Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte: Ein Beitrag zum Zusammenspiel von Menschenrechten, humanitärem Völkerrecht und dem Recht der Staatenverantwortlichkeit [1 ed.] 9783428503988, 9783428103980

Die Bedrohungssituation für Menschenrechte hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Stellte früher meist ein zu mächtig

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German Pages 494 Year 2001

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Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte: Ein Beitrag zum Zusammenspiel von Menschenrechten, humanitärem Völkerrecht und dem Recht der Staatenverantwortlichkeit [1 ed.]
 9783428503988, 9783428103980

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JÖRG KÜNZLI

Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte

Schriften zum Völkerrecht

Band 144

Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte Ein Beitrag zum Zusammenspiel von Menschenrechten, humanitärem Völkerrecht und dem Recht der Staatenverantwortlichkeit

Von Jörg Künzli

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Künzli, Jörg: Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte : ein Beitrag zum Zusammenspiel von Menschenrechten, humanitärem Völkerrecht und dem Recht der Staatenverantwortlichkeit I Jörg Künzli. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 144) Zugl.: Bem, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10398-X

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Selignow Ver1agsservice, Ber1in Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Gerrnany

© 2001 Duncker &

ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-10398-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Die Anregung, mich mit dem Thema der Geltung der Menschenrechte zu befassen, stammt von Prof. Walter Kälin. Er stand mir in den folgenden Jahren immer mit Ratschlägen zur Seite und für Diskussionen zur Verfügung. Er hat mit anderen Worten diese Arbeit massgeblich gefördert, wofür ich ihm an erster Stelle danke. Herrn Prof. Andreas Kley danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Ein Teil der Dissertation entstand während eines Studienaufenthaltes in Leiden/ Niederlande im Rahmen eines LL. M.-Programms. Zu Dank verpflichtet bin ich dabei insbesondere Rick Lawson, der meine Abschlussarbeit betreute und dem ich wesentliche Impulse für vorliegende Arbeit verdanke. Ferner sei den Herausgebern der "Schriften zum Völkerrecht" für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe gedankt. Schliesslich gebührt ein weiterer Dank jenen Personen, die mich mit Hinweisen inhaltlicher und formeller Art und mit sonstiger Unterstützung bedachten. Insbesondere Alberto Achermann hat dabei als mein ständiger Gesprächspartner auf vielfältige Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Die Arbeit wurde im September 1999 von der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bem als Dissertation angenommen. Literatur und Praxis sind im Wesentlichen bis Ende jenes Jahres berücksichtigt worden. Seither erschienene Publikationen und die einschlägige Praxis fanden aber noch teilweise in den Anmerkungen Aufnahme. Zuletzt noch ein Hinweis zur- für deutsche und Österreichische Leser und Leserinnen vielleicht ungewohnten - Schreibweise. In Übereinstimmung mit den schweizerischen Gepflogenheiten wurde auf "ß" verzichtet und stattdessen "ss" geschrieben. Bem, im Januar 2001

Jörg Künzli

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die aktuelle Bedrohungssituation der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Relativität menschenrechtlicher Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Fiktion einer andauernden und integralen Geltung vertraglicher Instrumente oder weitere Möglichkeiten unilateraler Differenzierungen menschenrechtlicher Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Menschenrechte und menschenrechtliche Verpflichtungen im Völkerrecht . . . . . . . . . . V. Zum Aufbau dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 24 25 27 28

Kapitell

Grundlagen: Die Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anwendbarkeit von Rechtsfiguren des allgemeinen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30 31 48 88

Kapite/2

Geltungsbereiche und Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kumulative Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht? ..... III. Vertragskonkurrenz zwischen Instrumenten des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte? .............. . . . . . .................. . . . . . .................... . ...... IV. Die Geltungsbereiche der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts .. . . . . V. Die Träger der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit: Geltungsbereiche und Adressaten der Verpflichtungen aus Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht .. . . . . . . . .... . ......... ... ................... . ... . .... ..

99 99 100 107 109 154 187

Kapite/3

Die Verpflichtungsarten und ihr Einfluss auf die Flexibilität menschenrechtlicher Verpflichtungen

189

I. Einleitung . ... . .......... . ...... . ... . ..... : ................... ............... . ....... . . 189 II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

8 III. IV. V. VI.

Inhaltsübersicht Unterlassungspflichten ........ . . . ...................... . . . ............................ Schutzpflichten ............... . . . . . ...................... . . . ................ . ......... Leistungspflichten ................ . ......................................... . ......... Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 215 274 294

Kapite/4

Die Flexibilisierung menschenrechtlicher Verpflichtungen durch unterschiedliche Schrankensysteme I. II. III. IV. V. VI.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schrankenlos formulierte Menschenrechte ............. . . . ................... . ....... Relativierung der Verpflichtungen mittels direkter Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relativierung der Verpflichtungen mittels indirekter Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aexibilisierung staatlicher Verpflichtungen durch das Zusammenspiel von sachlichem Geltungsbereich und Schrankenklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

296 296 298 300 317 324 360

Kapite/5

I. II. III. IV.

Die Flexibilisierung menschenrechtlicher Verpflichtungen während Ausnahmesituationen

362

Die Relativierung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Ausnahmetatbestände . . Spezitische Ausnahmetatbestände der Menschenrechtsverträge .. .. .. . ...... .... . . . . Ausnahmetatbestände des allgemeinen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Flexibilität menschenrechtlicher Verpflichtungen während Notsituationen .. . . . .

362 364 382 457

Fazit

Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte I. Die Stufe der Geltungsbereiche und Adressaten menschenrechtlicher Verpflichtungen .................................................................................... II. Die Stufe der einzelnen Verpflichtungsschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Stufe der spezifischen Verpflichtungen: Schranken- und Ausnahmeklauseln . . . . IV. Die Stufe der Ausnahmesituationen: Die Derogation von Menschenrechten . . . . . . . . .

459 461 462 464 465

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die aktuelle Bedrohungssituation der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Relativität menschenrechtlicher Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Fiktion einer andauernden und integralen Geltung vertraglicher Instrumente oder weitere Möglichkeiten unilateraler Differenzierungen menschenrechtlicher Verpflichtungen ..................... . . .. .................. . . : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Menschenrechte und menschenrechtliche Verpflichtungen im Völkerrecht . . . . . . . . . . V. Zum Aufbau dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 24 25 27 28

Kapitell Grundlagen: Die Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Historische Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestandesaufnahme vertraglicher Menschenrechtsinstrurilente........ . ...... aa) Universeller Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Regionaler Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . c) Verstärkter Schutz durch integrale Anwendung aller relevanten Menschenrechtsverträge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . aa) Möglichkeit der Berufung auf die günstigste Bestimmung . . .. . . . . . . . .. bb) Gegenseitige Beeinßussung der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humanitäres Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Genfer Konventionen von 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zusatzprotokolle von 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . III. Der Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Nachweis von ausservertraglich geltenden Menschenrechtsgarantien . . . . . . . . 2. Umfang der ausservertraglich geltenden Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lehre ................. .......... ........ ....... ................ ................ 3. Erga omnes Wrrkung der ausservertraglich geltenden Menschenrechte? . . . . . . . . . a) Das Konzept der Verpflichtungen erga omnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . b) Zur erga omnes Geltung ungeschriebener menschenrechtlicher Verpflichtungen ....... . .. . . . ... . ... . . . . . ....... . .. .. .............................. . ........ 4. Zwingende Rechtsnatur der ausservertraglich geltenden Menschenrechte? . . . . . . a) Vorbemerkung: Zum Konzept des ius cogens gernäss Art. 53 VRK . . . . . . . . . .

30 30 31 31 31 33 33 36

41 41 42 44 44 46

48

49 SO SO 61 64 64 65 67 67

10

Inhaltsverzeichnis

b) lus cogens und internationale Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . c) Ius cogens und völkerrechtliche Verpflichtungen, deren Verletzung eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Jus cogens und Verpflichtungen erga ornnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ius cogens und notstandsfeste menschenrechtliche Vertragsnormen . . . . . . . . . f) lus cogens und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zwingende Menschenrechte des allgemeinen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bestand und Abgrenzung der Rechtskategorien der ius cogens Verpflichtungen, der erga ornnes Verpflichtungen und der im ungeschriebenen Recht verankerten Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zur möglichen praktischen Relevanz ausservertraglich geltender Menschenrechtsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herausbildung neuer Menschenrechtsgarantien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausdehnung der Bindung vertraglicher Verpflichtungen über den Kreis der Unterzeichnerstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausdehnung der Geltungsbereiche vertraglich geltender Garantien . . . . . . . . . . d) Verstärkung des Verpflichtungsgrades vertraglich geltender Garantien . . . . . . . IV. Die Anwendbarkeit von Rechtsfiguren des allgemeinen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die zwei Schulen der Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung des allgemeinen Völkerrechts in menschenrechtliehen Verträgen und in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 3. Menschenrechtliche Spezialregeln in der VRK und im ILC-Entwurf zur Staaten· Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Menschenrechte und die Theorie der .,self-contained" Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 73 74 75 76 78

82 83 83 84 87 87 88 88 91 93 94 98

Kapite/2

Geltungsbereiche und Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kumulative Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht? . . . .. 1. Die Praxis der UNO und des IKRK ....... . ..... . .................... . .... . .. . . .. . 2. Doktrin und Terminologie ..... . ....... .. . . ................... . . . .......... . .. . . .. . III. Vertragskonkurrenz zwischen Instrumenten des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte? .. . . . ... .... . . . . . ..... .. . . ....... . .. .. . .. . .. . . ...... . ... . . .. . . .. . ... . IV. Die Geltungsbereiche der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts . . . . .. 1. Der persönliche Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Menschenrechte ... . ..................................................... . .. . . . b) Humanitäres Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der territoriale Geltungsbereich ...... . . . ....................... . .......... . .. . . . . . a) Die territoriale Geltung der Menschenrechtsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs auf das Stliatsgebiet? bb) Keine Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs ... ... .. . .......

99 99 100 101 105 107 109 109 109 109 113 113 113 114

Inhaltsverzeichnis cc} Menschenrechte als territoriales Regime? ... . . . .......... . .... . . . ....... b} Die territoriale Geltung des humanitären Völkerrechts ............. . . . .... . . . aa) Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs auf die Staatsgebiete der Parteien der bewaffneten Auseinandersetzung ................... . . . bb) Geltung des humanitären Völkerrechts in Gebieten ausserhalb des eigentlichen Kriegsgeschehens? ............ . ... ... ............. . . . ....... . 3. Der situationsbedingte Geltungsbereich ........ . ... . . . ................. . .. . ..... .. a) Menschenrechte ................................ . .. . ................... . ... . . .. b} Humanitäres Völkerrecht und internationale bewa(fuete Konflikte ... . .... . . . aa) Vertragsrechtliche Konzeption ...... . .. . ........ . ............... . ...... . (1} Zwischenstaatliche bewaffnete Auseinandersetzungen .. . ......... . (2) Befreiungskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gemischte Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Geltung in zeitlicher Hinsicht . . . .. .. . ............... . . . ....... . bb) Relativierung durch die aussecvertragliche Rechtsentwicklung .... .. .. . (1) Die aussecvertragliche Geltung des Art. 75 ZP I? ......... . ... . . . .. (2) In internationalen Konflikten anwendbare Normen des Rechts der internen Konflikte? . .. ........ . ..... ...... . ..... . .......... . .. . ..... . c} Humanitäres Völkerrecht und interne bewaffnete Konflikte ......... . .. . .... . aa} Vertragsrechtliche Konzeption ............. . ................. .. . ... .... . bb) Relativierung durch die aussecvertragliche Rechtsentwicklung . .. .. ... . (1} Aussecvertragliche Geltung der grundlegenden Bestimmungen des ZPII ........ . ..... . ....... . ........... . . . ..... ·. .. ... . . . ... . . . ... . .... (2} Aussecvertragliche Geltung der grundlegenden Bestimmungen des ZP II in.niederschwelligen internen Konflikten? . . .... .. .. ...... . . . (3} In internen Konflikten anwendbare Normen des Rechts der internationalen Konflikte? . . .. .......... .. . . . . ........ . ........... . ........ . d} Anwendungsbereiche des humanitären Völkerrechts ausseehalb bewaffneter Konflikte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) De lege lata .......... . ....... . ........... . . .... . ............. ....... . . ... bb) De lege ferenda .. . ... . .... .... . ... . ........... .. .. .. . ......... . . . .. . .... . V. Die Träger der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine zweite Lücke im System des völkerrechtlichen Individualschutzes? . .. .... . 2. Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a} Allgemeines ............. . . .. ..................... . . . ................... .. .... . b) Zurechenbares staatliches Verhalten ........ . .... . . . .......... . .... . .... . .... . aa) Die Zurechenbarkeitsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Organe und de facto Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Private . . . . .. . . ... . . . ....... . ..... . . . . . ........ . .......... . . . .. . ......... . dd) Aufständische ... . .. . .. . ... .. .. . .... . .... . . .. . . ........... .. .. . ......... . c) Zurechenbarkeitsregeln und Menschenrechte .. . . . . . .... . .. .. ..... .. . .. . . .. . . . 3. Nationale Befreiungsbewegungen .................. . . . ................. . .... . .. . . . a) Die Rechtsstellung nationaler Befreiungsbewegungen im Völkerrecht .... . . . b) Verpflichtungen aus Menschenrechten? ........ . ... . .... . . .. ....... . ....... . .. c) Verpflichtungen aus humanitärem Völkerrecht? ............. . ................ 4. Stabile de facto Regimes .......... . ..... . . .. . . . .. . . . ....... . . . .. .. ... . ....... . .... 5. Aufständische in internen bewaffneten Auseinanderse~ngen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 122 126 126 127 130 130 131 131 131 131 133 136 137 137 139 141 141 144 144 146 147 150 150 152 154 154 156 156 156 156 157 161 163 165 167 167 168 168 169 172

12

Inhaltsverzeichnis

a) Allgemeines .................................... . .. . .................... .... ... b) Verpflichtungen aus Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verpflichtungen aus humanitärem Völkenecht . .......... .. ... . . ...... . .. .. . . aa) Der Wortlaut der Genfer-Konventionen und die Position des IKRK und internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Doktrin ......... . . . ....................... . ...................... . ..... . . cc) Mögliche Modelle zur Begründung einer direkten Verpflichtung Aufständischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit: Geltungsbereiche und Adressaten der Verpflichtungen aus Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht . . ... . ........................................ . . ... . . .. .

172 172 174 174 176 177 185 187

Kapite/3

Die Verpflichtungsarten und ihr Einfluss auf die Flexibilität menschenrechtlicher Verpflichtungen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . li. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die antagonistische Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die integrative Auffassung .. . .................... . . . . . . . .. . .................... . . . a) Die Überwindung der Spaltung auf formeller Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Humanitäres Völkerrecht . .. . ..... . ... . .. . . ... . . ..... .. .......... . .... . . . b) Die Überwindung der Spaltung durch die Praxis der Überwachungsorgane der Sozialpakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Überwindung der Spaltung durch die Praxis der Überwachungsorgane des Pakts li, der EMRK und der AMRK . . .... . . . . . . . ...... . .......... . ... .. . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der aktuelle Stand der Diskussion: Die Trias der Verpflichtungsschichten .... . .. III. Unterlassungspflichten . . . . . .... . . . ....... . ............ . ... . ................. . . . .... ... 1. Vorbemerkung ..... . . . . . . . .. .. . . . ... ...... . ...... ................. .. . ......... . . .. . 2. Unmittelbare und kontextunabhängige Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatliche Schutzpflichten des klassischen Vdlkerrechts . ................. . ...... . 2. Ausgangspunkt: Die Bedrohung menschenrechdich geschützter Rechtspositionen durch Dritte . . . . ....... . . . . . . . . . .. . . . .. .. . . . ............ . . . .. .... . . . ........ . .... . . . a) Privatpersonen und andere privatrechtliche Vereinigungen .. . ........ . .... . . . b) Aufständische ........... . . . .... .. .. ...... . . . . . .... . . . .... . . . . . . . . .. . . . . ..... . . c) Drittstaaten .... . .. ... .. . . . . . ................ . . . ...... . ........... . ..... . ...... . d) Internationale Organisationen ........... . .... .. ..... . ........................ . 3. Die völkenechdiche Ausgangslage ..................... . ...................... . . . a) Keine direkte völkenechtliche Verpflichtung von Nicht-Normadressaten . . . . b) Die Zurechenbarkeit des Verhaltens von Nicht-Normadressaten im Falle einer Kompetenzübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Korrektiv: Die Pflicht zur Gewährleistung von Menschenrechten .... . . .

189 189 190 190 191 192 192 193 199 201 209 210 213 213 215 215 215 217 218 219 219 221 222 222 225 227

Inhaltsveneichnis aa) Die explizite Verankerung von Schutzpflichten in generellen Verpflichtungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verankerung von Schutzpflichten in spezifischen Garantien .. . . . . . cc) Die Ausgestaltungen von Schutzverpflichtungen .. . ............... . .... (1) Allgemeines ... . ................ . .............................. . .. ... (2) Präventive Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kurative Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unmittelbar und progressiv zu erfüllende Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Voraussetzungen unmittelbarer staatlicher Schutzpflichten ................ . ... .. . a) Das Ausgangsparadox: Umfassender Schutz bedingt den allmächtigen und allwissenden Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Massstab der "due diligence" .................... . ................ . .... . . c) Wissen ................ . . . . . .................. .. ........................ . ...... aa) Grundsatz: Keine Pflicht zur Überwachung privater Verhältnisse zwecks Prävention von Eingriffen Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausnahmen: Untersuchungspflicht bei bestehendem staatlichen Gewahrsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kurative Schutzpflichten .. . .... ... ...... . . .. . .. .... .. ... . . . ............. d) Möglichkeit zur Einflussnahme auf den Handlungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestehende staatliche Kontrolle Uber den Handlungsablauf . . . . . . . . . . . . bb) Geplante Aufgabe der Kontrolle Uber den Handlungsablauf .. . .... .. . .. cc) Keine gegenwärtige Kontrolle Uber den Handlungsablauf .. . ...... . . . .. e) Relevanz der gefährdeten resp. verletzten Garantie? ................ . ...... . . . aa) Bei Bestehen staatlichen Gewahrsams ... ....... . .. ... . . . ... . . ..... . .... bb) Bei geplanter Aufgabe des staatlichen Gewahrsams .. .. .. .. ......... . .. cc) Bei Fehlen eines staatlichen Gewahrsams .. . . . .................. . .... . .. dd) Bei kurativen Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Relevanz persönlicher Eigenschaften des Opfers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sonderfall: Das Recht auf Sicherheit als explizite Kodifizierung unmittelbarer Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit .. . ....... .. . .. . . ....... . .. ... . . ............... . .... . ... . . . ................. . . . V. Leistungspflichten . ... . ....... . . .. .................. .. . .. . . . ...... . ....... . ....... . . . . 1. Allgemeines ... . ........ . . . . . .................. . . . . .. . . ........... . ........... . . . . . 2. Grundsatz: Progressiv zu erfUllende Leistungsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausnahme: Unmittelbar zu erfUllende Leistungsverpflichtungen ............ . .... a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Institutsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Infrastrukturgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) MinimalansprUche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Direkte AnsprUche auf staatliche Leistungen in besonderen Rechtsverhältnissen mit umfassender Garantenstellung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Humanitäres Völkerrecht ... .. . . .... . . .... . .. ........ . .. . . ... . . . . . . .. ... . f) Anspruch auf Beibehaltung des Verwirklichungsstandes der materiellen Garantien? ....... . .... . ... . . . . . .................... . ...... . ..... . ........ . . . ...... g) Untersuchungspflichten zur Abklärung einer Verletzung von Unterlassungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 229 231 232 232 233 234 237 239 239 240 242 243 245 248 249 249 249 250 252 252 253 267 268 268 270 272 274 274 275 279 279 280 280 283 287 288 289 291 293

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4. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Kapite/4

Die Flexibilisierung menschenrechtlicher Verpflichtungen durch unterschiedliche Schrankensysteme I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schrankenlos formulierte Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schrankenlos formulierte Menschenrechte mit offen umschriebenem sachlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestandesaufnahme ... . . . . . ................... . ... . .................... . ... .. . b) Bekräftigung des absoluten Charakters einer Garantie am Beispiel des Verbotes der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung resp. Strafe ......... . ........ . . . ......... . .. . ...... . . . ... . .. . ................. . .... . . c) Kontextbedingtheit des Umfangs der Verpflichtungen aus dem Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung resp. Strafe? . . aa) Relativ geltende Anwendungsschwelle des sachlichen Geltungsbereichs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . bb) Die Anerkennung implizit geltender Schranken? ... . ........... .. . .... . d) Fazit .................... . .............. . ............................... . .. . . . .. 2. Schrankenlos formulierte Menschenrechte mit eng umschriebenem Geltungsbereich .. . . . ....... . .. . . . . . .... . . . ..................... . . . .......... . ...... . .. . .... ... a) Bestandesaufnahme ...... . . . ... . ... . . . . ... . .... . . . .. . .... ....... . . .. . .... . . . .. b) Absolute Geltung der minimalen Verfahrensrechte .. . ... . ....... . ... . . .. .... . c) Relativierung der Geltung der übrigen Verfahrensgarantien? ...... . ....... . . . d) Fazit .. ............. . .... . . . . . . . ............ . . . .. . . . . . . . . . ............... . . . .. .. IV. Relativierung der Verpflichtungen mittels direkter Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Offen umschriebener sachlicher Geltungsbereich und Ausnahmebestimmungen . a) Bestandesaufnahme . .... . .. . ...... ... .. . . . ........... . . . .. ...... . .. .. . .. . . . ... b) Das Zusammenspiel von Schutzbereich und Ausnahmeklauseln .... . . . .. . ... c) Fazit ........... . ......... . ........... . ....... . . . .... . . . ............... . . . .. . .. . 2. Offen umschriebener sachlicher Geltungsbereich und Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestandesaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe . . . . ... . ... :. . . . . . . . . . . . . . . . . c) Insbesondere das Verbot des willkürlichen Eingriffs .... . . .. ... ... .. ... . . ... . d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Relativierung der Verpflichtungen mittels indirekter Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Indirekte Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offen umschriebener sachlicher Geltungsbereich und eng formulierte Eingriffsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestandesaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schranken- oder Ausnahmebestimrnung? . ... . .. . . . . . .... . ...... .. ....... . .... c) Der Begriff der absoluten Notwendigkeit .. .. .. .. ... . ... ... . . ....... .. . .... . ..

296 296 298 300 300 300

301 303 305 310 314 315 315 315 316 317 317 317 317 319 320 320 320 321 322 323 324 324 325 325 327 329

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d) Die erlaubten Eingriffszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 e) Fazit ........................... . ........ . ...... . . . . . .......... . .... . .. . . . .. . . . . 332 3. Offen umschriebener sachlicher Geltungsbereich und materiell determinierter Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 a) Bestandesaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 b) Beschränkung des Rechts oder Beschränkung seiner Ausübung? .. . .... .. ... 335 c) Die Feststellung eines Eingriffs: Der Umfang des sachlichen Geltungsbereichs ................... . . . ..................... . .. . ................. . . .. ...... 337 d) Der Vorbehalt des Gesetzes . . .................. . ... . ................ . . . .... . . . 337 aa) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 bb) Anforderungen an das Gesetz ................ . ............... . ......... . 338 e) Die erlaubten Eingriffszwecke ................ . . . .................. . .... . .... . 341 f) Die Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 g) Materiell determinierte Gesetzesvorbehalte und positive Verpflichtungen .. . 347 aa) Die generellen Schrankenklauseln des Pakts I, der ESC und des Zusatzprotokolls zur AMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 bb) Positive Verpflichtungen aus Freiheitsrechten der EMRK und der ,,fair balance" Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 h) Inhärente Schranken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 i) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 4. Offen umschriebener Geltungsbereich und einfache Schrankenvorbehalte . . . . . . . 353 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 b) Bestimmung des materiellen Geltungsbereichs durch den nationalen Gesetz· geber: Die Beschränkung einer Garantie mittels sogenannter clawback-Klauseln ... . . . ................. . .. . ......... . ...... ... . . ....... ............. . ....... 354 aa) Bestandesaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 bb) Verstärkung des Schutzes durch die Praxis menschenrechtlicher Organe? ............ . . . . . . . ...................... . . . ........ . ....... . ...... . 355 c) Materiell determinierter Vorbehalt ohne Gesetzeserfordernis .......... . ... ; . 359 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 VI. Die Flexibilisierung staatlicher Verpflichtungen durch das Zusammenspiel von sachlichem Geltungsbereich und Schrankenklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Kapite/5 Die Flexibilisierung menschenrechtlicher Verpflichtungen während Ausnahmesituationen I. Die Relativierung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Ausnahmetatbestände . . II. Spezifische Ausnahmetatbestände der Menschenrechtsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragliche Derogationsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Vorhandensein einer die Nation bedrohenden Notstandssituation ..... . . c) Das Prinzip der Verhältnismässigkeit . . . ..... . ...... . .. . .. . .... . .... . ....... . . d) Das Prinzip der Vereinbarkeil mit anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen . . ..... . . . . . ...... . . ... . . . ..... . . .. . ... .... . ............ . ......... . .... . .. . .

362 362 364 364 364 364 368 370

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e) Das Prinzip der Notstandsfestigkeit gewisser Garantien ............ .. . . .... .. f) Das Prinzip des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Fazit ................... . . . . . ....... . .............. . . . ...... . .... . . . ..... . ...... 2. Vertragliche private Missbrauchsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtsnatur des Missbrauchsverbots: Ein Ausnahmetatbestand in persönlicher Hinsicht ........ . . . ....................... . .. . ................ . ..... ... . b) Der Kreis der ausgeschlossenen Rechte ......... . . . ................... . ...... c) Das Verhältnis zur Derogation in Notstandssituationen ........... . . . ........ III. Ausnahmetatbestände des allgemeinen Völkerrechts . .. ............. . .. . ... .. . . ... . .. 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenrechte und reziproke Abweichungsgründe .. . ..•....................... a) Der objektive Charakter der Normen des völkerrechtlichen Individualschutzes ....................... . . . ................... . . . ................... . ..... . ... aa) Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Humanitäres Völkerrecht ...................................... . .... . . .. . b) Reziproke Beendigungsgründe der VRK ..... . ... . ................. . .... . . .. . c) Reziproke Unrechtsausschliessungsgründe im Recht der Staatenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Voraussetzungen zulässiger Gegenmassnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gegenmassnahmen in Form einer Verletzung menschenrechtlicher Garantien der Staatsangehörigen des sanktionierten Staates . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gegenmassnahmen in Form von Sanktionen . . . ................. . ....... d) Schlussfolgerungen ....... . . ....... . .......... .. . . . . . ..... . ........... . ....... 3. Menschenrechte und unabhängige Beendigungsgründe der VRK .... . ...... . .... a) Nachträgliche Unmöglichkeit der Erfüllung (Art. 61 VRK) .......... .. .. .... aa) Anwendungsvoraussetzungen ............. . . . ................ . .... . ..... bb) Eignung im Bereich der Menschenrechte? .. . . . ................. . . . ..... b) Grundlegende Änderung der Umstände (Art.62 VRK) ............... . ... .. .. aa) Anwendungsvoraussetzungen . .......... . . . . . ... . . . . . ........... . ...... . bb) Eignung im Bereich der Menschenrechte? .... .. ................. .. ..... c) Schlussfolgerungen ............ ............. .. . ............. .......... .. ...... 4. Menschenrechte und unabhängige UnrechtsausschliessungsgrUnde des ILC-Entwurfs ......................... ... ............... . .................................. a) Das Verhältnis zwischen dem völkerrechtlichen Vertragsrecht und dem Recht der Staatenverantwortlichkeit ................... . . . . . .............. . . .. ..... . . aa) Allgemeines ........ ... ................. . ...... .. .................. . ..... bb) Insbesondere das Verhältnis zwischen VertragsbeendigungsgrUnden und UnrechtsausschliessungsgrUnden .. . .... . ...... . ...... .. .... . . . .......... b) Höhere Gewalt und Zufall (Art. 31 ILC-Entwurf) . . .. .. .. .. .. . . .. . .. . . . . .. . . . aa) Anwendungsvoraussetzungen ...... .. .. ..... .. .. ............... . .. ... ... bb) Eignung im Bereich der Menschenrechte? ..................... . . .. . . ... c) Persönlicher Notstand (Art. 32 ILC-Entwurf) ..... ...... . .. .. . . . ........... . .. aa) Anwendungsvoraussetzungen .. ... ..... . .......... . ... . ........... . ... . . bb) Eignung im Bereich der Menschenrechte? ...... . ............ . . . .. . ..... d) Staatsnotstand (Art. 33 ILC-Entwurf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungsvoraussetzungen . ......... ..... . .... . ... . . . . .... . . . .. . .....

372 375 376 377 378 379 379 381 382 382 382 383 384 388 390 392 392 396 397 401 402 402 402 404 404 404 408 412 412 412 412 414 417 417 419 420 420 421 424 424

Inhaltsverzeichnis bb) Eignung im Bereich der Menschenrechte? .............................. e) Schlussfolgerungen ........ . ................. . ... . . . ................. . ...... . . 5. Die Anwendung der Ausnahmeregeln des allgemeinen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Ausnahmeregeln des allgemeinen Völkerrechts und gewohnheitsrechtlich geltende Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ausnahmeregeln des allgemeinen Völkerrechts und Garantien des humanitären Völkerrechts .... . . .. .................... . . . ........................ . . .. c) Die Anwendbarkeit der Ausnahmeregeln des allgemeinen Völkerrechtes in Verträgen ohne spezifische Derogationsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Übersicht ..................................... . ................. . ........ bb) Expliziter oder impliziter Ausschluss der Möglichkeit einer Derogation .................................................................... . . cc) Die Anwendbarkeit der Unrechtsausschliessungsgründe und unterschiedlich geartete Verpflichtungen der Vertragsstaaten ....... . . . ... . .. dd) Die Anwendbarkeit der Unrechtsausschliessungsgründe und unterschiedlich geartete Schrankenbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) · Schlussfolgerungen ......... . .. .. .. . ...... .. . .. ...... . ........ . ....... . .. d) Die Anwendbarkeit der Ausnahmeregeln des allgemeinen Völkerrechts in Verträgen mit spezifischer Derogationsklausel ........................ . . . .... aa) Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Meinungen der Doktrin ................. . .......................... . .... cc) Ein genereller Ausschluss der Anwendbarkeit der Unrechtsausschliessungsgründe infolge Identität der beiden Konzepte? .. .. ...... . . . . ... : .. dd) Die Anwendungsbedingungen der Derogationsklauseln und der Unrechtsausschliessungsgrilnde: Ein Vergleich . . . ...................... . .. (1) Die Definition der Notstandssituation .............................. (2) Das Prinzip der Verhältnismässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Prinzip der Vereinbarkeil mit anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen .. . ...... ... . . .. . . . . ............. . .. ...... ...... . . . . . . , . . (4) Die notstandsfesten Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . (5) Relevanz der Art der Verursachung der Notstandssituation? .. . . . .. ee) Schlussfolgerungen ............................ . ......................... IV. Die Flexibilität menschenrechtlicher Verpflichtungen während Notsituationen ......

17 427 428 428 429 430 431 431 434 437 438 440 441 441 441 444 447 448 449 449 450 452 456 457

Fazit

Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte I. Die Stufe der Geltungsbereiche und Adressaten menschenrechtlicher Verpflichtungen ...................................................... ... ........ : .................. II. Die Stufe der einzelnen Verpflichtungsschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Stufe der spezifischen Verpflichtungen: Schranken- und Ausnahmeklauseln . . . . IV. Die Stufe der Ausnahmesituationen: Die Derogation von Menschenrechten . . . . . . . . . 1. Die Berufung auf die spezifischen Derogationsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 KUnzJi

459

461 462 464 465 466

18

Inhaltsverzeichnis 2. Die Berufung auf die allgemeinen vertragsrechtliehen Auflösungs- oder Suspensionsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 3. Die Berufung auf die Unrechtsausschliessungsgründe des allgemeinen Völkerrechts ........ . ............. . . . . . ....... . . . ............ . . . ................ . ...... . . . 467

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

Abkürzungsverzeichnis ACMR AEMR AfMRK AJIL AMRK BBI BYIL CAT CCPR CEDW CESCR CRC Doc. DR ECOSOC EGMR EJIL EKMR EMRK EPIL ESC ETS EuGRZ FP GKI GKII

GKIII GKIV

z•

Arabische Charta der Menschenrechte vom 15. September 1994 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 Afrikanische Menschenrechtskonvention (Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker) vom 27. Juni 1981 American Journal of International Law Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969 Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft British Yearbook of International Law Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 1984 Covenant on Civil and Political Rights (siehe Pakt II) Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau Covenant on Economic, Socia1 and Cultural Rights (siehe Pakt I) Übereinkommen Uber die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 Document Decisions and Reports, hrsg. vom Sekretariat der Europäischen Menschenrechtskommission Economic and Social Council/Wirtschafts- und Sozialrat Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 Encyclopedia of Public International Law Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 European Treaty Series Europäische Grundrechte-Zeitschrift Fakultativprotokoll Genfer Konvention vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde Genfer Konvention vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See Genfer Konvention vom 12. August 1949 Uber die Behandlung der Kriegsgefangenen Genfer Konvention vom 12. August 1949 Uber den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten

20 GYIL HRU HRQ IAGMR IAKMR ICC ICJ Reports ICLQ ICfR ICfY IGH IKRK ILC ILC-Entwurf ILM ILO IRRC Limburg Principles Maastricht Guidelines NQHR NYIL OSZE Queensland Guidelines para. Pakt I Pakt II RdC RICR RUDH Subkornmission Syracusa Principles UNDoc.

VRK

Vol. ZaöRV

ZP

Abkürzungsverzeichnis German Yearbook of International Law Human Rights Law Journal Human Rights Quarterly lnteramerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte Interamerikanische Kornmission für Menschenrechte International Criminal Court International Court of Justice, Reports of Judgrnents, Advisory Opinions and Orders The International and Comparative Law Quarterly International Criminal Tribunal for Rwanda International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia Internationaler Gerichtshof Internationales Komitee vom Roten Kreuz International Law Cornmission Entwurf der ILC zum Recht der Staatenverantwortlichkeit gernäss 1. Lesung International Legal Materials International Labour Organization International Review of the Red Cross Limburg Principles on the lmplementation ofthe International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights Maastricht Guidelines on Violations of Economic, Social and Cultural Rights Netherlands Quarterly of Human Rights Netherlands Yearbook of International Law Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Queensland Guidelines for Bodies Monitoring Respect for Human Rights During States of Ernergendes paragraph Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 Internationaler Pakt über bUrgerliehe und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 Recueil des Cours Revue Internationale de Ia Croix-Rouge Revue universelle des droits de l'hornme UNO-Subkornmission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten Syracusa Principles on the Limitation and Derogation Provisions in the International Covenant on Civil and Political Rights United Nation Document Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (Wiener Vertragsrechtskonvention) Volume Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zusatzprotokoll

Abkürzungsverzeichnis

ZPI ZPII

21

Zusatzprotokoll vom 8. Juli 1977 zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) Zusatzprotokoll vom 8. Juli 1977 zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll li)

Einleitung I. Die aktuelle Bedrohungssituation der Menschenrechte Während Jahrzehnten repräsentierte der politisch stabile, diktatorisch regierte Staat, der möglichst keine Menschenrechtsverträge ratifiziert hatte, das typische Bild des Verursachers massiver Verletzungen von Menschenrechten. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist dieses Modell zwar keinesfalls obsolet geworden, doch an seine Seite ist das Phänomen von Menschenrechtsverletzungen während Gewaltsituationen oder eigentlichen Bürgerkriegen gerückt. Während in der klassischen Bedrohungssituation somit ein allmächtiger Staat die Gefährdung personifiziert, prägt heute oft auch das umgekehrte Phänomen die Problemlage: der zu einem effizienten Schutz menschenrechtlicher Positionen vor Übergriffen von Drittparteien, aber auch seiner eigenen Organe unfähige Staat. Solche Konstellationen, deren Gefährdungspotential durch die Beispiele von Somalia, Jugoslawien, Ruanda, Tschetschenien und Liberia eindrücklich illustriert wird, werden heute oft unter dem Begriff des "failed state" zusammengefasst 1• Neben diesen faktischen Änderungen präsentiert sich die Lage aber auch auf rechtlicher Seite seit einem Jahrzehnt wesentlich anders und vielschichtiger. Denn mit dem Wegfall der ideologischen Differenzen auf dem Gebiet der Menschenrechte2 nahm die Zahl der Ratifizierungen menschenrechtlicher Verträge sprunghaft zu; dies mit dem Resultat, dass heute gewisse Verträge einen nahezu universellen Ratifikationsgrad aufweisen. Durch den engen Konnex zwischen schweren Menschenrechtsverletzungen und kriegsähnlichen Situationen gewannen zudem die Menschenrechte des humanitären Völkerrechts wieder verstärkte Beachtung. Diese Tatsache wird exemplarisch durch die Errichtung der Tribunale für Jugoslawien, Ruanda und des ständigen internationalen Strafgerichtshofs belegt, deren Straftatbestände sich eng an Normen dieses Rechtszweiges anlehnen. Als weitere Folge dieser veränderten Sichtweise entwickelte sich im letzten Jahrzehnt auch das ungeschriebene Recht der internationalen Menschenrechte in einem bis vor kurzem kaum für möglich gehaltenen Umfang fort. All diese Veränderungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht führten im Ergebnis zu einer vielschichtigeren Problemlage, in der kaum mehr das Fehlen jeglicher völkerrechtlicher Verpflichtungen eines konkreten Vertragsstaates das Haupt1 2

Siehe dazu z. B. Thürer 9ff. Vgl. dazu hinten Kap. 3, II. 2.

24

Einleitung

problern bildet. Vielmehr stehen heute neben der im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelten Frage nach den Möglichkeiten einer effizienten Durchsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen, die Probleme des gegenseitigen Verhältnisses aller anwendbaren Regelungen und die Art ihrer Geltung für alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte in verschiedenen (Konflikt-)Situationen im Zentrum des Interesses.

II. Die Relativität menschenrechtlicher Verpflichtungen Das eindrückliche Ausmass des Systems des internationalen Menschenrechtsschutzes kann jedoch leicht dazu führen, dass bei bloss oberflächlicher Betrachtung dieses komplexen Gebäudes die Sicht auf die andere Seite der Medaille versperrt bleibt. Denn das Normset der internationalen Menschenrechte präsentiert sich weder auf universeller noch auf regionaler Ebene als monolithischer Block, welcher die Staaten ohne Berücksichtigung von kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten, von unterschiedlichen den Staaten zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen und von allfällig herrschenden Ausnahmesituationen zur unbedingten Beachtung eines unveränderbaren Normbestandes verpflichtet. Vielmehr wird nur eine sehr geringe Anzahl der Menschenrechte völkerrechtlich in absoluter Weise garantiert. In den meisten Fällen wurde vielmehr mittels verschiedener Gesetzgebungstechniken versucht, die Diskrepanz zwischen dem Ideal eines generell einzuhaltenden, möglichst hohen Schutzstandards einerseits und der Anerkennung der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Besonderheiten der einzelnen Staaten andererseits aufzulösen. Folglich wurde den Staaten durch unterschiedlich präzise Verpflichtungsnormen, Schranken, Ausnahmebestimmungen oder Derogationsmöglichkeiten gewisse Freiräume gewährt. Bereits innerhalb einer Menschenrechtskonvention finden sich deshalb in der Regel Garantien, welche den Staaten in höchst unterschiedlichem Masse erlauben, unter Berufung auf situationsbedingte Umstände innerhalb eines vorgegebenen Rahmens ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen ihren aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Die heutige Realität präsentiert sich aber weit vielfältiger. So führte ein eigentlicher menschenrechtlicher Kodifikationsboom ab Mitte der sechziger Jahre sowohl auf universeller wie auf regionaler völkerrechtlicher Ebene zum Resultat, dass einzelne Garantien zumindest in sehr ähnlicher Weise kumulativ durch die Menschenrechtspakte der UNO, themen- bzw. personenspezifische universelle Konventionen, allgemeine regionale Vertragssysteme sowie durch Normen des humanitären Völkerrechts geschützt werden. Neben diesem Konglomerat von Vertragsnormen gelten zudem verschiedene Rechte bereits kraft Völkergewohnheitsrecht, während eine grosse Anzahl menschenrechtlicher Postulate zusätzlich in Deklarationen unterschiedlicher normativer Geltung verankert sind. Diese mannigfaltige Überlappung des materiellen Geltungsbereichs der verschiedenen Rechtsquellen, in welchen der erwähnte Balanceakt zwischen idealen und politisch durchsetzbaren Inhalten auf unterschiedlichste Arten durchgeführt wurde, führte dazu, dass die möglichen Va-

Einleitung

25

riationen unterschiedlicher Verpflichtungsmodelle in exponentieller Weise anwuchsen. Der Grad der Verpflichtung zur Achtung bzw. Durchsetzung eines Menschenrechtes bzw. die Zulässigkeil einer Berücksichtigung relativer Faktoren in der Bestimmung der staatlichen Verpflichtung kann deshalb heute nur mehr aufgrund einer Gesamtprüfung eruiert werden. Diese hat alle Verpflichtungs- und Schrankenklauseln aller in einem konkreten Fall relevanten, d. h. anwendbaren, Rechtsquellen einzubeziehen. In dieser Arbeit soll deshalb versucht werden, im Sinne eines Querschnittes - d. h. ohne den Anspruch einer erschöpfenden Behandlung einzelner dieser Relativierungsmöglichkeiten und soweit möglich ohne Darstellung der einzelnen materiellen Garantien des Menschenrechtsschutzes - die Auswirkungen des Zusammenspiels dieser verschiedenartigen Grundlagen auf die Geltung staatlicher Verpflichtungen aus Menschenrechten auszuloten.

111. Die Fiktion einer andauernden und integralen Geltung vertraglicher Instrumente oder weitere Möglichkeiten unilateraler Differenzierungen menschenrechtlicher Verpflichtungen In der vorherigen Übersicht über die den Staaten gewährten Möglichkeiten zur Relativierung ihrer menschenrechtliehen Pflichten wurde die wohl effizienteste Möglichkeit einer unilateralen Differenzierung dieser Verpflichtungen - die Ablehnung der Ratifizierung menschenrechtlicher Instrumente- unterschlagen. Ein Staat kann auf diese Art nicht nur seine völkerrechtlichen Pflichten auf den Kreis gewohnheitsrechtlich geltender Garantien beschränken, sondern ein solches Verhalten verwehrt den seiner Jurisdiktion unterstehenden Individuen auch nahezu vollständig die Möglichkeit, begangene Verletzungen selbst dieser ungeschriebenen Normen vor einem internationalen, gerichtsähnlichen Forum zu rügen. Auch wenn politischer Druck anderer Staaten und internationaler Organisationen und die Furcht vor einem Imageverlust einer konsequenten derartigen Menschenrechtspolitik doch faktische Grenzen setzen, sind die Staaten aufgrund ihrer Souveränität frei zu bestimmen, welche vertraglichen Instrumente sie für sich als bindendes Völkerrecht anerkennen wollen. Selbst die Ratifizierung eines solchen vertraglichen Instrumentes bietet aber noch keine Gewähr für eine grundsätzlich einheitliche Geltung der materiellen Bestimmungen eines Vertrages zwischen den verschieden Vertragsstaaten. Vielmehr ist es den Vertragsstaaten innerhalb gewisser Grenzen - d. h. soweit ein solches Vorgehen mit dem Ziel und Zweck des Vertrages nicht unvereinbar erscheintl- freigestellt, im Zeitpunkt der Ratifikation zu gewissen Garantien einen Vorbehalt zu erklären, d. h. bestimmte Normen für sich als nicht verbindlich zu taxieren. Dieses in der Praxis 3

Art. 19 VRK.

26

Einleitung

häufig angewandte Mittel einer unilateralen Vertragsdifferenzierung 4 kann somit den Umfang der vertraglichen Pflichten einer Vertragspartei in einem erheblichen Umfang abschwächen und modifiziert damit auch das bilaterale Verhältnis zu anderen Vertragsparteien 5• Schliesslich garantiert aber selbst eine integrale Akzeptanz der materiellen Verpflichtungen eines menschenrechtliehen Übereinkommens nicht ihre permanente Geltung für den entsprechenden Vertragsstaat. So erlauben gewisse Menschenrechtsverträge ausdrücklich ihre Kündigung. Andere Verträge- wie die beiden universellen Menschenrechtspakte der UNO- enthalten hingegen keine derartigen Regelungen und gelten deshalb als unkündbar6• Die bisherige menschenrechtliche Vertragspraxis hat aber aufgezeigt, dass die Kündigung eines Vertrages, da sie regelmässig als Eingeständnis einer Verletzung seiner Garantien ausgelegt werden wird, nur als ultima ratio von jenen Staaten erklärt wird, die auch infolge ihres äusserst tiefen Menschenrechtsstandards de facto aus der Staatengemeinschaft ausgeschlossen wurden und die deshalb auch die Furcht vor einem weiteren Imageverlust nicht von einem derartigen Verhalten abringen kann 7 • Trotz der durchaus vorhandenen praktischen Bedeutung dieser im Umfeld von Vertragsschluss und -auftösung zu situierenden unilateralen Differenzierungsmöglichkeiten soll im Rahmen dieser Arbeit auf sie nicht näher eingegangen werden. Ziel dieser Arbeit soll es vielmehr sein, die den Staaten gewährten Möglichkeiten einer unilateralen Relativierung resp. Flexibilisierung staatlicher Verpflichtungen innerhalb eines als gegeben vorausgesetzten Normensystems der Menschenrechte auszuloten.

4 So erklärten beispielsweise etwa die Hälfte aller Vertragsstaaten des praktisch wohl wichtigsten universellen Vertrages, des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II), Vorbehalte, die nahezu alle materiellen Bestimmungen dieses Instruments betreffen; siehe dazu Nowak (Commentary) XXV. s Vgl. Art.21 VRK. 6 Vgl. Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 26/61, und Nowak (Commentary) XXVIIff. 7 In diesem SiMe kaM sowohl die infolge der Unkündbarkeit des Vertrages unwirksame Kündigung des Paktes II durch Nordkorea im Jahre 1997 (vgl. UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/ 1997/43) als auch die bisher einzige Kündigung der EMRK durch Griechenland aus dem Jahre 1974 (vgl. dazu Frowein!Peukert 159) eingestuft werden. Im Jahre 1997 kündigte ferner Jamaica infolge der Konstatierung der zahlreichen Vertragsverletzungen durch den Ausschuss für Menschenrechte das mit einer Kündigungsklausel ausgestattete FP zum Pakt II. Damit wurde diesem Organ seine Berechtigung zur Prüfung von Individualbeschwerden entzogen, welche eine Verletzung der Paktbcstimmungen durch diesen Staat rügen (vgl. UN Doc. CCPR/ Cn9/Add. 83 und CCPR!C/SR.1623/Add.1). Ein Jahr später wurde dieses Protokoll und zusätzlich die AMRK auch von Trinidad und Tobago gekündigt (im Anschluss an diese Kündigung wurde das FP zum Pakt II von diesem Staat wiederum ratifiziert; dies allerdings mit einem Vorbehalt, welcher die Kompetenz des Ausschusses fUr Menschenrechte in Individualbeschwerden in Fallen betreffend die Todesstrafe ausschliesst; vg1. dazu HRU 1999, 280f).

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IV. Menschenrechte und menschenrechtliche Verpflichtungen im Völkerrecht Die Frage nach dem Ausmass der Geltung von Menschenrechten kann grundsätzlich aus zwei gegensätzlichen Sichtweisen betrachtet werden. So ist es einerseits möglich, aus dem Blickwinkel des verpflichteten Staates das Ausmass der Möglichkeiten einer Relativierung seiner Pflichten zu beurteilen. Andererseits kann die komplementäre Berechtigung der Individuen, d. h. die Frage nach der Einschränkbarkeil der sie berechtigenden Garantien, stärker in den Vordergrund gerückt werden. In der vorliegenden Arbeit wurde der erste Ansatz gewählt. Diese in der Literatur wohl eher unübliche Konzentration auf die Pflichten des Staates erfolgt keinesfalls infolge einer Ablehnung der Theorie völkerrechtlich direkt geschützter Positionen von Individuen, sondern beruht einzig auf folgenden Gründen: o

o

In dieser Arbeit soll die Frage der Möglichkeit einer Einschränkung der Menschenrechte resp. der Relativierung menschenrechtlicher Pflichten unter einem rein völkerrechtlichen Blickwinkel behandelt werden. Trotz der mittlerweile unbestrittenen Anerkennung 8 einer zumindest partiellen und abgeleiteten Völkerrechtssubjektivität des lndividuums 9 beruhen aber die Regeln dieses Rechtsgebietes noch heute primär auf einem System gegenseitiger Verpflichtungen von Staaten. Dies bedeutet, dass völkerrechtliche Regelungen den Staaten als Adressaten dieser Normen gewisse Pflichten auferlegen oder auch Freiräume gewähren. Sollen deshalb die Regeln des allgemeinen Völkerrechts auch Anwendung im System der Menschenrechte finden, empfiehlt sich diese Sichtweise bereits aus Kompatibilitätsgründen. Die anders als im nationalen Bereich fehlende umfassende Rechtssubjektivität des Individuums auf internationaler Ebene manifestiert sich aber auf verschiedene Weise bereits innerhalb des Systems der Menschenrechte selbst. So ist infolge fehlender Durchsetzungsinstrumentarien bei der überwiegenden Anzahl vertraglicher Instrumente und auch bei gewohnheitsrechtlich geltenden Menschenrechten das Individuum zwar Begünstigter, nicht aber direkt Berechtigter. Besonders deutlich illustriert wird das nicht zwingend komplementäre Verhältnis von Berechtigung und Verpflichtung auch am Beispiel von Leistungspflichten, wo Staaten zur Ergreifung von Massnahmen verpflichtet werden, ohne dass dem Individuum in gleichem Umfang ein subjektives Recht auf deren Ergreifung zustünde.

8 Siehe dazu z. B. Antonio Cassese, Individuals, in Mohammed Bedjaoui (ed.), International Law Achievements and Prospects, Paris 1991, 113ff. 9 Von einer Subjektstellung kann nur ausgegangen werden, falls das Individuum völkerrechtlich nicht nur begünstigt, sondern direkt berechtigt wird, d. h. ihm die Befugnis eingeräumt wird, seine Rechte in einem völkerrechtlichen Verfahren einzufordern. Eine solche Berechtigung wird dem Individuum insbesondere durch Menschenrechtsverträge, die ein Individualbeschwerdeverfahren kennen, zuerkannt. Abgeleitet ist die Subjektstellung deshalb, weil deren Existenz auf einer Entscheidung eines anderen (staatlichen) Völkerrechtssubjektes beruht.

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Gar in noch Verstärkterem Masse gilt diese Einschätzung im Rechtsgebiet des humanitären Völkerrechts, das nie von Rechten der Individuen, sondern ausschliesslich von Verpflichtungen der Staaten spricht, deren Erfüllung zudem- zumindest gernäss einem traditionellen Verständnis dieses Rechtsgebietes - ausschliesslich den anderen Vertragsparteien der Abkommen des humanitären Völkerrechts geschuldet wird. Diese völkerrechtlichen Besonderheiten sprechen für die hier gewählte Vorgehensweise, auch wenn anzumerken ist, dass der landesrechtliche Ursprung der Menschenrechtsidee und die Bedeutung des internationalen Menschenrechtsschutzes als Errungenschaft zugunsten des Individuums die individualrechtsbezogene Perspektive ebenfalls rechtfertigen kann.

V. Zum Aufbau dieser Arbeit Eine Prüfung des Verpflichtungsgrades internationaler Menschenrechte setzt zunächst Klarheit hinsichtlich der Art und des Umfangs der zu untersuchenden Rechtsquellen bzw. Rechtsmaterien und deren gegenseitigem Verhältnis voraus. Kapitel 1 dieser Arbeit behandelt deshalb nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen menschenrechtliehen Instrumente die Frage, inwieweit sich die Verankerung von Menschenrechtsgarantien im ungeschriebenen Recht oder im Vertragsrecht respektive kumulativ in verschiedenen Rechtsquellen auf deren Verpflichtungsgrad auswirken kann. Da die spezifischen menschenrechtliehen Regeln oft Lücken in Bereichen aufweisen, die durch Normen des allgemeinen Völkerrechts reguliert werden, soll in diesem einleitenden Kapitel abschliessend geklärt werden, ob trotz der spezifischen Eigenarten der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in solchen Fällen zumindest eine analoge Anwendung der allgemeinen Regeln sachgerecht erscheint oder ob ein solches Vorgehen ausgeschlossen bleiben muss. Kapitel 2 ist ansebliessend der Frage der Geltungsbereiche der menschenrechtliehen Garantien gewidmet, d. h. der persönlichen, territorialen und situationsbedingten Reichweite der materiellen Verpflichtungen. Eine solche Abklärung erscheint insbesondere deshalb von praktischer Relevanz, da die Instrumente der eigentlichen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts während Situationen interner Gewalt den Staaten eine angesichts des in solchen Ausnahmesituationen herrschenden Gefährdungspotentials höchst unerwünschte Möglichkeiten zu einer Abweichung von den üblicherweise geltenden Standards eröffnen können. Mit dem Stichwort der inneren Unruhen ist gleichzeitig auch die Frage angesprochen, ob neben den Staaten auch andere Organisationen, welche ein dem Staat vergleichbares Bedrohungspotential besitzen, d. h. vor allem aufständische Gruppen in internen bewaffneten Konflikten, zur Beachtung der Garantien dieses Völkerrechtszweiges verpflichtet werden können. Wäre dem nicht so, müsste während interner Gewaltsituationen ein zweites Schutzdefizit konstatiert werden.

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Kapitel 3 beleuchtet auf einer nächsten Prüfungsebene den Einfluss der einzelnen Verpflichtungsarten menschenrechtlicher Garantien auf die Stringenz dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen. Schwerpunkt bildet dabei die Untersuchung, inwieweit das Ausmass positiver Pflichten, das heisst solcher, welche ein aktives Tätigwerden von Vertragsstaaten verlangen, von der Verfügbarkeil von materiellen Ressourcen abhängig gemacht werden können. Es gilt mit anderen Worten zu prüfen, ob wie im typischen Fall von Unterlassungspflichten auch hinsichtlich solcher Verpflichtung vom Ideal eines einheitlichen Leistungsniveaus innerhalb der Vertragsstaaten, d. h. von grundsätzlich uniformen Verpflichtungen ausgegangen werden soll, ob eine solche Verpflichtung im Gegenteil völlig von relativen Faktoren abhängt oder ob allenfalls Zwischenlösungen auszumachen sind. Die von allen Verträgen den Staaten innerhalb sehr unterschiedlicher Bandbreiten gewährten allgemeinen Möglichkeiten, auch ausserhalb von Ausnahmesituationen verschiedenen gesellschaftlichen Realitäten gerecht zu werden, sollen in Kapitel4 erörtert werden. Dabei gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die mittels verschiedener gesetzestechnischen Modelle den Staaten gewährten Freiräume zur Variation ihrer Verpflichtungen zu werfen. Anband einer Skala, die von schrankenlosen oder absoluten Verpflichtungen bis zu solchen reicht, die de facto nur die Einhaltung der landesrechtliehen Regelung fordern, soll versucht werden, das vielschichtige Phänomen der Schranken in den Gesamtkontext aller Möglichkeiten der Differenzierung menschenrechtlicher Pflichten einzuordnen. Das Kapitel 5 schliesslich beschäftigt sich auf einer letzten Stufe mit der Geltung der menschenrechtliehen Verpflichtungen während Ausnahmesituationen. Sowohl gewisse wichtige menschenrechtliche Übereinkommen, wie auch das gewohnheitsrechtlich geltende Recht der Staatenverantwortlichkeit und das allgemeine völkerrechtliche Vertragsrecht enthalten Rechtsfiguren, die während solchen Situationen innerhalb gewisser Grenzen entweder eine Suspension üblicherweise geltender Garantien zu rechtfertigen vermögen oder aber zumindest die Geltendmachung einer Verletzung gewisser materieller Garantien verunmöglichen.

Kapitell

Grundlagen: Die Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis I. Einleitung Das System des internationalen Menschenrechtsschutzes präsentiert sich - wie das Völkerrecht insgesamt- nicht als hierarchisch strukturiertes und logisch aufgebautes Ganzes. Vielmehr normiert auf völkerrechtlicher Ebene eine Vielzahl sich in ihren Geltungsbereichen teilweise überschneidender Verträge den Schutz menschenrechtlicher Positionen. Ergänzt wird dieses vertragliche Normkonglomerat durch die grundsätzlich nur während bewaffneten Konflikten Anwendung findenden Garantien des humanitären Völkerrechtes sowie durch Regeln mit gewohnheitsrechtlicher Verankerung. Es entspricht somit heute einer allgemein verbreiteten Realität, dass ein Staat zur Beachtung ein und derselben Garantie durch eine Mehrzahl von Normen verpflichtet wird, die zwar mehr oder weniger gleich lauten, aber unterschiedlicher vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Natur sind. Zudem kann deren Anwendung an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft sein, welche den Staaten einen unterschiedlich grossen Freiraum zur Abweichung in Notstandssituationen resp. zur Berücksichtigung gesellschaftlicher Umstände im Allgemeinen gewähren können. Schliesslich vermag auch eine unterschiedliche Auslegung durch die Praxis der verschiedenen völkerrechtlichen Überwachungsorgane eine unterschiedlich stringente Verpflichtung ähnlich formulierter Garantien zu begründen. lnfolge dieser Unterschiede kann sich auch bei mehrfacher Verankerung einer materiellen Garantie des internationalen Menschenrechtsschutzes die Frage nach den einzelnen konkreten Instrumenten, welche eine entsprechende staatliche Verpflichtung stipulieren, von grosser praktischer Relevanz erweisen. Dieses einleitende Kapitel soll deshalb mit einem kurzen Überblick über die vertraglichen Instrumente des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes auf universeller wie auch auf regionalen Ebenen sowie des während bewaffneten Auseinandersetzungen anwendbaren humanitären Völkerrechts beginnen. Ansebliessend folgt eine Übersicht über diejenigen Garantien, welche heute auch als ausservertraglieh geltend eingestuft werden. Infolge eines mittlerweile beinahe universellen Ratifikationsstandes gewisser menschenrechtlicher Verträge und der weit fortgeschrittenen Kodifizierung dieses Völkerrechtszweiges liegt die Bedeutung ausservertraglieber Garantien heute aber weniger im Umstand der ausservertraglichen Geltung an sich begründet. Praktisch bedeutsam sind vielmehr verschiedene Rechtsfolgen, wel-

II. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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ehe mehr oder weniger direkt aus der Tatsache der ungeschriebenen Geltung einer Garantie ableitbar sind; sei dies eine zwingende Geltung, sei es das Bestehen einer Verpflichtung gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft oder sei es die zusätzliche Statuierung einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Verletzungsfall. Deshalb soll das Hauptaugenmerk auf die Darstellung dieser spezifischen Rechtsfolgen gelegt werden. Da sowohl die Menschenrechte wie auch das humanitäre Völkerrecht zwar in verschiedener Hinsicht Besonderheiten aufweisen, aber trotzdem Teil des allgemeinen Völkerrechts sind, soll in diesem Kapitel abschliessend in genereller Fonn die Frage der Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in diesem Rechtsgebiet geklärt werden. Insbesondere zwei Gründe rechtfertigen ein solches Vorgehen: Erstens enthalten die Regeln der spezifischen Rechtsgebiete Lücken und zwar in dem Sinne, dass Fragen wie z. B. diejenige nach dem Kreis der Personen, welche einen Staat völkerrechtlich zu verpflichten vermögen, unbeantwortet bleiben. Aber selbst falls das allgemeine Völkerrecht genau zu diesen im Recht der Menschenrechte nicht beantworteten Fragen detaillierte Regelungen kennt, ist eine Anwendung solcher Nonnen im Bereich der Menschenrechte nicht unumstritten. Noch problematischer präsentiert sich zweitens die hier relevante Sachlage, wenn sowohl das allgemeine Völkerrecht wie auch gewisse menschenrechtliche Instrumente zu einer Problematik in einer unterschiedlichen Weise Stellung nehmen. In diesem Sinne enthalten beispielsweise das allgemeine Völkerrecht und gewisse Verträge des Menschenrechtsschutzes Vorschriften über die Geltung internationaler Verpflichtungen während Notsituationen, während andere menschenrechtliche Abkommen sich darüber ausschweigen. In solchen Konstellationen stehen die allgemeinen und die spezifisch menschenrechtliehen Regelungen potentiell in einem gegenseitigen Spannungszustand, welcher sich nicht allein gestützt auf die allgemeinen Konkurrenzregeln von Iex posterior resp. Iex specialis auflösen lässt.

