanken auszudrücken. 2 In der modernen Sprachwissenschaft erwies sich die funktionelle Betrachtungsweise zuerst in bezug auf die sprachliche Rolle der Laute befruchtend. Wie bekannt, entdeckte die phonologische Schule den Unterschied zwischen den Lauten, die nur Varianten voneinander sind, und den Lauten, die innerhalb einer Sprache die Funktion haben, den Sinn der Wörter voneinander zu unterscheiden.

1 K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (Jena, 1934.) S. 24. 2 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sparachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entivicklung des Menschengeschlechts. Hrg. v. H. Nette (Darmatadt, 1949.) S. 44.

ZIEL U N D METHODE D E B FORSCHUNG

H

Noch mehr befruchtend aber wirkten die Ideen von Ferdinand de Saussure auf diese Richtung der Entwicklung. Indem der große Schweizer Linguist die synchronen Tatsachen der Sprache in den Vordergrund der Untersuchung stellte, erlangte der Mechanismus der Sprache in seinem System eine Wichtigkeit, die ein günstiger Ausgangspunkt für eine allgemeine funktionelle Sprachforschung wurde. D a es aber eben als etwas Selbstverständliches aufgefaßt wurde, daß kein sprachliches Element ohne eine Funktion existieren kann, versäumte man anfangs eine den ganzen Kreis der Erscheinungen umfassende Bestimmung und die eingehende Erörterung des Wesens der Funktion der sprachlichen Elemente in der allgemeinen Sprachwissenschaft, obwohl viele Sprachforscher sich in ihren Detailuntersuchungen gerade mit der Bestimmung der Funktion einzelner Sprachelemente beschäftigten. Es ist bezeichnend, daß Jespersen, der in seinem Werk The Philosophy of Grammar3 die grammatischen Kategorien von der Seite des Sprechers als 'notion' —>- 'function' —>- 'form' und von der Seite des Hörers als 'form' — 'function' —»- 'notion' beschrieben hatte, später die Bezeichnung 'function' so unklar und irreführend fand, daß er statt 'function' von 'linguistic centre', 'linguo-centre' oder 'morphoseme' sprach. 4 Die Zweideutigkeit des Terminus 'Funktion' kommt auch heutzutage häufig darin zum Ausdruck, daß man einerseits allen sprachlichen Erscheinungen, allen lexikalischen und grammatischen Ausdrucksformen und Ausdrucksmitteln eine Funktion zuschreibt, anderseits aber das Wort Funktion — im Gegensatz zum Terminus Bedeutung — nur dann gebraucht, wenn es sich um Morpheme oder grammatische Erscheinungen handelt, die keinen »begrifflichen Inhalt« haben. Die Verworrenheit des sprachwissenschaftlichen Begriffs der Funktion versuchte zuerst Zoltän Gombocz, der im Jahre 3

(London—New York, 1929.) S. 5 6 - 5 7 . St. Ullmann, The Principles of Semantics, 1957.) S. 35. 4

2. ed. (Glasgow-Oxford,

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ZIEL U N D METHODE DER FORSCHUNG

1935 verstorbene Professor der Budapester Universität, auf den breitesten Grundlagen zu klären. In seinem Aufsatze Funkciondlis nyelvszemlelet [Funktionelle Betrachtungsweise der Sprache] 5 bestimmte er die Funktion der wichtigsten sprachlichen Einheiten klar, eindeutig und überzeugend. Die Funktion der Phoneme wurde von der phonologischen Schule als Unterscheidung bedeutungstragender sprachlicher Elemente definiert. Gombocz geht weiter und sucht die Funktion der Wörter im Hervorrufen der Vorstellungen und der Begriffe, die mit den betreffenden Wörtern, d. h. Lautungen, Namen, verknüpft sind, und die Funktion der Svntagmen im Hervorrufen und Erwecken von Beziehungen, Relationen, die zwischen einfacheren sprachlichen Elementen, d. h. Wörtern, nur in syntagmatischen Verbindungen zustande kommen können. Wie in diesem Aufsatz, betont Gombocz auch in seiner früher erschienenen Bedeutungslehre 6 , daß die Wortbedeutung ein Funktionsbegriff ist: »sie ist die K r a f t des Namens, vis verbi, einen Vorstellungsinhalt zu bedeuten, ihn hervorzurufen, und sie ist die Eigenschaft des Wortsinnes, durch die er sich mit einem Namen verknüpft.« Da Gombocz außerdem betont, daß »wir nur dann von Bedeutung sprechen können, wenn wir an die Wechselbeziehung des Namens und des mit ihm verknüpften Sinnes denken«, definiert Professor St. Ullmann, der mit großer Geistesschärfe die Ansichten von Gombocz weiterentwickelte, die Wortbedeutung folgendermaßen: »Meaning is a reciprocal relation between name and sense, which enables them to call up one another« 7 . Obwohl Ullmann seine Definition »the functiona-1 definition of meaning« nennt, möchte ich betonen, daß zwischen Funktion und Relation ein großer Unterschied besteht. Die Wortbedeutung kann tatsächlich als eine Relation, als eine Beziehung zwi5

In der Zeitschrift Magyar Nyelv, 1934. X X X . S. 1 - 7 . A magyar törteneti nyelvtan väzlata. IV. Jelentestan. [Abriß der historischen Grammatik der ungarischen Sprache. IV. Bedeutungslehre.] (Pees, 1926.) S. 33. 7 St. Ullmann, a. a. O. S. 70. 6

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sehen Name (d. h. Lautung) und Wortsinn (d. h. Wortinhalt), aufgefaßt werden, wenn wir die Bedeutung als eine Eigenschaft von Wörtern untersuchen, die auch ohne Kontext und Situation vollwertige Elemente der Sprache sind. Das sind sie aber nicht im alltäglichen Gespräch, nicht in der Literatur, also nicht in der Rede, nicht in den Sprechakten und in den nicht-sprachwissenschaftlichen Sprachwerken, sondern nur dann, wenn wir über die Sprache oder über Sprachelemente sprechen, also nur in der »Metalingua«. Wenn es sich z. B. um den Bedeutungswandel eines Wortes handelt, können wir tatsächlich von der Veränderung der Relation des Namens zum Wortsinn bzw. von der des Wortsinnes zum Namen sprechen. Wir wollen aber eher einen anderen Weg einschlagen, indem wir von den bedeutungstragenden Einheiten (Sememen), die im Kontext leben, zum Verständnis der Bedeutung des »abstrakten«, alleinstehenden Wortes gelangen wollen. Deshalb werden wir später noch zur Bedeutungsdefinition von Gombocz zurückkehren und sie unseren Zwecken gemäß ergänzen. Jetzt soll aber nur begründet werden, weshalb es zweckmäßig zu sein scheint, in unseren Untersuchungen davon auszugehen, was die Funktion der kontextbezogenen Sememe ist. Diese Begründung soll gleichzeitig die Frage beantworten, ob das Wort nicht seiner Autonomie beraubt wird, wenn wir es zunächst als ein Kontextglied, d. h. nicht an und für sich, sondern in Verbindung mit anderen Elementen der Rede, untersuchen. 1. Unser »Kontextualismus« hängt in erster Linie damit zusammen, daß wir immer den Zweck und den gesellschaftlich bestimmten Charakter der Sprache vor Augen haben. Die Sprache ist doch sui generis ein — im ursprünglichen Sinne des Wortes — wirksames Mittel, uns miteinander verständigen zu können. Und das geschieht ja nicht mit Wörtern sondern — mit Worten, d. h. mit zusammenhängenden Wortgruppen oder mit einem Wort, das aber immer in einer konkreten Situation ausgesprochen und deshalb als

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eine vollständige Mitteilung, sprachliche Äußerung ('utterance') aufgefaßt wird. Wenn wir das Leben der Sprache, ihren Mechanismus u n d sie selbst als wirkliche Energeia kennenlernen wollen, müssen wir sie zuerst in ihrem Wirken erfassen. Wenn jemand das Leben dßr Fische studieren will, wird er sie nicht aus dem Wasser herausnehmen, sondern er wird sie höchstens in ein Aquarium versetzen, wo ihre Lebensbedingungen gewährt sind. Ich möchte die Kontexte, in denen die Wörter, die Sememe »einheimisch« sind, mit dem Wasser oder mit Aquarien vergleichen, gebe aber gern zu, daß man die Sememe zu bestimmten praktischen u n d wissenschaftlichen Zwecken aus ihrer kontextuellen Gebundenheit loslösen muß, ebenso wie man den Fisch aus dem Wasser herausnimmt, um seine inneren Organe zu studieren. Wie unser Beispiel zeigt, k a n n man das selbständige Sein der Wörter, ja ihre spezifische Autonomie, in der Sprache nicht leugnen. Man muß aber den Unterschied zwischen dem bloßen Sein u n d dem Leben, dem Funktionieren, erkennen. Wie wir es noch sehen werden, ist dieses Funktionieren der Sememe eine vielseitige E n t f a l t u n g ihrer inneren K r ä f t e , ihrer latenten Möglichkeiten. Manche Sememe behalten einen großen Teil dieser K r ä f t e auch dann, wenn wir sie aus den Kontexten herausheben, d. h. Wörter wie z. B. Fahrkarte, strafen, eigensinnig bleiben auch dann dingbestimmend, wenn sie allein stehen, obwohl auch sie viel von ihrer vergegenwärtigenden K r a f t verlieren. Andere Arten der Wörter, z. B. die Formwörter, werden aber ohne K o n t e x t fast ganz leer. Ihre Bestimmung, ihr spezifischer Zweck, besteht nur darin, das Zustandebringen von Mitteilungen zu ermöglichen, die ohne sie nur lose u n d o f t unverständliche Wortgruppen wären. Diese Leistung k a n n auch vom Gesichtspunkt der Semantik aus nicht außer acht gelassen werden, d a sie gerade zum Wesen des Sprechaktes gehört. 2. Als zweite Begründung f ü r unsere Methode möchte ich die Tatsache angeben, daß f ü r den Forscher als Untersuchungsmaterial im Naturzustand nur Sprachwerke gegeben sind, in

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denen die Sememe immer als kontextgebundene bzw. durch Situationen bedingte Elemente vorkommen. Die Definition der Wortbedeutungen ist in erster Linie Aufgabe der Lexikographen. Eine wissenschaftliche Lexikographie kann aber ohne Exzerpte, ohne Texte, aus denen die Bedeutungen der Wörter sowie ihre übrigen kontextbildenden Eigenschaften (Konjugation, Deklination, Rektion, stilistische Beschaffenheit usw.) festgestellt werden können, nicht existieren; zumindest kann sie keine zuverlässigen Wörterbücher schaffen. Es wird oft behauptet, der Lexikograph zerstöre und vernichte die Kontexte, indem er sich mit den Einzelwörtern befaßt und im Wörterbuch die Wörter als selbständige Sprachelemente aufzählt. Diese Annahme ist aber ein großer Irrtum. In der Wörterbucharbeit werden die Kontexte gar nicht »vernichtet«, sie werden nur je nach den Bedeutungsfunktionen und den grammatischen und stilistischen Funktionen des in ihnen vorkommenden Stichwortes in Typen geordnet. Dann werden sie zu »Kontextgerippen«, zu »Elementarkontexten«, vereinfacht, indem alles, was in ihnen aktuell, einmalig, d. h. parolebezogen ist, weggelassen wird. Schließlich werden die Wörter im Wörterbuch doch nicht einfach aufgezählt, sondern es wird immer etwas von ihnen gesagt. Es würde niemand ein Wörterbuch in die Hand nehmen, das keine Informationen, keine Aufschlüsse über die Stichwörter enthält. Ein Wortartikel eines jeden Wörterbuches enthält ja immer eine Mitteilung, er ist immer als unvollständiger Satz aufzufassen: dieses oder jenes Stichwort bedeutet das und das; dieses oder jenes Stichwort hat folgende Synonyme. . .; das gesuchte W o r t wird richtig so und so geschrieben; usw. Selbst eine bloße Liste von Wörtern wird vom Benutzer als Mitteilung aufgefaßt, denn man erfährt aus ihr etwas, sie bringt gewisse Beziehungen zwischen einfacheren Gedankeninhalten zustande, und das reicht schon aus, sie als »Kontext« zu betrachten. D a wir also in der Realität der sprachlichen Welt immer nur miteinander oder mit einer Situation verbundene Wörter finden, scheint es die richtige Methode zu sein, den semanti-

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sehen Boden der bedeutungstragenden Einheiten der Sprache in Kontexten zu suchen. Eine andere Frage jedoch ist, daß man bei der semantischen Analyse nicht bei den einzelnen, gelegentlichen Sprachakten und bei den von ihnen geschaffenen Sprachwerken stehenbleiben darf, sondern in die abstrakte Welt der Sprache vordringen muß. 3. Unser Vorschlag, man sollte die funktionelle Analyse der Sememe in Kontexten beginnen und die Wörter in semantischer Hinsicht wenigstens vorläufig nur als Glieder größerer Einheiten untersuchen, scheint den Mangel zu haben, die Grenzen zwischen verschiedenen Gebieten der Sprachwissenschaft zu verwischen. Man kann fragen: werden hier eigentlich lexikologische oder grammatische (syntaktische) Untersuchungen angestellt? Wer aber die Frage so stellt, vergißt, daß schon de Saussure darauf hingewiesen hat: »wom Gesichtspunkt der Funktion aus können sich lexikologische und syntaktische Tatsachen vermischen«. 8 Und das ist nicht nur in bezug auf die Oppositionen von lexikologischen und syntaktischen Erscheinungen der Fall, die von de Saussure als Beispiele angeführt wurden, sondern — wie es sich im weiteren (vgl. S. 92 — 102) herausstellen wird — ein jedes Semem hat seine grammatische Beschaffenheit, die oft eng mit seiner dingbestimmenden Funktion zusammenhängt und die immer zur semantischen Natur des Semems hinzugehört. Es ist eine primitive, sprachwidrige Auffassung, in der Sprache eine Summe oder eine anorganische Verbindung des Wortschatzes und der Grammatik sehen zu wollen. Ganz im Gegenteil ! Ein bedeutender Teil der grammatischen Ausdrucksmittel kommt gerade im Funktionieren der Sememe zur Geltung. Man kann aber diese Funktion der Sememe, die grammatische Wirkung der Wörter, selbstverständlich nur in Kontexten wahrnehmen und studieren. 8

F . de Saussure, Cours de linguistique générale (Paris, 1931.), S. 187: „ O n voit donc qu'au point de v u e de la fonction, le fait lexicologique peut se eonfrondre a v e c le fait s y n t a x i q u e . "

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4. Wenn man Kontexte einer Analyse unterzieht, wenn man statt sprachlicher Phänomene nur aktuelle Redeerscheinungen untersucht, setzt man sich der Gefahr aus, das eigentliche sprachwissenschaftliche Ziel aus dem Auge zu verlieren. Es droht dem Forscher eine doppelte Gefahr: a) er gelangt von der Rede ('parole') nicht bis zur Sprache ('langue'); b) er verliert sich in Einzelheiten, in Einzelfallen, und betrachtet die Sprache nicht als ein System. a) Was die zuerst erwähnte Gefahr betrifft, haben wir schon angedeutet, daß wir in der Bedeutungsanalyse das Verfahren des Lexikographen für richtig halten. Da handelt es sich ja um ein Fortschreiten von Redeerscheinungen hin zu Spracherscheinungen, von Einzeltatsachen hin zu allgemeingültigen Tatsachen. Es soll noch hinzugefügt werden: diese Methode wird klären, daß die Erscheinungen der Rede ('parole') von den Erscheinungen der Sprache ('langue') durch keine unüberbrückbare Kluft getrennt sind. b) Der Gefahr der atomistischen Sprachbetrachtung wollen wir entgehen, indem wir das Endziel der Forschung im Ausbau eines lexikalischen Systems sehen. Es soll im letzten Kapitel dieser Abhandlung gezeigt werden, daß die lexikalische Substituierbarkeit der Kontextbestandteile mit Synonymen eine Verbindung der Sememe zum Vorschein bringt, die schließlich als eine sprachgemäße Grundlage zur Systematisierung des Wortschatzes dienen kann.

ART U N D B E S C H A F F E N H E I T DES KONTEXTS

Als Resultate sprachlicher Äußerungen entstehen Kommunikationseinheiten. So nennen wir die Mitteilungen, die aus gewissen Gründen als vollständige Einheiten des Sprechaktes aufgefaßt werden können. Es kann ein zweibändiger Roman, ein Zeitungsartikel, ein Gedicht, doch auch ein einziger Satz, ja sogar ein einziges Wort des Gesprächs als Kommunikationseinheit betrachtet werden, wenn es in der gegebenen Situation eindeutig ausdrückt, was der Sprecher mitteilen, fragen, wünschen oder befehlen will. Obwohl auch die vollständigen Kommunikationseinheiten die Funktion eines Semems beeinflussen, bzw. näher bestimmen können — das Wort vogel bedeutet z.B. im Gedichte »Der herr der insel« von Stefan George etwas ganz anderes als in Brehms »Tierleben« —, ist diese Redeeinheit jedoch nicht zur Funktionsanalyse der Sememe geeignet, denn sie ist nicht vom Gesichtspunkt der Funktionen eines bestimmten Semems aus definiert worden. Wenn wir aber den Begriff der Kommunikationseinheit einerseits auf Mitteilungen einengen, in denen wenigstens einer ihrer Semembestandteile seine Funktionen vollständig entfaltet, anderseits aber den Begriff erweitern und ihm auch zusammenhängende Teile von vollständigen Mitteilungen unterordnen, die die oben genannte Eigenschaft haben, bekommen wir eine längere oder kürzere Reihe von Sprachelementen, die wir Kontext nennen. Bei dieser Definition des Kontexts sind wir deshalb vom Begriff der Kommunikations-

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einheit ausgegangen, weil wir unterstreichen wollten, daß die semantische Analyse nur in Kontexten durchgeführt werden kann, die nicht zu sprachwissenschaftlichen Zwecken konstruiert wurden, sondern die aus einem wirklichen Sprechakt stammen und die von der ganzen betreffenden Sprachgemeinschaft als verständliche und richtige, natürliche Äußerungen anerkannt werden. Diese vollständigen oder natürlichen Kontexte — wir müssen sie so nennen, denn wir werden es später auch mit einer anderen Art von Kontexten zu tun haben — können Sememe enthalten, die zur Funktionsuntersuchung des bestimmten Semems, dessen Funktionen wir in ihnen beobachten wollen, gar keine Informationen liefern. Diese irrelevanten Sememe des Kontexts dürfen aber bei der Untersuchung nicht störend sein. Der Wahrheitsinhalt der Kontexte geht den Sprachforscher gar nichts an. Die Frage, ob der Inhalt (der Gesamtinhalt) eines Kontextes der Wirklichkeit entspricht oder nicht, kann oft gar nicht gestellt werden, da manche Kontexte keine vollständige Aussage, kein logisches Urteil enthalten. Viel verwickelter ist das Problem der Rolle der Sprechsituation vom Gesichtspunkt des Kontexts. Es gibt Kontexte, die zur Untersuchung der Funktionen eines in ihnen gemeinsamen Semems gar nicht brauchbar wären, wenn uns nicht ihre Verbindung mit einer konkreten Lebenssituation bekannt wäre. Die Kontexte: »ich möchte Öl kaufen«, »dieses öl ist nicht rein genügt/., »was leostet das Öl« usw. bestimmen nur dann die Bedeutungsfunktion des Wortes Öl, wenn wir wissen, ob sie in einem Lebensmittelgeschäft, an einer Tankstelle oder in einer Farbenhandlung gesagt wurden. (Das Wort »bestimmen« bedeutet hier nur einen Hinweis auf eine Wirklichkeitsrelation, deren Grenzen uns schon im voraus bekannt sein müssen.) Obwohl K. Bühler behauptet: »Situation und Kontext sind . . . die zwei Quellen, aus denen in jedem Fall die präzise Interpretation sprachlicher Äußerungen gespeist

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ABT U N D BESCHAFFENHEIT D E S KONTEXTES

wird«,1 schreibt er an einer anderen Stelle seiner »Sprachtheorie« folgendes: »genau so unleugbar wie die konkrete Sprechsituation ist die andere Tatsache, daß es weitgehend situationsferne Reden, daß es in der Welt z. B. ganze Bücher gibt, die mit situationsfernen Reden gefüllt sind« (z. B. »Rom liegt auf sieben Hügeln«; »zweimal zwei ist vier« usw.).2 Man kann diesen scheinbaren Widerspruch aufheben, wenn man an die Zweideutigkeit des Wortes »Sprechsituation« denkt. Einerseits bedeutet das Wort eine Verbindung des Sprechaktes mit den Umständen und Verhältnissen, in denen das Sprechen sich vollzieht. In diesem Sinne des Wortes ist ein jeder Kontext mit einer Sprechsituation verbunden, denn es geschieht ja nichts außerhalb von Raum und Zeit und ohne Ursache. Jede Äußerung vollzieht sich unter gewissen Umständen, gehört deshalb zeitlich, räumlich und ursächlich irgendwohin und kann deshalb als situationsgebunden aufgefaßt werden. Anderseits bedeutet »Sprechsituation« aber auch eine gewisse ^46hängigkeit des Inhalts der Äußerung von äußeren Umständen. In diesem Sinne des Wortes gibt es tatsächlich situationsferne Kontexte. In ihnen werden die Funktionen der Sememe nicht von äußeren Faktoren, sondern nur voneinander beeinflußt bzw. bestimmt. Die Tatsache, daß manche Kontexte in diesem Sinne des Wortes situationsfern sind, muß bei der »Interpretation sprachlicher Äußerungen« in Betracht gezogen werden. Wie in manchen Kontexten der dingbestimmende Charakter der Sememe von der gegebenen Situation abhängt, so wird die Eigenart anderer Kontexte gerade davon bestimmt, daß in ihnen die einheitliche Bedeutung ausschließlich durch die Wechselwirkung der kontextbildenden Sememe entsteht. Die semantische Wechselwirkung der Sememe, die selbstverständlich auch in situationsgebundenen Kontexten vor1

A. a. O. S. 149. — Vgl. noch A. Martinet, Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Stuttgart, 1963.), S. 43: „ein sprachliches Element [hat] nur in einem gegebenen Kontext und einer gegebenen Situation wirklich eine Bedeutung." 2 S . 23.

AKT UND BESCHAFFENHEIT DES KONTEXTES

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handen ist, erfolgt auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, obwohl der Sprecher und der Hörer (der Sender und der Empfänger) diese Verschiedenheit in der Regel nicht analysiert, ja nicht einmal wahrnimmt. Die Eigenleistungen der Sememe und die Verschiedenheit der Verbindungen, die sie zusammenhalten, gehen im einheitlich aufgefaßten Inhalt des Kontexts auf, der sozusagen nur die Summierung der Funktionen der Sememe wahrnehmen läßt. Man muß zugeben, daß viele eine instinktive Neigung zur Zerlegung sprachlicher Einheiten, zur Begründung des Zusammenhanges zwischen verstandenem Inhalt und wahrgenommener Form haben. (Dies führt bei der Wortform manchmal zur Volksetymologie.) Diese Neigung kann aber nur dann befriedigt werden, solche Reflexionen über sprachliche Beziehungen können nur dann entstehen, wenn der Sprechakt schon beendet und die Äußerung im Zusammenhang ihrer Elemente verstanden wurde. Das Verständnis des Kontexts hängt ja eben davon ab, ob der Empfänger seinen Inhalt als Einheit auffassen kann, ob die Wechselwirkung der Sememe sich im Kontext vollzogen hat. Obwohl also die verschiedenen Funktionen der Sememe des Kontexts im normalen Sprechakt ineinander aufgehen, müssen wir sie im Interesse der Analyse auseinanderhalten. Wir unterscheiden drei Hauptfunktionen der Sememe im Kontext, nämlich eine nominative (denotative, bezeichnende), eine grammatische (syntagmatische) und eine stilistische (emotionale). Unter nominativer Funktion der kontextbildenden Einheiten verstehe ich jene Rolle der Sememe, die auch als eine dingbestimmende Bedeutung (Wortbedeutung) aufgefaßt werden kann, und die im engeren Sinne des Wortes den »semantischen Inhalt« der Sememe betrifft. Als grammatische Funktion der Sememe wird die Entfaltung ihrer inneren Kräfte bezeichnet, wodurch auch eine formale Einheit, ein sprachlicher Zusammenhang zwischen den kontextbildenden Sememen zustande kommt. Es muß aber schon hier betont werden, daß diese Funktion der Sememe, die auch als ihre

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ABT U N D BESCHAFFENHEIT DES KONTEXTES

»grammatische Bedeutung« aufgefaßt werden kann, nicht oder nicht unbedingt mit Hilfe morphologischer Mittel realisiert wird und daß sie nicht vom Charakter der einzelnen Morpheme getrennt werden kann, also nicht etwa die Anwendung einer mehr oder weniger allgemeingültigen grammatischen Regel bedeutet. Die stilistische Funktion der Sememe äußert sich darin, daß die Bestandteile des Kontexts der Äußerung eine spezifische Färbung, eine bestimmte Schattierung, verleihen können. Dies zeugt vom Verhältnis des Senders zu seiner Äußerung, läßt seine Gemütsverfassung und in gewisser Hinsicht manchmal auch seinen Charakter erkennen. Diese Funktion der Sememe äußert sich teils in der Entfaltung ihrer eigenen stilistischen Werte, teils aber in ihrer besonderen Verbindung im Kontext. Wie die grammatische, so kann auch die stilistische Funktion der Sememe nicht ganz isoliert von ihrer nominativen Funktion betrachtet werden. Das wird durch die Tatsache bewiesen, daß ein polysemes Wort je nach seinen verschiedenen nominativen Funktionen auch verschiedene grammatische und stilistische Funktionen haben kann. Die Termini (nominative, grammatische und stilistische Funktion) wollen nur darauf hinweisen, daß die Wechselwirkung der Sememe im Kontext nicht auf einer Ebene erfolgt, daß die sprachliche Rolle der Kontextelemente von verschiedenen Gesichtspunkten aus bewertet werden kann. Trotz der Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte muß man sich aber immer vor Augen halten, daß unsere Gruppierung eine Einheit des sprachlichen Prozesses verhüllt: die im Sprechakt letzten Endes doch einheitliche Rolle der kontextbildenden Sememe. Da alle Rollen der Sememe mit ihrer nominativen Funktion (mit ihrer dingbestimmenden Bedeutung) zusammenhängen, können wir sie als eine semantische Funktion auffassen.

DIE NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

1. RELATIONEN IM KONTEXT

Die Frage, die wir hier beantworten möchten, kann folgendermaßen formuliert werden: Was geschieht, wenn ein Semem inhaltlich dazu beiträgt, daß ein Kontext, in dem es vorkommt, seinem Sinne nach erfaßbar sein soll ? Es kommt ein verwickeltes Netz der Beziehungen, der Relationen, zustande. Der Name, d. h. die hörbare oder die schriftliche Form des Semems, ruft den Wortsinn (in vielen Fällen: einen der Wortsinne), mit dem er verknüpft ist, hervor. Das, was Gombocz vis verbi nennt (s. S. 12), beginnt zu wirken, und der Empfänger denkt an etwas, was man im allgemeinen Wortsinn (denotatum, das Bezeichnete, signifié, sense) nennt. Das trifft gewiß zu, damit wurde aber nicht viel gesagt, denn statt einer Unbekannten ('Wortbedeutung') haben wir nun eine andere ('Wortsinn'). Etwas stellte sich aber doch heraus: die Wortbedeutung ist eine Funktion, der Wortsinn jedoch gehört zur inhaltlichen Seite des Semems. Daß die Wortbedeutung tatsächlich eine Funktion ist, zeigt schon die Form des Wortes. 1 Was wir darunter verstehen, wird nämlich in zahlreichen Sprachen mit einem nomen actionis ausgedrückt: so z. B. im Deutschen: Bedeutung (vgl. z . B . Forschung, Gründung, Theatervorstellung), im Englischen: meaning (vgl. z. B. running, draiving, suffering), im Französischen: signification (vgl. z. B. éducation, perforation, radiation), im Ungarischen: jelentés (vgl. z. B. sietés, vdndorlâs, olvasäs) usw. 1

Vgl. Z. Gombocz, a. a. O. S. 33.

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D I E NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

Der Wortsinn dagegen ist — wenigstens in der Synchronie — etwas relativ Statisches und »Geistiges«, d. h. etwas, was sich in unserem Bewußstsein als ein gewisser Inhalt widerspiegelt. Ist der Wortsinn also einfach dem Begriff gleichzusetzen? 2 Vom Gesichtspunkt der Logik aus ist vielleicht nichts dagegen einzuwenden. Man kann dieser Anschauung auch in dem Falle näher kommen, wenn man die Wörter ohne Kontext und ohne Situation, d. h. als selbständige Glieder des Wortschatzes betrachtet. Es kann nämlich nicht geleugnet werden, daß die einzelnen Elemente des Wortschatzes — wie auch andere sprachliche Erscheinungen — in unseren Denkprozessen eine wichtige Rolle spielen, wie sie auch bei der mentalen Eingliederung und Festhaltung der Erscheinungen der Welt als wichtige Mittel dienen. Es scheint manchmal sogar ein kontextgebundenes Semem mit einem Wortsinn, der mit einem Begriff identisch zu sein scheint, in Verbindung zu treten. Das ist besonders in situationsfernen Kontexten der Fall. Wenn wir z. B. bei Goethe lesen: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« (»Das Göttliche«), sind wir geneigt, den Wortsinn des hier vorkommenden Wortes Mensch mit dem Begriff des 'Menschen' zu identifizieren. Das hängt aber nur damit zusammen, daß hier das Wort Mensch den Wortsinn 'ein jeder Mensch (in Beziehung zu anderen Menschen)' hat. Die Grundlage der Identifizierung ist also nur die Tatsache, daß hier nicht von einem bestimmten Menschen die Rede ist — wie z. B. in den Kontexten: »ein gescheiter Mensch«, »Mensch, was hast du denn gemacht ?« —, und daß unsere Begriffe ebenfalls abstrakte und durch Verallgemeinerung entstandene Denkformen sind. Wenn wir aber berücksichtigen, daß im angeführten Kontext der Wortsinn 'ein jeder Mensch' dadurch entsteht, daß ein bestimmter 2

Zu dieser Frage: O. S. Achmanova, OnepKU no oöufeü u pycacoü

Aetccwcojioeuu (MOCKBS, 1957) S. 27—35. — Es soll hier nebenbei an Goethes Worte erinnert werden: „Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein".

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Artikel vor dem Wort Mensch steht, daß der vorher erwähnte Wortsinn auch von dem auffordernden Charakter des Satzes und von den übrigen Satzteilen bestimmt wird, und daß das Wort auch hier eine »Nebenbedeutung« 3 ('in Beziehung zu anderen Menschen') hat, so werden wir lieber darauf verzichten, den kontextgebundenen Wortsinn selbst in solchen Fällen mit einem Begriff zu identifizieren. Der Begriff dürfte vielleicht mit einem hypothetischen »reinen Wortsinn« identifiziert werden. In einzelnen konkreten, d. h. vollständigen oder natürlichen Kontexten haben wir aber nie einen »reinen Wortsinn«, d. h. einen Wortinhalt, der ganz frei von der Eigenart des Kontexts oder frei von der Einwirkung der übrigen Sememe des Kontexts wäre. Es versteht sich von selbst, daß man in wissenschaftlichen Werken am meisten bestrebt ist, möglichst nur solche Wörter zu gebrauchen, die einen »reinen Wortsinn« haben. In bezug auf die Termini, die nur in der Fachliteratur gebraucht werden, die also in Kontexten, wie wir sie oben bestimmt haben (S. 18 — 19) nicht vorkommen, kann dieses Bestreben erfolgreich sein. Wenn aber in einem wissenschaftlichen Text oder in einer allgemeinen Feststellung ein Wort gebraucht wird, das auch in der Gemeinsprache lebt, wird sein »reiner Wortsinn« nur durch die Eigenart des Kontexts gesichert. Man wird z. B. im Kontext »dreimal drei ist neun« bei den Wörtern drei und neun nur deshalb an reine Zahlbegriffe denken, und die Wortinhalte 'drei' und 'neun' nicht etwa als akzidentelle numerische Eigenschaften auffassen (wie z. B. in den Kontexten »drei Bücher«, »neun Soldaten«), weil sie in einer Gleichung vorkommen. Auf ähnlicher Weise wird auch der Wortsinn des Wortes Wasser von der kontextuellen Eigenart im Kontext »Das Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff« bestimmt. Das Wasser bedeutet in diesem Satze eine Art chemi3

Unter Nebenbedeutung verstehen wir eine gelegentliche Einschränkung der Bedeutung. Man soll also hier nicht an »Nebensinn« oder an »NebenVorstellungen« denken. (Vgl. H. Kronasaer, Handbuch der Semasiologie (Heidelberg, 1952.), S. 57.)

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scher Verbindung, weil dies aus der Eigenart des Kontexts hervorgeht, und weil die übrigen Bestandteile des Kontexts den Wortsinn des Namens Wasser so bestimmen, daß man nicht an Meerwasser (wie z. B. im Kontext: »der Wal nährt sich mit Lebewesen, die im Wasser leben«), nicht an Trinkwasser (wie z. B. im Kontext: »Ich möchte ein Glas Wasser haben«), nicht an Niederschlagswasser (vgl. »das Dach läßt Wasser durch«) usw. denkt. Wie unser letztes Beispiel zeigt, äußert sich die bestimmende Wirkung der Eigenart des Kontexts auf den Wortsinn des Semems manchmal gemeinsam mit dem Einfluß der übrigen Sememe des Kontexts. Viel häufiger kommt es aber vor, daß wir nur die semantische Einwirkung eines Semems auf das andere, bzw. ihre Wechselwirkung im Kontext beobachten können. Das Wesentliche im Ergebnis dieser Wirkung ist immer eine Begrenzung und eine Einschränkung des Wortsinnes, d. h. die Ausschaltung aller Faktoren, die nicht zum gewünschten Kontextsinn gehören. Man muß in dieser Beziehung zuerst darauf hinweisen, daß in der Sprache überhaupt keine Homonyme vorkommen könnten, wenn Kontexte (bzw. Situationen) keine solche Wirkung hätten. Die Funktion der Kontexte, Homonyme auseinanderzuhalten, kommt so stark zur Geltung, daß man sehr oft überhaupt nicht daran denkt, daß es in der Sprache auch ein anderes Wort mit der gleichen Lautform gibt. Wenn man z. B. die Wortverbindung »sein Kleid« hört, so wird einem kaum einfallen, daß im Deutschen auch der Infinitiv eines Verbs sein lautet. Hier reicht das Hauptwort Kleid aus, den Wortsinn des Zeitworts sein vollständig auszuschalten. In der Wortverbindung »sein Band« hat das Semem Band eine ähnliehe Wirkung, das Wort sein genügt aber nicht, den Wortsinn des Hauptwortes zu bestimmen. (Deshalb kann diese Wortverbindung in unserer Terminologie nicht zu den Kontexten gerechnet werden.) Anders verhält es sich aber mit den Kontextbestandteilen am laufenden (im Kontext »am laufenden Band«), der erste (im Kontext »der erste Band«), in . . . schla-

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gen (im Kontext »in Bande schlagen«), die schon genügen, um eine homonymische Kollision auszuschalten. Man ist geneigt anzunehmen, je länger ein Kontext ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer homonymischen Kollision. Unsere oben angeführten Beispiele und viele andere ähnliche Fälle beweisen aber eindeutig, daß die Vermeidung von Mißverständnissen, die durch ein Homonym hervorgerufen werden können, nicht oder nicht in erster Linie von der Länge des Kontexts abhängt, sondern damit zusammenhängt, in welchem Maße die Wortverbindung, die Wortfügung typisch, d. h. in phraseologischer Hinsicht charakteristisch f ü r das eine oder für das andere Homonym ist. (Vgl. »am laufenden Band« und »in Bande schlagen« im Gegensatz zum Kontext: »sein Band«.) Hier muß aber auch daran erinnert werden, worauf schon viele Forscher hingewiesen haben, daß nämlich be>m Ausschalten der homonymischen Kollision neben dem Kontext und der Situation auch der Bedeutungsunterschied und die grammatische Eigenart beider Homonyme eine wichtige Rolle spielen. I n unserem obigen Kontext: »der erste Band« kam z. B. dem bestimmten Artikel die Rolle zu, die Homonyme der Band und das Band zu unterscheiden. Dies beweist gleichzeitig, was wir schon oben betonten: die nominative und die grammatische Funktion der Sememe erscheinen im Kontext oft stark miteinander verknüpft. Es ist bekannt, daß die Homonymie von der Polysemie sehr schwer, in der Synchronie fast gar nicht zu trennen ist. Wenn man sie jedoch klar auseinanderhalten muß, z. B. in einem Wörterbuch, sind gewisse Willkürlichkeiten nicht zu vermeiden. So ist es auch, wenn wir die Relationen der Sememe im Kontext untersuchen. Da aber die Polysemie in den meisten Sprachen viel öfter vorkommt als die Homonymie, ist die Unterscheidungskraft der Wortumgebung, d. h. des Kontexts noch wichtiger in bezug auf die Polysemie als auf die Homonymie. 4 4

Zu den Fragen der Homonymie: O. Jespersen, Language. Ita Nature, Development and Origin (London—New York, 1922.), S.

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Die auffallendste semantische Funktion der zusammenhängenden Sememe besteht in ihrer einseitigen oder gegenseitigen bedeutungsunterscheidenden Rolle. Einseitig ist z. B. diese Funktion des Semems Fenster in der Wortverbindung »kleines Fenster«, denn sie bestimmt den Wortsinn des Wortes kleines, das in dieser Verbindung nur den Sinn 'von geringem räumlichen Ausmaß' haben kann, also eine andere Bedeutung als in den Verbindungen: »kleines Geld« (wo das A t t r i b u t den Wert der Münzen bezeichnet), »kleines Konsortium« (wo das Attribut die Zahl der Mitglieder bezeichnet) usw. Das Semem Fenster jedoch wird vom anderen Semem nicht genau bestimmt, denn es gibt Kontexte, in denen dieses Wort in verschiedenen Bedeutungen vorkommt; z. B. »ein kleines Fenster des Stübchens geht auf den Hof, das andere auf den Gang« und »der Briefumschlag hat ein zu kleines Fenster«. Viel häufiger kommt es aber vor, daß in einem vollständigen K o n t e x t (die Wortverbindung »kleines Fenster« ist kein vollständiger Kontext) die Sememe eine wechselseitige semantische Wirkung aufeinander ausüben, und der Wortsinn aller Sememe — unter Mitwirkung der gegebenen Situation — sich nur auf eine einzige Beziehung beschränkt. Z. B. im K o n t e x t »ein großes Haus führen« kann das Wort ein nur die Funktion eines unbestimmten Artikels haben, das Adjektiv bedeutet etwa 'üppiges, reiches, luxuriöses', das Substantiv bedeutet 'Haushalt' und das Verb hat etwa die Bedeutung 'leiten, unterhalten, haben'. Ähnlich ist es, wenn es sich nicht um solch auffallende Bedeutungsunterschiede handelt wie in diesem Beispiele, wo die Wörter fast schon eine phraseologische Ein-

285 — 6.; St. Ullmann, a. a, O. S. 125—137 (hier weitere Literatur); G. Bârezi, A szôtàri homonimia kérdéséhez, [Zur Frage der Homonymie in der Lexikographie.] Magyar Nyelv, 1958. LIV. S. 43—52; A. Penttilä, A homonîmidrôl, különös tekintettel a finn nyelvre, [Über die Homonymie mit besonderer Rücksicht auf die finnische Sprache.] Ebenda, 1970. LXVI. S. 129—135.

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heit bilden. Im Kontext »der Wald liegt nahe bei der Stadt« unterscheidet sich der Sinn des Wortes nahe vom Sinne desselben Wortes im Kontext »der Sommer ist schon nahe« darin, daß das Wort im ersten Kontext eine örtliche, im zweiten Kontext aber eine zeitliche Beziehung hat. Das ist ein Bedeutungsunterschied — nach der Auffassung mancher Semantiker nur ein Unterschied, eine Veränderung in der Anwendung ('shift in application') des Wortes —, den der Sprecher vielleicht gar nicht wahrnimmt, das Wörterbuch aber registrieren muß. Obwohl ein polysemes Wort — infolge der bedeutungsunterscheidenden Kraft des vollständigen Kontexts — im Kontext in der Regel nur einen bestimmten Wortsinn hat, kommt es doch vor, daß eine Äußerung auf zweierlei Art aufgefaßt werden kann. Wenn dies ohne Willen des Senders geschieht, hat er einen Stilfehler begangen. Es kann aber ein Kontext auch absichtlich so konstruiert werden, daß ein Semem in ihm zwei Wortsinne zugleich hat. Wenn diese Wortsinne in ganz verschiedene Kategorien gehören, entsteht eine eigenartige Schwankung im Bewußtsein des Empfängers, und das Sprachwerk löst in der Regel eine komische Wirkung aus. Solche Kontexte faßt man als Wortwitze auf, und je nachdem, wie sie vom Empfänger bewertet werden, lacht man oder ärgert man sich darüber. Es gibt aber auch Kontexte, besonders in Dichterwerken, in denen der beabsichtigte Unterschied zwischen den zwei Bedeutungen eines Semems bzw. des ganzen Kontexts gar nicht störend und gar nicht komisch wirkt. Man hat nur den Eindruck, daß der Sender — in den meisten Fällen: der Dichter — im Bewußtsein des Empfängers eine gewisse Unsicherheit, ein Gefühl des emotionell geladenen Halbdunkels erwecken wollte, indem er manche Sememe in eine Wortumgebung setzte, die einen konkreten wie auch einen übertragenen Sinn der Sememe ermöglichen. Die beiden Vorstellungen, die im Empfänger erweckt werden, sind also nah miteinander verwandt. Und obwohl sie nicht ganz zusammenfallen, werden sie als ein

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einheitlicher Eindruck aufgefaßt, als ein einziges »Bild« wahrgenommen, wie manchmal auch auf der Leinwand im Kino ein Bild erscheint, das eine Mischung von zwei Aufnahmen ist. Mit dem Erwecken solcher Vorstellungen kann erreicht werden, daß der konkrete Wortsinn den übertragenen sozusagen handgreiflich macht, und daß der übertragene Wortsinn den konkreten in eine gewisse Höhe erhebt. Man kann fast in jedem Gedichte Kontexte finden, in denen die Wortumgebung sowohl einen konkreten wie einen übertragenen Sinn eines Semens oder mehrerer Sememe erlaubt. Nehmen wir nur ein Beispiel aus dem bekannten Gedicht »Annabel Lee« von Edgar Allan P o e ! Die letzte Strophe des Gedichtes beginnt folgendermaßen: >>For the moon never beams without bringing me dreams Of the beautiful Annabel Lee. . .« Das Wort moon bedeutet einerseits ohne Zweifel 'Mond', denn der andere Sinn des Hauptwortes moon ('Monat') wird vom Verb beams zweifelsohne ausgeschlossen. Wenn wir aber erfahren, daß der »Mond« dem Dichter Träume von der schönen Annabel Lee bringt, so wissen wir gleich, daß man hier nicht an den bekannten Himmelskörper, nicht an unseren Satelliten, sondern eher daran zu denken hat, daß das Wort moon im dichterischen Wortgebrauch als Symbol der Nacht ('der Zeit, wo die meisten Leute schlafen') gebraucht wurde. Die assoziativ stark miteinander verbundenen Wortsinne 'Mond' und '(mondhelle) Nacht' fallen also im Semem moon zusammen, d. h. in diesem Kontext hat dieses Semem eine zweifache nominative Funktion. Dadurch wird aber das Verständnis des Kontexts nicht gestört, sondern auf eine gewisse höhere Stufe der Anschaulichkeit emporgehoben. Es besteht manchmal die Möglichkeit der zweifachen Deutung nicht nur in bezug auf ein Semem, sondern auch auf eine ganze Kommunikationseinheit, besonders auf ein ganzes Gedicht. Ich denke daran, was in der Poetik als Allegorie, bzw. als symbolische Form behandelt wird. Ohne hier die schwierige Frage zu berühren, wie das Wesen solcher Darstellungsfor-

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raen zu ergründen wäre, kann man vom Gesichtspunkte der Semantik aus, die in dieser Beziehung vorläufig nur den Prozeß des Verstehens von der Seite des Empfängers untersucht, darauf hinweisen, daß es sich um die Kenntnis einer äußeren Situation, z. B. einer bestimmten historischen Lage, in der das Werk entstanden ist, und um die Vermutung des Empfängers handelt: der Sender (der Dichter) wollte nicht einfach objektive, individuelle und eventuelle Tatsachen darstellen, sondern er wollte seine subjektiven, doch das Wesen einer Sache betreffenden Erlebnisse schildern. Es sollen dies folgende Beispiele veranschaulichen. Der große ungarische Dichter des 19. Jahrhunderts Janos Arany erzählt in einer seiner Balladen (»A walesi bardok« 'Die Barden aus Wales'), wie der englische König Edward I. auf der Burg Montgomery fünfhundert Sänger hinrichten ließ, weil es in Wales keinen Barden gab, der einen Lobgesang, in dem der Tyrann verherrlicht werden sollte, verfassen und vortragen wollte. Wer nicht weiß, daß die Ballade bald danach entstanden ist, als der Dichter aufgefordert worden war, den Unterdrücker des Ungartums, Kaiser Franz Joseph, anläßlich seines Besuchs in Ungarn mit einem Gedicht zu begrüßen, der wird das Gedicht nur als eine historische Ballade verstehen. Wem aber die erwähnten Umstände bekannt sind, begreift sogleich, daß das Wort Barde im Gedichte nicht nur einen Sänger aus Wales, sondern auch einen ungarischen Dichter bedeutet und dementsprechend noch mehrere Wörter des Gedichtes zweierlei Beziehungen haben. Ähnlich kann man in den Sätzen des Gedichts »Herbsttag« von Rainer Marian Rilke nur bloße Aufforderungen und objektive Behauptungen sehen. Wer aber die Stimmung des Gedichtes als Einheit auffaßt und verspürt, daß die anscheinend unpersönliche Beschreibung die dumpfe Traurigkeit des Dichters verhüllt, dem sagen die Worte des Dichters viel mehr, obwohl kein Wort des Gedichtes — wenn man es als eine sprachliche Einheit betrachtet — mehr oder etwas anderes bedeutet als in der alltäglichen Rede.

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Es gibt also bei manchen Sprachwerken ein »volles Verständnis«, das nicht mehr von der Sprachkenntnis des Empfängers abhängt, sondern dadurch ermöglicht wird, daß der Empfänger gewisse Kenntnisse, bzw. einen entwickelten Kunstsinn hat. Das sind schon selbstverständlich Faktoren, die die Semantik nichts angehen und das rein sprachliche Verständnis eines Kontexts nicht beeinflussen. Da wir aber auch in den soeben erwähnten Fällen etwas Ähnliches beobachtet haben, wie in den Kontexten, in denen die Wortumgebung zwei Bedeutungen eines Semems ermöglicht, hat auch das »volle Verständnis« eines literarischen Kunstwerks gewisse lockere Beziehungen zur Semantik. Als Resultat unseres literaturwissenschaftlichen Exkurses hat es sich herausgestellt, daß im Verstehen gewisser Sprachwerke auch zwei außersprachliche Faktoren (bestimmte Situationen und die Persönlichkeit des Empfängers) mitwirken. D a ihre Rolle sich nicht auf literarische Texte beschränkt, müssen wir uns mit diesen beiden Faktoren eingehend beschäftigen. Bei der Untersuchung der nominativen Funktion des Semems haben wir bisher folgende Relationen beobachtet: 1. die Relation des Semems (des Namens) zu einem Wortsinn; 2. die Relation des Semems zum spezifischen Charakter des ganzen Kontexts; diese Relation kann in situationsfernen Kontexten verursachen, daß der Wortsinn als etwas Allgemeines aufgefaßt wird, daß wir nicht an ein Ding, sondern an das Ding im allgemeinen denken; 3. die Relation des Semems zu den übrigen Bestandteilen des Kontexts; diese Relation schaltet in der Regel die homonymische Kollision aus und verursacht, daß wir bei polysemen Wörtern nur an einen bestimmten Wortsinn denken. Dazu kommt — wie schon gesagt — (4) die Relation des Kontexts zur Sprechsituation und (5) die Rolle des Empfängers im Sprechakt. Was die Funktion der Situation betrifft, haben wir schon darauf hingewiesen, daß in den sog. situationsfernen Kontexten eben diese Eigenschaft (die Unabhängigkeit von einer

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Situation) des Kontexts den Wortsinn der im Kontext enthaltenen Sememe entscheidend bestimmt (vgl. S. 19 — 20 und 24—25). Im alltäglichen Leben und in der Literatur kommen aber situationsgebundene, d. h. von der gegebenen Sprechsituation stark beeinflußte Kontexte viel öfter vor. Wir wissen doch immer, wer, wo, wann, warum und wem etwas sagt, und wir fassen seine Äußerung demgemäß auf. Da aber ein jeder Mensch eine sehr starke Neigung hat, eine Äußerung und auch die Wörter dieser Äußerung als eine selbständige Einheit, bzw. als selbständige Einheiten zu betrachten, unterschätzt man gewöhnlich die Wichtigkeit der Situation bei der Beurteilung einer Aussage. Um diese Gefahr bei der Untersuchung einzelner Kontexte zu vermeiden, wollen wir den Einfluß der Sprechsituation auf zwei alltägliche Kontexte beobachten und die Folgerungen daraus ziehen. Nehmen wir zuerst den Satz: »Heute ist wieder schlechtes Wetter«. Wer die Sprechsituation nicht kennt, d. h. nicht weiß, wann und unter welchen Umständen dies gesagt wurde, dem bedeutet das erste Wort des Satzes nur soviel: 'an dem Tage, als jemand diese Worte sagt'. Wer es aber tatsächlich von jemandem hört, oder es in einem Roman liest, wo dieser Aussagesatz in Verbindung mit bestimmten Umständen steht, der weiß viel mehr von diesem Tage, kann ihn vielleicht genau bestimmen oder irgendwie chronologisch in die Zeitfolge einordnen. Für ihn ist dieses 'heute' nicht nur eine Umstandsbestimmung in abstraktem Sinne, sondern ein Zeitabschnitt, mit dem er tatsächlich erlebte oder literarische Erlebnisse verbindet. Das Wort schlecht hat für uns nur den Sinn 'ungünstig', und wir wissen nicht, ob es an dem bestimmten Tag regnete, zu kalt oder zu warm war. F ü r einen, der einen Ausflug machen will, ist das Wetter schlecht, wenn es regnet, ein Bauer, der auf den Regen wartet, schimpft aus das Wetter, wenn es nicht regnet, usw. I n der Verbindung mit der Situation wird aber alles klar: wir wissen, was der Sender als ungünstig bewertete, was er für 'schlecht' hielt, und was er unter Wetter verstand: Temperatur, Niederschlag, Wind,

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Bewölkung oder eine beliebige Variation der genannten oder der nicht aufgezählten Erscheinungen. Nehmen wir ein anderes Beispiel: »Er ließ den Brief fallen«. Wer ist dieser er, eine lebende, eine verstorbene oder eine erfundene, eine junge oder eine alte Person? Ein Franzose oder ein Indianer? Der Briefträger oder der Empfänger? Und so könnte man die Fragen bis ins Unendliche stellen, die aber von der Situation sogleich beantwortet werden, wie auch die Fragen: was für ein Brief war es, ließ ihn die betreffende Person absichtlich oder zufällig fallen? usw. Wenn wir die Situation nicht kennen, haben wir nur Wortzeichen, Symbole — oder der Bedeutung nach betrachtet — Sememe, die grammatisch miteinander verbunden einen Kontext bilden, der zwar ihre etwaige Homonymie und Polysemie beseitigt, und sie darum etwas konkreter und lebendiger erscheinen läßt, als ob man dieselben isolierten Wörter als Teile des Wortschatzes auffaßte. Das wahre Leben erhalten sie aber erst in Verbindung mit der Situation oder mit Bühlerschen Termini ausgedrückt: im »Zeigfeld der Sprache«, im »hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung«. 5 Diese Belebung, dieses Lebendigwerden der kontextgebundenen Sememe in einer konkreten Situation hängt mit der spezifischen schöpferischen Eigenart des Sprechaktes zusammen und verursacht eine weitere Einschränkung und Aktualisierung der Wortsinne. Die schöpferische Eigenart des Sprechaktes besteht darin, daß in jedem Sprachwerk nicht nur im phonetischen, sondern auch im semantischen Sinne immer etwas zustande kommt, was es vorher noch nicht gab, oder nicht auf diese Weise, nicht unter diesen Umständen oder nicht mit vollständig denselben Beziehungen vorhanden war. Da im Leben nie zwei gleiche Situationen vorkommen, da schon wegen des Vergehens der Zeit niemals zwei Sätze aus dem gleichen Grunde und auf die gleiche Weise entstehen, und nie zwei Äußerungen «A. a. O. S. 149.

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ganz gleich verstanden werden, ist es zu verstehen, warum schon W. von Humboldt die dynamische Seite der Sprache — eigentlich des Sprechens und der Sprachwerke — hervorgehoben und ins rechte Licht gestellt hat. 6 Diese Eigenart des Sprechaktes kann vom Gesichtspunkt der nominativen Funktion der einzelnen Sememe aus als die Aktualisierung des Wortsinnes aufgefaßt werden. Wenn man »situationsgebunden« spricht, und so spricht man in der Regel, beziehen sich die einzelnen Sememe des Kontexts nicht auf einen Wortsinn überhaupt, sondern auf einen Wortsinn, der stark begrenzt ist, und dem ein konkretes Ding untergeordnet wird. In unserem letzten Beispiel bedeutet das Semem Brief nicht im allgemeinen 'an einen Abwesenden gerichtete schriftliche Mitteilung', sondern ein einzelnes konkretes Stück Papier, das eine solche Mitteilung enthält. U n d das Fallenlassen war auch eine einmalige Gebärde, die nur deshalb mit der Wortverbindung fallen lassen bezeichnet werden konnte, weil sie eine ähnliche — aber nicht die gleiche — Gebärde war, die wir schon o f t gesehen haben, und weil wir wissen, daß ähnliche Handlungen so bezeichnet werden. Man kann selbstverständlich nicht nur von einzelnen Dingen, sondern auch von Gattungen der Dinge, nicht nur von konkreten, sondern auch von abstrakten Dingen und auch von Erscheinungen sprechen, die begrifflich den weitesten Umfang haben. All dies kann jedoch nur in zeitlichen, örtichen und k a u s a l e n Zusammenhängen geschehen. Wenn jelmand vor fünfzig Jahren von der Menschheit sprach, war diese Menschheit nicht dieselbe, die heute lebt, und wenn von der Entstehung der Welt gesprochen wird, sind diese kosmogonischen Erörterungen stark mit der Weltanschauung des Verfassers verbunden und man wird von der Welt selbst • Vgl. W. V. Humboldts Worte: »Man muß die Sprache nicht sowohl wie ein todtes E r z e u g t e s , sondern weit mehr wie eine E r z e u g u n g ansehen«. (Im angeführten Werke (Berlin, 1836.), S. LV.)

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anders sprechen, wenn man nur den Makrokosmos oder auch den Mikrokosmos, bzw. auch die lebendige Welt berücksichtigt usw. Wenn wir betonen, daß der aktuelle Wortsinn der Sememe in der Rede immer aufs neue geschaffen wird, und daß dieser Wortsinn immer subjektive und von der Situation abhängige Elemente hat, so haben wir nur die eine Seite des Sprechaktes charakterisiert. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, daß auch die Rolle des Empfängers im Sprechakt in Betracht gezogen werden muß. H ä t t e der Sprechakt nur eine dynamische Seite, wäre das Sprachwerk ausschließlich mit subjektiven Elementen geladen, so würde die Rede ihr Ziel nicht erreichen, denn der Empfänger würde sie ja nicht verstehen. Die dynamische Seite des Sprechens und die subjektive Ladung der kontextgebundenen Sememe muß und wird von statischen Elementen und von objektiven, d. h. in der Sprachgemeinschaft allgemein gültigen, gesellschaftlich angenommenen, vom Sender unabhängigen Momenten der Wortinhalt ins Gleichgewicht gebracht. Wenn am Anfang dieses Kapitels behauptet wurde, daß die Bedeutung eine Funktion, u. zw. die nominative Funktion der Sememe ist, die den Wortsinn hervorruft, so muß auch betont werden, daß dieser Wortsinn in ähnlichen Kontexten — man könnte sagen: als eine innere Form — im Grunde genommen immer derselbe ist. Die »innere Form« des Wortsinns ist sozial determiniert d. h. der Sender kann nichts daran ändern, denn sonst wird er nicht verstanden, oder er wird mißverstanden. Von der Seite des Empfängers betrachtet ist das Vertrautsein mit den wesentlichen Momenten eines jeden Wortinhalts der im Kontext vorkommenden Sememe in der Regel eine Voraussetzung f ü r das Verstehen. Es kommt zwar vor, daß man einen längeren, in einer Fremdsprache geschriebenen Text versteht, wenn man auch etliche, vom Gesichtspunkt der Bedeutung des Gesamttextes aus nicht besonders wichtige Wörter in ihm nicht kennt. I n diesem Falle muß man aber den Sinn der unbekannten Wörter mit

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Hilfe des Kontexts oder der Situation entweder erraten, oder aber das Verständnis bleibt lückenhaft. Die statische Seite, die »innere Form« des Wortinhalts kann als ein Rahmen aufgefaßt werden, der in der Rede mit bestimmten Inhaltselementen ausgefüllt wird. Dieser gelegentliche »Inhalt« ist aber in der Regel — wenigstens vom Gesichtspunkte des Verstehens aus — weniger wichtig als die »innere Form«. In einem wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Werk interessieren wir uns hauptsächlich für sie, in einem Gedicht aber kann sie sich erweitern, kann gewissermaßen verändert werden und kann eine spezifische Ladung bekommen, die wichtiger zu sein scheint als die stabile »innere Form« selbst. Was in dem Wortinhalt der kontextgebundenen Sememe ständig, sozial bestimmt und objektiv ist, wird aus der Sprache mitgebracht, d. h. es weist immer auf etwas hin, WEIS außer ihm und außer der Rede ('parole') ist, und was seinem Wesen nach zur Sprache ('langue') gehört. Das ist aber eigentlich nur eine künstliche Trennung, da die Sprache selbst im Sprechen als ein ständiger Hinweis zugegen ist. Von dem entgegengesetzten Standpunkt aus gesehen, kann man das so formulieren: Was in der Sprache, im Sprachsystem statisch, d. h. im Wortsinn der einzelnen Sememe vom Namen untrennbar und gesellschaftlich gültig erscheint, wird im Sprechakt dynamisch: das Sein der Sprachelemente verwandelt sich in der Rede ins Werden, und so kann man das Statische in seinem Wirken, in seinem Funktionieren auffassen, ergreifen. Und dies muß auch so sein, da das Verstehen selbst ein ständiger Vorgang ist. Ohne diese dialektische Einheit, ohne diese Synthese von Sein und Werden würde die Sprache nicht funktionieren, es würden keine Sprachwerke entstehen und es würde kein Verständnis zwischen Sender und Empfänger zustande kommen.

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2. KONTEXTTYPEN UND ELEMENTARKONTEXTE

Aus allem, was bisher gesagt wurde, könnte man zwei einander widersprechende Folgerungen ziehen: 1. Die Bedeutung des Semems ist im Kontext zu suchen; 2. Die wirklich sprachliche, lexikalische, ständige Bedeutung des Semems ist im Kontext nicht feststellbar. Was die erste Folgerung betrifft, haben wir sie im Kapitel »Ziel und Methode der Forschung« hinreichend begründet. Aus der Untersuchung der semantischen Relationen des Semems im Kontext hat es sich aber ergeben, daß die Wortbedeutungen in den vollständigen, lebendigen Kontexten zu sehr von außersprachlichen Faktoren beeinflußt sind. Diese Bedeutungen sind so sehr auf ein einzelnes Ding bezogen und ihre Umrisse sind so fließend, ihr unbeständiger »Inhalt« hängt so von mehreren, sich immer ändernden Faktoren ab, daß man fast sagen könnte: in jedem andersgearteten lebendigen Kontext bedeutet das Semem etwas anderes. Man kann aber daraus nur die Folgerung ziehen, daß aus einem, vollständigen Kontext nur die sich wechselnde Bedeutung des Semems, nicht aber die sprachliche Funktion der Kontextbestandteile festzustellen ist. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, daß ein Teil, die »innere Form« der kontextuellen Bedeutung im Gegensatz zu dem fließenden »Inhalt« —, doch ständig, statisch ist und sich auf etwas bezieht, was objektiv und sozial gebunden ist. Die Frage ist also folgendermaßen zu stellen: Wie kann man diesen Teil der Bedeutung ergreifen ? Die Antwort ergibt sich leicht aus den bisher gesagten: Wenn wir die Bedeutung, bzw. die Bedeutungen desselben Semems in mehreren, in möglichst vielen Kontexten untersuchen. Es ist klar, daß in diesem Falle alle Faktoren außer acht gelassen werden können, die nicht zur sprachlichen (lexikalischen) Bedeutung des Semems gehören, sondern nur von den Will-, kürlichkeiten der einzelnen Kontexte und der einzelnen Situationen abhängen. Vollkommen einwandfrei wäre dieses

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Verfahren, wenn wir nicht nur viele Kontexte, sondern auch viele Empfänger hätten. I n Arbeitsgemeinschaften, wo ein Wörterbuch mehr oder weniger als Ergebnis kollektiver Arbeit, gemeinsamer Besprechungen entsteht, ist auch diese Voraussetzung gewährleistet. C. K . Ogden und I. A. Richards haben den Kontext folgendermaßen definiert: »A context is a set of entities (things or events) related in a certain way; these entities have each a character such that other sets of entities occur haying the same characters and related by the same relation; and these occur 'nearly uniformly'.« 7 Aus dieser Definition ist für uns der letzte Satz besonders wichtig: Wenn die Entitäten in bestimmten Kontexten fast ähnlich auftreten, so müssen wir jene Art von Kontexten finden, in denen dies wirklich der Fall ist. Zu diesem Zwecke können nur Kontexte dienen, die so vereinfacht werden, daß sie alle Beziehungen zu den konkreten Situationen verlieren. Wie die lebendigen, vollständigen Kontexte in Kontexte umgeformt werden können, die zur Bedeutungsanalyse dienen, möchten wir an einem Beispiel veranschaulichen. Unser Ziel ist es, aus vollständigen Kontexten solche »Kontexte« — eigentlich schon Modelle — zu schaffen, die ausschließlich aus Elementen bestehen, die zur Bestimmung der Bedeutung eines Semems — in unserem Beispiel zur Bestimmung der Bedeutungen des Verbes füllen — unbedingt notwendig sind, und die nichts mehr enthalten als solche Elemente. Diese künstlich hergestellten »Kontexte« (Modelle), die (zum Teil) nicht mehr aus wirklichen Sememen, sondern aus der Benennung eines Begriffskreises oder aus Benennungen mehrerer Begriffskreise, sowie aus grammatischen Hinweisen bestehen, nennen wir Elementarkonlexte oder semantische Modelle. Um Elementarkontexte zu erhalten, muß der vollständige Kontext in mehreren Stufen mit einer Art von »Transformation« vereinfacht und dann mit anderen Kontext7

The Meaning of Meaning (London, 1956.), S. 58.