II. Der Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht 1. Recht der Menschenrechte a) Historische Entwicklungslinien Die Normierung der Rechtsstellung der Individuen lag nach traditionellem Völkerrecht in der alleinigen Kompetenz der einzelnen Staaten. Dieser Grundsatz unterlag- und unterliegt bis in die Gegenwart- einer fortlaufenden Relativierung. Abgesehen von drei historischen Ansatzpunkten 1, auf die im Rahmen dieser Arbeit 1 Mit dem seit der frUhen Kolonialzeit bekannten Instrument des diplomatischen Schutzes kann ein Staat seine Staatsangehörigen vor Übergriffen des Aufenthaltsstaates schützen, falls einer aufenthaltsberechtigten Person durch ihren Aufenthaltsstaat gewisse Minimalgarantien, darunter namentlich prozessuale Garantien und Vermögensrechte, verwehrt werden. Dieses

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

nicht näher eingegangen wird, erfolgte der entscheidende Durchbruch der Idee der Menschenrechte auf internationaler Ebene, d. h. die Anerkennung des Individuums als Subjekt des Völkerrechts, erst nach dem zweiten Weltkrieg im Rahmen der UNO: Trotz verschiedener Vorschläge anlässlich der Gründungsversammlung der UNO, eine "Bill of Rights" in die Satzung der Weltorganisation aufzunehmen, scheiterten diese Bemühungen aus Zeitmangel und an der Forderung, die Ausarbeitung sei Aufgabe der künftigen Generalversammlung 2• Deshalb beschränkt sich der Menschenrechtsschutz der Charta auf die Selbstverpflichtung der UNO und der Mitgliedstaaten, "to promote universal respect for, and observance of, human rights and fundamental freedoms" 3 • Bereits im Jahre 1948 gelang es aber der UNO mittels der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte\ dem ersten ausformulierten Menschenrechtskatalog auf internationaler Ebene, dem unbestimmten Begriff der "Menschenrechte und Grundfreiheiten" inhaltliche Gestalt zu geben. Diese Erklärung, der erste Schritt einer geplanten internationalen Charta der Menschenrechte, wurde durch eine Resolution der UN0-General versammlung', d. h. in einer rechtlich nicht verbindlichen Form 6 , verabschiedet. Unabhängig von der heute umstrittenen normativen Verbindlichkeit ihrer Garantien 7 gingen und gehen weiterhin von der AEMR wichtige Impulse zur sog. völkerrechtliche Fremdenrecht gewährt aber dem Individuum keinen direkten Anspruch gegen den Gaststaat, sondern fUhrt nur zu einer partiellen Ausdehnung des Personalitätsprinzips. Vgl. dazu z. B. Norbert Brunner, Die Frage nach dem Anspruch des BUrgers auf diplomatischen Schutz, Diss. ZUrich 1983, und Verdross!Simma, 817. Seit dem 19. Jahrhundert anerkennt die Völkerrechtspraxis zudem das Recht eines Staates zur sog. humanitären Intervention bei Verletzung grundlegendster Menschenrechte durch den Aufenthaltsstaat Heute sind solche Zwangsmassnahmen gernäss Art. 2 Abs. 4 i. V. m. Art. 39 UNO-Charta nur durch Beschluss des Sicherheitsrates bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zulässig. Vgl. Verdross!Simma, 290f. Abschliessend ist in diesem Zusammenhang auch auf die nach dem l. Weltkrieg abgeschlossenen Minderheitenschutzverträge hinzuweisen, die Angehörigen einer staatlichen Minderheit gewisse Sonderrechte einräumten; vgl. Verdross/Simma, 837 fundzum gegenwärtigen Minderheitenschutz von Art. 27 Pakt II Nowak (Kommentar) 513 ff und ders. (Commentary) 480ff. 2 Partsch (Charta) 721. 3 Art. 55 lit. c UNO-Charta; siehe auch Abs. 2 der Präambel zur UNO-Charta. Im Unterschied zur Absichtserklärung der Präambel statuiert aber das Diskriminierungsverbot von Art. 55 der Charta eine unmittelbare Rechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten. Somit wurde mit dieser Bestimmung erstmalig in verbindlicher Weise anerkannt, dass die Achtung der Menschenrechte nicht in die alleinige Zuständigkeit der Staaten fallt, sondern auch eine Aufgabe der Staatengemeinschaft darstellt. 4 Kommentierungen der AEMR finden sich in Asbj;rn Eide et al. (eds. ), The Universal Declaration of Human Rights- A Commentary, Oslo 1992; Gudmundur Alfredsen!Asbj;rn Eide, The Universal Declaration of Human Rights- A Common Standard of Achievement, The Hague/Boston/London 1999, und Johannes Morsink, The Universal Declaration of Human Rights- Origins, Drafting, and Intent, Philadelphia 1999. 'GY-Resolution vom 10. Oktober 1948, UN. Doc.A/810. 6 Zudem bezeichnet sich die AEMR selbst als "common standard of achievement" (Präambel). 7 Vgl. hinten Anm. 177 f.

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Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes aus: So wurden wesentliche Teile der Erklärung in den beiden UNO-Menschenrechtspakten in eine vertraglich bindende Form umgegossen. Auch in regionalen Konventionen wurde teilweise direkt auf diesen Katalog Bezug genommen8 und der Text gewisser materieller Rechte in enger Anlehnung an die AEMR formuliert. Die AEMR löste in ihrer Funktion als erstmalige umfassende Ausfonnulierung 9 ·allgemein anerkannter Menschenrechtsstandards sowohl auf universeller wie auf regionaler Ebene einen eigentlichen Kodifikationsboom aus. Im Folgenden soll, soweit für vorliegende Arbeit relevant, ein grober Überblick über die wesentlichsten Vertragswerke geboten werden: b) Bestandesaufnahme vertraglicher Menschenrechtsinstrumente aa) Universeller Menschenrechtsschutz

Bereits ein Jahr nach der Verabschiedung der AEMR begann die UNO-Menschenrechtskommission mit den Vorarbeiten zu einer völkerrechtlich verbindlichen Konvention. Die im Zeitalter des Kalten Krieges aufkommenden ideologischen Konflikte verzögerten aber deren definitive Verabschiedung um beinahe zwei Jahrzehnte10. Schliesslich wurden, nachdem sich die westlichen Industriestaaten erfolgreich gegen einen einheitlichen, alle Menschenrechtskategorien umfassenden Vertrag durchgesetzt hatten, die beiden UNO-Menschenrechtspakte im Jahre 1966 einstimmig durch die UNO-Generalversammlung angenommen 11 • • Die materiellen Gewährleistungen des UNO-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 12 (Pakt I) reichen von Rechten im Arbeitsleben, dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, dem Schutz von Familie und Kindem und dem Recht auf Gesundheit und Bildung bis hin zum Recht auf Teilnahme am kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Der rechtliche Charakter der aus diesem Garantien fliessenden Pflichten umschreibt der bezüglich seiner nonnativen Aussage höchst umstrittene Art. 2 13: Demgernäss verpflichten sich die Staa8 So nehmen z. B. die ersten beiden Absätze der Präambel der EMRK direkt die Ziele der AEMRauf. 9 In demselben Jahr wurde als erstes verbindliches Instrument auch die Genozidkonvention verabschiedet. 10 V gl. dazu hinten Kap. 3, II. 1. 11 GY-Res. 2200/A (XXI) vom 19. Dezember 1966. 12 Einzelne materielle Garantien dieses Vertrages werden detailliert von Craven (Covenant) kommentiert. Kurze Übersichten finden sich in Burns H. Weston, The Substantive Rights and United States Law, in Hannum/Fisher (eds.), U.S. Ratification of the International Covenants on Human Rights, New York 1993, 168ff; in Scherf 67ff und in Künzli!Kälin 105ff. 13 Vgl. zu dieser Bestimmung unten Kap. 3, V. 2.

3 Künzli

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ten, unter Ausschöpfung aller ihrer Möglichkeiten Massnahmen zu treffen, "um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln(... ) die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Der Sozialpakt kennt als Kontrollmechanismus einzig ein periodisches Berichtsprüfungsverfahren14. Im Jahre 1985 wurde für diese Aufgabe ein 18-köpfiger Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Ausschuss für WSK-Rechte) eingesetzt 15 . Obwohl im Pakt I eine entsprechende positivrechtliche Grundlage fehlt, konkretisiert dieses Organ die aus dem Sozialpakt resultierenden Verpflichtungen der Vertragsstaaten durch sogenannte General Comments oder Allgemeine Bemerkungen. • Durch die Ratifizierung des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte 16 (Pakt II) verpflichten sich die Vertragsstaaten, die darin enthaltenen Rechte - im wesentlichen klassisch liberale Freiheitsrechte sowie Verfahrensgarantien - zu achten und sie allen ihrem Herrschaftsbereich unterstehenden Personen diskriminierungsfrei zu gewährleisten 17 . Im Gegensatz zur AEMR kennt dieses Vertragswerk aber eine je nach bestimmter Garantie differenzierte Ausgestaltung von Einschränkungsvoraussetzungen: Eine erste Kategorie sogenannter notstandsfester Rechte ist selbst in Zeiten staatlichen Notstandes ohne Möglichkeit einer Ein14 Zu dieser Verfahrensart ausführlich Gerd Oberleitner, Menschenrechtsschutz durch Staatenberichte, Frankfurt a.M. u.a. 1998. Gegenwärtig sind Bestrebungen im Gange, analog zum Pakt II auch für dieses Vertragswerk mittels eines Fakultativprotokolls die Möglichkeit von Individual- resp. Gruppen- und Organisationsbeschwerden einzuführen. Vgl. dazu insbesondere Towards an Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights- Analytical paper adopted by the Committee on Economic, Social and Cultural Rights (UN.Doc.E/C.12/1992/2 87ff) und das DraftOptional Protocol to the ICESCR adopted by the Utrecht Expert Meeting vom 28.1.1995, abgedruckt in NQHR 1995, 197ff. Eine Kommentierung zu diesem Entwurf findet sich in Cooman.slvan Hoof(eds.), The Right to Complain about Economic, Social and Cultural Rights, SIM Special No. 18, Utrecht 1995 mit zahlreichen Beiträgen. Siehe dazu auch Emmanuel Decaux, La reforme du pacte international relatif aux droits economiques, sociaux et culturels, in Dupuy (ed.), Melangesen l'honneur de Nicolas Valticos- Droit et justice, Paris 1999, 405 ff. 1' V gl. dazu Philip Alston, The Committee on Economic, Social and Cultural Rights, in ders. (ed.), The United Nationsand Human Rights-A Critical Appraisal, Oxford 1992, 473ffund Matthew Craven, Towards an Unofficial Petition Procedure: A Review on the Role of the UN Committee on Economic, Social and Cultural Rights, in Drzewicki/Krause/Rosas (eds.), Social Rights as Human Rights- A European Challenge, Abo 1994, 91 ff. 16 Umfassend kommentiert wird dieser Vertrag durch Nowak (Kommentar) und ders. (Commentary). Teil- oder Kurzkommentierungen finden sich in Harris/Joseph (eds.), The International Covenant on Civil and Political Rights and United Kingdom Law, Oxford 1995; Louis Henkin (ed.), The International Bill of Rights, New York 1981; Filvaroff/Hannum/Leary!Shelton, The Substantive Rights and United States Law, in Hannum/Fischer (eds.), U.S. Ratification of the International Covenants on Human Rights Law; New York 1993, 71 ff; Achermannt Caroni!Kälin 155 ff; McGoldrick; Münger; Claude Rouiller, Le Pacte international relatif a\lx droits civils et politiques, Revue de droit suisse, 1992, I, 107 ff. 11 Vgl. dazu hinten Kap.3, 11.2.c).

II. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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schränk:ung zu gewährleisten 18, während die übrigen Garantien unter Beachtung gewisser Voraussetzungen 19 in solchen Situationen ausser Kraft gesetzt werden dürfen. Daneben darf unter Beachtung von je nach materieller Garantie unterschiedlichen Voraussetzungen in Einzelfällen in die meisten der garantierten Rechte eingegriffen werden. Der Kontrollmechanismus des Paktes II verpflichtet die Staaten zwingend, periodische Berichte über Massnahmen vorzulegen, die sie zur Verwirklichung der garantierten Menschenrechte ergriffen haben 20 • Diese werden von dem aus 18 unabhängigen Persönlichkeiten bestehenden Ausschuss für Menschenrechte nach dem Grundsatz eines konstruktiven Dialoges mit dem betreffenden Vertragsstaat geprüft. Daneben ist dieses Organ ausdrücklich ermächtigt, Allgemeine Bemerkungen zu verabschieden, die sich für die Konk:retisierung der im Pakt verankerten Garantien als von eminenter praktischer Bedeutung erwiesen haben. Nur fakultativ, aufgrund einer Unterwerfungserklärung, ist der Ausschuss auch zuständig zur Prüfung von Staatenbeschwerden21 • Ebenfalls fakultativ ist die Annahme der lndividualbeschwerde 22 • Dieses Verfahren läuft in der Praxis nach dem Vorbild gerichtlicher Prozesse ab23 • Die sog. "Auffassungen", mit welchen das Individualbeschwerdeverfahren abgeschlossen wird, sind zwar an sich völkerrechtlich nicht verbindlich, in der Praxis kommen sie aber sowohl bezüglich Form 24 als auch Autorität einem gerichtlichen Urteil nahe. Neben den beiden umfassenden Konventionen wurden im Rahmen der UNO auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes weitere Verträge erarbeitet, die entweder nur eine bestimmte Personenkategorie schützen oder aber sich ausschliesslich auf 18 Gernäss Art. 4 Abs. 2 Pakt II gehören dazu folgende Bestimmungen: Art. 6 (Recht auf Leben mit Erlaubnisvorbehalt für die Todesstrafe), Art. 7 (Folterverbot), Art. 8 Abs. I und 2 (Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft), Art. II (Verbot der Schuldhaft), Art.l5 (Verbot rückwirkender Strafgesetze), Art.l6 (Recht auf Rechtsfahigkeit) und Art.18 (Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit). Die letztgenannte Garantie bildet aber insofern eine Besonderheit, als sie generell unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips im Einzelfall eingeschränkt werden darf. Durch das 2. Fakultativprotokoll zum Pakt II vom 15. Dezember 1989 wird schliesslich auch das Verbot der Todesstrafe notstandsfest garantiert (Art. 6 Abs. 2 2.FP/ Pakt II). 19 Vgl. zu den Voraussetzungen einer rechtmässigen Derogation unten Kap. 5, II. 1. 20 Art. 40 Pakt II; siehe dazu Hans-M ichaell!.mpell, Die Kompetenzen des UN-Menschenrechtsausschusses im Staatenberichtsverfahren, Frankfurt a.M. 1987; /rudre Boerefijn, The Reporting Procedure under the Covenant on Civil and Political Rights, Antwerpen/Groningen/ Oxford 1999, Nowak (Commen$ary) 545ffundMcGoldrick 62ff. 21 Art. 41 f Pakt II; bis heute wurde jedoch von dieser Möglichkeit noch nie Gebrauch gemacht. 22 Gernäss dem Fakultativprotokoll zum Pakt II vom 19. September 1966. 23 V gl. zu diesem Verfahren z. B. McGoldrick 120 ff, Zwaart 7 ff und Christoph Pappa, Das Individualbeschwerdeverfahren des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt Uber bürgerliche und politische Rechte, Bern/Wien 1996. 24 Die ,,Auffassungen" werden analog Gerichtsurteilen mit einer ausfUhrliehen Begründung versehen, und die einzelnen Ausschussmitglieder können Sondervoten anbringen.

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den Schutz und die Durchsetzung eines oder einiger weniger Rechte beschränken. Zur ersteren Kategorie gehören: • das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Juli 1951; • das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979; • das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 sowie • die Konvention über die Rechte der Wanderarbeitnehmer vom 18. Dezember 1990. Einen umfassenden persönlichen, aber einen engen sachlichen Geltungsbereich weisen demgegenüber folgende Verträge auf: • das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung vom 7. März 1966; • die Konvention über die Verhütung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948; • das Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25. September 1926 resp. vom 7. Dezember 1953 und • das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 19842s.

bb) Regionaler Menschenrechtsschutz • Im Rahmen des Europarates wurde im Jahre 1950 die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 26 unterzeichnet. Sie sichert wie der Pakt II allen der Herrschaftsgewalt ihrer Vertragsstaaten unterstehenden 25 Abschliessend bleibt im Rahmen der Aufiistung universell geltender Instrumente noch auf die im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (11...0) ausgearbeitete eigentliche Kodifikation des internationalen Arbeitsrechts hinzuweisen. In über 180 bindenden Konventionen wurde ein detailliertes Normensystem geschaffen, das z. B. mit seinen Abkommen über die Abschaffung der Zwangs- und Kinderarbeit, den Schutz der Koalitionsfreiheit, Rechte von Wanderarbeitnelunern, die soziale Sicherheit und die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz eine umfassende menschenrechtliche Kodifikation von Rechten im Arbeitsleben geschaffen hat. Siehe dazu und zum Überwachungssystem der ILO z. B. Samson 116ff und Louis B. Sohn, The Contribution of the International Labor Organization to the Development of the Concept of Economic, Social and Cultural Rights, in Dupuy ~ed.), Melangesen l'honneur de Nicolas Valticos- Droit et justice, Paris 1999, 595 ff. 26 Vom 4. November 1950, ETS No. 5. Vgl. zu diesem Vertrag z. B. die folgenden neueren Kommentierungen: Cohen-Jonathan (CEDH); Frowein/Peukert; Gomien/Harris!Zwack; Har-

ris/0' Boyle!Warbrick; Jacobs!White; Lawson/Schermers; Velu/Ergec; van Dijk/van Hoof, Viitiger; Pettiti/Decaux/lmberts (eds.), La Convention europeenne des droits de l'homme, Paris 1995; Macdonald!Matscher!Petzold (eds.), The European System for the Protection of Human

Rights, Dordrecht/Boston/London 1993, und Internationaler Kommentar zur EMRK, Loseblatt-Sammlung, Köln et al., 3. Lieferung 1996.

II. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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Personen 27 im Wesentlichen die klassisch liberalen Freiheitsrechte sowie Verfahrensgarantien zu. Wie der Pakt II kennt auch die EMRK eine differenzierte Schrankendogmatik28 : Während in die meisten der Garantien - unter Beachtung von vorgegebenen Eingriffszwecken und des Verhältnismässigkeitsprinzips -eingegriffen werden kann und gewisse Garantien während Zeiten staatlichen Notstandes gar ausser Kraft gesetzt werden können 29, entfalten andere Garantien ihren Rechtsschutz auch in solchen Situationen30 ohne Möglichkeit einer Einschränkung. Seit dem lokrafttreten des 1l.ZP zur EMRK 31 am 1. November 1998 präsentiert sich der Kontrollmechanismus dieses Vertrages folgendermassen: Individualbeschwerden werden integral von einem permanenten Gerichtshof beurteilt. Dieser hat auch über die bisher nur selten ergriffenen Staatenbeschwerden zu befinden 32• Ein Berichtsprüfungsverfahren kennt demgegenüber das System der EMRK nicht. • Im Jahre 1961 wurde das Menschenrechtssystem des Europarates durch dieEuropäische Sozialcharta 33 ergänzt. Dieses Instrument enthält in den 19 Artikeln des Teils II Arbeitnehmerrechte im weitesten Sinn, das Recht auf Gesundheitl\ Rechte auf Fürsorge und soziale Sicherheit35 sowie Sonderbestimmungen zu Gunsten von Behinderten, Familien, Müttern und Kindern, ausländischen Staatsangehörigen und Wanderarbeitnehmern und deren Familien36.37 • Eine Besonderheit der ESC besteht darin, dass ein Vertragsstaat nicht alle Bestimmungen als Art.1 EMRK. Vgl. dazu Kap. 4. 29 Art.15 EMRK. 30 Gernäss EMRK gelten folgende Bestimmungen notstandsfest Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Folterverbot), Art. 4 Abs. 1 (Verbot der Sklaverei), Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz), Art.1 und 3 ZP6/EMRK (Verbot der Todesstrafe) und Art.4 ZP7/EMRK (ne bis in idem). 31 Siehe dazu z. B. Frowein/Peukert 497 ff. 32 Siehe zum neuen Verfahren auch den Erläuternden Bericht zu Protokoll N r. 11 zur EMRK des Europarates (ETS No. 155), in deutscher Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 1994, 328ff. 33 Vom 18. Oktober 1961. Kommentierungen zu diesem Vertrag finden sich in Harris (Social Charter); Samuel und Gomien/Harris/Zwaak 377ff. 34 Art.11 ESC. 35 Art.l2-14 ESC. 36 Art. 15-19 ESC. 37 Eine Erweiterung der garantierten Rechte erfolgte im Jahre 1988 durch ein 1992 in Kraft getretenes und mittlerweile von 9 Staaten (Stand 1.6.2000) ratifiziertes Zusatzprotokoll zur ESC (ETS No.128), das weitere Arbeitnehmerrechte sowie das Recht älterer Menschen auf sozialen Schutz verankert. Eine im Jahre 1996 durch das Ministerkomitee des Europarates verabschiedete und am 1. Juli 1999 mit der fünften Ratifikation in Kraft getretene Revision der ESC (ETS No. 163) fügt diesem Vertrag weitere materielle Garantien zu. So werden insbesondere die Rechte von Behinderten und Kindem verstärkt sowie ein Recht auf Schutz vor Armut und sozialem Ausschluss und ein Recht auf eine angemessene Wohnung in die ESCaufgenommen. 27 28

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bindend anzusehen hat, sondern nur mindestens 45 der insgesamt 72 Absätze der materiellen Rechte 38• Im Gegensatz zu ihrem Pendant auf universeller Ebene enthält die ESC in Art. 30 eine Derogationsklausel, die sich in ihrer Formulierung eng an jene der EMRK anlehnt, im Unterschied zu dieser aber keine notstandsfesten Garantien auflistet. Einschränkungen in die als bindend anerkannten Bestimmungen dürfen gernäss Art. 31 nur bei Bestehen einer gesetzlichen Grundlage und eines in einer demokratischen Gesellschaft anerkannten öffentlichen Interesses vorgenommen werden 39• Die internationale Überwachung der Vertragsverpflichtungen ist in der ESC wesentlich schwächer ausgestaltet als in der EMRK, sie beschränkt sich im wesentlichen auf ein periodisches zweijähriges Berichtssystem40 • • Die dritte umfassende regionale Kodifikation, die Amerikanische Menschenrechtskonvention41, wurde im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten im Jahre 1970 verabschiedet. Die Vertragsparteien der AMRK verpflichten sich, "die freie und volle Ausübung" von mehr als zwei Dutzend, teilweise in enger Anlehnung an Pakt II und EMRK 42 formulierter Garantien "zu achten" und "allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen zu sichern". Der Rechtskatalog der AMRK ist nicht nur umfassender als derjenige ihrer Vorbilder, sondern er nimmt auch Bezug auf wirtschaftliche und soziale Menschenrechte43 • Eine Verstärkung erfuhr der Schutz solcher Garantien durch ein Zusatzprotokoll über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte44, welches einen ausführlichen, sich am Pakt I orientierenden, bindenden Katalog von sogenannten MenschenVgl. dazu die komplexe Regelung in Art.20 ESC sowie Harris (Social Charter) 14ff. Art.31 ESC. 40 Vgl. dazu Öhlinger 340; Harris (Social Charter) 200ff und Bleckmann (Grundrechte) 49. Eine Verstärkung des Durchsetzungsmechanismus wird mit einem 1991 unterzeichneten Zusatzprotokoll (1\Jrin Protokoll) zur ESC angestrebt (ETS No.142), welches das Überwachungsverfahren an dasjenige des UNO-Sozialpaktes annähern soll. Vgl. zu dieser Revision Pellonpää 873; Samuel439f; D.J. Harris, A Fresh Impetus for the European Social Charter, ICLQ 1992, 659ff, und Manfred Mohr, The Turin Protocol of 220ctober 1991: A Major Contribution to Revitalizing the European Social Charter, EJIL 1992, 362 ff. Mit einem weiteren im Jahre 1995 verabschiedeten, im Jahre 1998 in Kraft getretenen, und mittlerweile von 17 Staaten (Stand 1.10.2000) ratifizierten Zusatzprotokoll (ETS No. 158) wird zudem die Möglichkeit von sogenannten Kollektivbeschwerden gegen Verletzungen der ESC eröffnet. 41 OAS Treaty Series No. 36; abgedruckt in ILM 1970, 673ff; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1980, 435ff; vgl. dazu z.B. Buergenthal/Norris/Shelton und Gros-Espiell (AMRK}. 42 Rozakis 501. 43 Art. 26 AMRK: "The States Parties undertake to adopt measures, both internally and through international cooperation, especially those of an economic and technical nature, with a view to achieving progressively, by legislation or other appropriate means, the full realization of the rights implicit in the economic, social, education, scientific, and cultural standards set forthin die Charter of the Organization of American States (...)". 44 Protokoll von San Salvador vom 17. September 1988, abgedruckt in ILM 1989, 156ff; vgl. zu diesem Vertrag LeBlanc. 38

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rechten der 2. Generation enthält4~. Bezüglich des Verpflichtungsgrades der in der AMRK verankerten Garantien kann an dieser Stelle im Wesentlichen auf die entsprechenden Regelungen des UNO-Paktes II und der EMRK verwiesen werden. Bereits an dieser Stelle soll aber ein besonderes Augenmerk auf die ausführliche, elf Garantien umfassende Liste der notstandsfesten Rechte gelegt werden 46 • Die AMRK kennt ein obligatorisches lndividualbeschwerdeverfahren, währenddem Staatenbeschwerden nur bei besonderer Unterwerfung eines Vertragsstaates möglich sind. 47 Beide Beschwerdearten sind bei der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte (IAKMR) 48 einzureichen. Analog der ursprünglichen Regelung der EMRK kann ein Fall von einem Vertragsstaat oder der Korn. mission dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) vorgelegt werden, falls der entsprechende Vertragsstaat dessen Gerichtsbarkeit anerkennt. Neben seiner Aufgabe als urteilende Instanz besitzt dieses Gericht als Besonderheit zusätzlich die Kompetenz zur Erstellung von Gutachten zur Auslegung der AMRK und anderer amerikanischer Menschenrechtsverträge 49• • Fortgesetzt wurde die Liste umfassender kontinentaler Menschenrechtserklärungen im Jahre 1981 mit der im Rahmen der Organisation für Afrikanische Einheit ausgearbeiteten Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker~0. Dieses Vertragswerk lehnt sich an die UNO-Pakte an, unterscheidet sich aber durch seine BeTücksichtigung spezifisch afrikanischer Werte resp. Traditionen in mehrfacher Hinsicht prägnant von den übrigen bisher dargestellten Verträgen: So anerkennen auch gernäss diesem Instrument die Vertragsstaaten die- allerdings z. T. in wenig präziser Fonn ausfonnulierten und mit vagen Schranken~ In seinen Art. 1-3 nennt dieses folgende Verpflichtungen der Vertragsstaaten: .,obligation to adopt measures, obligation to enact domestic legislation, obligation of non-discrimination". 46 Diese umfasst gernäss Art. 27 AMRK zusätzlich zu derjenigen des Pakts ll Rechte der Familie, das Namensrecht, Rechte des Kindes, das Recht auf Staatsangehörigkeit und politische Rechte. 47 Die AMRK regelt das Vertragsüberwachungsverfahren in Art. 33-73. 48 Neben ihrer Funktion als Vertragsüberwachungsorgan ist diese Kommission zudem befugt, gegenüber Mitgliedstaaten der OAS, welche die AMRK nicht ratifiziert haben, die Beachtung der Menschenrechte anband der- rechtlich an sich unverbindlichen- Interamerikanischen Deklaration Ober die Rechte und Pflichten der Menschen aus dem Jahre 1948 zu überprüfen. 49 Dazu gehören die Inter-American Convention to Prevent and Punish Torture vom 9. Dezember 1985, das Protocol to the American Convention on Human Rights to Abolish the Death Penalty vom 8. Juni 1990, die Inter-American Convention on the Prevention, Punishrnent, and Eradication of Violence against Women vom 9. Juni 1994; die Inter-American Convention on the Forced Disappearance of Persons vom 9. Juni 1994 sowie die Inter-American Convention on the Elimination of all Forms of Discrirnination Against Persons with Disabilities vom 6. Juli 1999. 50 Vom 27. Juni 1981; abgedruckt in HRIJ 1986, 403ff; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1990, 348ff. Vgl. dazu die umfassenden Darstellungen von Bello und Ouguergouz (Charte Africaine); seit der Ratifikation dieses Vertrages durch Eritrea und Äthiopien im Jahre 1999 sind alle afrikanischen Staaten Parteien der AfMRK.

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bestimmungen versehen 51 -klassischen Freiheits- und Verfahrensrechte. Die AfMRK geht aber bereits nach dem Wortlaut ihrer Präambel davon aus, "dass der Genuss von Rechten und Freiheiten auch Pflichten insbesondere gegenüber Staat und Familie mit sich bringt" 52• Neben den sozialen und kulturellen Rechten der zweiten Generation verankert die AfMRK als weitere Besonderheit einen Katalog von Rechten der Völker53• Eine weitere Eigenart dieses Vertrages liegt in der Nichtkodifizierung einer Derogationsklausel und damit verbunden im Fehlen einer ausdrücklichen Statuierung von jederzeit geltenden, d. h. notstandsfesten Garantien 54. Die Überwachung dieses Abkommens obliegt der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker''. Neben der allgemeinen Aufgabe der Förderung der Menschenrechte hat dieses Organ die Kompetenz, sog. Staatenmitteilungen entgegenzunehmen, zu prüfen und die (vertraulichen) Resultate mit Empfehlungen an die Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) weiterzuleiten. Individualbeschwerden werden an diese Konferenz weitergegeben, falls die Kommission zum Schluss gelangt, dass sich daraus auf eine Häufung von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen schliessen lässt56• • Die vorläufig letzte umfassende regionale Konvention bildet die noch nicht in Kraft stehende Arabische Charta der Menschenrechte 51• Dieser im Rahmen der Arabischen Liga ausgearbeitete Vertrag enthält den nominell wohl umfangreichsten Katalog von Menschenrechten: Geschützt werden sowohl klassische bürger" Als Beispiel sei an dieser Stelle auf Art. 6 AtMRK hingewiesen, der bestimmt: ,)edes Individuum hat ein Recht auf Freiheit und Sicherheit seiner Person. Die Freiheit darf einem Menschen nur entzogen werden aus Gründen und unter Bedingungen, die vorher festgelegt worden sind. Insbesondere darf niemand willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten werden" . 52 Siehe dazu z. B. Ouguergouz (Charte Africaine) 233ff. 53 Das Existenzrecht, Rechte auf Selbstbestimmung, auf Souveränität über natUrliehe Reichtümer, auf friedliche Beziehungen zwischen den Staaten sowie auf eine zufriedenstellende Umwelt (Art.20ff AtMRK); dazu Ouguergouz (Charte Africaine) 131 ff. 54 Zur Auswirkung der Nichtregelung der Frage der Geltung von Menschenrechten im Notstand vgl. ausfUhrlieh unten Kap. 5, III. 5. c). Siehe dazu auch Ouguergouz (Derogation) und Oraa 201ff. 55 Im Juni 1998 wurde aber im Rahmen der OAU das Protocol to the African Charter on Human and Peoples' Rights on the Establishment of an African Courton Human and Peoples' Rights (abgedruckt in HRU 1999, 269 tl) unterzeichnet. Vgl. dazu z. B. Malwu Mutua, The African Human Rights Court: A 1\vo-Legged Stool, HRQ 1999, 342ff. 56 Zum Durchsetzungsverfahren siehe Art. 30-62 AfMRK; Ouguergouz (Charte Africaine) 293 ff und Chidi Anselm Odinlwlu/Camilla Christensen, The African Commission on Human and Peoples' Rights: The Development of its Non-State Communication Procedures, HRQ 1998, 235 ff. 57 Vom 15. September 1994, französische Übersetzung in RUDH 1995, 212f. Bis heute (Stand l. Juni 2000) wurde dieser Vertrag noch von keinem Staat ratifiziert. Siehe zu diesem Abkommen z. B. Ahmed Mahiou, La Charte arabe des droits de l'homme, M~langes offerts ~ Hubert Thierry- L'~volution du droit international, Paris 1998, 305 ff.

li. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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liehe und politische wie auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte58• Alle diese Rechte stehen jedoch unter dem Vorbehalt des Art. 4 lit. a ACMR, wonach bei gesetzlicher Grundlage und Bestehen eines legitimen Zwecks staatliche Eingriffe diesem Vertrag nicht entgegenstehen. In Notstandssituationen kann zudem unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgebotes von diesen Garantien abgewichen werden 59 • Das Durchsetzungsinstrumentarium dieser Konvention beschränkt sich auf ein obligatorisches Berichtsprüfungsverfahren vor einem unabhängigen Expertenkomitee60. c) Verstärkter Schutz durch integrale Anwendung aJJer relevanten Menschenrechtsverträge? aa) Möglichkeit der Berufung auf die günstigste Bestimmung

Die gegenwärtige (europäische) Rechtswirklichkeit zeigt, dass eine grosse Anzahl der Staaten Partei von zwei oder gar mehreren der oben aufgeführten Verträge mit sich überschneidenden sachlichen Geltungsbereichen sind61 • Zur Vermeidung eines Konflikts zwischen den in einer konkreten Situation anwendbaren Normen enthalten die meisten oben dargestellten Instrumente daher analoge sogenannte Mindeststandard- oder Günstigkeitsklauseln62 : Danach dürfen die Bestimmungeri dieser Abkommen nicht zuin Vorwand genommen werden, um die in einem Vertragsstaat geltenden weitergehenden Rechte zu beschränken oder ausser Kraft zu setzen. Damit wird zumindest auf nationaler Ebene einem betroffenen Individuum ausdrücklich die Möglichkeit geboten, sich auf die für ihn günstigste innerstaatliche oder völkerrechtliche Norm zu berufen 63 • Obwohl aus diesen Klauseln keinesfalls Art. 5-39 ACMR. Art. 4 lit. b ACMR. Notstandsfest sind jedoch das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung, das Recht auf Einreise in sein eigenes Land, das Recht auf Stellung eines Asylgesuchs, das Recht auf einen fairen Prozess, das Verbot von ne bis in idem sowie der Grundsatz von nulla poena sine lege ausgestaltet (Art. 4 lit. c ACMR). 60 Art.40 und 41 ACMR. 61 So ist von den Vertragsstaaten der EMRK einzig Andorra nicht auch Partei des Paktes II. Ähnliche Probleme stellen sich auch im Verhältnis zwischen dem Pakt I und der ESC sowie zwischen den umfassenden Kodifizierungen und den Spezialkonventionen, welche in der Re~ gel kaum Rechte kodifizieren, die nicht bereits in ähnlicher Form in anderen Instrumenten verankert sind. 62 Art. 5 Abs. 2 Pakt II, Art. 5 Abs. 2 Pakt I, Art. 1 Abs. 2 CAT, Art. 41 CRC, Art. 23 CEDW, Art. 60 EMRK, Art. 32 ESC, Art. 29lit. b AMRK. Keine diesbezügliche Bestimmung kennt die AfMRK, ihre Art. 60 und 61 weisen aber in eine ähnliche Richtung, siehe dazu Ouguergouz (Charte Africaine) 319 f. Eine weitere Statuierung des Mindeststandardscharakters ergibt sich auch aus den Schranken der jeweiligen Derogationsklauseln; siehe dazu unten Kap. 5, II. 1. d). 63 Vgl. FroweinJPeukert 738f; Cohen-Jonathan (rapports) 88ff; Velu/Ergec 5911; Jan De Meyer, BrevesreflexionsApropos de l'article 60 de Ia Convention europeenne des droits de 58

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

gefolgert werden kann, dass die günstigste anwendbare Bestimmung automatisch Bestandteil des Schutzsystems der jeweils anderen Verträge wird 64, steht dem Individuum natürlich im Fall einer Beschwerde vor einer internationalen Instanz die Auswahl des Vertragsüberwachungsorgans und damit auch der konkret anzuwendenden Bestimmungen offen. bb) Gegenseitige Beeinflussung der Praxis Die Praxis der verschiedenen vertraglich geschaffenen Überwachungsorgane dürfte sich wohl am ehesten im Falle der Möglichkeit des Weiterzuges 65 eines ablehnenden Beschwerdeentscheides eines völkerrechtlichen Organs an eine andere internationale Instanz gegenseitig beeinflussen: Alle diesbezüglich relevanten Konventionen enthalten aber ein sogenanntes Kumulationsverbot66 • Dieses ist mit Ausnahme der Regelung im Pakt 1167 definitiv, d. h. die jeweiligen Instanzen weisen jeden Fall zurück, der bereits von einem anderen internationalen Organ behandelt wird oder wurde68 • Nur aufschiebend ist hingegen dieses Verfahrenshindernis gemäss Pakt 11 69 • Abgewiesene Beschwerden der Überwachungsorgane der EMRK und der AMRK könnten deshalb in identischer Form zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte vorgelegt werden 70 • l'homme, in Matscher/Petzold (eds.), Studies in honour of Gerard J. Wiarda, Köln et al. 1988, 125 ff; Evert E. Alkema, The Enigrnatic No Pretext Clause: Article 60 of the European Convention on Human Rights, in Klabbers/Lefeber (eds.), Essays on the Law ofTreaties-A Collection of Essays in Honour of Bert Vierdag, The Hague/Boston!London 1998, 41 ff; Nowak (Kommentar) 108ff; ders. (Commentary) 100ff und Buergenthal (Respect and Ensure) 89f, der die Bestimmung von Art. 5 Abs. 2 Pakt II auch prägnant als "the most favorable-to-individual clause" bezeichnet. Im Verhältnis zwischen EMRK und Pakt II können zwischen Garantien, welche in beiden Verträgen kodifiziert sind, Unterschiede an Rechtsschutz aus unterschiedlichen Formulierungen der konkreten Garantie, aus einer- selbst bei identischem Wortlaut der Bestimmungen - unterschiedlichen Auslegung durch die entsprechenden Vertragsüberwachungsorgane sowie aus unterschiedlichen Verfahrensregelungen resultieren. Vgl. dazu Nowak (lnterrelationship) 153ff; Schmidt 629ffund Giorgio Malinverni, Les Pactes et Ia protection des droits de l'homme dans le cadre europeen, in Kälin/Malinvemi/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2. Aufl. 1997, 41 ff. 64 Nowak (Kommentar) 109; so auch Buergenthal (Respect and Ensure) 90. 65 Eine solche Möglichkeit ist jedoch nicht als eigentliches Rechtsmittel einzustufen, da eine Beschwerde von den jeweiligen Instanzen nur unter Berücksichtigung der materiellen Bestimmungen des spezifischen Vertrages geprüft wird. Andernfalls wäre die Zuständigkeit ratione materiae nicht gegeben. 66 Art. 5 Abs. 2 PP/Pakt II, Art. 22 Abs. 4 lit. b CAT, Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK, Art. 47 lit. d AMRK; siehe dazu z.B. Nowak (Kommentar) 741; ders. (Commentary) 695ff; McGoldrick 182 ff; Frowein/Peukert 613 ff und van Dijklvan Hoof 112 ff. 67 Art. 5 Abs. 2 PP/Pakt II. 61 V gl. dazu Zwaart 173 ff. ~ Siehe dazu Pappa (Anm. 23) 210ff und Nowak (Commentary) 695 ff. 70 Vgl. z. B. den Fall Coeriel and Aurik v. the Netherlands, der von der EKMR im Zulässigkeitsverfahren als offensichtlich unbegründet eingestuft wurde (Application No. 18050/91,

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Unabhängig von diesem Spezialfall ist jedoch in der neuesten Praxis der Organe von EMRK und Pakt II eine zunehmende Berücksichtigung der Rechtsprechung des jeweils anderen Spruchkörpers zu beobachten 71 • Eine eigentliche Berücksichtigungspflicht von Bestimmungen anderer Verträge und der dazugehörenden Praxis ergibt sich schliesslich aus der gleichlautenden Voraussetzung in den Derogationsklauseln des Pakts II, der AMRK und der EMRK, wonach eine rechtmässige Notstandsmassnahme nicht gegen sonstige völkerrechtliche Verpflichtungen des derogierenden Staates verstossen darf72 • Neben der offensichtlichen Tatsache, dass eine Mehrfachratifizierung von Menschenrechtsverträgen durch denselben Staat bereits an sich einen Rechtsschutzgewinn durch die Auffüllung von Lücken eines Vertrages darstellen kann, erhöht sich das Schutzniveau der den betreffenden Staat verpflichtenden Menschenrechte insbesondere durch die Möglichkeit eines betroffenen Individuums, sich auf die für ihn günstigste Norm zu berufen. Diese Kumulation des Schutzes führt somit indirekt zu einer Anhebung des Schutzstandards auf Bestimmungen mit dem weitestgehenden Geltungsbereich resp. mit den strengsten Eingriffsvoraussetzungen. Die Frage, ob eine zunehmende Verflechtung der Praxis internationaler Organe denselben Effekt zur Folge hätte, lässt sich zur Zeit hingegen noch nicht schlüssig beantworten.

Entscheid vom 2. Juli 1992), während ansebliessend eine gleichlautende Beschwerde vom Menschenrechtsausschuss gutgeheissen wurde (Communication 453/1991). Durch die Statuierung von Vorbehalten zu Art. 5 Abs. 2 FP/Pakt II wurde die Möglichkeit einer doppelten Prüfung von den meisten Europaratsstaaten ausgeschlossen. Aber z.B. die Niederlande, Portugal, Zypern, Finnland, Tschechien und die Slowakei (sowie alle Vertragsstaaten der AMRK) verzichteten auf die Anbringung derartiger Vorbehalte zum FP/Pakt II. Siehe dazu Jean Dhommeaux, Les etats parties ~ Ia convention europeenne des droits de l'homme et le comite des droits de l'homme de l' O.N. U.: De Ia cohabitation du systeme universei de protection des droits de l'homme avec le systeme europeen, in Liber amicorum M.-A. Eissen, Bruxelles 1995, 117 ff. 71 So berücksichtigte der Menschenrechtsausschuss im Fall Kindler v. Canada (Communication 470/1991 , para.15.3) zur Auslegung des Folterverbotes gernäss Art. 7 Pakt II sorgfältig die Ausführungen des EGMR in einem analogen Fall (Fall Soering v. United Kingdom, Series A Vol. 161) und kam wohl nur infolge unterschiedlicher tatsächlicher Verhältnisse zu einer rechtlich gegenteiligen Schlussfolgerung. Eine Aufstellung über die diesbezügliche Praxis der EMRK-Organe findet sich in Merrrils 198 ff und Cohen-Jonathan (rapports) 86ff. Besonders ausführlich beschäftigte sich der EGMR in einem neueren Fall, welcher das Verschwindenlassen von Personen betraf, mit der Praxis sowohl von IAGMR wie auch des Menschenrechtsausschusses, da die genannten Organe in diesem Bereich über wesentlich grössere Erfahrung besitzen. Siehe EGMR, Kurt v. Turkey judgement of 24 May 1998, Reports 1998-III, paras. 66f. 12 Siehe z. B. EGMR, Brannigan and McBride v. United Kingdom, Series A Vol. 258-B, paras. 67 ff, dazu ausführlicher unten Kap. 5, II. 1. d).

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Kap. I: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

2. Humanitäres Völkerrecht Obwohl seit der Antike Bestrebungen auszumachen sind, der Gewalt des Krieges Grenzen zu setzen73 , begann die Geschichte des modernen Kriegsvölkerrechts erst mit der Gründung des IKRK und dessen Bemühen um die Kodifikation des Kriegsrechts in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts 74• Mit den Raager Abkommen von 1899 und 1907, der teilweise bis heute in Geltung stehenden Kodifikation des eigentlichen Kriegsführungsrechts, spaltete sich das humanitäre Völkerrecht in zwei getrennte Entwicklungslinien: Das sogenannte "Haager Recht" statuiert Rechte und Pflichten der unmittelbar am Kriegsgeschehen Beteiligten sowie das Verbot des Einsatzes bestimmter Kriegsmittel 75 • Das für die folgenden Ausführungen im Zentrum des Interesses stehende sogenannte "Genfer Recht" befasst sich demgegenüber mit dem Verhalten der Parteien gegenüber nicht oder nicht mehr am Kampf beteiligten Personen 76 •

a) Die Genfer Konventionen von 1949 Die Regeln des "Genfer Rechts" sind heute vor allem in den vier unter dem Eindruck der Erfahrungen des 2. Weltkrieges 1949 kodifizierten Genfer Abkommen 77 verankert. Die ersten zwei dieser Verträge regeln klassische Materien des Kriegsrechtes: den Schutz der Verwundeten und Kranken der Landstreitkräfte78 und der Schiffbrüchigen79• Auf diese Instrumente wird deshalb im Rahmen dieser Arbeit nur punktuell eingegangen. 73 Vgl. die ausführlichen Darstellungen der Frühgeschichte des Kriegsrechts bei Pictet 6ff und Gasser (Einführung) 11 ff. 74 Genfer-Abkommen betreffend die Linderung des Loses der im Felddienste verwundeten Militärpersonen von 1864. 15 Ein Überblick über diesen Teilbereich des humanitären Völkerrechts findet sich z. B. in Gasser (Einführung) 59ff. 76 Pictet 2. Diese Abgrenzung darf aber nicht überbewertet werden, da die Grundidee beider Entwicklungslinien darin besteht, die Gewalt des Krieges auf das für die Erreichung des militärischen Ziels unentbehrliche Mass zu beschränken. Auch in formeller Hinsicht ist heute diese Trennung überwunden; insbesondere das ZPI, das zum .,Genfer-Recht" gezählt wird, entwickelt auch Elemente des ,,Haager-Rechts" weiter. 77 Zu den Anwendungsvoraussetzungen und zum Geltungsbereich dieser Abkommen vgl. ausfUhrlieh unten Kap. 2, IV. 78 Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde. Vgl. dazu IKRK (ed.), Commentary to the Geneva Convention for the Amelioration of the Condition of the Wounded and Siek in Armed Forces in the Field, Geneva 1952. 79 Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See. Vgl. dazu IKRK (ed.), Commentary to the Geneva Convention for the Amelioration of the Condition ofWounded, Siek and Shipwrecked Members of Armed Forces at Sea, Geneva 1960.

II. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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• Die 111. Genfer Konvention über die Behandlung der Kriegsgefangenen 80 in internationalen Konflikten regelt teilweise bis in kleinste Details die Behandlung dieser Gefangenenkategorie. Dies lässt diese Konvention unter menschenrechtliehen Gesichtspunkten namentlich für die Konkretisierung der Menschenrechte von Gefangenen in anderen völkerrechtlichen Instrumenten zu einer äusserst ergiebigen Fundgrube werden. Der als Basisnorm dieser Konvention zu verstehende Art. 13 statuiert den Grundsatz, wonach "Kriegsgefangene(...) jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln" sind. So sind Handlungen und Unterlassungen, welche den Tod der Kriegsgefangenen verursachen, jederzeit verboten 81 • Weitere Bestimmungen gewähren der durch diese Konvention geschützten Personenkategorie etwa grundlegende Subsistenzrechte82, normieren die Religionsfreiheit 83 und statuieren Mindestregeln, denen ein Straf- oder Disziplinarverfahren zu genügen hat84• • Die grösste Errungenschaft wurde aber 1949 wohl durch das W. Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten 85 erreicht. Mit dieser Konvention wurde Neuland beschritten86, welches das humanitäre Völkerrecht gegenüber dem System der Menschenrechte öffnete: Mit seinem Regime über besetzte Gebiete 87 normiert dieses Abkommen den Schutz der Bevölkerung gegenüber einem - allerdings fremden resp. feindlichen- Machthaber; eine Aufgabe, die gegenüber den eigenen Staatsorganen traditionell die Menschenrechte wahrnehmen. Diese Parallele wird durch die Regelung von Art. 6 Abs. 3 GK IV unterstrichen, wonach die Besatzungsmacht, "soweit sie die Funktion einer Regierung ausübt", während der Dauer einer Besatzung durch diese Konvention gebunden bleibt. Diese Bestimmung zeigt auch auf, dass der zeitliche Geltungsbereich des humanitären Völkerrechts nicht notwendigerweise auf die Zeitspanne der eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen begrenzt bleiben muss. Folgerichtig enthalten denn auch insbesondere die während eines Besatzungszustandes anwendbaren Bestimmungen dieser Konvention Garantien klassischer Menschenrechte, wie z. B. die Religionsfreiheit88, Subsistenzrechte89, die Bewegungsfreiheit90 und jusVgl. dazu die umfassenden Darstellungen in GK-Jli-Kommentar und Fischer 260ff. Siehe zu dieser Bestimmung GK-Jli-Kommentar 140 und Fischer 266ff. Elemente eines Folterverbotes finden sich z. B. auch in den Art. 14 Abs. 1, 17 Abs.4, 87, 89 und 99 GKIII. 82 Art. 25-32 GKIII: Recht auf angemessene Unterkunft, auf Nahrung sowie auf ärztliche Betreuung. Die Formulierung dieser Ansprüche findet eine erstaunliche Parallelität in den entsprechenden Rechten der Sozialpakte; vgl. dazu GK-lll-Kommentar 192 ff und Fischer 285 ff. 83 Art. 34 GK Ill. GK-111-Kommentar 226 ff und Fischer 287 f. 84 Art. 82 ff GK III. GK-111-Kommentar 406ff und Fischer 293. IB Eine Kornrnentierung dieses Instruments findet sich in GK-/V-Kommentar. 16 Gasser (humanitäres Völkerrecht) 508 und ders. (Einführung) 17. 87 Art. 27-34 und 47-78 GKIV. 88 Art. 27 und 58 GKIV. 89 Art.55ff GKIV; dazu ausführlich Kap.3, Il. l.a)bb). 90 In Form des Anspruchs auf Verlassen der besetzten Gebiete; Art. 48 GK IV. 80 81

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

tizielle Garantien 91 • Auch innerhalb eines weiteren Sonderregimes, desjenigen über die Behandlung von Internierten92, finden sich menschenrechtliche-mit entsprechenden Normen der GK III vergleichbare - Bestimmungen. Neben diesen beiden besonders geschützten Personenkategorien gewährt die GK IV aber auch der übrigen Zivilbevölkerung, die nicht von der Regelung eines dieser beiden Sonderregimes profitieren kann, weitere - allerdings weniger umfassende - menschenrechtliche Positionen93 • • Eine weitere grundlegende Errungenschaft der Genfer Konventionen ist in ihrem gemeinsamen Art. 3 enthalten, der einen Kernbestand von Garantien menschlicher Behandlung auch in Konflikten nicht-internationalen Charakters94 für anwendbar erklärt, indem er folgende Handlungen .,jederzeit und jedenorts" verbietet: ,.a. Angriffe auf Leib und Leben, namentlich Mord jeglicher Art, VerstUmmelung, grausame Behandlung und Folterung; b. die Gefangennahme von Geiseln; c. Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung; d. Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergebendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichts,(... )".

Während das humanitäre Völkerrecht bisher ausschliesslich das Verhältnis zwischen Staaten und Angehörigen des Feindstaates regelte, normiert diese grundlegende Bestimmung damit auch die Beziehung zwischen Staaten und ihren eigenen Staatsangehörigen95 • b) Die Zusatzprotokolle von 1977

Die Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen 96 stellen den bis jetzt letzten Schritt der Fortentwicklung des Genfer Zweigs des humanitären Völkerrechts dar: • Das ZPI 97 , das grundsätzlich nur während internationalen bewaffneten Konflikten zur Anwendung gelangt, enthält neben Normen, welche das Haager-Recht sowie den in den GKI und Il enthaltenen Rechtszweig des Genfer-Rechts weiter koArt.65-67, 71-73 und 75 GKIV. Art. 79--139 GK IV. 93 Vgl. Art. 27-34 GKIV. 94 Zur Definition dieser Konfliktskategorie siehe unten Kap. 2, IV. 3. c ). 9S V gl. Kimminich 46 f und Dietrich Schind/er 331. 96 V gl. die umfassenden Kommentierungen dieser Verträge in ZP -Kommentar und in Bothel Partsch/Solf. rn Siehe zu diesem Vertrag insbesondere Christopher Greenwood, A Critique of the Additional Protocols to the Geneva Conventions of 1949, in Durham/McCormack (eds.), The Changing Face of Conflict and the Eflicacy of International Humanitarian Law, The Hague/ London/Boston 1999, 3ff. 91

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II. Schutz des Individuums im Völkervertragsrecht

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difizieren 98 , in seinem 4. Teil auch Garantien zugunsten der Zivilbevölkerung. Zwei Bestimmungen davon verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit: Art. 54 ZP I verpönt das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung und verbietet generell die Zerstörung von für die Zivilbevölkerung lebenswichtigen Objekten99 • Eine subsidiäre Minimalgarantie grundsätzlichster Menschenrechte für Personen, die nicht bereits durch andere Konventionen geschützt werden 100, ist schliesslich in der wohl bedeutsamsten Bestimmung des ZPI, derjenigen von Art. 75, enthalten: Danach sind neben einem allgemeinen Gebot zur menschlichen Behandlung und einem Diskriminierungsverbot folgende Handlungen mit einem absolut geltenden Verbot belegt: ,.a) Angriffe auf das Leben, die Gesundheit oder das körperliche oder geistige Wohlbefinden von Personen, insbesondere i) vorsätzliche Tötung, ii) Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch, iii) körperliche Züchtigung und iv) Verstümmelung; b) Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und erniedrigende Behandlung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art; c) Geiselnahme; d) Kollektivstrafen und e) die Androhung einer dieser Handlungen" 101 •

• Das ZPII hingegen, dessen Anwendungsbereich ausschliesslich nicht internationale bewaffnete Konflikte umfasst 102, versteht sich ausdrücklich als Weiterentwicklung des oben erwähnten gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen 103 • Unter dem Ingress .,Grundlegende Garantien" enthält dieser Vertrag eine eigentliche Kurzkodifikation grundsätzlichster Menschenrechte. Zusätzlich zu den nach Art. 75 ZP I verpönten Handlungen führt Art. 4 Abs. 2 ZP II die Tatbestände .,terroristische Handlungen, Sklaverei und Sklavenhandel in allen ihren Formen [und] Plünderung" auf. Analog der GKIII für internationale Konflikte gewährleistet Art. 5 ZP II weiter grundlegendste Rechte von .,Personen, denen die FreiArt. S-47 ZPI. Diese Norm ist dogmatisch gesehen eigentlich Teil des "Haager-Rechts", da sie nicht den Schutz von nicht oder nicht mehr am Kampf beteiligten Personen normiert, sondern bestimmte Kampfmethoden untersagt. Vgl. zu dieser Norm ZP-Kommentar Rz. 2083ff; Bothe/Partschi Solf334 ff und Breining-Kaufmann 195 ff. Eine analoge Bestimmung ist für interne bewaffnete Konflikte in Art.l4 ZPII verankert. 1oo Vgl. dazu Bothe/Partsch/Solf 451 und unten Kap. 2, IV. I . b). 1o1 In Abs. 4 enthält Art. 75 ZP I zudem grundlegende strafprozessuale Garantien wie z. B. die Grundsätze von nulla poena sine lege und ne bis in idem, die Unschuldsvermutung, das Gebot einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit, das Recht auf persönliche Teilnahme des Angeschuldigten an der Hauptverhandlung sowie ein Fragerecht des Angeschuldigten gegenüber Belastungszeugen. In diesem Zusammenhang sind auch die Bestimmungen der Art. 76fZPI zu beachten, welche Frauen und Kindern besonderen Schutz gewähren. Vgl. die Kommentierung dieser Regelungen in ZP-Kommentar Rz. 3147ff und in Bothe/Partsch/Solf 452ff. 102 V gl. dazu unten Kap. 2, IV. 3. c ). 1o3 So ausdrücklich Präambel Abs.l ZPII. 98 99

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

heit entzogen wurde", währenddem in Art. 6 ZPII schliesslich grundlegende Prozessgarantien in Strafverfahren vorgeschrieben sowie ein Verbot der Todesstrafe für Jugendliche unter 18 Jahren zwingend verankert 104 werden.

111. Der Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht Obwohl im Völkerrecht die Geltungsgründe Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze mangels eines zentralen Rechtsetzungsorgans eine gewichtigere Rolle spielen als im nationalen Recht 105 , besitzen diese Rechtsquellen angesichts der fortgeschrittenen Kodifizierung und der Schwierigkeit, ungeschriebene Garantien des Individuums durchzusetzen 106, eine im Vergleich zum vertraglichen Menschenrechtsschutz untergeordnete praktische Bedeutung. Aus zwei Gründen ist der Einfluss dieser Rechtsquellen im Bereich der Menschenrechte aber trotzdem beachtlich. Erstens besitzen die meisten menschenrechtliehen Abkommen nach wie vor keinen universellen Ratifikationsgrad und zweitens beinhalten die ungeschriebenen Verpflichtungen zum Schutz von Individuen teilweise das Potential einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs ihrer vertraglichen Parallelnormen. Im Folgenden soll deshalb in einem ersten Schritt auf die Voraussetzungen der Entstehung von ungeschrieben~n menschenrechtliehen Verpflichtungen eingegangen werden. Daran ansebliessend gilt es, die Meinungen der Praxis und der Lehre zum Umfang dieser Garantien zusammenzutragen. Bevor in einem letzten Abschnitt kurz das praktische Potential dieser ungeschriebenen Garantien im heutigen System des internationalen Menschenrechtsschutzes ausgelotet wird, sind die Menschenrechte dieser Rechtsquellen mit anderen allgemeinen geltenden Rechtsfiguren 104 Zwar ausgesprochen, aber nicht vollstreckt werden darf diese Sanktion gegenüber schwangeren Frauen und Müttern kleiner Kinder. Die Garantien der Art.4-6 ZPII werden in BothelPartsch/Solf 635 ff und ZP -Kommentar Rz. 4515 ff ausführlich dargestellt. 105 Verdross/Simma 345. 106 Infolge der an völkerrechtlichen Standards gemessen sehr effizienten Durchsetzungsinstrumentarien menschenrechtlicher Verträge spielen die Durchsetzungsinstrumente des allgemeinen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte eine bescheidene Rolle: Zu erwähnen gilt es insbesondere das vertrauliche sogenannte 1503-Verfahren, welches die UNO-Menschenrechtskommission berechtigt, Mitteilungen zu behandeln, welche "ein Regelbeispiel von schweren und zuverlässig bezeugten Verletzungen von Menschenrechten erkeMen lassen" (ECOSOC Resolution 1503, para.5). Führt dieses nichtöffentliche Verfahren nicht zum Erfolg, kann es in das öffentliche aufECOSOC Resolution 1235 abgestützte sogenannte 1235-Verfahren übergeleitet werden, in welchen z. B. auch Sonderberichterstatter eingesetzt werden können (siehe dazu z. B. Philip Alston, The Commission on Human Rights, in ders. [ed.], The United Nationsand Human Rights- A Critical Appraisal, Oxford 1992, 146ff, und Manfred Nowak, Country-oriented Human Rights Protection by the UN Commission on Human Rights and its Sub-Commission, NYIL 1991, 46ft). Neben diesen ausservertraglichen, sogenannten Charta-Verfahren können zumindest theoretisch gewohnheitsrechtlich verankerte Menschenrechte auch mittels Klage eines Staates vor dem IGH durchgesetzt werden.

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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des Völkerrechts zu vergleichen. Dieses Vorgehen wird deshalb gewählt, da Rechtskonstruktionen wie ius cogens und erga omnes Verpflichtungen - oft nur teilweise zurecht 107 - meist im Zusammenhang mit gewohnheitsrechtliehen Verpflichtungen angesprochen werden.

1. Der Nachweis von aussecvertraglich geltenden MenschenreChtsgarantien Gernäss Art. 38 lOH-Statut bedarf es zum Nachweis von Gewohnheitsrecht "einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung". Erforderlich für die Geltung einer Regel als Gewohnheitsrecht ist deshalb als objektives Element das Vorhandensein einer allgemeinen Staatenpraxis sowie als subjektives Element die Anerkennung dieser Praxis als Recht 108 • Der Nachweis dieser Übung erweist sich aber in Rechtsgebieten, wo, wie im Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes, keine oder nicht primär reziproke Interessen der Staaten aufeinandertreffen 109, als äusserst problematisch 110• TrotzSiehe dazu unten Abschn.4 und 5. Siehe zu diesen Voraussetzungen z.B. Verdross!Simma 349ff mit weiteren Hinweisen und V. D. Degan, Sources of International Law, The Hague/Boston/London 1997, namentlich 142ff. 109 V gl. Art. 60 Abs. 5 VRK, wo festgelegt wird, im Unterschied zu übrigen Verträgen sei bei "Bestimmungen über den Schutz der menschlichen Person" eine Vertragsverletzung kein Grund für die Beendigung eines Vertrages durch eine andere VertragsparteL Diese Vertragsklausel bezieht sich primär auf das humanitäre Völkerrecht, doch ist, wie hinten zu zeigen sein wird (siehe Kap. 5, III. 2. b)), heute allgernein anerkannt, dass mit dieser Bestimmung auch menschenrechtliche Positionen geschützt werden. Andererseits gilt die Aussage einer nicht reziproken Grundstruktur nur in abgeschwächter Form für das humanitäre Völkerrecht, das zumindest gernäss seiner Grundkonzeption auf der Idee aufbaut, ein Staat werde durch das Wissen einer ebensolchen Verhaltensweise des gegnerischen Staates zur menschlichen Behandlung gegnerischer Staatsangehöriger hors de combat motiviert. Wie das Urteil der Appeals Chamber des ICTY im Urteil The Prosecutor v. Dusko Tadic (Decision on the defence motion for interlocutory appeal on jurisdiction, Case No. IT-94-l-AR72, Decision of 2 October 1995, paras. 96 ff, abgedruckt in ILM 1996, 35ft) eindrUcklieh aufzeigt, leisten in diesem Rechtsgebiet auch Militär-Handbücher wertvolle Hinweise zur Eruierung der Staatenpraxis. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte (daneben bleibt aber auch der beinahe universelle Ratifikationsgrad insb. der GK I-IV zu berücksichtigen) überrascht es auch nicht weiter, dass die internationale Doktrin gewohnheitsrechtlich geltende Menschenrechtsgarantien bevorzugt aus diesem Rechtsgebiet herleitet. 110 Die Problematik wird noch durch die Tatsache akzentuiert, dass Menschenrechte die Staaten häutig zu einem Unterlassen verpflichten und deshalb eine Übung in Form des NichtHandeins eruiert werden muss. Eine Möglichkeit des Nachweises der Staatenpraxis liegt jedoch- wie im Tadic-Urteil des ICTY aufgezeigt (appeal on jurisdiction, Anm. 109, paras. 120ft)- im Nachweis der Reaktion von Drittstaaten auf Verletzungen von Menschenrechten durch einen Staat, welcher nicht vertraglich zur Einhaltung der betreffenden Garantie verpflichtet ist. Weiter kann auch das Abstimmungsverhalten der Staaten in der UNO-Generalversammlung resp. in der Menschenrechtskommission Beleg einer staatlichen Übung sein (Simma/Alston [Sources] 98). 1o1

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Kap. I: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

dem werden in der Lehre Menschenrechte unterschiedlichsten Umfanges explizit auf diese Rechtsquelle gestützt 111 • Andererseits bewogen die Schwierigkeiten des Nachweises einer staatlichen Übung 112 einen Teil der völkerrechtlichen Doktrin dazu, Abstand von der Theorie einer gewohnheitsrechtliehen Abstützung von Menschenrechten zu nehmen und stattdessen die AEMR und weitere Resolutioneil menschenrechtliehen Inhaltes der Generalversammlung der UNO als autoritative Auslegung der UNO-Charta 113 zu betrachten oder fundamentale Menschenrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze 114 i. S. v. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut zu qualifizieren. Insbesondere die letzte Meinung findet ihre Bestätigung auch in der Praxis des IGH, welcher die ausservertragliehe Geltung der Menschenrechte bisher nur selten explizit auf die Rechtsquelle Gewohnheitsrecht abstützte 115• Auch wenn umstritten ist, auf welche Basis sich ausservertraglich geltende Menschenrechte stützen können, so herrscht in Lehre und Praxis doch allgemeiner Konsens bezüglich der Existenz von menschenrechtliehen Garantien ausserhalb des geschriebenen Völkerrechts an sich 116• Gegenstand unterschiedlichster Meinungen ist zudem weiterhin die Frage, welche Menschenrechte gegenwärtig unabhängig von vertraglichen Verpflichtungen der Staaten Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts sind. 2. Umfang der ausservertraglich geltenden Menschenrechte

a) Praxis Infolge der Schwierigkeiten eines unzweideutigen Nachweises von Staatenpraxis und der allgemeinen Unsicherheit bezüglich der Rechtsquelle "allgemeine Rechtsgrundsätze" erlangte in diesem Gebiete des Völkerrechts die Judikatur internationaler Organe faktisch eine überragende Bedeutung zur Abklärung des Umfanges ausservertraglieh geltender Garantien. Es lassen sich dabei entsprechende Festlegungen von IGH 117 und anderen universellen gerichtsähnlichen Instanzen (a), von Sicherheitsrat und Sonderberichterstattern der Menschenrechtskommission der UNO resp. von Staatenkonferenzen (b) sowie von regionalen resp. nationalen Gerichtsinstanzen (c) unterscheiden: 111 Siehe z. 8. Restatement § 702; Higgins (Problems and Process) 18ff; Henkin 180f; Meron (Customary Law) 3ffund 79ffmit weiteren Hinweisen und ansebliessend Abschn.2.b). 112 Siehe auch Verdross/Simma 822, die elementare Menschenrechte der AEMR ohne Hinweis auf eine spezifische Rechtsquelle als völkerrechtsverbindlich einstufen; ähnlich Oraa 215. 113 Vgl. die Nachweise bei Simma/Alston (Sources) lOOf. 114 Simma/Alston (Sources) 102ft'; Simma (Analysis) 224ft'. m Siehe dazu gleich anschliessend. 116 Kälin (Bedeutung) 74. 117 Siehe dazu den Überblick in Schwelb 957ff.