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gerippen verglichen werden. Die Originalkontexte, die wir — wenn keine Fußnote dazu gehört — aus dem Grimmschen Wörterbuch (IV, 1. Leipzig, 1878; Stichwort: füllen) nehmen, bezeichnen wir mit Ziffern und die Vereinfachungen mit Buchstaben. Die Wörter, die nicht tatsächliche Bestandteile der künstlich geschaffenen Kontexte oder der Elementarkontexte sind, sondern nur auf einen Begriffskreis hinweisen, stehen in Halbklammern ('. . .'). (1) »den becher reicht er [der edelknecht\ ihm knieend dar, | und der könig der lieblichen tochter winkt, | die füllt ihn mit funkelndem wein bis zum rande«. (Schüler 63b) (a) Die Königstochter füllt den Becher bis zum Rande mit Wein. (2) »so nehmet auch den schönsten krug, den ivir mit frischem trunk gefüllt« (Goethe 12, 56). (b) Wir füllen den Krug mit frischem Trunk. (Aus (a) und (b) folgt: (c) 'Jemand' füllt 'ein Trinkgefäß' mit 'Flüssigkeit'. (3) »die Christenheit trauert in sack und asche: \ der soldat

füllt

sich nur die tasche« (Schiller 324i'). Aus (c) und (3) folgt: (d) 'Jemand' füllt 'einen Behälter'. (4) »Die Flaschen automatisch füllen«18 Aus (d) und (4) kann man schließlich den Elementarkontext »bilden«: (e) 'Jemand oder eine Abfüllmaschine' füllt 'einen Behälter', der folgendermaßen zu deuten ist: Das Verb füllen bedeutet die Handlung 'etwas mit etwas vollmachen' unter folgenden Bedingungen: es muß in Verbindung gebracht werden mit einem Subjekt, das einen Menschen oder eine Abfüllmaschine (Flaschenfüllmaschine, Flachbeutel-Füllmaschine usw.) bedeutet und mit einem Objekt, das eine Art Behälter (Korb, Flasche, Sack, Brieftasche usw.) bedeutet. Diese Verbindung ist vollständig semantischer Art, d. h. sie gehört zur »Tiefenstruktur« des natürlichen, lebendigen Kontexts.

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Unser Elementarkontext (e) ist natürlich nur dann richtig, er besagt für die Bedeutungsanalyse nur dann etwas, wenn er semantisch anders aufgebaut ist als die Elementarkontexte, in denen das Semem (in unserem Beispiel das Verb füllen) eine andere Bedeutung hat. Um dies beurteilen zu können, müssen wir weitere natürliche Kontexte untersuchen und aus ihnen Elementarkontexte bilden: (5) »hier, branntwein, ivein, essich füllen in fässer, krüge, flaschen« (f) 'Jemand (oder etwas?)' füllt 'Flüssigkeit' in 'einen Behälter' (6) »den Zucker mit dem Löffel in die Tüte füllend (g) 'Jemand' füllt 'körniges Material' in 'einen Behälter' Aus (f) und (g) folgt: (oder etwas?)' füllt 'Flüssigkeit oder körniges (h)'Jemand Material' in 'einen Behälter' (7) »Abfüllmaschinen füllen anfallende Erzeugnisse selbständig in Tüten, Tuben, Gläser, Behälter, Flaschen usw. hygienisch einwandfrei«,9 Aus (h) und (7) ist der Elementarkontext zu bilden: (i) 'Jemand oder eine Abfüllmaschine' füllt 'Flüssigkeit, körniges oder breiartiges Material' in 'einen Behälter', der folgendermaßen zu deuten ist: Das Verb füllen bedeutet die Handlung 'etwas hineintun, hineingießen usw.' unter folgenden Bedingungen: es muß verbunden sein mit einem Subjekt, das einen Menschen oder eine Abfüllmaschine bedeutet, mit einem Objekt, das Flüssigkeit, körniges oder breiartiges Material bedeutet und mit einer adverbialen Bestimmung, die aus der Präposition in und einem Substantiv im Akkusativ besteht, das einen Behälter bedeutet. 8 Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Hrsg. v. R. Klappenbach u. W. Steinitz. 18. Lieferung (Berlin, 1967.), S. 1417. • Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, I. (Wiesbaden, 1966.), S. 37.

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Das Verb füllen bedeutet aber nicht nur eine Handlung, sondern auch einen Zustand. Dies kann man in folgenden Kontexten feststellen: (8) »suche nicht den ström zu hemmen, der so lang sein bett nur füllt, bis er zornig vor den dämmen zum vertilgungsmeer entschwillt« (Bürger 45") (j) Der Strom füllt sein Bett (9) »nur das fenster füllen blümchen roth und weisz, aufgeblüht aus eis« (Hölty, Winterlied) (k) Eisblumen füllen das Fenster Aus (j) und (k) folgt: (1) 'Irgendein Stoff (z. B. Wasser) oder eine Menge von Dingen füllt 'einen Raum (10) »die Stille dieses großen Hauses, das sonst mit Lärm gefüllt war, bedrückte ihn« (Boll, Hans 221)10 (m) Lärm füllt das Haus Aus (1) und (m) folgt der Elementarkontext: (n) 'Etwas Erfahrbares, das nach seinem Umfang betrachtet wird', füllt 'einen Raum'. I n diesen Kontexten, die einen ziemlich seltenen, vorwiegend literarischen Gebrauch des Verbs füllen repräsentieren, h a t das Semem etwa die Bedeutung 'voll sein mit etwas'. Das Subjekt, mit dem es tatsächlich oder dem Sinne nach verbunden ist, bedeutet etwas ,was als nicht handelndes, sich nicht bewegendes Etwas aufgefaßt wird, obwohl es sich vielleicht bewegt (vgl. K o n t e x t 8). Es wird nur als eine Masse betrachtet, und obwohl es vielleicht eine Laut- oder eine io Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Hrsg. v. R . Klappenbach u. W . Steinitz. 18. Lieferung (Berlin, 1967.), S. 1417.

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Lichterscheinung ist, kommt nur sein Umfang in Betracht — wenigstens in bezug auf seine Anwendung als Subjekt des Verbs füllen. Demgemäß hat das Verb ein Objekt, das eine Art Raum bedeutet. Um das Nachstehende verständlich zu machen, müssen wir kurz untersuchen, wie wir zu den Elementarkontexten (semantischen Modellen) gelangt sind. Aus einer Menge von vollständigen, natürlichen Kontexten haben wir eine Reihe von Kontexten ausgewählt, die — teilweise sehr verkürzt und vereinfacht — vom Gesichtspunkt eines Semems aus einen Kontexttyp bilden; z. B. »Er füllt Bier in ein Glas«, »Sie füllt Wein in einen Becher«, »Sie füllen Wasser in einen Krug«, »Essig in Fässer füllen« usw. (Es muß betont werden, daß diese Kontexte nur hinsichtlich des Verbs füllen einen K o n t e x t t y p bilden. Vom Gesichtspunkt des Hauptwortes Wasser bilden z. B. folgende Kontexte einen Typ: »Wasser in einen Krug füllen« »Wasser in Fässer gießen« »Es wird Wasser in ein Reservoir geleitet« usw.) Aus Kontexten, die zu demselben Typ gehören, kann man einen »Repräsentanten« dieser Kontexte bilden (aus den oben angeführten Kontextbeispielen: »'Jemand' füllt 'Flüssigkeit' in 'einen Behälter'«; bzw. »Wasser 'in einen Behälter' 'hineinkommen lassen'«). Wir haben solche Repräsentanten — mit Ausnahme von Kontext (f) — nur aus einem vollständigen Kontext gebildet, da es einleuchtet, daß es eine ganze Reihe von ähnlichen natürlichen Kontexten gibt. Die Repräsentanten mehrerer Kontexttypen werden miteinander verglichen; was in ihnen ständig und vom Gesichtspunkte der nominativen Funktion des Semems aus charakteristisch ist, wird beibehalten und — wie vorher schon — zweckmäßig verallgemeinert, d. h. in einem Wort, das einen Begriffskreis bezeichnet, zusammengefaßt. Wenn es noch weitere Kontexttypen gibt, so wird auch ihr Repräsentant in Betracht gezogen, und auch dieser Repräsentant wird zur Verengung oder zur Erweiterung des begrifflichen Kreises des Elementarkontexts (des semantischen Modells) beitragen. Es muß aber schon hier darauf

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D I B NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

hingewiesen werden, daß es keine exakten Grenzen gibt, die ganz genau zeigen würden, wie weit man bei der Bildung von Elementarkontexten mit der Verallgemeinerung gehen kann. Wie wir noch sehen werden, hängt dies damit zusammen, daß selbst die Grenzen der nominativen Funktion der Sememe (d. h. die Zahl der Bedeutungen der Wörter) nicht immer ganz eindeutig u n d ganz klar festzustellen sind. Man k a n n aber selbst die Elementarkontexte, die eine bestimmte Bedeutung eines Semems repräsentieren, o f t nicht so einfach formulieren wie in unserem vorigen Beispiel. E s gibt zwar Elementarkontexte, deren Existenz ohne weiteres einleuchtend ist, u n d die ganz einfach abzufassen sind (z. B. ein Elementarkontext des Verbs gehen, wenn es die Bedeutung h a t 'in einem gewissen Zustande sein': »es geht 'jemandem' 'irgendwie'«), bei Adjektiven und noch mehr bei Substantiven aber ist die Aufgabe viel schwerer zu lösen. Wenn man z. B. die Elementarkontexte veranschaulichen will, in denen das Adjektiv offen die Bedeutung 'nicht verschlossen, geöffnet' hat, so kann man nur sagen, daß diese Bedeutung des Adjektivs sich in Kontexten realisiert, in denen das Wort offen mit einem Wort verbunden ist, das einen Gegenstand bezeichnet, der auch verschlossen, versperrt oder zugemacht sein kann (z. B. »ein offener Brief«, »bei offenen Fenstern«, »die Schränke waren offen«, »der Garten ist hinten offen« usw.). Anscheinend gibt es also in derartigen Fällen bei derartigen K o n t e x t t y p e n keinen tatsächlichen Elementarkontext, u n d man muß sich mit einer Umschreibung begnügen. Die Existenz eines Elementarkontexts hängt aber in solchen Fällen nur von der Formulierung ab. I m Ungarischen kann man z. B. den entsprechenden Elementarkontext auch in der F o r m eines tatsächlichen K o n t e x t s abfassen: »nyitott 'egyebkent csukhatö, (le)zarhatö targy, dolog'«. U n d ohne weiteres wird man es auch verstehen, wenn wir sagen: »offenes 'Ding, das verschlossen, gesperrt oder zugemacht werden kann'«. Man muß nur wissen, daß die E n d u n g -es im Wort offenes akzidentiell ist — ebenso, wie die Einzahl

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und die dritte Person des Verbs in den Elementarkontexten der Verben —, und daß das Adjektiv im Satz nicht nur Attribut, sondern auch ein Prädikativum sein kann. Andere übrige Elementarkontexte des Adjektivs offen kann man schon einfacher formulieren; z. B. wenn es die Bedeutung 'aufrichtig' hat: »offener 'Mensch'«; wenn es die Bedeutung 'ohne Umschweife' hat: »offene 'Äußerung'« (im Kontexttyp, der mit folgenden Repräsentanten veranschaulicht werden kann: »ein offenes Geständnis«, »offen reden«, »etwas offen bekennen« usw.). Unmöglich oder fast unmöglich ist die Formulierung von Elementarkontexten, die eine Bedeutung eines Substantivs repräsentieren. Man muß aber betonen, daß es sich in manchen Fällen nur um die Formulierung und nicht um das Wesen der Sache handelt. Dies zeigt sich sogleich, wenn wir Kontexte miteinander vergleichen, in denen homonyme Substantive vorkommen. Es ist nämlich klar, daß das Wort Kapelle 'kleines Gotteshaus' nur in Kontexten vorkommen kann, in denen etwas von einem Gebäude gesagt wird. Wenn das Wort Kapelle in Verbindung mit Wörtern erscheint, die sich auf eine Gruppe von Menschen, besonders auf Musikanten beziehen, haben wir es schon mit einem anderen Wort, mit dem Homonym Kapelle 'kleines Orchester' zu tun. Ebenso verhält es sich, wenn man Kontexte vergleicht, in denen dasselbe Substantiv in verschiedener Bedeutung vorkommt. Nehmen wir z. B. folgende Kontexte bzw. Repräsentanten von Kontexttypen: 1. »ein baufälliges Haus«, »ein Haus bauen«, »die Tür eines Hauses«, »die Häuser der Stadt« usw.; 2. »ein Freund des Hauses«, »das ganze Haus ist verreist«, »aus reichem Hause stammen« usw., so leuchtet ein, daß in dem Kontexttyp, der mit 1 bezeichnet wurde, nur Sememe vorkommen können, die mit einem Gebäude in Verbindung gebracht werden können. I n den Kontexten aber, die nach der Ziffer 2 stehen, sind nur Sememe zu finden, die sich ihrem Sinne nach auf Menschen, bzw. auf eine Gruppe von Menschen (auf eine Familie) beziehen. Man kann also sagen, daß es auch »virtuelle Elementarkontexte« gibt, die die

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Bedeutung des Wortes Haus auf 'eine Art Gebäude', bzw. auf 'eine Familie' beschränken. Einen solchen virtuellen, d. h. nicht mit Worten formulierbaren Elementarkontext muß ein jedes Substantiv — wie ein jedes bedeutungstragendes Sprachelement — haben, denn ein jedes Semem kann nur in Kontexten vorkommen, in denen die mit ihm verbundenen Sememe eine Beziehung haben, die dem Wortinhalt des betreffenden Semems entspricht. Die Bedeutung der polysemen Sememe ändert sich gerade der Art dieser Beziehung nach. Wenn z. B. das Wort Haus mit Sememen verbunden wird, die wir in anderen Kontexten in Verbindung mit Menschen gebrauchen, bedeutet es nicht mehr 'als Unterkunft oder Arbeitsstätte dienendes Gebäude mittlerer Größe',11 sondern 'Bewohner einer Wohnung, Familie'. Theoretisch gehört ein »virtueller Elementarkontext« auch zu Hauptwörtern, die nur eine Bedeutung haben. Das will aber nur besagen, daß man weiß, mit welchen Sememen im allgemeinen ein Substantiv Kontexte bildet. Da aber dies besonders bei Substantiven, die nur eine Bedeutung haben, in begrifflicher Hinsicht bestimmt ist und in erster Linie von den Umständen der Wirklichkeit abhängt, darf man diesen »virtuellen Elementarkontexten« keinen realen Wert zuschreiben. Sie haben eigentlich nur dann einen realen Sinn, d. h. sie sind sprachlich nur dann relevant, wenn sie eine Opposition zu einem anderen Elementarkontext desselben Semems bilden. Wenn keine Opposition zwischen zwei Homonymen oder zwischen verschiedenen Bedeutungen desselben Semems vorhanden ist, verweist die theoretische Existenz des »virtuellen Elementarkontexts« nur darauf, daß der semantische Inhalt des Semems mit Hilfe von Kontexten, in denen es vorkommt, bzw. aus dem Repräsentanten des entsprechenden Kontexttyps festzustellen ist, und daß dieser Inhalt lexikographisch definierbar ist. 11

G. Wahrigs Definition im Deutschen Wörterbuch (Gütersloh, 1968.), S. 1671.

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Anders ist es aber um jene Kontexttypen bestellt, die eine tatsächliche Existenz in der Rede ('parole') haben und auch um ihre Repräsentanten, die uns teilweise schon in die abstrakte Welt der Sprache ('langue') führen. Schriftlich abgefaßte Repräsentanten von Kontexttypen und — wenn eine Opposition besteht — Elementarkontexte werden gewöhnlich nur von Lexikographen gebildet, wie grammatische Regelmäßigkeiten normalerweise auch nur von Grammatikern festgestellt werden. Wie aber ein jeder, der eine Sprache spricht, die Regeln der Grammatik der betreffenden Sprache in seiner Rede anwendet, muß man, um neue Kontexte bilden zu können, die Repräsentanten der Kontexttypen, bzw. die Elementarkontexte, die zu den einzelnen Sememen gehören, kennen. Sie dienen beim Sprechen, beim Hervorbringen neuer, »origineller« Kontexte, aus denen Kommunikationseinheiten, Sprachwerke entstehen, als unentbehrliche Schablonen, Musterformen. Wenn man spricht, denkt man nicht an die verschiedenen Bedeutungen der Wörter. Ein sprachlich ungebildeter Mensch weiß überhaupt nicht, daß viele Wörter der Sprache mehrere Bedeutungen haben und doch kann er die Wörter nach ihren Bedeutungen verwenden. Dies kann man nur dadurch erklären, daß die K r a f t der Analogie den Sprecher zwingt, ähnliche Kontexte zu bilden, wie er sie schon gehört, gelesen und verstanden hat. Es sind aber nicht die einzelnen Kontexte, die beim Sprechen als Musterformen dienen. Diente ein einzelner Kontext als Schablone, so würde man z. B. nach der Analogie des Kontexts »Grillen im Kopf haben« Kontexte bilden wie »Ameisen (Heuschrecken usw.) im Kopf haben« oder »Grillen im Herzen (im Gehirn usw.) haben«. Es sind vielmehr die Kontexttypen und ihre Verallgemeinerungen (ihre Repräsentanten und die Elementarkontexte), die es ermöglichen, neue, in die Situation passende Kontexte zu bilden. Wenn z. B. jemand (ein Kind oder ein Ausländer, der Deutsch lernt) schon folgende Kontexte gehört hat: »Mutti ist nach Hause gekommen«, »Hans ist schon nach Hause gekommen«, »der

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DIE NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

Nachbar ist noch nicht nach Hause gekommen«, »Marie ist spät nach Hause gekommen» usw., wird er die Wortverbindung »ist nach Hause gekommen« in passender Situation mit einem neuen, in diesem Zusammenhang noch nie gehörten Subjekt ergänzen können, denn er hat sich den Repräsentanten des erwähnten Kontexttyps geschaffen: »'jemand' ist nach Hause gekommen«. Es muß sich ein ähnlicher Vorgang wiederholen, so oft nur ein »neuer« Kontext zustande kommt. Im Unterricht fremder Sprachen hat sich diese Ansicht schon durchgesetzt, 12 ihre semantischen Grundlagen sind aber vom nicht-strukturellem Gesichtspunkt aus nur wenig ausgearbeitet. Man muß hier noch darauf hinweisen, daß die vereinfachten Kontexte, die wir in Kontexttypen einreihen, sowie ihr Repräsentant und besonders der aus den Repräsentanten geschaffene Elementarkontext einen sukzessiven Übergang von der Rede ('parole') hin zur Sprache ('langue') bedeuten. Die Elementarkontexte, die von den Eigenschaften der natürlichen, vollständigen Kontexte nur bewahrt haben, daß auch sie die Homonyme und die verschiedenen Bedeutungen der polysemen Wörter auseinanderhalten, gehören gewiß schon ins Reich der abstrakten und sozial gültigen Sprachelemente. Da die Repräsentanten der Kontexttypen so nahe mit ihnen verwandt sind, daß manchmal die Grenzen zwischen ihnen fast ganz verfließen, andererseits aber die Kontexte, die sie repräsentieren, der Rede entnommen sind, kann man ihre Zugehörigkeit (Sprache oder Rede?) nicht klar bestimmen. Damit haben wir wieder ein Beispiel dafür, daß man Rede und Sprache in bestimmten Fällen und von gewissen Gesichtspunkten aus als eine Einheit auffassen kann, daß sie nur zwei Seiten desselben Phänomens sind. 12 Vgl. z . B . G. Taylor, Learning American English ( S a x o n Seriea in English as a Second Language) ( N e w York, L o n d o n , S y d n e y , Toronto, 1956.); R . L a d o — C h . C. Fries, Englich Sentence Palterns, The U n i v e r s i t y of Michigan Press, 1966.

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Schließlich möchte ich noch zur Schlußfolgerung des vorigen Kapitels zurückkehren und sie mit einem Gedanken e rgänzen. Indem der lebendige, vollständige Kontext die aktuelle, konkrete Bedeutung des Semems bestimmt, weist er zugleich auf einen Kontexttyp hin, zu dem er selbst gehört. I m Kontexttyp verkörpert sich aber schon eine lexikalische, sprachliche, allgemeingültige Bedeutung. Dadurch entsteht eine Unterordnung der aktuellen Bedeutung: das Konkrete wird dem Allgemeinen untergeordnet. Der Sprechakt ist also nicht nur eine Synthese des Dynamischen und des Statischen, sondern er ist zugleich auch eine Synthese des Konkreten und des Allgemeinen.

3. ABGRENZUNG DER BEDEUTUNGEN

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß bei der Bildung von Repräsentanten der Kontexttypen und bei der Formulierung von Elementarkontexten eine Verallgemeinerung durchgeführt wird. Das Ziel dieser Verallgemeinerung ist das Ausschalten aller gelegentlichen, situationsgebundenen Momente, die den Wortsinn des Semems aktualisieren und konkretisieren. Es leuchtet ein, daß man nur auf diese Weise zu abstrakten und in gewissem Sinne immer anwendbaren Wortbedeutungen gelangen kann. Da es aber fraglich ist, wie weit man mit dieser Verallgemeinerung gehen kann, ist auch die Abgrenzung der Bedeutungen von polysemen Wörtern manchmal in einem Grade problematisch, daß man auch Mittel zu Hilfe rufen muß, die mit dem kontextuellen Leben des Wortes nicht in Zusammenhang stehen. Es muß jedoch gleich zu Beginn gesagt werden, daß es keine allgemeingültigen Kriterien für die Abgrenzung der Bedeutung polysemer Sememe gibt. 1. Man kann annehmen, daß bei der Abgrenzung der Wortsinne von polysemen Sememen entsprechende Sememe einer fremden Sprache als Stützen dienen können. Dem unga-

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Tischen Wort level entspricht in einigen Kontexttypen das deutsche Wort Blatt, in anderen Kontexttypen das deutsche Wort Brief. Das ungarische Wort fa hat im Deutschen zwei Äquivalenten: der Baum und das Holz. In beiden Fällen besteht selbstverständlich ein Unterschied im Bedeutungskreis der betreffenden ungarischen Wörter, wie z. B. auch das deutsche Wort Fall mindestens zwei Bedeutungen hat, ob es dem ungarischen Wort eses (z. B. szabad eses 'freier Fall') oder dem ungarischen Wort eset (z. B. a legjobb esetben 'im besten Falle') entspricht. Andererseits ist es aber bekannt, daß die verschiedenen Sprachen die Erscheinungen der Welt nach ihrer eigenen Betrachtungsweise einteilen. 13 Dementsprechend gibt es Wörter, die in anderen Sprachen überhaupt kein vollständiges Äquivalent haben. Man f ü h r t im allgemeinen das deutsche Wort Gemüt, das französische Wort esprit und das englische Wort gentleman als Beispiele dafür an. 14 Man kann sie annähernd in andere Sprachen übersetzen, die Tatsache aber, daß die Wörter einer jeden Sprache mit einer spezifischen Anschauungsweise des betreffenden Volkes verbunden sind, weist darauf hin, daß Wörter einer Fremdsprache nicht dazu dienen können, die Grenzen der Wortbedeutungen zu bestimmen. Das deutsche Wort Schwester z. B. hat im Ungarischen zwei Entsprechungen (nene, hüg), je nachdem, ob das Wort eine ältere oder eine jüngere Schwester bezeichnet. Niemand wird aber aus diesem Grund dem deutschen Wort Schwester zwei Bedeutungen zuschreiben. Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen, noch überzeugender ist aber vielleicht, wenn man darauf hinweist, 13 Vgl. besonders L. Weisgerber, Vom Weltbild der deutschen Sprache; 1. Halbband. 2. Aufl. (Düsseldorf, 1953.), S. 56. u. f.; B. L. Whorf, Language, Thought und Reality, Ed. by J. B. Carroll. (New York — London, 1956.); A. Martinet, a. a. O. S. 19 u. f.; W. v. Wartburg, Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, 2. Aufl. (Tübingen, 1962.), S. 166; usw. 11

W. Porzig, Das Wunder der Sprache. (Bern, 1950.), S. 62. Vgl. noch Achmanova, a. a. O. S. 51.

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daß polyseme Wörter einer Sprache oft auch in anderen Sprachen polysemen Wörtern mit denselben Bedeutungen entsprechen (vgl. z. B. die teilweise entsprechenden Bedeutungen des Verbs dt. geben, fr. donner, engl, give, russ. ßaßaTb ~ flaTb, ung. ad usw.). Solche Entsprechungen machen es unmöglich, bei der Abgrenzung der Bedeutungen weitgehend fremdsprachige Äquivalente in Betracht zu ziehen. 2. Man könnte annehmen, daß die innersprachlichen synonymischen Entsprechungen ein besseres Kriterium für die Abgrenzung der Wortbedeutungen sind. Man könnte von der Voraussetzung ausgehen, daß man es mit einer genügend umgrenzten Bedeutung zu tun hat, wenn ein Semem in einem gewissen Kontexttyp mit einem anderen Semem synonym ist, d. h. mit ihm so vertauscht werden kann, daß die Gesamtbedeutung des Kontextes dieselbe bleibt. Man kann in manchen Fällen das Vorhandensein einer synonymischen Entsprechung tatsächlich so auffassen, daß sie auf eine besondere, von den übrigen Bedeutungen des Semems abweichende Bedeutung verweist. Wenn wir z. B. die Bedeutungen des polysemen ungarischen Wortes telik von diesem Gesichtspunkt aus untersuchen, können wir feststellen: In Kontexten, in denen es sich um eine gewisse Zeit oder Zeitdauer handelt (z. B. »lassan telnek a napok« 'langsam vergehen die Tage«) und in Kontexten, in denen von einem Kauf die Rede ist (z. B. »erre nekem nem telik« 'dafür habe ich kein Geld'), haben wir im Ungarischen Synonyme, die — abgesehen von übrigen Umständen — zweifellos beweisen, daß das Verb telik in den erwähnten und in ähnlichen Kontexten zwei verschiedene Bedeutungen hat. Statt »lassan telnek a napok« kann man ja sagen »lassan mülnak a napok« und der Kontext »erre nekem nem telik« bedeutet dasselbe wie der Kontext »erre nekem nem futjm. Da also das Verb telik in manchen Kontexten mit dem Verb mülik, in anderen Kontexten mit dem Semem futja synonym ist, haben wir es mit verschiedenen Bedeutungen des Verbs telik zu tun. Dasselbe Verb hat aber auch die Bedeutung 'voll werden, sich füllen'. I n dieser

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D I E NOMINATIVE FUNKTION D E R SEMEME

Bedeutung entspricht ihm aber kein Synonym, obwohl dies zweifelsohne eine dritte Bedeutung des Verbs ist. Daß man sich bei der Abgrenzung der Bedeutungen polysemer Wörter nicht immer auf synonymische Entsprechungen stützen kann, beweisen auch Wörter, die in mehreren Bedeutungen synonym sind. Die Verben anfangen und beginnen bedeuten einerseits 'etwas in Gang bringen* (z. B. »eine Arbeit beginnen« ~ »eine Arbeit anfangen«), anderseits aber auch 'etwas kommt in Gang' (z. B. »das Konzert fängt um 20 Uhr an« ~ »das Konzert beginnt um 20 Uhr«), Es sind verschiedene Bedeutungen, was schon die Tatsache beweist, daß wir es im ersten Falle mit einem transitiven, im zweiten Falle aber mit einem intransitiven Verb zu tun haben. (Das Ungarische hat zwei verschiedene Verben dafür: kezdeni 'in Gang bringen' und kezdödni 'in Gang kommen'). Da man also bei polysemen Wörtern, die in verschiedenen Bedeutungen mit demselben Wort synonym sind, die verschiedenen Bedeutungen mit Hilfe der Synonymie nicht auseinanderhalten kann, ist es klar, daß synonymische Entsprechungen bei der Abgrenzung verschiedener Bedeutungen der Sememe nicht immer helfen, obwohl manchmal auch sie dazu beitragen, verschiedene Bedeutungen desselben Semems unterscheiden zu können. 3. Als drittes Kriterium kann die Bestimmbarkeit der einzelnen Bedeutungen in Betracht gezogen werden. Bestimmbarkeit bedeutet die Möglichkeit einer logisch korrekten Bestimmung des Wortsinns, d. h. die Möglichkeit einer Bedeutungsdefinition, die aus einem genus proximum und aus einer differentia specifica besteht, und die mit Letzterem den Wortsinn von allen ähnlichen absondert. Die Verfasser des »Webster's Dictionary of Synonyms« halten die Definition der Wortbedeutungen für so wichtig, daß in ihrem Wörterbuch nur solche Wörter als Synonyme betrachtet werden, die dieselbe Definition haben können. 15 15

Webster's Dictionary of Synonyms. Springfield, Mass., 1951 S. X X V I I : »Synonyms . . . are only such words as may be defined wholly, or almost wholly, in the same terms«.