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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(a)Bereits im Jahre 1949 leitete der IGH im Korfu-Kanal-Fall eine Verpflichtung der Staaten aus "certain general and well-recognized principles namely on certain elementary considerations of humanity, even more exacting in peace than in war" 118 her. Zwei Jahre später- in seinem Gutachten zur Gültigkeit von Vorbehalten zur Genozidkonvention -anerkannte der Gerichtshof erstmals explizit die Geltung ungeschriebener Menschenrechte 119: ,.The origins of the Convention show that it was the intention of the United Nations to condemn and punish genocide as ,a crime under internationallaw' involving a denial of the right of existence of entire human groups, a denial which shocks the conscience of mankind and results in great Iosses to humanity, and which is contrary to morallaw and to the spirit and aims of the United Nations. The first consequence arising from this conception is the principles underlyin~the Convention are principles which are recognized by civilized nations as binding on States, even without any ·conventional obligation".

Im Jahre 1970 hielt der Gerichtshof in einem berühmten obiter dieturn im Barcelona Traction Fall fest 120: ,.33. (...)In particular, an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-a-vis another State in the field of diplomatic protection. By ßteir very nature the forrner are the concern of all States. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are Obligations erga omnes. 34. Such Obligations derive, for example, in contemporary international law, from the outlawing of acts of aggression, and of genocide, as also from the principles and rules concerning the basic rights of the human person, including protection from slavery and racial discrimination. Some of the corresponding rights of protection have entered into the body of general internationallaw (...); others are conferred by international instruments of a universal or quasi-universal character".

Der Gerichtshof statuierte mit dieser Aussage zweierlei: Erstens anerkannte er, dass die Beachtung grundlegender Menschenrechte eine Verpflichtung erga omnes darstelle, und damit der gesamten Staatengemeinschaft- und nicht nur direkt betroffenen Staaten- ein rechtliches Interesse an deren Schutz verschaffe 121 • Als m ICJ Reports 1949, 22. Eine Begründung für die Anerkennung dieses ungeschriebenen Grundsatzes wird im Urteil nicht angegeben. 119 Advisory Opinion conceming Reservation to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, ICJ Reports 1951, 23. 120 Case concerning -the Barcelona Traction, Light and Power Company Limited, second phase, ICJ Reports 1970, 32. 12 1 Siehe zu den menschenrechtliehen Verpflichtungen erga omnes z. B. Meron (Custornary Law) 188ff; Prowein (erga omnes) insb. 243ff; Hannilwinen 269ff; Schachter 342ff; Ragazzi 1 ff; Bryde 165 ff; de Hoogh 49ff und 91 ff; ders., The Relationship between Jus Cogens, Obligations Erga Omnes and International Crimes, Austrian Journal of Public and International Law 1991, 183 ff und lost Delbrück, Erga Omnes Norms in International Law, in Götz/Selmer/ Wolfrum (Hrsg.), Liber amicorum Günther Jaenicke- Zum 85. Geburtstag, Berlin u. a. 1998, 17 ff. Zum Konzept der Verpflichtungen erga omnes und dessen Verwandtschaft zu universell geltenden ungeschriebenen völkerrechtlichen Verpflichtungen siehe unten Abschn.5. 4*

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

Beispiel von Normen, deren Missachtung eine derartige Wirkung auslösen, führt der Gerichtshof das Genozidverbot sowie "basic human rights" wie das Sklavereiverhot und das Verbot der Rassendiskriminierung an. Zweitens statuiert der Gerichtshof, dass diese Wirkung sowohl Normen, die Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts sind, als auch solchen, die ins Vertragsrecht inkorporiert wurden, zukommen kann 122• Ausdrücklich als erga omnes Norm des "general international law" bezeichnet wird nur das Genozidverbot. Obwohl deshalb aus der erga omnes Geltung einer völkerrechtlichen Norm keine direkte Schlussfolgerung auf deren ausservertragliche Geltung gezogen werden kann 123, wurde die oben zitierte Urteilspassage in der Lehre teilweise als Beleg für eine gewohnheitsrechtliche Geltung von grundlegenden Menschenrechten gedeutet124• Einen anderen Ansatz zur Begründung allgemein geltender Menschenrechte, in concreto des Verbotes von willkürlicher Haft und Misshandlungen, die Herleitung aus der UNO-Charta und der AEMR 125, wählte der Gerichtshof im Fall United States Diplomatie and Consular Staff in Tehran. In diesem Urteil führte der Gerichtshof aus 126: "Wrongfully to deprive human beings of their freedom and to subject them to physical constraint in conditions of hardship is in itself manifestly incompatible with the principles of the Charter of the United Nations, as well as with the fundamental principles enunciated in the Universal Declaration of Human Rights". Meron (Customary Law) 31. Claudia Annacker, The Legal Regime of Erga Omnes Obligations in International Law, Austrian Journal of Public and International Law 1994, 136: .,The concept of erga omnes is equally applicable to treaty law and customary law. The source of a norm by itself does not allow any conclusions regarding the structure of the obligations imposed (...)". 124 Siehe z. B. Kälin (Bedeutung) 74 und Meron (Customary Law) 192, der ausführt: "The opinion in the Barcelona Traction contains an indication that the Court perhaps did not intend to bestow erga omnes character upon all human rights, but only on rights which have matured into customary or generallaw of nations". Eine Verlmüpfung zwischen erga omnes Verpflichtungen und Gewohnheitsrecht zieht auch das Restatement in § 703, para. 2: ,,Any State may pursue international remedies against any other state for a violation of the customary international law of human rights". Diese Meinung kann sich wiederum indirekt auf die erwähnte Aussage des IGH stützen, wonach erga omnes Verpflichtungen sich entweder auf korrespondierende Rechte im allgemeinen Völkerrecht oder aber in universellen oder quasi-universellen Verträgen abstützen, die deshalb unabhängig von ihrer eigentlichen Rechtsgrundlage eine universelle Geltung besitzen, da sie sich an die gesamte Staatengemeinschaft richten. 125 Eine ähnliche Herleitung zur Begründung der ausservertraglichen Geltung des Rassendiskriminierungsverbotes wandte der IGH bereits in seinem Gutachten über Legal Consequences for the Continued Presence of South Africa in Namibia (South-West Africa) Notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) an (ICJ Reports 1971,57, para.131): "Under the Charter of the United Nations, the former mandatory bad pledged itself to observe and respect, in a territory having an international status, human rights and fundamental freedoms for all without distinction as to race. To establish instead, and to enforce, distinctions, exclusions, restrictions and limitations exclusively based on grounds of race, colour, descent or national or ethnic origin which constitute a denial of fundamental human rights is a flagrant violation of the purposes and principles of the Charter''. 126 ICJ Reports 1980,43, para. 91. 122

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111. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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Unter anderem mit der aussecvertraglichen Geltung von Prinzipien, wie sie im humanitären Völkerrecht verankert sind 127, hatte sich der IGH im NicaraguaFal/1u zu befassen 129 : .,[T]he conduct of the United States may be judged according to the fundamental general principles of humanitarian law; in its view, the Geneva Conventions are in some respects a development, and in other respects no more than the expression, of such principles".

Als solches fundamentales Prinzip des humanitären Völkerrechts 130 stufte das Gericht anschliessend explizit den gemeinsamen Art. 3 der GK ein. Damit anerkannte es, dass zumindest während bewaffneten Auseinandersetzungen eine ungeschriebene Verpflichtung zur diskriminierungsfreien, menschlichen Behandlung von Personen, welche nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen und namentlich der Verbote von Mord und Folterung, von Geiselnahme und Beeinträchtigung der persönlichen Würde durch erniedrigende und entwürdigende Handlung sowie von willkürlichen Verurteilungen und Hinrichtungen besteht. Wiederum zum Rechtscharakter von Bestimmungen des humanitären Rechts nahm der Gerichtshof in seinem Gutachten zur Zulässigkeif der Drohung mit und des Gebrauchs von Nuklearwaffen aus dem Jahre 1996 Stellung 131 • Dabei bemerkte dieses Organ: .,79. It is undoubtedly because a great many rules of humanitarian law applicable in arrned conßict are so fundamental to the respect of the human person and ,elementary considerations of humanity' as the Court put it in its Judgment of 9 April 1949 in the Corfu Clulnnel Case ( ...), that the Hague and Geneva Conventions have enjoyed a broad 127 Diese Frage stellte sich deswegen, da zwar beide Streitparteien die Genfer Konventionen unterzeichnet hatten, die relevante Bestimmung aber gernäss Vertragsrecht nur in internen bewaffneten Konflikten zur Anwendung kommt. Vorliegend wollte aber der IGH keine Stellung zum Charakter des Konflikts beziehen, weshalb er nur Bestimmungen anwenden konnte, welche sowohl während internationalen als auch während internen Konflikten anwendbar sind. Siehe zu den Anwendungsvoraussetzungen des humanitären Völkerrechts in den verschiedenen Kategorien bewaffneter Auseinandersetzungen detaiUiert unten Kap. 2, IV. 3. 128 Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, ICJ Reports 1986, 14ff. Siehe zur Bedeutung dieses Urteils ausführlich Meron (Customary Law) insb. 25 ff. 129 ICJ Reports 1986, 113, para.218. 130 Dieses Diktum wirdmit derunter anderem in allen vierGK (Art.63 GKI, Art.62 GKII, Art.142 GKIII resp. Art. I 58 GKIV) und in Art.l Abs.2ZPI verankerten sog. Martensklausel begründet, die im Wortlaut der letztgenannten Bestimmung festhält: ,,In Fällen, die von diesem Protokoll oder anderen internationalen Übereinkünften nicht erfasst sind, verbleiben Zivilpersonen und Kombattanten unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts, wie sie sich aus feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus der Forderung des öffentlichen Gewissens ergeben". Obwohl der IGH den gemeinsamen Art. 3 GK an keiner Stelle explizit als Bestandteil des Gewohnheitsrechtes bezeichnet, wurde dieses Urteil in der Doktrin als Beleg für eine solche Geltung genommen; siehe Schwelb 967; Meron (Customary Law) 37. 131 IGH, Advisory Opinion on the Legality ofthe Threat or Use ofNuclear Weapons, lCJ Reports 1996, abgedruckt in ILM 1996, 827.

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis accession. Further these rules are to be observed by all States whether or not they have ratified the conventions that contain them, because they constitute intransgressible principles of international customary law" 132•

Explizit zur gewohnheitsrechtliehen Geltung von Menschenrechten äusserte sich auf universeller Ebene auch der Ausschuss für Menschenrechte, indem er im Rahmen des General Comments zur Zulässigkeit von Vorbehalten zum Pakt 11 133 eine Auflistung von Garantien dieses Abkommens veröffentlichte, welche bereits kraft ungeschriebenem Völkerrecht zu beachten sind. Demnach kann ein Vertragsstaat infolge des gewohnheitsrechtliehen Charakters ,,not reserve the right to engage in slavery, to torture, to subject persons to cruel, inhuman or degrading treatment or punislunent, to arbitrarily deprive persons of their lives, to arbitrarily arrest and detain persons, to deny freedom of thought, conscience and religion, to presume a person guilty unless he proves his innocence, to execute pregnant women or children, to permit advocacy of national, racial or religious hatred, to deny to persons of marriageable age the right to marry, or to deny to minorities the right to enjoy their own culture, profess their own religion, or use their own language. And while reservations to particular clauses of Article 14 may be acceptable, a general reservation to the right to a fair trial would not be" 134•

Damit betont dieses Organ, dass mindestens die notstandsfesten Bestimmungen des Pakts II sowie dessen zentralste Freiheitsrechte mittlerweile eine rein deklaratorische Verankerung von universellem Gewohnheitsrecht darstellen. Weitere Belege zum Bestand des Korpus der ungeschrieben geltenden Menschenrechte finden sich auch in Urteilen des Jugoslawien resp. des Ruanda Tribunals. Da sich jedoch diese Aussagen nicht primär zur ungeschriebenen Geltung einzelner Garantien des humanitären Völkerrechts an sich äussem, sondern sich mindestens ebenso sehr mit der Frage einer Ausdehnung des situationsbe132 Zur BegrUndung dieser Einstufung führt der IGH weiter aus: "82. The extensive codification ofhumanitarian law and the extent ofthe accession to the resultant treaties, as weil as the fact that the denunciation clauses that existed in the codification instruments have never been used, have provided the international community with a corpus of treaty rules the great majority of which had already become customary and which refiected the most universally recognized humanitarian principles". 133 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 24/52. Eine BegrUndung für die gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Rechte wird auch in diesem Dokument nicht geliefert, doch scheint sie sich an der Liste der nicht demgierbaren Rechte von Art. 4 Pakt U zu orientieren (a. a. 0 ., para. 10). 134 lbid., para. 8. Diese zitierte Liste gewohnheitsrechtlich geltender Menschenrechte blieb jedoch nicht unwidersprochen. So erhoben z. B. die USA folgende Einwendungen (UN. Doc. A/50/40, 133): ,,Paragraph 8, however, asserts in a wholly conclusory fashion that a number of propositions are customary law which, to speak plainly, are not. lt cannot be established on the basis of practice or other authority, for example, that the rnere expression (albeit deplorable) of national, racial or religious hatred ( ...) is prohibited by customary intemationallaw. ( ...) Sirnilarly, while many are opposed to the death penalty in general and the juvenile death penalty in particular, the practice of States demonstrates that there is currently no blanket prohibition in customary intemationallaw".

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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dingten Geltungsbereichs spezifischer Garantien dieses Rechtsgebietes kraft ungeschriebenen Rechts befassen, kann an dieser Stelle auf die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2 verwiesen werden 135 • Dieser Schluss gilt jedoch nicht für die Rechtsgrundlagen dieser Strafgerichte an sich, die einige Aufschlüsse für die hier relevante Frage liefern können und die deshalb gleich ansebliessend näher zu betrachten sind. (b)Wesentliche Akzente zur Abklärung des Bestandes ungeschriebener Menschenrechte des allgemeinen Völkerrechts trugen die Bemühungen zur Schaffung von Organen zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts bei. So bestand infolge des FehJens eines allgemein anerkannten internationalen Strafkodexes für den UN-Sicherheitsrat anlässlich der Ausarbeitung des Statuts für das Internationale Tribunal zur Bestrafung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien 136 das zwingende Erfordernis, nur die Verletzung von solchen Rechten für strafbar zu erklären, die zumindest während bewaffneten Auseinandersetzungen "beyond any doubt part of customary Jaw" 137 sind. Als solche wurden schwere Verletzungen der Genfer Konventionen (Grave Breaches of the Geneva Conventions of 1949) 138, Kriegsverbrechen (Violations of the Jaws or customs of war) 139, Genozid140 sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Crimes against humanity) 141 festgelegt 142. m Siehe dazu ausfUhrlieh unten Kap. 2, IV. 3. Statute of the International Tribunal, SR-Resolution 827 (1993), abgedruckt in ILM 1993, 1163ffund ZaöRV 1994, 433ff; vgl. dazu z.B. Karin Oellers-Frahm, Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, ZaöRV 1994, 416ff; Herwig Roggemann, Der internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und der Krieg auf dem Balkan, Berlin 1994 und Danie/ Thürer, Vom Nürnberger Tribunal zum Jugoslawien Tribunal und weiter zu einem Weltstrafgerichtshof?, SZIER 1993, 491 ff. 137 Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993), UN Doc.S/25704, abgedruckt in ILM 1993, 1163ff. Aus der folgenden Liste kann auch eine gewisse Staatenpraxis eruiert werden, da, soweit ersichtlich, dieses Statut auch von den Nichtmitgliedstaaten des SR akzeptiert wurde, sei dies durch aktive Unterstützung des Gerichtshofs oder mindestens durch stillschweigenden Konsens (Kälin [Kuwait] FN 102). 138 Art. 2 ICTY Statut; im Einzelnen z.B. "(a) wilful killing; (b) torture or inhuman treatment; including biological experiments; (c) wilfully causing great suffering or serious injury to body or health; (d) extensive destruction and appropriation of property, not justified by military necessity and carried out unlawfully or wantonly; (...); (f) wilfully depriving a prisoner of war or a civilian of the rights of fair and regular trial; (g) unlawful deportation or transfer or unlawful confinement of a civilian; (h) taking civilians as hostages". Als BegrUndung für die Einstufung dieser Bestimmunge1Clils Bestandteil des Gewohnheitsrechts hält der oben erwähnte Report des Generalsekretärs lapidar fest: "The Geneva Conventions constitute rules of international humanitarian law and provide the core of customary law applicable in intemationallaw" (para. 37). 139 Art. 3 ICTY Statut. 140 Auf die Genozidkonvention abstützend, welche "is today considered part of international customary law as evidenced by the International Court of Justice in its Opinion on Reservation to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide ( ..)" (Report des Generalsekretärs, para. 45), werden gernäss Art. 4 ICTY Statut dazu folgende Handlungen ge136

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

Noch einen bedeutenden Schritt weiter ging der Sicherheitsrat der UNO anlässlich der Ausarbeitung des Statuts für das Internationale Tribunal für Ruanda 143 : Währenddem sich der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zumindest teilweise als internationaler Konflikt einstufen lässt 144 und sich der SR demzufolge stark an den universell ratifizierten Genfer Konventionen I-IV orientieren konnte, präsenzählt: ,.(a) killing members of the group; (b) causing serious bodily or mental harm to members ofthe group; (c) deliberately infiicting on the group conditions oflife calculated tobring about its physical destruction in whole or in part; (d) imposing measures intended to prevent births within the group; (e) forcibly transferring children of the group to another group". 141 Art. 5 ICTY Statut fUhrt folgende gegen die Zivilbevölkerung gerichtete und in einem internen oder internationalen bewaffneten Konflikt begangene Tatbestände auf: ,.(a) murder; (b) extermination; (c) enslavement; (d) deportation; (e) imprisonment; (t) torture; (g) rape; (h) persecutions on political, racial and religious grounds; (i) other inhumane acts". 142 Diese Liste der Straftatbestände des ICTY Statuts stützt sich wesentlich auf die draft articles 19 ff des Draft Code of Crimes against the Peace and Security ofMankind der ILC (Official Records of the General Assembly, 46th session, Supplement No.lO [A/46/10] 246ff), gernäss welchen neben Genozid, Apartheid und aussergewöhnlich schweren Kriegsverbrechen auch ,.systematic or mass violations of human rights" fUr strafbar erklärt wurden. Nach Art. 18 der 1996 verabschiedeten definitiven Form dieses Draft Codes (UN Doc. A/51/1 0, abgedruckt mit Kommentar der ILC in HRLJ 1997, 96 ff) gehören zu diesen Menschenrechten, deren Verletzung auch ausserhalb jeglicher bewaffneter Auseinandersetzung fUr strafbar erklärt wird (Kommentar, para. 6): "(a) murder; (b) extermination; (c) torture; (d) enslavement; (e) persecution on political, racial, religious or ethnic grounds; (t) institutionalized discrimination on racial, ethnic or religious grounds involving the violation of fundamental human rights and freedoms and resulting in seriously disadvantaging apart of the population; (g) arbitrary deportation or forcible transfer of population; (h) arbitrary imprisonment; (i) forced disappearance of persons; (j) rape, enforced prostitution and other forms of sexual abuse; (Je) other inhumane acts which severely darnage physical or mental integrity, health or human dignity, such as mutilation and severe bodily harm". Obwohl aus diesem Entwurf der ILC nicht ohne weiteres auf die gewohnheitsrechtliehe Geltung dieser Normen geschlossen werden darf, können aus dieser Auflistung sicherlich zumindest Indizien für eine ausservertragliche Geltung dieser Garantien entnommen werden. Siehe zu diesem Entwurf auch Chrislian Tomuschal, Die Arbeit der ILC im Bereich des materiellen Völkerstrafrechts, in Hankei/Stuby (Hrsg.) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen-Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Harnburg 1995, 270ff. Eine Bestätigung der exemplarischen Bedeutung sowohl des erwähnten ILC-Entwurfs als auch der Art.2ff des Statuts des ,)ugoslawien-Tribunals" findet sich denn auch in Art.20 des Draft Statute for an International Criminal Court der ILC (Official Records of the General Assembly, 49th session, Supplement No.lO [A/49/10] 70ff; vgl. dazuJames Crawford, The ILC Adopts a Statute for an International Criminal Court, AJIL 1995, 408), wo nichtnurdie Umschreibung der strafbaren Verbrechen in ausdrücklicher Anlehnung an die oben erwähnten Dokumente durchgeführt wird, sondern explizit erklärt wird, aufgrunddes nullum crimen sine Iege-Prinzips sei die ILC bezüglich der Kategorie der Verbrechen ,.under general internationallaw" (Genozid, Aggression; ernsthafte Verletzungen der Gesetze und Gebräuche der in bewaffneten Konflikten anwendbaren Normen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) "guided in the choice ( ... ) in particular by the fact that three of the four crimes are singled out in the Statute of the International Tribunal for the Former Yugoslavia as crimes under generat internationallaw" (a. a. 0. 71). 143 Statute ofthe International Tribunal for Rwanda, SR-Resolution 955 (1994), abgedruckt in ILM 1994, 1602ffund in HRU 1995, 124ff. 144 Vgl. z. B. Theodor Meron, War Crimes in Yugoslavia and the Development of International Law; AJIL 1994, 80f; vgl. zu dieser Begriffsbestimmung auch unten Kap. 2, IV. 3. b).

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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tierte sich die Situation in Ruanda im fraglichen Zeitraum als Situation eines internen Konflikts oder teilweise gar als Situation ausserhalb des Geltungsbereichs des humanitären Völkerrechts 145, d. h. als Konstellation, auf die gernäss klassischer Konzeption schwergewichtig das Recht der Menschenrechte Anwendung finden würde. In bemerkenswerter Weise wurde diesem Gerichtshof hinsichtlich des anwendbaren Rechts trotzdem eine mit derjenigen des ICfY vergleichbare Kompetenz gewährt 146, undtrotzfehlender Statuierung einer individuellen Strafbarkeit im Recht der internen Konflikte 147 und einem zumindest im damaligen Zeitpunkt unsicheren situationsbedingten Anwendungsbereich von Art. 3 GKI-IV und des ZPII 148 wurden Verletzungen der grundlegenden Bestimmungen des Rechts der internen Konfliktekraft Gewohnheitsrecht für strafbar erklärt 149• Im Jahre 1998 schliesslich wurde anlässlich einer Staatenkonferenz in Rom das Statut für einen permanenten internationalen Strafgerichtshof verabschiedet 150, dessen materielle Straftatbestände wesentlich durch die Strafkataloge von ICfY und ICfR sowie durch die oben aufgezeigten Entwürfe 151 der ILC beeinflusst wurden 152• Mit diesem Statut wurde eine vertragliche Basis eines völkerrechtliVgl. dazu unten Kap.2, IV. 3. c). Die Art. 2 (Genocide) und 3 (Crimes against humanity) des ICTR Statuts entsprechen wiederum weitgehend den entsprechenden oben zitierten Bestimmungen des ICTY Statuts. 147 Zur individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Taten, welche während internen bewaffneten Auseinandersetzungen begangen werden, siehe z. B. Theodor Meron, International Criminalization of Interna! Atrocities, AJIL 1995, 554ff. 148 Ruanda ist sowohl Vertragspartei der GKI-IV wie auch der ZPI und II. Die Anwendbarkeit dieser Verträge würde jedoch das Bestehen eines- internationalen oder internen- bewaffneten Konflikts gernäss den Definitionen (dazu unten Kap. 2, IV. 3.) im humanitären Völkerrecht voraussetzen. Die Expertenkommission zur Bildung des ICTR, auf deren Vorarbeiten die SR-Resolution 955 im wesentlichen beruht, erachtete die Voraussetzungen eines internen bewaffneten Konflikts als gegeben. Trotzdem betonte sie, dass Ruanda auch bei Fehlen jeder vertraglichen Bindung bereits kraft Gewohnheitsrecht, das als ius cogens zu qualifizieren sei, an die schliesslich im Statut aufgeführten Normen gebunden sein würde. Siehe Lyal S. Sunga, The Commission of Experts on R wanda and the Creation of the International Criminal Tribunal for Rwanda, HRU 1995, 121 ff. 149 Art. 4 ICTR Statut erwähnt: .,{a) Violence to life, health and physical or mental wellbeing of persons, in particular murder as well as cruel treatrnent such as torture, mutilation or any form of corporal punishment; (b) Collective punishments; (c) Taking ofhostages; (d) Acts of terrorism; (e) Outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment, rape, enforced prostitution and any form of indecent assault; (f) Pillage; (g) The passing of sentences and the carrying out of executions without previous judgement pronounced by a regularly constituted court, affording all the judicial guarantees which are recognised as indispensable by civilised peoples; (h) Threats to commit any of the forgoing acts". 150 UN Doc.NConf.183/9 vom 17. Juli 1998. In der Schlussabstimmung befürworteten 120 Staaten diesen Vertrag, ?lehnten ihn ab (darunter die USA, Irak, Israel, Libyen und China) und 21 enthielten sich ihrer Stimme. m Siehe oben Arun.l42. 152 Siehe zum ICC Statut und seiner Entstehung z. B. Carsten Stahn, Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit: Die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes, EuGRZ 1998, 577ff; Andreas Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen Intert45

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

eben Strafkataloges geschaffen. Deshalb können aus diesem Instrument keine direkten Schlüsse auf den Umfang gewohnheitsrechtlicher Normen des Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts gezogen werden. Da aber vorerst trotzdem nur Straftatbestände in dieses Statut aufgenommen wurden, welche eine gefestigte rechtliche Grundlage im allgemeinen Völkerrecht besitzen 153, kann auch diese Auswahl von Straftatbeständen indirekt als Beleg für die ungeschriebene Geltung der diesen zugrunde liegenden Menschenrechte herangezogen werden. Die Zuständigkeit des neuen Gerichtshofes wurde aus diesem Grund auf die drei sogenannten Kerndelikte des allgemeinen Völkerrechts beschränkt. In identischer Weise wie in den Parallelbestimmungen der Vorgängerkataloge wird in diesem Vertrag als erster Straftatbestand das Verbot des Genozids verankert 154• Verbrechen gegen die Menschlichkeit bilden auch gernäss dieser Außistung die Verletzung zentraler Menschenrechte, dies zumindest falls sie "as part of a widespread or systematic attack directed against any civilian population" begangen werdenm. Entgegen einer entsprechenden, in verschiedenen Entwürfen zu diesem Statut verankerten Voraussetzung wurde in der definitiven Fassung auf das situationsbedingte Tatbestandsmerkmal der Begehung während bewaffneten Auseinandersetzungen verzichtet 156• Dies bedeutet, dass die den einzelnen Tatbeständen zugrunde liegenden Menschenrechte auch ausserhalb des situationsbedingten Geltungsbereichs des humanitären Völkerrechts, d. h. z. B: während nur sporadischen, nicht organisierten Aufständen und Thmulten, als universell gewohnheitsrechtlich geltend eingestuft wurden. Dabei reicht die Liste dieser Menschenrechte teilweise über diejenige der Vorgängerkataloge hinaus. Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt somit ein die erwähnten Kriterien erfüllendes Verhalten, das den folgenden objektiven Straftatbeständen entspricht resp. die diesen zugrunde liegenden Menschenrechte verletzt: "(a) Murder; (b) Extermination; (c) Enslavement; nationalen Strafgerichtshofes, ZaöRV 1998, 47ff; The European Law Students' Association (ed.), Handbook on the Draft Statute for the International Criminal Court, 2"" edition, Brussels 1998 und die Beiträge in Otto Triffterer (ed.), Commentary on the Rorne Statute of the International Criminal Court, Baden-Baden 1999. 153 Stahn (Anm. 152) 579 f und 585 f; Zimmermann (Anm. 152) 48 f. Die bewusste Beschränkung der Kompetenz ratione materiae des Gerichtshofes auf die schwersten Verbrechen, welche eine Grundlage im allgemeinen Volkerrecht besitzen, ergibt sich auch bereits aus der Präambel und aus der Formulierung des Art. 5 Abs. 1 dieses Vertrages. 154 Art. 6 ICC Statut. 1" Art. 7 ICC Statut. 156 So enthält z. B. Art. 5 Draft Statute for the International Criminal Court (UN Doc. NConf. 183.2/Add. 1) das Erfordernis "committed in armed conflict" explizit als eine mögliche Textalternative. Diese Passage fand aber bewusst keine Aufnahme in die definitive Version dieser Bestimmung. Siehe dazu auch Stahn (Anm.l52) 581.

111. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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(d) Deportation or forcible transfer of population; (e) Imprisonment or other severe deprivation of physicalliberty in violation of fundamental rules of intemationallaw; (f) Torture; (g) Rape, sexual slavery, enforced prostitution, forced pregnancy, enforced sterilization, or any other form of sexual violence of comparable gravity; (h) Persecution against any identifiable group or collectivity on political, racial, national, ethnic, cultural, religious, gender ( ...) or other grounds that are universally recognized as impermissible under intemationallaw, in connection with any act referred to in this paragraph or any crime within the jurisdiction of the Court; (i) Enforced disappearance of persons; (j) Th~ crime of apartheid; (k) Other inhumane acts of a similar character intentionally causing great suffering, or serious injury to body or to mental or physical health" 157•

Schliesslich wurde als letztes der Kerndelikte in diesem Statut auch die Kategorie der Kriegsverbrechen kodifiziert. Diese Delikte können jedoch definitionsgemäss nur während bewaffneten Auseinandersetzungen begangen werdenm. Trotzdem zeigen sie den Bestand der während Kriegssituationen gewohnheitsrechtlich geltenden Garantien zum Schutz des Individuums auf. Als solche gelten wiederum schwere Verstösse gegen die Genfer KonventionenlS9, andere schwere Verslösse gegen die in einem internationalen Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche des Krieges 160, schwere Verstösse gegen den gemeinsamen Art. 3 der GK in internen bewaffneten Auseinandersetzungen 161 und endlich Verslösse gegen die in internen Konflikten geltenden Gesetze und Gebräuche des Krieges 162. Weitere Belegstellen der Praxis zur Geltung ausservertraglicher Menschenrechte lassen sich den Berichten der Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission163 entnehmen. Eine besonders deutliche und weitgehende Aussage Art. 7 Abs. 1 ICC Statut. m Art. 8 ICC Statut. 159 Art. 8 Abs. 2lit. a ICC Statut; Viele dieser Tatbestände sind, was allein ihren materiellen Inhalt betrifft, bereits in der Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthalten; so z. B. die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung und der Folter. 160 Art. 8 Abs. 2 lit. b ICC Statut. Zu dieser Kategorie gehören insbesondere strafrechtliche Delikte, welche gegen Bestimmungen des sogenannten Haager Rechts, wie in ZPI verankert, verstossen. Beispiele sind vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Objekte, Plünderungen, der Einsatz gewisser besonders verpönter Waffenkategorien oder die vorsätzliche Aushungerung der Zivilbevölkerung. 161 Art. 8 Abs. 2 lit. c ICC Statut. 162 Art. 8 Abs. 2 lit. e ICC Statut; der materielle Inhalt dieser Bestimmung entspricht wiederum den zentralen Bestimmungen des Art. 8 Abs. 2 lit. b ICC Statut. Diese Straftatbestände finden gernäss Art. 8 Abs. 21it. f ICC Statut auch in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehreren nichtstaatlichen Organisationen Anwendung. 163 Zur Funktion und Bedeutung der Sonderberichterstatter innerhalb des sog. 1235-Verfahrens siehe z. B. Philip Alston, The Commission on Human Rights, in ders. (ed.), The United Nationsand Human Rights- A Critical Appraisal, Oxford 1992, 159ff. 157

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Kap. I: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

findet sich dabei im Bericht des Sonderberichterstatters Galindo Pohl zur Lage der Menschenrechte im Iran: "The rights and freedoms setout in the Universal Declaration have become international custornary law through State practice and opinio juris. Even if the strictest approach is adopted to the determination of the elements which form international customary law, that is the classical doctrine of the convergence of extensive, continuous and reiterated practice and of opinio juris, the provisions contained in the Universal Declaration meet the stringent standardsofthat doctrine ( ...)" 164•

Wesentlich vorsichtiger wurde die Frage einer gewohnheitsrechtliehen Geltung von Menschenrechten etwa vom Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverletzungen während der irakiseben Besetzung von Kuwait, Walter Kälin, beurteilt165: Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die entsprechenden Urteile des IGH wird hier von einer ausservertraglichen Geltung von "elementary considerations ofhumanity" 166, von einer gewohnheitsrechtliehen Rechtsgrundlage der in Art. 3 GK I-IV 167 verankerten Regeln sowie zumindest der grundlegendsten Garantien des Art. 75 ZPI und (nur) der Grundprinzipien der AEMR 168 ausgegangen. (c)Naturgemäss finden sich in der Praxis der Überwachungsorgane regionaler Menschenrechtskonventionen nur selten Hinweise auf die ausservertragliche Geltung der Menschenrechte. Im Soering-Urteil 169 wurde das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung vorn EGMR als "one of the fundamental values of the dernocratic societies making up the Council of Europe" 170 und damit wohl als allgemeiner Rechtsgrundsatz 171 bezeichnet und im Fall Loizidou v. Turkey stufte dieses Organ die EMRK insgesamt als Instrument des europäischen ordre public ein 172• Ausdrücklich als gewohnheitsrechtlich geltend qualifizierte die IAKMR 164 Report on the human rights situation in the lslamic Republic of Iran by the Special Representative of the Commission, UN. Doc E/CN. 4/1987/23, para. 22. Siehe die Kritik an dieser Auffassung und an ihrer kritiklosen Aufnahme durch die Menschenrechtskommission in Simma!Alston (Sources) 90. 165 Report on the Situation of Human Rights in Kuwait under Iraqi Occupation, UN. Doc. E/CN. 4/1992/26. 166 Ibid., paras. 35 ff. 167 Ibid., paras.40f. 168 Ibid., para. 49. 169 EGMR, Soering v. Germany, Series A Vol. 161, para. 88. 170 Im selben Abschnitt wird ausgeführt, das Folterverbot sei "generally recognised as internationally accepted standard". 171 Dieser Gedanke wurde auch vom EuGH aufgenommen, der die Garantien der EMRK trotzfehlender vertraglicher Grundlage seit 1974 als allgemeine Rechtsgrundsätze i.S. v. gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der EU-Mitgliedstaaten anwendet. Siehe dazu z.B. die Urteile Rs. 4/73, Nold v. Kommission, Slg. 1974, S.491 ff; Rs. 44/70, Hauer v.l.And RheinlandPfalz, Slg. 1979, 3727 ff; Rs. 265/87, Schräder v. Hauptzollamt Gronau, Slg. 1989, S. 2237 ff; Rs. 5/88 Wachaufv. Bundesamtfür Erniihrung und Forstwirtschaft, Slg. 1989, 2609ff. 172 EGMR, Loizidou v. Turkey (preliminary objections), Series A Vol. 310, para. 75. Aufgrund dieser Einstufung gelangte das Gericht zum Schluss, dass eine territoriale Begrenzung

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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das Verbot des Vollzuges der Todesstrafe gegenüber Jugendlichen 173 sowie die Bestimmungen des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und weitere grundlegende Gesetze des Krieges 174• Weitere Belegstellen zur gewohnheitsrechtlichen Geltung einzelner Menschenrechte finden sich schliesslich auch in der Rechtsprechung verschiedener nationaler Gerichte 175 •

b) Lehre Angesichts der dargestellten Praxis überrascht es nicht, dass in der Lehre weitgehende Übereinstimmung bezüglich der Existenz aussecvertraglich geltender Menschenrechte an sich herrscht. Welche Garantien aber zu diesem Normbestand gehören, ist Gegenstand verschiedenartigster Meinungen. Mit Simma/Alston 176 lassen sich diese Lehrmeinungen in zwei Kategorien einordnen: • Den umfangreichsten'Korpus von Normen des allgemeinen Völkerrechts postulieren insbesondere amerikanische Juristen, welche davon ausgehen, der ganze Katalog der Garantien der AEMR stelle mittlerweile- da Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts- bindendes Völkerrecht dar 117• Diese Ansichten verkennen des Geltungsbereichs mittels einer Erklärung anlässtich der Einwilligung in die Gerichtsbarkeit des EGMR gernäss Art. 25 alt/EMRK keine Rechtswirkung entfalten könne. 173 IAKMR, Resolution No.3/87, Case No. 9647, para.60 (zitiert nach Oraa 215). 174 IAKMR, Report W 55/91, Juan Carlos Abella v. Argentina, Case 11.137 (Tablada Case), para.177: ,,In addition to Common Article 3, customary law principles applicable to all arrned conflicts require the contending parties to refrain from directly attacking the civilian population and individual civilians and to distinguish in their targeting between civilians and combatants and other lawful military objectives. In order to spare civilians from the effects of hostilities, other customary law principles require the attacking party to take precautions so as to avoid or minimize loss of civilian life or darnage to civilian property incidental or collateral to attacks on military targets". 175 Siehe z. B. bezüglich des Folterverbotes Urteil des schweizerischen Bundesgerichts 109 Ib 72 und das Urteil des United States Court of Appeals for the Second Circuit, Filartiga v. Pena-lrala (abgedruckt in ILM 1980, 966ff). Eine umfassende Übersicht über die entsprechende Rechtsprechung nationaler Gerichte findet sich in M eron (Customary Law) 114 ff. 176 Simma/Alston (Sources) 84f. m Myress S. McDougal/Harold D. Lasswell!Lung-Chu Chen, Human Rights and World Public Order, New Haven/London 1980, 274: .,[T]he Universal Declaration is now widely acclaimed as a Magna Charta of human kind, to be complied with by all the actors in the world arena. What began as mere common aspiration is now hailed both as an authoritative interpretation of the human rights provisions of the United Nations Charterand as established customary law, having the attributes of jus cogens (...)". Die gleiche Meinung vertreten z. B. J. P. Humphrey, The UDHR: lts History, Impact and Judicial Character, in Ramcharan (ed.), Thirty Years after the UDHR, The Hague 1979, 21 ff, und Lauis Sohn, The New International Law: Protection of Rights of lndividuals Rather than States, American University Law Review 1982, 17. Eine analoge Meinung vertrat auch der damalige UNO-Generalsekretär Pirez de Cuellar, demgernäss die AEMR .,constitutes binding law as international custom, in accordance with Article 38 of the Statute of the International Court of Justice" (zitiert nach Menno T. Kamminga, Inter-state Accountability for Violations of Human Rights, Philadelphia 1992, 133).

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Kap. I: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

jedoch, dass die AEMR nicht neues Recht schaffen, sondern "als das von allen Völkern zu erreichende Ideal" Ausgangspunkt für neues Recht bilden wollte 178• Zudem erscheint offensichtlich, dass, um nur ein Beispiel zu erwähnen, das Recht auf Erholung, Freizeit und bezahlten Urlaub nach Art. 24 AEMR weder einer universellen opinio juris entspricht, noch sich eine diesbezügliche repräsentative Staatenpraxis nachweisen lässt. Eine etwas zurückhaltendere, aber immer noch ausführliche Liste enthalten die "Paris Minimum Standards" der International Law Association in ihrer Liste nicht derogierbarer Rechte 179, welche gernäss den Verfassern zugleich gewohnheitsrechtlich geltende Garantien darstellen 180• Diese Rechtsqualität kommt gemäss dieser Auflistung im Wesentlichen allen menschenrechtliehen Garantien zu, welche zumindest in einem der Menschenrechtsverträge, die eine Notstandsklausel enthalten 181 , als notstandsfest bezeichnet werden. • Die wohl herrschende Lehre ordnet den ungeschriebenen Rechtsquellen einen weit schmaleren Normbestand zu. So erachtet das American Law Institute folgende Garantien als gewohnheitsrechtlich geltend: "a) genocide, b) slavery and slave trade, c) the murder or causing the disappearance of individuals, d) torture or other cruel, inhuman, or degrading treatment or punishment, e) prolonged arbitrary detention, f) systematic racial discrimination, or g) a consistent pattern of gross violations of internationally recognized human rights" 182• Diese Liste ist in der Lehre - zumindest was die lit. a- f betrifft - auf breite Zustimmung gestossen 183• Verschiedene Autoren plädieren darüber hinaus für die Anerkennung weiterer Garantien als Bestandteil des allgemeinen Vdlkerrechts: So für das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz und das Diskriminierungsverbot 184, das Recht in178 Kälin (Bedeutung) 76. Siehe auch Henkin 177, der dieses Instrument wie folgt charakterisiert: ,,A declaration, not a treaty; a common standard of achievement, not an international legal norm; exhortation not obligation". 179 Paris Minimum Standards, Section C, Art. 1 ff. 180 So der Vorsitzende des Vorbereitungskomitees der ILA, S. Chowdhury; siehe Chowdhury 119. 18 1 Pakt II, EMRK und AMRK. 182 Restatement § 702. Die in lit. f genannte Kategorie kann sich dabei auf die ECOSOC-Resolution 1503 stlltzen, dergernäss Staaten in einem rein diplomatischen Verfahren der Menschenrechtskommission auch ohne vertragliche Grundlage Rechenschaft abzulegen haben, falls diesem Organ Informationen zukommen, die auf das Vorliegen schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Siehe zu diesem Verfahren z. B. Manfred Nowak, Country-oriented Human Rights Protection by the UN Commission on Human Rights and its Sub-Commission, NYIL 1991, 49ff. 183 Siehe z. B. Meron (Customary Law) 95; Schachter 338; Kälin (Bedeutung) 76; ders. (Gewährleistung) 39; Syracusa Principle 69 i. V.m. O'Donnell (Derogation) 31; Hartman (Working Paper) 120; Henkin 189f; Claude Klein 141 fundHermann-JosefBlanke, Menschenrechte als völkerrechtliche Interventionstitel, Archiv des Völkerrechts 1998, 261. 184 Lillich (Civil Rights) 133.

111. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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haftierter Personen auf menschliche Behandlung 185 , das Selbstbestimmungsrecht der Völker 186, das Verbot rückwirkender Strafgesetze 187 und für grundsätzliche Garantien im Strafverfahren 188, das Prinzip von ne bis in idem 189 sowie das Recht auf Verlassen jedes Landes resp. auf Rückkehr ins eigene Land 190• Verschiedentlich wird zudem postuliert, auch den zentralsten Subsistenzrechten und den Gewerkschaftsrechten 191 diesen Rechtsstatus zuzuerkennen. Darüber hinaus ist in der Doktrin wohl unbestritten, dass die zentralen Menschenrechte in ihrer spezifischen Ausgestaltung und in ihrem Anwendungsbereich gernäss den Regeln des humanitären Völkerrechts - wie z. B. die Verbote der Geiselnahme, des Aushungems der Zivilbevölkerung und der Verstümmlung sowie grundlegende Verfahrensgarantien- heute auch Teil des allgemeinen Völkerrechts sind 192• Aus diesem Überblick ergibt sich, dass sowohl gernäss Praxis wie auch der herrschenden Doktrin die Kataloge des Ausschusses für Menschenrechte resp. des Restatements einen sachgerechten Ansatz für eine Bestimmung des Umfanges ausservertraglich geltender Menschenrechte enthalten. Für vorliegende Arbeit sollen diese deshalb als Grundlage dienen. Zusätzlich müssen aber wohl auch die zentralsten Bereiche der Subsistenzrechte193 und während bewaffneten Auseinandersetzungen weitere Bestimmungen des Genfer Rechtes zum Schutze von Personen, die nicht an den Feindseligkeiten teilnehmen 194, diesem Rechtskorpus zugeordnet werden 195 •

Meron (Customary Law) 96. Meron (Customary Law) 96; Schachter 339 und wohl auch Kälin (Bedeutung) 77. 117 Meron (Customary Law) 96 und Kälin (Bedeutung) 77. 188 Meron (Customary Law) 96f; Kälin (Bedeutung) 77; Schachter 339 und Eide!Rosas!Meron 215. 189 Meron (Customary Law) 97. 190 Lillich (Civil Rights) 151 und Schachter 339. 19 1 Schachter 340. lU

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192 Dies betrifft insb. die Minimalgarantien des gemeinsamen Art. 3 GK, des Art. 75 ZPI und des Art.4 ZPII. Siehe dazu Kälin/Gabriel19tf; Meron (Customary Law) 41 ffund ausführlicher unten Kap. 2, IV. 3. b) und c). 193 D.h. diejenigen Schichten der WSK-Rechte, die auch als sogenannte minimal core contents bezeichnet werden (siehe dazu Kap. 3, V. 3. d)), und bei deren Nichterfüllung das blasse Überleben der betroffenen Personen gefahrdet erscheint. 194 Siehe dazu die sehr detaillierten Ausführungen im Urteil des ICfY, The Prosecutor v. Duslw Tadic (appeal onjurisdiction, Anm.109), paras. 96ff. 195 Zur Frage, inwieweit sich die ausservertragliche Geltung dieser Grundprinzipien auch auf Situationen erstreckt, in welchen zumindest gernäss vertraglicher Konzeption das humanitäre Völkerrecht nicht zur Anwendung gelangt, siehe unten Kap. 2, IV. 3. d).

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

3. Erga omnes Wirkung der ausservertraglich geltenden Menschenrechte? a) Das Konzept der Verpflichtungen erga omnes

Die Verletzung einer Garantie, welche eine erga omnes Verpflichtung gernäss der oben zitierten Passage aus dem Urteil des IGH im Falle Barcelona Traction 196 begründet, zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur die Rechte des von diesem Verhalten unmittelbar betroffenen Rechtssubjekts missachtet, sondern diejenigen der gesamten Staatengemeinschaft. Da somit bei Missachtung einer eine solche Verpflichtung begründenden völkerrechtlichen Norm jeder durch die entsprechende Verpflichtung gebundene Staat als verletzter Staat zu qualifizieren ist, können- wie beispielsweise durch die ILC in ihrem Entwurf zum Recht der Staatenverantwortlichkeit festgehalten 197 - alle Staaten gegen den fehlbaren Staat unilaterale Durchsetzungsmassnahmen, wie z. B. Repressalien ergreifen 198• Das Konzept der erga omnes Verpflichtungen beschlägt somit nicht die Frage der Rechtsquelle einer völkerrechtlichen Verpflichtung. Vielmehr zeichnen sich Verpflichtungen dieser Art durch das Merkmal ihrer besonderen Erfüllungsstruktur aus, indem sie Verpflichtungen gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft oder zumindest auch gegenüber anderen nicht direkt von einer Verletzung betroffenen Staaten begründen. Erga omnes Verpflichtungen unterscheiden sich deshalb von üblichen völkerrechtlichen Verpflichtungen durch den umfassenden Kreis der durch solche Normen berechtigten Staaten. Trotzdem wird oft eine enge Beziehung zwischen der Tatsache der ungeschriebenen Geltung eines Rechts und seinem erga omnes Charakter konstruiert, indem insbesondere im Bereich der Menschenrechte eine inhaltliche Übereinstimmung von Verpflichtungen des Normbestandes beider dieser Konzepte postuliert wird 199• Dass diese Übereinstimmung aber nicht zwingend ist, ergibt sich bereits aus dem Dictum des IGH, wonach auch universell geltende vertragliche Bestimmungen Verpflichtungen mit erga omnes Charakter begründen können 200 • Demgegenüber können aus 196 Siehe dazu oben bei Anrn. 120. Ausführungen zur erga omnes Geltung des Folterverbotes finden sich in ICfY, The Prosecutor v. Anto Furundzija, Judgement of the Trial Chamber, Case No. IT-95-17/1-T(1998) (abgedruckt in ILM 1999, 317ff), paras. 151f. 197 Siehe Art. 40 dieses Entwurfs, dazu auch hinten Abschn. IV. 3. 198 So z. B. Kokott 81. Gernäss de Hoogh 53 liegt in dieser Konsequenz die eigentliche Bedeutung der erga omnes Qualität einer Verpflichtung. Denn jede Norm des allgemeinen V61kerrechts ist gegenüber allen Staaten je einzeln geschützt, ohne dass im Falle einer Verletzung andere Staaten als der verletzte Einzelstaat die Beseitigung dieser Verletzung verlangen dürften. 1" Siehe die oben in Arun. 121 zitierte Literatur. Gar eine Gleichsetzung nimmt Kokott 88 vor: .,Die Kategorie der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Menschenrechte ist(...) deckungsgleich mit der Kategorie der erga omnes geltenden Menschenrechte". 200 Case conceming the Barcelona Traction, Light and Power Company Limited, second phase, ICJ Reports 1970, 32, para. 34.

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Vollcerrecht

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völkerrechtlichen Normen, die entweder im regionalen Gewohnheitsrecht oder in einem nicht universell ratifizierten Vertrag verankert sind, allenfalls Verpflichtungen mit erga omnes partes Charakter tliessen, d. h. mit einer Bindungswirkung gegenüber allen durch die betreffende Norm gebundenen Parteien. Erste Voraussetzung zur Entstehung von Verpflichtungen erga omnes des allgemeinen Völkerrechts ist somit die universelle Geltung einer Norm, wobei die Art der Rechtsquelle, auf welche sich diese Verpflichtung stützt, theoretisch irrelevant ist. In praktischer Hinsicht wird diese Voraussetzung jedoch am ehesten im Falle universellen Gewohnheitsrechts gewährleistet sein 201 • Die zweite notwendige Voraussetzung für die erwähnte Gleichsetzung, der erga omnes Charakter aller ungeschriebenen Verpflichtungen, soll ansebliessend spezifisch für den Bereich der menschenrechtlichen Verpflichtungen geprüft werden.

b) Zur erga omnes Geltung ungeschriebener menschenrechtlicher Verpflichtungen

Voraussetzung für die Annahme einer allgemeinen Begründung von erga omnes Verpflichtungen durch das ungeschriebene Normset von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht muss somit sein, dass die Erfüllung solcher Verpflichtungen nicht nur einem Staat, sondern gegenüber der Staatengemeinschaft, d. h. allen anderen Staaten gemeinsam geschuldet wird202• Diese Voraussetzung können zusätzlich auch völkerrechtliche Verpflichtungen erfüllen, welche gegenüber dem Kollektiv der Vertragspartner eines multilateralen Vertrages geschuldet werden und demzufolge als Verpflichtungen erga ornnes partes bezeichnet werden. Ohne bereits an dieser Stelle in die Details zu gehen 203 , ist heute anerkannt, dass menschenrechtliche Verpflichtungen - ohne dabei zwingend vollständig ihre auch204 bilaterale Erfüllungsstruktur zu verlieren205 - den Prototyp von Verpflichtungen darstellen, deren Erfüllung nicht auf reziproke Weise einem Staat, sondern der allgemeinen oder vertraglich gebildeten Staatengemeinschaft insgesamt geschuldet wird. Dies ergibt sich nicht nur aus der Auswahl der vom IGH im Barcelona Traction Fall erwähnten Beiwr Deshalb ist, so Meron (Hierarchy) 9, die erga omnes Wirkung nur Konsequenz und nicht Grund des fundamentalen Charakters eines Menschenrechtes. 202 Siehe z. 8 . de Hoogh 54. WJ Siehe dazu aber ausführlich hinten Kap. 5, III. 2. a). 204 Hauptsächlich sind jedoch menschenrechtliche Verträge "gegen innen", d. h. zugunsten der Individuen, zu erfüllen, weshalb menschenrechtliche Verträge zu grossen Teilen als Verträge zugunsten Dritter einzustufen sind. :l1l5 Dieses Problem beschlägt wiederum die Frage, ob vertragliche Menschenrechte als ein sogenanntes self-contained regime zu qualifizieren sind, mit der Folge, dass auf Verletzungen vertraglich verankerter Menschenrechtsverpflichtungen nur im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Durchsetzungsinstrumentarien reagiert werden dUrfte. Siehe dazu ausführlicher hinten Abschn. IV. 4. S KUnzli

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Kap. l: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

spiele 206, sondern ebenso auf allgemein völkerrechtlicher Ebene durch die Definition des verletzten Staates im Recht der Staatenverantwortlichkeitl07• Innerhalb vertraglicher Menschenrechtssysteme wurde diese kollektive Komponente durch verschiedene Vertragsüberwachungsorgane wiederholt in allgemeiner Weise bestätigt und schliesslich belegt bereits die Existenz von Durchsetzungsinstrumenten wie der Staatenbeschwerde in verschiedenen menschenrechtliehen Instrumenten, welche die Aktivlegitimation für den klagenden Staat regelmässig nicht an ein besonderes Betroffensein knüpfen 208 , diesen Befund. Es kann somit als Zwischenfazit festgehalten werden, dass über die "basic human rights"-Formel des IGH im Fall Barcelona Traction hinaus die ungeschriebenen menschenrechtliehen Garantien des allgemeinen Völkerrechts erga omnes Verpflichtungen begründen209• Verpflichtungen mit einer solchen Erfüllungs- resp. Durchsetzungsstruktur lassen sich jedoch auch in universell ratifizierten Verträgen menschenrechtliehen Inhaltes - wie beispielsweise dem Übereinkommen zum Schutze des Kindes210 - oder als begrenztere Verpflichtungen erga ornnes partes auch in regionalen oder nicht vollständig ratifizierten universellen Verträgen finden. Dies bedeutet wiederum, dass die erga omnes Wirkung nicht begriffsnotwendig eine gewohnheitsrechtliche resp. ungeschriebene Verankerung einer Verpflichtung voraussetzt. Die umgekehrte Schlussfolgerung ist jedoch zumindest im Gebiet der Menschenrechte zulässig.

Siehe oben bei Anm. 120. Gernäss Art. 40 Abs. 2 lit. e des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit gilt, dass im Falle einer Verletzung von Menschenrechten bei einer gewohnheitsrechtliehen oder vertraglichen Verankerung jeder Staat, der auch durch diese Verpflichtung gebunden ist, als verletzter Staat zu betrachten ist. Daraus ergibt sich ohne weiteres, dass Menschenrechtsverpflichtungen nach Auffassung der ILC eine kollektive Erfüllungsstruktur aufweisen. 208 Staatenbeschwerden kennen z. B. der Pakt II (Art. 41), die Rassendiskriminierungskonvention (Art. II), die CAT (Art.2l), die EMRK (Art.33), die AMRK (Art.45) und auch die AtMRK (Art. 47). In keiner dieser Bestimmungen wird z. B. die Legitimation von der Verlet· zung von Rechten der Staatsangehörigen der klagenden Partei oder zumindest von Personen ausländischer Staatsangehörigkeit auf dem Gebiet des beklagten Staates abhängig gemacht. 209 So mit ausführlicher BegrUndung Meron (Customary Law) 188ff und insb. 196f; Restatement § 702(2) (,,Any State may pursue international remedies against any other state for a violation of the customary intemationallaw of human rights."); Kälin (Gewährleistung) lOf; Dinstein 17; Kokott 87f; Bryde 165 und 169; Provost 430, Anm.l74; a.M. Ragazzi 140, Anm.44, und 144. zto Auch durch universell ratifizierte Verträge wird streng genommen nur eine erga ornnes partes Wirkung begründet, wobei jedoch die partcs jeden Staat umfassen. Ein Unterschied zu erga ornnes Verpflichtungen, die durch Gewohnheitsrecht begründet werden, kann aber möglicherweise darin liegen, dass durch solche Vertragsbestimmungen in der Regel keine nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekte verpflichtet werden können. Siehe dazu hinten Kap. 2, V. 3. -5. 206

201

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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4. Zwingende Rechtsnatur der aussecvertraglich geltenden Menschenrechte? a) Vorbemerkung: Zum Konzept des ius cogens gernäss Art. 53 VRK Keine eigene Rechtsquelle211 , sondern eine Hierarchie zwischen Nonnen dispositiven und zwingenden Inhaltes wurde durch die Aufnahme der Regelung von Art. 53 in die VRK festgeschrieben. Diese bis heute kontrovers kommentierte Norm bestimmt: ,,Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann". Gernäss dem Wortlaut dieser Bestimmung bewirkt somit eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts als erstes die Nichtigkeit entgegenstehenden Vertragsrechtes212. In der Praxis ist aber- allenfalls mit Ausnahme von Auslieferungsverträgen213- kaum vorstellbar, dass Staaten Verträge abschliessen, welche an sich oder in ihrer konkreten Anwendung gegen Verpflichtungen aus Menschenrechten, welche ius cogens Qualität besitzen, verstossen 214• Deshalb könnte diese Rechtsfigur im internationalen Menschenrechtsschutz wesentlich grössere praktische Bedeutung erlangen, falls erstens auch unilaterales Handeln völkerrechtliche Verpflichtungen mit ius cogens Charakter zwingend zu beachten hätte215 und falls zweitens das Konzept von ius cogens an sich Bestandteil des allgemeinen ungeschriebenen Rechts wäre. Eine solche Rechtsfolge würde aber voraussetzen, dass diese 211 Kadelbach 183f; Kokott 86; Verdross!Simma 331; Linsi 31 und 32 sowie Simma/Alston (Sources) 103 unter Bezugnahme auf die Ausführungen der ILC (Yearbook ILC 1966, 248): "It is not the form of a general rule of international law but the particular nature of the subject matter with which it deals that may ( ...) give it the character of jus cogens". 212 Dies bedeutet, dass Parteien auch bei gegenseitigem Konsens nicht von einer Verpflichtung, welcher diese Rechtsqualität zukommt, abweichen dürfen. Vgl. dazu de Hoogh 45. 213 Siehe dazu hinten Kap. 3, IV.5. e)bb). 214 Hannilwinen 6f; Linsi 34. 215 Hier gilt es zu beachten, dass zwar jede Norm des Völkerrechts Staaten zu einem Handeln oder Unterlassen verpflichtet und im Nichtbeachtungsfall eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen kann. Von dispositiven Normen kann jedoch nicht nur durch vertragliches Handeln abgewichen werden, vielmehr können auch unilaterale Akte wie Vorbehalte, die Kündigung eines Vertrages usw. grundsätzlich die Entstehung einer solchen völkerrechtlichen Verpflichtung verhindern. Zudem können verschiedene Rechtfertigungsgründe des allgemeinen Völkerrechts wie z. B. ein Staatsnotstand oder die Ergreifung von Selbsthilfemassnahmen die Rechtswidrigkeit eines unilateralen Verstosses gegen Bestimmungen dieser normativen Struktur ausschliessen. Eine Ausdehnung des ius cogens Prinzips auf diese Handlungsform würde diese Möglichkeit verunmöglichen. Siehe dazu unten Kap.5, III.

s•

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

Rechtsfigur in einem umfassenden Sinn einen Bestandteil des allgemeinen Volkerrechtes bildet216 • Verschiedene Indizien in der völkerrechtlichen Praxis deuten darauf hin, dass heute sowohl von der umfassenderen - das Recht der Verträge überschreitenden - Wirkung als auch der Geltung dieses Konzepts kraft aussecvertraglicher Rechtsquelle ausgegangen werden kann: • Deutlich von einem Ansatz, der auch im Bereich der einseitigen staatlichen Handlungen die Grundsätze des ius cogens heranzieht, geht die ILC in ihrer Arbeit zur Kodifikation des Rechts der Staatenverantwortlichkeit217 aus. So wird als Grundregel festgehalten, dass an sich erlaubte Gegenmassnahmen218 gegen einen anderen Staat - d. h. eine zulässige Methode der unilateralen Durchsetzung des Völkerrechts- stets verpönt sind, falls dieses Handeln gegen zwingende Normen des Völkerrechts verstösst219• • In die gleiche Richtung weist eine weitere Regelung des Entwurfs der ILC, wonach auch eine Situation des Staatsnotstandes (state of necessity) dann keinen Grund für den Ausschluss der Verantwortlichkeit für völkerrechtswidriges Handeln darstellt, wenn die einer solchen Handlung zuwiderlaufende völkerrechtliche Verpflichtung aus einer zwingenden Norm des Volkerrechts resultiert220. 216 V gl. Katkibach 69 ff, der nach ausführlicher Untersuchung zum Schluss gelangt: "Das lus-cogens- Prinzip ist als Rechtsinstitut auch ausseehalb der WVRK anerkannt" (a.a.O., 127); gl. M. auch Hannikainen 7f und 157ff, insb.180f; Gormley 122 und 124f; Saulle 392 und Mann (jus cogens) 625. 217 Siehe zu diesem Entwurf der ILC und dessen Bedeutung für den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz ausführlich hinten Abschn. IV und Kap. 5, III. 211 Zur Frage der Zulässigkeil von Gegenmassnahmen im Bereich der Menschenrechte siehe unten Kap. 5, III. 2. c). 219 So bestimmt der Entwurf der ILC in Art. 50: ,,An injured State shall not resort by way of countermeasure, to: (e) any other conduct in contravention of a peremptory norm of general international law". Darüber hinaus verbietet der Entwurf in Art. 50 lit. d auch Gegenmassnahmen, welche gegen "basic human rights" verstossen. Der Berichterstatter der ILC ArangioRuiz verweist in seinem vierten Bericht (UN.Doc.NCN.4/444/Add.1, 22f) zur Bestimmung möglicher "basic human rights" gernäss diesem Artikel ausdrUcklieh auf die Liste von EI Kouhene 109 und Meron (Hierarchy) 4, welche wiederum das Recht auf Leben sowie das Folterund Sklavereiverbot zu diesem Kernbestand zählen. Der Begriff der "peremptory norm" wiederum bezieht sich nach diesem Berichterstatter der ILC explizit auf Normen mit ius cogens Charakter: ,,In order to complete the picture of the restrictions, it is therefore necessary to adopt ad hoc provisions relating to each of the ,Substantive limitations', as well as one on the general limit deriving from ius cogens" (a. a. 0., para. 91). 2211 Art. 33 Abs. 2 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit: ,,In any case, a state of necessity may not be invoked by a State as a ground for precluding wrongfulness: (a) if the international obligation with which the act of the State is not in conformity arises out of a peremptory norm of general intemationallaw ( ...)".Siehe zur Rechtsfigur des ,,state of necessity" oder Staatsnotstandes ausführlicher unten Kap. 5, III. 4. d).