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Es ist bereits erwähnt worden, daß das theoretische Vorhandensein eines »virtuellen Elementarkontexts« auch von unserem Gesichtspunkt aus die Bestimmbarkeit des Wortsinns voraussetzt. Das will aber nur besagen, daß der Wortsinn nicht etwas Gefühlsmäßiges und Zerfließendes ist, sondern sich im Bewußtsein als eine objektive Realität widerspiegelt. Es muß aber trotzdem betont werden, daß die vollständig genaue, exakte Definition der Wortsinne oft nur ein Ziel ist, die Verwirklichung angestrebt, aber nicht unbedingt erreicht wird. Das hängt auch damit zusammen, daß die Wortsinne immer »sprachliche Begriffe«, d. h. nicht eigentliche, reine, von den Fachleuten des betreffenden Fachgebietes als richtig anerkannte Begriffe sind. Der f ü r ein Fachgebiet zuständige Fachmann will nämlich Definitionen haben, die den präzisen (und gewünschten) Wortgebrauch exakt bestimmen. Der Sprachforscher dagegen ist gezwungen, eine Definition der Bedeutungen zu geben, die nicht den erstrebten, sondern den tatsächlichen s p r a c h l i c h e n Zustand schildert, d. h. den Wortsinn so zu schildern, wie er im Sprachgebrauch der Laien lebt, die die Wörter in einem umfassenderen, sprachlichen nicht aber im fachlichen Sinne gebrauchen. Außerdem muß man wissen, daß die lexikographische Definition eines Wortsinnes immer danach strebt, Kennzeichen der Wortbedeutung anzugeben, die dem Benutzer des Wörterbuches zur Identifizierung des Namens mit dem Wortsinn verhelfen. Die treffende lexikographische Bestimmung eines Wortsinns gleicht also gewissermaßen einer guten Fotografie. U n d wie man von einem Gegenstand ausgezeichnete Aufnahmen von verschiedenen Seiten anfertigen kann, ebenso kann man gute Definitionen der Wortsinne von verschiedenen Standpunkten aus, zumindest mit anderen Worten geben. Die Verschiedenheit zweier guter Bestimmungen beweist also nicht unbedingt die Verschiedenheit der Wortsinne. Schließlich darf man nicht vergessen, daß man in die Formulierung einer Bedeutungsbestimmung mehr oder weniger

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SEMEME

viele Merkmale des betreffenden Dinges einbeziehen, und damit den Kreis der Gültigkeit der Bestimmung verengern bzw. erweitern kann. So kann man auch bei der Bestimmung verschiedener Wortsinne eines polysemen Semems verfahren: man kann in die Definition relativ viele Merkmale aufnehmen und dadurch die Gültigkeit der Bestimmung so verengern, daß sie sich nur auf einen kleinen Kreis der Erscheinungen beschränkt. D a aber auch das entgegengesetzte Verfahren möglich ist, kann man mehrere Wortsinne desselben Semems mit einer einzigen Definition bestimmen. Die Zahl der Bedeutungen eines polysemen Wortes hängt also nicht davon ab, mit wieviel Definitionen seine Wortsinne bestimmt sind oder bestimmt werden können. 4. Wenn wir aber auch das Vorkommen der Sememe in bestimmten Kontexttypen in Betracht ziehen, so können wir auch die Bestimmbarkeit der Wortbedeutungen als ein Teilkriterium der Unterscheidung von verschiedenen Sinnen desselben Semems bewerten. E s muß nur betont werden, daß es sich nicht um die Wörter der Bedeutungsdefinition, sondern vielmehr um die sprachlichen und logischen Aspekte der Bestimmung handelt. Bei der Trennung und Abgrenzung der einzelnen Bedeutungen des polysemen Semems muß man also in erster Linie die sprachliche Funktion des Semems in den Kontexttypen und daneben die Kategorien des sprachlichen Begriffes erwägen. Mit anderen Worten: wir müssen auch die »begrifflichen« Unterschiede abschätzen, die bei der Bedeutungsbestimmung in Betracht kommen. Solche Unterschiede sind aber selbstverständlich erst relevant, wenn wir eine zutreffende und ganz genaue Definition geben wollen. Nehmen wir z. B . den übertragenen Sinn des Semems Kopf. Wenn wir auf dem Grund von Kontexten wie z. B . »der K o p f einer Nadel«, »der K o p f eines Nagels«, »die Blumen ließen die K ö p f e hängen«, »einen K o p f Salat kaufen« die Definition der betreffenden Bedeutung des Substantivs Kopf folgendermaßen formulieren: 'der obere, breitere Teil einer konkreten Sache, der mehr oder weniger dem menschlichen H a u p t

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ähnlich ist', so haben wir außer acht gelassen, daß wir in K o n t e x t e n wie z. B. »einen Kopf Salat kaufen«, »sie hat einen Kopf K r a u t gekocht«, »dieser Kopf Kohl wird f ü r die Familie zu klein sein« hinsichtlich des Semems Kopf auch ein Merkmal der Menge oder der Größe haben, das bei dem Kopf eines Nagels oder einer Nadel keine Rolle spielt. Dieser Umstand, dieses Merkmal des 'Kopfes' genügt schon, in sprachlicher Hinsicht von einer anderen, einer neuen Bedeutung oder wenigstens von einem neuen Element in der Bedeutung des Wortes Kopf zu sprechen. I m K o n t e x t »der Kopf eines Nagels« ist der Kopf in der T a t nur ein Teil des Nagels, ohne den der Nagel noch immer ein Nagel bleibt. I n den K o n t e x t e n »ein Kopf Kohl«, »ein Kopf Salat« usw. ist aber der Kopf des Kohls, des Salats usw. so wichtig, daß wir vielleicht überhaupt nicht von Kohl, Salat usw. sprechen würden, wenn sie keinen »Kopf« hätten. (Ganz anders ist es, wenn diese Pflanzen nicht vom Gesichtspunkte der Anwendung zum Essen aus betrachtet werden. F ü r den Laien sind aber Kohl, Salat usw. in erster Reihe Gemüsearten, nur der F a c h m a n n — der Botaniker, der Gärtner usw. — sieht in ihnen n u r Pflanzen. U n d damit haben wir auch ein Beispiel f ü r den »sprachlichen Begriff« im Gegensatz zu den »reinen«, fachwissenschaftlichen Begriffen.) Noch einleuchtender ist der Unterschied zwischen den zwei übertragenen Bedeutungen des Wortes Kopf, wenn wir folgende K o n t e x t t y p e n überblicken: 1. 2. »der »der »der »der

Kopf Kopf Kopf Kopf

eines einer eines eines

Nagels« Nadel« Knochens« Balkens«

»ein »ein »ein »ein

Kopf Kopf Kopf Kopf

Kohl« Salat« Kraut« Zwiebel«

I m ersten K o n t e x t t y p erscheint das Wort Kopf mit Namen von langen u n d relativ schmalen Gegenständen verbunden, im zweiten dagegen spielt es fast die Rolle eines Attributs, das immer vor dem Namen einer Gemüsesorte steht. Ich finde dieses Beispiel besonders lehrreich, denn es zeigt, daß

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die nominative, die dingbestimmende Funktion der Sememe oft mit einer grammatischen Funktion verbunden auftritt, und diese beiden Funktionen sind es, die uns zum Wahrnehmen von Bedeutungsunterschieden verhelfen. Derartige Unterschiede jedoch kommen gar nicht zum Vorschein, wenn die Wörter außerhalb von Kontexten auf ihre Bedeutungen hin untersucht werden. Wenn wir aufgrund sehr vieler ähnlicher Beispiele behaupten, daß die erfolgreichste Art und Weise der Bedeutungsanalyse die Beobachtung aller Funktionen der Sememe in Kontexttypen ist, müssen wir auch feststellen, daß es keine festen Grenzen zwischen den Bedeutungen der polysemen Sememe gibt. Das hängt damit zusammen, daß viele Kontexttypen sich nicht scharf voneinander absondern. Ein Kontext, der sozusagen »am Ende« eines Kontexttyps steht, d. h. die Eigenschaften des betreffenden Kontexttyps am wenigsten prägnant aufweist, kann oft als das »erste« Glied des nächsten Kontexttyps aufgefaßt werden, nämlich dessen, der die meisten ähnlichen Merkmale mit dem »vorigen« aufweist. Man kann z. B. bei der Bedeutungsanalyse des Verbs wachsen den Kontext »Mais wächst hier nicht« mit ähnlichen Kontexten (z. B. »wo wächst in Europa der beste Weizen?«, »hier wächst schon die Feige«) als einen selbständigen Kontexttyp auffassen und hervorheben, daß das Wort wachsen in diesem Sinne nur von Pflanzen gebraucht wird, die als menschliche Nahrung dienen. Ist dies wirklich eine selbständige Bedeutung des Verbs, so muß man darauf hinweisen, daß in diese Bedeutung des Wortes auch der Gesichtspunkt der menschlichen Verwendung hineinspielt, daß das Wort in diesem Sinne mit einer Bedeutung des Wortes gedeihen sinnverwandt ist, und daß man es in dieser Bedeutung ins Ungarische nicht mit dem Verb nö, sondern mit dem Verb terern oder megterem zu übersetzen hat. Andererseits kann man aber hervorheben, daß das Verb wachsen nicht nur in Verbindung mit Nutzpflanzen, sondern auch in Verbindung mit Pflanzen vorkommt, die zwar nützlich sind, aber keinen

D I E NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

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Ertrag liefern, wie z. B. manche Waldpflanzen. Kontexte, in denen das Verb mit dem Namen solcher Pflanzen gebraucht wird, bilden einen Übergang zu Kontexten, in denen das Verb wachsen nur eine Naturerscheinung bezeichnet, die nicht nur Pflanzen, sondern alle Lebewesen charakterisiert. Dann können aber auch Kontexte wie z. B. »der Weizen wächst«, »das Gras wächst«, »das Kind wächst«, »die Haare wachsen« usw. als Glieder eines einzigen Kontexttyps aufgefaßt und die Bedeutung des Verbs wachsen einfach so definiert werden: »'ein Lebewesen oder ein Teil von ihm' wird (infolge einer natürlichen Entwicklung) allmählich größer«. Die Tatsache, daß nicht immer eindeutig und ohne Zweifel entschieden werden kann, wie viele Bedeutungen ein Semem hat, kann keineswegs zu der Annahme führen, daß die Polysemie der Wörter eine ungewisse, in exakter Weise unbestimmbare Erscheinung sei und sie deshalb in semantischen Untersuchungen vernachlässigt werden könne. Man kann ja auch die einzelnen Farben des Spektrums nicht scharf voneinander abgrenzen, und man kann sie künstlich wieder in eine Farbe, nämlich zu Weiß vereinigen, und doch wird niemand sagen, daß das Spektrum einfarbig ist. Die Schwankung in der Abgrenzung der Wortbedeutungen entspricht dem Mechanismus der Sprache und zugleich dem menschlichen Denken vollständig. Wir können ja die Farben — ebenso wie die einzelnen Wortbedeutungen — als selbständige Erscheinungen auffassen und wir können auch zusammenfassend von ihnen sprechen. Es gibt ja nicht nur eine rote, blaue, grüne Farbe, sondern auch dunkle und helle, grelle und matte, kalte und warme Farben, d. h. wir können die Erscheinungen der Wirklichkeit und dementsprechend auch die Wortbedeutungen nach verschiedenen Gesichtspunkten in kleinere und größere Gruppen einteilen und sie in dieser Einteilung als Einheiten auffassen. J e mehr man sich von den konkreten, dynamischen, kontextgebundenen Funktionen der Sememe entfernt und sich den abstrakten, statischen und lexikalischen Bedeutun-

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gen der Wörter nähert, um so mehr verwischen sich die feinen Unterschiede zwischen den Wortbedeutungen. Wer die Wörter n u r als selbständige Einheiten der Sprache, a u ss c h l i e ß l i c h a l s Glieder des Wortschatzes betrachtet und ihre Funktionen, die sie in Kontexttypen und in Elementarkontexten haben, v o l l s t ä n d i g vernachlässigt, der spricht nur von der Bedeutung und nicht von den Bedeutungen polysemer Wörter, da für ihn die Polysemie keine tatsächliche, handgreifliche Erscheinung ist. Und das hängt damit zusammen, daß man gern nur »im allgemeinen« von der Sprache schreibt und spricht, ohne Textanalyse, ohne genaue Beobachtungen von einzelnen Sprachwerken oder Sprechakten durchgeführt zu haben. Ohne Untersuchung sprachlichen Materials, ohne Induktion kann man in der Sprachwissenschaft ebenso wenig vorwärtskommen, wie man das auch ohne Deduktion, ohne Anerkennung des Allgemeinen, ohne Beobachtung des sprachlichen Systems nicht tun kann.

4. VERÄNDERUNGEN DER NOMINATIVEN FUNKTION IN DER SYNCHRONIE

Der Bedeutungswandel ist im allgemeinen ein historischer Prozeß. Dies äußert sich auch darin, daß es in der Regel längere Zeit dauert, bis die Veränderung der Relation zwischen Name und Wortsinn gesellschaftlich anerkannt wird, d. h. bis man eine neue nominative Funktion des Namens als eine natürliche Bedeutung auffaßt. Der Bedeutungswandel ist oft die Folge kultureller Entwicklung und geht oft Hand in Hand mit der Verbreitung einer Anschauungsweise, die sich am Anfang des Prozesses nur sporadisch bemerkbar machte. Es machen sich aber auch im synchronen Sprachsystem Erscheinungen bemerkbar, die zwar im herkömmlichen Sinne nicht als Bedeutungswandel aufgefaßt werden, jedoch eine neue, besondere nominative Funktion der Sememe darstellen. Wir möchten drei besonders typische Verände-

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rungen der nominativen Funktion der Sememe herausgreifen und sie nachstehend mit Hilfe einiger Beispiele beschreiben. l . V o r einigen Jahrzehnten wurde die Wortfeldtheorie Jost Triers und anderer deutscher Sprachwissenschaftler besonders vom Gesichtspunkte der Systematisierung des Wortschatzes aus hoch bewertet. Die Ergebnisse auf diesem Gebiete haben aber die Erwartungen nicht restlos gerechtfertigt. In einer anderen Hinsicht aber, was nämlich die semantische Struktur der Einzelwörter betrifft, die zu demselben Wortfeld gehören, ist die Bedeutung dieser Theorie nicht zu leugnen. Da jedoch die Begriffe 'Wortfeld', 'Bedeutungsfeld', 'sprachliches Feld' von den Forschern in unterschiedlichem Sinne interpretiert werden, möchte ich statt dieser Benennungen lieber den schon von anderen Forschern16 eingeführten Terminus koordinierte Wortreihe verwenden. Bestandteile einer koordinierten Wortreihe sind Sememe, deren Wortsinn in begrifflicher Hinsicht unter dasselbe genus proximum gehört. So bilden z. B. die Namen der Wochentage, die Namen der Monate je eine koordinierte Wortreihe, und man kann die Namen der Völker, die Benennungen der Farben, die Namen der Kulturpflanzen, der kulturellen Institutionen, der einzelnen Wissenschaften usw. als verschiedene koordinierte Wortreihen auffassen. Die Glieder solcher Wortreihen haben selbstverständlich ihre eigene Grundbedeutung, in der Regel ist aber innerhalb der koordinierten Wortreihe eine gewisse Ähnlichkeit der übrigen Bedeutungen festzustellen. Und wenn auch Unterschiede zwischen den übertragenen Bedeutungen der Glieder derselben Wortreihe bestehen, hängt das meistens damit zusammen, daß die Wörter einer koordinierten Wortreihe nicht gleichermaßen verbreitet, nicht gleichermaßen oft gebraucht werden. Deshalb haben die seltener gebrauchten Glieder der Wortreihe oft eine weniger entwickelte semantische

16

V g l . z. B . J . Filipec, Ceakä Synonyma z Mediska stylistiky a lexiko-

logie. (Praha, 1961.), S. 330.

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Struktur als die o f t gebrauchten koordinierten Wörter; das Wesen ihrer semantischen Struktur weicht aber auch in diesem Falle nicht vom Typischen ab. Was wir unter der gemeinsamen semantischen Struktur der Wörter einer koordinierten Wortreihe verstehen, sollen folgende Beispiele zeigen. Die Namen der Institutionen (z. B. Seminar, Theater, Bibliothek, Institut, Anstalt usw.) haben mindestens drei Bedeutungen: 1. 'die Institution als eine Organisation zu einem bestimmten Zweck'; 2. 'die Gesamtheit der Leute, die der betreffenden Institution angehören'; 3. 'die Räumlichkeiten oder das Gebäude der betreffenden Institution'. Bedeutung 1 vertreten z. B. folgende Repräsentanten von Kontexttypen: 'ein Angestellter der Institution' (z. B. »der Direktor des Seminars, des Theaters, der Bibliothek«); 'eine neue Institution gründen' (z. B. »ein Seminar für Orientforschung gründen«, »wer hat dieses Thetaer gegründet?«); zu Bedeutung 2 vgl. 'die ganze Institution handelt oder benimmt sich wie eine Gruppe von Menschen' (z. B. »das ganze Seminar wußte schon . . . «, »das ganze Theater war empört«, »das ganze Institut war anwesend«); zu Bedeutung 3 vgl. 'es wird eine Institution (z. B. ein neues Theater, eine moderne Bibliothek usw.) gebaut'; 'sich vor einer Institution treffen' (z. B. »wir treffen uns vor dem Seminar, Theater« usw.). 17 Andere Beispiele: Die Farbennamen werden als Substantive nicht nur als Benennungen der Farbe, die die Lichtstrahlen dem Auge vermitteln, gebraucht (z. B. »ein helles Rot«, »ein mattes Grün«), sondern sie bezeichnen auch Farbstoffe (z. B. »Schweinfurter Grün«, »mit Weiß bemalt«), und sie haben auch die Bedeutung 'ein weißes, grünes, blaues usw. 17 Vgl. die Bemerkung von A. Martinkö, im A Magyar Tudomdnyos Akadömia Nyelv- 6s Irodalomtudomänyi OsztälyAnak Közlemenyei [Mitteilungen der Abteilung für Sprach- und Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften] Bd. VI, S. 151.

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Kleid' (z. B. »sie kleidet sich gerne in Weiß«, »die Dame in Grün«), — Die Wörter, die eine Kulturpflanze bezeichnen, bedeuten nicht nur die betreffende Pflanze (z. B. »Weizen, Korn, Kartoffeln usw. anbauen«), sondern auch die Frucht der Pflanzen (z. B. »ein Sack Weizen, Korn, Kartoffeln« usw.) — Ist ein Volksname ein Adjektiv, so bedeutet er, wenn er attributiv steht: 1. 'zu einem bestimmten Volke gehörig' (z. B. »ein deutscher, griechischer, ungarischer usw. Arbeiter«), 2. 'zu einem bestimmten Lande gehörig' (z. B. »die deutschen usw. Wälder«); wenn er aber prädikativ steht, hat er die Bedeutung: 'die Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft betreffend' (z. B. »er versteht kein WortDeutsch, Griechisch« usw.). Ist der Volksname in derselben Form ein Substantiv, bedeutet er ebenfalls eine Sprache (z. B. »etwas aus dem Deutschen, Griechischen usw. ins Französische, Englische usw. übersetzen«). F a ß t man solche Verschiedenheiten der Anwendung als verschiedene Bedeutungen auf, oder sieht man in ihnen nur Varianten des Wortgebrauchs, zeigen sie in jedem Falle dieselbe semantische Struktur der koordinierten Wörter. Diese »strukturelle« Gleichheit besteht, wie unsere Beispiele zeigen, darin, daß die Wörter derselben koordinierten Reihe in Kontexttypen gleicher Art vorkommen und die Repräsentanten dieser Kontexttypen die gleiche Form haben. Gelangt nun eine Neubildung oder ein neues Lehnwort in eine koordinierte Wortreihe, bekommt dieses Wort sogleich alle Bedeutungen, die die übrigen Glieder derselben Wortreihe haben. Wird z. B. eine neue Kulturpflanze irgendwo einheimisch, fügt sich der Name dieser Pflanze sofort in die semantische Struktur der Wörter ein, die eine ähnliche Pflanze bezeichnen. Der neue Name bekommt also die Bedeutung 'die Frucht der betreffenden Pflanzen' nicht infolge eines allmählichen Bedeutungswandels, sondern er kann in dieser Bedeutung in dem Augenblick gebraucht werden, in dem er in der betreffenden Sprachgemeinschaft als Name einer Kulturpflanze bekannt geworden ist. Diese Erscheinung,

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die ich — im Gegensatz zum Bedeutungswandel — B e d e u tungsanpassung nennen möchte, charakterisiert selbstverständlich nicht nur die Pflanzennamen, sondern alle Neubildungen und alle Lehnwörter, die Glieder irgendeiner koordinierten Wortreihe werden. Es handelt sich eigentlich um einen Gebrauch neuer Wörter in Kontexttypen, die schon seit langem vorhanden sind. Ein Wort, das gebildet oder neuerdings übernommen wird, kann nur in Kontexten verwendet werden, die seinem Sinne entsprechen. Da aber nicht zu jedem neuen Wort neuartige Kontexttypen gebildet werden, paßt sich das Wort in bezug auf seinen Gebrauch den Wörtern an, mit denen es in eine koordinierte Reihe gehört, und übernimmt wenigstens teilweise die semantische Struktur und die Polysemie derselben Wörter. Besonders hervorzuheben ist, daß diese Erscheinung durch das Sprachsystem bedingt ist, und sich nicht als ein historisches Ereignis abspielt, sondern als Veränderung der nominativen Funktion der Sememe in der Synchronie aufgefaßt werden muß. 2. Ein jeder Kontexttyp, in dem sich die Funktionen eines Semems entfalten und sich bemerkbar machen, kann vom Semem her als »semantische Rektion« betrachtet werden. Wie ein Verb oder ein Adjektiv die Fähigkeit haben kann, den Kasus des von ihm abhängenden Wortes zu bestimmen, so »regiert« ein jedes Semem in semantischer Hinsicht den Bedeutungskreis der Wörter, mit denen es im allgemeinen Kontexte bildet. In diesem Zusammenhang wird aber nicht die Gebundenheit des Wortgebrauches an Sememe mit bestimmter Bedeutung betont, es soll eher darauf hingewiesen werden, daß für den Sender gewisse Möglichkeiten offengelassen werden, die »semantische Rektion« der Sememe zu erweitern oder zu verändern. Das Wesen der stilistischen Metaphern ist vielleicht gerade in dieser Erweiterung der »semantischen Rektion« der Wörter zu suchen. Unter Metaphern sind aber keineswegs verblaßte Metaphern zu verstehen. Wenn wir vom Rücken oder vom Fuße eines Berges sprechen, werden die Wörter Rücken und Fuß in

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einer ihrer üblichen Bedeutungen gebraucht. Dies sind in der Sprachgeschichte entstandene Bedeutungen, die in bestimmten Kontexttypen immer vorkommen, wenn von jenem Teil der Berge die Rede ist, den wir mit einem dieser Sememe zu bezeichnen gewöhnt sind. Man bezeichnet in der Regel jene Wortbedeutungen als verblaßte Metaphern, die ihre Verbindung mit der Grundbedeutung des betreffenden Wortes schon verloren haben. Dies ist aber eine ungenaue Definition, da es eine erwiesene Tatsache ist, daß es Menschen gibt, die auch die sogenannten verblaßten Metaphern als bloße Übertragungen auffassen und in den verblaßten Metaphern noch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes fühlen. Andererseits gibt es aber auch Sprecher und Hörer, deren Denkweise viel mehr begrifflich ist, indem sie auch die sogenannten lebendigen Metaphern nicht als sprachliche Bilder auffassen, sondern nur an den begrifflichen Inhalt des WTortsinns denken. Diese starken Schwankungen des Sprachgefühls zeigen, daß man statt der subjektiven Beurteilung der Metaphern ein Kriterium suchen muß, das unabhängig von der Anschauung des Senders und des Empfängers ist. Den Prüfstein dafür, ob die übertragene Anwendung eines Semems noch als Metapher oder schon als eine eigentliche Wortbedeutung aufzufassen ist, finden wir in der Eigenart des Kontexts, in welchem die problematische Anwendung des Semems vorkommt. Bildet der Kontext mit anderen ähnlichen Kontexten einen Typ, in den semantisch ähnlich aufgebaute Kontexte gehören (z. B. »der Fuß eines Tisches«, »der Fuß eines Stuhls«, »der Fuß des Bettes«), so ist keine Metapher mehr vorhanden, sondern wir haben es schon mit einer selbständigen Bedeutung des Semems (z. B. des Substantivs Fuß) zu tun. Ist aber die »semantische Rektion« eines Semems gelegentlich so erweitert, daß das Semem mit dieser »Rektion« keinen Typ bildet, und der Kontext, in dem es vorkommt, einen besonderen stilistischen Wert hat, kann man den eigenartigen Gebrauch des Semems Metapher (oder eine Abart der Metapher) nennen.

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Man kann z.B. den Repräsentanten des Kontexttyps, zu dem Kontexte mit den Verben anschauen und ansehen gehören, folgendermaßen formulieren: »'jemand oder ein Tier, das Augen hat' schaut (oder sieht) 'jemanden oder etwas' an«. Bei Heine »regieren« aber diese Verben gelegentlich das Subjekt Blume: »Viel s c h ö n e B l u m e n s a h n m i c h a n , Ich h a t t e meine F r e u d e dran«

(Traumbilder 2); »Es f l ü s t e r n u n d s p r e c h e n die B l u m e n , U n d s c h a u n m i t l e i d i g m i c h an«

(Lyrisches Intermezzo 45). Da es keinen Kontexttyp gibt, in dem sich an die Verben anschauen und ansehen als Subjekt das Substantiv Blume oder ein Wort mit ähnlicher Bedeutung knüpft, und da wir die angeführten Zeilen von Heine jedoch verstehen und stilistisch höher bewerten als einen gewöhnlichen Kontext, kann man den eigenartigen Gebrauch der erwähnten Verben als eine stilistische Metapher auffassen. Dies ist aber nur die eine Seite der Erscheinung. Wir hatten ja gesehen, daß im Kontext immer eine Wechselwirkung der Sememe vorhanden ist, und deshalb betrifft der ungewöhnliche Gebrauch der Verben auch das mit ihnen verbundene Substantiv. Da in unserem Bewußtsein die Verben anschauen, ansehen mit dem oben erwähnten Kontexttyp verbunden sind, fassen wir die metaphorische Anwendung der Verben als eine Personifikation der Blumen auf. Obwohl auch diese Auffassung von dem erwähnten Gesichtspunkt aus vollständig richtig ist, muß betont werden, daß die eigentliche Veränderung der nominativen Funktion sich nicht im Worte Blumen, sondern in den Verben vollzogen hat. Es sind doch tatsächlich, d. h. ohne Bedeutungsveränderung des Wortes benannte Blumen, die in den angeführten Gedichten den Dichter »ansehen« und »anschauen«.

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Oben haben wir die verblaßten Metaphern aus dem Begriff der stilistischen Metapher ausgeschlossen. I n sprachlichen Kunstwerken kommt es aber ziemlich häufig vor, daß die Bedeutung eines Semems von zwei Beziehungen zu anderen Sememen im gleichen Kontext bestimmt wird. Ist ein solches Semem von dem Gesichtspunkt der einen Beziehung aus eine verblaßte Metapher, und wird ihre Bedeutung von der anderen Beziehung so beeinflußt, daß sie als die Grundbedeutung des Semems aufgefaßt werden kann, verwandelt sich die verblaßte Metapher wieder in eine lebendige. Da eine solche Wiederbelebung der Metapher lang vergessene semantische Verhältnisse der Wörter und sonst unsichtbare Vorgänge der Sprachentwicklung enthüllt, hat man das Gefühl, etwas von den Geheimnissen des »inneren Sprachbaus« verstanden zu haben. Man kann vielleicht eben darin den Grund der besonders starken dichterischen Wirksamkeit sehen, die mit der Wiederbelebung der Metaphern erreicht werden kann. Zweifache semantische Beziehungen eines Semems, außer sie wirken irreführend, erhöhen in der Regel den stilistischen Wert der Metapher. Das hängt meistens damit zusammen, daß man sowohl den konkreten wie auch den übertragenen Sinn desselben Semems gleichzeitig wahrzunehmen glaubt. Es handelt sich also um eine ähnliche Erscheinung, die wir in Kontexten beobachtet haben, in denen eine gewisse Schwankung der Bedeutung eines Semems dazu führte, daß man von einer zweifachen nominativen Funktion des Semems sprechen konnte. I n Verbindung mit den Metaphern taucht diese Erscheinung wieder auf. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Gedichte »Was ist die Welt?« von Hoffmannsthal. „Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht, Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht, Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht, Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht Und jedes Menschen wechselndes Gemüt . . . "

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Die Bedeutung des Wortes Wein wird von zwei Beziehungen dieses Semems beeinflußt. Einmal steht das Wort in Besitzverhältnis zu dem Wort Weisheit, und wegen dieses Verhältnisses scheint seine Bedeutung vollständig metaphorisch zu sein. Beachten wir, daß dieser »Wein« aus einem »ewigen Gedicht« stammt, das der »Welt« gleichgesetzt wird, so haben wir einen Wortsinn des Weines, der gar nichts mehr mit dem Getränk zu tun hat, das wir Wein zu nennen gewöhnt sind. Der Wein gehört aber im Satz als Subjekt zu den Prädikaten schäumt und sprüht, mit denen er auch in übrigen Kontexten vorkommt, wo der Wein wirklich eine Art Getränk bedeutet. Infolge dieses Zusammenhanges entsteht im Kontext ein zweifacher Funktionswechsel. Einerseits bekommt der Wein einige seiner konkreten Bedeutungselemente zurück, andererseits verlieren aber gleichzeitig die Verben schäumen und sprühen einen Teil ihres konkreten Wortsinnes und werden in die stilistische Sphäre der Metapher erhoben. 3. Zu den Veränderungen der nominativen Funktion der Sememe gehören auch die Unterschiede, die man in verschiedenen Kontexten in bezug auf ihren Informationswert feststellen kann. Was unter Informationswert in dieser Beziehung zu verstehen ist, und wie ihn gewisse Kontexttypen beeinflussen, zeigt folgendes Beispiel. In beiden Kontexten: »er wollte zwei Monate in Italien verbringen« und »im wunderschönen Monat Mai« hat das Semem Monat dieselbe Bedeutung: 'der zwölfte Teil eines Jahres'. Wenn man aber die angeführten Kontexte von dem Gesichtspunkt aus untersucht, in welchem Maße das Semem Monat die Gesamtbedeutung der einzelnen Kontexte bereichert, findet man einen beträchtlichen Unterschied zwischen den Informationswerten desselben Semems im ersten und im zweiten Kontext. Aus dem Kontext »er wollte zwei Monate in Italien verbringen« kann man das Wort Monat nicht weglassen, denn sonst erfährt man nicht, wie lange Zeit die betreffende Person in Italien verbringen wollte. Man kann aber in anderen Situationen statt Monat auch Tag, Woche, Jahr sagen. Im zweiten Kontext (»im wun-

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derschönen Monat Mai«) kann man dagegen kein anderes Wort an Stelle des Wortes Monat setzen, man kann es aber einfach weglassen, denn hier bereichert es den Gesamtinhalt der Aussage nicht im geringsten. Die Bestimmung »im Mai« bedeutet ja desselbe wie die »im Monat Mai«. Man kann also feststellen, daß es mindestens einen Kontexttyp gibt (sein Repräsentant ist etwa: »im Monat 'der Name des Monats'«), in dem das Wort Monat keinen eigentlichen Informationswert hat, obwohl es seine eigentliche nominative Funktion auch in diesem Kontexttyp nicht verloren hat. Es handelt sich eher darum, daß sich hier die Eigenart der nominativen Funktion etwas verändert hat: sie bringt auch hier eine Relation zwischen Name und Wortsinn zustande, diese Relation bereichert aber die Gesamtbedeutung des Kontexts nicht, sie dient nur zum Hervorheben eines Bedeutungselementes des folgenden Wortes. Eine ähnliche Verringerung des Informationswertes kann man in Kontexttypen beobachten, in denen das Wort Stadt oder Dorf vor dem Namen einer Stadt oder eines Dorfes steht (z. B. »die Stadt Berlin«, »die Stadt Mannheim«, »das Dorf Bovenden«, »das Dorf Reinhausen«), ferner in Höflichkeitsformeln wie »danke bestens«, »bitte schön«, »ich möchte gerne. . .« usw., in denen die Wörter bestens, schön, gerne ihren eigentlichen Sinn nicht oder nicht ganz verloren haben, jedoch — was ihren Informationswert betrifft — nicht als vollwertige Wörter betrachtet werden können. Unsere letzten Beispiele bilden schon einen Übergang zu den phraseologischen Einheiten, die wir später noch eingehender behandeln werden. Hier wurden sie nur erwähnt, um zu zeigen, daß ihre Entstehung (d. h. ein historischer Prozeß) Kontexte — in unseren vorigen Beispielen: Kontexttypen — zustande bringen kann, die in der Synchronie als eine Ursache der Verringerung des Wortinformationswertes erscheint. Noch prägnanter zeigt sich diese »quantitative Veränderung« der nominativen Funktion der Sememe in emphatischen Äußerungen. Die Emphase kann bewirken, daß Wörter in-

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folge der Verringerung ihres Informationswertes auch ihre dingbestimmende Funktion verlieren und in bestimmten Kontexten oder Kontexttypen nur dazu dienen, der Aussage Nachdruck zu verleihen. Wenn man die Bedeutung von Kontexten wie »wer hat das behauptet ?« und »wer zum Teufel hat das behauptet?« miteinander vergleicht, kann man klar erkennen, daß im zweiten Kontext der Name Teufel schon gar nicht die Funktion hat, den Wortsinn 'böser Geist, Verführer des Menschen zum Bösen' auszudrücken; er hat nur die Funktion, dem Fragesatz eine emotionelle Ladung zu geben und fühlen zu lassen, daß der Fragesteller empört ist. Da solche Fragesätze oft auch eine Verneinung ausdrücken, sind Kontexte entstanden, in denen das Semem, das seine eigentliche nominative Funktion in Ausrufen, Wünschen, Beteuerungsformeln usw. verloren hat, beinahe die Funktion eines negierenden Wortes übernommen hat. Statt »ich weiß nicht, wann er kommt« kann man ja in der Umgangssprache sagen: »Gott weiß, wann er kommt«. Und die Bedeutung des zweiten Satzes unterscheidet sich von der des ersten nur im Grade des Nachdrucks, obwohl in diesem Satze auch das Wort Gott vorkommt, dessen eigentliche nominative (dingbestimmende) Funktion in solchen Kontexttypen aber schon aufgehört hat. I n der ungarischen Sprache ist diese Erscheinung noch besser zu beobachten. Es gibt eine ganze Reihe von Fluchwörtern, die eigentlich volkstümliche Bezeichnungen von bösartigen Krankheiten ('Krebs', 'Fallsucht', 'Lues' usw.) waren, später aber haben sie ihre ursprüngliche nominative Funktion ganz oder fast ganz verloren. Solche Wörter sind z. B.: fene, franc, fräsz, nyavalya, nyavalyatöres, rosseb. Zu ihnen gesellten sich einerseits einige ganz grobe Ausdrücke (grobe Benennungen von Scham teilen), andererseits Namen religiöser Begriffe (isten 'Gott', jo eg eigentlich 'guter Himmel', ördög 'Teufel', csoda 'Wunder') und einige andere Wörter (z. B. macska 'Katze', manö 'Kobold'), die — obwohl ihre nominative Funktion in anderen Kontexttypen erhalten geblieben ist — in den gleichen Kontexttypen vorkommen wie

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die Wörter, die eigentlich eine Art von Krankheit bedeuten. Alle aufgezählten Wörter haben in der emphatischen Rede folgende Funktionen: a) Mit einem Verb bilden sie einen mehr oder weniger derben Fluch oder eine Verwünschung; z. B. »a fene egye meg!«, »az ördög (a macska, a mano) vigye el!« 'der Teufel soll ihn holen'. b) Sie ersetzen ein Wort, das dem Sprecher gelegentlich nicht einfällt; z. B. »ehes, mint a fene (nyavalya usw.)« statt »ehes, mint a farkas« 'er ist hungrig wie ein Wolf'. c) Sie verleihen einer Aussage Nachdruck, die ein SichAbfinden ausspricht; z. B. »egye fene«, »bänja a csoda (a macska usw.)« 'ich kümmere mich nicht darum'. d) Sie geben einem Fragesatz eine starke emotionelle Färbung; z. B. »mi az istent akar?« 'was will er denn?'; »mi a macska (csoda usw.)?« 'was zum Kuckuck'. e) Sie drücken eine starke Negation aus; z. B. »tudja a nyavalya (a fene, a mcska usw.)!« 'weiß der Teufel!'. Solch ein Gebrauch von einigen Wörtern, die ursprünglich offenbar keine besondere emphatische Ladung, kein starkes Begleitgefühl hatten (z. B. macska 'Katze', mano ('Kobold'), die also nicht durch eine organische Entwicklung derartige Kontexttypen entwickelt haben, zeigt überzeugend den Einfluß der koordinierten Wortreihen auf die Bedeutungsentwicklung anderer Wörter. Als nämlich das Wort macska 'Katze' in irgendeiner der aufgezählten Bedeutungen infolge des Euphemismus oder der Analogie in die koordinierte Wortreihe, deren Wortglieder in den übrigen aufgezählten Bedeutungen schon verwendet wurden, hineingeraten war, war sofort die Möglichkeit gegeben, das Wort macska auch in allen übrigen Bedeutungen, d. h. in allen emphatischen Kontexttypen, die zu diesen Bedeutungen gehören, zu benutzen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels war bereits zu sehen, daß Neubildungen und neue Lehnwörter alle Bedeutungen der koordinierten Wörter, zu denen sie gehören, zur gleichen

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Zeit übernehmen können. Das Beispiel des ungarischen Wortes macska zeigt, daß eine solche Bedeutungsanpassung nicht nur Neubildungen und Lehnwörter, sondern auch andere Wörter der Sprache betreffen kann, wenn diese Wörter in einer ihrer Bedeutungen Glieder einer koordinierten Wortreihe werden.

5. PROBLEME DER PHRASEOLOGIE a) DIB PHRASEOLOGISCHE EINHEIT

Semem, und Wort wurden vorstehend manchmal als sinnverwandte Ausdrücke abwechselnd gebraucht, weil ein Ausdruck, der einen weiteren Sinn hat, in einer entsprechenden Situation statt eines anderen Ausdrucks von engerem Sinn verwendet werden kann. Unter Semem verstehen wir aber nicht nur Wörter, sondern auch kleinere und größere bedeutungstragende Einheiten als ein Wort. Da wir uns jetzt mit den bedeutungstragenden Einheiten der Sprache befassen wollen, die aus mehreren Wörtern bestehen, müssen wir zuerst darauf verweisen, daß es in jeder Sprache Wörter gibt, die in einer bestimmten semantischen Rolle nur in einer einzigen Wortverbindung auftreten, die also mit der betreffenden Funktion keinen Kontexttyp bilden, da eine einzige Verbindung nicht als Typ betrachtet werden kann. Wortverbindungen, in denen solche Wörter vorkommen, sind nach unserer Kontextbestimmung keine Kontexte, denn man kann nicht behaupten, daß die Elemente solcher Wortverbindungen ihre semantischen Funktionen restlos entfalten. Diese Funktion ist auch vom Gesichtspunkt des Verstehens solcher Wortverbindungen aus gar nicht wichtig, denn es handelt sich nicht darum, daß ein Wort in ihnen mit seiner Funktion einen Beitrag zum Verständnis einer Wortgruppe leistet. Ganz im Gegenteil: in manchen Verbindungen gibt ein Wort oder es geben mehrere Wörter ganz oder fast ganz ihre spezifische nominative Funktion auf.

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Dadurch bildet sich eine gemeinsame Funktion der Wortverbindung heraus, die ähnlich wie die Funktion der Einzelwörter aufgefaßt wird. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß solche Wortverbindungen mit einer ganz einheitlichen Bedeutungsfunktion selbst wirkliche Kontexttypen bilden, d. h. sich in der Rede ähnlich verhalten wie die Einzelwörter. Wir nennen Wortverbindungen dieser Art p h r a s e o l o g i s c h e E i n h e i t e n oder kurz P h r a s e o l o g i s m e n . Die Behauptungen Ch. Ballys über die Probleme der Phraseologie können auch heute noch als Grundlagen dieses Problemkreises betrachtet werden. In seiner französischen Stilistik wies erdarauf hin, daß es zwei extreme Typen der Wortverbindungen gibt. Den größeren Teil der möglichen Verbindungen von Wörtern nennt er freie AVortverbindungen. Nachdem solche Wortverbindungen zustandegekommen sind, lösen sie sich wieder auf, und die Wörter in ihnen erhalten die Freiheit, in neuen Wortverbindungen wieder gebraucht werden zu können. Bally erkennt den anderen Typ der Wortverbindungen in den phraseologischen Einheiten, »in denen die Wörter ihre Selbständigkeit verlieren, weil sie zum Ausdruck desselben Gedankens benutzt werden, so daß sie nicht voneinander zu trennen sind, und nur im betreffenden Zusammenhang einen Sinn haben.« 18 Zwischen diesen extremen Typen gibt es nach Bally noch eine ganze Menge von Übergangserscheinungen, die sich aber weder klassifizieren noch bestimmen lassen. Später stellt er noch in Verbindung mit den phraseologischen Einheiten fest, daß in ihnen die Wörter ihre selbständige Bedeutung in einem so hohen Maße verloren haben, daß nur der Phraseologismus eine Bedeutung hat. Diese Bedeutung ist aber nicht die Summierung der Bedeutungen der Wortbestandteile, sondern eine ganz neueBedeutung. 1 9 Was Bally über die Unmöglichkeit der Klassifizierung der Wortverbindungen sagt, die weder freie Verbindungen noch 18 19

Ch. Bally, Traité A. a. O. S. 74.

de stüistique

française,

2. ed. (Paris), S. 67.

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DIE NOMINATIVE FUNKTION DER SEMEME

phraseologische Einheiten sind, scheint etwas übertrieben zu sein. Es muß aber zugegeben werden, daß die Einteilung solcher Wortverbindungen in Typen mit festen Grenzen wirklich eine Aufgabe ist, die kaum ganz befriedigend gelöst werden kann. Man muß jedoch den Versuch des bedeutenden Russisten V. V. Yinogradov erwähnen, der die Wortverbindungen, in denen die Wörter eng miteinander verknüpft sind, in drei große Gruppen eingeteilt hat. 20 Er unterscheidet $pa3eojiornMecKHe cpameHHH, d. h. Wortverbindungen, in denen die Bedeutungen der Wörter zu einer vollständigen Einheit verschmolzen sind, außerdem (JipaseojiornMecKHe e^HHCTBa, in denen die Bedeutung der Wortbestandteile gewissermaßen noch erhalten ist und schließlich cj)pa3eonorMMecKHe rpynnbi oder co^eTaHHH, in denen man die Wörter, obwohl sie relativ stark miteinander verbunden sind, mit Synonymen austauschen kann, ohne damit die semantische Einheit der Wortverbindung zu zerstören. Man darf aber nicht annehmen, daß die sprachliche Bedeutung der Phraseologismen erst in unserem Jahrhundert entdeckt wurde. Seit Gelehrte sich mit Fragen der Rhetorik und der Stilistik befassen, weiß man, daß ein proverbium, ein adagium oder die volkstümlichen sententiae (Sentenzen) der Rede eine gewisse Zierde, einen gewissen Schmuck verleihen. In der Renaissance hat sich vor allem Erasmus Rotterdamus große Verdienste um das Sammeln und um die Erklärung stehender Wortverbindungen erworben. I m Jahre 1500 ließ er seine große Proverbiensammlung erscheinen, und in ihr erläuterte er mehrere Tausende von lateinischen und griechischen adagia nach Bedeutung und nach Herkunft. Unter adagia verstand er nicht nur Sprichwörter, wie es später o f t falsch angenommen wurde, sondern verschiedene in übertragenem Sinne gebrauchte Wortverbindungen und auch 20

V. V. Vinogradov, 06 ocmenux munax (ßpa3eojioemecKux edurnif

e pyccKOM H3buce (A. A. IllaxiuaTOB. 1864—1920. CöopHHK CTafeii H iwaTepna^0B. MoCKBa—JleHHHrpafl. 1947.) S. 3 3 9 — 3 6 4 .

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seltene Wörter, die entweder von klassischen Autoren gebraucht, oder im gesprochenen Latein und in der altgriechischen Sprache verwendet wurden, und die ihm in stilistischer oder rhetorischer Hinsicht f ü r die Erkenntnis und Aneignung der klassischen Sprachen wichtig erschienen. Von dem Erasmischen Werk und von dessen mehrmals erweiterten Auflagen angeregt sammelten Philologen und Forscher der Nationalsprachen schon im 16. Jahrhundert wie auch später Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten, volkstümliche Sprüche aller Art und manchmal auch Zitate von berühmten Schriftstellern. Infolge dieser Arbeit entstanden Tausende von Sprichwörtersammlungen, 21 die aber wegen der Mannigfaltigkeit des in ihnen angehäuften Materials in sprachwissenschaftlicher Hinsicht nur dazu beigetragen haben, den Begriff der phraseologischen Einheit zu verwischen und die phraseologischen Untersuchungen wegen der Ungeklärtheit der Eigenart des Materials verdächtig zu machen. Andererseits muß man aber zugeben, daß die Sprichwörtersammlungen f ü r die Folkloristen wichtige Quellen sind. Es hat sich sogar eine Disziplin der Folklore, die sog. Parömiologie entwickelt, die sich mit dem Sammeln, mit der Klassifizierung, mit der formalen und inhaltlichen Erklärung und mit der Geschichte der Proverbien befaßt. 22 Unter Proverbien werden aber nicht nur eigentliche Sprichwörter, d. h. allgemein verbreitete, volkstümliche Sprüche in der Form eines Satzes verstanden, die einen allgemeingültigen Wahrheitsinhalt haben oder etwas so aussagen, als ob es eine allgemeingültige Wahrheit wäre, sondern auch Wortverbindungen, die in übertragenem, meist in bildlichem Sinne gebraucht werden, und die eigentlich phraseologische Einheiten sind, also ihrer sprachlichen 21

Vgl. O. E. Moll, Sprichwörterbibliographie, (Frankfurt a/M. 1958.) Vgl. F. Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde (München, 1922.); A. Taylor, The Proverb and an Index to The Proverb, (1962); und die Zeitschrift: Proverbium. Bulletin d'informations sur les recherches parémiologiques publié par J. Krzyzanowski, M. Kuusi, D. Loucatos, A. Taylor. (Helsinki, 1 9 6 5 - . ) 22

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Form nach einen Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung bilden. Die Tatsache, daß die phraseologischen Einheiten nicht nur den Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung sondern auch den der Parömiologie bilden, zwingt den Forscher, der sprachwissenschaftliche Ziele hat, die Forschungsmethode und das Gebiet der phraseologischen Forschungen überhaupt abzustecken. Das will besagen, daß man klar sehen muß, welche sprachlichen Erscheinungen von welchem Gesichtspunkt aus betrachtet werden sollen. Was das Wesen der phraseologischen Einheiten betrifft, haben wir schon darauf hingewiesen, daß es Wortverbindungen sind, die zu keinen Kontexttypen gehören. Als wir die Beschaffenheit der Metapher untersuchten, haben wir auch hinsichtlich der Metapher ähnliches festgestellt. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen ihnen. Eine Metapher wird immer g e l e g e n t l i c h gebildet und darum ist sie eine typische Redeerscheinung. Die phraseologischen Einheiten oder wenigstens viele von ihnen waren ursprünglich ebenfalls gelegentliche Metaphern, jetzt gehören sie aber nicht in die Rede, sondern in die Sprache. Das will besagen, daß man phraseologische Einheiten nicht willkürlich schaffen kann, und daß sie nur dann als solche bezeichnet werden können, wenn sie l a n d l ä u f i g oder wenigstens im Gebrauch einer kleineren Sprachgemeinschaft (z. B. einer Mundart) allgemein üblich, allgemein bekannt sind. I n dieser Hinsicht und ihrer nominativen Funktion nach sind sie den Wörtern sehr ähnlich. Wenn aber dem so ist, ergibt sich die Frage, könnte man die praseologischen Einheiten nicht einfach so definieren, wie es auch manche Forscher tun: Phraseologische Einheiten sind Wortverbindungen, die ihrer Bedeutung nach den einzelnen WTörtern ähnlich sind, oder noch einfacher: Phraseologische Einheiten sind lexikalisierte Wortverbindungen. Einerseits hat diese Auffassung bestimmt recht. Es bedeutet z. B. die phraseologische Einheit auf die lange Bank schieben,

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soviel wie aufschieben oder verschieben; in dem phraseologischen Vergleich arm wie eine Kirchenmaus hat das Wortgefüge wie eine Kirchenmaus, was seinen begrifflichen Inhalt betrifft, nicht mehr zu sagen als das Adverb sehr. Im Papierdeutsch schreibt man: »der Tod Müllers ist dann und dann erfolgt«. Man kann aber statt der Wortverbindung der Tod ist erfolgt auch starb oder ist gestorben sagen, und mit den vier Wörtern der phraseologischen Einheit ist nicht mehr gesagt als mit der konjugierten Form des Verbs sterben. Andererseits muß man aber wissen, daß es sehr viele Wortverbindungen gibt, die mit einem einzigen Wort synonym, aber keine phraseologische Einheiten, sondern freie Wortverbindungen sind. Die attributiven Syntagmen: edles Pferd, schönes Pferd, feuriges Pferd sind z. B. keine phraseologischen Einheiten und sind jedoch mit dem Einzelwort Roß synonym, obwohl natürlich auch das Wort Roß dieselben Attribute haben kann, soll eine seiner Eigenschaften besonders hervorgehoben oder betont werden. Viele ähnliche Beispiele könnte man aus dem Ungarischen aufzählen, wo dem Sprecher ein besonders reiches System der Ableitungssuffixe und Verbalpräfixe zur Verfügung steht. Es sollen nur folgende Entsprechungen als Typen erwähnt werden: gyalog megy ~ gyalogol 'er geht zu Fuß'; szalonnät eszik ~ szalonndzik 'er ißt Speck'; szomorü lesz ~ elszomorodik 'er wird betrübt'; dühös lesz ~ megdühödik 'er wird zornig'. Es ist aber auch ohne Beispiele einleuchtend, daß viele Wörter die nominative Funktion haben, Wortsinne zu erwecken, die sich auf mehrere Teilerscheinungen der Wirklichkeit beziehen. Der Wortsinn des Semems Kater besteht z. B aus den Elementen 'Katze' und 'männlich', der Wortsinn des Semems eilen besteht aus den Elementen 'sich vorwärts bewegen' und 'schnell' usw. Es liegt in der Natur der Sache, daß man solche Wortsinne, wenn sie auch o f t mit einem Namen, mit einem Wort bezeichnet werden, manchmal auch umschreiben, d. h. mit mehreren Wörtern, und zwar mit einer freien Wortverbindung bezeichnen kann. Das Wesen der phraseologischen Einheiten

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hat man also noch nicht erfaßt, wenn man behauptet, sie seien Wortverbindungen, deren Bedeutung mit der eines einzelnen Wortes synonym ist. Man muß jedoch die Ähnlichkeit der nominativen Funktion der Wörter und der phraseologischen Einheiten betonen, wenn man sie von den übrigen Syntagmen, d. h. von den in grammatischer Hinsicht betrachteten Wortverbindungen, und von den übrigen Wortverbindungen, mit denen sich die Parömiologie befaßt, abgrenzen will. Diese Ähnlichkeit mit dem Wort bedeutet eine semantische Einheit im Gegensatz zur Konstruktion der freien und gelegentlichen Syntagmen, sowie der übrigen landesüblichen, stehenden Wortverbindungen, die immer Relationen von Wörtern zustande bringen, bzw. eine bestimmte Relation des Senders zur Wirklichkeit ausdrücken. Im Aufbau der phraseologischen Einheiten sind zweifelsohne syntaktische Relationen festzustellen. Diese Relationen sind aber vom Gesichtspunkte des Verstehens aus irrelevant, denn es handelt sich nicht um die Verbindung von kleineren sprachlichen Einheiten zu größeren, sondern um eine Einheit, die schon gegeben war, bevor der Sender seine Rede begann. Man könnte sagen, es sind erstarrte syntaktische Beziehungen, die zwar im allgemeinen noch deutlich wahrnehmbar sind. D a sie aber nicht vom Sender geschaffen wurden, kann die Wichtigkeit ihrer sprachlichen Rolle nicht mit der der soeben geschaffenen syntaktischen Relationen verglichen werden. Die semantische Einheit ( = Einfachheit) der Phraseologismen ist auch im Gegensatz zu der semantischen Zusammengesetztheit der Sprichwörter, Sittensprüche, Sentenzen usw. hervorzuheben. Phraseologische Einheiten haben in der Rede die Funktion, einen Sinn hervorzurufen, der ganz und gar einem Wortsinn ähnlich ist und oft auch einem Wortsinn entspricht. Die Folklore-Elemente, mit denen sich die Parömiologie befaßt, haben dagegen — mit Ausnahme der phraseologischen Einheiten — einen Inhalt, mit dem man einverstanden oder nicht einverstanden sein kann. Dieser Inhalt

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entsteht, indem man die Erscheinungen der sinnlichen Welt oder die der Phantasiewelt irgendwie miteinander verknüpft und damit eine Aussage bildet, die nach ihrer Wahrheit beurteilt werden kann. Die Frage nach dem Wahrheitsinhalt der phraseologischen Einheiten wäre aber ebenso absurd, wie zu fragen, ob ein Wort wahr oder nicht wahr ist. Man kann phraseologische Einheiten manchmal auch als Sätze gebrauchen, wie auch ein einziges Wort in bestimmten Situationen als ein unvollständiger Satz gebraucht werden kann. In diesem Fall ist aber der Wahrheitsinhalt der Aussage nicht in der phraseologischen Einheit, sondern in ihrer Verbindung mit der Situation zu suchen. Damit ist der springende Punkt erreicht, wo man den Unterschied zwischen parömiologischen und phraseologischen Untersuchungen klar erkennen kann. Die Parömiologie untersucht immer den Inhalt oder die Form dieses Inhaltes, der in den Sprichwörtern, in den sprichwörtlichen Redensarten usw. ausgedrückt wird, die Phraseologie aber, die eine Disziplin der Sprachwissenschaft ist, interessiert sich nur für die s p r a c h l i c h e F o r m der phraseologischen Einheiten. Zu dieser sprachlichen Form gehört auch ein »Inhalt«, der aber nicht folkloristisch ist, sondern ausschließlich die Funktion, die semantische Struktur der phraseologischen Einheiten betrifft. Es gibt noch eine Frage, die in Verbindung mit der Wesensbestimmung der phraseologischen Einheiten behandelt werden muß, nämlich die Frage der Unzerlegbarkeit der phraseologischen Einheiten. Wie schon gesagt, betont Bally, daß die Wörter, die eine phraseologische Einheit bilden, nur in der betreffenden Verbindung einen Sinn haben. Das will selbstverständlich nicht besagen, daß die Wortbestandteile der Phraseologismen an und für sich sinnlose Wörter sind, sondern weist darauf hin, daß die Bestandteile der phraseologischen Einheit nur dann mit der Gesamtbedeutung desPhraseologismus in Verbindung stehen, wenn sie in der betreffenden Wortverbindung vorkommen. Diese Behauptung trifft voll-

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ständig zu, wenn wir phraseologische Einheiten analysieren wollen, die so ähnlich aufgebaut sind wie z. B. die Redensart ins Gras beißen. Die Wörter in, Gras und beißen stehen tatsächlich nur dann mit dem Sinn 'sterben' in Verbindung, wenn sie die angeführte phraseologische Einheit bilden. Von ähnlicher Art sind z. B. noch folgende phraseologische Einheiten: einen Bock schießen 'einen Fehler begehen', ein Hufeisen verloren haben 'ein uneheliches Kind haben', aufs Korn nehmen 'seine Aufmerksamkeit auf eine Sache oder Person richten', den Mantel nach dem Winde kehren 'nicht nach festen Grundsätzen handeln', usw., also feste Wendungen mit einem verblaßten sprachlichen Bilde, die man sprichwörtliche Redensarten nennt. 23 Die Unzerlegbarkeit i n d i e s e m S i n n e ist aber keine unerläßliche Voraussetzung für die phraseologischen Einheiten. Phraseologismen, in denen kein Wort vorkommt, das mit der Gesamtbedeutung der Wortverbindung in Beziehung steht, bilden eigentlich nur einen Typ der phraseologischen Einheiten. Wenn wir den Gesichtspunkt gelten lassen, wie sich die Bedeutungen der Wortbestandteile zu der Gesamtbedeutung der phraseologischen Einheit verhalten, können wir noch folgende Typen der Phraseologismen unterscheiden: Es gibt stehende Verbindungen, in denen ein Wort vorkommt, das in keinem anderen Zusammenhang gebraucht wird. In solchen Wortverbindungen ist es ganz gleichgültig, wie sich die Bedeutungen der übrigen Wörter zu der Gesamtbedeutung des Phraseologismus verhalten. D a das Wort Kriegsfuß nur in der Wendung mit jemandem auf Kriegsfuß stehen vorkommt, ist diese Wendung eine vollständige phraseologische Einheit, obwohl das Wort stehen auch in ihr dieselbe Bedeutung hat wie in den freien Wortverbindungen: »mit jemandem in Beziehung stehen«, »mit jemandem in Verkehr stehen«, »mit jemandem in Briefwechsel stehen« usw. 28

Borchardt—Wustmann—Sehoppe, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund nach Sinn und Ursprung erklärt, 7. Aufl. (Leipzig, 1955.)

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Ebenso hat das Wort verdienen in der in abschätzigem Sinne gebrauchten Wendung seine eigentliche Bedeutung vollständig erhalten: sich einen Kuppelpelz verdienen 'eine Belohnung für das Verkuppeln von Mann und Frau verdienen'. Da man aber heute nicht mehr weiß, was ein 'Kuppelpelz' ist, und da dieses Wort in anderen Wendungen nicht gebraucht wird, ist die angeführte Redensart eine unzerlegbare phraseologische Einheit, obwohl ihre übrigen Wortbestandteile mit ihren üblichen Wortsinnen zur Gesamtbedeutung der Wendung beitragen. Aus dem Ungarischen kann man eine ganze Reihe solcher phraseologischen Einheiten anführen; z. B. fabatkät sein er 'es ist keinen Pappenstiel wert', hajitöfät sern er 'id.', ismeri csinjdt-binjdt 'sich gut auskennen', farkasszemet nez 'jemandem scharf ins Auge sehen', totägast all 'auf dem Kopfe stehen' usw. (Die Wörter fabatka, hajitofa, csin-bin, farkasszem, tötagas kommen nur in den angeführten Redensarten vor, aber die Wörter sem, er, ismeri, nez, all bewahren auch hier ihre Bedeutung, in der sie in freien Wortverbindungen üblich sind.) Redensarten wie z. B. etwas in Hülle und Fülle haben oder das dauert ja ewig und drei Tage bilden einen dritten Typ der phraseologischen Einheiten, wenn man das Verhältnis der Gesamtbedeutung des Phraseologismus zu seinen Wortbestandteilen berücksichtigt. Wortverbindungen dieser Art lassen sich für die Bedeutungsanalyse in zwei Teile zerlegen. Der eine Teil (etwas in Fülle haben; das dauert ja ewig) sind freie Wortverbindungen, in denen die Sememe eine gewöhnliche nominative Funktion haben. Der zweite Teil aber, mit dem sie eine Einheit bilden, ist ganz unmotiviert. Ohne die Geschichte der Redensart zu kennen, versteht man nicht, warum die Wortverbindung etwas in Fülle haben noch mit einem Wort (Hülle) ergänzt wird, das nach seiner Bedeutung eigentlich gar nicht in diese Verbindung paßt. Ebenso unlogisch scheint es, zu der üblichen Wendung das dauert ja ewig in der scherzhaften Rede die Wörter und drei Tage hinzuzufügen. Diese Verlängerung gehört aber zum Wesen solcher

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phraseologischen Einheiten. Jeder weiß, daß diese Ergänzung nicht vom Sender stammt, und man teilt die Redewendung auch nicht in zwei Teile, sondern man versteht sie als Einheit. Diese Einheitlichkeit kommt einerseits von der Gewohnheit her. Man hat sich einfach daran gewöhnt, die Redensart in dieser Form zu hören; andererseits hängt sie aber eben damit zusammen, daß die unmotivierte aber gewohnte Ergänzung als etwas sprachliches erscheint: wir sind es ja gewohnt, hinsichtlich der Wörter keine organischen Zusammenhänge zwischen sprachlicher Form und gedanklichem Inhalt zu suchen. Wie in den angeführten deutschen Redensarten bleibt die »Ergänzung« auch in den folgenden ungarischen Phraseologismen vollständig unmotiviert: most legy okos — Domokos 'nimm doch deinen Verstand zusammen', itt a kezem — nem disznöläb 'ich reiche dir die Hand (um etwas zu besiegeln)', nem enged — a negyvennyolcböl 'an seiner Überzeugung festhalten' usw. Einen ähnlichen, jedoch anderen (4) Typ der phraseologischen Einheiten bilden die Wortverbindungen, in denen die Wortbestandteile mit Ausnahme eines Wortes ihre gewöhnliche Bedeutung bewahrt haben. Dieses Wort ist aber keine »Ergänzung«, es ist nicht zu den übrigen, auch ohne dieses Wort verständlichen Wörtern hinzugefügt worden, sondern es ist ein Wort, das die ganze Wortverbindung in ein sprachliches Bild verwandelt. Nehmen wir dieses Wort aus dem Wortgefüge heraus, und ersetzen es mit einem anderen Wort, das im allgemeinen mit den übrigen Wörtern der Wortverbindung Kontexte bildet, wird aus der phraseologischen Einheit eine freie Wortverbindung; z. B. fertig ist die Kiste! (vgl. »fertig ist die Arbeit«), er würde sein letztes Hemd verschenken (vgl. »er würde sein letztes Geld verschenken«), den Kopf verlieren (vgl. »die Geistesgegenwart, den Mut usw. verlieren«) usw. Alle diese Typen der phraseologischen Einheiten beweisen eindeutig, daß Ballys Behauptung: »die Wörter einer phraseologischen Einheit haben nur in der betreffenden Verbindung