Ill. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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• Umgekehrt begründet - so zumindest gernäss einem Vorschlag des Sonderberichterstatters der ILC, James Crawford 221 -auch eine unilaterale Verletzung einer völkerrechtlichen Norm dann keine völkerrechtliche Verantwortlichkeit, falls eine zwingende Norm des Völkerrechts genau dieses Verhalten gebietet. • Zusätzliche Hinweise lassen sich auch der Bestimmung von Art.19 ILC-Entwurf entnehmen. Zwar zeigt die Reaktion der Staaten auf das in dieser Norm verankerte Konzept einer "über-deliktischen" Haftung bei Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts, dass diese Regel erstens nicht geltendem Recht entspricht und zweitens keine Aufnahme in einer Endfassung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit finden dürfte222• Trotzdem soll aber an dieser Stelle auf dieses Modell eingegangen werden, da die in Art.19 verankerte Rechtskonstruktion internationaler Verbrechen der Staaten im Entwurf der ILC deutlich auf eine Anerkennung einer Geltung zwingender Normen des allgemeinen Völkerrechts durch das wichtigste Rechtsetzungsorgan der UNO hinweist. Dieser Konnex kann gezogen werden, weil in dieser Bestimmung die Anforderungen, welchen eine völkerrechtliche Verpflichtung zu genügen hat, damit deren Verletzung als völkerrechtliches Verbrechen qualifiziert werden kann, grosse Ähnlichkeit mit der Umschreibung des Art. 53 VRK aufweisen. Zusätzlich nennt der Beispielkatalog des Art. 19 ILC-Entwurf neben menschenrechtliehen auch andere völkerrechtliche Verpflichtungen, wie z. B. das Aggressionsverbot, welche naturgernäss regelmässig in Form einseitiger Akte staatlicher Organe verletzt werden. • Ein weiteres starkes Indiz dafür, dass eine ius cogens Verpflichtung auch die Rechtsgültigkeit unilateralen staatlichen Handeins verhindem kann, findet sich im General Comment 24 des Ausschusses für Menschenrechte, wo explizit die Gültigkeit von Vorbehalten zu Garantien, welche zwingendes Völkerrecht kodifizieren, abgelehnt wird223 • 221 Crawford schlägt die Aufnahme eines neuen Art. 29bis in den ILC Entwurf vor, der unter der Marginalie "Compliance with a peremptory norrn (jus cogens)" folgendem Wortlaut besitzen soll: "The wrongfulness of an act of a State not in conforrnity with an international obligation ofthat State is precluded if the act is required in the circumstances by a peremptory norrn of general international law". Für eine Kommentierung dieses Vorschlages siehe den zweiten Bericht des Sonderberichterstatters Crawford, UN Doc. NCN. 4/498/Add. 2, paras. 306ff. 222 Vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fiftieth session, UN Doc. N53/10, paras. 241 ff. Siehe dazu auch hinten Anm. 239. m Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 24/52. In diesem Dokument (para. 8) hält dieses Organ - m. E. jedoch unter einer undeutlichen Vermischung des Konzepts von ius cogens mit der Rechtsquelle des Gewohnheitsrechtes- fest: ,,Reservations that offend peremptory norrns would not be compatible with the object and purpose of the Covenant. Although treaties that are mere exchanges of obligations between States allow them to reserve inter se application of rules of general intemationallaw, it is otherwise in human rights treaties, which are for the benefit of persons within their jurisdiction. Accordingly, provisions in the Covenant that represent customary intemationallaw (and afortiori when they have the character of peremptory norrns) may not be the subject of reservations".

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

• Und endlich deutet auch die Aussage der Appellationskammer des ICfY, wonach die meisten gewohnheitsrechtlich geltenden Normen des humanitären Volkerrechts - d. h. eines Rechtsgebietes, in welchem Verletzungen seiner Verpflichtungen geradezu typischerweise auf unilaterale Weise geschehen - zwingenden Charakter, d. h. ius cogens Qualität, aufweisen224, in Richtung einer allgemeinen Anerkennung der Ansicht, dass Verpflichtungen mit ius cogens Qualität auch unilaterale Abweichungen in absoluter Form verpönen225 • Gestützt auf die Arbeiten der ILC, die Stellungnahmen des Ausschusses für Menschenrechte und des ICTY kann deshalb mit überzeugenden Gründen davon ausgegangen werden, dass Normen des Völkerrechts mit zwingendem Charakter unabhängig von der Verankerung des Konzepts in Art. 53 VRK und über dessen Anwendungsbereich hinaus existieren und sie deshalb auch gegenüber dem nicht-vertraglichen Handeln eines Staates gelten. Aus diesem Grund verletzt eine Derogation von Normen dieser Rechtskategorie unabhängig von der Form des rechtlichen oder tatsächlichen Handeins Völkerrecht. Trotz vereinzelter skeptischer Stimmen 226 scheint auch in der herrschenden Lehre227 die Ansicht vorzuherrschen, wonach auch im Falle unilateraler Akte die Grundzüge des ius cogens heranzuziehen sind. Dies hat zur Folge, dass deren Verletzung stets eine völkerrechtliche Verantwortung des einer solchen Norm zuwiderhandelnden Staates begründet und solche Akte- analog von Verträgen - auf völkerrechtlicher Ebene als nichtig zu gelten haben228 • Die Frage, ob sich Staaten auf dem Wege ihrer innerstaatlichen Gesetzgebung Verpflichtungen aus ius cogens Normen des Völkerrechts entziehen können, stellte sich in der Schweiz im Fall einer Verfassungsinitiative, deren Inhalt im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stand229 • Obwohl in diesem Fall kein entgegenstehendes staatsvertragliches Handeln zur Diskussion stand und das Völkerrecht den Staaten nicht vorschreibt, wie sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen auf innerstaatlicher Ebene nachkommen, kamen der Bundesrat und das Parlament doch zum Schluss, diese In224 ICfY, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm. 109, para. 143): ,,lt follows that the International Tribunal is authorised to apply, in addition to customary internationallaw, any treaty which: (i) was unquestionably binding on the parties at the time of the alleged offence; and (ii) was not in conflict with or derogating from peremptory norms of international law, as are most customary rules of international humanitarian law". w Im Urteil des ICfY, The Prosecutor v. Furundzija (Anm.196), para.153, wird zudem explizit festgehalten, dass von Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts mit ius cogens Geltung auch unter Berufung auf gewohnheitsrechtliche Regeln des allgemeinen Völkerrechts nicht derogiert werden kann. 226 Siehe z. B. Meron (Hierarchy) 19ff; Sudre 64f. 227 Kadelbach 335; Hannikainen 1; Kokott 86; de Hoogh 49; Ragazzi 47f; Verdross/Simma 333 und 911; Brownlie (Principles) 516f; Saladin 73 f; Gormley 125; Simma/Alston (Sources) 103; Linsi 33ff; Giorgo Gaja, Jus Cogens beyond the VieMa Convention, RdC Vol. l72, 1981-III, 290ff; GordonA. Christensen, Jus Cogens: Guarding Interests Fundamental to International Society, Virginia Journal of International Law 1988, 61 ff. m Kadelbach 335 f. 229 Siehe BB11994 III 1499.

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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itiative sei infolge des Verstosses gegen zwingendes Völkerrecht für ungültig zu erklären230. Auch dieses Beispiel unterstreicht, dass zwar durch die Regelung der VRK nur der Spezialfall von zwingendem Völkerrecht entgegenstehendem Vertragsrecht kodifiziert wurde, dass aber gernäss allgemeinem Völkerrecht von zwingenden Normen des Völkerrechts unabhängig von der Handlungsstufe resp. der Handlungsart nicht rechtmässig abgewichen werden kann. Damit gewinnt dieses Konzept auch im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes zum Schutz fundamentaler Positionen des Individuums eine eminente Bedeutung. Da aber die VRK weder eine Bestimmung kennt, die Auskunft darüber gibt, welche Normen zum zwingenden allgemeinen Völkerrecht gehören, noch materielle Kriterien zur Festlegung von internationalen Rechtsnormen solcher Qualität enthält, kann gernäss der Formulierung des Art. 53 dieses Vertrages zur Eruierung des ius cogens Bestandes von Menschenrechten einzig auf die ·Bedeutung abgestützt werden, welche die Staatengemeinschaft einer Norm zuerkennt. Damit stellen sich aber wiederum dieselben Schwierigkeiten wie bei der Festlegung des Bestandes von Menschenrechten des allgemeinen Völkerrechts. Da sich zudem zu dieser Frage bisher auch zumindest die universelle231 Praxis nicht, nur sehr partiell232 oder undeutlich233 geäussert hat, rechtfertigt sich an dieser Stelle ein Vergleich mit verwandten Rechtsfiguren des Völkerrechts.

230 BB11994 III 1496: ,,Ein Rechtsstaat kann sich nicht über völkerrechtliche Normen hinwegsetzen, die international als elementare Bestimmung zum Schutz fundamentalster Grundrechte und des humanitären Völkerrechts verstanden werden und die unabhängig von der Ratifikation oder Kündigung der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge einen für alle Rechtsstaaten verbindlichen Charakter aufweisen. Zwar hat die Bundesversammlung bei völkerrechtswidrigen Initiativen bisher immer zugunsten der Volksrechte entschieden ( ...). Im Zusammenhang mit der vorliegenden Initiative stellen sich allerdings andere Probleme: Sie bildet das erste Volksbegehren, das(...) zwingende Normen des Völkerrechts verletzt, die für einen Rechtsstaat von derart grundlegender Bedeutung sind, dass er sich den daraus fliessenden Verpflichtungen auf keine Weise entziehen kann". Siehe dazu auch Walter Kälin, Internationale Menschenrechtsgarantien als Schranke der Revision von Bundesverfassungsrecht-Das Beispiel völkerrechtswidriger Asylinitiativen, Aktuelle Juristische Praxis 1993, 243 ff; Katkibach 339 f und Saladin 82 ff. 231 Auf regionaler Ebene anerkannte die EKMR den ius cogens-Charakter des Folterverbotes, indem sie ausführte, dieses Verbot sei "an absolute one and there can never be under the Convention or under intemationallaw, a justification for acts in breach ofthat provision" (Ireland v. United Kingdom, Yearbook of the European Commission on Human Rights 1976, 512). Für die schweizerische Ebene siehe BGE 1081b 411 ff und 1091b 72; weitere nationale Entscheidungen erwähnt Katkibach 120ff. 232 So bejahte die Trial Chamber des ICfY im Falle Prosecutor v. Furundzija (Anrn.196), paras. 153 ff, explizit den ius cogens Charakter des Folterverbotes. 233 Im General Comment 24/52 deutet der Ausschuss für Menschenrechte an, dass zumindest Teilen der Liste der Bestimmungen des Pakts ll, die gewohnheitsrechtlich gelten, zusätzlich ius cogens Charakter zukomme; siehe dazu oben Anrn.223.

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

b) Jus cogens und internationale Verbrechen

Erste Schlussfolgerungen zur Rechtsnatur und zum Inhalt von Menschenrechtsgarantien zwingender Natur lassen sich dem eng verwandten 234, aber wohl nicht geltendem Recht entsprechenden235 Konzept der internationalen Verbrechen herleiten. Unter dem Oberbegriff der völkerrechtswidrigen Handlungen236 trifft Art. 19 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit237 eine Unterscheidung zwischen internationalen Verbrechen und internationalen Delikten, die je einem unterschiedlichen Rechtsfolgeregime unterliegen sollen 238 • Erstere charakterisieren sich dabei gernäss Abs. 2 dieser Bestimmung als: "An internationally wrongful act which results from the breach by a State of an international obligation so essential for the protection of fundamental interests of the international community that its breach is recognized as a crime by that community as a whole ( ... )" 239• Im Einzelnen erwähnt Art. 19 Abs. 3 gestützt auf das geltende Völkerrecht als mögliche Normen, deren schwere und weitverbreitete Verletzung ein völkerrechtliches Verbrechen darstellt, etwa das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Sklaverei-, Genozid- und Apartheidverbot240 • Die ILC hielt zudem in ihrem Kommentar zu dieser Bestimmung bezüglich des gegenseitigen Verhältnisses dieser beiden Konzepte fest, dass die Kategorie der völkerrechtlichen Verpflichtungen, deren Verletzung ein internationales Verbrechen darstelle, einen schmaleren Umfang besitze als das zwingende 234 Dazu insbesondere de Hoogh 49 und 57ff. Siehe zu diesen Analogien den Report 1998 der ILC in UN Doc. N53/10, para. 278. 23S Siehe dazu unten Anm.239. 236 .,intemationally wrongful act". 237 Yearbook ILC 198011/2, 32. 238 Siehe Art. 51 ff ILC-Entwurf. 239 Siehe zum Konzept des internationalen Verbrechens z.B. die zahlreichen Beiträge inJoseph Weiler!Antonio Cassese/Marina Spinedi (eds.), International Crimes of States- A Critical Analysis of the ILC's Draft Article 19 on State Responsibility, Berlin/New York 1989; Rainer Hoffmann, Die Unterscheidung Verbrechen und Delikt im Bereich der Staatenverantwortlichkeit, ZaöRV 1985, 195ff; de Hoogh 57ffund Simma (Community Interest) 301 ff. Die durch Art. 19 des ILC-Entwurfs vorgenommene Unterscheidung zwischen Delikten und Verbrechen des Staates bleibt, wie die gegenwärtigen Resultate der .,Vernehmlassung" zu Art. 19 des ILCEntwurfs zeigen, weiterhin völlig umstritten; siehe die Zusammenstellung der Reaktionen der Staaten in Report of the ILC on the work of its fiftieth session, UN Doc. N53/l 0, paras. 241 ff. Zur entsprechenden Debatte innerhalb der Doktrin siehe z. B. Derek William Bowett, Crimes of States and the 1996 Report of the International Law Commission on State Responsibility, EJIL 1998, 244ff; Georges Abi-Saab, The Uses of Article 19; EJIL 1999, 339ff; Giorgio Gaja, Should All References to International Crimes Disappear from the ILC Draft Articles on State Responsibility, EJIL 1999, 365, und Alain Pellet, Can a State Commit a Crime? Definitely, Yes!, EJIL 1999,425. :IAO Art. 19 Abs. 3: "Subject to paragraph 2, and on the basis of the rules of internationallaw inforce, an international crime may result, inter alia, from ( ...) (c) a serious breach on a widespread scale of an international obligation of essential importance for safeguarding the human being, such as those prohibiting slavery, genocide and apartheid" (Hervorhebung durch den Verfasser).

In. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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Völkerrecht241 • Deshalb können der exemplarischen Autlistung der ILC gewichtige Argumente für die Abklärung des Umfangs zwingend oder absolut geltender Menschenrechte entnommen werden. c) Jus cogens und völkerrechtliche Verpflichtungen, deren Verletzung eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet

Die Verbindungslinien zwischen dem Konzept von ius cogens und völkerrechtlichen Normen, deren Verletzung nicht nur, wie sonst im Völkerrecht typisch, Staaten haftbar werden lässt, falls sie durch ein Verhalten seiner Organe bewirkt wurde242, sondern gar für Private 243 eine individuelle strafrechtliche Verantwortung auslösen kann, erscheinen weniger augenfallig. Als Ausgangspunkt für den Aufbau eines solchen Konnexes bietet sich aber die Tatsache der oben festgestellten gewohnheitsrechtlichen Geltung der sogenannten völkerrechtlichen Kernstraftatbestände an, wie sie im Statut des ständigen Gerichtshofs aber auch in denjenigen von ICfY und ICTR verankert sind 244• Zudem gilt es, die vom ICfY aufgestellte Vermutung der ius cogens Geltung der ungeschriebenen Regeln des humanitären Völkerrechts 245 zu berücksichtigen. Deshalb kommt zumindest nach Ansicht der Appellationskammer des Jugoslawien Tribunals den diesen Straftatbeständen zugrunde liegenden Bestimmungen des humanitären Völkerrechts 246 ius cogens Charakter zu. 241 Yearbook ILC 1976 11/l, 120, para.62: ,.[A]lthough it may be true that a failure to fulfil an obligation established by a rule ofjus cogens will often constitute an international crime, it cannot be denied that the category of international obligations admitting of no derogation is much broader than the category of obligations whose breach is necessarily an international crime". Ähnlich äusserten sich verschiedene Mitglieder der ILC auch im Report 1998, UN Doc. N53/10, para. 280: ,.[Obligations erga omnes] were described as only one of three types of rules which formed increasingly smaller concentric circles, namely erga omnes obligations, jus cogens norms, and international crimes". Siehe dazu auch Gaja 201; Frawein (jus cogens) 329; Linsi 53; Hannikainen 288 und de Hoogh 201. Gernäss Kadelbach 54 resultiert diese Abweichung des Umfanges der jeweiligen Normbestände daher, dass ,.der nur vereinzelte Bruch einer völkerrechtlichen Regel noch keine verschärfte Haftung auslösen" soll, ,.sofern sich nicht auch schon ein zeitlich und räumlich begrenzter Verstoss als besonders schwerwiegende Rechtsverletzung darstellt. Demgegenüber stellt Art. 53 WVRK für die zwingende Natur einer Norm als solcher einige Merkmale auf, ohne dass die Intensität des Normkonflikts für die Definition ausschlaggebend wäre. Teil I, Art. 19 weist also im Vergleich zur rein normativen Konzeption des Art. 53 VRK ein faktisches Element auf, das ein Staatsverbrechen als qualifizierten Verstoss gegen zwingendes Recht kennzeichnet". 242 Die Frage, welches Verhalten einem Staat als sein eigenes zugerechnet werden kann, wird unten ausführlich untersucht werden; vgl. Kap. 2, V. 2. b). 243 D. h. beispielsweise von Mitgliedern bewaffneter Verbänden in internen Auseinandersetzungen. 244 Siehe oben Anm. 136ff. 24' Siehe das Zitat in Anm. 224. 246 Siehe Art. 2 ICTY Statut resp. Art. 50/51/130/147 GK I-IV und Art. 85 i. V. m . Art. 11 ZPI für internationale Konflikte resp. Art.4 ICTR Statut i. V. m. Art. 3 GK I-IV und Art. 4-6 ZPII.

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

d) Jus cogens und Verpflichtungen erga omnes Obwohl die Kategorie des ius cogens durch die Nichtderogierbarkeit einer Norm charakterisiert wird, während der universelle erga omnes Charakter den Geltungsbereich der Verpflichtung gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft beschlägt, wird in der Literatur oft eine enge Verbindung zwischen diesen Rechtsfiguren gezogen: Während nur wenige Autoren den Umfang des Normbestandes, welcher die Anforderungen dieser Konzepte erfüllt, einander gleichsetzten247, sehen andere in den Verpflichtungen mit ius cogens Natur eine Teilmenge des Normbestandes von Verpflichtungen erga omnes 248 • Nur selten sind Stimmen auszumachen, die vor einer Vermengung dieser Begriffe Abstand nehmen 249 • Der zweiten Meinung schloss sich auch die ILC an, die ausführte: " [A]ltough all jus cogens norms were by definition erga omnes, not all erga omnes norms were necessarily imperative or of fundamental importance to the international community"l$0.

Infolgedessen und auch aufgrundder Formulierung des Art. 53 VRK kann als allgemein anerkannt eingestuft werden, dass eine Verletzung zwingender Normen des Völkerrechts definitionsgernäss die rechtlich geschützten Interessen der Staatengemeinschaft insgesamt beeinträchtigt und deshalb jeder einzelne Staat als verletztes Rechtssubjekt gilt251 • Der umgekehrte Schluss kann aber nicht gezogen werden. Denn es lässt sich durchaus vorstellen, dass von Normen, deren Erfüllung gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft geschuldet ist, beispielsweise in Notstandssituationen abgewichen werden darf252 • Deshalb erfüllen Menschenrechte, denen erga omnes 247 Claudia Annacker, Die Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen vor dem internationalen Gerichtshof, Harnburg 1994,33, und wohl auch Gormley 130. 2A8 Kadelbach 33; Hannikainen 4 f und 283; Meron (Hierarchy) 11; ders. (Customary Law) 194; de Hoogh 53ffund 192ff; Frowein (jus cogens) 329; Gaja 158; Linsi 31; Restatement § 702, Kommentar lit. n und o; Kälin (Gewährleistung) 12, Anm. 16; Delbrück (Anm.121) 26, FN 34 und wohl auch Saulle 394. Gernäss Raggazzi 144 ist diese Einstufung hingegen "open to question". 249 Higgins (Problems and Process) 167. 250 Report 1998 der ILC, UN Doc. N53/10, para. 279. Siehe auch die Ausführungen in a. a. 0., para. 326, wo unter Zusammenfassung des Resultats der Vemelunlassung zu Art. 19 des ILC-Entwurfs ausgeführt wird: "[T]here was general agreement conceming the relevance of the established categories of jus cogens and erga omnes obligations and the narrower scope of the first category as compared to the second". 2$t Da gernäss Art. 53 VRK die .,internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit" eine Norm als zwingend anerkennen muss und deshalb auch in ihrer Gesamtheit ein Interesse daran haben muss, dass Staaten nicht von solchen Normen derogieren (de Hoogh 194). Katleibach 178 rechtfertigt diesen Schluss damit, "dass eine Pfl.jcht, die man jedem anderen Rechtssubjekt zumuten können soll, auch gegenüber allen anderen geschuldet werden muss". 2$2 So wird etwa auf regionaler Ebene durch die obligatorische Unterwerfung der Vertragsstaaten unter die Staatenbeschwerdeverfahren gernäss Art. 33 EMRK eine vertraglich abgesicherte erga omnes (partes) Geltung dieser Garantien statuiert. Trotzdem kann mit Ausnahme der nicht derogierbaren Bestimmungen von eben diesen Garantien im Notstandsfall abgewi-

111. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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Geltung zugemessen wird, kraftdieser Geltung nur eine notwendige Bedingung für die Aufnahme in den Korpus des zwingenden Völkerrechts. Diese Verpflichtungswirkung erlaubt daher zwar Rückschlüsse auf den zwingenden Charakter der ihr zugrundeliegenden Norm, liefert dafür aber noch keine hinreichende Begründung. e) Jus cogens und notstandsfeste menschenrechtliche Vertragsnormen Weitere Bezugspunkte lassen sich auch aus der Verwandtschaft dieses Instituts mit der vertraglichen Verankerung von Staatenverpflichtungen, von welchen auch während Zeiten staatlichen Notstandes nicht abgewichen werden kann, herstellen253. Im Unterschied zu zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts sind notstandsfeste Garantien, wie sie in der EMRK, der AMRK und dem Pakt II stipuliert werden, kraft ihrer vertraglichen Geltung aber nur bedingt zwingend, da Vertragsstaatenzumindest theoretisch sowohl diese Verträge kündigen 25\ als auch Vorbehalte zu solchen Bestimmungen anbringen können 255. Zudem wurde insbesondere im Pakt II und in der AMRK die Auswahl der notstandsfesten Garantien bewusst nicht auf die zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts beschränkt256. Wenn bereits aus diesen Gründen sicher nicht geschlossen werden darf, bei der chen werden. Dasselbe gilt unter der Bedingung der fakultativen Unterwerfung unter die Staatenbeschwerde für die Systeme des Paktes II (Art. 41) und der AMRK (Art. 45) Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich dieselbe Vorstellung nicht auf den ausservertraglichen Bereich übertragen lassen soll. 253 Siehe zu diesem Verhältnis Meron (Hierarchy) 15 ff; van Boven (Criteria) 45 f; 0' DonneU (Derogation) 31 f; Hartman (Working Paper) 114 f und 119; Oraa% f und Gormley 135 ff. 254 Siehe z. B. Art. 58 EMRK. Keine Kündigungsklausel kennt aber der Pakt II, weshalb auf die Regel von Art. 56 VRK abzustützen ist. Da gernäss dieser Norm eine Kündigung eines Vertrages nur möglich ist, falls feststeht, "dass die Partner beabsichtigen, die Möglichkeit der Kündigung oder des RUcktrittes zuzulassen" oder sich ein solches Recht "aus der Natur des \ertrages ergibt", gilt dieser Vertrag als unkündbar. Diese Meinung wurde vom Ausschuss für Menschenrechte in seinem General Cornrnent 26/61 bestätigt. 255 Dies gilt jedoch nur insoweit, als dieser Vorbehalt nicht mit dem Sinn und Zweck des Vertrages unvereinbar erscheint (Art. 19 Abs. 3 lit. c VRK). Auch der Menschenrechtsausschuss schliesst die Vertragskonformität der Anbringung von Vorbehalten zu notstandsfesten Rechten in seinem General Cornrnent 24/52 nicht aus: "While there is no automatic correlation between reservations to non-derogable provisions, and reservations which offend against the object and purpose of the Covenant, a State has a heavy onus to justify such a reservation." Siehe auch das Gutachten des IAGMR Nr. OC-3/83, para. 61, zitiert nach der deutschen Übersetzung in EuGRZ 1984,214: ,,Folglich ist die erste Frage, die sich bei der Auslegung eines Vorbehaltes ergibt, ob er mit Ziel und Zweck des Vertrages vereinbar ist.(...) Daraus wUrde sich ergeben, das ein Vorbehalt, der es einem Staat ermöglichen sollte, irgendeines der nicht derogierbaren, grundlegenden Rechte zu suspendieren, als unvereinbar mit dem Ziel und Zweck der Konvention und folglich als nicht von ihr zugelassen angesehen werden mUsste. Die Lage wäre anders, wenn der Vorbehalt lediglich bestimmte Aspekte eines nicht derogierbaren Rechtes einzuschränken versuchte, ohne das Recht als solches seines wesentlichen Zweckes zu berauben". Siehe dazu auch Meron (Customary Law) 10ft'. 256 Hartman 114. Siehe dazu auch hinten Kap.5, II.l.e).

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

Summe aller vertraglich als notstandsfest anerkannten Rechte handle es sich um zwingende Rechte des allgemeinen Völkerrechts 257, so liegt doch infolge des Ratifikationsgrades dieser Abkommen die Vermutung nahe, zumindest den Kernbestand jener Normen 258 als Bestandteil des ius cogens einzustufen, welche von allen Konventionen kumulativ als nicht derogierbar bezeichnet werden259 • Diese Schlussfolgerung wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass dieser gemeinsame Kern wiederum eine enge Parallelität zu den Grundgarantien des humanitären Völkerrechts aufweist, welche in bewaffneten Konflikten interner oder internationaler Art ohne Möglichkeit einer Derogation zur Anwendung gelangen260• f) Jus cogens und Gewohnheitsrecht

Obwohl, wie erwähnt, die Einstufung einer Norm als zwingende Bestimmung des Völkerrechts an sich noch keine Aussage über deren Rechtsgrundlage erlaubt, bestehen generell und insbesondere im Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zahlreiche Verbindungslinien zwischen dem Konzept von ius cogens und der Rechtsquelle des Gewohnheitsrechts. Diese Interdependenz lässt sich auf einer formalen Ebene bereits aus der Formulierung von Art. 53 VRK herleiten, die in bewusster Anlehnung an die Umschreibung des Gewohnheitsrechts in Art. 38 IGH-Statut erfolgte261 : Denn das Erfordernis, dass eine ,,Norm,( ...) von der(...) Staatengemeinschaft angenommen und anerkannt wird", scheint bei deren gewohnheitsrechtlicher Verankerung am ehesten erfüllt zu sein262 • So lässt sich auch erklären, dass zumindest im Bereich des Menschenrechtsschutzes oft aus der Thtsache ei257 So auch Meron (Hierarchy): "Rights that are non derogable under such instruments are not necessarily jus cogens ( ...) and some of them may not even have attained the status of customary law". Eine Geltung der Summe aller vertraglich notstandsfesten Garantien kraft allgemeinem Völkerrecht postulieren demgegenüber die Paris Minimum Standards of Human Rights in a State ofEmergency; siehe dazu Chowdury 128 ff. Eine gegenteilige Ansicht scheint Doehring 423 f zu vertreten, der auch ein Abweichen von zwingenden Rechten im Falle staatlicher Existenzkrisen für zulässig erachtet, falls ein solches Vorgehen nicht explizit durch eine Derogationsklausel untersagt wird. 258 Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei sowie der Grundsatz von nulla poena sine lege. Zudem dürfen gernäss allen Verträgen Derogationsmassnahmen keine diskriminierenden Folgen verursachen. Diese Garantien sind auch in Art.4lit. c ACMR notstandsfest ausgestaltet. 1 259 So EI Kouhene 145ffund Syracusa Principle 69. 260 Siehe dazu z. B. Art. 3 GK I-IV, Art. 4-6 ZPII und Art. 75 ZPI. Umgekehrt erscheint die Schlussfolgerung, wonach Garantien, welche gernäss einem oder gar allen der genannten Verträge nicht als notstandsfest bezeichnet werden, nie ius cogens Verpflichtung des allgemeinen Völkerrechts sein können, zwar als wahrscheinlich, aber nicht als zwingend. Dies gilt, weil eine solche Garantie infolge der ausservertraglichen Rechtsentwicklung nach dem Zeitpunkt der Kodifikation des Vertrages eine solche Rechtsqualität erlangen kann. 261 Kadelbach 185; siehe dazu auch Hannilwinen 226ff. 262 Diese Umschreibung verdeutlicht auch, dass allein die Wirkung von ius cogens Normen zwingend ist, während deren Entstehung in jedem Fall auf dem Konsens der Staatengemeinschaft beruht; Linsi 32.

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ner gewohnheitsrechtlich geltenden Verpflichtung auf ihren zwingenden Charakter geschlossen resp. andere Verbindungen zwischen diesen Rechtsfiguren gezogen werden, deren Begründungen jedoch teilweise im Diffusen verbleiben 263• Wiederum gilt auch für diesen Vergleich, dass eine gewohnheitsrechtlich geltende Norm nur eine notwendige Voraussetzung des ius cogens erfüllt, nämlich die universelle Anerkennung dieser Norm als Recht durch die Staatengemeinschaft. Über die weitere Bedingung, die Anerkennung der Geltung dieser Norm als zwingend, können jedoch allein gestützt auf die Tatsache der gewohnheitsrechtliehen Verankerung keine Schlüsse gezogen werden. Gesichertere Rückschlüsse auf die zwingende oder absolute Wirkung ergeben sich deshalb erst aus der Geltung einer Garantie kraft allgemeinen Völkerrechts, falls diese eine vertragsrechtliche, notstandsfeste Parallele in universellen oder quasi-universell ratifizierten Verträgen wie den GK IIV264 oder heute dem Pakt II und noch deutlicher der Kinderrechtskonvention kennt. Umgekehrt bildet die Befugnis, von vertraglichen Parallelnormen ungeschrieben geltender Menschenrechte- wie z. B. den zentralsten Freiheitsrechten- im Notstandsfall zu derogieren, resp. bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgebotes in deren Geltungsbereich einzugreifen, kaum zu widerlegende Vermutungen gegen den ius cogens und für den dispositiven Charakter solcher ungeschrieben geltender Garantien265 • Als Zwischenfazit ist somit festzuhalten, dass die ungeschrieben geltenden Menschenrechte einen umfangreicheren Normbestand bilden als zwingende Garantien resp. solche mit ius cogens Qualität266 •

263 Siehe z. B. Restatement § 702, Comment lit. n: ,,Not allhuman rights norrns are peremptory norms (jus cogens), but those in clauses (a) to (t) are". Siehe dazu auchHenkin 39. DerGeneral Comment 24/52 des Menschenrechtsausschusses unterscheidet zwar explizit zwischen Bestimmungen "that represent customary law" und solchen "that have the character of peremptory norms", bleibt aber sowohl in der gegenseitigen Abgrenzung dieser Kategorien als auch bzgl. der Unterschiede in der Rechtsfolge vage (a. a. 0., para. 8). 264 Aus diesem Grunde deckt sich im humanitären Völkerrecht der Bereich gewohnheitsrechtlich geltender Normen mit jenem des ius cogens im Wesentlichen. So auch implizit das Jugoslawien Tribunal, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm. 109), para. 143: "[T]he International Tribunal is authorised to apply ( ...) any treaty which ( ...)was not in conflict with or derogated from peremptory norms of international law, as are most customary rules of international humanitarian law" (Hervorhebung durch den Verfasser). 265 Allenfalls Hesse sich aber argumentieren, auch eine derogier- und einschränkbare menschenrechtliche Garantie könne einen Kernbereich enthalten, der eine ius cogens Verpflichtung begründe. 266 Kokott 86 und 88; Bryde 165 und 169. Von derselben Unterscheidung scheint auch der Ausschuss fUr Menschenrechte in seinem General Comment 24/52, para. 8, auszugehen, wenn er ausfUhrt: ,,Accordingly, provisions in the Covenant that represent customary international law (and a fortiori when they have the character of peremptory norms) may not be the subject of reservations".

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

g) Zwingende Menschenrechte des allgemeinen Völkerrechts

Am problemlosesten erweist sich nach diesem Vergleich die Anerkennung einer ius cogens Geltung von Garantien, die kumulativ Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts sind, deren Geltung in allen relevanten Menschenrechtsverträgen notstandsfest ausgestaltet ist, deren Verletzung ein Verbrechen des Staates im Rahmen des ILC-Entwurfs gernäss erster Lesung darstellt und die zudem eine individuelle Verantwortlichkeit kraft Völkerrecht begründen können. Zu dieser unbestrittenen Kategorie gehören das Genozidverbot261 , das Verbot der systematischen Rassendiskriminierung268 sowie das Sklavereiverbot269• Obwohl nicht im Beispielkatalog von Art. 19 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit enthalten, gilt auch die ius cogens Qualität des Folterverbotes 210•211 und des Verbotes rückwirkender Strafgesetze212 sowie des Verbotes der Kollektivbestrafung 213 als unbestritten. 267 So auchDomb 118f (the collective human right to physical existence); Gormley 139; Restatement 167 und 174f; Hannikainen 456ff; Schachter 343; Linsi 32; Brownlie (Principles) 515; Meron (Criminalization) 558; Kälin/Gabrie/21; Kälin (Gewährleistung) 10; van Boven (Criteria) 47 f und Kadelbach 275 ff, der erwähnt, auch die Kündbarkeit der Genozidkonvention ändere nichts an diesem Befund, da deren Inhalt mittlerweile Bestandteil des Gewohnheitsrechtes geworden sei. Art. II der Genozidkonvention verbietet im einzelnen: ,.a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindem der Gruppe in eine andere Gruppe". Siehe auch die integrale Übernahme dieser Bestimmung in Art. 17 des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind; in Art. 4 Statut ICfY sowie in Art. 2 Statut ICfR und Art. 6 Statut ICC. 268 Siehe Art. 18 lit. e und f des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind und Art. 7 Abs. 1lit. h Statut ICC. So auch die herrschende Lehre: Restatement 167 und 174 f; Gormley 139; Meron (lnternal Strife) 58; Hannikainen 482 (severe discrimination on any grounds is prohibited by a peremptory norm); Kadelbach 281 f; Brownlie (Principles) 515; van Boven (Criteria) 48; Linsi 33; Doehring 422; Saladin 79 (das gesamte Diskriminierungsverbot). Obwohl nicht in den Listen notstandsfester Rechte enthalten, bezeichnen Oraa 101 ff und Ergec 27 die Diskriminierungsverbote von EMRK und Pakt II als implizit notstandsfest Siehe dazu auch unten Kap. 5, II. 1. e). 269 Siehe Domb 120f; Brownlie (Principles) 515; Schachter 343; Kälin (Gewährleistung) 10; Syracusa Principle 69; Hartman (Worldng Paper) 114; 0' DonneU (Derogation) 31; Linsi 33; EI Kouhene 140ff; Hannikainen 137ff und 444ff; Higgins (Derogations) 282; Kadelbach 298 f; Saladin 79; Oraa 264 f. 270 Aspekte des Folterverbotes sind in folgenden Verträgen zwingend ausgestaltet: Art. 3 Ziff.1lit.a und c GKI-IV; Art.13, 14 Abs.1, 17 Abs.4, 87,89 und 99 GKIII; Art.27, 3lf, 100, 118 GK IV; Art. 11 Abs. 2, 75 Ziff. 2 lit. a ZP I; Art. 4 Ziff. 2 lit. a ZP II; Art. 7 Pakt II; Art. 3 EMRK und Art. 5 AMRK. Daneben bestehen sowohl auf universeller wie auf europäischer und amerikanischer Ebene Spezialkonventionen zur völkerrechtlichen Absicherung dieses Verbotes. Schliesslich bezeichnet auch der Ausschuss für Menschenrechte in General Comrnent 24/52, para. 10, das Folterverbot als Bestandteil des ius cogens. Siehe dazu auch Art. 2 lit. b und c sowie Art. 5 lit. f, g und i Statut ICfY und Art. 7 Abs. 1 lit. f und Art. 8 Abs. 2 lit. a (ii) und lit. c (i) Statut ICC. Unter das zwingende Folterverbot muss auch das Vergewalti-

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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Obwohl zum Kernbestand notstandsfester Menschenrechte gehörend, kann das Recht auf Leben nicht integral dem zwingenden Völkerrecht zugeordnet werden: So fehlt es gewissen Teilbereichen dieser Garantie, wie z. B. dem Verbot der Todesstrafe, bereits an der erforderlichen universellen Geltung 274 • Weiter ist das Verbot der Totung im Kriegsfall gernäss dem humanitären Völkerrecht nur gegenüber Personen zu beachten, die nicht an den Feindseligkeiten teilnehmen 275 , grundsätzlich hingegen nicht gegenüber Kombattanten 276 • Zudem verbieten die Art.6 Abs.l Pakt II und Art. 4 Abs. 1 AMRK nur den willkürlichen Eingriff in das Recht auf Leben277 , und Art. 2 Abs. 2 EMRK statuiert verschiedene Ausnahmebestimmungen vom Verbot der absichtlichen Totung 278 • Diese vertragstextlichen Relativierungen des Inhaltes des zwingenden Bereichs dieser Garantie widerspiegeln sich auch in der Literatur. Nur wenige Stimmen erklären das Recht auf Leben ohne Einschränkung als Begungsverbot (so explizit Art. 75 Ziff. 2 lit. b und 76 Ziff. 1 ZP I; Art. 4 Ziff. 2 lit. e ZP II und

Kälin/Gabrie/21) sowie das Verbot von Geiselnahmen (Art. 3 lit. b GK I-IV; Art. 34 GK IV; Art. 75 Ziff. 2 lit. c ZP I; Art. 4 Ziff. 2 lit. c ZP II) subsumiert werden; so auch Kadelbach 313 und (bei schweren Formen) auch Hannilwinen 498. 27 1 Diese Einstufung ist auch in der Literatur weitestgehend unbestritten; siehe Kadelbach 293f; Hannilwinen 504ff; Nowak (Kommentar) 133f; ders. (Commentary) 126; Raess 74ff; Kälin (Gewährleistung) 12; Restatement 167 und 174f; Meron (lntemal Strife) 52 und 59; ders. (Customary Law) 31; ders. (Criminalization) 571; Hartman (Working Paper) 114; Oraa 264f; EI Kouhene 140ff; Higgins (Derogations) 282; Rodley 62ff; Syracusa Principle 69 und Saladin 79 (als Teil eines umfassenderen Rechtes auf physische und psychische Integrität). Doehering 422 stuft hingegen nur den willkürlichen Eingriff als völkerrechtlich absolut verpöntein.

272 EI Kouhene 137ff; Oraa 264ff; Syracusa Principle 69; skeptisch Kadelbach 302. Siehe auch Art. 99 GKIII; Art. 75 Ziff.4lit. c ZPI; Art.6 Ziff. 21it.c ZPII. 273 Siehe die absoluten Verbotsnormen in Art. 75 Zitf. 2 Iit. d und Ziff. 4 lit. b ZP I; Art. 4 Abs. 2 Iit. b und Art. 6 Zitf. 2 lit. b ZP II. S so auch Kadelbach 303 und Hannilwinen 495 ff. 274 Deshalb ändert auch die notstandsfeste Ausgestaltung der entsprechenden Verbotsnormen von Art. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 FP2/Pakt II; Art. 1 i. V. m . Art. 3 ZP6/EMRK, sowie das Verbot der Anbringung von Vorbehalten zu diesen Bestimmungen diese Einstufung nicht (Art. 2 Abs. 1 FP2/Pakt II resp. Art. 4 ZP6/EMRK). 275 Siehe Art. 3 Ziff.1Iit. a GKI-IV; Art. 13 GKIII; Art. 27, 32 GKIV; Art. 74 Ziff. 2Iit. a; Art. 4 Zitf. 2 Iit. a. 276 Kombattanten hingegen dürfen unter Einsatz zulässiger Mittel und Methoden bekämpft und damit auch getötet werden. Siehe zu diesem Begriff auch hinten Kap. 2, Anm. 64. zn Nowak (Kommentar) 120f und (Commentary) 111 f setzt die Fälle rechtmässiger Totungen im wesentlichen mit der Ausnahmebestimmung von Art. 2 Abs. 2 EMRK gleich, ohne auszuschliessen, dass im Einzelfall unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips weitere Thtungshandlungen durch staatliche Organe vor dem Pakt II Bestand haben könnten. Der Menschenrechtsausschuss bejaht den ius cogens Charakter des Rechts auf Leben im Umfang von Art. 6 Pakt II (General Comment 24/52, para. 10). 27& Art. 2 EMRK statuiert zusätzlich zum Erlaubnisvorbehalt der Todesstrafe in Abs. 2 folgende Ausnahmen "a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgernässe Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgernäss festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrilcken". Siehe dazu z.B. Frowein/Peukert 34 ff; VelulErgec 186 ff und unten Kap. 4, V. 2. d).

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

standteil des ius cogens279, während die wohl herrschende Lehre dem zwingenden Bereich entweder nur das Verbot bestimmter Tathandlungen zuordnet280 oder eine Abgrenzung im Ausmass der Verletzungshandlungen 281 resp. im sachlichen oder territorialen Geltungsbereich durchführt282. Ein Vergleich aller relevanten Vertragstexte sowie derjenigen Bestimmungen, welche eine individuelle Verantwortlichkeit regeln resp. zu kodifizieren versuchen283, ergibt, dass ausserhalb bewaffneter Konflikte nur die Verbote der (systematischen) absichtlichen Tötung ohne Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes, worunter auch die Vollstreckung einer Todesstrafe ohne Gewährung von minimalen Verfahrensgarantien zu subsumieren ist284, sowie das Verschwindenlassen von Personen 285 zum Bestand des ius cogens gehören. Weitere Aspekte des Rechts auf Leben, wie die Verbote unterschiedsloser Angriffe auf die Zivilbevölkerung286 oder des Einsatzes von Hunger als Waffe 287 zählen zu diesem Rechtskorpus, falls die vertraglich definierten oder gewohnheitsrechtlich geltenden Anwendungsvoraussetzungen des humanitären Völkerrechtes erfüllt sind 288 . 279 Z. B. Saladin 79; undeutlich Higgins (Derogations) 282; Nowak (Kommentar) 113 und ders. (Commentary) 105. 280 Restatement § 702, 167 und 174 f (Mord und Verschwindenlassen von Personen); so auch Li/lieh (Civil Rights) 121, Anm. 35; Kälin/Gabrie/21 gestützt auf Art. 2 lit. a und Art. 5 lit. a Statut ICTY (Mord und vorsätzliche Tötung hors de combat); Syracusa Principle 69 (wohl im Umfang der Vertragsbestimmung von Art. 6 Pakt II ); Gormley 148 {,.the single arbitrary killing of a singleindividual violates the peremptory nature of jus cogens"); Doehring 421 und Meron (Customary Law) 31. 281 Hannikainen 516ff (,,mass extermination, arbitrary killings and summary executions"). 282 Kadelbach 290f, der die ius cogens Qualität in Situationen bewaffneter Konflikte und darüber hinaus erst auf europäischer resp. amerikanischer Ebene als gegeben einstuft. 283 V gl. Art. 2 lit. a und 5 lit. a und b Statut ICTY; Art. 3 lit. a und b und 4lit. aStatut ICTR sowie Art. 7 Abs. 1 lit. a und b und Art. 8 Abs. 2 lit. a (i) und lit. c (i) Statut ICC. 284 Siehe Art. 6 Abs. 2 Pakt II i. V. m. General Comment 6/16, para. 7; Art. 2 Abs. 2 EMRK; Art.4 Abs.2 AMRK; Art.3 Ziff.1lit.dGKI-IV; Art.100Abs.2GKIII; Art. 74Ziff.4ZPiund Art. 6 ZPII. Vgl. dazu auch den Bericht des Sonderberichterstatters über Extrajudicial, Summary or Arbitrary Executions, Barce Waly Ndiaye (UN. Doc. E/CN. 4/1995/61 ). Wohl auch bereits den erforderlichen Zustimmungsgrad für eine zwingende Geltung in Friedenszeiten weist das Verbot der Hinrichtung von Jugendlichen unter 18 Jahren und schwangeren Frauen auf; siehe Art. 6 Abs. 5 Pakt II (Die USA brachten gegenüber dieser Bestimmung einen Vorbehalt an. Gegen dessen Gültigkeit wandten sich aber wiederum Deutschland und Schweden mit einer Einwendung.); Art. 4 Abs. 4 AMRK (Verbot der Verhängung auch gegenüber Personen, die älter als 70 Jahre sind); Art.68 Abs.4 GKIV; Art. 76Ziff.3 und 77 Ziff.5 ZPI; Art.6Ziff.4ZPII. 285 So ausdrücklich Kälin (Gewährleistung) 12; Restatement § 702, 167 und 174f; vgl. dazu auch die Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (UN Doc. A/Res/47/133; ILM 1993, 904 ff) und Art. 7 Abs. 1 lit. i Statut ICC. 286 Siehe die Grundregel von Art.48 und die Konkretisierung in Art. 51 ZPI; dazu z. B. Gasser {Einführung) 72 ff. Verstösse gegen diese Grundnorm des eigentlichen Kriegführungsrechts gelten auch als Kriegsverbrechen, wie z. B. Art. 8 Abs. 2lit. b (i) und lit. e (i) Statut ICC verdeutlicht. 287 Siehe insb. Art. 54 ZPI und Art. 8 Abs. 2 lit. b (xxv) Statut ICC. Dazu auch BreiningKaufmann 195 ff. 288 Zu den spezifischen Anwendungsvoraussetzungen des humanitären Völkerrechts siehe ausführlich unten Kap. 2, IV.

In. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

81

Uneinheitlich wird in der Lehre der zwingende Charakter des Verbotes überlanger und willkürlicher Haft beurteilt. Während sich gewisse Autoren auf den Standpunkt stellen, einem Recht, das in den drei grossen Menschenrechtsverträgen nicht zum notstandssicheren Bereich gehöre, könne dieser Rechtscharakter nicht zukommen289, wird von anderen Stimmen teilweise ohne nähere Begründung die ius cogens Qualität befürwortet290• Unterstützt werden die letzteren Meinungen durch die Rechtsentwicklung der letzten Jahre. So pönalisieren sowohl die Strafkataloge von ICTY und ICTR als auch derjenige des ständigen Gerichtshofes und der ILC solches Verhalten 291 • Aufgrund dieser Einschätzung verschiedenster Organe der UNO, die soweit ersichtlich von keinem Staat bestritten wurden, kann deshalb davon ausgegangen werden, dass das Verbot willkürlicher Haft, soweit es in systematischer und schwerwiegender Weise begangen wird, unabhängig von der Bedingung des Besteheus einer bewaffneten Auseinandersetzung Bestandteil des ius cogens ist292• Mangels Praxis und vertragstextlichen Argumenten kann hingegen den Stimmen der Doktrin, welche den zwingenden Charakter weiterer Bestimmungen- insbesondere weiterer Verfahrensgarantien 293 - postulieren, nicht gefolgt werden. Dies gilt jedoch nicht für den Bereich des an sich nicht derogierbaren294 humanitären Völkerrechts, wo eine solide Grundlage auch für die Statuierung zumindest einer aussecvertraglichen und zwingenden Geltung der Minimalgarantien von Art. 3 289

Meron (Hierarchy) 16. So auch Katleibach 30 und Domb 117.

Saladin 19; Restatement § 702, 167 und 174f, und Kälin (Gewährleistung) 12. So z. B. Art. 7 Abs. 1 lit. e Statut ICC, der Freiheitsentzug und sonstigen schweren Entzug der physischen Freiheit verpönt. Strafbar ist eine solche Handlung aber nur, falls sie gegen die Grundregeln des Völkerrechts verstösst, d. h. entweder willlcUrlich oder unter Missachtung fundamentaler Verfahrensvorschriften erfolgt. Gedacht wurde dabei auch an Inhaftierungen in Konzentrationslagern; Stahn (Anm. 152) 582. Ähnliche Normen finden sich auch in Art. 5 Statut ICfY, Art. 3 Statut ICfR und Art. 18 lit. h des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind. Der Kommentar zu dieser Bestimmung hält dazu fest: "The term ,arbitrary' establishes the requirement that the deprivation be without due process of law". 292 Die Verbindung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem ius cogens Charakter dieser Verbotsnormen wird auch von Meron (Criminalization) 558 gezogen. 293 In keinem Menschenrechtsvertrag wurden die Verfahrensgarantien in die Derogationsklauseln aufgenommen, eine partielle Ausnahme macht einzig Art. 27 Abs. 2 AMRK, der die fair trial-Garantien soweit notstandsfest erklärt, wie sie zum Schutz der übrigen notstandsfesten Garantien erforderlich sind. Eine solche abgeleitete Notstandsfestigkeit vertreten Oraa 114 ff und 265 und Syracusa Principle 70 auch für die EMRK und den Pakt II; siehe zu diesem Problem auch unten Kap.5, 11.1.e). In der Literatur vertritt die ius cogens QualitätSaladin 79, ausdrUcklieh ablehnend hingegen Katleibach 303 f. 294 Die zwingende Konzeption des humanitären Völkerrechts äussert sich besonders deut· lieh in Art. 1 Ziff. 1 ZPI, gernäss dem sich die Vertragsparteien nicht nur verpflichten, "dieses Protokoll unter allen Umständen einzuhalten", sondern zusätzlich ,,seine Einhaltung durchzusetzen". Siehe zur Notstandsfestigkeit des humanitären Vollcerrechts ausführlicher hinten Kap. 5, III. 5. b). 290 291

6KIInzli

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

GK I-IV 295 , der grundlegendsten Bestimmungen der Art. 75 ZP I und 4 ff ZP 11 296 sowie weiterer Bestimmungen der GK III und IV zum Schutze der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung297 bestehtl98 • Im Fall der Grundbestimmung des Art. 3 GK I-IV bestehen ausserdem immerhin Indizien dafür, dass der ius cogens Charakter dieser Norm sich auch auf Gebiete ausserhalb des Anwendungsbereichs dieses Rechtszweiges ausdehnen könnte 299•

5. Bestand und Abgrenzung der Rechtskategorien der ius cogens Verpflichtungen, der erga omnes Verpflichtungen und der im ungeschriebenen Recht verankerten Verpflichtungen

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich für die besprochenen völkerrechtlichen Verpflichtungsarten resp. die sie verankernden Rechtsquellen im Hinblick auf den Umfang ihres materiellen Normbestandes das folgende Verhältnis: 1. Den umfangreichsten Normbestand weisen Verpflichtungen auf, welche kollektiv gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft zu erfüllen sind. Sowohl men295 Siehe die entsprechende Äusserung des IGH im Falle USA v. Nicaragua (ICJ Reports 1986, para. 218) und des Sonderberichterstatters zur Menschenrechtssituation im irakisch besetzten Kuwait (UN. Doc. E/CN.4/1992/26, paras. 39 ff). So auchMeron (Customary Law) 41 ff m. w. H.; Kälin!Gabrie/20 und Gasser (Einführung) 80. Siehe dazu auch unten Kap. 2, IV. 3. 296 Bericht des Sonderberichterstatters für die Menschenrechtssituation im irakisch besetzten Kuwait, UN. Doc. E/CN. 4/1992/26, paras. 42 ff. Siehe auch Meron (Customary Law) 62 ff. 297 Siehe z. B. die Aussagen des ICfY im Urteil The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm. 109), paras. 110ff sowie Hannikainen 644ff und 663ff; Verdross!Simma 332; Meron (Geneva Conventions) 350 und David (Principes) 91 f. Vgl. auch Condorelli!Boission de Chazournes 33 und wohl auch Rajower 184, die das gesamte humanitäre Völkerrecht als Bestandteil des ius cogens bezeichnen. 298 Der absolute Charakter zumindest von Teilbereichen des humanitären Völkerrechts zeigt sich auch an den verschiedenen im Genfer Recht verankerten Verboten, von seinen Regelungen abzuweichen: So untersagen die GK Vereinbarungen zwischen Vertragsstaaten, die Rechte der geschützten Personen schmälern (Art.6 und 131 GKIII; Art. 7 und 148 GKIV) und statuieren die Unwirksamkeit des Verzichtes auf ihre Rechte durch eine geschützte Person (Art. 7 GKIII; Art. 8 GKIV). Schliesslich bleibt auch eine Kündigung dieser Verträge solange unwirksam, solange geschützte Personen sich in der Gewalt des gegnerischen Staates befinden (Art. 142 Abs. 3 GK li; Art. 158 Abs. 3 GK IV). Selbst eine gültige Kündigung hat gernäss der sog. Martens'schen-Klausel ,,keinerlei Wirkung auf die Verpflichtungen, welche die am Konflikt beteiligten Parteien gernäss den Grundsätzen des Völkerrechts zu erfüllen gehalten sind, wie sie sich aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus der Forderung des öffentlichen Gewissens ergeben" (Art. 142 Abs.4 GKIII; Art.158 Abs.4 GKIV; Art. 1 Ziff.2ZPI; Präambel Abs.4ZPII). Diese Klausel verweist deshalb (in deklaratorischer Weise) auf das ungeschriebene Recht und verleiht allen nicht durch die Verträge geschützten Konfliktbeteiligten einen minimalen Schutz. Siehe dazu z. B. ZP-Komrnentar Rz. 52ff und 4432ff und GK-IV-Komrnentar 623ff. Der IGH liess demgegenüber in seinem Gutachten zur Zulässigkeit von Nuklearwaffen die Frage eines ius cogens Charakters der Prinzipien dieses Rechtsgebietes ausdrUcklieh offen (ICJ Reports 1996, para. 83). 299 Dazu unten Kap. 2, IV. 3. d).

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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sehenrechtliche Garantien des universellen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts als auch in Verträgen mit universellem Ratifikationsstand kodifizierte Garantien begründen integral Verpflichtungen, welche diese Voraussetzung erfüllen. Zumindest eine Verpflichtung erga omnes partes wird durch alle in multilateralen Verträgen verankerten Menschenrechte geschaffen. 2. Menschenrechte, die kraft ungeschriebener Rechtsquelle auf universeller Ebene in Kraft stehen, können entweder zwingende (ius cogens) oder dispositive Verpflichtungen begründen. Von letzteren kann beispielsweise durch abweichenden Vertrag, im Notstandsfall oder anlässlich der Ergreifung unilateraler Gegenmassnahmen unter Beachtung gewisser Voraussetzungen rechtmässig abgewichen werden 300• Regelmässig zwingender Charakter kommt hingegen den ungeschrieben geltenden Garantien des humanitären Völkerrechts zu. 3. Fundamentalen Menschenrechtsgarantien, denen ius cogens Charakter zukommt, bilden daher wiederum eine Teilmenge der ungeschrieben geltenden Menschenrechte. Im humanitären Völkerrecht ist demgegenüber der Normbestand ungeschriebener Garantien und solcher mit ius cogens Merkmalen deckungsgleich. Von Verpflichtungen, welche diese Anforderungen erfüllen, kann weder mittels Konsens noch auf unilateralem Weg rechtmässig abgewichen werden. 4. Den ionersten Kreis bilden schliesslich Garantien, deren Verletzung nicht bloss als völkerrechtliches Delikt, sondern infolge ihrer absolut zentralen Bedeutung für die Staatengemeinschaft gar- wie der allerdings nicht als geltendes Recht zu qualifizierende Art.19 des ILC-Entwurfs bestimmt- als Verbrechen des Staates eingestuft werden.

6. Zur möglichen praktischen Relevanz aussecvertraglich geltender Menschenrechtsgarantien

a) Herausbildung neuer Menschenrechtsgarantien? Infolge der zahlreichen abgeschlossenen Kodifikationen der letzten Jahrzehnte und der teilweise dynamischen Rechtsprechung der Vertragsüberwachungsorgane können die Rechtsquellen Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze heute nicht mehr als der primäre Motor für die Rechtsfortbildung im Völkerrechtszweig von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht betrachtet werden. Sowohl die Anerkennung neuer Garantien wie auch Ausdehnungen der Geltungsbereiche bereits an sich rechtlich verankerter Schutznormen erfolgen heute primär durch die Schaffung neuer Vertragsbestimmungen oder durch die richterliche Rechtsfortbil300

6*

Siehe dazu Kap.5, III.

84

Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

dung im Rahmen der Auslegung vertraglicher Bestimmungen301 • Eindrücklich wird diese Umkehr des traditionellen Verhältnisses zwischen diesen beiden Rechtsquellen- Entstehung von Gewohnheitsrecht und ansebliessende Umgiessung in die Vertragsform - auch durch die oben dargestellten Äusserungen von Lehre und Praxis zur Begründung desBestehenseiner gewohnheitsrechtliehen Norm aufgezeigt: Regelmässig wird die Verankerung einer Norm in einer möglichst universell ratifizierten Konvention als eines der Hauptindizien für das Bestehen einer entsprechenden Regel des Gewohnheitsrechts herangezogen. Diese Tatsache rührt neben den Schwierigkeiten des Nachweises der Geltung einer Norm kraft ausservertraglicher Rechtsquelle nicht zuletzt auch aus der Problematik der Abgrenzung des genauen Inhaltes einer solchen Garantie her: Weil die Interessen der Staaten im Bereich des Menschenrechtsschutzes nicht reziprok sind, konnte sich keine Praxis bilden, welche den Inhalt dieser Normen präzise festlegen würde. Da zudem die Durchsetzungsinstrumentarien auf vertraglicher Ebene weitaus effizienter ausgestaltet sind und infolgedessen auch über eine entsprechend grosse Spruchpraxis verfügen, stützt sich auch eine inhaltliche Konkretisierung einer Verpflichtung des allgemeinen Völkerrechts regelmässig auf die vertragsrechtliehen Parallelnormen302• Die Funktion der ausservertraglichen Rechtsquellen beschränkt sich deshalb im Bereich des Menschenrechtsschutzes auf eine subsidiäre Rolle im in den nachfolgenden Abschnitten zu skizzierenden Umfang. b) Ausdehnung der Bindung vertraglicher Verpflichtungen über den Kreis der Unterzeichnerstaaten Die praktisch wohl wichtigste Funktion ungeschriebener Menschenrechte besteht in der Ausdehnung der Verpflichtung (deklaratorischer) Vertragsbestimmungen auf Staaten, die mangels vertraglicher Bindung nur aufgrund dieser Rechtsquellen zur Gewährleistung solcher Rechte angehalten werden können. Eine solche Verpflichtung ist denkbar in Fällen, in welchen entweder ein Staat das diese Norm enthaltende Vertragswerk nicht ratifiziert hat, dieses wieder kündigte oder zu einer auch gewohnheitsrechtlich geltenden Norm einen Vorbehalt anbrachte. • Keine praktische Bedeutung kommt der erstgenannten Konstellation in Fällen von Verträgen zu, die zwar Normen des Gewohnheitsrechts enthalten, jedoch wie die Genfer Konventionen praktisch universell ratifiziert wurden 303• Bereits die 301 Siehe das eindrUckliehe Beispiel von Art. 6 EMRK, dazu u. a. Villiger 239ff; Harrist 0' Boyle/Warbrick 163 ff und Frowein/Peukert 150ff. 302 So das Statut des ICI'Y, in welchem- obwohl nur Tatbestände aufgenommen wurden, welche kraft Gewohnheitsrecht eine individuelle Strafbarkeit begr11nden- die Umschreibung der einzelnen Delikte teilweise wörtlich der Genozidkonvention oder den Genfer Konventionen entnommen wurde. 30' Diese wurden bisher (Stand I. August 2000) von 189 Staaten ratifiziert. Selbst im Fall eines universell ratifizierten Vertrages kann aber eine ungeschriebene Parallelgeltung seiner ma-

III. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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beiden ZP und auch der Pakt II, die ebenfalls Nonnen deklaratorischen Charakters enthalten, weisen jedoch einen deutlich tieferen Ratifikationsgrad auf304 und selbst die Genozidkonvention, welche in weiten Teilen als Kodifikation des Völkergewohnheitsrechts gilt 30', wurde bisher nur von ungefähr sechzig Prozent aller existierenden Staaten ratifiziert 306• Auch wenn in solchen Fällen das subsidiär zur Anwendung gelangende Gewohnheitsrecht nicht alle Lücken der fehlenden Ratifikation zu schliessen vennag 307, kann dieses doch Basis für Untersuchungen der UN0 308 resp. für menschenrechtliche Interventionen von Drittstaaten bilden309• • Verschiedene Menschenrechtsverträge sehen explizit die Möglichkeit einer Kündigung vor310, während sich andere darüber ausschweigen 311 • Im zweiten Fall ist eine Kündigung gernäss der allgemeinen, bei Schweigen des spezifischen Vertrages zur Anwendung gelangenden Regel von Art. 56 VRK nur im Falle der Zustimmung aller übrigen Vertragsstaaten möglich 312• Ist eine Kündigung aber gültig, da sie sich auf eine konkrete Vertragsbestimmung stützen kann oder weil - was im Bereich der Menschenrechte wenig wahrscheinlich erscheint- alle übrigen Vertragsparteien zustimmen, bleiben für den kündigenden Staat nur die Verpflichtungen bestehen, die bereits ausservertragliche Geltung besitzen, ohne dass jedoch das Vertragsdurchsetzungsverfahren bezüglich dieser Garantien weiter angewandt werden könnte. Obwohl die Kündigung von Menschenrechtsverträgen ein seltenes Phänomen313 bleiben dürfte, wird sich in der Zukunft erweiteriellen Bestimmungen in einem Sonderfall zu einer Ausdehnung des Kreises seiner Adressaten führen: So kann die Verpflichtung Dichstaatlicher Völkerrechtssubjekte (siehe dazu hinten Kap. 2, V.) nur im Falle von ungeschriebenem Recht erklärt werden, da solche Gebilde vertragliche Instrumente kaum je ratifizieren können. 304 Stand l. August 2000: ZPI: 157 Ratifikationen; ZPII: 150 Ratifikationen; Pakt II: 143 Ratifikationen. 30S Siehe oben bei Anm. 119. 306 Stand 9. Mai 2000: 130 Ratifikationen. Da!Uber hinaus enthält aber die Genozidkonvention materielle Bestimmungen, welche über die gewohnheitsrechtlich geltenden Regelungen hinaus reichen. 307 So gelangen die vertraglichen Durchsetzungsinstrumentarien trotzdem nur bei Ratifikation der entsprechenden Verträge zur Anwendung. 308 Vgl. bzgl. Art. 75 ZPI den Bericht des Sonderberichterstatters zur Situation der Menschenrechte im irakisch besetzten Kuwait; UN. Doc. E/CN. 4/1992/26, paras. 42 ff. 309 Siehe Kälin (Bedeutung) 71 ff. 310 Siehe dazu Art. 58 EMRK; Art. 78 AMRK; Art. 12 FP/Pakt II; Art. 37 ESC; Art. 31 CAT; Art.52CRC. 311 Keine Kündigungsregel kennen der Pakt I und der Pakt II. Allerdings hielt der Ausschuss für Menschenrechte in seinem General Comment 26/61 vom 29. Oktober 1997 fest, der Pakt II sei ,,not the type oftreaty which, by its nature, implies a right of denunciation" (a.a. 0., para. 3). Folglich sei davon auszugehen "that intemationallaw does not permit a State which has ratified or acceded or succeeded to the Covenant to denounce it or withdraw from it" (a. a. 0., para. 5). 3l2 So für den Pakt II Nowak (Kommentar) XXV und ders. (Commentary) XXVII. 313 Bestrebungen, den Pakt II zu kUndigen, erfolgten immerhin in den Niederlanden (siehe Nowak [Kommentar] XXV}, und Nordkorea kündigte diesen Vertrag im Jahre 1997, was je-

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

sen, ob bei einer Effektivierung der vertraglichen Überwachungsmassnahmen nicht gewisse Staaten der Versuchung unterliegen werden, sich durch Kündigung der entsprechenden Verträge unliebsamen Verpflichtungen zu entledigen. • In seinem General Comment zur Frage der Zulässigkeil der Anbringung von Vorbehalten zum Pakt II hielt der Menschenrechtsausschuss fest: "Reservations that offend peremptory norms would not be compatible with the object and purpose of the Covenant. Although treaties that are mere exchanges of obligations between States allow them to reserve inter se application of rules of generat international law, it is otherwise in human rights treaties, which are for the benefit of persons within their jurisdiction. Accordingly, provisions in the Covenant that represent customary international Law (and a fortiori when they have the character of peremptory norms) may not be the subject of reservations" 314•

Gernäss dieser Ansicht bewirkt bereits die ausservertragliche, auch nicht zwingende, Geltung einer Garantie, die im Pakt II verankert ist, die Unwirksamkeit des betreffenden Vorbehaltes und damit die integrale Wirkung aller deklaratorischen Bestimmungen dieses Vertrages und die Überprüfbarkeil der Verpflichtungen aus diesen Normen zumindest mittels der obligatorischen Durchsetzungsinstrumentarien. Dieser Ansicht kann m. E. - falls diesen gewohnheitsrechtliehen Garantien nicht auch ius cogens Qualität zukommt- nicht gefolgt werden 3 u: Auch wenn die bereits ausservertraglich geltenden Garantien den vorbehaltenden Staat weiter binden, kann dieser im Zeitpunkt seiner (freiwilligen) Ratifikation doch ein Interesse daran haben, Probleme bei der Durchsetzung einer bestimmten Garantie nicht durch ein völkerrechtliches Organ überprüfen zu lassen, resp. den Individuen unter seiner Jurisdiktion diese Möglichkeit vorzuenthalten. Diese Konsequenz scheint auf den ersten Blick auch gegen die Ungültigkeit von Vorbehalten, die eine ius cogens Garantie betreffen, zu sprechen. Da aber die Anbringung einer solchen sektoriellen Nichtratifizierung implizit die potentielle Absicht der Nichtbeachtung einer zwingenden Norm des Völkerrechts einschliesst, eine Vorgehensweise, die einem Staat auch ohne Ratifizierung des betreffenden Vertrages in absoluter Weise untersagt wird, will er sich nicht völkerrechtlich verantwortlich machen, kann ihm dieser Weg auch nicht via dem Umweg der Anbringung eines entsprechenden Vorbehaltes geöffnet werden. Schliesslich spricht auch die bereits oben dargestellte Ungültigkeit auch unilateraler Akte, die gegen eine ius cogens Norm verstossen oder sich die Möglichkeit eines solchen Verstosses offenhalten wollen, gegen die Gültigkeit solcher Vorbehalte316• doch vom Ausschuss für Menschenrechte nicht anerkannt wurde (vgl. Anm.311). Die AMRK wurde im Jahre 1998 von Trinidad und Tobago gekündigt (vgl. dazu HRlJ 1999, 280f). 314 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 24/52, para. 8. 315 So auch Nowak (Inhalt) 15 und ders., The Activities of the UN Human Rights Committee: Developments from 1 August 1992 to 3 July 1995, HRU 1995, 380. Ein weiterer Grund für diese Einstufung liegt auch in der Tatsache begrUndet, dass von dispositivem Gewohnheitsrecht auf unilaterale Weise auch unter Anrufung der sogenannten Unrechtsausschliessungsgründe (siehe dazu ausführlich hinten Kap.5, III.2.c) und 4.) abgewichen werden darf. 316 Nowak (Inhalt) 15. Siehe dazu oben Abschn.4. a).

111. Schutz des Individuums im ungeschriebenen Völkerrecht

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c) Ausdehnung der Geltungsbereiche vertraglich geltender Garantien Gernäss Vertragsrecht beinhalten die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle zwei rechtlich unterschiedliche Spezialregimes zum Schutz von Personen entweder während internationalen oder während internen bewaffneten Auseinandersetzungen317. Die Regelungsdichte dieser zwei Regimes istjedoch höchst unterschiedlich. Während die GK IV und das ZP I die Grenzen der Kriegsführung in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen in über 500 Bestimmungen normieren, beschränkt sich die entsprechende während Bürgerkriegen anwendbare Regelung auf zwanzig Artikel 318 • Diese auf Souveränitätsüberlegungen der einzelnen Staaten beruhende Diskrepanz liesse sich zumindest vermindern, wären gewisse Regeln des völkerrechtlichen Normsets der internationalen Konflikte kraft Gewohnheitsrecht oder allgemeiner Rechtsgrundsätze auch während Bürgerkriegen anwendbar. Eine solche Ausdehnung würde jedoch voraussetzen, dass gewisse vertragliche Normen des humanitären Völkerrechts nicht nur ausservertragliche Geltung beanspruchen können, sondern dass der Geltungsbereich gernäss allgemeinem Völkerrecht über den vertraglich definierten hinausreicht. Die Möglichkeit einer solchen doppelten Ausdehnung rein vertraglicher Garantien wurde vom Jugoslawien Tribunal nach ausfÜhrlicher Abklärung der Staatenpraxis ausdrücklich anerkannt3 19• Die Bedeutung dieser Funktion des Gewohnheitsrechts beschränkt sich aber nicht auf das humanitäre Völkerrecht, sondern besteht potentiell überall dort, wo ein vertraglicher Regelungskomplex nur ein Sonderregime- sei dies in zeitlicher, persönlicher oder situationsbedingter Hinsicht - normiert.

d) Verstärkung des Verpflichtungsgrades vertraglich geltender Garantien Nicht die ausservertragliche Geltung einer Garantie an sich, sondern deren ius cogens Qualität, vermag grundsätzlich den Verpflichtungsgrad vertraglich geltender Schutzgarantien zu verstärken. Diese Vernetzung ist bereits in den Derogationsklauseln von EMRK, Pakt II und AMRK angelegt, die alle eine Derogation nur für zulässig erklären, soweit eine solche Massnahme nicht den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten entgegenlaufen320• Solche "anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen" können sich aus anderen Verträgen oder aber aus ius cogens Garantien ergeben, von welchen definitionsgernäss auch in Notstandszeiten nicht abgewichen werden darf. Da jedoch - wie oben festgestelle 21 - der Be317

Vgl. dazu ausfUhrlieh Kap.2, IV.3.

Gasser (Einftlhnmg) 28. 319 ICfY, The Prosecuror v. Dusko Tadic (appeal on jurisdiction, Anm.l 09), para.126. Siehe 311

dazu auch unten Kap. 2, IV. 3. 320 Siehe Art.4 Abs. l Pakt II, Art.l5 Abs.l EMRK, Art. 27 Abs.l AMRK und ausführlich unten Kap. 5, II. 1. d). 321 Siehe Abschn.4.e).

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

stand zwingender Menschenrechtsgarantien des allgemeinen Völkerrechts sich im wesentlichen mit dem gemeinsamen Minimum der vertraglich als notstandsfest anerkannten Rechte deckt, ergibt sich faktisch, zumindest solange bis Verfahrensgarantien dem ius cogens Bestand zugerechnet werden können, abgesehen von zwei Ausnahmen kein Anwendungsfall für eine Verstärkung des Verptlichtungsgrades. Diese Ausnahmen betreffen das Verbot der systematischen und weitverbreiteten willkürlichen Haft und die gewohnheitsrechtlich geltenden Garantien des humanitären Völkerrechts, deren Anwendungsbereich, wie vorgängig festgestellt, zusätzlich über denjenigen ihrer vertraglichen Parallelbestimmungen hinausreichen kann. Da zudem in Situationen, in welchen das Genfer Recht zur Anwendung gelangt, Vertragsstaaten regelmässig zur Derogation im vertraglich erlaubten Umfang berechtigt sein dürften, bewirken diese ius cogens Garantien, eine- wenn auch auf einen kleinen Sektor beschränkte- Steigerung des Schutzniveaus vertraglicher Menschenrechtsgarantien.

IV. Die Anwendbarkeit von Rechtsfiguren des allgemeinen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte 1. Die zwei Schulen der Doktrin Obwohl auch Verpflichtungen aus Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht- wie eben aufgezeigt- ihre rechtliche Verankerung in der klassischen völkerrechtlichen Quellentrias des Art. 38 IGH Statut finden, ist unbestritten, dass dieses Rechtsgebiet innerhalb des Völkerrechts in verschiedener Hinsicht eine Sonderposition einnimmt. Diese Rolle lässt sich mit verschiedenen Gründen erklären: Erstens stammen die Wurzeln dieses Rechtsgebietes aus dem nationalen Verfassungsrecht, und seine Regeln wurden, wie dargestellt, erst vor vergleichsweise kurzer Zeit auf die internationale Ebene übertragen 322• Ein zweiter Grund liegt darin, dass dieses Gebiet nicht nur das völkerrechtliche Dogma des Bestehens ausschliesslich staatlicher Rechtssubjekte auf den Kopf stellt, sondern eine andere Erfüllungsstruktur aufweist, indem seine Verpflichtungen primär nach innen und erst sekundär im Verhältnis gegenüber anderen Staaten erfüllt werden. In der Literatur finden sich nur wenige Hinweise, die sich mit der Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in diesem spezifischen Rechtszweig befassen. Trotzdem lassen sich in dieser Frage zwei Schulen unterscheiden: • Die Anhänger der die besondere Natur der Menschenrechte betonenden Sichtweise lehnen eine Heranziehung der allgemeinen Regeln auch zur Lösung von Fragen ab, auf welche die spezifischen Vertragsregeln keine Antwort zu geben vermögen 323, oder sie zeigen zumindest eine gewisse Skepsis hinsichtlich der 322 323

Siehe die Übersicht oben Abschn. II. 1. a). So z. 8. Clapham 188.

IV. Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts

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Möglichkeit einer kumulativen Anwendung allgemeiner und spezifischer Regeln324. • Anhänger einer einheitlichen Theorie andererseits benutzen die allgemeinen Rechtsfiguren des Völkerrechts bei Lücken in den zur Diskussion stehenden Vertragswerken in der Regel 325 ohne diese Vorgehensweise besonders zu rechtfertigen326. Diese allgemeine Einstufung präsentiert sich allerdings leicht modifiziert, wird der Vergleich auf die im Bereich der Menschenrechte potentiell besonders relevanten Regeln des völkerrechtlichen Vertragsrechts und des Rechts der Staatenverantwortlichkeit, d. h. der VRK und des Entwurfs der ILC327 zum Recht der Staatenverantwortlichkeitl28, beschränkt: Stimmen, die eine Anwendung der VRK im Bereich 324 Siehe z. B. Frawein (Probleme) 289ff. Simma (Comparative Analysis, 164) erklärt diese Haltung in folgender Weise: .,When isolated rules, principles and treaties grow into a field, or regime of their own, there seems to develop an unavoidable tendency on the part of the schotarship engaged in the field to somehow ,de-couple' itself from the body of the generat theory on which it is (and remains) based"./an Brownlie (The Rights of Peoples in Modem International Law, Bulletin of the Australian Society of Legal Philosophy 1985, 116, zitiert nach Simma, a. a. 0.) andererseits beobachtet eine .,tendency of what may be called the enthusiastic legal Iiterature to develop as an isolated genre, with the select few repetitiously citing one another and the same materials, completely outside the mainstream of diplomacy and international law" . 325 Von folgenden Autoren wird dieses Vorgehen jedoch explizit begründet: Merrills 205 (.,the applicability of generat intemationallaw depends, however, on its compatibility"); Vierdag 125 f; Simma (Comparative Analysis) 164 ff; M eron (Customary Law) 136 ff, der ausführt, dass seine Studie .,in the discipline of intemationallaw and of the relationship of human rights and humanitarian norms with state responsibility should contribute to the acceptance of human rights as an authentic and Iegitimale branch of intemationallaw" (a. a. 0. 136); /an Brownlie, International Law at the Fiftieth Anniversary ofthe United Nations, General Course on Public International Law, RdC Vol. 255, 1995, 77 und 84. 326 Siehe z. B. Ouguergouz (Derogation) 300ff; Kälin/Gabriel29ff; Achermann 76ft. 327 Bei diesem Entwurf handelt es sich um keine klassische Völkerrechtsquelle. Seit über vierzig Jahren konzentriert sich aberdie Entwicklung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit in diesem Vorhaben, das den gegenwärtigen Stand der Lehre und Praxis zu kodifizieren versucht. Deshalb sind z. B. gernäss Brownlie (Principles, 25) .,sources analogous to the writings of publicists, and at least as authoritative, ( ...) the draft articles produced by the International Law Commission ( ...)". 328 Die ILC hat diesen Entwurf in erster Lesung im Jahre 1996 verabschiedet. Siehe Report of the ILC on the work of its 48th session, 1996, UN Doc. A/51/10; auch abgedruckt in ILM 1998, 440ff. Die Kodifikationsarbeiten zu diesem Projekt werden ausführlich z. B. bei Simma 360 ff und Achermann 77 ff und im Report of the International Law Commission on the work of its fiftieth session, 20 April-12 June 1998 and 27 July-14 August 1998, Offi.cial Records, Fifty-third Session, Supplement No.IO, UN Doc.A/53/10, paras. 202ff, vorgestellt. Seit 1998 befasst sich die ILC in 2. Lesung mit diesem Kodifikationsprojekt Die bis zum 1. April 1999 beschlossenen oder vorgeschlagenen Änderungen gernäss 2. Lesung finden sich zusammengefasst in EJIL 1999, 447ff. Siehe zur Revision des ILC-Entwurfs Crawford 435ff. Wesentlich für das Verständnis der Grundsätze dieses Entwurfs ist dabei die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundämormen. Die Kodifikation der ILC beschränkt sich dabei auf

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts generell ablehnen, sind nicht auszumachen. Diese Einigkeit beschränkt sich aber auf die Auslegungsregeln329 und die Bestimmungen der Voraussetzung der Anbringung von Vorbehalten330 dieses Vertrages. Regeln aus anderen Sachgebieten des Vertragsrechts, wie beispielsweise diejenigen, welche die Möglichkeit und Grenzen eines Rücktritts oder einer Suspendierung von Verträgen normieren, wurden hingegen mit seltenen Ausnahmen 331 nie auf ihre Anwendbarkeit im Bereich von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht überprüft. Kontroverser präsentiert sich die Situation hinsichtlich der Anwendbarkeit des Rechts der Staatenverantwortlichkeit Namentlich Clapham widersetzt sich radikal einer Berücksichtigung dieser allgemeinen Regeln zumindest im Bereich der EMRK 332• Die Mehrheit der Lehre hingegen geht wohl- teilweise zwar undeutlich formuliert 333 - von einer Überlappung der Anwendungsbereiche beider Rechtsgebiete und damit auch von einer Anwendbarkeit der im ILC-Entwurf enthaltenen Prinzipien entweder in genereller Form334 oder aber zumindest subsidiär zwecks Lückenfüllung 335 im Bereich der Menschenrechte aus. letztere, d. h. auf die Fragen der Voraussetzungen des Eintritts der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit einerseits und der Rechtsbeziehungen zwischen Verletzer, Verletztem und Dritten andererseits. Nicht in diesem Entwurf enthalten sind hingegen Primämorrnen, welche die materiellen Verhaltenspflichten der Staaten regeln. Zu dieser Unterscheidung siehe z. B. Achermann 80 ff und Epiney 25 ff. 329 So z. B. Rudolf Bernhardt, Thoughts on the Interpretation of Human-Rights Treaties, in Matscher/Petzold (eds.), Protecting Human Rights: The European Dimension, Studies in Honour ofG. Wiarda, Köln u.a. 1988,71 f: "[T]he generat rules oftreaty interpretation are in principle also applicable in human-rights treaties, but the object and purpose of these treaties are different and, therefore, the traditional rules need some adjustment". 330 Vgl. z. B. Suy 942 und L. Lijnzaard, Reservations to Human Rights Treaties, Ratify and Ruin, The Hague/Boston/London 1995. 331 Zu diesen Ausnalunen zählen Ouguergouz (Derogation) 300ffundErgec 43ff. Siehe zu dieser Frage auch hinten Kap. 5, III. 3. 332 Siehe Clapham 104 ffund 188: "[O]ne should bear in mind that the threshold must be different, as a finding of a Violation of the ECHR does not have the same consequences as incurring state responsibility under international law" (a. a. 0 . 188). Siehe dazu auch Kap. 2, Anm. 297 f. Dieselbe Position findet sich auch in Andrew C/apham, The ,,Drittwirkung" of the Convention, in McDonald et al. (eds.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht/Boston/London 1993, 170. Siehe zum Ganzen auch die weniger radikale Kritik von Christine Chinkin, A Critique of the Public/Private Dimension, EJIL 1999, 387ff. Andererseits werden selbst von Autoren, die sich wie Clapham mit der Problematik der Drittwirkung befassen, die Regeln der Staatenverantwortlichkeit angewandt. Vgl. Forde 264 ff; Vierdag 136 und Dipla 60ff. 333 Siehe z. B. Higgins (Problems and Process), die zuerst festhält, dass Menschenrechte ,,strikingly different from the rest of public internationallaw" (a. a. 0. 95) seien, aber trotzdem die Meinung vertritt, dass "there is no inherent reason why responsibility should attach at the international Ievel only for certain types of harrn done, and not for others (...)" (a. a. 0. 152). 334 Vierdag 136: ,,Article 17 of the ILC Draft emphatically stipulates that a breach of an Obligation is an internationally wrongful act, ,regardless of the origin, whether customary, con-

IV. Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts

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2. Berücksichtigung des allgemeinen Völkerrechts in menschenrechtliehen Verträgen und in der Praxis Es ist eine vielen Menschenrechtsabkommen gemeinsame Rechtsetzungstechnik, anstelle einer selbständigen Normierung einer Rechtsfrage explizit auf die Regeln des allgemeinen Völkerrechts zu verweisen 336• Auch wenn diese Referenzen an sich keinen stringenten Beweis für die Situierung der Menschenrechte als integralen Bestandteil des Völkerrechts darstellen 337,liefern sie doch einen Beleg dafür, dass sich die Anwendungsbereiche von allgemeinen und spezifischen Regeln zumindest teilweise überlappen. Garantien mit einem expliziten Verweis umfassen dabei Verankerungen des Prinzips von nulla poena sine lege. Dieses statuiert, eine Person könne auch dann schuldig gesprochen werden, wenn ein Handeln oder Unterlassen ein strafbares Delikt gernäss internationalem Recht darstelle 338 • Weiter stipulierenDerogationsklauseln, dass Notstandsmassnahmen unter anderem nur legitim sind, falls damit nicht gegen andere Verpflichtungen des Völkerrechts verstossen wird339• Schliesslich enthält das allen Verträgen, welche die Möglichkeit einer Beschwerde an ein internationales Organ begründen, gemeinsame Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges gar einen indirekten Verweis auf das Recht der Staatenverantwortlichkeit So halten die fraglichen Bestimmungen fest, diese Erschöpfung habe gernäss den "allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts" zu erfolgen 340 • Diese angesprochenen Grundsätze finden sich aber wiederum im Recht des diplomatischen Schutzes, das unter einer historischen Perspektive auch das Recht der Staatenverantwortlichkeit umfasst. Obwohl die Überwachungsorgane der Menschenrechtsverträge primär die Bestimmungen der jeweiligen Verträge als Basis ihrer Entscheidungen benutzen, finden sich auch in ihrer Rechtsprechung vertraglich nicht abgestützte Bezugnahmen auf das allgemeine Völkerrecht. Diese Rückgriffe geschehen dabei regelmässig in zwei verschiedenen Konstellationen: Erstens, falls ein bestimmter Fall Fragen aufventional or other, ofthat obligation'. As a result, there is no reason to consider that there are any specific features in that respect in treaties on the protection of human rights". V gl. auch Meron (Customary Law) 136ff und insbesondere 160; Schachter 202; Ramcharan 249; Wiesbrock 200ff; Cohen-Jonathan, Responsabilit~ pour alteinte aux droits de l'homme, in Soci~t~ Fran~aise Pour le Droit International (ed.), La responsabilite dans le syst~rne international, Paris 1991, 120ff, und Dipla. 335 Z. B. Lawson/Schermers 630; Tavernier 556; Singhvi 556ff. 336 Für den Bereich der EMRK siehe Merrills 202ff. 337 Da es im Belieben der Schöpfer eines Vertrages liegt, inwieweit ein Problem in einem bestimmten Vertrag geregelt werden soll oder in welchen Bereichen stattdessen auf eine alle Parteien bindende gewohnheitsrechtliche oder vertragliche Regel verwiesen werden soll. 338 Art. 15 Pakt II und Art. 7 EMRK. 33' Art. 4 Abs. 1 Pakt II; Art. 15 Abs. 1 EMRK; Art. 27 Abs. 1 AMRK; vgl. dazu auch ausführlich Kap. 5, II. 1. d). 340 Z. B. Art. 41 Abs. 1 lit. c Pakt II und Art. 5 Abs. 2 lit. b FP zu Pakt II; Art. 11 Abs. 3 der Rassendiskriminierungskonvention; Art. 35 EMRK und Art. 45 AMRK.

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

wirft, welche im entsprechenden Vertrag nicht geregelt341 sind, und zweitens, falls eine bestimmte Vertragsnorm in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Völkerrecht342 ausgelegt werden soll. Beide Methoden finden sich in beispielhafter Weise im Grundsatzentscheid des EGMR im Falle Loizidou v. Turkey vereinigt: ,Jt is recalled that the Convention must be interpreted in the light of the rules of interpretationsetout in the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of Treaties and that Artide 31 para. 3(c) ofthat treaty indicates that account is tobe taken of ,any relevant rules of intemationallaw applicable in the relations between the parties'. ( ...) Of particular significance to the present case the Court held, in conformity with the relevant principles of international law goveming state responsibility, that the responsibility of a Contracting Party could also arise when as a consequence of military action- whether lawful or unlawful- it exercises effective control of an area outside its national territory" 343•

Diese Beispiele zeigen nicht nur, dass das System des internationalen Menschenrechtsschutzes gewisse Besonderheiten enthält, auf die z. B. im Rahmen der Auslegung Rücksicht zu nehmen ist, sondern sie illustrieren auch deutlich, dass Lücken in diesem System oft in einer angemessenen Weise mittels eines Rückgriffs auf die allgemeinen Regeln aufgefüllt werden können und sich deshalb häufig als Scheinlücken entpuppen. Diese Verzahnung der speziellen mit den allgemeinen Regeln lässt sich aber nicht nur im europäischen Kontext beobachten, wie die unten darzustellende344 Rechtsprechung zum territorialen Geltungsbereich des Paktes II besonders deutlich macht, welche zu einem Auslegungsresultat führte, das gar in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Wortlaut von Art. 2 Pakt II steht.

341 Siehe für ein Beispiel aus dem humanitären Völkerrecht die Ausführungen der Appeals Chamber des ICTY in The Prosecutor v. Dusko Tadic, Judgement, Case No. IT-94-1-A, Judgement of 15 July 1999, para. 98: ,Jntemational humanitarian law does not contain any criteria unique to this body of law for establishing when a group of individuals may be regarded as beingunder the control of a state ( ... ). Consequently, it is necessary to exarnine the notion of control by a State over individuals,laid down in generat intemationallaw, for the purpose of establishing whether those individuals may be regarded as acting as de facto State officials". 342 Art. 31-33 VRK. Bezugnahmen zu diesen Bestimmungen finden sich unter anderem in EGMR, Goider v. United Kingdom, Series A Vol.18, para. 29; Johnston and Others v.lreland, Series A Vol.l12, para.51, und Loizidou v. Turkey (preliminary objections), Series A Vol. 310, para. 73. 343 EGMR, Loizidou v. Turkey (merits) judgement of 18 December 1996, Reports 1996-VI, paras.43 und 52. Siehe für die ältere Rechtsprechung auchMerrills 109ff. 344 Siehe Kap. 2, IV. 2. a). Weitere Beispiele einer Berücksichtigung von Regeln des allgemeinen Völkerrechts finden sich in der Praxis des Ausschusses für Menschenrechte auch im General Comment 24/52, welcher zu den Voraussetzungen und Bedingungen der rechtskonformen Anbringung von Vorbehalten Stellung bezieht.

IV. Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts

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3. Menschenrechtliche Spezialregeln in der VRK und im ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit Es sind jedoch nicht nur die menschenrechtliehen Verträge resp. die auf sie gestützte Praxis, welche zum Problem des gegenseitigen Verhältnisses Stellung beziehen. Vielmehr finden sich auch in den allgemeinen Regeln des Völkerrechts verschiedene Hinweise: • Die VRK stellt keinen direkten Bezug zum System der Menschenrechte her. Ihr Art. 60 Abs. 5 enthält jedoch einen Ausnahmetatbestand für Vertragsbestimmungen "humanitärer Art". Dieser Verweis bezieht sich neben dem humanitären Völkerrecht auch auf menschenrechtliche Bestimmungen345 • • Ausführlichere Bezugnahmen zum Recht der Menschenrechte enthält der ILCEntwurf: So klassifiziert dieses Dokument den Bruch gewisser fundamentaler Menschenrechte nicht nur als "normales" völkerrechtliches Delikt, sondern stuft ein solches Verhalten gar als internationales Verbrechen ein 346• Zweitens stipuliert Art. 40 dieses Entwurfs die Regel, wonach jeder Staat als von einer Völkerrechtsverletzung betroffener Staat gilt, falls das völkerrechtliche Delikt in der Verletzung einer Norm besteht, die "has been created or is established for the protection of human rights and fundamental freedoms" 347• Weiter verbieten die Art. 49 f ILC-Entwurf die Durchführung an sich erlaubter Gegenmassnahmen, falls diese von grundlegenden Menschenrechten abweichen 348 • Diese verschiedenartigen Hinweise im Kodifikationsentwurf der ILC machen deutlich, dass gemäss Einstufung der ILC - und besonders ihres Berichterstatters Ago 349 - das Recht der Staatenverantwortlichkeit grundsätzlich in vollem Umfang auf das Recht der Menschenrechte Anwendung finden soll. Bereits diese oberflächliche Darstellung der für Menschenrechte geltenden Sonderregeln zeigt zweierlei: • Erstens fusst das Recht der Menschenrechte- wie auch andere Zweige des Völkerrechts -auf gewissen Besonderheiten, die ihren Niederschlag auch in den allgemeinen Regeln des Völkerrechts finden. 345 Vgl. z. B. Suy 939ff; Kälin (Gewährleistung) 10fund Gomaa 109ff. Zu Inhalt und Bedeutung dieser Bestimmung siehe hinten Kap.5, III. 2. b). 346 Art. 19 ILC-Entwurf; siehe dazu ausführlicher vorne Abschn. III. 4. b ). 347 Art. 40 lit. e (iii) ILC-Entwurf. 348 Siehe zu diesen sogenannten Unrechtsausschliessungsgründen des ILC-Entwurfs ausführlich hinten Kap.5, III.2.c) und 4. 349 Gernäss dem Bericht von Roberto Ago (Yearbook ILC 1975 I, 16) sollen die ILC Regeln ,,formulate a really general rule to cover all cases of Violation of international obligations, and especially of the basic obligations of the State, weather concemed security, peace ( ...), or the protection of human rights". In die gleiche Richtung weist auch der Kommentar der ILC zu Art. 10 ILC-Entwurf, der festhält: "[U]nder the system adopted by the Commission, no conduct of State organs or of the other entities mentioned in artic1e 7 is excluded from attribution to the State qua subject of intemationallaw" (Yearbook ILC 1975 II, 61, para. 2).

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Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

• Zweitens legt das Bestehen dieser Sonderregeln aber wiederum den Umkehrschluss nahe, dass die übrigen Bestimmungen der VRK und des ILC-Entwurfs integral auf menschenrechtliche Verpflichtungen anzuwenden sind. Diese Grundregel schliesst jedoch die Möglichkeit grundsätzlich nicht aus, dass Staaten in Menschenrechtsverträgen weitere, von den allgemeinen Regeln abweichende Bestimmungen beschliessen, um der Besonderheit dieses Rechtsgebietes besser gerecht zu werden 3so. Die enge Verbindung zwischen Verpflichtungen aus Menschenrechten und dem Recht der Staatenverantwortung manifestiert sich schliesslich auch bereits aus der blossen Tatsache der Errichtung eines Organs wie der United Nations Compensation Commission 351 • Dieser internationale Spruchkörper, der auch über Wiedergutmachungsleistungen für erlittene Menschenrechtsverletzungen befindet352, wurde von einem Autor gar als "a concrete manifestation of the international community's commitment to the principles of state responsibility" 353 eingestuft. Somit stellt bereits die Tatsache der Einrichtung dieses Organs an sich einen weiteren Präzedenzfall dar, der die Einbettung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht in das allgemeine System des Völkerrechts nachdrücklich zu demonstrieren vermag.

4. Menschenrechte und die Theorie der "self-contained" Regimes Zur Abklärung der Interdependenzen zwischen dem allgemeinen Völkerrecht und dem System der Menschenrechte gilt es abschliessend die Theorie der sogenannten "Subsysteme" resp. der "self-contained regimes" genauer unter die Lupe zu nehmen. Beide dieser Rechtskonstruktionen beschäftigen sich hauptsächlich mit der Frage, in welchem Ausmass die allgemein geltenden Regeln der Staatenverantwort3SO Ein Abweichen von den allgemeinen Regeln auf vertraglichem Weg ist aber dann ausgeschlossen, wenn diesen Bestimmungen nicht bloss dispositiver Charakter zukommt, sondern sie Bestandteil des zwingenden Völkerrechts sind, d. h. ius cogens Charakter besitzen. Siehe dazu vorne Abschn. III. 4. 351 Dieses Organ wurde mit SR Res. 692 vom 20. Mai 1991 geschaffen, um Uber Schadenersatz- und GenugtuungsansprUche von Opfern der Menschenrechtsverletzungen während der irakiseben Besetzung Kuwaits zu befinden. Zu diesem Zweck kann dieses Organ auf einen Fonds zurückgreifen, dermit SR Res.687 vom 3. April1991 geschaffen wurde. Siehe zur Errichtung und Arbeit dieses Organs z. B. Richard B. Lillich (ed.), The United Nations Compensation Commission, New York 1995; lohn R. Crook, The United Nations Compensation Commission- A New Structure to Enforce State Responsibility, AJIL 1993, 144 ff, und Kälin/Gabriel 30 und 44 ff. 352 Die von der Compensation Commission verabschiedete Entschliessung 1 vom 25. Juli 1991 (abgedruckt in ILM 1991, 1712ff) sieht vor, dass Forderungen eingereicht werden können zur Wiedergutmachung von unter anderem Thtungen und persönlich erlittenem Schaden. Der letzte Begriff umfasst dabei gernäss der in der EntschliessiDlg 3 (siehe dazu ILM 1992, 1028 ff) dieses Organs enthaltenen Definition auch ,,mental pain and anguish". Siehe dazu auch Kälin/Gabriel46f. m Crook (Anm. 351) 157.

IV. Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts

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lichkeit durch spezifische Regelungen eines Vertrages verdrängt werden können, welche die Konsequenzen des Bruchs seiner Bestimmungen normieren. Ein Spezialberichterstatter der ILC zum Recht der Staatenverantwortlichkeit gelangte dabei zum Schluss, dass die Bestimmung der rechtlichen Folgen eines Bruches völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht in uniformer Weise für das gesamte Völkerrecht gelöst werden könne. Vielmehr bestehe das Völkerrecht in dieser Hinsicht aus verschiedenen Subsystemen354• Wiederum eine Unterkategorie dieser Subsysteme stellen nach der von der Doktrin benutzten Terminologie die "self-contained regimes" dar. Sie zeichnen sich durch die Besonderheit aus, dass sie die Anwendbarkeit der allgemeinen völkerrechtlichen Durchsetzungsregeln vollständig ausschliessen 355• Die Ratifizierung eines Vertrages, der ein solches Regime begründet, beinhaltet deshalb hinsichtlich der durch dieses Abkommen geregelten Materie für einen Staat gegenüber seinen Vertragspartnern den Verzicht auf die Möglichkeit der Anwendung aller jener Durchsetzungsmittel, welche nicht selbst von einem solchen Vertrag vorgesehen werden 356• Für Menschenrechtsverträge, deren Durchsetzungsmechanismen vergleichsweise schwach ausgestaltet sind, hätte deshalb eine solche Einstufung die unerwünschte Folge, dass die Möglichkeiten ihrer Durchsetzung weiter geschwächt würden. Dies deshalb, da die allgemeinen Regeln der Staatenverantwortlichkeit resp. der VRK durch die unter Umständen weniger griffigen des fraglichen Vertrages vollständig ersetzt würden 357• Neben anderen Rechtszweigen 358 wurden und werden von der Doktrin oft auch die Systeme der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts als geeignete Kandidaten eines solchen "self-contained regimes" betrachtet359: Während Einigkeit darüber herrscht, dass der vertraglich eingesetzten Durchsetzungsmaschinerie 354 Yearbook ILC 198211/1, paras. 35 und 54: ,,In the opinion ofthe Special Rapporteur, intemationallaw as it stands today is not modelled on one system only, but on a variety of interrelated subsystems, within each of which the so-called ,primary rules' and the so-called ,secondary rules' are closely intertwined- indeed inseparable. ( ...) In short, a treaty may create a subsystem of intemationallaw with its own, express or implied, secondary rules, tailored to its primary rules. This does not necessarily mean that the existence of the subsystem excludes permanently the application of any general rules of customary international law relating to the legal consequences of wrongful acts". In diesem Sinn bestimmt denn auch Art. 371LC-Entwurf unter der Marginalie ,,Iex specialis": "The provisions of this Part do not apply where and to the extent that the legal consequences of an intemationally wrongful act of a State have been detennined by other rules of intemationallaw relating specifically to this act". m Simma (Self-Contained Regimes) 117; de Hoogh 187ff; siehe auch Yearbook lLC 1992 11/1, para. 97. 356 Provost 441. 3" Meron (Customary Law) 230; siehe dazu auch Bryde 184. 351 So das Recht der Europäischen Gemeinschaft und das Recht der diplomatischen Beziehungen; siehe die ansebliessend in Anm. 359 zitierte Literatur. 359 Siehe Simma (Self-Contained Regimes) 33ff; Provost 440ff; Meron (Customary Law) 229ff; Henkin 216; Restatement, Vol. 2, para. 703 (1); Ramcharan 256ff; de Hoogh 254f; Bryde 182 ff; Jochen A. Frowein, Collective Enforcement of International Obligations, ZaöRV 1987, 76f.

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Kap. I: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

grundsätzlich Priorität gegenüber Durchsetzungsverfahren des allgemeinen Völkerrechts zukommt, ist die Frage umstritten, ob nach erfolgloser Erschöpfung dieser Mittel zu unilateralen Durchsetzungsmassnahmen- wie in VRK und ILC-Entwurf geregelt- gegriffen werden kann: o

o

Eine erste, heute veraltete, und primär von der ehemaligen Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten vertretene Meinung stufte Menschenrechtsverträge ausnahmslos als solche "self-contained regimes" ein. Diese Ansicht wurde besonders manifest in der Haltung dieser Staaten gegenüber dem Pakt II und seinem Durchsetzungsverfahren: Da diese Länder zwar diesen Vertrag, nicht aber dessen Fakultativprotokoll ratifizierten und somit die lndividualbeschwerde360 nicht anerkannten, diente diese rechtliche Qualifikation dazu, sich gegen die Ergreifung bilateraler Durchsetzungsformen z. B. in Form von· Gegenmassnahmen durch andere Vertragsstaaten abzusichern. Zusätzlich wurde diese Einstufung auch als Argument gegen eine Beschäftigung der Staatengemeinschaft mit der Menschenrechtssituation dieser Staaten gestützt auf die sog. "1504-" und "1235-Verfahren" benutze61 .362• Die gegenteilige Position wird hauptsächlich von Simma vertreten, der betont, dass "[a]uch Verträge zum Schutz der Menschenrechte(...) vollwertige völkerrechtliche Verträge [sind], grundsätzlich eingebettet in das ,Law of Treaties' sowie - im Falle der Nichterfüllung - in das Streitschlichtungs- und Verantwortlichkeitssystem des allgemeinen Völkerrechts. ( ...)Zur Sicherung der Erfüllung dieser Verpflichtungen aus Menschenrechtsverträgen stehen neben den dort vereinbarten Verfahren notfalls auch alle anderen Selbsthilfemittel zur Verfügung, die nach allgemeinem Völkerrecht zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen zulässig sind" 363•

o

Eine letzte Gruppe von Autoren propagiert schliesslich eine Mittellösung. Diese akzeptieren, dass das Bestehen spezifischer Durchsetzungsinstrumente die An-

Und auch die Staatenbeschwerde gernäss Art.41 Pakt II. Meron (Customary Law) 229, FN304. 362 Westliche Autoren, die diese Meinung vertraten, argumentierten, dass die Anwendbarkeit von Gegenmassnahmen im Bereich der Menschenrechte den fragilen Kompromiss, auf welchem dieses System beruht, zerstören könnte. So z. B. Jochen Abr. Frowein, Die Verpflichtungen erga ornnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in Bernhardt u. a. (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung- Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift fUr Hermann Mosler, Berlin/Heidelberg/New York 1983, 181 ff. 363 Bruno Simma, Fragen der zwischenstaatlichen Durchsetzung vertraglich vereinbarter Menschenrechte, in von MUnch (Hrsg.), Staatsrecht- Völkerrecht- Europarecht, Festschrift fUr Hans-JUrgen Schlochauer, Berlin/New York 1981, 641 und 646f. Gernäss dieser Ansicht sind diplomatische Interventionen und auch öffentliche Kritik stets erlaubt, während die Ergreifung von Gegenmassnahmen nur nach Erschöpfung der vertraglichen Durchsetzungsinstrumente zulässig ist. Siehe dazu auch Bruno Simma, Menschenrechtspolitik mit wirtschaftlichen Mitteln: ihr völkerrechtlicher Rahmen, in Blumenwitz/Zieger (Hrsg.), Menschenrechte und wirtschaftliche Gegenleistungen, Köln 1987,78. So auch de Hoogh 255. 360 361

IV. Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts

97

wendung der allgemeinen Regeln ausschliessen kann. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn ein solcher Ausschluss bilateraler Massnahrnen in einem spezifischen Vertrag ausdrücklich vorgesehen wird 364• Eine Prüfung dieser Frage in Bezug auf menschenrechtliche Vertragssysteme hat von der Prämisse auszugehen, dass das Abkoppeln eines Regimes von den allgemeinen Regeln und nicht der umgekehrte Fall nachzuweisen ist 365. Das Völkerrecht kennt nämlich keine allgemeine Regel, wonach Verträge mit eigenen Durchsetzungsinstrumenten nur auf diese vertragsspezifische Weise durchgesetzt werden können 366. Vergleichsweise einfach lässt sich deshalb diese Frage für Abkommen, deren einziges zwingendes Überwachungsmittel die Berichtspflic,ht istl67, beantworten. Denn keiner dieser Verträge schliesst eine Anwendung der allgemeinen Sekundärregeln explizit aus. Der Pakt II enthält im Gegenteil in Art. 44 eine- an sich unnötige - ausdrückliche Berechtigung zur zusätzlichen Anwendung auch ausservertraglicher Mittel im Verletzungsfall 368. Dieses Resultat muss auch im Falle von Staaten gelten, die Fakultativklauseln und -protokolle ratifiziert haben, welche die Erhebung von Beschwerden durch Individuen und andere Staaten ermöglichen. Denn es sind keinerlei Indizien ersichtlich, welche die Ansicht untermauem würden, dass solche Staaten bereit sind, die Möglichkeit aufzugeben, unilateral gegen andere Vertragsstaaten vorzugehen, welche diese Zusatzinstrumente nicht ratifiziert haben 369. Dies hat zur Folge, dass zumindest nach Erschöpfung der konventionellen Mittel ein Rückgriff auf die allgemeinen Regeln des ILC-Entwurfs und der VRK möglich sein muss. Deshalb können solche Systeme nicht als "self-contained regimes" qualifiziert werden. Ein Spezialfall in dieser Hinsicht stellt das EMRK-Regime mit seinem effektiven System von gerichtsmässigen Individual- und Staatenbeschwerden dar, die mit bindenden Entscheidungen abgeschlossen werden. Zusätzlich scheint die Bestimmung des Art. 55 EMRK andere Verfahren zur Streitbeilegung ausdrücklich auszuschliessen370. Diese Norm zeigt aber als erstes das Verständnis der Schöpfer dieses VertraMeron (Cu_stomary Law) 229f; Restatement, para. 703 (1), und wohl auch Bryde 184f. Simma (Se1f-Contained Regime) 133. 366 So explizit Art. 33 UNO-Charta. 367 D. h. z. B. die Pakte I und II, die CAT, das Übereinkommen gegen alle Formen der Rassendiskriminierung und die CRC. 361 Art. 44 Pakt II: .,Die Bestimmungen über die Durchftlhrung dieses Paktes(...) hindem die Vertragsstaaten nicht, in Übereinstimmung mit den zwischen ihnen in Kraft befindlichen allgemeinen oder besonderen Übereinkünften andere Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten anzuwenden". Ein Autor bezeichnete die Ratifikation dieses Vertrages denn auch als Beitrag zur Stärkung der rechtlichen Grundlage bilateraler Interventionen zum Schutz der Menschenrechte; Kälin (Bedeutung) 71 ff. 369 Diese Meinung lässt sich auch mit der Tatsache belegen, dass die Entscheidungen des Ausschusses für Menschenrechte rechtlich nicht bindend sind und deshalb innerhalb dieses Vertragssystems gegen den Willen eines Staates nicht durchgesetzt werden können. 370 Art. 55 EMRK: ,,Die Hohen Vertragschliessenden Teile kommen überein, dass sie, es sei denn auf Grund besonderer Vereinbarungen, keinen Gebrauch von zwischen ihnen geltenden 364

365

7 KUnzli

98

Kap. 1: Rechtsquellen und ihr gegenseitiges Verhältnis

ges, wonach ohne Aufnahme einer solchen Spezialregelung die Staaten "would be permitted to use Settlement procedures dehors the Convention" 371 • Damit wird der Grundsatz, wonach ein "self-contained regime" nur bei expliziter Begründung durch eine Vertragsbestimmung begründet werden kann, erneut unterstrichen. Zudem führt bereits der Wortlaut dieser Norm zum Schluss, dass das Streitschlichtungsverfahren der EMRK nur gegenüber anderen spezifischen, d. h. vertraglich verankerten Verfahren, nicht aber gegenüber den allgemeinen Regeln Vorrang beansprucht372. Zumindest Mittel wie diplomatische Interventionen müssen deshalb gar vor der Ergreifung einer Beschwerde erlaubt sein. Zusammenfassend gilt, dass die Hinweise des Art. 55 EMRK trotz gewisser Äusserungen in der Literatur373 für eine Einstufung der EMRK als "self-contained regime" nicht zu genügen vermögen. Vielmehr verhindert diese Bestimmung einzig die Möglichkeit, dass Staaten zur Auslegung der materiellen Garantien dieses Abkommens ein anderes völkerrechtliches Organ als den EGMR anrufen dürfen 374• 5. Schlussfolgerungen Wie in diesem Abschnitt aufgezeigt, ist das Recht der Menschenrechte auf vielfaltige Weise mit dem allgemeinen Völkerrecht verbunden. Grundsätzlich sind deshalb die VRK und der ILC-Entwurf in vollem Umfang auch in diesem Rechtszweig anwendbar. Von diesem Grundsatz weichen jedoch zwei Ausnahmen ab: Eine Anwendung der allgemeinen Regeln ist erstens ausgeschlossen, falls dies in einem Menschenrechtsvertrag ausdrücklich vorgesehen wird, und zweitens kann die Anwendung einer allgemeinen Regel infolge ihrer mangelnden Eignung praktisch ausgeschlossen sein. Ob dem so ist, lässt sich aber nur anband des konkreten Einzelfalls beurteilen375•

Verträgen, Übereinkommen oder Erklärungen machen werden, um von sich aus einen Streit um die Auslegung oder Anwendung dieser Konvention einem anderen Verfahren zu unterwerfen als in der Konvention vorgesehen ist". Siehe dazu Frowein/Peukert 140f. 37t Meron (Customary Law) 233. m Siehe dazu auch Yearbook ILC 199211/1, para. 104. Aufpraktischer Ebene sinddie Auswirkungen dieser Qualifizierung dadurch limitiert, dass die Garantien der EMRK Parallelnormen im Pakt II und teilweise sogar im Gewohnheitsrecht finden und eine unilaterale Durchsetzung dieser Verpflichtungen wiederum nicht ausgeschlossen werden kann. 373 So Bryde 182f. 374 Diese Einschätzung stimmt auch mit einer historischen Auslegung des Art. SS EMRK Uberein, wonach die Schöpfer dieses Vertrages mit dieser Norm die Kompetenzen zwischen EGMR und IGH abzugrenzen trachteten. Vgl. Vierdag 138. m Vgl. dazu insbesondere Kap.2, V.2. und Kap.S, III.2. a).

Kapite/2

Geltungsbereiche und Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen I. Einleitung Der im vorigen Kapitel eingegrenzte Normbestand des Systems des völkerrechtlichen Individualschutzes verpflichtet die Staaten nicht integral dazu, die menschenrechtlichen Garantien ausnahmslos gegenüber allen Personen ohne territoriale Begrenzung und in allen Situationen zu gewährleisten. Vielmehr weisen die verschiedenen Bestimmungen von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht je unterschiedlich geartete Schutzbereiche oder, anders formuliert, absolut geltende Schranken ihrer Anwendung auf. Dies bedeutet wiederum, dass ein Sachverhalt, der nicht von den verschiedenen Geltungsbereichen einer konkret betroffenen Garantie kumulativ umfasst wird, nie eine Verletzung derselben darstellen kann. Weiter eingeschränkt wird das Schutzniveau dieses Systems dadurch, dass diese Garantien nicht jede Missachtung verbieten, sondern grundsätzlich nur Organisationen mit Völkerrechtssubjektivität verpflichten. Da diese Schutznonnen aber in zwei verschiedenen Rechtsgebieten verankert sind, die unter einer traditionellen Sichtweise ihren Anwendungsschwerpunkt je in unterschiedlichen Situationen besitzen, soll in einem ersten Abschnitt das gegenseitige Verhältnis zwischen Menschenrechten und humanitärem Volkerrecht resp. die Möglichkeit ihrer kumulativen Anwendung abgeklärt werden (II und III). Im Zentrum dieses Kapitels steht aber die Abklärung der Geltungsbereiche der internationalen Garantien zum Schutz des Individuums. Denn dieses System kann - wie zu zeigen sein wird - keinesfalls mit dem Bild eines engmaschigen, lückenlosen Schutznetzes umschrieben werden. Insbesondere in Situationen, die sich in Grenzbereichen der traditionellen Anwendungsgebiete von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht befinden, zeigen sich nicht nur Überschneidungen und Verzahnungen dieser Rechtsgebiete, sondern es öffnen sich auch Bereiche, in welchen ein Schutzdefizit zu konstatieren ist. Damit ist insbesondere das Phänomen des Bürgerkrieges in all seinen Abstufungen angesprochen, das seit dem Ende des Kalten Krieges mehr und mehr die klassischen Situationen, in welchen Menschenrechte regelmässig als gefährdet eingestuft werden mussten- die Diktatur und der internationale bewaffnete Konflikt-, ablöst. Anlässlich der Untersuchung der Geltungsbereiche dieses Rechtsgebietes soll deshalb ein besonderes Augenmerk auf solche Gewaltsituationen unter Berücksichtigung der je unterschiedlichen Regelungen der beiden 7*

100

Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

erwähnten Rechtszweige geworfen werden (IV). Die Problematik interner Konflikte steht auch im letzten Abschnitt dieses Kapitels im Zentrum des Interesses, wo untersucht werden soll, wer zur Beachtung dieser Normen verpflichtet ist (V): Abgeklärt werden muss dabei erstens, welche Organe und Individuen den Staat und allenfalls weitere Gruppierungen zu verpflichten vermögen, und zweitens, welche Einheiten nebst Staaten durch menschenrechtliche Bestimmungen direkt auf internationaler Ebene haftbar gemacht werden können.

II. Kumulative Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht? Obwohl dem gleichen Ideal- dem Schutz der menschlichen Person- verpflichtet, widerspiegelt sich im Verhältnis dieser beiden Rechtsgebiete der dogmatische Graben zwischen Kriegs- und Friedensvölkerrecht teilweise bis heute. Damit ist notwendigerweise die Vorstellung einer ausschliesslich alternativen Anwendbarkeit der beiden Völkerrechtszweige in einem konkreten Sachverhalt verbunden. In diesem Sinne schrieb Jean Pictet noch im Jahre 1973: "Die beiden Rechtssysteme unterscheiden sich grundlegend; während das humanitäre Völkerrecht nur im bewaffneten Konflikt gilt, finden die Menschenrechte in der Praxis ihre Anwendung nur in Friedenszeiten" 1• Die politischen Realitäten nach dem 2. Weltkrieg haben aber das Ungenügen der holzschnittartigen Unterteilung zwischen den faktischen Zuständen von zwischenstaatlichen Kriegen und Frieden und der darauf beruhenden rechtlichen Regelungen aufgezeigt. Diese Erkenntnis und die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes auf völkerrechtlicher Ebene führten zu einer Aufweichung der scharfen Abgrenzung: Der Geltungsbereich des humanitären Kriegsvölkerrechts -von seinem ursprünglichen Konzept her ausschliesslich in internationalen bewaffneten Konflikten anwendbar2 - wurde durch den gemeinsamen Art. 3 der Genfer-Konventionen von 1949 3 und insbesondere durch das Zusatzprotokoll II von 19774 auch auf interne Konflikte ausgedehnt. Durch die Statuierung sogenannter notstandsfester Rechte in den Menschenrechtspakten der UNO und regionaler Organisationen wurde andererseits sichergestellt, dass ein Kernbereich von Menschenrechten auch "im Falle eines 1

13.

Jean Pictet, Le droit humanitaire et Ja protection des victimes de Ia guerre, Leiden 1973,

Vgl. unten Abschn. IV.3.b). Der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Konventionen, die einzige Bestimmung dieser Abkommen, die auf Konflikte mit nicht internationalem Charakter anwendbar ist, garantiert als Auffangbestimmung ein Minimum an menschenwürdiger Behandlung fUr alle Personen, die nicht bzw. nicht mehr aktiv an den Feindseligkeiten beteiligt sind. Vgl. dazu unten Abschn. IV.3.c)aa). 4 Das ZP II versteht sich explizit als Weiterentwicklung des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen (Art. 1 ZPII). 2

3

II. Kumulative Anwendung von Menschen- und humanitärem Völkerrecht?

101

öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht"5 , sowie explizit auch im Kriegsfall gilt 6 • Angesichts dieser Annäherung oder sogar Überschneidung der Anwendungsbereiche der beiden Rechtsgebiete ist die Klärung der Frage des gegenseitigen Verhältnisses insbesondere im Hinblick auf die grosse Anzahl von Konflikten an der Schnittstelle zwischen interner und internationaler Dimension - auch im Themenbereich dieser Arbeit- von grösstem praktischen Interesse.

1. Die Praxis der UNO und des IKRK

Die UNO nahm-aufgrunddes in Art. 2 Abs. 4 der UNO-Charta verankerten Gewaltverbots in internationalen Beziehung - lange Zeit keine Notiz von den Entwicklungen des humanitären Kriegsrechts 7• So wird in der 1948 von der UNO-Generalversammlung verabschiedeten AEMR keinerlei Bezug auf die Geltung von Menschenrechten in Kriegszeiten genommen. Diese Situation änderte sich durch die im Laufe der folgenden zwanzig Jahren entstandenen Menschenrechtsabkommen: Die Menschenrechtskataloge der EMRK, der AMRK wie auch des Pakts II gelten in ihrer vollen Breite grundsätzlich jederzeit. Mit Ausnahme eines Kernbestands von Rechten ist allerdings in Zeiten eines das Leben der Nation bedrohenden Notstandes sowie im Kriegsfall unter gewissen Voraussetzungen eine Derogation von den garantierten Rechten möglich8• Diese zwingend zu jeder Zeit geltenden, sogenannt notstandsfesten Rechte finden ihrerseits wieder eine erstaunliche inhaltliche Parallele in den grundlegenden Bestimmungen der Art. 75 ZP I und Art. 4 ZPII 9• Die Resolution XXIII "Respect for Human Rights in Arrned Confl.icts" vom 12. Mai 1968 10 der von der UNO einberufenen Konferenz über Menschenrechte in Teheran bewirkte schliesslich als Wendepunkt die definitive Abkehr der bisherigen ablehnenden Haltung innerhalb der Vereinten Nationen gegenüber einer Mitbeteiligung an der Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts 11 : Noch im gleichen Jahr verabschiedete die UNO-Generalversammlung eine Resolution 12, die wesent'Art.4 Pakt II, ähnlich Art.15 EMRK und Arl.27 AMRK. 6 Art.15 EMRK und Art.27 AMRK. Vgl. dazu ausführlich unten Kap. 5, II.l.e). 7 Partsch (Humanitarian Law) 292f. 8 Keine Derogationsklausel enthält die AtMRK, vgl. dazu unten Kap.5, 111. 5.c). 9 Vgl. oben Kap. I, 11.2. b). 1o UN.Doc.A/CONF. 32/41. 11 Wesentlich zum neuen Interesse an Fragen des Kriegsrechts trug der Ausbruch des "Sechs-Tage-Krieges" von 1967 sowie verschiedener Kriege gegen koloniale Behemchung bei; Partsch (Humanitarian Law) 293, Dietrich Schindler 333. 12 Resolution 2444 (XXIII) der UNO-Generalversammlung ,,Respect for Human Rights in Armed Conßicts" vom 19. Dezember 1968.