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einen Sinn« korrigiert werden muß. Mit Recht kann man nur behaupten, daß in den phraseologischen Einheiten mindestens ein Wort vorhanden sein muß, mit dem man in derselben nominativen Funktion keine Reihe von Kontexten, d. h. keinen K o n t e x t t y p bilden kann. U m die wesentlichen Merkmale der phraseologischen Einheiten zu schildern, haben wir bisher vorwiegend Beispiele angeführt, die gewöhnlich als s p r i c h w ö r t l i c h e R e d e n s a r t e n bezeichnet werden. Das hatte seinen Grund darin, daß die semantische Struktur der sprichwörtlichen Redensarten den inneren Aufbau der phraseologischen Einheiten besonders anschaulich darstellt. Da ihre semantische Struktur aber eng mit ihrer stilistischen Eigenart, mit ihrem stilistischen Wert verbunden ist, scheint es hier Platze zu sein, einige Worte über das eigenartige stilistische Gepräge der sprichwörtlichen Redensarten zu sagen. Ihre stilistische Eigenart kommt besonders klar zum Ausdruck, wenn wir sie mit der der synonymen Einzelwörter vergleichen. Was die nominative Funktion betrifft, drückt die Redensart jemandem einen Korb geben nicht mehr aus als die Wörter zurückweisen, ablehnen oder abweisen. Und wenn man sagt den Stab über jemanden brechen, so hat man einen Ausdruck gebraucht, der seiner bezeichnenden Funktion nach weder mehr noch weniger besagt als das Verb verurteilen. Der stilistische Wert der Aussage ist aber bei der Verwendung einer Redensart und eines Einzelwortes ganz unterschiedlich. Wenn man sich einer Redensart bedient, erhält die Äußerung ein expressives Gepräge, eine besondere Stimmung, die man nur mit Wörtern, die ein ganz eigenartiges Begleitgefühl haben, erreichen kann. Die sprichwörtlichen Redensarten verleihen der Ausdrucksweise immer einen »Überschuß«, wodurch die Rede manchmal scherzhaft, manchmal volkstümlich, manchmal ironisch, manchmal gewählt oder erhaben wird. Man erklärte dies früher mit der Anschaulichkeit der Redensarten und wies darauf hin, daß der Wortsinn im Vergleich mit dem Inhalt einer Redensart immer abstrakt und nicht

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anschaulich sei. Man muß demgegenüber feststellen, daß die meisten sprichwörtlichen Redensarten ihre Wirklichkeitsbezogenheit schon längst verloren haben. Der kulturhistorisch oder sprachwissenschaftlich nicht geschulte Sprecher weiß gar nicht, warum man von einem Korb spricht, wenn man den Freier zurückweist, und er kennt auch nicht das alte Rechtssymbol, das die Redensart den Stab über jemanden brechen f ü r ihn anschaulich manchen würde. Der eigenartige stilistische Wert der Redensarten muß meines Erachtens mit dem psychologischen Vorgang ihres Verstehens ins rechte Licht gestellt werden. Wenn man nämlich Redensarten hört oder liest, deren Wahrnehmung immer eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, wird man sich zuerst — obwohl ganz unklar und für den Bruchteil eines Moments — der eigentlichen Bedeutungen der Wortbestandteile der Redensart bewußt. Wenn man aber die ganze Redensart versteht, wenn einem die einheitliche und spezifische Bedeutung der Redensart klar wird, werden die Wortsinne der Einzelwörter sofort zerstört, weil die Gesamtbedeutung der Redensart die einzelnen Bedeutungen der Wortbestandteile vollständig verdrängt. Dieser Prozeß, obwohl er sich sehr schnell abspielt und das richtige Verstehen der Redensart nicht stört, verursacht eine gewisse Spannung, sogar einen momentanen Zwiespalt im Bewußtsein des Empfängers. Diese kleine Spannung, dieser vorübergehende Zwiespalt wird aber nur als eigenartiges stilistisches Gepräge der Redensart wahrgenommen. Die Wortbedeutungen der freien Verbindungen werden dagegen unmittelbar verstanden, dabei entsteht im Bewußtsein des Empfängers selbstverständlich keine Schwankung.

b) TYPEN DER PHRASEOLOGISCHEN EINHEITEN

Wollen wir jetzt die phraseologischen Einheiten nicht vom Gesichtspunkt ihrer Zerlegbarkeit, sondern ihrem Aufbau und ihrer sprachlichen Rolle nach überblicken, können wir

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(1) außer den s p r i c h w ö r t l i c h e n Redensarten mehrere Abarten der phraseologischen Einheiten unterscheiden. E s sollen zuerst (2) die phraseologischen V e r g l e i c h e erwähnt werden, die aus einem Adjektiv bzw. einem Verb und einem Wortgefüge bestehen, das seiner Form nach ein Vergleich ist; z. B. arm wie eine Kirchenmaus, dumm wie Bohnenstroh, er läuft wie ein geölter Blitz, voll wie eine Kanone. Sie unterscheiden sich von den freien, gelegentlichen Vergleichen, weil sie als lexikalisierte Elemente des Sprachschatzes betrachtet werden können und zum sprachlichen Gemeingut gehören, und weil ihre eigentliche Funktion nicht die Veranschaulichung ist, wie die der übrigen Vergleiche. Man weiß ja eigentlich nicht, wie arm eine Kirchenmaus ist (wer hat überhaupt schon eine Kirchenmaus gesehen?!), warum eben das Bohnenstroh zu einem Symbol der Dummheit wurde und ein Blitz kann ja überhaupt nicht geölt werden. Die redensartlichen Vergleiche bringen also keine logische Verbindung zwischen einer Eigenschaft oder einer Handlung und einem bekannten Ding zustande wie die »freien« Vergleiche (vgl. z. B. »sie ist schön wie eine Blume«), sondern ihre Funktion besteht hauptsächlich in der Steigerung des in ihnen enthaltenen Eigenschaftswortes bzw. eines Bedeutungselements des in ihnen enthaltenen Verbs. Man kann deshalb die nominative Funktion ihres vergleichenden Teiles meistens mit der des Wortes sehr bestimmen, obwohl die stilistische Funktion der phraseologischen Vergleiche eine ganz andere ist als die des Wortes sehr. Der phraseologische Vergleich arm wie eine Kirchenmaus bedeutet 'sehr arm', statt er läuft wie ein geölter Blitz kann man, ohne der Aussage eine besondere stilistische Färbung geben zu wollen, sagen: »er läuft sehr schnell« usw. Es kommt ziemlich o f t vor, daß ein phraseologischer Vergleich spöttisch gebraucht wird. I n diesem Falle bedeutet der Vergleich als Ganzes eben das Entgegengesetzte und zwar in gesteigertem Maße oder mit Nachdruck ausgedrückt, was das Vorderglied allein bedeutet; z. B. sie gleichen einander wie Tag und Nacht 'sie sind ganz verschieden'.

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Ebenso im Ungarischen szereti, mint kecske a kest 'er liebt jemanden wie die Ziege das Messer', d. h. 'er haßt jemanden'. Eine dritte Abart der phraseologischen Einheiten möchte ich (3) p h r a s e o l o g i s c h e P a r a l l e l e n nennen.24 Sie sind immer zweigliedrig und haben einen mehr oder weniger parallelen Aufbau. Manchmal kommt eines ihrer Wortelemente nur in dieser Verbindung vor (z. B. klipp und klar 'deutlich, eindeutig'), ein anderes Mal besteht sie aus zwei aneinandergerückten unvollständigen Sätzen (z. B. mir nichts, dir nichts 'ohne alle Umstände'), ein drittes Mal sind zwei Adverbien mit einer Konjunktion verbunden (z.B. ab und an 'manchmal', ab und zu 'gelegentlich', nach und nach 'allmählich'). Wenn zwei Substantive miteinander verbunden sind, ist der parallele Aufbau manchmal etwas verwischt, er ist jedoch zu erkennen, weil er oft von einem Stabreim unterstützt wird (z. B. auf Biegen oder Brechen 'unter allen Umständen'). Den Charakter der phraseologischen Einheit erhalten diese Wortverbindungen oft von der Lückenhaftigkeit ihres Gefüges, also von einer grammatischen Unregelmäßigkeit, die verursachen kann, daß diese Verbindungen nicht als Glieder eines Kontexttyps betrachtet werden können. (4) In einem anderen Zusammenhang haben wir schon darauf hingewiesen, daß es Kontexte gibt, in denen der Informationswert eines Semems mehr oder weniger verringert wird. Wenn diese Verringerung sich nicht in Kontexttypen vollzieht, sondern nur einzelne, alleinstehende Kontexte betrifft, kann man von einer Art phraseologischer Einheit sprechen. Es handelt sich um Wortverbindungen, in denen eigentlich n u r d a s S u b s t a n t i v s e i n e n o m i n a t i v e F u n k t i o n b e w a h r t h a t , und in denen das Verb, mit dem das Substantiv eine semantische Einheit bildet, u

F. Seiler (a. a. O.) nannte sie »sprichwörtliche Formeln«. — Y. Malkiel beschreibt eine ähnliche Gattung der Wortverbindungen als (irreversible) binomials: Studies in Irreversible Binomials, Lingua VIII. (1959) S. 1 1 3 - 1 6 0 .

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nur die grammatische Funktion hat, der ganzen Wortverbindung einen verbalen Charakter zu geben; z. B. zur Anwendung bringen 'anwenden', einen Vergleich anstellen 'vergleichen', die Absicht haben 'beabsichtigen', wir nehmen Anlaß 'dies veranlaßt uns'. Von dem Gesichtspunkt der Sprachpflege aus sind solche Wortverbindungen überflüssig oder unrichtig, denn ihre Anwendung gibt dem Stil das Gepräge des Papierdeutschen oder des Kanzleideutschen. Dies hängt damit zusammen, daß phraseologische Einheiten solcher Art hauptsächlich in der geschriebenen Sprache vorkommen, und daß ihr Inhalt mit einem einzigen Yerb, das aus der Wurzel des betreffenden Substantivs gebildet wird, ausgedrückt werden kann. In semantischer Hinsicht muß man aber das Wesen ihrer Struktur mit dem Verschwinden oder mit der Veringerung der nominativen Funktion eines Verbs charakterisieren. (5) Die Häufigkeit des Gebrauchs mancher Wortverbindungen f ü h r t ebenfalls zur Verringerung des Informationswertes der Wörter, die in solchen Wortverbindungen vorkommen. Geht dieser Prozeß mit einer Spezialisierung der Bedeutung einer Wortverbindung Hand in Hand, entstehen phraseologische Einheiten, die man K l i s c h e e s oder Schablonen nennt. Zu ihnen kann man viele Begrüßungsformeln, Höflichkeitsformeln, Befehlsworte und Flüche zählen, wenn sie nicht von dem Sprecher gebildete Wortverbindungen sind, und wenn sie immer in derselben Form auftreten. (6) Es sollen hier auch die F a c h a u s d r ü c k e erwähnt werden, in denen die Wörter eine einheitliche nominative Funktion haben, und deren Wortbestandteile nicht mit anderen Wörtern vertauscht werden können. In Sprachen, wo Komposita eine wesentlich geringere Rolle spielen als z. B. im Deutschen, im Ungarischen oder im Finnischen, dringen viele solche phraseologische Einheiten auch in die Gemeinsprache und in die Schriftsprache ein und werden als landläufige Benennungen von Dingen gebraucht, die in den erwähnten Sprachen mit einem Wort bezeichnet werden können.

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(Vgl. z. B. chemin de fer, MceAe3Han dopoza 'Eisenbahn' u n d ähnliche.) Schließlich müssen hier noch zwei Typen der stehenden Wortverbindungen erwähnt werden: die geflügelten Worte u n d die Sprichwörter. Mit beiden können wir schnell fertig werden. (7) G e f l ü g e l t e W o r t e sind nach der klassischen Definition von Georg Büchmann »fertige Formen von Wortzusammenstellungen u n d Gedanken, . . . die sich auf einen bestimmten literarischen oder historischen Ausgangsp u n k t zurückführen lassen«. 25 Nach dieser Definition ist es klar, daß man mit den geflügelten Worten vom Gesichtspunkte der synchronen Semantik aus nichts zu t u n hat, denn nicht wegen ihrer eigenartigen semantischen S t r u k t u r bilden sie einen besonderen T y p der Wortverbindungen, sondern man k a n n sie nur hinsichtlich ihrer H e r k u n f t , d. h. in sprachgeschichtlicher Hinsicht als eine eigenartige G a t t u n g der Wortverbindungen betrachten. (8) Was die S p r i c h w ö r t e r betrifft, haben wir schon darauf hingewiesen, daß sie ihrem Wesen nach nicht zu den phraseologischen Einheiten gehören. Man k a n n sie selbstverständlich auch nach sprachwissenschaftlichen Geischtspunkten untersuchen, wie man den Text eines Volksliedes, eines Romans oder einer Anekdote untersuchen u n d analysieren kann. D a n n ist es aber nicht mehr das Sprichwort als solches, sondern das Sprachwerk, das den Sprachforscher interessiert. E t w a s anders steht die Sache aber, wenn wir die Sprichwörter nicht als sprachliche Einheiten auffassen wollen, sondern ausschließlich ihre Rolle in der Rede, also die Art u n d Weise ihrer Anwendung im Sprechakt beobachten. D a n n kann man feststellen, daß sie entweder als Zitate oder konkretisiert in der Rede benutzt werden. I m ersten Fall spielt es von sprachwissenschaftlichem Gesichtspunkt aus wieder keine Rolle, ob es Sprichwörter sind, oder die Worte von irgendjemand. Wird aber ein Sprichwort in der Rede konkretisiert, » G . Büchmann, Geflügelte Worte, 25. Aufl. (Berlin, 1912.), S. XV.

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d. h. nicht als Zitat verwendet, sondern einer gegebenen Situation angepaßt, hat es schon eine spezifische sprachliche Funktion. Nehmen wir z. B. das Sprichwort »Hunde, die viel bellen, beißen nicht!« Das kann man als eine allgemeine Behauptung anführen in der Bedeutung: 'es sind meistens harmlose Leute, die andere durch Drohungen einschüchtern wollen'. Das ist der abstrakte, allgemeine Sinn des Sprichwortes, mit dem es z. B. in einer Sprichwörtersammlung vorkommt. In der Rede und besonders im Gespräch gebraucht man aber die Sprichwörter nur selten, um allgemeingültige Wahrheiten, Binsenweisheiten zu sagen oder etwas mit ihnen auszudrücken, was der Hörer ohnehin weiß. Das angeführte Sprichwort kommt z. B. in einer realen Sprechsituation meist dann vor, wenn jemand seinen Hörer, den ein anderer bedroht, ermutigen will. In einer solchen Situation hat aber das Sprichwort den Sinn: ' f ü r c h t e d i c h n i c h t , denn es sind meistens harmlose Leute, die andere durch Drohungen einschüchtern wollen'. Es besteht also ein bedeutender Unterschied zwischen dem abstrakten oder allgemeinen Gehalt der Sprichwörter und ihrem Sinn, wie er im konkreten Gebrauch zur Geltung kommt. Wie die aus der Rede abstrahierten Wörter Sprachelemente, Teile des Wortschatzes sind, so sind die Sprichwörter an und für sich Folklore-Elemente. Wenn sie aber in der Rede von einer Situation bestimmt gebraucht werden, behalten sie nur so viel von ihrem abstrakten Sinn, daß durch ihre Verwendung ein Einzelfall als eine gelegentliche Erscheinung einer allgemeingültigen Regel oder Lebensweisheit aufgefaßt wird, indem das Gelegentliche dem Allgemeinen untergeordnet wird.

c) PHRASEOLOGISCHE GEBUNDENHEIT DES WORTGEBRAUCHS

Die Phraseologie befaßt sich in erster Linie mit den phraseologischen Einheiten und mit den Wortverbindungen, die einen Übergang von den freien Wortverbindungen zu den phraseologischen Einheiten bilden. Wenn man aber — besonders

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während der Wörterbucharbeit — Tausende und Tausende von Versuchen macht, die Verbindungsmöglichkeiten der Wörter in ihren einzelnen Bedeutungen festzustellen, muß man zu dem Ergebnis kommen, daß ein jedes Wort in jeder seiner Bedeutung nur mit bestimmten Wörtern eine Wortverbindung bilden kann. Diese »Kompatibilität« wird in erster Reihe von der semantischen Natur des Wortes, bzw. der betreffenden Bedeutung geregelt. Das hängt mit der nominativen und mit der grammatischen Funktion des Semems zusammen, und infolge dieser Eigenschaft der Sememe entstehen die Kontexttypen, die die » b e g r i f f l i c h e « Gebundenheit des Wortgebrauchs, d. h. die semantische Valenz der lexikalischen Einheiten darstellen. Daneben und zwar innerhalb dieser semantischen Gebundenheit hat aber ein jedes Wort seinen spezifischen Charakter, seine eigenartige Natur, die seinen Gebrauch in phraseologischer Hinsicht regelt, und die für einen, der die betreffende Sprache als Muttersprache spricht oder ebenso gut spricht, als ob es seine Muttersprache wäre, eindeutig bestimmt, mit welchen W ö r t e r n das betreffende Semem in eine sprachliche Verbindung treten kann, die auch von dem Empfänger als ein natürlicher und situationsgemäßer Zusammenhang aufgefaßt wird. Während des Unterrichts und auch beim Erlernen einer fremden Sprache fühlt man besonders oft die Unsicherheit, die im Sprachgebrauch wegen der eigenartigen phraseologischen Gebundenheit der Wörter entsteht. Noch auffallender ist dies, wenn man die sprachliche Äußerung eines Ausländers hört oder liest, der zwar die grammatischen Regeln der erlernten Sprache gut kennt und sie richtig anwenden kann, die Bedeutungen der Wörter genau weiß und auch in dieser Hinsicht keinen Fehler begeht, jedoch Wortverbindungen gebraucht, die in der betreffenden Sprache nicht üblich sind, daher etwas fremd wirken, weil sie der phraseologischen Beschaffenheit der Wörter nicht oder nicht ganz entsprechen. Die phraseologische Gebundenheit des Wortgebrauchs hängt eng damit zusammen, daß jede Sprache ihre eigene

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und eigenartige Geschichte hat, daß die Macht der Gewohnheit in jeder Sprache eine Rolle spielt, die nie außer acht gelassen werden darf, und daß »die Logik der Sprache« nicht vollständig mit den Gesetzen des logisch richtigen Denkens zusammenfällt. Man kann mit logistischen Untersuchungen viele Erscheinungen der sprachlichen Struktur erklären, Erscheinungen aber, die ihren Grund ausschließlich in der Geschchte oder in der Sprachgewohnheit haben, sind mit diesei Methode nicht zu erfassen. Zur Beschreibung der Möglichkreiten des Wortgebrauchs in phraseologischer Hinsicht und zum Verständnis der phraseologischen Regelmäßigkeiten der Sprache, wenn es überhaupt solche Regeln gibt, müßte eine spezifische Methode der phraseologischen Untersuchungen ausgearbeitet werden. Zur Zeit ist noch keine solche Methode vorhanden, und man muß sich mit der oft sehr lückenhaften lexikographischen Beschreibung der phraseologischen Möglichkeiten des Wortgebrauchs begnügen. 26 Als Vorarbeit zur Ausbildung einer solchen Methode könnte vielleicht die phraseologische Klassifizierung der freien Wortverbindungen dienen. Ich möchte experimentell die freien Wortverbindungen nach ihrem phraseologischen Charakter in vier Gruppen einteilen. Die erste Gruppe besteht nach dieser Klassifikation aus Wortverbindungen, die einen f ü r die betreffende Sprache charakteristischen Gebrauch der Wörter widerspiegeln, und 2

* Eingehend behandelt V. V. Vinogradov die phraseologisch begrenzten Bedeutungen der russischen Sprache in seinem Aufsatz: OcHoenue

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1953. No. 5. S. 3—29). Er macht aber keinen klaren Unterschied zwischen den semantisch motivierten Grenzen, die also mit den Bedeutungen der Wörter zusammenhängen, und denen, die von ihnen unabhängig sind und nur durch den Gebrauch, d. h. durch die phraseologische Beschaffenheit der Wörter bedingt sind. — Vgl. noch die Bemerkungen von J. Baläzs im A Magyar Tudomanyoa Akademia Nyelv- es Irodalomtudom&nyi OsztAlyänak Közlemenyei [Mitteilungen der Abteilung für Sprach- u. Literaturwissenschaft d. Ung. Akad. d. Wissenschaften] Bd. VI, S. 149 und Thea Schippan, a. a. O. S. 8 3 - 8 5 .

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die, obwohl sie keine phraseologischen Einheiten sind, mit Wörtern etwas bezeichnen, was man auf derselben stilistischen Ebene mit anderen Wortverbindungen gewöhnlich nicht bezeichnet. Ich meine Wendungen, die früher auch als Idiome bezeichnet wurden, möchte aber ihre Besonderheit nicht darin sehen, daß sie etwas mit anderen Wörtern ausdrücken, als eine ihr entsprechende Wortverbindung einer anderen Sprache, sondern eher darin, daß sie die Anziehungskraft der Wörter anschaulich zeigen und häufig gebrauchte Wendungen der betreffenden Sprache sind. Zu dieser Gruppe gehören die Wortverbindungen, mit denen man in den Wörterbüchern die Verwendung eines Wortes in einer bestimmten Bedeutung gut veranschaulichen kann, und die in einem guten Stilwörterbuch als freie Wortverbindungen aufgezählt werden sollten; z. B. Geld verdienen und Geld erwerben; eine Gelegenheit abwarten; gute Nachbarschaft halten; eine trostlose Lage; ich habe nichts mehr übrig; mir war greulich zumute usw. Eine andere und noch größere Gruppe bilden die möglichen und üblichen Wortverbindungen, die aber nicht besonders bezeichnend vom Gesichtspunkte des Wortgebrauchs und des phraseologischen Charakters der betreffenden Sprache aus sind. Es gehören zu dieser Gruppe gelegentliche Wortverbindungen, die nicht besonders häufig und nicht ganz selten in der Rede vorkommen. Es sind eigentlich die meisten Verbindungen, die man gebraucht, wenn man spricht oder wenn man schreibt; z. B. gut rechnen; schöner Tisch; er ist müde; einen Brief schreiben usw. Die dritte Gruppe der freien Wortverbindungen bilden die nur selten gebrauchten Verbindungen. Da wir die Frage von dem Gesichtspunkt der Phraseologie aus betrachten, denken wir hier nicht an Wortverbindungen, die selten vorkommen, weil sie ein seltenes Verhältnis der Wirklichkeit oder eine seltene, sogar absurde Erscheinung bezeichnen (z. B. roter Schnee, die Stummen singen), sondern* weil das betreffende Wort in anderen Verbindungen gebräuchlicher ist. Hierher gehören deshalb alle Wortverbindungen mit einer besonderen

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stilistischen Färbung, wenn diese Färbung nicht von der stilistischen Eigenart der Wörter, sondern von der Verwendung, von der Verbindung selbst abhängt. Die Wortverbindung »der Lenz ist da« gehört z. B. nicht zu dieser Gruppe, weil sie ihre poetische Färbung vom stilistischen Wert des Wortes Lenz bekommt, hierher gehört dagegen eine Verbindung wie z. B. »Ruf des Frühlings« weil die Wörter Ruf und Frühling an und für sich keine besondere stilistische Färbung haben, ihre metaphorische Verbindung aber einen ungewöhnlichen Kontext ergibt. In die vierte Gruppe möchte ich die in phraseologischer Hinsicht falschen, der phraseologischen Natur der Wörter widersprechende Wortverbindungen einreihen. Solche entstehen, wenn jemand z. B. das Wort pünktlich in einer Wortumgebung gebraucht, in der das Wort genau gebraucht werden sollte. Die Entstehung solcher Wortverbindungen ist die Folge mangelhafter Sprachkenntnisse. *

Das wichtigste Ergebnis, das phraseologische Untersuchungen zeitigen können, ist die Einsicht, daß im Sprachgebrauch nicht nur das logische Denken und nicht nur jene Kräfte eine wichtige Rolle spielen, die mit Hilfe außersprachlicher Mittel, z. B. mit der Methode der Mathematik zu erklären sind. Sprachliche Erscheinungen, die ihren Grund ausschließlich in der Gewohnheit haben oder als Überbleibsel vergangener Zeiten in der Sprache bis heute erhalten geblieben sind, und die als phraseologische Eigenschaften einer Sprache betrachtet werden können, sind nur mit sprachwissenschaftlicher Kleinarbeit zu erkennen und zu erfassen.

DIE GRAMMATISCHE FUNKTION DER SEMEME

Neben der nominativen Funktion der Sememe spielt in der wirkenden Sprache auch ihre grammatische Funktion eine wichtige Rolle. Daß es keine scharfe Trennung zwischen Syntax und Semantik gäbe, haben auch Forscher der transformationell-generativen Grammatik, in erster Reihe Uriel Weinreich und andere, die mit der semantischen Theorie von Katz und Fodor nicht einverstanden waren, erkannt und nachgewiesen.1 Wählt man nicht die Semantik sondern die Syntax zum Ausgangspunkt der Forschung, will man aber die Sprache in ihrem Wirken erfassen, kommt man ebenfalls zu der Einsicht, daß syntaktische Erscheinungen nicht zu erklären sind, ohne die Funktionen der Sememe zu untersuchen, ohne semantische Gesichtspunkte gelten zu lassen. Das neulich erschienene Buch von Laszlo Hadrovics, in dem er seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der funktionellen Syntax der ungarischen Sprache niedergelegt hat, gibt einen schlagenden Beweis dafür. 2 1

U. Weinreich, Erkundungen zur Theorie der Semantik (Tübingen, 1970.) Vgl. auch das Vorwort dieser Abhandlung von L. Lipka. Die Einheit von Semantik und Syntax betont auch F. Kiefer, Mondattaniszemantikai tanulmdnyok (Budapest, 1970.). 2 A junkciondlis magyar mondattan alapjai [Grundlagen der funktionellen Syntax der ungarischen Sprache.] (Budapest, 1969.) — Man findet eine andere Auffassung der »syntaktischen Bedeutung« bei S. Käroly, Ältaldnos es magyar jelentestan [Allgemeine und ungarische Semantik.] (Budapest, 1970.), S. 137 — 57.

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Wir sind auf einem ganz anderen Wege zu derselben Einsicht gelangt. Die semantische Untersuchung der Kontexttypen und die Reduktion der Kontexttypen auf Elementarkontexte zeigten ganz eindeutig, daß die eigentliche Bedeutung, d. h. die nominative Funktion der Seme nicht zu bestimmen ist, ohne auch ihre grammatische Funktion in Betracht zu ziehen. Als wir einige Bedeutungen des Verbs füllen analysierten (siehe oben S. 40 u. f.), mußten unter den Bedingungen, die die einzelnen nominativen Funktionen des Semems bestimmen, nicht nur »begriffliche« sondern auch grammatische (syntaktische) Merkmale (markers) aufgezählt werden. Beide sind gleich wichtig, man darf weder das eine noch das andere außer acht lassen, denn sie bestimmen einheitlich die Funktion der Sememe, die das Sprechen und das Verstehen ermöglicht. Die nominative und syntaktische Funktion bilden im Sprechakt eine unzerreißbare Einheit, die nur für den Forscher (nicht aber für den Sender und den Empfänger) und nur während der Bedeutungsanalyse zweifache Eigenschaften aufweist. Wir möchten dies jetzt auch an H a n d von anderen Beispielen beweisen. F ü r den Ausdruck des Wortsinnes 'geboren werden, zur Welt kommen' hat das Ungarische zwei Verben: születik und megszületik. Vergleicht man die Bedeutung der beiden Verben außerhalb von lebendigen Kontexten, wird man feststellen können, daß das Verb mit Verbalpräfix (megszületik) von dem Verb ohne Verbalpräfix (születik) im Aspekt der Vollendetheit der Handlung abweicht. Das kommt auch dann zum Ausdruck, wenn wir die Bedeutungen von Sätzen, in denen das Verb im Präsens vorkommt, miteinander vergleichen; z. B. im Satze »Manapsag több gyerek születik Franciaorszägban, mint a haborü elött« ('Heutzutage werden in Frankreich mehr Kinder geboren als vor dem Krieg') drückt das Verb születik einen Vorgang aus, der eine längere Zeit dauert, und nicht beendet ist, so daß die Aktionsart als imperfektiv erscheint. Im Satze aber: »Megveszik a csecsemökelengyet, meg mielött megszületik a gyermekiik« ('Sie kaufen die Babvaus-

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stattung, bevor noch ihr Kind zur Welt kommt') handelt es sich um ein einmaliges Ereignis, das als in der Zukunft beendetes erscheint, so daß das Verb in diesem Satze als perfektiv betrachtet werden kann. Auf Grund dessen könnte man behaupten, daß zwischen den Verben születik und megszületik ein Aspektunterschied vorhanden ist, der zwar nicht so regelmäßig wie im Russischen, aber doch häufiger und prägnanter als im Deutschen, in der Grammatik des ungarischen Verbs sich äußert. Die Frage, ob der Verbalaspekt, die Aktionsart des Verbums an und für sich in den Rahmen der im engeren Sinne genommenen Grammatik, oder in den der Semantik gehört, soll jetzt dahingestellt bleiben, ich will nur darauf hinweisen, daß der Aspektunterschied zwischen den Verben születik und megszületik sogleich verschwindet, wenn sie im Perfekt stehen. In Sätzen wie z. B. »Született egy gyermeke« ('Ihr wurde ein Kind geboren') und »Megszületett a gyermeke« ('Ihr Kind wurde geboren') handelt es sich gleichfalls um ein einmaliges und beendetes Ereignis. Sind demnach die Verbformen született und megszületett völlig gleichbedeutend? Was ihre nominative Funktion betrifft, können wir die Frage mit bestem Gewissen bejahen. Wenn wir aber den Aufbau des Kontexttyps, in dem sie vorkommen, in Betracht ziehen, fällt sogleich auf, daß die Verbform született immer mit einem Subjekt in Verbindung steht, das entweder keinen oder einen unbestimmten Artikel hat, die Verbform megszületett aber immer zu einem Subjekt gehört, das im Satze mit einem bestimmten Artikel stehen muß. Ich möchte unter anderem diesen Unterschied, der einerseits in der semantischen Beschaffenheit der Verbformen besteht, andererseits aber im Aufbau des Satzes zum Vorschein kommt, als eine grammatische Funktion der betreffenden Verbformen bezeichnen. Man könnte diese Funktion auch »grammatische Bedeutung« nennen, die in der russischen Sprachwissenschaft als rpaM.waraqecKoe SHaqeHHe schon als ein eingebürgerter Terminus gilt, obwohl er o f t unterschiedlich gedeutet wird. (Nebenbei sei hier bemerkt, daß

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der Unterschied, den man zwischen der Bedeutung der Sätze »Született egy gyermeke« 'Ihr wurde ein Kind geboren' und »Megszületett a gyermeke« 'Ihr Kind wurde geboren' spürt, nicht vom Verb, sondern vom Gebrauch der verschiedenen Artikel abhängt.) Noch einleuchtender wird das Wesen der grammatischen Funktion, wenn wir an die Rolle der sog. Kopula denken. Hört ein Deutscher den Satz: »Er ist hungrig« und vergleicht die Bedeutung des Verbs ist in diesem Satze mit der in solchen Sätzen, wie »Heute ist Donnerstag« oder »Wer ist hier?«, so wird er kaum einen Unterschied finden. Ganz anders sieht aber die Sache aus, wenn wir diese Verbalsätze mit ihren fremdsprachigen Äquivalenten vergleichen, unter denen es auch Nominalsätze gibt. Im Ungarischen entspricht z. B. dem Satz »Er ist hungrig« ein Nominalsatz »Ö ehes«, den übrigen erwähnten deutschen Sätzen aber Verbalsätze, in denen das Verb van dem deutschen Verb ist entspricht (»Ma csütörtök van«; »Ki van itt?«). Bei einem solchen Vergleich merkt man sogleich, daß im Satze »Er ist hungrig« das Verb ist keine eigentliche nominative Funktion hat, - der ungarische Satz, in dem ein dem Verb ist entsprechendes Wort nicht vorkommt, hat ja die gleiche Bedeutung —, es dient nur dazu, ein syntaktisches Verhältnis zwischen den Satzteilen er und hungrig zustande zu bringen. Dürfte man jedoch behaupten, daß ein als Kopula gebrauchtes Wort überhaupt keine Bedeutung hat? Gewiß nicht. Es hat eben eine grammatische Bedeutung, eine syntaktische Funktion, die im Sprechen, im Zustandekommen von Kontexte ebenso wichtig ist wie die bezeichnende Funktion der Nennwörter oder der Zeigwörter. Den Fachleuten verrät schon der Gebrauch der Ausdrücke Nennwörter und Zeigwörter, daß ich mich bei der allgemeinen Gliederung der Wortarten Karl Bühlers Vorschlag annehme, wobei ich jedoch betonen möchte, daß Sememe, die weder Nennwörter noch Zeigwörter sind, nämlich die Partikeln oder Formwörter, in der Sprache gleichfalls eine wichtige Rolle spielen wie die übrigen Wörter. Es sind die Wörter, die fast

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ausschließlich oder in erster Linie eine grammatische Bedeutung haben, und die — wie sie Walter Prozig beschreibt — »ihre Leistung ganz innerhalb der Rede vollbringen, ohne auf die Wirklichkeit oder die Welt unmittelbar Bezug zunehmen«. 3 Es ist aber wichtig zu betonen, daß auch die Wörter, die in erster Linie eine grammatische Bedeutung haben, größtenteils polyseme Wörter sind, die in gewissen Kontexttypen nominative Funktion haben können. Im Kontext »über etwas reden« hat die Präposition über nur eine grammatische Funktion: sie verwirklicht die Rektion des Verbs reden. In Kontexten aber, wie z. B. »über den Zaun steigen«, hat sie schon eine bezeichnende Funktion, d. h. eine »konkrete« Bedeutung, da sie doch die räumliche Verhältnisse der Handlung bestimmt. Sogar ein Bindewort, dessen grammatische Funktion am meisten einleuchtend ist, kann in gewissen Situationen so vorkommen, daß seine nominative Funktion kaum zu leugnen ist. In Verbindungen wie »ich und mein Freund«; »die Tafel und die Kreide« usw. hat das Bindewort und eine prägnante grammatische Funktion, sie dient dazu, die Gleichrangigkeit und die Beiordnung bestimmter Satzglieder zum Ausdruck zu bringen. Wenn aber jemand sagt: »Endlich habe ich ihn gestern getroffen«, fährt aber in der Rede nicht fort, so daß man die Frage stellen muß: »Und?« —, dann hat schon dieses und nicht nur eine grammatische Funktion, sondern es bedeutet etwa: 'Ich möchte auch die Fortsetzung hören; bitte, erzähle was weiter geschehen ist!' Das ist aber eigentlich nur ein Sonderfall, und man kann mit gutem Gewissen behaupten, daß es in der Sprache Wörter gibt, die sozusagen dazu geschaffen sind, gewisse syntaktische Verhältnisse innerhalb des Satzes zustande zu bringen. Da ihre sprachliche Rolle, ihre Funktion in der Grammatik der Einzelsprachen so wie in der allgemeinen Sprachwissenschaft ausführlich dargestellt worden ist, möchte ich mich nicht 3

Das Wunder der Sprache (Bern, 1957.), S. 152.