102

Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

liehe Grundsätze des Kriegsrechts bestätigte und die Ausarbeitung neuer Abkommen in Zusammenarbeit mit dem IKRK anregte 13. Ein weiterer wesentlicher Schritt zur Anerkennung der gegenseitigen Berührungspunkte erfolgte im Jahre 1977 durch die Kodifikation der beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen, in welchen direkt auf Instrumente der UNO Bezug genommen wird 14 und in welchen auch in der Ausformulierung ihrer materiellen Garantien eine deutliche Annäherung an die Menschenrechtsterminologie stattfindet 15• Während aber diese Bezugnahmen der UNO-Organe auf das humanitäre Völkerrecht eher als isolierte Einzelakte einzustufen sind, setzte im letzten Jahrzehnt ein eigentlicher Umschwung ein: Ohne Abgrenzungsängste wird bei Lücken im eigenen System auf Normen des humanitären Völkerrechts ausgewichen: So bauen, wie oben 16 erwähnt, die Straftatbestände der beiden Gerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda wie auch das Römer Statut des internationalen Strafgerichtshofes wesentlich auf Bestimmungen des humanitären Völkerrechts auf oder übernehmen diese gar integral; neuere ON-Konventionen resp. Deklarationen verpflichten zur Beachtung der Normen dieses Völlcerrechtszweigs17 oder nehmen zumindest darauf Bezug 11; die Abschlusserklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz enthält explizite und präzise - die integrale Anwendung beider Völkerrechtszweige implizit voraussetzende- Verweise auf die GK und ruft zur Ratifikation weiterer Instrumente des humanitären Völlcerrechts auf19; Son13 In der Folge wurden von der UNO-GY weitere Resolutionen zu diesem Thema verabschiedet; vgl. die Übersicht bei Kimminich 41. 14 Die Präambel des ZP I verweist in ihren Abs. 2 und 4 auf das Gewaltverbot der UNOCharta, während diejenige des ZPII auf "internationale Übereinkünfte über die Menschenrechte, [die] der menschlichen Person eillen grundlegenden Schutz bieten", Bezug nimmt. 15 So statuiert Art. 72 ZPI: "Die Bestimmungen dieses Abschnittes ergänzen die im IV. Abkommen ( ...)enthaltenen Vorschriften über den humanitären Schutz von Zivilpersonen(...) sowie die sonstigen anwendbaren Regeln des Völkerrechts über den Schutz grundlegender Menschenrechte in einem internationalen bewaffneten Konflikt". So auch der ZP-Kommentar (Rz. 4429) des IKRK. 16 Siehe Kap.1, III.2.a). 17 Vgl. z. B. Art. 38 CRC: "(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die für sie verbindlichen Normen des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Wlkerrechts, die für das Kind Bedeutung haben, zu beachten und für deren Beachtung zu sotgen. ( ...) (4) hn Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Wlkerrecht, die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen, treffen die Vertragsstaaten alle durchführbaren Massnahmen, um sicherzustellen, dass von einem bewaffneten Konflikt betroffene Kinder geschützt und betreut werden". Eine Übersicht über die Bezugnahme der "politischen" Otgane der UNO auf das humanitäre Völkerrecht bis 1990 findet sich in Theo C. van Boven, Reliance on Norms of Humanitarian Law by United Nations' Organs, in Delissen/l'anja (eds.), Humanitarian Law of Armed Conflict- Challenges Ahead, Essays in Honour of Frits Kalshoven, Dordrecht{Boston{London 1991, 495ft'. Einen Überblick über die neueste Praxis bietet O'Donnell (Humanitarian Law) 481 ff. 11 Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (UN Doc. A/Res/47/133), Präambel Abs. 3. 19 Wiener Erklärung und Aktionsprogramm (UN Doc.A/CONF. 157/24) Ziff. I. 3.: ,,Für Bevölkerungen, die unter ausländischer Besatzung stehen, sollten wirksame internationale Massnahmen zur Sicherstellung und Überwachung der Einhaltung der Menschenrechtsnormen ge-

II. Kumulative Anwendung von Menschen- und humanitärem Völkerrecht?

103

derberichterstatteT der Menschenrechtskommission der UNO klären die Menschenrechtssituation in Krisensituationen unter gleicher Gewichtung der Normen beider Rechtsgebiete 20 ab; Vertragsüberwachungsorgane universeller21 , amerikanischer22 und europäischer23 Menschenrechtsabkommen berücksichtigen Bestimmungen des troffen werden, und ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Verletzung ihrer Menschenrechte wäre im Einklang mit den Menschenrechtsnormen und dem Völkerrecht, vor allem der Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten von 1949, und anderer einschlägiger Normen des humanitären Völkerrechts vorzusehen"; Ziff. I. 29. Abs. 2: "(...) [D]ie Weltkonferenz ruft daher alle Staaten auf, sich strikt an das humanitäre Völkerrecht im Sinne der Genfer Konventionen von 1949 und der anderen Bestimmungen und Grundsätze des Völkerrechts sowie an die in internationalen Übereinkünften verankerten Mindestnormen des Menschenrechtsschutzes zu halten"; Ziff. II 93: ,,Die Weltkonferenz appelliert an die Staaten,( ...) den Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen beizutreten(...)"; vgl. auch Ziff.II96. 20 Dazu exemplarisch der Bericht des Sonderberichterstatters zur Menschenrechtssituation im irakisch besetzten Kuwait (UN Doc. E/CN. 4/1992/26, para. 33 f und 73 ff). Weitere Beispiele werden von 0' Danneil (Humanitarian Law) 482 ff erwähnt. 21 Ein deutliches Beispiel für eine solche direkte Berücksichtigung liefert folgende Passage aus dem General Comment 7 (para. 12) des Ausschusses fUr WSK-Rechte: .,[F]orced eviction and hou.se demolition as a punitive measure are also inconsistent with the norms of the Covenant. Likewise, the Committee takes note of the obligations enshrined in the Geneva Conventions of 1949 and Protocols thereto of 1977 conceming prohibitions on the displacement of the civilian population and the destruction of private property as these relate to the practice of forced eviction". 22 Auf regionaler Ebene findet sich, soweit ersichtlich, das bis heute einzige Beispiel einer direkten Anwendung von Bestimmungen des humanitären Völkerrechts innerhalb eines menschenrechtliehen lndividualbeschwerdeverfahrens. So führte die IAKMR im Fall Juan Carlos Abella v. ArgenJina ("Tablada Case"), Case No. 11.137, Report 55/97 nach ausfUhrliehen Erwägungen zum situationsbedingten Geltungsbereich des humanitären Völkerrechts (dazu unten Abschn. IV. 3.) Folgendes aus: .,162. Apart from these considerations, the Commission's competence to apply humanitarian law rules is supported by the text of the American Convention, by its own case law, as weil as the jurisprudence of the Inter-American Court of Human Rights. VirtuaUy every OAS member State that is a State Party to The American Convention has also ratified one or more of the 1949 Geneva Conventions and/or other humanitarian law instruments. As States Parties to the Geneva Conventions, they are obliged as a matter of customary international law to observe these treaties in good faith and tobring their domestic law into compliance with these instruments. Moreover, they have assumed a solernn duty .,to respect and to ensure respect" of these Conventions in all circumstances, most particularly, during situations of interstate or intemal bostilities. ( ...) 164. The Commission believes that in those situations where the American Convention and humanitarian law instruments apply concurrently, Article 29(b) of the American Convention necessarily require the Commissioa to take due notice of and, where appropriate, give legal effect to applicable humanitarian law rules. Article 29(b)- the so-called ,most-favorable-to-the-individual-clause'- provides that no provision of the American Convention shall be interpreted as ,restricting the enforcement or exercise of any right or freedom recognized by virtue of the laws of any State Party of another convention which one of the said states is a party' ". Siehe zu diesem Grundsatzentscheid auch Liesbeth Zegveld, The Inter-American Commission on Human Rights and International Humanitarian Law: A Comment on the Tablada Case, IRRC 1998, 505 ff. 23 Weniger deutlich sind die Bezugnahmen der europäischen Menschenrechtsorgane auf das humanitäre Völkerrecht. So finden sich direkte Verweise bis heute, soweit ersichtlich, einzig in

104

Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

humanitären Völkerrechts in ihrer Rechtsprechung und schliesslich werden Projekte privater Expertenkommissionen, welche Schutzdefizite im Schnittbereich dieser Völkerrechtszweige aufzufüllen versuchen und die deshalb auch dogmatisch nicht mehr einem der beiden Gebiete zugeordnet werden können, mit Unterstützung der UNO ausgearbeitet und auch als offizielle UN-Dokumente publiziert24• Diese privaten Initiativen wurden in neuester Zeit gar durch eigene Bemühungen der Menschenrechtskommission der UNO ergänzt, welche einen Katalog allumfassend geltender Minimalstandards zu erarbeiten versucht25 • Im Jahre 1996 nahm schliesslich auch der IGH in seiner Advisory Opinion on the Legality ofthe Threat or Use ofNuclear Weapons zum gegenseitigen Verhältnis dieser Rechtsgebiete am Beispiel des Rechts auf Leben Stellung, indem er ausführte26: "The Court observes that the protection of the International Covenant of Civil and Political Rights does not cease in times of war, except by operation of Article 4 of the Covenant whereby certain provisions may be derogated from in a time of national emergency. Respect for the right to life is not, however, such a provision. In principle, the right not arbitrarily to be deprived of one's life applies also in hostilities. The lest ofwhat is an arbitrary deprivation of life, however, then falls to be determined by the applicable Iex specialis, narnely, the law applicable in armed conflict which is designed to regulate the conduct of hostilities. Thus whether a particular loss of life, through the use of a certain weapon in warfare, is to be considered an arbitrary deprivation of life contrary to Article 6 of the Covenant, can only be decided by reference to the Iaw applicable in armed conflict and not deduced from the terms of the Covenant itself'.

Verpflichtungen des Menschenrechtsschutzes gelten gernäss diesem Gutachten auch während Kriegssituationen parallel mit solchen des humanitären Völkerrechts weiter, doch sind unbestimmte Rechtsbegriffe des allgemein geltenden Rechtszweiges der Menschenrechte im Lichte der Spezialregeln des humanitären Völkerrechts zu konkretisieren.

Sondervoten von Mitgliedern dieser Spruchkörper (siehe dazu z. B. die Übersicht in Reidy 513 ff). Daneben zeigen aber gewisse Wendungen auch in Urteilen des EGMR, dass diesem Organ das humanitäre Völkerrecht teilweise als Inspirationsquelle in seiner Entscheidtindung dient. So führte das Gericht in Ergi v. Turkey Gudgement of 28 July 1998, Reports 1998-IY, para. 79) in enger Anlehnung an die Formulierung einer Grundregel des Raager Rechts aus, dass eine Verantwortung eines Staates auch dann entstehen könne, wenn dieser ,,fails to take a11 feasible precaution in the choice of means and methods of a security operation". Die Zunahme von Fällen aus Krisen- oder eigentlichen Kriegsregionen vor den EMRK-Organen erhöht die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass sich diese in Zukunft noch vermehrt mit diesem Rechtsgebiet auseinanderzusetzen haben. 24 Z. B. Turku-Declaration on Minimum Humanitarian Standards (UN Doc.E/CN. 4/Sub. 2/ 1991/55). 2!1 V gl. dazu den Analytical Report des Generalsekretärs zu den sogenannten ,,minimum humanitarian standards", UN Doc. E/CN. 4/1998/87. 26 ICJ Reports 1996, para. 25; abgedruckt in ILM 1996,814.

II. Kumulative Anwendung von Menschen- und humanitärem Völkerrecht?

105

2. Doktrin und Terminologie Angesichts der eben geschilderten Entwicklung ist die Anerkennung der gegenseitigen Durchdringung der beiden Völkerrechtszweige in der Lehre heute weitgehend unbestritten 27 • Weiterhin Gegenstand von Kontroversen bleiben aber die Fragen des Umfangs der Gemeinsamkeiten und der Zweckmässigkeit resp. der Wünschbarkeit einer kumulativen Anwendung sowie die systematische Einordnung dieser Rechtsgebiete im Völkerrecht. Zu diesem Fragenkomplex wurden und werden im wesentlichen drei verschiedene Theorien postuliert28 : • Die komplementaristische Theorie, die heute von der wohl noch herrschenden Lehre29 und vom IKRK 30 vertreten wird, geht von einer Gleichordnungzweier sich ergänzender Rechtsgebiete aus. Sie betont zwar die Notwendigkeit einer engen Verbindung der beiden Völkerrechtszweige, will aber weiterhin beide Teile als besondere Gebiete des Völkerrechts behandeln31 • In der Forderung nach Beibehaltung dieser systematischen Unterteilung wird insbesondere die Befürchtung deutlich, eine "Vermischung" beider Rechtsgebiete würde zu einem beiderseitigen Absinkendes Schutzniveaus führen 32 und das humanitäre Völkerrecht in die politischen urid ideologischen Auseinandersetzungen im Bereich der Menschenrechte einbeziehen 33 • Gegen eine Integration beider Gebiete unter ein gemeinsa~ mes Dach spricht gernäss den Vertretern dieser Theorie auch der Umstand, dass 27 V gl. aus der umfassenden Literatur zu diesem Themenbereich: Dietrich Schind/er 334 ff; Kimminich 26ff; Gasser (humanitäres Völkerrecht) 516ff; ders. (Einführung) 25 ff; Kälin (Interdependenz); Kälin!Gabrie/26 ff; Gros-Espiell (Humanitarian Law) 17 ff; Hadden!Harvay 119ff; Jakovljevic i6ff; Partsch (Humanitarian Law) 293; Haug 641 ff; Patrnogic 4ff; A.H. Robertson 793 ff; Reimann 111 ff; Eide (The Laws ofWar) 675 ff; Meron (Internat Strife); ders, (Protection) 35; Rajower 140ff; David (Principes) 78ff; ders. (droits de l'homme) 169ff; Calogeropoulos-Stratis 655 ff; Doswa/d-BeckJVite 111 ff; Dinstein (Armed Conßicts) 350ff; M eurant93 ff; WeissbrodtlH icks 129 ff; Sassoli (droit humanitaire) 25 ff; Hampson 46 ff; Oraa 201 ff; Ergec 203 ff und Sudre 31. Eine dezidiert gegenteilige Meinung vertritt Meyrowilz 1072 ff, insb. 1095 ff. 28 Robertson 800f; vgl. auch El Kouhene 11 f und Kälin (Interdependenz) 235 ff. 29 Dietrich Schind/er 349; Partsch (Humanitarian Law) 294; Patrnogic 1; Gros-Espiell (Humanitarian Law) 22; Gasser (humanitäres Völkerrecht) 583; ders. (Einführung) 25 ff; Jakovljevic 32; El Kouhene 91f; Kimminich 40f; Breining-Kaufmann 234f; Rajower 150; Haddenl Harvey 119ff; Doswald-BeckJVite 119ff; David (Principes) 78ff; Sassoli (droit humanitaire) 27ff; Kooijmans 240ff. JO Vgl. Robertson 801. 31 Dietrich Schind/er 348 f; David (Principes) 82f: "[L]a guerre est l'antithese de Ia paix et parler de droits deIapersonne en temps de conßit arme(...) est tout aussi surrealiste que parler de droit de Ia guerre en temps de paix". · 32 Partsch (Humanitarian Law) 294. 33 Haug 643; Dietrich Schind/er 348; Doswa/d-BeckJVite 126. Diese Befürchtung dUrfte jedoch nach dem Ende der mit dem Ost-West-Konßikt zusammenhängenden ideologischen Auseinandersetzungen wesentlich an Gewicht verloren haben. V gl. dazu unten Kap. 3, II.

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

dadurch ein beträchtlicher Teil des Kriegsrechts ausserhalb dieser Regelung bleiben würde und somit weiterhin als separates Kriegsrecht konzipiert werden müsste34. Deutlich sichtbar wird in den Aussagen der Anhänger dieser Theorie auch eine Skepsis gegenüber dem Rechtsschutzgewinn, den die Anwendung von Menschenrechtsverträgen während kriegerischen Auseinandersetzungen neben den Instrumentarien des humanitären Völkerrechts bewirken könnte 3~. • Gernäss der - heute kaum mehr vertretenen - separatistischen Theorie unterscheiden sich das humanitäre Völkerrechtl6 und die Menschenrechte aufgrund ihres Ursprungs, ihrer Natur, ihrer Begründung, ihres Zieles sowie ihrem Inhalt nach radikal voneinander37 • Meyrowitz begründet diese ,.antinomie irreductible"38 zwischen den beiden Gebieten insbesondere mit dem Argument, das Kriegsrecht schütze die Angehörigen des Kriegsgegners genauso wie den Feindstaat selbst. Das von diesen Feindrechten geschützte Rechtsgut sei (im Gegensatz zu den Menschenrechten) die Menschlichkeit39. Seit dem lokrafttreten der beiden Zusatzprotokolle 1977 und der damit verbundenen Annäherung beider Rechtsgebiete hat diese Theorie offensichtlich an Bedeutung verloren 40• • Die entgegengesetzte Meinung wird von den Vertretern der integrationistischen Theorie postuliert. Diese Theorie legt weniger Wert auf eine dogmatische Abgrenzung beider Gebiete, sondern versucht, das Problem auf eine pragmatischere Art zu lösen 41 : So wird insbesondere die Notwendigkeit eines Schutzes menschenrechtlicher Positionen in jeder Situation betont, unabhängig von der Frage, ob dies durch Menschenrechtskonventionen oder durch Instrumente des humanitären Völkerrechts zu geschehen habe: ,,In every situation, either there should be a convergence of humanitarian and human rights norms, or at least one of these two systems of protection of human rights should clearly apply··41. Gernäss dieser heute zunehmend vertretenen Theorie ist folglich von einem einheitlichen ,,Normenkomplex Menschenrechte" unter verschiedenen institutionellen ,.Schirmen" 43 34 3~

Dietrich Schind/er 348. Dietrich Schind/er 334ff; Haug 642f.

36 Von den Vertretern dieser Theorie wird allerdings der traditionelle Begriff ,,Kriegsrecht" verwendet; vgl. Meyrowitz. Aber auch Dietrich Schind/er betitelte seinen Aufsatz mit ,,Kriegsrecht und Menschenrechte". 37 Meyrowitz 1104. 38 Meyrowitz 1095. 39 Meyrowilz 1102. 40 So stammt denn auch der Aufsatz von Meyrowitz aus dem Jahr 1972. 41 Meron (lnternal Strife) 28: ..[Al strict separation between [hurnanitarian and human rights lawJis artificial and hinders efforts to maximize the effective protection of the human person". Meyrowitz (1060 und 1067) bezeichnet hingegen dieses Vorgehen als .,confusioniste". 42 Meron (Interna! Strife) 3 und der.r.(Protection); ähnlich Eide (The Laws of War) 676 und 695 f; De Feyter 41 f; Meuret 96tf; Kälin (Interdependenz) 244ff; Kälin!Gabriel26ff und im Ergebnis wohl auch Robertson 800tf; Bothe/Part.rch/Solf635 f und Hamp.ron SOff. 43 Meron (Interna! Strife) 28.

III. Vertragskonkurrenz?

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auszugehen. Diesem Konzept entspricht auch die seit 1968 von der UNO verwendete Bezeichnung des humanitären Völkerrechts als "human rights in arrned conflicts"44. Die Zweckmässigkeit einer kumulativen Anwendung der Bestimmungen beider Rechtszweige soll ansebliessend anband der verschiedenen Geltungsbereiche ihrer materiellen Verpflichtungen dargestellt werden.

111. Vertragskonkurrenz zwischen Instrumenten des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte? Die Regeln zur völkerrechtlichen Vertragskonkurrenz gelangen zur Anwendung, falls mehrere Verträge Verpflichtungen enthalten, die nicht simultan erfüllt werden können 45. Selbst wenn jedoch der separatistischen Theorie46 gefolgt und ein Konflikt zwischen den sich überlappenden Bestimmungen des "Genfer Rechts" und den verschiedenen Menschenrechtsverträgen angenommen wird, ist dieses Problem nicht gernäss den allgemeinen Prinzipien von Iex posterior derogat priori und Iex specialis derogat generali 47 zu lösen. Dies deshalb, da die relevanten Instrumente eigene spezifische Vertragsklauseln zur Lösung eines allfälligen Anwendungskonflikts enthalten. Im internen Verhältnis der Menschenrechtspakte wurde dieses Problem, wie erwähnt48, durch die Aufnahme inhaltlich beinahe analoger sog. Mindeststandardoder Günstigkeltsklauseln gelöst. Wiewohl in keiner dieser Bestimmungen explizit statuiert, ist evident, dass sich die Bezugnahmen auch auf Normen des humanitären Völkerrechts erstrecken müssen und daher im Konfliktfall auch in diesem Verhältnis der Grundsatz der Kumulation des Schutzes verschiedener Instrumente gilt49. Während Notstandszeiten wird diese allgemeine Statuierung des Mindeststandardcharakters der Menschenrechte durch eine Anwendungsbedingung der Derogationsklauselnso der erwähnten Menschenrechtspakte verstärkt: Gernäss diesen Klauseln ist eine an sich vertragskonforme Derogation eines Rechts unter anderem dann unzulässig, falls diese Notstandsmassnahmen den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Vertragsstaates zuwiderlaufen. Kraft dieser Abkommen gelten 44

45

V gl. oben Anm. 12. WoljTam Karl, Conflicts between Treaties, EPIL, Band 7, 468.

Siehe oben Abschn. II. 2. V gl. Art. 30 Abs. 3 VRK. 4 Siehe Kap. I, Il.l.c)aa). 49 In Doktrin und Praxis findet sich keine explizite Bestätigung dieser Meinung. In Anbetracht des unbestrittenen Grundsatzes der Kumulation des Schutzes zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht im Falle der speziellen Mindeststandardklauseln in Derogationsklauseln, muss diese Schlussfolgerung hier umso mehr gelten. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Äusserungen von Bothe!Partsch!Solf 636. ~ Siehe dazu ausfUhrlieh Kap. 5, II. 1. 46 47

108

Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

somit auch in Zeiten staatlichen Notstandes zwingend die notstandsfesten Menschenrechte und zusätzlich diejenigen Garantien des humanitären Völkerrechts, die in der konkreten Situation Anwendung finden 51• Im humanitären Völkerrecht fehlen entsprechende ausdrückliche Bestimmungen weitgehend. Einzig Art. 75 Ziff. 8 und Art. 72 ZPI enthalten eine explizite Günstigkeitsklausel zugunsten anderer völkerrechtlicher Bestimmungen, die einer Person grösseren Schutz gewähren 52• Analoge Regelungen lassen sich aber aus anderen Normen des humanitären Rechts herleiten: Art. l Abs. 2 ZP I verweist für Fälle, die im ZPI nicht erfasst sind, auch auf andere internationale Übereinkünfte53, währenddem in der Präambel des ZPII ausdrücklich auf den durch Menschenrechtsverträge gewährten Schutz hingewiesen wird. Zudem machen die Formulierungen der in diesem Zusammenhang besonders relevanten Artikel 54 auch deutlich, dass diese Bestimmungen ebenfalls als Mindestgarantien einer menschlichen Behandlung zu verstehen sind. Der Anwendung von weitergehenden staatlichen Verpflichtungen eines Menschenrechtsabkommens stehen so auch von dieser Seite her keinerlei Hindernisse im Wege 55•

51 Buergenthal (Respect and Ensure) 82; Nowak (Kommentar) 92f; ders. (Commentary) 85 f; Ergec 223 ff; Oraa 201 ff. 52 Damit wird explizit auch der Vorrang einer weitergehenden menschenrechtliehen Regelung anerkannt. Siehe ZP -Kommentar Rz. 2928 ff und 3144. ' 3 Die sog. Martensklausel in diesem Artikel verweist allerdings bei Fehlen einer vertraglichen Regelung im Wesentlichen auf die "Grundsätze des Volkerrechts, wie sie sich aus feststehenden Gebräuchen, aus den Grundsätzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergeben." Weitere vertragliche Verankerungen der Martensklausel finden sich z.B. in Art.142 Abs.4 GKIII und 158 Abs.4 GKIV. 54 Gemeinsamer Art. 3 GK: jede Partei ist gehalten, "wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden"; Art. 75 ZP 1: "geniessen zumindest den in diesem Artikel vorgesehenen Schutz". Abs. 8 dieser Norm statuiert zudem ausdrücklich: ,,Die Bestimmungen dieses Artikels sind nicht so auszulegen, als beschränkten oder beeinträchtigten sie eine andere gUnstigere Bestimmung, die auf Grund der Regeln des anwendbaren Völkerrechts den unter Abs. 1 fallenden Personen grösseren Schutz gewähren"; Art. 4 ZP II. "So auch Bothe/Partsch/Solf636.

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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IV. Die Geltungsbereiche der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts 1. Der persönliche Geltungsbereich a) Menschenrechte Die internationalen Menschenrechtsverträge gelten grundsätzlich ausnahmslos für alle der Herrschaftsgewalt eines Vertragsstaates unterworfenen Personen, unabhängig von deren Staatsangehörigkeit56•

b) Humanitäres Völkerrecht Auf restriktivere Art, da einem anderen Ausgangspunkt entstammend57, regeln die Abkommen des humanitären Völkerrechts dieses Problem: Die Normen, welche in bewaffneten internationalen Konflikten zur Anwendung gelangen, entfalten ihre 56 Vgl. Art. 2 Pakt II; Art. 2 Pakt I; Art. 1 EMRK und Art. 1 AMRK; dazu Nowak (Kommentar) 42ft, ders. (Commentary) 39f und Frowein/Peukert 18f. Von diesem Grundsatz weichen folgende Ausnahmen ab: Die EMRK statuiert in Art.16 zusätzliche Schranken für die Ausübung - allerdings nicht notstandsfester- Garantien wie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und des Diskriminierungsverbotes für Personen ausländischer Staatsangehörigkeit (siehe dazu z. B. FroweinlPeukert 487 ff und Nowak [Limitations] 119 f). Die politischen Rechte gernäss Art. 25 Pakt II werden immer noch als Bürger- und nicht als Menschenrechte verstanden und kommen als solche nur Staatsangehörigen des betreffenden Staates zu. Art. 12 desselben Instruments, Art. 22 AMRK und Art. 2 Abs. 1 ZP4/EMRK garantieren die Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit nur Personen, die sich ,,rechtmässig im Hoheitsgebiet eines Staates" aufhalten. Art. 2 Abs. 3 Pakt I stellt es Entwicklungsländern frei, "unter gebührender Berücksichtigung der Menschenrechte und der Erfordernisse ihrer Volkswirtschaft" zu entscheiden, ,,inwieweit sie Personen, die nicht ihre Staatsangehörigkeit besitzen, die in diesem Pakt anerkannten Rechte gewährleisten wollen" (vgl. Meron [Interna! Strife] 30). Im Anhang zur ESC wird schliesslich in einer Ausnahmeklausel festgelegt, Ausländer würden vom persönlichen Geltungsbereich dieses Vertrages nur umfasst, ,,falls sie Staatsangehörige einer anderen Vertragspartei sind und ihren rechtmässigen, gewölmlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der betreffenden Vertragspartei haben oder dort ordnungsgernäss beschäftigt sind". Siehe dazu im Einzelnen Gomien1Harris/Zwaak432f. Die Aussage eines grundsätzlich umfassenden persönlichen Geltungsbereichs der Menschenrechtsverträge gilt zudem selbstverständlich nicht für diejenigen Konventionen, welche nur eine bestimmte Personenkategorie schützen. Selbst unter diesen personenspezifischen Verträgen nimmt die Wanderarbeitnehmerlconvention diesbezüglich eine Sonderstellung ein, indem sie einen unterschiedlich umfassenden Schutz für Wanderarbeitnehmer gewährt, dessen Umfang sich nach ihrem rechtlichen Status im Gaststaat bemisst (siehe die Definitionen in Art. 2 und die Sonderbestimmungen für gewisse Wanderarbeitnehmerkategorien in Art. 57 ff). 57 Von seiner ursprünglichen Konzeption her stand im humanitären Völkerrecht nicht der ausnahmslose Schutz aller Individuen, sondern der Schutz von Angehörigen einer bestimmten Gruppe im Zentrum; siehe Hampson 50f.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Schutzwirkung in ihrer vollen Breite grundsätzlich nur gegenüber Personen, welche kumulativ vier Voraussetzungen erfüllen58 : 1. Die Person befindet sich in der Gewalt, d. h. unter der Jurisdiktion einer Konfliktpartei59. 2. Die Person besitzt eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige des Staates, in dessen Gewalt sie sich befindet60 • Gestützt auf eine sich gegenwärtig wohl noch im Fluss befindliche gewohnheitsrechtlich abgestützte Entwicklung wird heute aber zunehmend anerkannt, dass auch Individuen dieses Erfordernis erfüllen, welche zwar die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzen, von dessen diplomatischem Schutz aber wegen ihrer Eigenschaft als Flüchtlinge oder als Angehörige einer verfolgten Minderheit61 nicht profitieren können 62• ss Siehe dazu auch detailliert GK-/V-Kommentar 45 ff und Meron (Protected Persons) 157 ff. s9 Art. 4 GK 1II und 4 GK IV. Gernäss diesen Bestimmungen f•illt jede Person unter diese Definition, die "in any manner whatsoever ( ...) is in the hands of a Party to the conßict" (ICfY, Case No. IT-95-12-R61, The Prosecutorv. Raic, Review ofthe Indictment Pursuant to Rule 61 of the Rules of Procedure, para. 34). 60 Art. 4 Abs. 1 GK IV. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung entfällt der Schutz der GK IV weiter auch für den - angesichts der beinahe universellen Ratifikation diese Vertrages - praktisch kaum mehr relevanten Fall von Staatsangehörigen eines Nichtvertragsstaates der GK IV sowie für Angehörige eines neutralen Staates und solche eines Staates, der weiterhin diplomatische Beziehungen zum Staat unterhält, in dessen Herrschaftsbereich sich seine Staatsangehörigen befinden. Nicht an das Erfordernis derfremden Nationalität knüpft Art.13 i. V.m. Art.4 Abs.3 GKIV: Demgernäss gelten die Normen des 2. Teils dieses Vertrages mit dem Titel,,Allgemeiner Schutz der Bevölkerung vor gewissen Kriegsfolgen" für die Gesamtheit der Bevölkerung der an einen Konflikt beteiligten Länder. Eine weitere Ausnahme von diesem Grundsatz statuiert Art.1 Abs.4 ZPI: Danach werden Befreiungskriege gegen Kolonialherrschaft internationalen Konflikten gleichgesetzt; damit gelangen in diesem Sonderfall auch Staatsangehörige des betreffenden Vertragsstaates in den Schutzbereich des ZP I. Zu dieser Bestimmung siehe auch unten S. 131 f. 61 Siehe dazu ICfY, The Prosecutor v. Dusko Tadic, Case No. IT-94-1, Appeals Chamber, Judgement of 15 July 1999, paras. 164f: ,,Article 4(1) of Geneva Convention IV(...), applicable to the case at issue, defines "protected persons" ( ...) as those ,,in the hands of a Party to the contlict or Occupying Power of which they are not nationals". In other words, subject to the provisions of Article 4(2), the Convention intends to protect civilians ( ...) who do not have the nationality of the belligerent in whose hands they find thernselves, or who are stateless persons. In addition, as is apparent from the preparatory work, the Convention also intends to protect those civilians in occupied territory who, while having the nationality of the Party to the contlict in whose hands they find themselves, are refugees and thus no Ionger awe allegiance to this Party and no Ionger enjoy its diplomatic protection (consider, for instance, a situation similar to that of German Jews who had tled to France before 1940, and thereafter found thernselves in the hands of German forces occupying French territory)". 62 ICfY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (judgement, Anm. 61), para. 166: "This legal approach, hinging on substantial relations more than on formal bonds, becomes all the more important in present-day international armed conßicts. While previously wars were primarily between well-established States, in modern inter-ethnic armed conßicts such as that in the former Yugoslavia, new States are often created durlog the conßict and ethnicity rather than nationality may become the grounds for allegiance. Or, put another way, ethnicity may become determi-

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

111

3. Die Person gehört einer besonders geschützten Personenkategorie an, wie z. B. derjenigen der Zivilbevölkerung63 oder der Kriegsgefangenen 64·6!1. 4. Die Person ist nicht ausdrücklich vom Schutzbereich des betreffenden Vertrages ausgeschlossen 66• Erfüllt jemand die eben genannten Voraussetzungen nicht kumulativ, bieten neben den Menschenrechten67 nur die subsidiär anwendbaren Garantien des Art. 75 ZP I einen Minimalschutz. Von dieser Auffangbestimmung profitieren demzufolge hauptsächlich folgende Personenkategorien68 : Eigene Staatsangehörige einer Konfliktpartei69; Staatsangehörige eines nicht an die Konventionen gebundenen Staates native of national allegiance. Under these conditions, the requirement of nationality is even less adequate to define protected persons. In such confiicts, not only the text and the drafting history of the Convention but also, and more importantly, the Convention 's object and purpose soggest that allegiance to a Party to the contlict and, correspondingly, control by this Party over persons in a given territory, may be regarded as the crucial test". 63 Art. 4 GK IV und Art. 50 ZP I, der zudem die Vermutung aufstellt, dass eine Person im Zweifel als Zivilperson zu gelten hat. Neben dieser allgemeinen Definition kennt die GK IV weitergehende Sonderregimes für die Personenkategorien der ,,Bewohner besetzter Gebiete" (d. h. für: Zivilpersonen, welche sich zusätzlich in einem besetzten Gebiet befinden; Art. 4 7 ff) und ,,Zivilinternierte" (d. h. für Zivilpersonen, welche aus zwingenden Sicherheitsgründen gemäss den Bestimmungen der Art. 41-43 und 78 GK IV interniert wurden; Art. 79 ff GK IV). 64 Siehe die ausfUhrliehe Liste in Art. 4 GK III. Diese Regelung wurde jedoch mit lnkrafttreten des ZPI vereinfacht: Demgernäss gilt in allen internationalen Auseinandersetzungen inklusive den Befreiungskriegen i. S. v. Art. 1 Abs. 4 ZP I, in welchen alle Parteien auch dieses Protokoll unterzeichnet haben (resp. in Befreiungskriegen die nichtstaatliche Parteien eine Erklärung gernäss Art. 96 Ziff. 3 abgegeben hat), folgende Grundregel: Nach Art. 44 ZP I ist Kriegsgefangener und kann damit nicht für während kriegerischer Auseinandersetzungen unter Beachtung der Regeln des Haager Rechts gegen Kombattanten gerichtete Gewalthandlungen gernäss nationalem Recht bestraft werden, wer selber Kombattant i. S. v. Art. 43 ZP I ist. Diese Definition umfasst wiederum im Wesentlic hen die Angehörigen der Streitkräfte der am Konflikt beteiligten Parteien. Siehe zu den weiteren Details dieser Definitionen ZP-Kommentar Rz. 1658ff; Bothe/Partsch/Solf232ff und Knut/psen, Combatants and Non-Combatants, in Fleck (ed.), The Handbook of Humanitarian Law in Armed Conßicts, Oxford 1995, 65 ff. 65 Die im Rahmen dieser Arbeit weniger relevanten Konventionen schützen zusätzlich Verwundete und Kranke der Land- (Art. 13 GK I) und der Seestreitkräfte (Art.13 GK II). 66 Art. 5 GK IV: Personen, welche eine der Sicherheit eines betreffenden Staates abträgliche Tätigkeit entfalten, resp. falls ein gerechtfertigter diesbezüglicher Verdacht besteht, sowie Spione und Saboteure. Abs. 3 gewährt aber auch dieser Personenkategorie das Recht auf menschliche Behandlung und auf ein gerechtes und ordentliches Gerichtsverfahren. Die Art. 46 f ZP I halten fest, dass Spione grundsätzlich keinen Anspruch auf den Status als Kriegsgefangene haben und dass Söldner nie als Kombattanten gelten und folgerichtig auch nie Kriegsgefangene sein können. Siehe dazu z. B. Bothe/Partsch/Solf263 ff; Austin 114 f und EI Kouhene 52ff. 67 Und vor allem deren notstandsfester Kern; vgl. dazu Kap.5, II.l.e). 68 Siehe ZP-Kommentar Rz. 3022 ff. 69 Diese Bestimmung findet Anwendung auf Personen, welche "von einer in Art. 1 genannten Situation betroffen sind" und verbietet explizit eine nachteilige Unterscheidung auf Grund unter anderem der nationalen Herkunft.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

sowie Personen, die sich aufgrund der Ausnahmebestimmung der Art. 5 GK IV resp. 46 und 47 ZP I nicht auf den vollen Normbestand des Genfer Rechts berufen können 70 • In internen bewaffneten Auseinandersetzungen schützt der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen umfassend alle Personen, "die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschliesslich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben". Das Kriterium der Staatsangehörigkeit wird zwar in dieser Bestimmung nicht ausdrjicklich erwähnt. Eine Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs auf Angehörige fremder Staaten würde diese Norm aber jeglichen Gehaltes entleeren. Staatsangehörige der betreffenden Partei sind deshalb auch gegenüber ihrer eigenen Regierung geschützf1• Zusätzlich - wie bereits aus dem Wortlaut deutlich wird- unterlässt diese Bestimmung auch die für das Recht der internationalen Konflikte geradezu charakteristische Unterscheidung zwischen Kombattanten hors de combat und der Zivilbevölkerung72• Art. 2 Abs.1 des ZP II schliesslich statuiert- in enger Anlehnung an entsprechende Normen von Menschenrechtsverträgen - für dieses Vertragswerk einen umfassenden persönlichen Geltungsbereich 73 • Keine Unterschiede im persönlichen Geltungsbereich bestehen zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht demzufolge in internen Konflikten sowie im Anwendungsbereich der Minimalgarantien von Art. 75 ZP I. Anders ist die Situation hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs der Genfer Konventionen zu beurteilen, doch gelangen auch hier in den praktisch relevantesten Fällen der Bevölkerung besetzter Gebiete und bei Kriegsgefangenen resp. Zivilinternierten beide Rechtsgebiete in ihrer vollen Breite kumulativ zur Anwendung.

70 D.h. insbesondere Spione und Söldner. Siehe dazu Bothe!Partsch/Solf457; Meron (Interna! Strife 32); EI Kouhene 43 ff und David (Principes) 408 ff. 71 Meron (Interna! Strife) 33. n Auch Spione lind Söldner, welche an einem Bürgerkrieg teilnehmen, werden vom persönlichen Geltungsbereich des gemeinsamen Art. 3 GK nicht ausgeschlossen; EI Kouhene 63, Anm. 136. Da jedoch dieser Artikel gernäss seinem Wortlaut mit Ausnahme von Mitgliedern der Streitkräfte, ,.welche die Waffen gestreckt haben", nur solche Personen schützt, die ,,nicht an den Feindseligkeiten" teilnehmen, wurde vereinzelt auch argumentiert, Guerilleros, Widerstandskämpfer resp. Terroristen könnten sich nicht auf den Schutz dieser Norm berufen. Für eine Darstellung dieser (veralteten) Theorie siehe Oeter 465. 73 ,,Dieses Protokoll findet ohne jede auf Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion oder Glauben, politischer oder sonstigen Stellung oder auf irgendeinem anderen ähnlichen Unterscheidungsmerkmal beruhende nachteilige Unterscheidung (...) auf alle Personen Anwendung, die von einem bewaffneten Konßikt im Sinne des Artikels 1 betroffen sind". Im Gegensatz zur Regelung des Art. 3 GK I-IV bietet jedoch in diesem Instrument ein schmales Sonderregime der Zivilbevölkerung zusätzlichen Schutz (Art. 13 ff ZP II). Andererseits gelten selbst Minimalbestimmungen wie Art. 5 ZP II nur für Personen, "denen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt die Freiheit entzogen wurde", d. h. nicht für "gewöhnliche" Kriminelle; siehe Bothe/Partsch/Solf645.

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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2. Der territoriale Geltungsbereich Unter diesem Gesichtspunkt beschränken sich die Unklarheiten bezüglich der Geltungsbereiche von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht im Wesentlichen auf zwei Problemfelder: Im Bereich der Menschenrechte gilt es zu untersuchen, inwieweit diesen Garantien während internationalen bewaffneten Konflikten und anderen grenzüberschreitenden Aktivitäten eines Staates auch eine extraterritoriale Reichweite zukommt. Gegenteilig gelagert präsentiert sich diese Problematik im Gebiet des während internationalen Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts, dessen traditionelles Hauptaugenmerk es ist, grenzüOO,rschreitende Sachverhalte auf dem Gebiet einer anderen Partei des internationalen Konfliktes umfassend zu regeln. Unklarheiten bestehen in diesem Rechtsgebiet aber hinsichtlich der Frage einer Anwendung seiner Normen auf Sachverhalte, die sich ausserhalb des eigentlichen Ortes des Kriegsgeschehens abspielen. a) Die territoriale Geltung der Menschenrechtsgarantien aa) Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs auf das Staatsgebiet? Art. 2 Abs. 1 Pakt II verpflichtet jeden Vertragsstaat, die Rechte dieses Vertrages "allen in seinem Gebiet befindlichen und seiner Jurisdiktion unterstellten Personen"74 zu gewähren. Eine streng wörtliche Auslegung dieses Artikels wird deshalb zum Schluss führen, dieses Abkommen beschränke seinen territorialen Anwendungsbereich auf das Staatsgebiet des betreffenden Vertragsstaates. Diese, z. B. von Dietrich Schindler75 vertretene Interpretation, die von kumulativ zu erfüllenden Anforderungen ausgeht, verhindert deshalb insbesondere eine Anwendung der Menschenrechtsinstrumente während einer Besetzung fremden Staatsgebietes und im Falle von auf ausländischem Territorium handelnden Agenten eines Vertragsstaates einer Menschenrechtskonvention 76. Der UNO-Menschenrechtsausschuss und mit ihm die herrschende Lehre vertreten in dieser Frage eine andere Position: Die Verpflichtung in Art. 2 Abs. 1 bedeute nicht, "that the State party concerned cannot be held accountable for violations of rights under the Covenant which its agents commit upon the territory of another 74 Eine andere Terminologie wurde aber bereits in den FP zum Pakt II gewählt. So stipuliert Art. 1 FP/Pakt II: ,)eder Vertragsstaat des Paktes erkennt die Zuständigkeit für die Entgegennahme und Prüfung von Mitteilungen seiner Herrschaftsgewalt unterstehender Einzelpersonen an", und Art. 1 FP2/Pakt II hält fest: ,,Niemand, der der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates ( ... )untersteht, darfhingerichtet werden". 15 Dietrich Schind/er 334. Diese Ansicht findet auch eine gewisse StUtze in den travaux preparatoires; siehe Bossuyt 53 ff. 76 Vgl. Meron (Interna! Strife) 40.

8 Kllnzli

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

State, whether with the acquiescence of the Govemrnent ofthat State or in opposition to it" 77 • Dies bedeutet nach Nowak, dass in der Frage des territorialen Geltungsbereichs auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten für das Handeln ihrer Organe abzustellen isf8• Anders formuliert, sind die Verpflichtungen eines Staates aus diesem Vertrag in territorialer Hinsicht unbeschränkt, er ist aber nur dann für Verletzungen seiner Verpflichtungen verantwortlich, wenn ihm dieser Bruch des Völkerrechts in Anwendung der Zurechenbarkeitsregeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit zugerechnet werden kann79 • Auch diese Regeln wiederum begrenzen die Zurechenbarkeit einer Handlung zu einem Staat nicht nach dem Kriterium, ob dessen Organe innerhalb oder ausserhalb seiner Staatsgrenzen gehandelt haben 80•

bb) Keine Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs

Aus all dem folgt als Grundregel, dass keine festen territorialen Abgrenzungen, sondern allein die Jurisdiktion, d. h. die tatsächlich ausgeübte oder zumindest recht77 Cornrnunication 56/1979, Lilian Celiberti de Casariego v. Uruguay, paras. 10.1-10.3; ähnlich auch Cornrnunication 52/1979, Lopez Burgos v. Uruguay, paras 12.1-12.3. Diese Entscheide wurden im Wesentlichen auf das Missbrauchsverbot des Art. 5 Abs. 2 Pakt li gestUtzt. Wohl zutreffender in ihrer Begründung sind jedoch die jeweils identischen zustimmenden Sondervoten des Ausschussmitgliedes Tomuschat,_ welcher zu diesem Schluss mittels einer "effet utile" Auslegung und unter Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung gelangt. Diese ergibt, dass mit der gewählten Formulierung keinesfalls die Verantwortung eines Staates für von ihm gesetzte extraterritoriale Handlungen ausgeschlossen werden sollte. Noch deutlicher in diesem Sinne wurde der Ausschuss für Menschenrechte in seinem General Cornrnent 24/52, wo schlicht festgestellt wird, "[t]he intention of the Convention is that the rights contained therein should be ensured to all those under a State's party's jurisdiction". Gestützt auf diese Praxis wurde auch vorn Sonderberichterstatter der Menschenrechtskornmission für Kuwait unter irakischer Besatzung festgestellt, Irak sei für die in Kuwait begangenen Verletzungen des Pakt li verantwortlich, und zwar unabhängig von der Frage, ob Angehörige von Nichtvertragsstaaten Opfer dieses rechtswidrigen Verhaltens seien (UN Doc. E/CN. 4/1992/26, paras. 58 f). Eine zumindest im Resultat gleiche Meinung wird auch von Buergenthal (Respect and Ensure) 73ff; Nowak (Kommentar) 45f; ders. (Cornrnentary) 42; Kälin (Interdependenz) 240; Kälin/Gabriel18f; Rajawer 144; Dipla 50f; Meron (Interna! Strife) 40ff; ders. (United Nations) 106 ff; M cGoldrick 177 ff; Zwaak 95 ff und K. Widows, The Application ofa Treaty to Nationalsofa Party Outside its Territory, ICLQ 1986, 724ff, vertreten. Meron (Extraterritoriality) 80, schränkt aber ein, dass ,,not all the provisions of the Political Covenant are by their nature intended for extraterritorial application". Als Beispiel für ein solches Recht nennt dieser Autor die Prozessgarantien des Art. 14 Pakt li. 71 Nowak (Kommentar) 45; ders. (Cornrnentary) 41 f. 79 Zur Frage der Anwendbarkeit der Regeln der Staatenverantwortlichkeit im Gebiet des Rechts der Menschenrechte siehe ausführlich Abschn. V. 2 . und Kap. 5, III. 2. a). 80 So die ILC in ihrem Kommentar zum Entwurf des Rechts der Staatenverantwortlichkeit, wo ausgeführt wird, die Zurechenbarlceitsregeln " set no territorial Iimitation on the attribution to the State of the acts of its organs" (Yearbook ILC 1975 11, 83; Hervorhebung durch den Autor).

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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lieh gebotene81 Kontrolle über einen Sachverhalt über die Verantwortung eines Staates für eine Verletzung seiner menschenrechtliehen Verpflichtungen entscheidet. Dieser Grundsatz der umfassenden Geltung in räumlicher Hinsicht gilt nicht nur auf universeller Ebene, sondern- sogar in problemloserer Weise- auch für die Systeme der regionalen Konventionen: Art. 1 der EMRK und auch der AMRK beschränken sich in ihrer Bestimmung des räumlichen Geltungsbereichs beide auf das unproblematische Kriterium der staatlichen Hoheitsgewalt, indem sie ihre Rechte allen Personen garantieren, welche der Jurisdiktion eines Vertragsstaates unterstehen82. Diese Formulierung lässt in Fällen des Tätigwerdens staatlicher Organe auf fremdem Hoheitsgebiet resp. im Falle der Besetzung fremden Staatsgebietes problemlos eine extraterritoriale Anwendung dieser Konventionen zu 83. Besonders prägnant und weitreichend ist in diesem Zusammenhang die Aussage des EGMR im Urteil Loizidou, in welchem das Gericht zum Bestehen einer türkischen Jurisdiktion in Nordzypern ausführt: ,,Bearing in mind the object and purpose of the Convention, the responsibility of a Contracting Party may also arise when as a consequence of military action- whether lawful or unlawful- it exercises effective control of an area outside its national territory. The obligation to secure, in such an area, the rights and freedoms setout in the Convention derives from the fact of such control whether it be exercised directly, through its armed forces, or through a subordinate local administration"114•

Mit dieser Aussage hat der Gerichtshof in allgemeiner Form bestätigt, dass es für die Verpflichtung eines Vertragsstaates der EMRK irrelevant bleibt, ob ein vertragswidriges Verhalten seiner Organe sich innerhalb oder ausserhalb seiner Staatsgrenzen abspielt. Auch in extraterritorialen Sachverhalten hängt deshalb die Frage einer 81 Diese Variante greift in denjenigen Fällen, in welchen die Rechtsverletzung eines Staates in einer Unterlassung besteht, d.h. er infolge Verletzung seiner Sorgfaltspflicht eine durch Dritte begangene Verletzungen eines Menschenrechtes nicht verhindem konnte. Zu diesen sogenannten Schutzpflichten siehe hinten Kap. 3, IV. 82 Vgl. Frowein/Peuk.ert 19ff; Prowein (Probleme) 289f; Lawson 111 f; Jacobs!White 21 und Zwaak 109ff. 83 Eine gewisse, heute jedoch kaum mehr relevante Einschränkung der Verpflichtungen in territorialer Hinsicht lässt sich hingegen den sogenannten Kolonialklauseln entnehmen. Gemäss diesen Sonderregeln gelten die vertraglichen Pflichten in den vom Vertragsstaat abhängigen Gebieten nicht automatisch mit der Ratifizierung. Siehe z. B. Art. 63 EMRK und dazu

Frowein/Peuk.ert 142ff. 84 EGMR, Loizidou v. Turkey (preliminary objections}, Series A Vol. 310, para. 62. Bereits ähnlich der EGMR im Fall Drozd and Janousek v. France and Spain (Series A Vol. 240,

para. 91) wo ausdrücklich statuiert wird: "[T]he term ,jurisdiction' is not limited to the national territory of the High Contracting Parties; their responsibility can be involved because of acts of their authorities producing effects outside their own territory". Siehe dazu auch Zwaak 109ff; Frowein/Peuk.ert 19f; Harris/0' Boyle!Warbrick 642ff; Dipla 45 ff; van Dijklvan Hoof9f; Decaux (territoire) 69ff; David (Principes) 209 f und VelulErgec 61, welche das Problem von Seiten der Rechtsträger angehen: ,,Pour qu 'une personne soit titulaire des droits et libertes reconnus par la Convention, eile ne doit pas necessairement se trouver ou r6sider sur le territoire d 'un Etat contractant: il faut, mais il suffit qu'elle releve de Ia juridiction d'un tel Etat".

s•

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Verletzung der EMRK ausschliesslich davon ab, ob eine Verletzung dieses Vertrages von einem staatlichen Organ direkt verursacht wurde, d. h. einem solchen unmittelbar zugerechnet werden kann85 oder ob ein ihm zurechenbarer Mangel an Sorgfalt resp. "due diligence" eine Verletzung durch eine Drittpersonen ermöglichte, d. h. durch Akteure, deren Verhalten den Staat nicht direkt zu verpflichten vermags6. In den übrigen oben aufgeführten Menschenrechtsverträgen wird das Problem des örtlichen Geltungsbereichs zwar auf unterschiedliche Weise gelöst - von der Nichterwähnung des Problems 87 bis hin zur exklusiven Abstützung auf die Frage der Jurisdiktion eines Vertragsstaates 88 -,doch muss eine Auslegung der jeweils relevanten Bestimmungen unter Berücksichtigung des Art. 31 VRK wohl stets zur Bejahung einer unbeschränkten extraterritorialen Anwendung dieser Verträge führen89. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Es bleibt irrelevant, ob das Verhalten eines staatlichen Organs, dessen Ergebnis die Verletzung eines menschenrechtlichen Vertrages darstellt, sich innerhalb oder ausserhalb des Territoriums des betreffenden Staates abspielt. Entscheidend ist in beiden Konstellationen einzig, ob dieses Verhalten unter der Jurisdiktion, d. h. unter der Kontrolle eines bestimmten Staates erfolgte 90 und dieser deshalb zu einem gewissen Verhalten verpflichtet war. Damit wird aber auf die Zurechenbarkeitsregeln91 des Rechts der Staatenverant85 Zur Frage der sogenannten Zurechenbarkeit siehe unten Abschn. V. 2. b). Dieses Problem wurde denn auch im Fall Loizidou v. Turkey erst in einem zweiten Schritt geprtlft, wo festgehalten wurde, dass infolge der effektiven Kontrolle Nordzyperns durch die lllrkei dieser auch Handlungen von Organen der international nicht anerkannten Republik von Nordzypern (TRNC) zugerechnet werden müssen; Loizidou v. Turkey (merits) judgement of 18 December 1996, para.56. Siehe dazu auch Decaux (territoire) 70f. 16 Damit ist die Frage der sogenannten Schutzpflichten eines Vertragsstaates angesprochen, die in Kap. 3, IV., ausführlich dargestellt werden. s1 Z. B. Pakt I; ESC. 88 Z. B. Art. 2 Abs. 1 CAT: "in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten"; Art. 2 Abs. 1 CRC: ,jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind". 89 Vgl. Meron (Extraterritoriality) 81 , der eine Ausnahme von dieser Regel nur dann als möglich erachtet, wenn "the nature and the content of a particular right or treaty language suggest otherwise". In diesem Sinne wurde z. B. auch die extraterritoriale Geltung des Pakts I durch den Sonderberichterstatter für das irakisch besetzte Kuwait bejaht: "[No) provision of the Covenant Iimits its application to the territory of State's parties (...). Therefore, a State party remains bound by the Covenant if it occupies the territory of another State and exercises there de facto State power" (UN.Doc. E/CN.4/1992/26, para.51). 90 So besonders deutlich die EKMR im Fall Stocke v. Germany, publiziert in Series A Vol. 199, para. 166: ,,According to Article 1 of the Convention the High Contracting Parties have to ensure the rights under (...) the Convention to everyone ,within their jurisdiction'. This undertaking is not limited to the national territory of the High Contracting Party concemed, but extends to all persons under its actual authority and responsibility, whether this authority is exercised on its own territory or abroad". 91 Siehe dazu unten Abschn. V. 2. b).

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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wortlichkeit Bezug genommen, die damit de facto den Normbereich der einzelnen Menschenrechtsverträge eingrenzen 92 • Somit präsentiert sich die Situation im Falle der praktisch relevantesten Situationen extraterritorialen Verhaltens eines Vertragsstaates folgendennassen: • Besetzungfremden Staatsgebiets durch staatliche Organe: In einer solchen Konstellation dürften Menschenrechtsverletzungen im besetzten Gebiet ihre Ursache regelmässig im Verhalten der Invasionstruppen, d. h. der Organe oder de facto Organe93 des Besetierstaates - und nicht mehr derjenigen des Territorialstaates haben. Dies hat umgekehrt - falls der Besatzer- und der besetzte Staat beide den konkret zur Diskussion stehenden Vertrag ratifiziert haben- zur Folge, dass derjenige Staat, dessen Gebiet besetzt wurde, infolge des Grundsatzes der Unbegrenztheit des territorialen Geltungsbereichs zwar weiterhin in unverändertem Masse aus diesem Abkommen verpflichtet bleibt, ihm aber Verletzungen in Folge fehlender Jurisdiktion kaum mehr zugerechnet werden können 94 • Diese Einschätzung wird auch durch eine Entscheidung der EKMR gestützt, worin festgehalten wurde, dass trotz Unveränderlichkeit des territorialen Geltungsbereichs, der besetzte Staat infolge der fehlenden tatsächlichen Jurisdiktion nicht länger gehalten sei, die Beachtung der EMRK sicherzustellen95. Trotz de jure unverändertem Gel92 Siehe Christian Rumpf, Noctunals: Zypern und TUrkei vor den Strassburger Menschenrechtsorganen, EuGRZ 1992, 462: ,,Die allgemeine Verpflichtung aus Art. 1 EMRK entflillt, wenn die dort zitierte Hoheitsgewalt der betreffenden Vertragspartei durch eine andere Hoheitsgewalt (...)ersetzt wird und dadurch eine Zurechenbarkeit ausscheidet.(...) Anders ausgedrUckt: der Normbereich des Art. 1 EMRK wird durch die haftungsrechtliche Zurechenbarkeit eingegrenzt". 93 Ein Staat wird nicht nur durch das Handeln seiner de jure Organe verpflichtet, sondern ebenso durch das Verhalten von Personen, die offiziell nicht Teil der staatlichen Verwaltung sind, aber trotzdem staatliche Aufgaben wahrnehmen und unter effektiver Kontrolle des Staates stehen. Siehe zum Problem der Zurechenbarkeit ausfUhrlieh hinten Abschn. V. 2. b). 94 Dieser Schluss gilt natürlich nicht, falls die Truppen vom Empfangsstaat angefordert wurden und zudem zumindest teilweise unter seiner Kontrolle stehen. So auch Art. 12 des ILCEntwurfs: "1. The conduct of an organ of a State acting in that capacity which takes p1ace in the territory of another State or in any other territory under its jurisdiction shall not be considered as an act of the latter State under intemationallaw". Siehe dazu auch Dipla 77 ff. 9S EKMR, Cyprus v. Turkey, Application No.807(77, DR 13, 149f, paras.19 und 23: "[T]he High Contracting Parties are bound to secure the said rights and freedoms to all persons under their actua1 authority and responsibility (...). lt is not disputed between the Parties that the European Convention ( ...) continues to apply to the whole of the territory of the Republic of Cyprus, and that the applicant Govemment have since 1974 been prevented from exercising their jurisdiction in the north of the island. This restriction on the actual exercise of jurisdiction by the applicant Govemment (...) is due to the presence ofThrldsh armed forces in the north of the island". Siehe dazu auch Dipla 48 und Zwaak 111, diebeidezudem einen nicht in den DR publizierten Entscheid (Application No. 18720/91) der EKMR zitieren, wo festgehalten wird, dass "the Republic of Cyprus cannot be held responsible under article 1 of the Convention for acts of Turkish Cypriot authorities in the north of Cyprus". Umgekehrt ist gernäss diesem Grundsatz der Invasionsstaat jedoch auch für das Verhalten seiner Truppen gernäss seinen vertraglichen Verpflichtungen verantwortlich, falls der besetzte Staat den betreffenden Vertrag

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

tungsbereich von menschenrechtliehen Verpflichtungen rationae loci bewirkt deshalb eine Invasion eines anderen Staates96 de facto 97 je nach Sichtweise entweder eine Ausdehnung oder aber eine Beschränkung der territorialen Geltung der Verpflichtungen eines Staates98 • Anders ausgedrückt bestimmen infolge des Verweises der jeweiligen Vertragsbestimmungen auf die Jurisdiktion, wiederum die Zurechenbarkeitsregeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit den tatsächlichen Umfang der örtlichen Geltung eines bestimmten Vertrages. • Handeln einzelner Organe auf fremdem Staatsgebiet: Das menschenrechtliche Garantien tangierende Handeln staatlicher Agenten ohne Wissen resp. gar gegen den Willen des Territorialstaates99 unterscheidet sich hinsichtlich des hier zu besprechenden Problems von einer Besatzungssituation nur dadurch, dass sich die Zugehörigkeit der auf fremden Staatsgebiet handelnden Agenten zu ihrem Staat nicht ohne weiteres ergibt. Vielmehr dürfte, da sie sich in einem Umfeld abspielt, das im übrigen unter der Kontrolle des Territorialstaates steht, der Nachweis der Verantwortung des Sendestaates für die Menschenrechtsverletzung regelmässig vergleichsweise schwierig zu erbringen sein. • Massnahmen der Handels- und Entwicklungszusammenarbeitspolitik mit extraterritorialer Wirkung: Eine extraterritoriale Wirkung, die geeignet ist, die Grundnicht unterzeichnet hat. So betraf die gegen die TUrkei gerichtete Beschwerde 31821/96 eine angebliche Verletzung des Art. 2 EMRK durch türkische Truppen während ihrer kurzzeitigen Besetzung von Grenzgebieten im Nordirak. 96 Dasselbe Resultat gilt auch im Falle der "Besetzung" von Teilen des Staatsgebietes eines Vertragsstaates eines Menschenrechtsvertrages durch eine aufständische Bewegung. Allerdings fehlt in solchen Situationen-jedenfalls bei Nichtbestehen einer selbständigen Verpflichtung dieser Aufständischen (siehe dazu unten Abschn. V. 5.)- das komplementäre Anwachsen der Jurisdiktion eines anderen Völ.kerrechtssubjektes. 97 Diese Beschränkung ist auch deshalb bloss als de facto Einschränkung zu qualifizieren, da die entsprechenden Vertragsüberwachungsorgane auf Beschwerde hin weiterhin allfallige, allerdings wohl selten vorkommende Verletzungen der Vertragsverpflichtungen durch Organe des besetzten Staates im besetzten Gebiet beurteilen können. Dies wäre bei einer de jure Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs nicht möglich, da diesfalls überhaupt keine entsprechenden menschenrechtliehen Verpflichtungen mehr vorliegen würden. Eine derartige Konstellation kann sich z. B. ergeben, falls Organe des besetzten Staates hinter der feindlichen Linie operieren oder gezielt als Konterguerilla Anschläge im besetzten Gebiet verüben, welche auch Menschenrechte der Zivilbevölkerung verletzen. 98 GomienlHarris/Zwaak 21 (,;t must be physically possible for the state to secure the rights proclaimed"); Rumpf (Anm. 92) 462 und in diesem Sinne wohl auch Juan Antonio Carillo-Salcedo, Article 1, in Pettiti/Decaux/lmbert, La Convention Europeenne des droits de l'homme, Paris 1995, 135: ,,L'expression relevant de leur juridiction semble limiter le nombre des ben6ficiaires de Ia Convention, mais ne fait qu'6tablir le Iien nocessaire entre Ia victime d'une violation (...) et !'Etat partie a qui cette violation est imputable. Autrement dit, pour que Ia Convention soit applicable, il doit etre possible a l'Etat de reconnaitre les droits garanties par Ia Convention". 99 Das Spektrum reicht von Verletzungen menschenrechtlicher Garantien durch Angehörige des diplomatischen Korps eines Vertragsstaates bis zu solchen durch im geheimen operierende Agenten dieses Staates.

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rechtsverwirklichung in einem Drittstaat zu beeinflussen, kann auch der Handelsoder Entwicklungszusammenarbeitspolitik eines Staates zukommen. Von Massnahmen in diesen Politikbereichen können insbesondere die Leistungsschichten von Subsistenzrechten, d. h. beispielsweise des Rechts auf Gesundheit oder des Rechts auf Nahrung, tangiert werden. Dies kann etwa durch die spezifische Ausgestaltung von Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit, durch Kürzungen derselben oder auch durch einen eigentlichen Handelsboykott geschehen. In all diesen Situationen gilt es aber- und zwar unabhängig von der Frage ob staatliche Organe selber in dem von diesem Massnahmen betroffen Staat tätig waren - abzuklären, inwieweit derjenige Staat, der über die Massnahme befindet, durch dieses Verhalten eine Jurisdiktion, d. h. eine tatsächliche Kontrolle hinsichtlich der Verwirklichung dieser Rechte ausübt. Diese Frage soll im Folgenden anband dreier typischer Situationen untersucht werden. Einer klaren Beurteilung der Jurisdiktion eines Staates in solchen Fällen steht jedoch die Tatsache entgegen, dass diese Problematik gernäss dem heutigen Stand des Völkerrechts bloss wenig geklärt erscheint. 1. Zumindest von einer partiellen Kontrolle über Lebenssachverhalte ausserhalb sei-

nes eigenen Staatsgebietes kann dann ausgegangen werden, wenn als direkte Folge bestehender Aktivitäten der Entwicklungspolitik eines Staates in einem Drittstaat der materielle Geltungsbereich menschenrechtlicher Garantien tangiert wird. Eine solche extraterritoriale Verpflichtung infolge bestehender (teilweiser) Jurisdiktion kommt z. B. einem Staat zu, falls infolge seiner Hilfslieferungen das Funktionieren der Lebensmittelproduktion im Destinationsstaat beeinträchtigt wird100 und sich auf diese Weise die Realisierungschancen des Rechts auf angemessene Ernährung verschlechtern. Daraus ergibt sich eine völkerrechtliche Verpflichtung der Geberländer, ihre Entwicklungszusammenarbeits- und Handelspolitik so auszugestalten, dass die Chance einer Verwirklichung von Menschenrechten in Drittstaaten durch solcheMassnahmen zumindest nicht geschmälert wird 101 •

2. Eine weitere, praktisch sehr relevante Konstellation, in welcher die Verwirklichung menschenrechtlicher Positionen in Drittstaaten regelmässig gefährdet werden, stellen Wirtschaftssanktionen in Form von Handels- und Verkehrsembargos von Einzelstaaten oder der Staatengemeinschaft dar 102• In solchen Billen üben der resp. diejenigen Staaten, welche die Sanktion ergreifen, in dem Ausmass eine Kontrolle und damit Jurisdiktion im Sinne der Verpflichtungsklauseln menschen100 Beispielsweise weil infolge der Hilfslieferungen die Marktpreise für Nahrungsmittel zusammenbrechen. 101 Vgl. Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 12, para. 12, und International Code of Conduct on the Right to Adequate Food (FIAN/WANAHR/Institute Jean Maritain International, ohne Ortsangabe, 1997), Art. 7.4. 102 In den neunziger Jahren wurden solcheMassnahmen durch die Staatengemeinschaft gegenüber folgenden Staaten ergriffen: Südafrika, Irak, Ex-Jugoslawien, Somalia, Libyen, Liberia, Haiti, Angola, Ruanda und Sudan. Siehe dazu Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 8, para. 2.

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

rechtlicher Verträge in einem Drittstaat aus, ohne aber diejenige des Staates zu verdrängen 103, in dem diese Embargomassnahmen Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation zu zeitigen vermögen 104• Dieser Grundsatz wurde vom Ausschuss für WSK-Rechte in folgender Weise festgehalten: "When an external party takes upon itself even partial responsibility for the situation within a country (whether under Chapter VII of the Charter or otherwise), it also unavoidably assumes a responsibility to do all within its power to protect the economic, social and cultural rights of the affected population" 105•

Sollen deshalb mit solchen Massnahmen keine Verletzungen des Völkerrechts auf extraterritorialer Ebene verursacht werden, sind diese auf ihre Vereinbarkeil mit den menschenrechtliehen Verpflichtungen- insbesondere aus Subsistenzrechten aber auch z. B. aus der Bewegungsfreiheit- der sanktionierenden Staaten zu prüfen 106• Welche Grundsätze anlässlich dieser Abklärung anzuwenden sind, ist hingegen nicht an dieser Stelle zu untersuchen, sondern soll anlässlich der Darstellung des Rechtfertigungsgrundes der "counter-measures" oder Gegenrnassnahmen dargestellt werden 107• 3. Demgegenüber ist ein Staat nicht generell dafür verantwortlich, dass Personen in anderen Staaten mit lebensnotwendigen Subsistenzgütern versorgt werden, falls den betroffenen Personen selber und zusätzlich auch dem primär verantwortlichen Staat die dafür notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Selbst bei Bestehen einer Möglichkeit eines Drittstaates zur Versorgung dieser Menschen kann in solchen Situationen nur schwerlich eine extraterritoriale Jurisdiktion dieses Staates konstruiert werden. Denn erstens übt er in einer solchen Konstellation keine tatsächliche und aktuelle Kontrolle aus und zweitens ist er zur Übernahme einer solchen allein gestützt auf geltende Bestimmungen des Menschenrechtsschutzes auch nicht verpflichtet. Zumindest von einem Grenzbereich einer normativen Verpflichtung zur Hilfeleistung geht aber der Ausschuss für WSK-Rechte in solchen Situationen aus 108• Diese Einstufung stützt sich jedoch weniger auf die Vorbedingung desBestehenseiner Jurisdiktion, als vielmehr direkt auf die Verpflichtungen aus den Artikeln 55 und 56 der UNO-Charta 109• Siehe Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 8, para.lO. A. a. 0., para. 11. 10~ A.a.O., para.13. 106 A. a. 0., paras. 7 und 13: ,)ust as the international community insists that any targeted State must respect the civil and political rights of its citizens, so too must that State and the international community itself do everything possible to protect at least the core content of the economic, social and cultural rights of the affected peoples ofthat State (...)". 107 Siehe dazu ausführlich hinten Kap.5, III.2.c). 1os Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 12, paras. 36-38. Siehe auch die inhaltlich ähnlichen Ausführungen in Art. 7 des International Code of Conduct on the Human Right to Adequate Food (Anrn. 101). 109 Die UNO-Charta verpflichtet gernäss Art. 56 i. V. m. Art. 55 lit. c die Staaten, "gemeinsam und jeder für sich mit der [UNO] zusammenzuarbeiten", um "die allgemeine Achtung und \i:r103

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IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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• Extraterritoriales Handeln staatlicher Organe im Rahmen der Mission einer internationalen Organisation: Ein weiterer, gewisse Besonderheiten aufweisender 'JYpus extraterritorialen Verhaltens stellt das Handeln und Unterlassen nationaler Truppenkontingente im Rahmen von friedenserhaltenden Missionen der UNO und anderer Organisationen dar 110• Besonders präsentiert sich die Situation insbesondere deshalb, weil es fraglich sein kann, ob diese nationalen Truppenkontingente weiterhin als Organe unter der Jurisdiktion der Sendestaaten stehen oder ob die Kontrolle über den Einsatz dieser nationalen Verbände der internationalen Organisation untersteht. Die Frage nach der Zuordnung ist nicht zuletzt deshalb von einiger Bedeutung, da sich die Begründung menschenrechtlicher Verpflichtungen der Nationalstaaten als Vertragsparteien von Menschenrechtsverträgen wesentlich einfacher präsentiert als eine solche internationaler Organisationen, die in der Regel nicht Vertragspartei internationaler Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte sind. Solange die Sendestaaten sich bezüglich des Einsatzes ihrer Truppenkontingente ein wesentliches Mitspracherecht sichern, was allein gestützt auf das konkrete Mandat eruiert werden kann, mu_ss folgerichtig davon ausgegangen werden, dass diese weiterhin zumindest partiell als Organe der Sendestaaten eingestuft werden können und deshalb diese völkerrechtlich zu verpflichten vermögen. Nicht die Frage einer extraterritorialen Geltung menschenrechtlicher Verpflichtungen betreffen jedoch m. E. entgegen vereinzelten Stimmen der Literatur 111 Sachverhalte, bei welchen das Verhalten staatlicher Organe sich zwar innerhalb des eigenen Staatsgebietes abspielt, die Folgen dieses Verhaltens, d. h. die Verletzung von Menschenrechten, sich aber ausserhalb dieses Territoriums zeitigen. Transnationale Sachverhalte wie beispielsweise Auslieferungen resp. Abschiebungen von Personen in einen Staat, in welchem diesen eine Verletzung ihrer Menschenrechte droht 112, sind demzufolge nicht unter diesem Titel zu untersuchen.

wirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion" zu verwirklichen. Daraus wurde eine allgemeine Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit im Bereich der Entwicklungspolitik abgeleitet (vgl. dazu z. B. Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der Aussenpolitik, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1986 II, 249 ff). In welcher Form, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine solche Kooperationspflicht besteht, ist heute noch weitgehend ungeklärt. Die laufenden Arbeiten der UNO an einer Deklaration zum Recht auf Entwicklung soßen unter anderem diese Fragen klären (siehe z. B. Report of the lntergovemmental Group of Experts on the Right to Development on its second session, UN Doc. E/CN. 4/1998/29). 110 Siehe dazu beispielsweise Mare Weller, Peace-Keeping and Peace-Enforcement in the Republic of Bosnia and Herzegovina, ZaöRV 1996, 70 mit weiteren Hinweisen. 111 Unter dem Titel der extraterritorialen Geltung werden solche Sachverhalte aber z. B. von van Dijklvan Hoof3 f, von Lawson 11 Of und von Juan Antonio Carillo-Salcedo (Art. 1, in Pettiti/Decauc/lmbert [eds.], La convention europ«nne des droits de l'homme, 139f) behandelt. 112 Siehe zu diesen die Frage des Bestehens staatlicher Schutzpflichten betreffenden Problemen hinten Kap. 3, IV.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

cc) Menschenrechte als territoriales Regime? Abschliessend gilt es nach dem Umfang resp. der Art der menschenrechtliehen Verpflichtungen bei extraterritorialem Handeln eines staatlichen Organs zu fragen. Bis jetzt wurde wie selbstverständlich vom Grundsatz ausgegangen, dass das extraterritoriale Verhalten eines Staates ausschliesslich an seinen eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gemessen werden muss. Ware es aber nicht angemessener, solches Verhalten auch an die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates, in welchem er seine Handlungen vornimmt, oder gar kumulativ an diejenigen beider Völkerrechtssubjekte zu binden? Diese Schlussfolgerung erscheint insbesondere gerechtfertigt, wenn das Handeln ausserhalb des eigenen Staatsgebietes unabhängig vom dadurch bewirkten Erfolg als völkerrechtlich illegal eingestuft werden muss, beispielsweise weil es ohne Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes die territoriale Integrität eines anderen Staates verletzt. Würde beispielsweise nicht das Interesse der Bevölkerung eines besetzten Gebietes in einem teilweise besetzten Staat, welcher sich menschenrechtlich umfassend verpflichtet hat, es erheischen, dass der Besetzterstaat, welcher im Extremfall nur an gewohnheitsrechtliche Garantien gebunden ist, trotz fehlendem diesbezüglichen vertraglichen Bindungswillen das im nicht besetzten Gebiet geltende Schutzniveau aufrechtzuerhalten hätte? Wäre es in einer solchen Konstellation nicht geradezu jedem Gerechtigkeitsgefühl widersprechend, dass der Besetzerstaal "dank" fehlender Bereitschaft zur Ratifikation von Menschenrechtsverträgen auf rechtskonforme Art in wesentlich repressiverer Weise gegen die Zivilbevölkerung vorgehen könnte, als dies in diesem Beispiel in der umgekehrten Konstellation der Fall wäre? Diese Frage stellt sich mit besonderer Schärfe bei regionalen Verträgen 113• So wäre beispielsweise die Bevölkerung Nordiraks im Falle einer Besetzung irakiseben Territoriums durch die llirkei durch die EMRK geschützt und könnte Verletzungen dieses Vertrages vor den EGMR rügen, weshalb de jure das menschenrechtliche Schutzniveau in diesem Gebiet zunehmen dürfte. Gegenteilige Konsequenzen hätte der umgekehrte Fall einer Besetzung türkischen Territoriums durch den Irak: In einer solchen Konstellation würde de jure das menschenrechtliche Schutzniveau sinken, da der Irak weder eine regionale Konvention noch das Zusatzprotokoll zum Pakt II ratifiziert hat. Folglich könnte sich die von der Besetzung betroffene Zivilbevölkerung nicht mehr mittels Individualbeschwerde an ein internationales Organ wenden. Dieselbe willkürliche Konsequenz ergäbe sich - unter der Voraussetzung einer weiterbestehenden staatlichen Kontrolle über die zur Verfügung gestellten Truppenkontingente - auch im Falle internationaler Friedensmissionen, wo von unterschiedlichsten menschenrechtliehen Schutzniveaus je nach Umfang der Vertragspflichten der einzelnen Sendestaaten von Truppenkontingenten auszugehen wäre. 113 D.h. z. B. im F.alle der EMRK der Europarat, im Falle der AMRK die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und im Falle der AfMRK die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU).

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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Diese Problematik liesse sich vermeiden, wenn unabhängig vom Völkerrechtssubjekt, welches die aktuelle Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet ausübt, die Bevölkerung eines bestimmten Territoriums von einem feststehenden Set von Nonnen profitieren könnte, dessen Veränderung resp. Ausserkraftsetzung ausserhalb der rechtlichen Möglichkeit desjenigen Völkerrechtssubjektes liegt, welches die aktuelle Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet ausübt. Ein solches System wäre deshalb als territoriales Regime im Sinne der Wiener Konvention über die Staatennachfolge hinsichtlich Verträgen zu qualifizieren 114• Eine solche Regelung scheint dem traditionellen völkerrechtlichen Prinzip, wonach ohne Konsens des betreffenden Staates für diesen keine vertragliche völkerrechtliche Verpflichtung erwachsen kann, diametral zu widersprechen. Entwicklungen der Praxis in zwei nahe verwandten Rechtsgebieten weisen aber zumindest auf Ansätze zur Akzeptanz eines solchen territorialen Regimes hinsichtlich extraterritorialer Aktivitäten eines Staates hin: • Recht der Staatennachfolge: Mit ein Grund für den Misserfolg der Wiener Konvention über die Staatennachfolge hinsichtlich Verträgen war das in Art. 34 dieses Abkommens verankerte Kontinuitätsprinzip 115 • Gernäss diesem Grundsatz soll bei der Entstehung neuer Staaten durch Abspaltung von Gebieten bisheriger Staaten dieses neue Staatsgebilde durch die vertraglichen Bindungen seiner Vorgänger weiterhin gebunden bleiben 116• Die Ablehnung des Kontinuitätsprinzips in solchen Konstellationen und damit die Befürwortung des sogenannten tabula 114 Vienna Convention on the Succession of States in Respect of Treaties vom 23. August 1978. Dieser umstrittene und bi~ heute nur wenig ratifizierte und sich deshalb nicht in Kraft befindliche Vertrag bestimmt in seinem Art. 12, der die Marginalie "other territorial regimes" trägt: "1. A succession of States does notassuch affect: (a) obligations relating to the use of any territory, or to restrictions upon its use, established by a treaty for the benefit of any territory of a foreign State and considered as attaching to the territories in question; (b) rights established by a treaty for the benefit of any territory and relating to the use, or to restrictions upon the use, of any territory of a foreign State and considered as attaching to the territories in question. 2. A succession of States does not as such affect: (a) Obligations relating to the use of any territory, or to restrictions upon its use, established by a treaty for the benefit of a group of States or of all States and considered as attaching to that territory; (b) rights established by a treaty for the benefit of a group of States or of all States and relating to the use of any territory, or to restrictions upon its use, and considered as attaching tothat territory". Siehe dazu auch IGH, Case concerning the Gabcflwvo-Nagymoros Project, Hungary v. Slovakia, ICJ Reports 1997, para. 123, wo dieser Regel gar der Charakter von Gewohnheitsrecht zugesprochen wird. m Simma (Community Interest) 354. 116 Article 34 Wiener Konvention über das Recht der Staatennachfolge bezüglich Verträgen: (Succession of States in cases of separation of parts of a State) "1. When a part or parts of the territory of a State separate to form one or more States, whether or not the predecessor State continues to exist: (a) any treaty in force at the date of the succession of States in respect of the entire territory of the predecessor State continues in force in respect of each successor State so forrned; (b) any treaty in force at the date of the succession of States in respect only ofthat part of the territory of the predecessor State which has become a successor State continues in force in respect of that successor State alone".

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

rasa- oder Diskontinuitätsprinzips verliert jedoch im Bereich von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht in der Praxis zunehmend an Bedeutung 117• Bereits seit mehreren Jahrzehnten vertritt das IKRK mit einigem Erfolg die Meinung, dass neu entstandene Staaten durch die Verpflichtungen ihrer Vorgänger aus den Genfer Konventionen grundsätzlich weiter gebunden blieben 118 • Verschiedene Studien machen zudem deutlich, dass diese Haltung in erstaunlich homogener Weise auch die Staatenpraxis im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Bereich der menschenrechtliehen Abkommen dominierte 119• Auch Äusserungen von UNO-Organen wie dem Ausschuss für Menschenrechte 120 und der Kommission für Menschenrechte 121 weisen klar in diese Richtung. Demgernäss sind die Nachfolgestaaten ohne eigene Ratifikation durch die menschenrechtliehen Verpflichtungen ihrer Vorgänger gebunden. Noch einen Schritt weiter in Richtung einer expliziten Anerkennung eines territorialen menschenrechtliehen Regimes ging im Jahre 1995 der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses: Im Falle einer Zession eines Gebietes an einen anderen Staat befÜrwortete er den Übergang der durch den Zedenten eingegangen Verpflichtung für das zu übereignenden Gebietes auf den Zessionar. Er ging somit im konkreten Fall von einer Weitergeltung der von Grossbritannien für Hongkong eingegangenen Verpflichtungen aus dem Pakt II auch unter chinesischer Jurisdiktion aus 122• 11 7 118

Eckart Klein (Thoughts) 167 mit weiteren Hinweisen. Siehe dazu Bruno ZimmerrrUJnn, La succession d'Etat et les Conventions de Geneve, in

Swinarski (ed.), Studies and essays on international humanitarian law and Red Cross principles in honour of Jean Pictet, 113 ff, und Menno T. Kamminga, State Succession in Respect of Human Rights Treaties, EJlL 1996, 473 f, der auch auf eine entsprechende Praxis der ILO hinweist. 119 So Theodor Schweisfurth, Das Recht der Staatennachfolge, in Fastenrath/Schweisfurth/ Ebenroth, Das Recht der Staatensukzession, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Band 35, 142 ff, 208 f und 230: ,,Erkennbar ist eine deutliche Tendenz in Richtung auf die Herausbildung einer VOR-Norm, wonach Nachfolgestaaten verpflichtet sind, die Fortgeltung universeller, menschenrechtlicher Verträge und der Abkommen über das humanitäre Recht in bewaffneten Konflikten zu bestätigen". So auch Simma (Community Interest) 354ff; Eckart Klein (Thoughts) 167f und Kamminga (Anrn. 118) 469ff: ,,State practice during the 1990s strongly supports the view that obligations arising from a human rights treaty are not aflected by a succession of States. This applies to all obligation undertaken by the predecessor State, including any reservations, declarations and derogations made by it" (a. a. 0. 482). 12o Eine Zusammenstellung entsprechender Äusserungen dieses Organs findet sich in Eckart Klein (Thoughts) 168, FN 12. 121 V gl. Report of the Secretary-General on Succession of States in respect of international human rights treaties, UN Doc.E/CN.4/1995/80. 122 Siehe Statement by the chairperson on behalf of the Human Rights Committee relating to the consideration of the part of the fourth periodic report of the United Kingdom relating to Hong Kong (abgedruckt im Anhang zu UN Doc. CCPR/Cn9/Add.57): "The Human Rights Committee- dealing with cases of dismemberment of States parties to the International Covenant on Civil and Political Rights- has taken the view that human rights treaties devolve with territory, and that States continue to be bound by the obligation under the Covenant entered by the predecessor State. Once the people living in a territory find themselves under the protection of the [CCPR], such protection cannot be denied to them by virtue of the mere dismemberment

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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• Kündbarkeit menschenrechtlicher Verträge: Das Kontinuitätsprinzip wurde erst kürzlich vom Ausschuss für Menschenrechte auch auf die Frage der Zulässigkeil einer Kündigung des Paktes II angewandt. Dabei führte dieses Organ in sehr allgemeiner Weise aus: "The rights enshrined in the Covenant belong to the people living in the territory of the State party. The Human Rights Committee has consistently taken the view, as evidenced by its long standing practice, that once the people are accorded the protection of the rights under the Covenant, such protection devolves with territory and continues to belong to them, notwithstanding change in Govemment of the State party, including dismemberment in more than one State or State succession or any subsequent action of the State party designed to divest them of the rights guaranteed by the Covenant" 123•

Zu seinem Nennwert genommen besagt dieses Statement, dass ein Staat, führt er selbständige extraterritoriale Aktivitäten durch, nicht nur an die von ihm selbst vertraglich eingegangenen Verpflichtungen gebunden ist. Vielmehr hat er zusätzlich auch diejenigen zu beachten, die von einem Staat, unter dessen Jurisdiktion sich dieses Gebiet irgendwann in der Vergangenheit einmal befand, zugunsten der Bevölkerung dieses Gebiets geschlossen wurden. Gernäss diesem Modell können folglich vertraglich geltende menschenrechtliche Verpflichtungen nicht nur durch Konsens, d. h. die Ratifizierung eines Vertrages, entstehen, sondern ebenso durch blosse Realakte, wie die militärische Besetzung eines Gebietes oder aber die Teilnahme an friedenserhaltenden Operationen der UNO oder anderer Organisationen. Als weiterer Effekt einer konsequenten Anwendung dieser Theorie würde eine solche Bindungswirkung nicht nur Staaten, sondern alle Völkerrechtssubjekte, d. h. auch gewisse Widerstandsorganisationen treffen 124• Geht man von einer integralen Weitergeltung aller vertraglichen Verpflichtungen aus, wären als zusätzliche Folge Durchsetzungsverfahren vor den Überwachungsorganen des entsprechenden Vertrages gegen Nichtvertragsparteien zuzulassen- in Individualbeschwerdeverfahren wäre folglich Nichtvertragsparteien eines Vertrages oder gar nichtstaatlichen Völkerrechtssubjekten die Passivlegitimation zuzuerkennen. All diese Akteure wären auch zur Berichterstattung an diese Vertragsorgane verpflichtet 125• Diese knappen Hinweise mögen genügen, um die einschneidenden, ja revolutionären Konsequenzen aufzuzeigen, welche die Bejahung eines Verpflichtungsmodells implizieren würde, das einen gewissen Normbestand von materiellen Garantien unveränderlich an ein Gebiet resp. seine Bevölkerung knüpft und den Kreis der Verpflichteten damit auch von faktischen Veränderungen abhängig macht. ofthat territory or its coming within the jurisdiction of another State or of more than one State." Diese Weitergeltung wurde von China und Grossbritannien aber auch vertraglich vereinbart; siehe dazu ausführlich Eclalrt Klein (Thoughts) 168ff. 123 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 26/61 vom 27. Oktober 1997, para. 4. 124 Siehe dazu unten Abschn. V. 3. 125 So Eclalrt Klein (Thoughts) 171 ffhinsichtlich einer Berichterstattungspflicht Chinas für Hong Kong. Eine zumindest partielle Stellung Chinas als Vertragspartei gestUtzt einzig auf diese Gebietsübergabe wird von diesem Autor jedoch abgelehnt.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Deshalb kann gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass die zitierte Aussage des Ausschusses für Menschenrechte über die Tatbestände der Staatennachfolge resp. der Kündigung von Verträgen hinaus geltendem Recht entspricht 126• Vielmehr erklärt sich diese Aussage in ihrer Absolutheil möglicherweise damit, dass dieses Dokument als unmittelbare Reaktion auf die Kündigung einer VertrllgSpartei des Pakts II verabschiedet wurde. Sie darf deshalb in ihrer Bedeutung wohl nicht überbewertet und nicht ohne weiteres in allgemeiner Form auch auf die Frage der Art der Verpflichtung eines Staates während extraterritorialen Aktivitäten übernommen werden. Trotzdem stellt dieses Modell einen dogmatisch durchaus überzeugenden Ansatz dar, wie de lege ferenda die nur schwer nachvollziehbaren Folgen der heute geltenden Rechtslage überwunden werden können: Mit anderen Worten liesse sich auf diese Weise vermeiden, dass die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes infolge eines meist illegalen Verhaltens eines Drittstaates und gerade in solchen Situationen Einbussen in ihrem Rechtsschutz hinzunehmen hätte, in welchen selbst zentrale Menschenrechte erfahrungsgemij.ss einem grossen Verletzungsrisiko ausgesetzt sind. b) Die territoriale Geltung des humanitären Völkerrechts aa) Beschränkung des territorialen Geltungsbereichs auf die Staatsgebiete der Parteien der bewaffneten Auseinandersetzung

Bereits aus dem Wortlaut des gemeinsamen Art. 2 der GK, wonach die Genfer Konventionen im Falle eines bewaffneten Konfliktes zwischen den Vertragsparteien dieser Verträge anwendbar sind, ergibt sich, dass das während internationalen Konflikten geltende humanitäre Völkerrecht seinen Anwendungsbereich auf das Staatsgebiet der konkret an einem Konflikt beteiligten Staaten beschränkt. Sind deshalb Organe einer kriegführenden Partei auf dem Gebiet einer Nichtkonfliktpartei tätig, kann ihr Verhalten infolge dieser Beschränkung des Anwendungsbereichs nicht an den Normen dieses Rechtsgebietes gemessen werden. In örtlicher Hinsicht ist der An· Wendungsbereich des Rechts der internationalen bewaffneten Konflikte in abstrakter Sichtweise auf das Gebiet der anderen Vertragsparteien und unter Beachtung der konkreten Konfliktsituation auf dasjenige der Parteien dieses Konflikts beschränkt. Die in internen Konflikten zu beachtenden Regeln des humanitären Völkerrechts können bereits definitionsgernäss keine extraterritoriale Anwendung finden 127• Ihr 126 Kritisch zum Modell einer Weitergeltung vertraglicher Verpflichtungen trotz Kündigung äussert sich Frouville 51 ff. Demgernäss wäre es zur Begrtlndung der Unwirlcsamkeit einer Kündigung des Pakts II nicht notwendig gewesen, auf die Rechtsfigur des territorialen Regimes resp. der Menschenrechte als wohlerworbene Rechte zurückzugreifen, sondern es hätte dazu genügt, die Ungültigkeit einer Kündigung eines solchen Vertrages ohne Konsens aller übrigen Vertragsparteien zu betonen. A.M. Eckart Klein ('Thoughts) 168f. 127 Siehe den gemeinsamen Art. 3 GK (,,Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht") und Art. 1 ZP II.

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

127

territorialer Geltungsbereich ist deshalb auf das Staatsgebiet der jeweiligen Vertragspartei beschränkt. Abzuklären bleibt aber die Geltung der Garantien des humanitären Völkerrechts ausseehalb des eigentlichen Kriegsgebietes. bb) Geltung des humanitären Völkerrechts in Gebieten ausserhalb des eigentlichen Kriegsgeschehens? Während internationalen bewaffneten Auseinandersetzungen wird regelmässig die Zivilbevölkerung der Konfliktparteien auch ausseehalb des eigentlichen Kriegsgebietes und ausseehalb besetzter Gebiete 128 einer erhöhten Gefährdung der Verletzung auch zentraler Menschenrechte ausgesetzt. Angesichts der Möglichkeit der Derogation von Menschenrechten hätte eine Anwendung des humanitären Völkerrechts und insbesondere seiner zwingend zu beachtenden Verfahrensgarantien auf dem gesamten Gebiet einer Konfliktpartei potentiell eine Erhöhung des menschenrechtlichen Schutzniveaus zur Folge. Dieser positive Effekt läge nicht unwesentlich in der Tatsache begründet, dass heute eine gewohnheitsrechtliche Entwicklung auszumachen ist, wonach auch Personen als geschützte Personen betrachtet werden können, welche zwar keine fremde Staatsangehörigkeit besitzen, aber infolge ihres Status als Minderheit von ihrem Heimatstaat diplomatisch nicht geschützt werden129. Folglich hätte ein Staat A s~ine Verpflichtungen aus dem Recht der internationalen Konflikte beispielsweise während einer Auseinandersetzung mit dem Staat B auch gegenüber einer Minderheit, welche die Staatsangehörigkeit des Staates A besitzt und auf dessen Territorium lebt, aber ethnisch dem Staatsvolk des Staates B zugehört und deshalb in dieser Auseinandersetzung den Staat B unterstützt, zu gewährleisten. Da die Instrumente des Genfer Rechts diese Frage nicht explizit beantworten, ist im Folgenden der territoriale Geltungsbereich der wichtigsten Zweige des humanitären Völkerrechts im Einzelnen zu prüfen, wobei als Ausgangspunkt das Grundsatzurteil des Jugoslawien Tribunals im Falle Tadic 130 zu berücksichtigen ist. Das Gericht hatte sich in diesem Entscheid mit dem territorialen Geltungsbereich dieses Rechtsgebietes zu befassen, da sich der Angeklagte auf den Standpunkt stellte, das humanitäre Völkerrecht regle nur Situationen, welche sich unmittelbar am Ort der aktuellen bewaffneten Auseinandersetzungen abspielen 131 • Das Gericht verwarf diesen Einwand grundsätzlich und zwar mit folgender Argumentation: "[C]ontrary to Appellant's contention, the temporaland geographical scope of both intemal and international anned contlicts extends beyond the exact time and place ofhostilities. (...) Zum Sonderregime zugunsten der Bevölkerung besetzter Gebiete siehe Art. 47 ff GK IV. Siehe oben Abschn. 1. b). 130 Appellationskammer des ICI'Y, The Prosecutor v. Duslw Tadic, Decision on the defence motion for interlocutory appeal on jurisdiction, Case No. IT-94-l-AR72, Decision of 2 October 1995. 131 lbid., para. 66. 121

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Although the Geneva Conventions are silent as to the geographical scope of international ,armed confiicts' the provisions suggest that at least some of the provisions of the Conventions afWIY to the entire territory ofthe parties to the Conflict, not just to the vicinity of actual hostilities. Certainly, some of the provisions are clearly bound up with the hostilities and the geographical scope of those provisions should be so limited" 132•

Somit kann davon ausgegangen werden, dass das humanitäre Völkerrecht keine Beschränkung des geographischen Anwendungsbereichs kennt, soweit die von einem Staat getroffenen Massnahmen in irgendeinem sachlichen Zusammenhang mit der bewaffneten Auseinandersetzung stehen. Im Folgenden ist deshalb zu untersuchen, in welchen Bereichen des umfangreichen Normenkomplexes des humanitären Völkerrechts keine territorialen Beschränkungen zulässig sind; d. h. welche Garantien wie die Menschenrechte in einer Situation bewaffneter Auseinandersetzungen einen Staat auf seinem gesamten Staatsterritorium und zusätzlich in jenen Gebieten eines anderen Staates, die sich unter seiner Kontrolle befinden, binden. • Im Recht der internationalen bewaffneten Auseinandersetzungen ergibt sich in räumlicher Hinsicht e contrario bereits aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 GK IV ein umfassender Anwendungsbereich der Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung133. Dasselbe Resultat muss auch für die Schutzgarantien der GKIII gelten, macht doch bereits der Grundgedanke dieser Konvention klar, dass ein Transport von Kriegsgefangenen weg vom eigentlichen Kriegsgeschehen nicht zu einer Nichtanwendbarkeit dieses Vertrages rationae loci führen kann. Eine dieses absurde Resultat verursachende Auslegung der GKIII wird denn auch im Tadic-Urteil explizit abgelehnt 134• Da ein umfassender räumlicher Anwendungsbereich auch für Individuen gegenüber dem eigenen Staat einen Rechtsschutzvorteil darstellen könnte, braucht dieser vor allem auch unter Berücksichtigung der auch eigene Staatsangehörige schützenden Basisbestimmungen des ZPI abgeklärt zu werdenm. Die Garantien 132 lbid., paras. 67 f; Hervorhebung durch den Autor. So auch die Trial Chamber des ICTY, The Prosecutor v. Zejnil Delailic, Zdravko Mukic, Hazim Delic, Esad Landzo (Celebici Case), Case No. IT-96-21-T, Decision of 16 November 1998, para.185: ,,In addition, whether or not the conflict is deemed tobe international or intemal, there does not have tobe actual combat activities in a particular location for the norms of international humanitarian law tobe applicable". m Art. 6 Abs. 2 GK IV: ,,Auf dem Gebiet der am Konflikt beteiligten Parteien hört die Anwendung des Abkommens mit der allgemeinen Einstellung der militärischen Operationen auf." Schliesslich gelten die Menschenrechte des für besetzte Gebiete geltenden Regimes dieses Vertrages (Art. 4 7 ff GK IV) definitionsgernäss auch ausserhalb des Kriegsgeschehens und die in Art. 27 ff GK IV normierten ,.Gemeinsame[n] Bestimmungen fUr die Gebiete der am Konflikt beteiligten Parteien und die besetzten Gebiete" sowie die im folgenden Abschnitt II verankerten Bestimmungen zugunsten der ,,Ausländer auf dem Gebiet einer der am Konflikt beteiligten Parteien" sind- wie diese Überschriften zeigen- für einen breiten territorialen Anwendungsbereich bestimmt. t:w ICTY, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm. 130), para. 68: ,.Geneva Convention IV protects civilians anywhere in the territory of the Parties". t3s Siehe oben Abschn. 1. b).

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Volkerrecht

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von Art. 75 ZP I schützen Personen, die "von einer in Art. 1 genannten Situation betroffen sind" und "sich in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei befinden". Das zweite Kriterium vermag die territoriale Geltung dieser Regel nicht zu schmälern, da diese Klausel jede Person einschliesst, die sich in einem der Kontrolle der betreffenden Partei unterliegenden Gebiet befindet 136• Problematischer ist die Interpretation der ersten Voraussetzung, der Betroffenheit. Eine historische Auslegung dieser Bestimmung zeigt, dass diese Garantien nicht der Bevölkerung des gesamten Staatsgebietes zugute kommen sollten, sondern dass eine spezielle Betroffenheit als erforderlich erachtet wurde 137• Diese Eigenschaft erfüllt aber von der Zivilbevölkerung nicht nur, wer im Kriegs- und Besatzungsgebiet selbst wohnhaft ist, sondern auch diejenigen eigenen Staatsangehörigen, gegen welche infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen aufgrund von Sicherheitsbestimmungen wegen ihrer politischen Ansicht oder aus ähnlichen Motiven vorgegangen wird 138 • Gegenüber Behörden des eigenen Staates nicht auf diese Bestimmung berufen können sich hingegen ausserhalb des eigentlichen Kriegsgebietes diejenigen Personen, die unabhängig von der bewaffneten Auseinandersetzung gegen zivile Gesetze verstossen haben 139• Soweit eine Person deshalb im Zusammenhang mit der bewaffneten Auseinandersetzung in Konflikt mit den eigenen Behörden gerät, ist der territoriale Geltungsbereich dieser Norm innerhalb des Staatsgebietes aller Konfliktparteien unbeschränkt. Das Kriterium der Betroffenheit schränkt hingegen den persönlichen Geltungsbereich ein, indem nur vom Schutz dieser Bestimmung profitiert, wer infolge eines Tatbestandes, der im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt steht, in die "Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei" gelangt. • Für das Recht der internen Konflikte ist ebenfalls von einem breiten territorialen Anwendungsbereich auszugehen 140: So gilt der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen für alle "Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen", ohne die Schutzverpflichtung in räumlicher Hinsicht einzuschränken. Die gleiche Schlussfolgerung wie für Art. 75 ZPI gilt schliesslich in internen KonflikBothe!Partsch/Solf 460. m Meron (lntemal Strife) 32; Bothe!Partsch/Solf 458 ff. Von einem umfassenden räumlichen Geltungsbereich dieses Instruments und damit auch von Art. 75 ZPI geht hingegen wohl der ICI'Y im Urteil The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anrn.130), para. 68, aus. Dies unter Berufung auf die Bestimmung von Art. 3 lit. b ZP I. IJB ZP-Kommentar Rz. 3011. 139Jbid. 140 ICfY, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction; Anrn. 130) para. 87: "[l)nternational humanitarian law continues to apply in the whole territory of the warring State or, in the case of intemal Conßicts, the whole territory under the control of a party, whether or not actual combat takes place there". Bestätigt wurde diese Auffassung auch im Urteil der Kammer I des ICI'R, The Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICfR-96-4-T, para. 636: "[T]he mere fact that Rwanda was engaged in an armed conßict meeting the threshold requirements of Common Article 3 and Additional Protocol II means that these instruments would apply over the whole territory hence encompassing massacres which occurred away from the ,war front' ". 136

9 KOnzli

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

ten gernäss Art. 2 für das ZP II, indem der Anwendungsbereich dieses Vertrages ebenfalls auf die vom Konflikt nicht betroffenen Gebiete des Staatsterritoriums des von einem Bürgerkrieg betroffenen Staates erstreckt wird 141 • Zusammenfassend gilt somit, dass sich das humanitäre Völkerrecht trotz traditioneller Schwerpunktsetzung auf die extraterritoriale Ebene in seinem räumlichen Anwendungsbereich nur unwesentlich vom System der Menschenrechte unterscheidet. 3. Der situationsbedingte Geltungsbereich

a) A1enschenrechte Die Garantien, welche in Menschenrechtsverträgen verankert sind, gelten in situationsbedingter Hinsicht umfassend; d. h. gleichermassen in Zeiten politischer Stabilität, wie auch während kriegerischen Auseinandersetzungen und inneren Spannungen und Thmulten. Insbesondere darf nicht geschlossen werden, die von gewissen Menschenrechtsverträgen statuierte Erlaubnis einer Derogation von ihren materiellen Garantien beschränke deren situationsbedingten Geltungsbereich: Denn erstens darf keinesfalls von einem Automatismus zwischen dem Bestehen einer staatlichen Notlage und der Legitimität einer umfassenden Derogation von Menschenrechtsgarantien ausgegangen werden. Vielmehr ist ein solches Vorgehen nur insoweit und solange erlaubt, als dies für die Bekämpfung der herrschenden Notstandssituation als absolut notwendig erscheint und falls ein Staat seine Absicht eines Abweichens von genau umschriebenen Garantien auf nationaler und internationaler Ebene kundtut 142• Zweitens gilt es zu bedenken, dass im Falle einer Derogation die entsprechenden Verpflichtungen eines Staates nicht wie in einer Situation, in welcher ein konkreter Sachverhalt nicht vom Geltungsbereich einer Menschenrechtsgarantie umfasst wird, als nicht bestehend betrachtetet werden kann. Vielmehr existieren gute Gründe für die Ansicht, dass eine vertragskonforme Derogationsmassnahme nur das Entstehen einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit trotz Bestehens einer Völkerrechtsverletzung ausschliesst 143•

141 142

143

ZP-Kommentar Rz. 4490.

V gl. unten Kap. 5, II. 1. Siehe dazu Kap. 5, III. 5. d).

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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b) Humanitäres Völkerrecht und internationale bewaffnete Konflikte aa) Vertragsrechtliche Konzeption (1) Zwischenstaatliche bewaffnete Auseinandersetzungen Die überwiegende Anzahl der Normen des humanitären Völkerrechts, nämlich die vier Genfer Konventionen und das ZPI, gelangen- soweit sie nicht in allen Situationen von bewaffneten Auseinandersetzungen zu beachtendes Völkergewohnheitsrecht wiedergeben 144 - ausschliesslich in internationalen bewaffneten Konflikten zur Anwendung. Gernäss dem gemeinsamen Art. 2 der GK umfasst dieser Begriff alle Bille eines erklärten Krieges oder jedes anderen bewaffneten Konflikts, "der zwischen zwei oder mehreren der Hohen Vertragsparteien entsteht, und zwar auch dann, wenn der Kriegszustand von einer dieser Parteien nicht anerkannt wird". Dieser Situation gleichgesetzt sind Fälle "vollständiger oder teilweiser Besetzung des Gebietes einer Hohen Vertragspartei, selbst wenn diese Besetzung auf keinen bewaffneten Widerstand stösst" 14s. Leicht modifiziert wurde diese Regel bereits durch die frühe Doktrin dadurch, dass nicht der Status als Vertragspartei, sondern derjenige als Völkerrechtssubjekt für die Einstufung eines Konfliktes als international als massgebend eingestuft wurde 146• (2) Befreiungskriege Für diejenigen Staaten, die Parteien des ZP I sind, ergibt sich eine weitere Ausdehnung des Begriffs aus Art. 1 Abs. 4 ZP I: Demnach gelten als internationale Konflikte, in welchen das ZP I und zudem die Bestimmungen der GK I-IV zur Anwendung gelangen, auch solche, in welchen "Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung kämpfen" 147• Wie bereits aus diesem Wortlaut ersichtlich, ist für Siehe zu dieser Frage unten Abschn. 3. c) bb). Dies bedeutet, dass diese völkerrechtlichen Instrumente bei Bestehen einer solchen Situation automatisch, d. h. ohne dass dafür eine irgendwie geartete Erklärung einer am Konßikt beteiligten Partei erforderlich wäre, zur Anwendung gelangen. 146 Siehe z. B. Erik Castren, Civil War, Helsinki 1966, 31: "The main difference between civil war and international war is that in international war the parties to the hostilities are subjects of intemationallaw, possessing complete legal capacity". 147 Vgl. zu dieser Spezialform einer internationalen bewaffneten Auseinandersetzung: ZPKommentar Rz.66ff; Gasser (Einfllhrung) 27; Bothe/Partsch/Solf45ff; Green 124ff; Greenwood 37; Hess 130ff; Oeter469ff; Rajower SOff; David (Principes) 148ff; Zischg 38ff; Raymond Ranjeva, Peoples and National Liberation Movements, in Bedjaoui (ed.), International Law: Achievernents and Prospects, Dordrecht/Boston/London 1991, 107ff; Wilson 149ff; Antonio Cassese, Wars of national Iiberation and hurnanitarian law, in Swinarski (ed.), Studies and essays on international hurnanitarian law and Red Cross principles in honour of Jean Pictet, Gen~ve 1984, 313 ff, und Henn-Jüri Uibopuu, Wars of National Liberation, EPIL, Vol. 4, 343 ff. 144

I4S

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

eine Anwendung dieser Bestimmung entscheidend, dass auf einer Seite der Auseinandersetzung ein Vertragsstaat des ZP I und auf der Gegenseite eine Organisation steht, welche Vertreterio eines Volkes ist, das wiederum gernäss allgemeinem Völkerrecht Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist 148• Damit ist aber die Frage der Anwendbarkeit des gesamten Normbestandes des humanitären Völkerrechts in diesen sogenannten Befreiungskriegen untrennbar mit der heftig umstrittenen Frage nach dem persönlichen und sachlichen Geltungsbereich des Selbstbestimmungsrechts verbunden. Ohne an dieser Stelle auf die Vielzahl von Definitionsversuchen einzugehen, von welchen keiner universelle Akzeptanz gefunden hat, lässt sich immerhin ansatzweise aus der einzigen positivrechtlichen Verankerung dieses Rechts in Art. I der UNO-Pakte den Kreis möglicher Rechtsträger dieses Rechts in zweierlei Hinsicht eingrenzen: Positiv folgt aus dieser Norm, dass diese Garantie für "alle Völker" gilt und damit auch ausserhalb des kolonialen Kontextes Anwendung finden muss. Negativ hingegen kann der Ausdruck "Volk" mit Hilfe des Art. 27 Pakt II dahingehend präzisiert werden, dass nicht jede Minderheit Trägerio des Selbstbestimmungsrechtes sein kann 149• In Anbetracht der Grauzone zwischen diesen Grenzlinien und der Tatsache, dass eine grosszügige Zuerkennung dieses Rechts an eine Vielzahl von Gruppen, die sich von einem Mehrheits"volk" unterscheiden, nie der politischen Realität entsprochen hat, rechtfertigt sich m. E. eine eher restriktive Definition wie sie z. B. Cassese 1so vorschlägt. Demgernäss würden von dieser Privilegierung des humanitären Völkerrechts m folgende Rechtsträger profitieren: • die gesamte Bevölkerung unabhängiger und souveräner Staaten; • die gesamte Bevölkerung von Gebieten unter Kolonialherrschaft und vergleichbaren Territorien, die ihre Unabhängigkeit noch nicht erreicht haben, und • Bevölkerungsgruppen unter fremder Besatzung und Vorherrschaft 152• 148 Bothe/Partsch/Solf50ff. Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker siehe aus der umfangreichen Literatur z. B. Antonio Cassese, Self Determination of Peoples- A Legal Appraisal, Cambridge 1995; Nowak (Commentary) 5ff und die Beiträge in Christian Tomuschat (ed.), Modem Law of Self Determination, Dordrecht/Boston/London 1993. 149 Nowak (Commentary) 20. 150 Cassese (Anrn. 148) 59. Gernäss Green 124f kann sich gar ausschliesslich auf Art. 1 Abs. 4 ZP I berufen, wer von einer universellen oder regionalen Organisation als nationale Befreiungsbewegung anerkannt wird. ISI Damit die Rechtsstellung der Träger dieses Kollektivrechts im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen tatsächlich derjenigen von Staaten gleichgestellt wird, ist auf formeller Ebene zusätzlich die Abgabe einer einseitigen Erklärung erforderlich, worin sich "das Organ, das ein Volk vertritt, welches in einen gegen eine Hohe Vertragspartei gerichteten bewaffneten Konflikt der in Artikel 1 Absatz 4 erwähnten Art verwickelt ist", verpflichtet, das ZP I anzuwenden (Art. 96 Ziff. 3 ZP I). Falls dieser Deklaration konstitutiver Charakter zugemessen wird, stellt sich in einer solchen Situation die Frage, welche Regeln vor deren Abgabe Anwendung finden. Das ZPII kommt dabei klarerweise nicht in Betracht, da gernäss Art.1 ZPII dieser Vertrag nur in Konflikten Anwendung findet, die von Art. 1 ZPI nicht erfasst werden. Siehe zu diesem Problem BothelPartsch/Solf 556.

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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Damit jedoch der Normbestand des Genfer Rechts in der Auseinandersetzung zwischen einem Staat und einer Befreiungsbewegung, die Vertreterio eines Volkes im oben erwähnten Sinn ist, Anwendung findet, ist es - da es sich um humanitäres Völkerrecht handelt - notwendig, dass die Auseinandersetzungen auf militärische Art und mit einer minimalen Intensität geführt werden. Dies gilt, obwohl ein solches Erfordernis nicht explizit aus dem Wortlaut von Art. I Ziff. 4 hervorgeht 153• Da eine Befreiungsorganisation in einem solchen Konflikt das gesamte Genfer Recht anzuwenden hat, was insbesondere im Bereich der GK III doch einige Ansprüche in organisatorischer und resourcenmässiger Hinsicht erfordert, rechtfertigt sich hinsichtlich der Festlegung des situationsbedingten Geltungsbereichs eine Anlehnung an die entsprechende Regelung des ZP 11 154• Folglich muss die Befreiungsorganisation gewissen organisatorischen Anforderungen genügenm, über ein bestimmtes Territorium unter ihrer Jurisdiktion verfügen und auf der gegnerischen Seite müssen militärische Verbände und nicht blosse Polizeikräfte engagiert sein 156• (3) Gemischte Konflikte Neben diesen vertraglich kodifizierten Definitionen internationaler bewaffneter Auseinandersetzungen stuft die Doktrin weitere Konfliktarten, vor allem bei Interventionen von Drittstaaten oder der UNO in interne Konflikte, als sogenannte gemischte Konflikte ein, was diese zumindest sektoriell als Auseinandersetzungen internationalen Charakters erscheinen lässt157: Gernäss der sogenannten Komponenm Auch diese Definition lässt die Frage unbeantwortet, wann eine Besatzung resp. Vorherrschaft als ,,fremd" zu qualifizieren ist und durch welche Kriterien sich der Begriff der ,.Vorherrschaft" auszeichnet. 153 Im Gegensatz zum gemeinsamen Art. 2 GK, der auch Fälle blosser Besetzung fremden Staatsgebietes unter den Begriff der internationalen bewaffneten Auseinandersetzung subsumiert, kann die blosse, auch unter Zwang erfolgte Verwaltung eines Gebietes, welches von einem zur Selbstbestimmung berechtigten Volk bewohnt wird, nicht als bewaffnete Auseinandersetzung betrachtet werden. Vielmehr ist der Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten erforderlich; so auch Bothe/Partsch!Solf 46 und Oeter 415. 154 Art. 1 ZPII; siehe dazu im Einzelnen unten Abschn. 3.c)aa). 155 Dieses Erfordernis ergibt sich bereits aus der Regelung von Art. 96 Ziff. 3, welche von einem ,.Organ, das ein Volk vertritt", spricht. 156 Bothe!Partsch!Solf 46; ZP-Kommentar 54f; Hess 132f; Oeter 415; a. M. Wilson 165f. Zischg 40, möchte unter grundsätzlicher Beibehaltung dieser Kriterien trotzdem Befreiungsbewegungen gegenüber anderen Aufständischen privilegieren. Green 128 vertritt demgegenüber die Meinung, die Kontrolle über ein bestimmtes Territorium durch die Befreiungsbewegung sei, wie das Beispiel von ANC und SWAPO illustriere, keine Bedingung einer integralen Anwendung des humanitären Völkerrechts gestützt auf Art. 1 Abs. 4 ZP I. 157 Siehe z. B. H ess 143 ff mit einer Zusammenstellung der Praxis aufS. 193 ff. David (Principes) 119 ff unterscheidet zwischen insgesamt sechs Fällen, in welchen die Regeln des internationalen Konßikts zur Anwendung gelangen (a.a.O. 119f): ,,le conflit arm~ est inter~tatique (I.); le conflit arme est interne mais il a fait l'objet d'une reconnaissance de belligerance (2.); le conflit arme est interne, mais il s'y produit une ou plusieurs interventions etrang~res (3.); le

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

tentheorie 158 werden dabei im Falle einer ausländischen Intervention in einem Bürgerkrieg die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Subjekten des Volkerrechts durch das Recht der internationalen Konflikte reguliert, während die Auseinandersetzungen mit oder zwischen nichtstaatlichen Gruppierungen durch das Rechtsregime der internen Konflikte 159 erfasst werden. Sind somit beispielsweise Truppen eines Drittstaates auf Seiten einer aufständischen Bewegung in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit regulären Truppen des Territorialstaates verwickelt, geniessen im Falle einer Gefangennahme durch die gegnerische Partei die Kombattanten des Drittstaates einen weit besseren Rechtsschutz als Angehörige der aufständischen Bewegung 160• Multipliziert werden diese Abgrenzungsschwierigkeiten, wenn, wie im Falle der Auseinandersetzung in Ex-Jugoslawien, unterschiedliche Sezessionskonflikte ineinander verschmelzen und verschiedenste Parteien staatlicher und nichtstaatlicher Natur, die sich alle als Organe eines staatlichen Gebildes verstehen, an den kriegerischen Aktionen beteiligt sind. Aufgrund dieser unbefriedigenden Rechtslage in Situationen, in welchen eine möglichst klare Normierung von grosser Bedeutung wäre, sprechen sich einige Stimmen der Doktrin für eine integrale Anwendung des Rechts der internationalen bewaffneten Auseinandersetzungen während solchen gemischten Konflikten aus 161 • Anlässlich der Kodifikationsarbeiten für die Zusatzprotokolle von 1977 vertrat auch das IKRK diese Position. Es scheiterte mit diesem Vorschlag jedoch am Widerstand der Staaten 162• Abgelehnt wurde die Theorie einer integralen Anwendung conflit arm6 est interne; mais I'ONU y intervient (4.); Je conßit arm6 est une guerre de lib6ration nationale (5.); Je conflit arm6 est une guerre de s6cession (6.)". IS8 Siehe dazu ausfUhrlieh Hess 159ff. 1S9 Siehe dazu unten Abschn. 3. c) aa). 160 Erstere gelten als Kriegsgefangene gernäss der GK III, während Letztere von diesem Rechtsregime nicht profitieren können. Siehe dazu oben Anm. 64. 161 So insbesondere Theodor Meron, The Normative Impact of the Hague Tribunal, War Crimes Comes of Age, Essays, Oxford 1998, 213 f, wo er bemerkt: ,,In the Nicaragua case, the International Court of Justice contrasted the conßict between the Contras and the Sandinista Govemment with that between the United States and Nicaragua. The first, as intemal, was governed by common Article 3 only; the second, as international, feil underthe rules on international conflicts. I am not suggesting any parallels between the parties to the conflict in Nicaraguaandin the former Yugoslavia and would simply submit that any attempt to apply the Nicaragua Court's decision to the conßict in Yugoslavia would result in Byzantine complexity, making prosecutions difficult and often impossible. The black Ietter of international humanitarian law still adheres, at least in theory, to a categorical (though often artificial) distinction between internaland international armed conßicts. (...) The conflicts in Yugoslavia, and especially Bosnia-Herzegovina, are prime examples. Yet despite their concurrent or successive character as internal, mixed or international, there arevalid reasons to consider the entire conflict as international (...)". So auch ders., Classification of Armed Conflict in the Former Yugoslavia: Nicaragua's Fallout, AJIL 1998, 241; George Aldrich, Jurisdiction of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, AJIL 1996, 66 f, und James 0' Brien, The International Tribunal for Violations of International Humanitarian Law in the Former Yugoslavia, AJIL 1993, 639. 16 2 Siehe dazu Hess 153.

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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des Rechts internationaler Konflikte auch durch die Appeals Chamber des ICfY163:

"77. On the basis of the foregoing, we conclude that the conßicts in the former Yugoslavia have both intemal and international aspects, that the members of the Security Council clearly had both aspects of the conßicts in mind when they adopted the Statute of the International Tribunal, and that they intended to ernpower the International Tribunal to adjudicate violations of humanitarian law that occurred in either context. To the extent possible under existing international law, the Statute should therefore be construed to give effect to that purpose".

lnfolge des klaren Wortlautes der vertraglichen Grundlagen und des Fehlens einer entsprechenden Rechtsprechung muss deshalb zumindest gegenwärtig davon ausgegangen werden, dass die Theorie einer integralen Anwendung des Rechtsregimes der internationalen bewaffneten Konflikte während gemischten AuseinandersetZungen nicht geltendes Recht darstellt. Somit gilt es zu untersuchen, ob die mit dieser Schlussfolgerung offenkundig verbundenen Nachteile nicht auch unter Beachtung der traditionellen Klassifizierung bewaffneter Auseinandersetzungen zumindest gemildert werden könnten. Und in der Tat weisen verschiedene völkerrechtliche Entwicklungen darauf hin, dass Konstellationen von bewaffneten Konflikten, welche nach der klassischen Konzeption des humanitären Völkerrechts als interne Konflikte zu gelten hatten, heute als internationale Verhältnisse eingestuft werden können oder doch zumindest teilweise durch das Recht dieser Konfliktkategorie erfasst werden. Zu dieser indirekten Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Rechtsregimes der internationalen Auseinandersetzungen und damit auch zu einer Entschärfung der hier diskutierten Abgrenzungsproblematik trugen folgende Faktoren bei: o

o

Die Anerkennung neuer Subjekte des Völkerrechts: Wird die Völkerrechtssubjektivität von stabilen nichtstaaatlichen Gebilden anerkannt, die gemeinhin unter der Bezeichnung der de facto Regimes zusammengefasst werden, sind solche Gruppen wenigstens insoweit den Regeln des in internationalen Konflikten geltenden humanitären Völkerrechts unterworfen, wie diese geltendem Gewohnheitsrecht entsprechen 164• Dieses Kriterium dürften weite Teile der Genfer Abkommen III und IV erfüllen 165 • Zusätzlich können sich de facto Regimes auch bilateral zur Beachtung dieser Regeln verpflichten. Die Möglichkeit einer Anerkennung nichtstaatlicher Gruppierungen als de facto Organe eines Staates: Handeln nichtstaatliche Gruppen während internen bewaffneten Auseinandersetzungen nach direkten Anweisungen eines Drittstaates,

163 ICfY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal on jurisdiction, Anm.l30). So auch Christopher Greenwood,lntemational Humanitarian Law and the Tadic Case, EJll. 1996, 269ff. 164 Siehe zur völkerrechtlichen Verpflichtung dieser Gebilde hinten Abschn. V. 3.-5. 165 Siehe dazu Abschn.3.c)bb)(3).

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

können sie grundsätzlich als dessende facto Organe betrachtet werden 166• Folglich gilt ihr Handeln als das Verhalten eines Drittstaates, was dem Verhältnis der Aufständischen zum Staat, auf dessen Territorium sich die Auseinandersetzung abspielt, einen internationalen Charakter verleiht. o

o

Die gewohnheitsrechtlich begründete Ausdehnung des persönlichen Geltungsbereichs des Rechts der internationalen Konflikte auch auf eigene Staatsangehörige, die einer Minderheit angehören z.B. während Sezessionskriegen 167• Eine gewohnheitsrechtlich begründete Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Rechts der internationalen Konflikte: Wie unten zu illustrieren sein wird 168, gelten heute viele Bestimmungen der Genfer Konventionen und des Zusatzprotokolls nicht nur bereitskraftungeschriebenen Rechts, sondern diese ungeschriebene Verankerung verleiht ihnen auch einen breiteren situationsbedingten Geltungsbereich. Deshalb sind gewisse Normen des Regimes der internationalen Konflikte heute auch während innerstaatlichen Konflikten zu beachten.

(4) Die Geltung in zeitlicher Hinsicht In zeitlicher Hinsicht schliesslich sind die Regeln des während internationalen Konflikten geltenden Sonderregimes ab dem Moment anwendbar 169, in welchem eine solche Auseinandersetzung ausgebrochen ist 170• Für den Zeitraum nach Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung sieht hingegen bereits Art. 5 GK 111 eine Nachwirkung vor, indem er bestimmt, dieser Vertrag bleibe "bis zur endgültigen Befreiung und Heimschaffung" der Kriegsgefangenen in Geltung. Das Prinzip, wonach ein zeitlich unbeschränkter Schutz zu gewährleisten ist, solange sich eine geschützte Personenkategorie infolge des bewaffneten Konflikts in den Händen der Gegenpartei befindet, wurde schliesslich im ZP I - mit Geltung auch für alle vier Genfer Abkommen- in allgemeiner Form verankert 171 • 166 ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Duslw Tadic (judgement, Anm. 61) paras. 88 ff. Siehe dazu und zum Begriff des de facto Organs ausführlich hinten Abschn. V. 2.b)bb). 167 Vgl. ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Duslw Tadic (judgement, Anm.61) und oben Anm. 62. 168 Siehe dazu Abschn. 3.c)bb)(3). 169 Art.2Abs.l GKißundiVund Art.l Abs.3 i. V.m. Art.3lit.aZPI (Verweis aufdieGK). So auch das ICTY im Urteil The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm.130), paras. 66ff. Diese Regel gilt jedoch nicht in Befreiungskriegen, wo zusätzlich, wie erwähnt, die Abgabe einer Erklärung durch die Befreiungsbewegung erforderlich ist. 170 Rajower 169. 171 Art. 3 lit. b ZPI: "[D]ie Anwendung der Abkommen und dieses Protokolls [endet](...) mit der allgemeinen Beendigung der Kriegshandlungen und im Falle besetzter Gebiete mit der Beendigung der Besetzung; in beiden Fällen gilt dies jedoch nicht für Personen, deren endgültige Freilassung, deren Heimschaffung oder Niederlassung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Diese Personen geniessen bis zu ihrer endgültigen Freilassung, ihrer Heimschaffung

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem V61kerrecht

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bb) Re/ativierung durch die ausservertragliche Rechtsentwicklung Infolge des universellen Ratifikationsstandes der Genfer Konventionen mag der Versuch, gewohnheitsrechtlich geltende Bereiche des Rechts internationaler Konflikte zu eruieren, auf den ersten Blick als müssig erscheinen. Drei unterschiedliche Gründe rechtfertigen dieses Vorgehen trotzdem: • Erstens werden nichtstaatliche Völkerrechtssubjekte als Nichtvertragsparteien mit Ausnahme von Befreiungsbewegungen nach Abgabe einer Deklaration im Sinn von Art. 96 ZP I nur durch die Regeln dieser Abkommen gebunden, wenn diese auch eine zusätzliche gewohnheitsrechtliche Basis aufweisen. • Zweitens gilt der Befund einer universellen Ratifikation für das ZP I nicht, weshalb die Frage einer gewohnheitsrechtliehen Geltung der grundlegenden, jede Person schützenden Garantien von Art. 75 ZP 1'72 von praktischer Relevanz bleibt. • Drittens gilt es die Frage zu klären, ob die fundamentalen Garantien des Rechtes interner Konflikte auch während internationaler Auseinandersetzungen Anwendung finden können. Infolge des vergleichsweise tieferen Schutzniveaus des Rechtsregimes interner Konflikte ergibt sich die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens nicht ohne Weiteres. Der Grund diese Prüfung ist denn auch nicht ein daraus resultierender Rechtsschutzgewinn. Vielmehr lässt sich am Beispiel des gemeinsamen Art. 3 GK besonders deutlich illustrieren, dass eine ungeschriebene Parallelgeltung einer Garantie nicht nur den Adressatenkreis einer Norm, sondern darüber hinaus auch deren vertraglichen Geltungsbereich auszudehnen vermag.

(1) Die aussetvertragliche Geltung des Art. 75 ZPI?

In seinem Bericht zur Situation der Menschenrechte im irakisch besetzten Kuwait hielt der UNO-Sonderberichterstatter fest: "[C]ertain provisions of Protocol I, particularly those relating to the protection of civilians and persons detained by the occupying Power, are considered customary in nature in that they reiterate and extend provisions already set down in the Geneva Conventions which through time and usage have acquired international consensus" 173 • oder Niederlassung weiterhin den Schutz der einschlägigen Bestimmungen der Abkommen und dieses Protokolls". Eine Konkretisierung findet diese allgemeine Bestimmung in Art. 75 Ziff. 6 ZP I. Diese Norm ersetzt für die Unterzeichnerstaaten des ZP I die Regelung von Art. 6 Abs.3 GKIV. Siehe dazu auch ZP-Kommentar Rz.151ff; Bothe/Partsch!Solf465f; Austin 168fundRajower 171. 172 Ein gleiches Schutzniveau Iiesse sich erreichen, falls den inhaltlich analogen Garantien der GK aufgrund ihres Charakters als allgemeine Rechtsprinzipen ein breiterer persönlicher Geltungsbereich zugesprochen wUrde. 173 UN.Doc. E/CN. 4/1992/26, para.42.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Diese Einschätzung wird von verschiedenen Indizien bestätigt, obwohl keine weitere Praxis zur aussecvertraglichen Geltung der im zitierten Text implizit angesprochenen Basisbestimmung des Art. 75 ZP I zum Schutz der Menschenrechte aller Personen in einem internationalen Konflikt vorliegt 174: • Entstehungsgeschichtlich wurde diese Bestimmung im Wesentlichen nach dem Modell der Parallelnormen der Art.4 und 6 ZPII verfasstm, welche wiederum (zumindest teilweise) eine Konkretisierung der Regeln des Art. 3 GK I-IV darstellen176. Da, wie unten aufzuzeigen sein wird, mittlerweile unbestritten ist, dass letztere Bestimmung kraft aussecvertraglicher Geltung auch in internationalen Konflikten anwendbar ist 177, liegt es nahe, diese Schlussfolgerung auch auf Art. 75 ZP I zu übertragen. • Zudem liefert der Wortlaut dieser Norm durch die Verwendung der Ausdrücke "unter allen Umständen" resp. ,jederzeit und überall" ein gewichtiges Argument dafür, dass die Garantien dieser Norm nur eine deklaratorische Verankerung bereits aussecvertraglich geltender Prinzipien darstellen 178• • Schliesslich gilt eine Verletzung der Garantien des Art. 75 ZP I als schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts, was wiederum eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der für solche völkerrechtlich verpönte Handlungen verantwortlichen Personen begründet 179• Auch wenn diese Tatsache keine hinreichende Begründung für die ungeschriebene Geltung der entsprechenden Basisnorm darstellt, liefert sie doch einen weiteren Mosaikstein, der eine solche Qualifikation zu belegen hilft. Aufgrund dieser Hinweise aus dem Vertragstext sind auch in der Literatur keine Stimmen auszumachen, welche eine ungeschriebene Geltung des Art. 75 ZP ablehnen würden 180. Infolgedessen gewähren Garantien, wie sie in Art. 75 ZPI umschrieben sind, als "general principles of humanitarian law" in jedem internationalen Konflikt für jede Person einen Minimalschutz.