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weiter mit den eigentlichen Partikeln oder Formwörtern befassen, sondern eher darauf hinweisen, daß jedes Wort eine bestimmte grammatische Bedeutung haben muß. Die unentbehrliche grammatische Beschaffenheit des Wortes wurde schon oft betont, ist aber eigentlich ein Problem, das fast nur aus Hinweisen bekannt ist und eingehend nie erörtert wurde. A. Meillet spricht darüber in seiner Definition des Wortbegriffes. Er sagt: »Zu einem Wort gehört die Verknüpfung eines bestimmten Sinns mit einem bestimmten Lautganzen und eine bestimmte grammatische Verwendbarkeit.«4 Bühler schreibt darüber in seiner Sprachtheorie folgendes: »Ich schlage eine erweiterte Fassung des zweiten MeilletKriteriums vor. Wenn es außer dem Symbolfeld der Sprache eine zweite Ordnung gibt, in welcher die sinnvollen Zeichen ihre Feldwerte erhalten, dann erscheint es mir konsequent, dieses zweite Feld bei der Definition des Wortbegriffes mit ins Auge zu fassen. Denn nicht nur die Interjektionen, sondern im Grunde genommen alle »indeklinablen« Zeigzeichen erhalten nicht im Symbolfeld der Sprache, sondern im Zeigfeld ihre Feldwerte; und dieses Gebilde wird man gewiß nicht aus dem Wortschatz verbannen können. Es geht damit das zweite Meillet-Kriterium in die weitere Bestimmung über, daß jedes Wort f e l d f ä h i g ist«.5 Mir scheint, daß Bühler mit dem Ausdruck feldfähig das Wesen des Begriffs erfaßt hat, den wir als grammatische Funktion der Sememe bezeichnet haben. Er führt aber nicht weiter aus, worin die »Feldfähigkeit« der Wörter besteht, und da er nur die Interjektionen und die übrigen »indeklinablen Zeigzeichen« erwähnt, verengt er den Kreis, in welchem die grammatische Funktion der Wörter zur Geltung kommt. Das hängt meines Erachtens damit zusammen, daß — obwohl Bühler vielleicht zuerst auf gehörige Weise die Wichtigkeit 4

Linguistique historique et linguistique von K. Bühler, a. a. O. S. 296. ' K . Bühler, a. a. O. S. 297.

generale (1921), S. 30. Zitiert

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der Kontexte und der Sprechsituation hervorgehoben hat — er sich selbst nicht mit der Bedeutungsanalyse einzelner Wörter bzw. einzelner Kontexttypen befaßt hat. Darum spricht er nur über eine Fähigkeit, die immer etwas Latentes, Verborgenes bezeichnet, obwohl die Feldfähigkeit der Wörter in der Rede sich tatsächlich verwirklicht und als eine konkrete Funktion erscheint. Ich möchte es mir nicht zur Aufgabe machen, alle konkreten Erscheinungsformen der grammatischen Funktion, die die Nenn- und Zeigwörter im Kontext haben können, vorzulegen, versuche nur skizzenkaft die wichtigsten von ihnen in vier Gruppen einzuordnen. 1. Obwohl ich gar nicht an die Allgemeingültigkeit der Gruppierung der Wörter in die herkömmlichen Wortarten glaube, muß ich zuerst darauf hinweisen, daß die grammatische Funktion der Wörter in der Rede teils davon abhängt, zu welcher W o r t a r t — im herkömmlichen Sinne des Wortes — sie eben gehören. In den beiden Kontexten: »Jetzt müssen wir schon gehen« und »Das Gehen fällt ihm schwer« gibt es ein Wort, nämlich das Wort gehen (Gehen), das die gleiche Lautung und fast die gleiche nominative Funktion hat, wegen seiner grammatischen Funktion aber, die im ersten Kontext eine ganz andere ist als im zweiten, nicht als ein einziges Wort aufgefaßt wird, sondern auch von der Schreibweise unterschieden im ersten Kontext als der Infinitiv eines Verbs, im anderen aber als ein selbständiges Substantiv erscheint. Wenn man aber das Wort gehen (Gehen) ohne Kontext hört, wird kein Mensch sagen können, ob es ein Infinitiv oder ein Substantiv ist. Die Lautung gehen (abgesehen jetzt von ihrer Anwendung als ein verbum finitum) — so wie ein jeder Infinitiv im Deutschen — hat zweierlei grammatische Beschaffenheiten: sie kann Glied einer syntaktischen Konstruktion sein, die so aufgebaut wird, wie es die Funktion einer Verbform — nämlich eines Infinitivs — verlangt und sie kann ihre grammatische Funktion als ein Substantiv geltend machen. Die grammatische Bedeutung als eine »Fähigkeit«

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steckt also selbst im Worte und wird nur dann erkennbar, wenn sie als eine Funktion erscheint, die bestimmte syntaktische Konstruktionen zustande bringt. Es muß aber betont werden, daß die herkömmlichen Wortarten in jeder Sprache etwas anderes bedeuten. Jedes ungarische Substantiv kann z. B. als Attribut gebraucht werden, und da es im Ungarischen keine besondere Deklination der Adjektive gibt, sind die Grenzen zwischen Substantiv und Adjektiv im Ungarischen viel mehr verschwommen als in den meisten indogermanischen Sprachen. Damit hängt es z. B. zusammen, daß die Völkernamen und die Namen der Farben im Ungarischen zweifache grammatische Bedeutung haben: sie können als Substantive und auch als Adjektive verwendet werden. Wenn wir also sagen, daß die grammatische Funktion der Wörter in der Rede zum Teil davon abhängt, zu welcher Wortart sie gehören, so ist diese Behauptung vom Gesichtspunkte der allgemeinen Sprachwissenschaft aus nur dann richtig, wenn wir den Unterschied zwischen den Wortarten der verschiedenen Sprachen unterstreichen. 2. Wie es unsere bisher angeführten Beispiele zeigen, kommt die grammatische Bedeutung eines Wortes nicht unbedingt an ihm selbst, sondern — oft auch in morphologischer Hinsicht — an den anderen Wörtern, mit denen es kontextuell verbunden ist, zum Vorschein. Damit ist es schon begründet, warum wir die R e k t i o n als die zweite wichtigste Erscheinungsform der grammatischen Funktion der Wörter betrachten. Den Terminus Rektion möchte ich hier im weitesten Sinne des Wortes gebrauchen und verstehe darunter nicht nur den Einfluß des Verbs oder des Adjektivs auf den Kasus des Nomens oder Pronomens und die Unterordnung eines Substantivs unter ein anderes oder unter ein als Substantiv gebrauchtes Wort, sondern auch die Eigenschaft eines jeden Wortes, durch die bestimmt wird, mit Wörtern welcher Wortart es in unmittelbare Verbindung treten kann, wenn dies nicht gerade davon abhängt, welche Wortart das betreffende Wort selbst hat. Ich betrachte also

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D I E GRAMMATISCHE FUNKTION DER

SEMEME

in dieser Hinsicht als Rektion, ob ein Verb transitiv oder intransitiv ist, würde aber die Eigenschaft eines Adjektivs, mit einem Substantiv verbunden zu sein, in diesem weitesten Sinne des Wortes nicht Rektion nennen, da die Verbindung des Adjektivs mit einem Subjektiv aus seiner Wortart folgt. Die Rektion ist eine sprachliche Erscheinung, die vielleicht am einleuchtendsten veranschaulicht, weshalb man von einem Grenzgebiet der Semantik und der Grammatik oder der lexikalischen und syntaktischen Phänomene der Sprache reden muß. Einerseits ist die Rektion ja eine spezifisch grammatische Erscheinung, da sie als ein Bindemittel zwischen Satzgliedern erscheint und dazu beiträgt, ein bestimmtes grammatisches Verhältnis zwischen Wörtern zustande zu bringen, die ohne sie keine Verbindung miteinander hätten. Andererseits ist sie aber auch eine typisch lexikalische und semantische Erscheinung, erstens aus dem Grund, weil sie immer nur in Verbindung mit b e s t i m m t e n Wörtern erscheint, also bei weitem nicht so ein System bildet, wie z. B. die Deklination oder die Konjugation; zweitens, weil sie in der Synchronie ebenso i m m o t i v i e r t ist, wie »das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft«, also wie die meisten Wortbedeutungen (für einen Nichtdeutschen ist es z. B. ganz unbegreiflich, warum man sagt: »jemandentreffen« aber »jemandembegegnen«);drittens, weil sie oft auch die Funktion der B e d e u t u n g s u n t e r s c h e i d u n g hat. Die nominative Funktion vieler Wörter ist so eng mit der Rektion verbunden, daß man ohne zu wissen, welche Rektion sie im gegebenen Fall haben, überhaupt nicht sagen kann, was das betreffende Wort bedeutet. (Das ungarische Verb er bedeutet z. B. mit der Rektion valameddig, 'reichen', mit der Rektion valdhova 'an einen Ort gelangen' mit der Rektion valamit, valamennyit 'wert sein, gelten', usw. So ähnlich auch im Deutschen: reichen transitiv: 'hingeben' z. B. »jemandem etwas reichen«, intransitiv: '(sich) erstrecken', aber: an etwas reichen 'ihm gleichkommen' und es reicht 'es ist genug, es genügt', usw.)

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Hier kann man die Frage aufwerfen: Wenn man die Rektion f ü r eine Erscheinungsform der grammatischen Bedeutung hält, ist die Kongruenz in der Zahl nicht eine Erscheinung, die auch als etwas Ähnliches bewertet werden könnte? Keinesfalls ! Es handelt sich nämlich bei der grammatischen Funktion um spezifische Eigenschaften der Wörter, die zwar in der Rede zur Geltung kommen, aber ebenso zu den unterscheidenden Merkmalen der Wörter gehören wie ihre nominative Funktion. Was aber als eine allgemeine Regel formuliert werden kann, wenn auch mit Sonderfällen und Ausnahmen, das gehört schon ganz und gar in die Grammatik. 3. Anders ist es um das g r a m m a t i s c h e Ges c h l e c h t bestellt. In Sprachen, wo es vorhanden ist, gehört es einerseits zu den einzelnen Wörtern: wer das Geschlecht eines Wortes nicht kennt, kann das Wort nicht richtig gebrauchen; andererseits hat es auch die Funktion, eine Art grammatischer Verbindung zwischen Wörtern zustande zu bringen. Man kann das grammatische Geschlecht also mit Recht als eine grammatische Funktion der Sememe betrachten, die zum Verstehen der Kontexte beiträgt. Ein jeder, der Verse in lateinischer Sprache, besonders Gedichte von Horaz gelesen hat, weiß, daß die Zusammengehörigkeit der voneinander durch mehrere Satzglieder getrennten Wörter manchmal überhaupt nicht festzustellen wäre, wenn die Kongruenz nach dem Geschlecht der Wörter beim Verständnis nicht zur Hilfe käme. Außerdem ist das grammatische Geschlecht wieder eine Eigenschaft der Wörter, die sich morphologisch nicht oder nicht immer am betreffenden Wort selbst, sondern an den mit ihm in Verbindung stehenden anderen Wörtern bemerkbar macht. 4. Außer Wortart, Rektion und grammatischem Geschlecht gibt es noch viele andere Möglichkeiten, die den Sememen dazu verhelfen, ihre nominative Funktion in einer syntaktischen Einheit, zu deren Bildung auch sie ihren Beitrag leisteten, zu entfalten. Diese Möglichkeiten äußern sich in der Form

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DIB GRAMMATISCHE PUNKTION DEB SEMEME

einer gewissen spezifischen grammatischen Eigentümlichkeit mancher Wörter, die eng mit der Bedeutung der betreffenden Sememe zusammenhängt. Hier ist zu erwähnen, daß es Substantive gibt, die nur im Plural oder nur im Singular gebraucht werden, und daß es Substantive gibt, die im Plural eine andere Bedeutung haben als im Singular. Die Tatsache, daß es unpersönliche Verben gibt, hängt auch mit der Bedeutung dieser Verben zusammen, und kann deshalb ebenfalls als eine Erscheinung betrachtet werden, die semantische und morphologische Folgen zugleich hat. Die Aufgabe eines ausführlichen Wörterbuches ist es, die spezifischen grammatischen Eigenschaften anzugeben, die die einzelnen Wörter charakterisieren. Die meisten Wörterbücher beschränken sich jedoch nur auf grammatische Bemerkungen, die mit dem morphologischen Charakter der Wörter zusammenhängen. Wir haben aber gesehen, daß es Wörter gibt, die die Eigenart haben, auch den Satzbau regeln zu können. (Vgl. unser Beispiel születik ~ megszületik.) Muß sich mit dieser Eigenschaft der Wörter die Lexikologie oder die Syntax befassen ? Meines Erachtens wird die Semantik sich zu einer sprachwissenschaftlichen Disziplin entwickeln, die die Funktionen der Sememe auf die Art und Weise untersucht, daß die Ergebnisse der Untersuchung sowohl den semantischen Charakter der einzelnen Sememe als auch ihre syntaktischen Eigenschaften ins rechte Licht stellen werden. So wird mit Hilfe der Semantik eine einheitliche Auffassung der Lexikologie, der Morphologie und der Syntax zustande kommen.

DIE STILISTISCHE FUNKTION DER SEMEME

Man kann es als eine allgemein akzeptierte Ansicht annehmen, »daß die Sprachphänomene . . . als mehrseitig und . . . als mehrstufig zeichenhafte Gebilde anzusehen sind«.1 Das sind sie auch dann, wenn sie nicht als abstrakte Elemente des Sprachsystems, sondern als Einheiten der Rede nach ihren Funktionen betrachtet werden. Ihre Mehrseitigkeit haben wir einerseits in ihrer nominativen Funktion dargestellt, indem wir darauf hingewiesen haben, daß sie in den einzelnen Kontexten meistens Einzelgegenstände und Einzelsachverhalte bezeichnen, außerdem aber auch Kontexttypen bilden, in denen sie schon mit einer verallgemeinerten Bedeutung erscheinen, die auf eine ganze Gattung von Gegenständen und Sachverhalten bezogen werden kann. Andererseits äußert sich ihre Mehrseitigkeit in ihrer grammatischen Funktion, durch die sie ihrer verschiedenartigen Feldfähigkeit entsprechend verschiedene sytaktische Konstruktionen zustande bringen können. All das ist aber nur als erste Stufe ihrer sprachlichen Rolle zu bezeichnen, deren Wesen ich darin sehe, daß sie Redeeinheiten, d. h. gemeinverständliche und grammatisch richtig geformte Sätze bilden, die — wie John Ries es klassisch formuliert hat — ihren Inhalt im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Auf einer höheren Stufe sind aber die in Sätzen vereinigten Redephänomene nicht nur dazu geeignet, das Verhältnis des Senders zur Wirklichkeit auszudrücken, sondern sie können 1

K. Bühler, a. a. O. S. 33.

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D I E STILISTISCHE FUNKTION DER SEMEME

als subjektbezogene Phänomene auch dazu dienen, das Verhältnis des Senders z u s e i n e r e i g e n e n Ä u ß e r u n g erkenntlich zu machen. Diese sprachliche Rolle der Sememe möchten wir als ihre stilistische Funktion bezeichnen. Sie realisiert sich auf einer zweiten oder höheren Stufe des Sprechaktes, weil das stilistische Gepräge einer Äußerung immer als eine Zugabe, als eine Mehrleistung erscheint, obwohl es ebenso zur Wesensbeschaffenheit, bzw. zur unerläßlichen Funktion der Redeelemente gehört wie ihre Wirklichkeitsbezogenheit oder ihre grammatische Funktion. Wie gesagt, bietet die verschiedenartige stilistische Färbung der bedeutungstragenden Elemente dem Sprecher die Möglichkeit, die Stellungnahme zu seiner eigenen Äußerung auszudrücken. Das will besagen, daß der stilistische Charakter jeder Äußerung davon abhängt, wie der Sprecher einerseits die Gegenstände und Sachverhalte, von denen er spricht, andererseits aber seinen Hörer oder seine Hörerschaft, d. h. den Empfänger bewertet. Und da es sich immer um eine subjektive Bewertung handelt, spielt die Persönlichkeit des Sprechers in der stilistischen Beschaffenheit des Sprachwerks die Hauptrolle, die wichtigste Rolle. Was gesagt wird, hängt davon ab, was der Sprecher denkt, was er fühlt, was er will, wie er es aber mitteilt, d. h. ob seine Ausdrucksweise erhaben, rhetorisch, gewählt, gemeinsprachlich, umgangssprachlich, salopp oder vulgär ist, ob seine Worte Achtung, Gleichgültigkeit oder Verachtung ausdrücken, ob er volkstümlich oder schriftspachlich spricht, wird einerseits davon beeinflußt, wovon er redet, wem er etwas mitteilt, und unter welchen Umständen er sich über etwas äußert. Die subjektive Stellungnahme zu den Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit, zu dem Sprechpartner und zu den aktuellen Umständen hängt aber mit der individuellen Wertungsfähigkeit des Sprechers zusammen. Deshalb ist der Sprachstil immer an einen Sprechakt gebunden und erscheint als die Eigentümlichkeit des einzelnen Sprachwerks, nicht aber als die der Sprache selbst.

D I E STILISTISCHE PUNKTION D E R SEMEME

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Würde aber diese Behauptung den Tatbestand in seiner Ganzheit in sich fassen, dürften wir uns mit den Fragen der Stilistik überhaupt nicht befassen, da wir von den Redeerscheinungen zu den Spracherscheinungen gelangen wollen. Die Tatsache aber, daß die sprachlichen Zeichen auch an und f ü r sich einen eigenartigen stilistischen Wert haben, der in der Rede zum Ausdruck kommt, also im Sprechen seine spezifische Funktion hat, berechtigt uns, die stilistische Beschaffenheit der Sememe als eine sprachwissenschaftliche Erscheinung zu betrachten. Enthielten die Wörter, die phraseologischen Einheiten und auch gewisse grammatische Konstruktionen nicht die Fähigkeit, der Rede eine gewisse stilistische Färbung zu verleihen, könnte der Sprecher nicht seinem Wunsche gemäß unter ihnen wählen. Diese in der Sprache nur latent enthaltene und in der Sprechhandlung tatsächlich funktionierende Möglichkeit der Sememe bezeichnet man als ihren stilistischen Wert. Es muß betont werden, daß dieser Wert der Spracheinheiten nicht nur deshalb in die Semantik gehört, weil er die Gesamtbedeutung desKontexts mit bestimmten Informationselementen bereichert, die sich in erster Linie auf die subjektive Stellungnahme des Sprechers beziehen, sondern auch deshalb, weil der stilistische Wert der polysemen Wörter sehr o f t mit ihrer verschiedenartigen bezeichnenden Funktion verbunden auftritt. Wenn z. B. das Wort Aas in der Bedeutung 'verwesende Tierleiche' gebraucht wird, ist es seinem stilistischen Wert nach gemeinsprachlich, d. h. es kann sowohl in der Umgangssprache wie auch im literarischen und amtlichen Sprachstil verwendet werden. Wenn aber dasselbe Wort auf einen Menschen bezogen wird, hat es eine stilistische Färbung der Verachtung und wird nur in der Vulgärsprache verwendet. Bessere Wörterbücher geben deshalb bei jeder Wortbedeutung auch die stilistische Qualifikation an. Es wäre lehrreich, das Problem zu erörtern, welche die Quellen sind, aus denen sich der stilistische Wert der Lexeme nährt. Statt eingehender Erörterungen möchten wir aber nur

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D I E STILISTISCHE FUNKTION D E R SEMEME

auf einige Zusammenhänge hinweisen, die uns in semantischer Hinsicht am wichtigsten zu sein scheinen. 1. Zuerst sei der phonetische Bau des Wortes erwähnt. Was manchmal als Nebenbedeutung, manchmal als spezifische Stimmung des Wortes bezeichnet wird und oft den Kern des stilistischen Wertes bildet, ist bestimmt nicht unabhängig vom akustischen Klang des Wortes. Wenn auch die Beurteilung in dieser Hinsicht fast nie ganz frei von subjektiven Momenten ist, gibt es tatsächlich Wörter, die mit ihrem Klang selbst gewisse Effekte hervorrufen. Bleibe hier die Frage der Lautsymbolik ganz dahingestellt, kann man doch wenigstens soviel mit Gewißheit feststellen, daß Wörter, in denen stimmhafte Laute in gewisser Reihenfolge das Übergewicht haben, angenehmer klingen als Wörter, deren Klang dem Knirschen ähnlich ist. Manchmal hängt der stilistische Wert der Wörter auch mit ihrer Länge zusammen. Kürzere Wörter im Vergleich zu ihren längeren Synonymen haben — wenigstens im Ungarischen — oft eine familiäre Stimmung. (Vgl. auch den Unterschied im Deutschen zwischen dem stilistischen Wert der Wörter ja und jawohl). Damit hängt zusammen, daß sich in der ungarischen Umgangssprache der letzten Jahrzehnte Wortverkürzungen mit dem Diminutivsuffix -i so sehr verbreitet haben. Im familiären Stil sagt man z. B. statt direktor ('Direktor') nur diri, statt csolcoläde ('Schokolade') die verkürzte Form csoki, statt fagylalt ('Speiseeis') nur fagyi, und diese Wortbildungsart, die gewiß auch stilistische Gründe hat, verbreitet sich Tag für Tag mehr. 2. Als eine andere Quelle des stilistischen Wertes kann man die Herkunft, die Etymologie der Wörter erwähnen. Fremdwörter und Neubildungen sind in der Regel stilistisch mehr geladen als Erbwörter oder alte Lehnwörter, bei denen der fremde Ursprung nicht mehr zu verspüren ist. Das hängt wohl damit zusammen, daß die Gewohnheit sozusagen ein »Feind der Gefühle« ist. Die meistgebrauchten Wörter, die seit Jahrhunderten die Grundschicht des Wortschatzes bilden,

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sind in stilistischer Hinsicht meistens indifferent. Wörter aber, an denen man die fremde Herkunft noch genau verspürt, wirken auf den Hörer entweder als besonders erhabene, feine, manchmal graziös klingende Ausdrücke, oder aber man emfindet sie als allzu volkstümlich, ja manchmal auch vulgär oder gemein. All dies kommt besonders dann zum Vorschein, wenn man den stilistischen Wert von Synonymen miteinander vergleicht. 3. Man könnte noch mehrere Quellen des stilistischen Wertes der Wörter aufzählen (z. B. eine innere Wanderung der Wörter und phraseologischen Einheiten aus einer sozialen Schicht in eine andere, Einfluß verschiedener Ableitungsmöglichkeiten, Eigenart der Lautnachahmung oder der Lautmalerei, die begriffliche Bedeutung des Wortes usw.). Es soll aber eher darauf hingewiesen werden, daß auch die kontextuelle Stelle der Wörter ihre stilistische Funktion beeinflussen kann. Wenn ein Kontext aus Wörtern besteht, die in die gleiche stilistische Schicht der Sprache gehören, oder die in stilistischer Hinsicht nicht besonders voneinander abweichen, behält ein jedes Wort des Kontexte seinen stilistischen Wert, der zu ihm als zu einer lexikalischen Einheit gehört. Sobald aber im Kontext ein Wort auftritt, dessen stilistischer Wert auffallend von dem der anderen mit ihm verbundenen Wörter abweicht, verändert sich sogleich das stilistische Gesamtbild des Kontexts. Ein Wort, das im Kontext einen grell von den übrigen abstechenden stilistischen Wert hat, erregt vorübergehend Anstoß, der im Verständnisprozeß des Kontexts oft eine humoristische Wirkung hat. Man kann im Bereiche des sprachlichen Humors mindestens drei Haupttypen der Mischung von verschiedenartigen Stilelementen unterscheiden: a) Mischung von gewählten und familiären Stilelementen; b) Mischung von umgangssprachlichen und gewählten Stilelementen und c) Mischung von Fachausdrücken verschiedener Fachgebiete. 2 2

Vgl. F. Nagy, A nyelvi humor jobb tipusai [Haupttypen des sprachlichen Humors], Magyar Nyelvör, XCII. S. 1 0 - 2 2 .

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D I E STILISTISCHE FUNKTION D E B

SEMEME

Die stilistische Funktion der Sememe kann auch mit ihrer nominativen Funktion verglichen werden. Der lexikalischen Bedeutung der Einzelwörter entspricht auf der stilistischen Ebene der Sprachbetrachtung der stilistische Wert der Wörter, der als eine Eigenschaft betrachtet werden kann, die die Einzelwörter im allgemeinen, oder nach ihren einzelnen Bedeutungen charakterisiert. Der abstrakte stilistische Wert erscheint im Sprechakt als eine Funktion der Wörter, wie auch die abstrakte ( = lexikalische) Bedeutung in der Rede zu einer konkreten Bezeichnung, zu einer nominativen Funktion wird, die die Gesamtbedeutung des Kontexts bereichert. Die Bereicherung besteht in stilistischer Hinsicht darin, daß der Empfänger auch über die Stellungnahme des Senders informiert wird, indem er erfährt, wie der Sender all das bewertet, was im Sprechakt eine Rolle spielt. Diese Stellungnahme kann selbstverständlich auch objektiv sein, d. h. sie kann davon zeugen, daß der Sender die Gegenstände und die Sachverhalte, über die er spricht oder schreibt, unbeteiligt betrachtet oder so betrachten will. Diese Objektivität, die Vermeidung der Expressivität ist auch eine Stilform, die ihre eigenen stilistischen Mittel hat wie die übrigen Stilformen. Da die stilistischen Möglichkeiten der Sprache sich auf einer höheren Ebene verwirklichen als die Möglichkeiten der bloßen Mitteilung, erfordert die Bewertung der stilistischen Feinheiten des Sprachwerkes vom Empfänger ein gewisses Fingerspitzengefühl.

SYNONYMIK: D E R WEG ZUR SYSTEMATISIERUNG D E R SEMEME

K a n n man mit Recht behaupten, daß man nichts Wesentliches vom Aufbau und vom Wirken der Sprache wissen kann, ohne sie als ein System zu betrachten, ist auch mit vollem Recht zu sagen, daß dieses System nur dann dem Wesen der Sprache entspricht, wenn es nicht aprioristisch ist, sondern die inneren Zusammenhänge der Sprachphänomene widerspiegelt. In Verbindung mit einer Wissenschaft, deren Gegenstand nicht mit allen geistigen Lebenserscheinungen des Menschen, besonders mit dem Denken in Beziehung steht, wäre diese Behauptung vollständig überflüssig. Wer sich aber mit Fragen der Sprachwissenschaft befaßt, ist immer der Versuchung ausgesetzt, bei der Systematisierung sprachlicher Erscheinungen die Gesetzmäßigkeiten einer anderen menschlichen Tätigkeit oder Verhaltensform, besonders des Denkens, auf die Sprache anwenden zu wollen. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn es sich um die Systematisierung des Wortschatzes nach den Bedeutungen der Sememe handelt. Wie das Denken selbst sehr eng mit dem Sprechakt verbunden ist, besteht auch eine enge Beziehung zwischen dem Wortsinn und dem Begriff. Wird die Frage vom Gesichtspunkte der Philosophie aus betrachtet, verschwindet der Unterschied zwischen Wortsinn und Begriff ganz oder fast ganz. Wer sich aber diesem Problem von der Seite der Sprache nähert, muß immer die eigenartige sprachliche Beschaffenheit der sprachlichen Zeichen vor Augen halten. Homonymie, Polysemie, grammatische und stilistische Funktion der Sememe, Schwie-

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rigkeiten bei der eindeutig logischen Abgrenzung der Wortsinne und alles, was zum eigenartigen sprachlichen Charakter des Wortsinnes hinzugehört, machen es unmöglich, eine begriffliche Systematisierung des Wortschatzes — eigentlich aber nur der Begriffe und nicht des Wortschatzes — auch in sprachlicher Hinsicht als richtig, als zutreffend und als dem Wesen der semantischen Beschaffenheit der Sememe entsprechend anzuerkennen. Um eine zuverlässige Grundlage für die Systematisierung der Sememe zu finden, darf man den Bereich der Sprache nicht verlassen. Um so weniger, da es auch innerhalb der Grenzen der Sprache ein Phänomen gibt, das in dieser Beziehung als eine gute Grundlage benutzt werden kann: das ist die Synonymik. Konnte eine ganze sprachwissenschaftliche Richtung, die transformationell-generative Forschungsmethode nämlich auf die Tatsache aufgebaut werden, daß in der Sprache synonyme Wortgefüge, Syntagmen oder Konstruktionen vorhanden sind, kann die Synonymik auch für die Semantik bei der Systematisierung des Wortschatzes als eine zuverlässige Grundlage dienen. Zuallererst muß aber der Begriff der lexikologischen Synonymik geklärt werden. Es werden — wie bekannt — jene Wörter und stehenden Wortverbindungen als Synonyme betrachtet, die die gleiche oder fast die gleiche Bedeutung haben. Es muß aber sogleich festgestellt werden, daß es keine Sprache gibt, in der zwei Wörter dieselbe Bedeutung hätten. Das kann auf zweifacher Weise begründet werden. 1. Zur Bedeutung gehört auch die stilistische Funktion der Sememe hinzu. Da bei dieser Funktion auch das Lautbild des Semems eine Rolle spielt, und da zwei Wörter nie dasselbe Lautbild haben, ist es klar, daß auch ihre Bedeutungen nicht vollständig zusammenfallen können. 2. Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß der materiellen Lautung eines jeden Wortes auch eine psychische Abbildung oder ein psychischer Abdruck dieser Lautung entspricht. Da diese Abbildung einen Teil des psychischen Inhaltes bildet, der mit der Lautung und deshalb auch mit dem

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Wort verbunden ist, und da sich diese Abbildung bei jedem Worte unterscheidet, unterscheiden sich auch die Bedeutungen der Wörter. Demgemäß können die Synonyme als sinnverwandte Wörter und sinnverwandte phraseologische Einheiten bestimmt werden. Bei der Feststellung solcher Relationen muß man die Bedeutungen der Sememe miteinander vergleichen. Es ist aber fraglich, wie dies geschehen soll. Man kann nämlich die Wortsinne der alleinstehenden Sememe und auch die kontextuellen Funktionen der Sememe miteinander vergleichen. Wählt man den ersten Weg, stößt man auf Schwierigkeiten, die kaum zu überwinden sind. Das alleinstehende Wort hat oft mehrere Bedeutungen, die sich nur in Kontexten voneinander absondern. Wenn man also eine seiner Bedeutungen hervorheben will, denkt man ungewollt an einen Kontexttyp, in dem das Wort mit der bestimmten Bedeutung verwendet werden kann. Da hat man es aber schon eigentlich nicht mit einem alleinstehenden Wort zu tun. Hat aber das Wort nur eine Bedeutung, bereitet das Vergleichen des von dieser Bedeutung hervorgerufenen Wortsinnes mit dem Wortsinn eines anderen Wortes Schwierigkeiten, weil der außersprachliche »reine Wortsinn« den Sprachwissenschaftler oft in die Welt der Begriffe führt, wo nur ein Fachmann die spezifischen Verhältnisse beurteilen kann. Da aber kein Sprachwissenschaftler Fachkenntnisse auf allen Fachgebieten haben kann, und da diese Fachkenntnisse ohnehin nicht zur Beurteilung der Bedeutungsverhältnisse gehören, bleibt nur die Möglichkeit offen, die Funktionen der Sememe in Kontexten miteinander zu vergleichen. Nimmt man jedoch nur einen Kontext zu diesem Zweck, wird man von den bedeutungsbestimmenden inneren Kräften des Kontextes und der Situationen leicht irregeführt. In einem einzigen konkreten, lebendigen Kontext ist die Wechselwirkung der Sememe manchmal so stark, daß ein Wort ein anderes ersetzen kann, wenn es nur eine leise Anspielung auf den Wortsinn des anderen Wortes hat. Man kann ja fremdsprachige Texte ver-

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stehen, wenn in ihnen auch einige unbekannte Wörter vorkommen. Ist ein alleinstehendes Wort oder ein einziger Kontext nicht zu der Feststellung geeignet, welche Sememe synonym sind, muß ein sprachliches Gebilde gesucht werden, das die Funktionen der Sememe bewahrt, die Polysemie und den Einfluß der Sprachsituation aber ausschaltet. Wie es oben dargestellt wurde, sind die Kontexttypen, aus denen man einen Elementarkontext schaffen kann, gerade solche Sprachphänomene. Was von rein grammatischem Gesichtspunkt aus ein Satz ist, dem entspricht in semantischer Hinsicht eine Kommunikationseinheit. Ebenso entspricht dem Syntagma der Syntax in der Semantik ein Kontexttyp. Wie ein Syntagma die grammatischen Verhältnisse, die auch im Satz vorkommen, in einfacher Form darstellt, zeigt auch der Kontexttyp (bzw. sein Repräsentant) alle semantischen Funktionen eines Semems in einer einfacheren Form als sie in einer Kommunikationseinheit vorkommen. Wird dieses Semem im Kontexttyp mit einem anderen Semem vertauscht, d. h. absichtlich an die Stelle eines anderen gesetzt und bewahrt der Kontexttyp (bzw. sein Repräsentant) im Wesentlichen seine ursprüngliche Gesamtbedeutung, sind die zwei Sememe synonym. D a die Kontext typen die Bedeutungen der polysemen Sememe auseinanderhalten, versteht es sich von selbst, daß es sich bei polysemen Sememen nicht um die Sinnverwandtschaft der Sememe, sondern nur um die Sinnverwandtschaft ihrer entsprechenden Bedeutung (oder Bedeutungen) handelt. Wenn man das Problem der Synonymik eben nur berühren will, genügt vielleicht diese Definition. Will man aber die Systematisierung des Wortschatzes einer Sprache auf diese Definition aufbauen, muß man klären, was der Ausdruck »im Wesentlichen« in dieser Beziehung bedeutet. Da wir unter Sinnverwandtschaft eine Ähnlichkeit der Funktionen der Sememe verstehen, und da wir, um die Untersuchung zu erleichtern, drei Funktionen der Sememe unterschieden

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haben, scheint es zweckentsprechend zu sein, die Unterschiede, die zwischen Synonymen bestehen können, nach diesen Funktionen zu untersuchen. 1. Was die nominative Funktion betrifft, kann man zwei Typen der Synonyme unterscheiden. Den einen Typ bilden Synonyme, deren Wortsinn sich auf dasselbe »Ding« bezieht. (Unter »Ding« verstehen wir einen Gegenstand oder einen Sachverhalt, der im semantischen System von C. K. Ogden und I. A. Richards als referent bezeichnet wird, der also außerhalb des Gebiets der Sprache steht, aber den Wortsinn — thought oder reference — bestimmt.) Zu diesem Typ gehören Synonyme (bzw. synonyme Bedeutungen) wie z. B. Frühling ~ Lenz ~ Frühjahr; Lehranstalt ~ Unterrichtsanstalt; Erscheinung ~ Phänomen; fragen ~ sich erkundigen; erhalten ~ bekommen; doppelt ~ zweifach; gescheit klug usw. Den anderen Typ der Synonyme charakterisiert ein gewisser Unterschied in ihrer Darstellungskraft. Das will besagen, daß man Sememe noch als Synonyme betrachten kann, obwohl das eine Wort etwas genauer bestimmt, mehr über einen gewissen Gegenstand oder über einen gewissen Sachverhalt sagt als das andere. Wesentlich ist nur, daß der Kontexttyp, in dem sie substituiert werden können, seine Gesamtbedeutung nach der Vertauschung nicht oder nicht in einem Maße verändert, daß man den Eindruck bekommt, der Repräsentant des einen Kontexttyps bedeutet etwas anderes als der des anderen. Damit wollen wir darauf hinweisen, daß die Bedeutungsbeziehungen der Synonyme nicht von begrifflicher Seite her beurteilt werden können. Würde jemand z. B. die Frage stellen, ob Wörter, die Gattungsbegriffe bezeichnen, Synonyme von Wörtern sind, die einen diesem Oberbegriff untergeordneten Begriff bedeuten, könnten wir diese Frage nicht beantworten, denn die Synonymik hängt nicht von den begrifflichen Verhältnissen ab. Die Wörter Blume und Rose würden wir bestimmt nicht als Synonyme betrachten, weil es kaum einen Kontexttyp gibt, in dem die Wörter Blume und

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Rose so vertauscht werden können, daß die Bedeutung der Kontexte sich nicht verändert. Andererseits würde ich aber z. B. die Sememe Pferd und Mähre als Synonyme ansehen, obwohl das Wort Mähre nur eine »Gattung« der Pferde, nämlich ein schlechtes, altes Pferd bezeichnet. Da es aber Kontexte gibt, in denen man diese Wörter miteinander vertauschen kann, ohne die Bedeutung der Kontexte zu verändern, können sie als Synonyme betrachtet werden. Wenn nämlich die Bedeutung des Wortes Pferd mit pejorativen Attributen, die auch das Wort Mähre haben kann, näher bezeichnet wird, entsteht ein Kontexttyp, der die Synonymik ermöglicht; vgl. z. B.: »so ein schlechtes, altes Pferd hätt' ich mir nicht gekauft« ~ »so eine schlechte, alte Mähre hätt' ich mir nicht gekauft«. Die Frage des begrifflichen Verhältnisses kann man in vielen Fällen überhaupt nicht aufwerfen, weil auch Wörter (z. B. der große Teil der Form Wörter) Synonyme haben, die mit keinem Begriff in Verbindung stehen. Man kommt aber auch in anderen Fällen der sprachlichen Wirklichkeit viel näher, wenn man nicht die begrifflichen Verhältnisse vor Augen hält, sondern die Bedeutung der Sememe danach untersucht, wie genau sie etwas bezeichnen, und ob es Kontexttypen gibt, in denen die ungenaue Bezeichnung eines Semems im Vergleich zu der genaueren Bezeichnung eines anderen Semems durch das kontextuelle Zusammenwirken der Sememe ausgeglichen wird. Will man z. B. die Frage entscheiden, ob die Sememe gut und brav in einer ihrer Bedeutungen Synonyme sind, muß man die Bedeutung der Kontexte wie z. B. »eine gute Hausfrau« ~ »eine brave Hausfrau« »ein gutes Kind« ~ »ein braves Kind« usw. miteinander vergleichen. Wird die Bedeutung des Adjektivs gut von der Bedeutung der Substantive Hausfrau, Kind usw. so verengert, daß man an dieselbe Eigenschaft denkt, die auch das Adjektiv brav bezeichnet, sind die Adjektive synonym. Wir haben die Eigenschaft der Sememe, wie genau sie etwas bezeichnen, als Darstellungskraft bezeichnet. Wollen

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wir nun die Synonyme nach ihrer Darstellungskraft ordnen, bekommen wir einen tatsächlich sprachlichen Gesichtspunkt zu ihrer Systematisierung. Es ist wichtig hervorzuheben, daß hier eine Eigenschaft der Sememe gefunden wurde, die ihren sprachlichen Charakter in den Vordergrund stellt. Bisher wurden nämlich immer nur Synonymreihen zusammengestellt, die ausschließlich die Wirklichkeitsbezogenheit der Synonyme widerspiegeln, die aber nicht von den sprachlichen Verhältnissen bestimmt sind. Eine Wortreihe wiez. B. Quelle, Rinnsal, Bächlein, Bach, Flüßchen, Fluß, Strom gehört eigentlich in ein Lehrbuch der Geographie, in sprachlicher Hinsicht kann sie nur als eine koordinierte Wortreihe in Betracht gezogen werden, vom Gesichtspunkte der Synonymik aus hat sie eigentlich keinen Wert, denn man kann ja nicht behaupten, daß die Wörter Quelle und Fluß, Rinnsal und Strom Synonyme sind. Was die Reihenfolge solcher »Synonymreihen« betrifft, muß betont werden, daß die Qualität (Größe, Stärke, Gewicht usw.) der Dinge in sprachlicher Hinsicht keine Rolle spielt. Man muß vielmehr die sprachliche Qualität der Sememe erwägen, die unter anderen in ihrer Darstellungsk r a f t oder in ihrem Informationswert zum Ausdruck kommt. Dies läßt sich leicht ermessen, man muß nur beobachten, wie die Sememe die Gesamtbedeutung der Kontexte eines Kontexttyps mit ihrer eigenen nominativen Funktion bereichern. 2. Die Untersuchung der grammatischen Funktion der Sememe wirft die Frage auf, was vom Gesichtspunkt der Synonymik aus als Semem betrachtet werden kann. Die Frage ist folgendermaßen zu beantworten: die Wörter und die phraseologischen Einheiten mit ihren grammatischen Eigenschaften. D a aber die grammatischen Eigenschaften der Sememe sich teilweise an anderen Wörtern des Kontexts bemerkbar machen, muß man bei der Beurteilung der synonymischen Verhältnisse auch diese Wörter in Betracht ziehen. Die Sememe begegnen und treffen wären an sich keine Synonyme, weil man sie in Kontexttypen aus grammatischen Gründen nicht miteinander vertauschen kann. Würde man

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ein Substantiv nicht als Einheit mit der Bezeichnung seines grammatischen Geschlechtes bei der Feststellung der Sinnverwandtschaft auffassen, könnten Substantive mit verschiedenem Geschlecht aus denselben Gründen oft nicht als Synonyme betrachtet werden, usw. Man sollte also nicht fragen, ob die Verben begegnen und treffen, die Substantive Kasten und Kiste Synonyme sind, man kann die Frage richtig nur folgendermaßen stellen: Sind die Sememe jemandem begegnen und jemanden treffen und die Sememe der Kasten und die Kiste für Synonyme zu halten. Eine solche Auffassung der Synonymik hängt eng damit zusammen, was oben von der grammatischen Funktion der Sememe gesagt wurde. I m Sprechakt erscheinen die Sememe immer mit ihren grammatischen Gebundenheiten, sie hängen mit der nominativen Funktion der Sememe so eng zusammen, daß die eine Funktion o f t nicht von der anderen zu trennen ist. Die Anwendung syntaktischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Sinnverwandtschaft ermöglicht es, zu verschiedenen Wortarten gehörende Wörter sowie ein Wort und eine phraseologische Einheit als Synonyme zu betrachten. Da die Sememe nach ihren Funktionen beurteilt werden, muß man nur darauf achten, daß sie als Satzglieder die gleiche Funktion haben. Diese Beurteilungsweise der Synonymik spielt besonders in jenen Sprachen eine große Rolle in denen Wörter von verschiedener Wortart dieselbe syntaktische Funktion haben können. Es gibt aber auch im Deutschen viele Beispiele, die beweisen, daß Wörter von verschiedener Wortart und ein Wort mit einer phraseologischen Einheit synonym sein können; z. B. ein Haufen ~ viel(e); gelten ~ gültig sein; seither ~ seit dieser Zeit; nahe -f Dat. ~ in der Nähe -f- Gen. usw. 3. Was die stilistische Funktion der Wörter im Hinblick auf die Sinnverwandtschaft betrifft, müssen zwei Fragen geklärt werden. Die eine lautet: Kann zwischen Wörtern oder phraseologischen Einheiten, die hinsichtlich ihrer nominativen und grammatischen Funktion als Synonyme betrach-

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tet werden können, ein stilistischer Unterschied bestehen, der Hindernis der Sinnverwandtschaft sein kann? U m diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst darauf hinweisen, daß man bei der Feststellung der Sinnverwandtschaft von stilistisch indifferenten Kontexten (Kontexttypen) ausgehen muß. Wir haben gesehen, daß auch die Wortumgebung den stilistischen Wert eines Wortes oder einer phraseologischen Einheit beeinflussen kann. Man muß also die Kontexte, die man bei synonymischen Untersuchungen verwendet, so umformen, daß sie aus Wörtern bestehen, die in stilistischer Hinsicht keinen Einfluß auf den stilistischen Wert jener Wörter ausüben, die in diesem Elementarkontext miteinander vertauscht werden sollen. Wenn wir nun ein Wort oder eine Wendung in einem solchen Elementarkontext mit einem anderen Semem, das eine spezifisch stilistische Färbung hat, vertauschen, wird die stilistische Beschaffenheit des Kontexts sich nicht wesentlich verändern, weil das neue Semem zu solchen Wörtern in Verbindung gerät, die stilistisch indifferent oder fast indifferent sind. D a r a u s ergibt sich schon die Antwort auf unsere erste Frage: Wenn ein Wort stilistisch indifferent ist, kann es Synonyme aus jeder stilistischen Schicht haben. Wenn es aber entweder eine starke positive oder eine starke negative stilistische Färbung hat, kann es — selbstverständlich abgesehen von den Wörtern, mit denen es zusammen in dieselbe stilistische Schicht gehört — nur ein Synonym von einem Semem sein, das in stilistischer Hinsicht nicht besonders gefärbt ist. U m dies an einem Beispiel klarzumachen, kann man erwähnen, daß das gewählte Wort die Persönlichkeit mit den Wörtern der Patron, der Kerl, die nur in der Umgangssprache und abschätzig gebraucht werden, nicht synonym ist. D a aber alle drei erwähnten Wörter mit dem stilistisch indifferenten Wort Mensch synonym sind, gehören sie im Sprachsystem letzten Endes doch zusammen. Eine zweite Frage bezieht sich auf die Dialektwörter. I n dieser Beziehung muß zuerst betont werden, daß nur jene

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Wörter als Synonyme betrachtet werden können, die von derselben sprachlichen Gemeinschaft verwendet werden. Ein Dialektwort, das z. B. nur in der rheinfränkischen Mundart lebt, und das ein Österreicher überhaupt nicht versteht, und ein Dialektwort aus der bayrisch-österreichischen Mundart, das im Rheinland gar nicht bekannt ist, sind keine Synonyme, mögen sie auch dieselbe nominative und dieselbe grammatische Funktion haben. Das hängt damit zusammen, daß es keine Kontexttypen gibt, in denen die beiden Wörter miteinander vertauscht werden können. Den einen Kontext würden ja die Rheinländer, den anderen die Österreicher nicht verstehen oder wenigstens nicht als eine übliche, gebräuchliche Äußerung betrachten. Es muß jedoch bemerkt werden, daß es heutzutage zumindest in Europa kaum eine Sprache gibt, die nicht eine Form hätte — wollen wir sie Hochsprache, Literatursprache oder Gemeinsprache nennen —, die nicht für alle Mitglieder der betreffenden Sprachgemeinschaft verständlich wäre. Was den Grundbestand des Wortschatzes betrifft, folgt daraus, daß jeder oder fast jeder, der eine Mundart spricht, Kontexte bilden kann, in denen den Dialektwortern Wörter der Hochsprache entsprechen. Das bedeutet aber, daß es eine Schicht der Sprache gibt, die auch in der Beziehung der Synonymik zwischen zwei verschiedenen Dialekten die Rolle des Vermittlers spielt. Dialektwörter, die hinsichtlich ihrer nominativen und grammatischen Funktion einander entsprechen, können zwar untereinander nicht für Synonyme gehalten werden, da sie aber vollwertige Synonyme von Wörtern der Hochsprache sind oder sein können, gehören sie — zwar mittelbar — im semantischen System der Sprache dennoch zusammen. *

Die Tatsache, daß Sememe in Kontexttypen substituierbar sind, bringt zwischen ihnen ein sprachliches Verhältnis zustande, das ihre — oft nur partielle — Ü b e r e i n s t i m -

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m u n g zum Vorschein bringt. Die Verschiedenheit der Darstellungskraft, sowie der grammatischen und stilistischen Funktion der Synonyme bedeutet andererseits einen U n t e r s c h i e d zwischen sinnverwandten Sememen. Diese Übereinstimmungen und diese Unterschiede schaffen zusammen eine zuverlässige und der Natur der Sprache völlig entsprechende Grundlage für die Systematisierung des Wortschatzes. Man kann also in einem Wörterbuch, in dem sowohl die Zusammengehörigkeit der sinnverwandten Sememe wie auch ihre Unterscheidungsmerkmale gezeigt werden, das lexikologische System einer Sprache darstellen. Es ist aber eine der wichtigsten Fragen der wissenschaftlichen Lexikographie, wie das geschehen soll, wie die Synonyme zu gruppieren sind, um ein möglichst einheitliches und leicht zugängliches Bild des lexikologischen Systems der Sprache zu geben. Bei dem Aufbau des wissenschaftlichen Wörterbuches gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: die alphabetische Anordnung und die Anordnung nach Sachgruppen. Die alphabetische Anordnung ist a n u n d f ü r s i c h eine unwissenschaftliche Methode, weil die Reihenfolge der Stichwörter nicht von einem organischen Prinzip geregelt wird. Das Alphabet hängt nicht mit der Bedeutung der Wörter zusammen, es schafft nur eine äußerliche Ordnung und hat zur Folge, daß im Wörterbuch Wörter nebeneinander stehen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Es wäre also wünschenswert, ein Prinzip der Anordnung zu finden, das dem semantischen Wesen der Sememe besser entspricht, als das herkömmliche Alphabet. Es gibt Sprachwissenschaftler, die der Meinung sind, die Anordnung des wissenschaftlichen Wörterbuches nach Sachgruppen sei ein solches Prinzip. 1 Die Versuche aber, die z. B. P. M. Roget (Thesaurus of English Words and Phrases), J.—B.—P. Boissiere (Dictionnaire 1 Diese Ansicht vertreten u. a. Söerba, Onbrf oßmefl TeopHH jieKCHKorpaijwH. H3BCCTHH AH CCCP. J\°. 3. Ot«. JiHtepaTypu H H3UKa. (1940); K. Baldinger, Die Gestaltung des wissenschaftlichen Wörterbuches, Romanistisches Jahrbuch 5, (1952) S. 65 — 94.

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analogique de la langue française), F. Dornseiff (Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen), J . Casares (Diccionario ideológico de la lengua española) und R. Hallig—W. von Wartburg (Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie) in dieser Beziehung unternommen haben, obwohl sie von einer großen Geistesschärfe der Verfasser zeugen, können den Forscher, der nicht Begriffe, sondern Sememe, d. h. Wörter und phraseologische Einheiten nach ihren sprachlichen Funktionen ordnen will, nicht befriedigen. St. Ulimann hat vollkommen recht, wenn er schreibt: »no major gain for synchronistic semantics can be expected from these schemes sinces, by the very nature of things, they are based on extralinguistic, apriori considerations and do not spontaneously emerge from the semantic material itself«.2 Diese Behauptung kann noch damit ergänzt werden, daß weder das Begriffssystem noch die Anordnung nach Sachgruppen dem Lexikographen die gewünschte Möglichkeit gibt, die verschiedenen Bedeutungen der polysemen Wörter in einem Wortartikel darzustellen, denn die verschiedenen Bedeutungen gehören zu verschiedenen und oft voneinander weit entfernten Sachgruppen. Wird aber die Polysemie des Semems im Wortartikel bewahrt, geht es auf Kosten des logischen Aufbaus. Will man also das lexikologische System einer Sprache in einem Wörterbuch darstellen, muß man zwischen zwei Übeln das kleinere wählen und dabei die Form finden, wie man bei der Anwendung der einen Methode die Vorteile der anderen wenigstens teilweise geltend machen kann. Wenn dem so ist, dann muß man schon unbedingt die alphabetische Anordnung bevorzugen. Abgesehen davon, daß ein Wörterbuch mit alpha-

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Descriptive Semantics and Linguistic Typology. Word 9. (1953) S. 226 — 27. — Eine ähnliche Meinung äußern: Y . Malkiel, A Typological Classification of Dictionaries on the Basis of Distinctive Features. In: Problems in Lexicography, Ed. by J. W. Householder and S. Saporta (Bloomington, 1962), S. 18, und G. Wahrig, Neue Wege in der Wörterbucharbeit, 2. Aufl. (Hamburg, 1968) S. 1 1 - 4 6 .

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betischer Anordnung immer viel leichter zu gebrauchen ist als ein Wörterbuch, in dem die Reihenfolge der Wörter von der Beurteilung des Verfassers abhängt, darf man nicht außer a c h t lassen, daß die semantische Zusammengehörigkeit der sinnverwandten Sememe nicht nur mit ihrer Reihenfolge, d. h. nicht nur dadurch veranschaulicht werden kann, daß man sie nebeneinander aufzählt. Man kann ja die Stichwörter alphabetisch anordnen, die zum Stichwort gehörigen Synonyme mit der Angabe der Funktionsunterschiede und nach ihrer Darstellungskraft geordnet anführen und ein jedes Synonym, in dessen Wortartikel noch weitere Synonyme zu finden sind, mit einem Zeichen — z. B. mit einem Pfeil (—>-) — versehen. Dieses Zeichen weist darauf hin, daß die Reihe der Synonyme in einem Artikel eigentlich nicht aufhört. Wenn man nämlich den Hinweisen folgt, d. h. alle Wortartikel, dessen Stichwörter in dem betreffenden Artikel mit einem Pfeil bezeichnet sind, durchliest , hat man das ganze synonymische Teilsystem vor sich, das im Wörterbuch gesucht wird. Dieses Verfahren kann theoretisch folgendermaßen begründet werden. Bei der Systematisierung des Wortschatzes entstehen synonyme Wortgruppen, indem man in den Wortartikeln des Wörterbuches Sememe aufzählt, die miteinander in gewissen Kontexttypen, ohne die Gesamtbedeutung der Kontexte zu verändern, austauschbar sind. Diese Formulierung ist aber nur im großen und ganzen richtig, denn wegen der Verschiedenheit der Darstellungskraft der Sememe entsteht in den Kontexten immer eine kleine Verschiebung der Gesamtbedeutung. Diese Bedeutungsverschiebung kann hinsichtlich der Darstellungskraft der Wörter entweder positiv oder negativ sein, d. h. die Wörter in den durch Wortaustausch entstandenen Kontexten können die Gegenstände und die Sachverhalte mehr oder weniger genau bezeichnen. Um den Zusammenhang zwischen synonymen Wortgruppen von verschiedener Darstellungskraft schildern zu können, müssen im Synonymwörterbuch sog. Grundstichwörter,

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Grundsynonyme enthalten sein. 3 Das sind die Wörter, die hinsichtlich ihre Darstellungskraft und ihrer stilistischen Funktion in der Mitte von mehreren synonymen Wortgruppen stehen und deshalb dazu geeignet sind, in ihrem Wortartikel Hinweise zu enthalten, die den Benutzer des Wörterbuches zu Stichwörtern führen, die wieder in einer oder in beider Richtung Hinweise geben und so weiter, bis man zu Stichwörtern gelangt, die den Benutzer des Wörterbuches nicht mehr weiterführen, sondern nur rückwärts auf ein Grundstichwort hinweisen. So entstehen im Synonymwörterbuch Teilsysteme der Sememe, die ebenso reich an Systemgliedern sind und den organischen Zusammenhang der sinnverwandten Sememe ebenso gut darstellen wie die Wörterbücher, die nach Sachgruppen geordnet sind. Außerdem hält diese Anordnung die Synonyme der polysemen Sememe zusammen, denn zu jedem Stichwort gehören so viele synonyme Wortgruppen, wie viele Bedeutungen das polyseme Semem hat. Man konnte die theoretische und praktische Richtigkeit der dargelegten Anordnungsmethode mit folgendem Beispiel veranschaulichen. Wer behauptet, daß in einem Wörterbuch nur dann eine innere wissenschaftliche Ordnung vorhanden ist, wenn alle sinnverwandten Wörter nebeneinander aufgezählt werden, gleicht einem, der behauptet, in einer Bibliothek herx-sche nur dann eine wirkliche Ordnung, wenn die Bücher mit ähnlichem Inhalt nebeneinander stehen. Dies kann aber nur bei einer kleinen Büchersammlung stimmen. Die Menge der Wörter und phraseologischen Einheiten einer Sprache ist aber nur mit der Zahl von Büchern zu vergleichen, die in einer Nationalbibliothek oder in einer Universitätsbibliothek aufbewahrt werden. Auf den Regalen solcher großen Bibliotheken werden die Bücher nicht oder nicht unbedingt nach ihrem Inhalt geordnet. Man kann sie 3

G. Kempcke, Probleme des Synonymwörterbuches, Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig (17. Jg. 1968), S. 229—33.

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nach ihrer Größe, nach der Zeitfolge ihres Erscheinens usw. auf den Regalen unterbringen, wesentlich ist nur, daß sie in einen Sachkatalog aufgenommen werden müssen. Wie die innere Ordnung einer Bibliothek nicht davon abhängt, wo die Bücher stehen, so ist es eigentlich auch bei der Anordnung eines Wörterbuches nebensächlich, ob alle Wörter, die zusammengehören, deren Zusammengehörigkeit auf eine andere Weise klar gezeigt wurde, nebeneinander aufgezählt werden. Wenn also auch die alphabetische Anordnung des wissenschaftlichen Wörterbuches an und für sich unwissenschaftlich ist, kann dennoch eine Methode angewandt werden, die ihre Nachteile völlig ausgleicht und diese Anordnung zu wissenschaftlichen Zwecken brauchbar macht. Zum Abschluß möchte ich noch zwei Einwände erwähnen, die gegen die dargelegte Methode der Systematisierung des Wortschatzes erhoben werden können. Man kann erstens vorbringen, daß diese Systematisierung eigentlich nur Teilsysteme aufweisen kann — obwohl diese manchmal viele Hunderte von Sememen in sich fassen —, und daß es Sememe gibt, die — da sie keine Synonyme haben — außerhalb des Systems bleiben. Demgegenüber muß man aber darauf hinweisen, daß diese Teilsysteme noch immer von viel größerem Umfange sind als die der nicht kontextuellen Betrachtungsweise. Geht man nämlich von den Bedeutungen aus, wie sie in Kontexten auftreten, findet man, daß der Sprecher in der Regel sehr viele Möglichkeiten hat, denselben Gedanken sprachlich auszudrücken. Neben den ganz genauen Bestimmungen der Gegenstände und Sachverhalte gibt es fast immer eine ganze Reihe von weniger genauen Bezeichnungen, die von der Wechselwirkung der kontextbildenden Sememe unterstützt dieselbe Bedeutung ergeben wie die genaue Bestimmung. Man muß jedoch zugeben, daß es trotz allem Sememe gibt, die außerhalb des Systems bleiben. Diese Tatsache ist aber ebenso bezeichnend f ü r das Sprachsystem, wie die grammatischen »Unregelmäßigkeiten«, wie die »Ausnahmen« der herkömmlichen Grammatik.

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Wird zweitens der Einwand gegen unseren Plan der Systematisierung des Wortschatzes erhoben, der in bezug auf die ungarischen Sprache die erste Probe schon bestanden hat, daß er nur ein System der Synonyme, nicht aber das des Wortschatzes vermittelt, so kann man darauf nur entgegnen, daß wir die Beschaffenheit der Sememe tatsächlich nur von einem, aber von dem in sprachlicher Hinsicht wichtigsten Gesichtspunkte aus untersucht haben. Man wird aber in der Zukunft durch die Anwendung anderer Gesichtspunkte bestimmt auch noch andere und hoffentlich gangbare Wege der Systematisierung des Wortschatzes finden.