Siehe dazu auch Penna 210ff. m ZP-Kommentar Rz. 3005; Bothe/Partsch/Solf 456. 176ZP-Kommentar Rz.4515. 177 Siehe gleich anschliessend. 178 So David (Principes) 90. 179 Art. 85 Ziff.4 ZPI i. V.m. Art.148 GKIV; siehe dazuZP-Kommentar Rz.3500ff. 180 Siehe Kälin/Gabrie/20, Anrn.104, und Hannikainen 668. Katleibach 314 nimmt zwar nicht ausdrUcklieh auf diese Norm Bezug, betrachtet jedoch deren Inhalt im humanitären Völkerrecht als ius cogens. Meron (Customary Law) 64 ff zeigt zusätzlich, dass diese Bestimmung auch gernäss der Meinung der amerikanischen Regierung Bestandteil des Gewohnheitsrechts ist (a. a. 0. 68). Siehe dazu auch Theodor Meron, War Crimes in Yugoslavia and the Development of International Law, AJIL 1994, 80. 11•

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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(2) In internationalen Konflikten anwendbare Normen des Rechts der internen Konflikte? Trotz des umfassenderen und detaillierteren Normenkomplexes dieses Sonderregimes und der Geltung der Garantien des Art. 75 ZPI kraftungeschriebener Rechtsquellen sind, wie der Nicaragua Fall gezeigt hat, auch in internationalen Konflikten Konstellationen denkbar, in welchen eine gewohnheitsrechtliche Geltung von Normen, die interne Konflikte regeln, einem Staat zusätzliche Verpflichtungen auferlegen kann. Obwohl der Fall der Notwendigkeit einer Anwendung von Art. 3 GK I-IV in internationalen Konflikten in der Praxis einzigartig bleiben dürfte, lässt sich anband des Beispiels einer nicht bloss ausservertraglichen Geltung, sondern gar einer ausservertraglichen Ausdehnung des Geltungsbereichs des gemeinsamen Art. 3 GK doch exemplarisch das grundsätzliche Bestehen einer solchen Möglichkeit illustrieren. Daher soll im Folgenden die Geltung von Art. 3 GK I-IV in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen abgeklärt werden. Gernäss dem klaren Wortlaut des gemeinsamen Art. 3 GK findet diese Bestimmung ausschliesslich "im Falle eines Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist", Anwendung. Dieses Defizit im Vertragsrecht liesse sichjedoch überdecken, falls dessen Garantien erstens kraft ausservertraglicher Rechtsquellen gelten und zweitens dadurch mit einem ausgedehntereD-auch internationale Konflikte umfassenden - Geltungsbereich ausgestattet wären. Im Falle der militärischen Aktivitäten in Nicaragua 181 wies der IGH ausdrücklich auf diese Möglichkeit hin: ,,Even if two norrns belanging to two sources of internationallaw appear identical in content, and even if the States in question are bound by these rules both on the Ievel of treaty law and on that of customary internationallaw, these norrns retain a separate existence. ( ...) [They] are also distinguishable by reference to the methods of interpretation and application"1n.

Ansebliessend befasste sich der Gerichtshof konkret mit der Frage einer ausservertraglichen Ausdehnung des Geltungsbereichs des gemeinsamen Art. 3 183 : "There is no doubt that, in the event of international armed conflict, these rules constitute a minimum yardstick, in addition of the more elaborate rules which are also to apply to international conßicts. ( ...) Because the minimum rules applicable to international and to noninternational confiicts are identical, there is no need to address the question whether those 111 Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Reports 1986, 14 ff. 112 ICJ Reports 1986,95, para.178. 183 Die gewolmheitsrechtliche Geltung dieser Garantien im Rahmen des durch den gemeinsamen Art. 3 GK vertraglich statuierten Geltungsbereichs an sich ist heute unbestritten. Angesichts des nahezu universellen Ratifikationsstandes der GK verliert diese Frage auch an praktischer Bedeutung. Vgl. dazu Gasser (humanitäres Völkerrecht) 571f; Meron (Customary Law) 25ffundRajower 161.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

actions must be looked at in the context of the rules which operate for the one or for the other category of conflict" 184•

Eine ausdrückliche Bestätigung fand diese Ausdehnung des situationsbedingten Geltungsbereichs durch das Jugoslawien Tribunal, das festhielt: "[A]t least with respect to the minimum rules in common Art. 3, the character of the conflict is irrelevant"•8s. In der Doktrin enthält bereits der Kommentar zur Genfer-Konvention IV aus dem Jahre 1958 eine Formulierung, welche zwar nicht direkt auf eine Ausdehnung des Geltungsbereichs dieser Norm Bezug nimmt, aber doch in eine ähnliche Richtung weist: "The value of the provision is notlimited lo the field dealt with in Article 3. Representing, as it does, the minimum which must be applied in the least determinate of confticts, its terms must a fortiori be respected in the case of international confiicts proper, ( ...)" 186•

In der neueren Literatur finden sich nur wenige Hinweise auf dieses Problem: Wenn auch nicht explizit so scheint doch Hess 187 von einer gewohnheitsrechtliehen Ausdehnung des Geltungsbereichs dieser Norm auszugehen, wenn er bemerkt, "Art. 3 [ist] immer anwendbar, sobald kollektiv Waffengewalt eingesetzt wird. Er ist kraft Gewohnheitsrecht oder als zwingendes Recht in sämtlichen bewaffneten Konflikten verbindlich" 188. Zumindest im Resultat stimmen zudem weitere Stimmen der Doktrin 189 mit der Aussage des IGH überein, ohne jedoch ausdrücklich die Möglichkeit einer aussecvertraglichen Abänderung des Anwendungsbereichs einer vertraglichen Parallelnorm im Allgemeinen gutzuheissen. Unter Berücksichtigung der internationalen Praxis und Literatur gilt deshalb die Schlussfolgerung, dass zumindest die Garantien des Art. 3 GK I-IV erstens in ihrem vertraglich vorgegebenen Anwendungsbereich Bestandteil des Gewohnheitsrechtes sind und zweitens kraft dieser Rechtsquelle auch in internationalen bewaffneten Konflikten absolut geltende Minimalgarantien darstellen 190. ICJ Reports 1986, 114, paras. 218f. tu ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal on jurisdiction, Anm.130), para. 102. t86 GK-/V-Kommentar 38. •87 Hess 98 f. •88 An einer anderen Stelle (15 f) scheint Hess die Geltung von Art. 3 GK auch mit einem Vergleich mit Art. 2 GK zu belegen: ,,Art. 2legt demgegenOber [im Vergleich zu Art. 3] fest, fUr welche Konflikte die Genfer Konventionen in ihrer.Gesamtheit anwendbar werden." Der Wortlaut von Art. 3 GK schliesst wohl eine Auslegung, wonach diese Norm neben internen zusätzlich auch während internationalen Konflikten zur Anwendung gelangt, nicht aus. 189 Meron (Customary Law) 34; David (Principes) 104; Kälin/Gabriel20. 190 Eine Ausdehnung des Geltungsbereichs der grundlegenden Garantien der Art.4-6 ZPII infolge gewohnheitsrechtlicher Grundlage auf internationale Konflikte braucht an dieser Stelle nicht abgeklärt zu werden, da dieser Konstellation aus folgendem Grund keine praktische Relevanz zukommen kann: Die Garantien der erwähnten Bestimmungen decken sich inhaltlich weitestgehend mit denjenigen des Art. 75 ZPI, die wiederum als Grundprinzipien des huma184

IV. Geltungsbereiche von Menschen- und humanitärem Völkerrecht

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c) Humanitäres Völkerrecht und interne bewaffnete Konflikte aa) Vertragsrechtliche Konzeption Das geschriebene humanitäre Völkerrecht enthält keine einheitliche Definition des Begriffs "interner bewaffneter Konflikt". Eine solche ist aber nicht nur im Hinblick auf die Abgrenzung zu internationalen bewaffneten Auseinandersetzungen 191 , sondern auch auf der gegenüberliegenden Seite des Spektrums zu Gewaltsituationen, welche vom humanitären Völkerrecht nicht mehr erfasst werden, von grösster Relevanz. Zusätzlich knüpfen die in "Bürgerkriegen" anwendbaren Menschenrechte des gemeinsamen Art. 3 GK sowie diejenigen von Art. 4-6 ZP II je an unterschiedliche Geltungsvoraussetzungen an. Gernäss Art. I ZPnt 92 erfüllen interne bewaffnete Auseinandersetzungen die Anwendungsvoraussetzungen dieses Vertrags, falls sie von Art. I ZPI nicht erfasst 193 werden und im "Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen". Zwecks Verdeutlichung dieser Aussage enthält Abs. 2 dieses Artikels zusätzlich eine negative Begriffsumschreibung: "Dieses Protokoll findet nicht aufFälle innerer Unruhen und Spannungen wie Thmulte, vereinzelt auftretende Gewaltakte und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten".

Die Menschenrechte des ZPII gelangen somit nur bei kumulativem Vorliegen folgender Voraussetzungen zur Anwendung: • Kontrolle der Aufständischen über einen Teil des Staatsgebietes 194; nitären Völkerrechts, wie eben erwähnt, in jedem internationalen Konflikt, unabhängig von einer vertraglichen Grundlage, zur Anwendung gelangen. Eine solche Geltung wird jedoch von David (Principes) 104f bejaht, indem dieser Autor davon ausgeht, dass alle Regeln einer tieferen Konfliktkategorie Bestandteil des Rechts der höheren Konfliktkategorien sind. 19 1 Siehe dazu ausführlich oben Abschn. 3. b). 192 V gl. zu dieser Norm BothelPartsch!Solf622 ff und zur Definition des nicht internationalen bewaffneten Konflikts z. B. EI Kouhene 72 ff; Eide (Troubles) 281 ff; Green 127 ff; Nguy2n Duy-Tan 798 ff; McCoubry 171 ff; David (Principes) 105 ff; Meron (Interna! Strife) 45 ff; Rosemary Abi-Saab 317; Zischg 33ffund Oeter 468. 193 D. h. kein internationaler Konflikt im Sinne der GK und kein Befreiungskrieg i. S. v. Art. 1 Abs.3 ZPI sind. 194 ZP -Kommentar Rz. 4464 ff. Die Anwendungsmöglichkeit des ZP II kamt folglich je nach Umständen wechseln; vgl. Hess 102. Zischg 36fkritisiert dieses Erfordernis mit dem Hinweis, es entspreche im Zeitalter des Guerillakrieges nicht mehr der Realität, sondern orientiere sich zu sehr an den traditionellen Erfordernissen, die erfüllt sein mussten, bevor Aufständische als Kriegführende anerkannt wurden (siehe dazu unten Anm. 318).

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

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ein bestimmter Organisationsgrad der Rebellen 195 sowie

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eine Beteiligung der regulären Armee an den Auseinandersetzungen 196•

Dieses Abkommen ist somit zu beachten, falls die bewaffnete Auseinandersetzung nur innerhalb des Gebietes eines Staates und unter Ausschluss von Truppenverbänden anderer Staaten stattfindet, sich aber hinsichtlich Art, Intensität und Umfang nicht grundsätzlich von einem klassischen internationalen Konflikt unterscheidet 197 • Einen undeutlicher formulierten, aber zweifellos weiteren Geltungsbereich beansprucht Art. 3 GK /-JV 198• Trotz des FehJens einer genauen Umschreibung der Anwendungsvoraussetzungen dieser Norm herrscht in der Literatur199 und auch in der 19' ZP -Kommentar Rz. 4463 und 4470; Hess I OI f. Erforderlich sind eine hierarchische Gliederung resp. klare Kommandostrukturen, welche gewährleisten, dass Anordnungen von Verantwortlichen dieser Organisationen auch an der Basis befolgt werden. 196 ZP -Kommentar Rz. 4460 ff; BothelPartsch!Solf627; Hess l 03 f. Nicht anwendbar ist das ZPII damit in BUrgerkriegen zwischen verschiedenen Rebellengruppen, was im Falle des völligen Kollapses staatlicher Autorität häufig vorkommen dUrfte; im Fall von Staatsstreichen, falls sich die gesamte Armee gegen die legitime Regierung erhebt, sowie falls sich auf staatlicher Seite ,,nur" Polizeikräfte an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligen. Zweifel an dieser Auslegung äussert David (Principes) 108. Die Regierung andererseits hat diese Regeln in einem Konflikt, der diese Intensitätsstufe erreicht, auch gegenüber Gruppierungen, welche die Voraussetzungen von Art. I ZPII nicht erfüllen, einzuhalten; Provost 396. 197 Siehe zu diesen Anforderungen auch die Einstufung der Kammer I des ICTR, The Prosecutor v. Akayesu, Case No. 964-T, paras. 625 f: "Under Additional Protocol II, the parties to the conflict will usually either be the govemment confronting dissident armed forces, or the govemment fighting insurgent organized armed groups. ( ...) The armed forces opposing the govemment must be under responsible command, which entails a degree of organization within the armed group or dissident armed forces to plan and carry out concerted military operations, and to impose discipline in the name of a de facto authority. Further, these armed forces must be able to dominate a sufficient part of the territory so as to maintain sustained and concerted military operation and to apply Additional Protocol II". In Anwendung dieser Kriterien stufte die Kammer I des ICTR den Konflikt in Ruanda als die Anwendungsschwelle von ZPII erreichend ein. Auch als Konflikt im Sinne von ZPII wurde vom russischen Verfassungsgericht in einem Urteil aus dem Jahre I995 der Konflikt in Tschetschenien eingestuft; vgl. dazu Paola Gaeta, The Armed Conflict in Chechnya before the Russian Constitutional Court, EJIL I996, 566ff. 198 Innerhalb des Regelungsbereichs des gemeinsamen Art. 3 GK lässt sich gar noch ein weiteres Sonderregime für interne Konflikte herauskristallisieren: Ziff. 2 Abs. 2 dieser Bestimmung stipuliert nämlich, die Kriegsparteien sollten sich "bemühen, durch besondere Vereinbarungen auch die anderen Bestimmungen des vorliegenden Abkommens ganz oder teilweise in Kraft zu setzen". Soweit ersichtlich wurde bisher noch nie ein solcher Vertrag abgeschlossen. Allerdings verpflichteten sich in der Praxis teilweise Kriegsparteien mittels unilateraler Erklärungen zur freiwilligen Beachtung gewisser Bestimmungen; siehe dazu Rajower 48 f. 199 D. h. nicht in jenen Konflikten, in welchen der Staat einzig ,,normale" Polizeikräfte einsetzt und in welchen unorganisierte, vereinzelte Gruppen sporadische Kampfhandlungen auszuüben vermögen. Siehe GK-IV-Kommenlar 36f; Hess 97ff; Gasser (humanitäres Völkerrecht) 574 und 582; Zischg 32f; Nguyen Duy-Tan 795ff; Rajower 43ff; David (Principes) II2 ff; Oeter 465 f; Eide (Troubles) 28I f; vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung der älteren Praxis und Literatur in Aldo Lombardi, Bürgerkrieg und Völkerrecht, Berlin 1976, 88 ff.

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Praxis 200 weitgehend Einigkeit darüber, dass auch diese Grundbestimmung des humanitären Völkerrechts nur in kollektiv, unter Einsatz von Waffengewalt geführten Auseinandersetzungen angewendet werden kann 201 • Während innerstaatlichen Auseinandersetzungen, die ein gewisses qualifiziertes Mass an Gewalt resp. an Koordination der Handlungen der nichtstaatlichen Akteure nicht erreichen, gelangt deshalb das humanitäre Völkerrecht nicht zur Anwendung202 • Dies, obwohl gerade in solchen Situationen nicht kollektiv geführter und territorial nicht klar begrenzter Gewaltanwendungen die Bevölkerung oft gar stärker von Verletzungen grundlegender Menschenrechte betroffen sein kann, als dies in den klassischen Anwendungsfeldern des humanitären Völkerrechts der Fall ist. Dieses Schutzdefizit ist insbesondere dort problematisch, wo die Garantien des gemeinsamen Art. 3 GK keine inhaltliche Parallele in zwingenden menschenrechtliehen Verpflichtungen203 finden 204: Das gilt vor allem für die Verfahrensgarantien bei Verhängung der Todesstrafe.

200 Praxis zu den Anwendungskriterien des Art. 3 I-IV GK findet sich nur wenige. So erachtete das ICfR (Chamber I, The Prosecutor v. Akayesu, Case No. ICfR-96-4-T, para. 619) es für eine Anwendung dieser Bestimmung für notwendig, dass "the legal govemment is obliged to have recourse to the regular military forces against insurgents" und- unter Stipulierung einer erstaunlich hohen Anwendungsschwelle-auch dass die Aufständischen ..[ are] organized as military in possession of apart of the national territory". Weniger hohe Anforderungen hinsichtlich einer Anwendung dieser Bestimmung stellt andererseits die IAKMR (Juan Carlos Abella v. Argentina ["Tablada Case"], Case No. 11.137, Report 55/97) auf, welche mit folgenden Argumenten einen Angriff von rebellischen Soldaten auf eine Kaserne regierungstreuer Truppen als Konflikt im Sinne dieser Bestimmung einstufte: "152. ( ... ) lt is important to understand that application of Common Article 3 does not require the existence oflarge-scale and generalized hostilities or a situation comparable to a civil war in which dissident arrned groups exercise control overparts ofnational territory. ( ... ). 154. Basedon a careful appreciation ofthe facts, the Commission does not believe that the violent acts at the La Tablada military base on January 23 and 24, 1989 can be properly characterized as a situation of intemal disturbances. What happened there was not equivalent to !arge scale violent demonstrations, students throwing stones at the police, bandits holdingpersans hostage for ransom, or the assassination of govemment officials for political reasons- all forrns of domestic violence not qualifying as armed conflicts. 155. What differentiales the events at the La Tablada base from these situations are the concerted nature of the hostile acts undertaken by the attackers, the direct involvement of govemmental armed forces, and the nature and Ievel of the violence attending the events in question. More particularly, the attackers involved carefully planned, co-ordinated and executed an armed attack, i. e., a military operation, against a quintessential military objective- a military base". 20t Rodley 59 f interpretiert die Anwendungsschwelle von Art. 3 GK I-IV im Licht des Art. 1 Abs. 2 ZPII und gelangt so zum Schluss, diese Bestimmung finde während Thmulten und Aufruhr keine Anwendung. Eine Berufung auf diese Grundnorm sei hingegen möglich, falls eine der von Art. 1 Abs. 1 verlangten Bedingungen nicht erfüllt sei. 202 In der Literatur finden sich keine Stimmen, die von einer gewohnheitsrechtliehen Geltung des Art. 3 GK I-IV auch in solchen Situationen ausgehen. 203 So enthalten weder die EMRK noch der Pakt II notstandsfeste prozessuale Garantien; dazu ausführlicher Kap. 5, II. 1. e). 204 V gl. dazu z. B. Meron!Rosas 375 ff; Meron (Applicable Norms) 258 ff und Eide (Troubles) 279ff.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

bb) Re/ativierung durch die ausservertragliche Rechtsentwicklung Infolge des schmalen Bestandes vertraglich geltender materieller Garantien des Rechts der nicht internationalen bewaffneten Konflikte drängt sich die Frage auf, ob nicht die Grundlagen, auf welchen das Recht der internationalen Konflikte beruht, als Ausdruck der Grundsätze der Menschlichkeit auch in dieser Konfliktkategorie zu beachten sind. Aufschlussreich ist bereits ein Blick auf den Art. 3 GK I-IV, der als eigentliche Konkretisierung der Martensklausel'205 verstanden wird und, wie festgestellt, gewohnheitsrechtlich in allen Konfliktkategorien gilt. Es ist deshalb zu untersuchen, ob das in internen bewaffneten Auseinandersetzungen anwendbare Völkerrecht neben seinem schmalen vertragsrechtliehen Fundament nicht mittlerweile eine mindestens ebenso deutliche Verankerung im ungeschriebenen Recht besitzt206 • Als Erstes soll dabei die ungeschriebene Geltung der Garantien von Art. 4-6 ZP II untersucht werden, und anschliessend gilt es abzuklären, ob der situationsbedingte Geltungsbereich bestimmter Verpflichtungen der Genfer Konventionen oder des ZP linfolge einer ausservertraglichen Rechtsentwicklung eine Ausdehnung erfuhr. (1) Ausservertragliche Geltung der grundlegenden Bestimmungen des ZPII Das ZP II weist nicht wie die GK I-IV einen universellen Ratifikationsgrad auf, weshalb es unter praktischen Überlegungen Sinn macht, in einem ersten Schritt die ausservertragliche Geltung der die Minimalgrundsätze menschlicher Behandlung regelnden Art. 4-6 dieses Vertrages während internen Konflikten abzuklären. In einem obiter dieturn des Jugoslawien Tribunals wurde der Grundsatz, wonach die Kernbestimmungen dieses Vertrages deklaratorischer Wirkung sind, explizit bestätigt: ,,Attention must also be drawn to Additional Protocolll to the Geneva Conventions. Many provisions of this protocol can now be regarded as declaratory of existing rules or as having crystallized ernerging rules of customary law" 207 •

Wie die Wortwahl der Vertragstexte dieser Bestimmungen verdeutlicht, gehören aber die Art. 4-6 208 zu den absolut zentralsten Garantien dieses Protokolls 209• Zudem stellen die Abs. 1 und 2 von Art. 4 ZP II ausdrücklich eine Konkretisierung der zwingend geltenden Garantien von Art. 3 GKI-IV daru0 , und wesentliche Teile dieser Norm gelten nach Meinung der Doktrin und des IKRK bereits kraftallgemeinen Siehe oben Anrn.53. Siehe z. B. Rajower 186ff und Meron (Customary Law) 71 ff. 207 ICTY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal onjurisdiction, Anrn.130), para. l17. 208 Die Marginalie des Art. 4 ZP II lautet ,.Grundlegende Garantien", zudem wird auch in diesen Bestimmungen die Wendung ,jedeneit und überall verboten" verwendet. 209 ZP-Kommentar Rz. 4597: ,.The whole of part li (humane treatment) is aimed at ensuring respect for elementary rights of the human person". 210 ZP-Kommentar Rz. 4515. 205

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Völkerrechts als zwingend211 • Diese Einstufung fand eine explizite Bestätigung im Akeyesu Urteil 212 des Ruanda Tribunals, wo festgehalten wurde: ,,All of the guarantees, as enumerated in Article 4 reaffirrn and supplement Common Artide 3 ( ...) and, as discussed above, Common Article 3 being customary in nature, the Chamber is of the opinion that these guarantees did also at the time of the events alleged in the indictment form part of existing international customary law".

Auch die Verfahrensgarantien des Art. 6 ZP II enthalten viele Elemente, die nach weit verbreiteter Ansicht bereits allgemein geltendes Gewohnheitsrecht darstellen213. Im Weiteren sind diese Garantien eines fair trialzugrossen Teilen eine Konkretisierung der entsprechenden Bereiche des Art. 3 GK I-IV, weshalb deren Inhalt wohl integral dem absolut zwingenden Bereich des humanitären Vollcerrechts zugeordnet werden kann. Den gegenteiligen Schluss legen hingegen bereits vertragstextliche Argumente hinsichtlich der Rechte gernäss Art. 5 ZPII von Personen nahe, denen die Freiheit entzogen ist. So sind die Verpflichtungen der für die Haft verantwortlichen Personen gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung nur "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" zu befolgen. Zusätzlich gelten die Schutzbestimmungen dieser Garantie nur für Personen, welchen "im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt die Freiheit entzogen wurde". Dies bedeutet, dass sie als eine Art Ersatzbestimmung für den fehlenden Kriegsgefangenenstatus in internen Konflikten dienen214 und keinesfalls als blosse Weiterentwicklung der Garantien des gemeinsamen Art. 3 GK verstanden werden können215. Art. 5 ist deshalb keine bloss deklaratorische Kodifikation bereits geltenden Gewohnheitsrechts. Zusätzlich liegen keine Hinweise vor, die daraufhindeuten würden, dass sich aus dieser Bestimmung zwischenzeitlich neues ungeschriebenes Recht entwickelt hat. Auch inhaftierte Personen können sich deshalb in internen Konflikten ausservertraglich gesichert nur auf die Kernbestimmungen des Art.4 ZPII berufen 216 • 211 Siehe auch ZP-Kommenlar Rz. 4430: ,,Protocol II contains virtually all the irreducible rights of the Covenant on Civil and Political Rights. ( ...)These rights are based on rules ofuniversal validity to which States can be held, even in the absence of any treaty obligation or any explicit commitment on their part". So auch Meron (Customary Law) 72; Rajawer 236 ff und wohl auch Christopher Greenwood, Customary Law Status of the 1977 Geneva Protocols, in Delissen/l'anja (eds.), Humanitarian Law of Arrned Conflict- Challenges Ahead, Essays in Honour of Frits Kalshoven, Dordrecht/Boston/London 1991, 112f. 212 ICfR, Chamber I, The Prosecutor v. Akayesu, Case No. 964-T, para. 610. 213 So z. B. das Verbot rückwirkender Strafgesetze, das Verbot von Kollektivstrafen sowie das Verbot summarischer Hinrichtungen; siehe dazu oben Kap. 1, III. 2. 2 14 Siehe dazu oben Anm. 73. 215 Im Vergleich zu den Garantien des gemeinsamen Art. 3, aber auch zur nicht notstandsfesten Garantie des Art. 10 Pakt II, bewirkt diese Bestimmung vertraglich eine deutliche Ausdehnung des Schutzniveaus für inhaftierte Widerstandskämpfer in internen Konflikten; siehe BothelPartsch/Solf 645 ff. 216 A. M. Hannikainen 686, der mit Ausnahme des eigentlichen Kriegsführungsrechts das Bestehen von zwingendem Recht im Bereich des humanitären Völkerrechts, das über das allgemein geltende ius cogens hinausgeht, ablehnt.

10 Konzli

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(2) Ausservertragliche Geltung der grundlegenden Bestimmungen des ZPII in niederschwelligen internen Konflikten? Aufgrund der klar höheren Anwendungsschwelle des ZPII im Vergleich zum gemeinsamen Art. 3 der GK darf nicht leichthin davon ausgegangen werden, dieses Vertragswerk finde kraft zusätzlicher ausservertraglicher Geltung integral auch während bewaffneten Auseinandersetzungen unterhalb der von Art.1 ZPII festgelegten Konfliktintensität Anwendung 217 • Genau diese Möglichkeit deutet aber das Jugoslawien Tribunal an: Im Urteil Tadic führt es ein Beispiel aus der Staatenpraxis an, gernäss welchem trotz Bestehens auf der vertraglichen Nichtanwendbarkeit des ZP II ein Staat die darin enthaltenen Regeln befolgte, da diese seiner Einschätzung nach eine Weiterentwicklung der Garantien des Art. 3 GK I-IV darstellten und deshalb .,constituted the minimum protection due to every human being at any time and place" 218 • Eine Tendenz zu einer Angleichung der Schutzbestimmungen in allen internen Konflikten zeigt sich auch im Statut des Ruanda Tribunals: Obwohl es keineswegs als gesichert gilt, dass die Auseinandersetzungen und Massaker219 in Ruanda im Jahre 1994 integral die Anwendungsvoraussetzungen des ZP II erfüllten, ziehen gernäss Art.4 des ICfR Statuts auch Verletzungen des ZPII eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich. Neben Art. 3 orientiert sich der beispielhafte220 Katalog der einzelnen Straftatbestände auch an den Art.4 und 6 ZPII. Schliesslich argumentiert, gestützt auf die Martensklausel in Abs. 4 der Präambel ZP II, auch der Kommentar des IKRK dafür, dass Teile des ZP II zu den in dieser Klausel erwähnten Grundsätzen der Menschlichkeit gehören und deshalb unabhängig von den Anwendungsvoraussetzungen dieses Protokolls zur Anwendung gelangen müssen221 • Es sprechen somit gute Gründe dafür, dass mindestens die Art.4 und 6 des ZPII als sektarielies ius cogens222 auch während interner Konflikte mit niedriger GewaltinSiehe aber Green 129. Äusserungen der Regierung von EI Salvador, zitiert nach dem ICTY, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anrn. l30), para.l17. An derselben Stelle wird auch eine Stimme aus dem amerikanischen State Departement wiedergegeben, die ebenfalls die Verbote von .,degrading treatrnent, and punishrnent without due process" gernäss ZPII als gewohnheitsrechtlieh umfassend geltend betrachtet. Siehe dazu auch die Stellungnahme der Direktion für Volkerrecht des schweizerischen Departements für auswärtige Angelegenheiten zur Anwendbarkeit des ZPII in EI Salvador, abgedruckt in Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht 1985, 185 ff. 219 Siehe z. 8 . SR-Resolutionen 912 vorn 21. Aprill994; 918 vorn 17. Mai 1994; 925 vorn 8. Juni 1994 und 935 vorn 1. Juli 1994. 220 Art. 4 Statut ICfR: .,(...)These violations shall include, but shall not be limited to ( ...)". 22 1 ZP-Kommentar Rz. 4434: ,,If a case ,is not covered by the law in force', whether this is because of a gap in the law or because the parties do not consider thernselves to be bound by conunon Article 3, or are not bound by Protocol li, this does not mean that anything is perrnitted. ,Tbe human person rernains under the protection of the principles of humanity and the dictates of the public conscience': this clarification prevents an a contrario interpretation. Since they reflect public conscience, the principles of humanity actually constitute a universal reference point and apply independent of the Protocol". 217 218

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tensität zur Anwendung gelangen müssen. Eine solche Ausdehnung des Geltungsbereichs hätte aber einen markanten Rechtsschutzgewinn insbesondere in Strafverfahren zur Folge, statuiertdoch Art. 6 ZPII im Vergleich zu Art. 3 GKI-IV Ziff.llit. d wesentlich weitergehende und detailliertere Verfahrensvorschriften.

(3) In internen Konflikten anwendbare Normen des Rechts der internationalen Konflikte? Die vertraglich begründete Ungleichheit in Umfang und Dichte der Regelung vergleichbarer Sachverhalte im Recht der internationalen und der internen Konflikte durch das geschriebene humanitäre Völkerrecht ist durch die ausservertragliche Rechtsentwicklung der letzten Jahre zunehmend relativiert worden. So forderten politische Organe, wie z. B. die Generalversammlung der UNO, verschiedentlich, die fundamentalen Grundsätze des humanitären Völkerrechts ("basic humanitarian principles") seien in allen Konfliktarten zu beachten223• Auch verschiedene Resolutionen des Sicherheitsrates, die, ohne sich auf vertragliche Bestimmungen abzustützen, zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts aufriefen224, verdeutlichen, dass mittlerweile ein Bestand ausservertraglich geltender Prinzipen des humanitären Völkerrechts existiert, der unabhängig vom Typus der bewaffneten Auseinandersetzungen zur Anwendung gelangen muss 215 • Diese Annäherung beider Rechtsregimes lässt sich, wie das Jugoslawien Tribunal feststellte, mit zwei Entwicklungen begründen: Erstens mit dem Aufkommen der Menschenrechtsidee während der letzten Jahrzehnte und zweitens mit einer verstärkten Erkenntnis der Regelungsbedürftigkeit interner Auseinandersetzungen. Diese nahmen in der jüngeren Vergangenheit nicht nur an Häufigkeit zu, sondern wurden auch mit zunehmender, die Zivilbevölkerung mindestens ebenso sehr wie in internationalen Konflikten in Mitleidenschaft ziehender Brutalität geführt226 • 222 So auch ZP -Kommentar Rz. 4430 und Human Rights, Mass Exoduses and Displaced Persons, lntemally displaced persons, Report of the Representative of the Secretary-General, Francis Deng, compilation and analysis of legal instruments, UN Doc. E/CN. 4/1996/Add. 2, para.22. 223 UN-GV Res. 2444 (XXIII), UN.Doc.A/7218 (1968) und 2675 (XXV); UN.Doc.A/8028 (1970). 224 Siehe ICTY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal on jurisdiction, Anm. 130), paras.ll4ff. 225 1bid., para. 116. Siehe dazu auch Greenwood 41 ff, der das Beispiel der Deutschen Bundeswehr erwähnt, welche sich verpflichtet hat, "die Regeln des humanitären Völkerrechts bei militärischen Operationen in allen bewaffneten Konflikten, gleichgültig welcher Art", zu beachten. 226 So die folgende BegrUndung des ICTY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal onjurisdiction, Anm. 130), para. 97: ,,First, civil wars have become more frequent, not only because technological progress has made it easier for groups of individuals to have access to weaponry but also on account of increasing tension ( ...), as a consequence the international community

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Aussagen, die auf die Entstehung eines einheitlichen Korpus des humanitären Völkerrechts hindeuten, finden sich jedoch nicht nur in der Praxis der politischen Organe der UNO. Vielmehr lässt sich heute auch eine entsprechende Gerichtspraxis nachweisen, die wiederum mit dem Nicaragua Urteil des IGH ihren Anfang nimmt: In diesem Entscheid legte das Gericht, wie oben erwähnt, fest, dass die "minimum rules applicable to international and to non-international confl.icts are identical'' 227 • Diese Aussage impliziert nicht nur, dass- wie vom Gerichtshof festgestellt- Art. 3 GK I-IV auch in internationalen Konflikten anwendbar ist, sondern legt ebenso den gegenteiligen Schluss nahe. Demnach könnten die Grundsätze des Rechts der internationalen Konflikte, wie sie in den Genfer Konventionen und dem ZP I verankert sind, auch in Bürgerkriegen zumindest zur Konkretisierung der oft knappen Bestimmungen des ZPII und von Art. 3 GKI~IV herangezogen werden. Diese Möglichkeit wurde vom ICfY- allerdings mit folgenden Einschränkungen- in einem obiter dieturn explizit bestätigt: .,(i) [O]nly a number of rules and principles goveming international armed conßicts have gradually been extended to apply to internal conflicts, and (ii) this extension has not taken place in the form of a full and mechanical transplant of those rules (...), and not the detailed regulation they may contain has become applicable to internal conßicts" 228•

Damit stellt sich als nächstes die Frage nach dem Umfang des Normkomplexes der Genfer Konventionen und des Zusatzprotokolls I, deren Grundsätze infolge ihres gewohnheitsrechtlich ausgedehnten Geltungsbereichs auch in internen Konflikten zu berücksichtigen sind. Wiederum gernäss Meinung des Jugoslawien Tribunals sind zur Beantwortung dieser Frage folgende Regelungsbereiche der erwähnten Vertragswerke näher zu untersuchen: can no Ionger turn a blind eye tothelegal regime of such wars. Secondly, internal conßicts have become more and more cruel and protracted, involving the whole population of a State where they occur, the all-out resort to armed violence has taken on such a magnitude that the difference with international wars has increasingly dwindled (...). Thirdly, the !arge scale nature of civil strife, coupled with the increasing interdependence of States in the world community, has made it more and more diflicult for third States to remain aloof (...). Fourthly, the impetuous development and propagation in the international community of human rights doctrines (...) has brought about significant changes in internationallaw, notably in the approach to problerns besetting the world community. A State-sovereignty-oriented approach has been gradually supplanted by a human-being-oriented approach". 227 ICJ Reports 1986, 114. Siehe dazu auch Meron (Customary Law) 33ff. 228 ICTY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal on jurisdiction, Anrn. 130), para. 126. Siehe dazu auch Christopher Greenwood, International Humanitarian Law and the Tadic Case, EJIL 1996, 277ff, und Theodor Meron, ls International Law Moving towards Criminalization, EJIL 1998, 25 ff. Eine dezidiert andere Meinung vertrat in dieser Frage die Expertenkommission zur Abklärung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien (UN Doc. S/1994/674, para. 52): .,The treaty based law applicable to internal armed conflicts is relatively recent and is contained in common article 3 of the Geneva Conventions, Additional Protocol II, and (...). It is unlikely that there is any body of customary international law applicable to intemal armed conflict which does not find its roots in these treaty provisions".

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"[I]t cannot be denied that customary rules have developed to govern internal strife. These rules ( ...) coversuch areas as protection of civilians from hostilities; (...) [and] protection of all those who do not (or no longer) take active part in hostilities" 229•

Die Festlegung derjenigen Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts, die auch während internen Konfliktenkraft Gewohnheitsrecht zu beachten sind, bereitet jedoch mangels entsprechender Staaten- oder Gerichtspraxis erhebliche Schwierigkeiten. In der bisher ausführlichsten Studie zu diesem Thema zählt Meron folgende Bestimmungen der GK IV als deklaratorische Auflistung von bereits zur Zeit der Kodifikation dieses Vertrages geltendem Gewohnheitsrecht230: Das Verbot der Zerstörung von Eigentum (Art. 53), das Verbot gewisser Arten von Zwangsarbeit (Art. 51), das Verbot der Ausübung von physischem und moralischem Zwang (Art. 31 ), die Verbote von Mord, Folter, Körperstrafen, medizinischen und wissenschaftlichen Experimenten ohne Einwilligung der betroffenen Person und anderen Grausamkeiten (Art. 32), der Anspruch auf Achtung der Person, der Ehre, der Familienrechte und der religiösen Überzeugungen (Art. 27), das Verbot des Angriffs auf Zivilspitäler und deren Personal (Art. 18 und 20), das Verbot von Kollektivstrafen und von Plünderungen (Art. 33), das Verbot der Geiselnahme (Art. 34), das Verbot der zwangsweisen Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie der Deportation geschützter Personen aus besetzten Gebieten (Art. 49), der Grundsatz von nullum crimen sine lege (Art. 65 und 67), das Prinzip der Verhältnismässigkeit strafrechtlicher Sanktionen (Art. 67) sowie das Verbot strafrechtlicher Verurteilungen ohne vorgängiges ordentliches Verfahren (Art. 71). Ohne auf einzelne Bestimmungen einzugehen, vertritt Meron weiter die Ansicht, dass zusätzlich gewisse Garantien infolge der Kodifikation dieser Regeln mittlerweile gewohnheitsrechtliehe Geltung beanspruchen können 231 • Noch umfassender als in der GK IV wird 229 ICfY, The Prosecutor v. Dusko Tadic (appeal onjurisdiction, Arun.130), para.127 (Hervorhebungen durch den Autor). Das Gericht stützte diese Ansicht insbesondere auf zwei Resolutionen der UNO-GY, welche "were declaratory ofthe principles of customary international law regarding the protection of civilian populations and property in armed conßicts of any kind" (ibid. para. 112). Im Einzelnen ruft die GY-Resolution 2444 ,,Recognizing the necessity of applying basic humanitarian principles in all armed conßicts" unter Anderem zur Beachtung des folgenden Grundsatzes auf: "(c) That distinction must be made at all times between persons taking part in the hostilities and members of the civilian population to the effect that the latter be spared as much as possible". Die Resolution 2675 hält fest: "1. Fundamental human rights, as accepted in intemationallaw and laid down in international instruments, continue to apply fully in situations of armed conßict. 2. In the conduct of rnilitary operations during armed conflicts, a distinction must be made at all times between persons actively taking part in the hostilities and civilian populations. 3. In the conduct of military Operations, every effort should be made to spare civilian populations from the ravages of war, and all necessary precautions should be taken to avoid injury, loss or darnage to civilian populations. ( ...) 7. Civilian populations, or individual members thereof, should not be the object of reprisals, forcible transfers or other assaults on their integrity". :oo Meron (Customary Law) 46ff. Auch dieser Autor schränkt jedoch ein, "only the core, although not necessarily the specific language and details" dieser Vertragsnormen verkörpere Gewohnheitsrecht. Ähnlich auch Rajower 239ff. 231 Meron (Customary Law) SOff.

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schliesslich der Bestand auch gewohnheitsrechtlich geltender Garantien der GK III eingestuft, da die Mehrzahl ihrer Bestimmungen auf gewohnheitsrechtlich geltenden Grundsätzen basieren, die bereits in älteren Konventionen deklaratorisch verankert waren 232• Die ausseTVertragliche Geltung von Art. 75 Abs. I ZP I wurde bereits an anderer Stelle bejaht233 • Auch wenn der Autor dieser Auflistung nirgends explizit erwähnt, durch ihre ausservertragliehe Geltung werde auch der situationsbedingte Anwendungsbereich der aufgelisteten Garantien ausgedehnt, so sind doch klarerweise diese bereits gewohnheitsrechtlich verankerten Garantien als die naheliegendsten Kandidaten von Verpflichtungen mit gewohnheitsrechtlich verbreitertem Geltungsbereich einzustufen234. Zudem stellen die angeführten Normen der GK IV zweifellos diejenigen grundlegenden Bestimmungen des humanitären Völkerrechts dar, die gernäss ICfY und der UNO-Praxis auch während Bürgerkriegen zu beachten sind.

d) Anwendungsbereiche des humanitären Völkerrechts ausserhalb bewaffneter Konflikte? aa) De lege lata Erreichen Auseinandersetzungen nicht die von Art. 3 GK I-IV geforderte Intensität, gelten sie nicht mehr als bewaffnete Konflikte, sondern als blosse "Unruhen, Wirren, Spannungen, Meutereien" 23'. Demzufolge findet nach vertraglicher Konzeption das humanitäre Völkerrecht keine Anwendung. Trotzdem können in solchen Situationen Gefahrdungslagen für die Bevölkerung auftreten, die durchaus mit solchen von Bürgerkriegen vergleichbar sind. Unter einem Verletzungsrisiko stehen dabei vor allem Rechtspositionen, welche in Menschenrechtsverträgen nicht notstandsfest ausgestaltet sind, die nicht ius cogens Charakterkraft allgemeinem Völkerrecht besitzen und welche gleichzeitig während Situationen innerer Spannungen erfahrungsgernäss regelmässig verletzt werden. Diese Kriterien erfüllen insbesondere die Verbote unmenschlicher Haftbedingungen, von Deportationen und die Verfahrensgarantien 236. Genau diese Verhaltensweisen werden aber auch durch Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts untersagt, weshalb deren ausservertragliche Anwendung in die232

Meron (Customary Law) 45.

Siehe oben Abschn. 3. b) bb)(1). In einer Besprechung des Tadic Urteils des ICfY (appeal on jurisdiction, Anrn.l30) bestätigt Meron diese Schlussfolgerung zumindest bezüglich des Haager Rechts; siehe Theodor Meron, The Continuing Role of Custom in the Formation of International Humanitarian Law, AJIL 1996, 238 ff. 23$ Gasser (Einfllhrung) 91. Im sogenannten "Tablada Case" (Juan Carlos Abella v. Argentina, Case 11.136, Report N° 55/97, November 18, 1997) stufte die IAKMR hingegen eine bewaffnete Meuterei von Truppenverbänden als internen Konflikt im Sinne des gemeinsamen Art. 3 GK ein. 236 Gasser (humanite) 42; Eide!Rosas!Meron 217. 233

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ser Grauzone zwischen humanitärem Völkerrecht und dem klassischen Anwendungsbereich der Menschenrechte wesentliche Schutzdefizite beheben könnte. Einen solchen, den traditionellen Geltungsbereich überschreitenden Gebrauch des humanitären Völkerrechts scheint bereits die Anwendung des Grundsatzes von a maiori ad minus nahezulegen: So kann argumentiert werden, dass Verhaltensweisen, die während bewaffneten Auseinandersetzungen verpönt sind, erst recht ausserhalb solcher Situationen verboten sein müssen. Das humanitäre Völkerrecht folgt jedoch - da gernäss seinem traditionellen Verständnis auf dem Grundgedanken der Reziprozität aufbauend- einer umgekehrten Abstufung, wonach sein Schutzniveau proportional zur Intensität der Auseinandersetzungen wächst und seinen Kulminationspunkt in internationalen Konflikten findet. Trotz vereinzelter Äusserungen in der Doktrin237 und auch einiger so interpretierbarer Aussagen in der Staatenpraxis238 kann eine derartige Ausdehnung des situationsbedingten Geltungsbereichs gegenwärtig weder durch eine Praxis belegt werden, noch entspricht sie der herrschenden Lehrmeinung 239 • Trotzdem bemüht sich das IKRK auch in solchen humanitären Grauzonen, seine Vermittlungsdienste anzubieten und insbesondere die Haftbedingungen von Personen, welche im Zusammenhang mit Unruhen festgenommen wurden, zu verbessern 240 • Nicht von einem normativen Ansatz ausgehend, sondern mittels eines Verhaltenskodex' versucht denn auch das IKRK den Schutz potentieller Opfer in Zeiten staatlichen Notstandes zu verbessern. Mit diesen von Hans-Peter Gasser erarbeiteten Richtlinien sollen nicht neue rechtliche Verpflichtungen geschaffen werden, "mais bien plutöt de rappeler des obligations existantes" 241 • Insofern enthält dieser Entwurf auch eine Liste von Garantien, welchen nach der Ansicht des IKRK ius cogens Qualität beigemessen werden kann. Allerdings wird auch im Kommentar242 zu die237 So bezUglieh Art. 3 GK I-IV Meyrowitz 1104; undeutlich Gasser (humanite) 46 ("Ces regles [Art. 3 GK I-IV] sont imperatives pour les situations de contlits armes, y inclus les contlits armes non intemationaux; la logique commande qu'elles soient aussi- ou plutöt a fortiori- pour les troubles et tensions internes".) und Giegerich 146. 238 Aussage der RegierungEl Salvadors vom 31.8.1987, wonach Art. 3 GK I-IV "constitute the minimum protection due to every human being at any time and place" (zitiert nach ICTY, The Prosecutor v. Dusko Tadic [appeal on jurisdiction, Arun.130], para. 117). 239 Siehe die Literatur zum Anwendungsbereich des Art. 3 GK resp. des Art.1 ZPß in den Arun. 192 und 199 und David (Principes) 172 ff. Auch der ICfY geht von einer Geltung des humanitären Rechts ausschliesslich während bewaffneten Konflikten aus (lCfY, The Prosecutor v. Tadic [appeal on jurisdiction, Arun.130], para. 67): ,,lntemationallaw govems the conduct of both intemal and international armed contlicts. Appellant correctly points out that for there to be a violation of this body of law, there must be an arrned contlict". 2AO Siehe dazu Gasser (Einführung) 91 f; ders., Activite de protection et d'assistance du CICR dans les situationsnon couvertes par 1e droit international humanitaire, RICR 1988, 9ff, und Marion Harroff-Tavel, L'action du CICR face aux situations de violence interne, RICR 1993,211 ff. :!Al Gasser (humanite) 51. 242 Gasser (humanite) 55 ff.

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ser Auflistung nicht immer deutlich, ob diese Schutznormen nach Ansicht des Verfassers Bestandteil des allgemeinen ius cogens sind oder aber ob kraft Gewohnheitsrecht oder allgemeiner Rechtsprinzipien der Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts auch auf diese Situationen ausgedehnt wird. Materiell verankert Ziff. 1 den zentralen Grundsatz des "humane treatment", während die folgende Bestimmung die Verbote des Mordes, der Folter und unmenschlicher Behandlung, der Geiselnahme, des Verschwindenlassens von Personen und der Kollektivstrafen festhält Weiter werden das Verbot willkürlicher Verhaftungen, der Grundsatz der menschlichen Behandlung von Personen, welchen die Freiheit entzogen ist, das Deportationsverbot, der Grundsatz von nulla poena sine lege, Verfahrensgarantien, Einschränkungen in der Anwendung der Todesstrafe sowie der Grundsatz, wonach Verwundete und Kranke zu pflegen sind, zu dieser Rechtskategorie gezählt. bb) De legeferenda Die Erkenntnis der Schutzdefizite in diesen in den letzten Jahren häufig auftretenden Situationen eines humanitären Niemandslandes bewog zahlreiche Organisationen und Privatpersonen dazu, bewusst auch Kodifikationsentwürfe von Minimalgarantien mit einer normativen Zielsetzung auszuarbeiten243, die jederzeit und damit auch während Zeiten interner Spannungen und Notstandssituationen anwendbar wären, d. h. deren situationsbedingter Geltungsbereich umfassend ausgestaltet wäre. Ein allfälliger aus diesen Projekten hervorgehender Vertrag würde nicht nur diese situationsbedingte Lücke des humanitären Völkerrechts schliessen, sondern auch zur Anwendung gelangen, wenn ein betroffener Staat die in einer bestimmten Situation anwendbaren Verträge nicht ratifiziert, falls bestimmte Garantien nicht notstandsfest ausgestaltet sind oder falls die Gefahr einer Verletzung von menschenrechtlich geschützten Positionen nicht von einer Regierung, sondern von einer anderen Gruppe ausgeht244• Die Notwendigkeit eines zusätzlichen Instruments wurde zuerst von Theodor Meron24s postuliert, der in den folgenden Jahren auch einen ersten Entwurf einer solchen Deklaration publizierte246• Gestützt auf diese Vorarbeiten veröffentlichte eine Expertengruppe das Oslo Statement on Normsand Procedures in Times of Public Emergencies or Internat Violence 247• Dieses Statement bildete wiederum die Grundlage248 Siehe dazu z.B. EideiMeron/Rosas 217. EideiMeron/Rosas 217. w Meron (lnadequate Reach) insb. 602 ffund ders. (Humanitarian Declaration) insb. 863 ff. 246 Meron (Declaration) 70ff. 247 UN. Doc. E./CN. 4/Sub. 2/1987/31; abgedruckt in NordicJoumal on Human Rights 1987, 243

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2ff. m Die 1\Jrku Deklaration stUtzt sich zudem auf die Syracusa Principles und die Paris Minimum Standards (abgedruckt in Li/lieh [Minimum Standards] 1074 ff); siehe Gasser (normes humanitaires) 242.

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der von einer Expertengruppe in Turku verabschiedeten Declaration of Minimum Humanitarian Standards. Im Jahre 1994 wurde diese sogenannte Thrku-Declaration schliesslich nach einem weiteren Expertentreffen revidiert249 • Bei dieser Deklaration handelt es sich um den Versuch einer progressiven Fortentwicklung eines in allen Situationen anwendbaren Minimalbestandes von Schutzgarantien und nicht um den Versuch einer Autlistung eines bereits gewohnheitsrechtlich geltenden Normbestandes250. Trotzdem fand dieser Entwurf Eingang in ein UNO-Dokument251 und wurde von der Sub-Kommision für Menschenrechte anlässlich einer Resolution zur Menschenrechtslage im Irak zusammen mit den Genfer Konventionen erwähnt252. Der situationsbedingte Anwendungsbereich wird in Art. 1 dieser Deklaration umfassend festgelegt: .,This declaration affirms minirnurn hurnanitarian standards which are applicable in all situations, including intemal violence, ethnic, religious and national con1licts, disturbances, tensions, and public emergency, and which cannot be derogated from under any circumstances".

Die Standards dieses Entwurfs wären nicht nur von Regierungen zu beachten, sondern auch von Gruppen unabhängig von deren rechtlichem Status253. Inhaltlich wird sowohl auf das humanitäre Völkerrecht, wie auch auf Menschenrechtsverträge Bezug genommen. So wiederholt Art. 3 im wesentlichen die Verbotsnormen des Art. 3 GKI-IV, wobei zusätzlich der absichtliche Entzug des Zugangs zu Nahrungsmitteln und zu medizinischer Versorgung untersagt wird. Art. 4 normiert grundlegende Garantien zugunsten von Gefangenen, während in der folgenden Bestimmung eine Grundregel des Haager-Rechts rezipiert wird, wonach "attacks against persons not taking part in acts of violence shall be prohibited in all circumstances". Die folgenden Normen verbieten Deportationen unter Vorbehalt von zwingenden Gründen der Sicherheit (Art. 7), schränken den Anwendungsbereich der Todesstrafe ein (Art. 8) und statuieren gewisse minimale Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Eigentliche Grundsätze des Genfer Rechts werden in den abschliessenden zehn Artikeln normiert: So das Recht aller Kranken und Verwundeten auf medizinische Betreuung (Art. 12), die Verpflichtung mit allen Mitteln nach vermissten Personen zu suchen (Art. 13), resp. die Tatigkeit von medizinischem, humanitärem und Seelsorgepersonal nicht zu behindern (Art. 14) und das Verbot humanitäre Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit zu behindern (Art. 15). In den letzten Jahren lassen sich zudem Bemühungen innerhalb der UNO selber ausmachen, das Schutzdefizit in der Grauzone unterhalb der für eine Anwendung 249

Der Text der revidierten Fassung findet sich in Eide!Rosas/Meron 218 ff.

:zso Eide!Rosas!Meron 217 und Gasser (normes hurnanitaires) 242.

251 Die ursprUngliehe Fassung wurde auch in der Zeitschrift des IKRK publiziert; siehe RICR 1991, 348ff. 25l Gasser (normes hurnanitaires) 45 f. Diese Tatsache bewog einen Autor,- m. E. zu Unrecht- dieser Deklaration soft-law Geltung zuzuerkennen; vgl. Rosas (Emergency) 169. 253 Siehe zur Frage einer Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppen de lege lata unten Abschn. V. 3.-5.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

des humanitären Völkerrechts notwendigen Gewaltintensität auszugleichen 254 • Dieses politisch umstrittene Projekt befindet sich gegenwärtig noch in seiner Anfangsphase, weshalb sich noch keine verbindlichen Aussagen über das konkret mit diesem Projekt verfolgte Ziel machen lassen.

V. Die Träger der Verpflichtungen 1. Eine zweite Lücke im System des völkerrechtlichen lndividualschutzes? Anlässlich der Abklärungen der verschiedenen Geltungsbereiche der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts wurde bisher von der Fiktion ausgegangen, dass Verletzungen dieser Garantien eine ausschliesslich staatliche Urheberschaft besitzen. Diese Vorstellung entspricht denn auch der klassischen völkerrechtlichen und auch der menschenrechtliehen Dogmatik: Demnach binden völkerrechtliche Verpflichtungen ausschliesslich staatliche Organe, während Verletzungen durch nichtstaatliche Akteure grundsätzlich durch das innerstaatliche Strafrecht zu ahnden sind und deshalb keine völkerrechtlichen Folgen für die Urheber dieser Verletzungen auslösen. Dieses traditionelle Modell bewährt sich denn auch in den beiden klassischen Anwendungsgebieten des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte: den Situationen von internationalen Konflikten resp. von politischer Ruhe und Stabilität. Diese weisen beide die Gemeinsamkeit auf, dass das Gewaltmonopol idealtypisch ausschliesslich bei staatlichen Organen liegt. Probleme treten aber auf, sobald nichtstaatliche Akteure die Befähigung zur Durchführung von Gewalthandlungen erreichen, welche von staatlichen Organen nicht mehr kontrolliert resp. verhindert werden können. Eine alleinige Verpflichtung der Staaten erweist sich somit als ungenügend, wenn infolge partiellen Verlustes des staatlichen Gewaltmonopols- wie z. B. während Bürgerkriegen - das Risiko von Verletzungen menschenrechtlicher Positionen durch extra-konstitutionelle Organisationen eine ähnliche Dimension annimmt, wie die von staatlichen Organen ausgehende Gefährdung. Insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges häufen sich solche Situationen. Ihr gemeinsames Charakteristikum besteht darin, dass sich auch nichtstaatliche Gruppen unabhängig von ihrer Bezeichnung als Terroristen oder Freiheitskämpfer oft die Verursachung massivster Verletzungen individueller Rechte zuzurechnen haben. Da aber das humanitäre Recht Regeln kennt, deren Anwendungsbereich erstens massgeschneidert für die Anwendung in solchen Konstellationen erscheint255 und 254 V gl. dazu den Analytical Report des UN-Generalsekretärs zu den Minimum Hurnanitarian Standards, UN Doc.E/CN.4/1998/87. Weitere Hinweise finden sich in einem Bericht aus dem Jahre 1997, UN Doc. E/CN. 4/1997/77/Add. I. Siehe zu diesem noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Projekt auch David Petrasek, Moving Forward on the Development of Minimum Humanitarian Standards, AJIL 1998, 557ff. 255 Siehe dazu oben Abschn. IV. 3. c ).

V. Träger der Verpflichtungen

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welche zweitens gernäss ihrem Wortlaut auch eine Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppierungen zu kodifizieren scheinen, erstaunt es nicht, dass von verschiedenster Seite mit unterschiedlichster Motivation versucht wird, eine allgemeine Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppierungen zur Beachtung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht zu konstruieren: Humanitären Organisationen liegt bei diesem Vorgehen daran, das Schutzdefizit auszugleichen, das insbesondere in Situationen eines nahezu vollständigen Verlustes der staatlichen Handlungsfahigkeit resp. einer bloss partiellen oder gar nur nominellen Kontrolle staatlicher Organe in sogenannten ,,failed states" Situationen2S6 bestehen würde, wenn das Völkerrecht ausschliesslich Staaten verpflichten würde. Das Bestreben gewisser Staaten, dasselbe Ziel zu erreichen, gründet hingegen darin, die Bevölkerung vor Übergriffen solcher Gruppen zu schützen. Andererseits dürfte dieses Bemühen um eine Bindung nichtstaatlicher Gruppierung teilweise auch dadurch motiviert sein, dass eine Verletzung des humanitären Völkerrechts durch gegnerische Gruppen, ihnen eine völkerrechtlich begründete Berechtigung zum Einsatz möglichst weitreichender Mittel zu deren Bekämpfung gewähren würde. In der Doktrin schliesslich wird dieser potentiell zweiten Lücke im Schutzsystem von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht eine erstaunlich geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Im Folgenden soll deshalb die Frage nach den Adressaten der Verpflichtungen aus Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht näher untersucht werden. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung soll auf Krisensituationen gelegt werden, in welchen es Staaten regelmässig misslingt, Individuen vor Menschenrechtsverletzungen begangen durch nichtstaatliche Akteure zu schützen 257 • Folgende zwei Prüfungsschritte erweisen sich dabei als notwendig: • Als erstes sollen die Verpflichtungen der Staaten unter die Lupe genommen2S8 und dabei insbesondere abgeklärt werden, welche nichtstaatlichen Gruppen und Einzelpersonen im Stande sind, dieses Primärsubjekt völkerrechtlich zu verpflichten. 2!16 Siehe zu diesem Phänomen Peter H. Baehr, The Security Council and Human Rights, in Lawson/de Blois (eds.), The Dynamics ofthe Protection ofHuman Rights in Europe, Essays in Honour of Henry G. Scherrners, Vol. III, 15 ff; Thürer 10 ff, der folgende Situationen der jüngeren Vergangenheit unter diesem Begriff subsumiert: Somalia, Liberia, Bosnien-Herzegowina, Ruanda, Kambodscha, Libanon und Kongo. m Eine vergleichbare Frage stellt sich auch in weniger dramatischen Umständen, falls sich der demokratische Rechtsstaat bewusst und gar menschenrechtlich geboten (so z. B. durch Art. 8 EMRK und Art. 17 Pakt li, die beide einen Privatbereich schützten sollen, welcher staatlicher Kontrolle entzogen sein soll) aus einem individuellen Rechtsbereich zurückhält. Obwohl auch in dieser Konstellation eines staatlichen Vakuums oft private, beispielsweise familiäre Gewalt nicht verhindert werden kann, konzentriert sich die folgende Untersuchung auf das Beispiel innerstaatlicher Konflikte, da in diesem Bereich zusätzlich die Sonderregeln des humanitären Rechts zur Anwendung gelangen. Grundsätzlich lassen sich die ErkeMtnisse aber analog auch auf den privaten Bereich übertragen. Schliesslich wird in Kap. 3 genauerauf die Frage der Geltung von Menschenrechten im privaten Bereich zurückzukommen sein; siehe hinten Kap.3, IV. 2!18 Siehe gleich ansebliessend Abschn. 2.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

• Ansebliessend soll die zweite Möglichkeit genauer betrachtet werden, d. h. es gilt das Bestehen einer selbständigen völkerrechtlichen Verantwortlichkeit extrakonstitutioneller Gruppen und Individuen - nach dem Kriterium des Bestehens einer eigenen Völkerrechtssubjektivität geordnet- zu untersuchen259 • 2. Staaten

a) Allgemeines Die primären Adressaten sowohl der Verpflichtungen aus Menschenrechten wie auch aus humanitärem Völkerrecht sind, wie allgemein im Völkerrecht, die Staaten. Diese Tatsache rührt bereits daher, dass allein diese Akteure als primäre Völkerrechtssubjekte am Zustandekommen völkerrechtlicher Regeln - sei dies durch Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge oder sei es durch eine Gewohnheitsrecht mitkonstituierende Staatenpraxis- beteiligt sind. Da sich zudem die Verpflichtung von Staaten vergleichsweise unproblematisch begründen lässt und sich auch Durchsetzungsansprüche gegen stabile Gebilde, wie sie Staaten in der Regel darstellen, am erfolgversprechendsten erweisen, gewinnt die Frage, welche Organe und Gruppierungen durch ihr Handeln oder Unterlassen Staaten direkt völkerrechtlich zu verpflichten vermögen, entsprechend an praktischer Bedeutung.

b) Zurechenbares staatliches Verhalten aa) Die Zurechenbarkeitsregeln Obwohl, wie oben festgestellt 260, sich die völkerrechtlichen Verpflichtungen eines Staates grundsätzlich auf alle Gebiete unter seiner Kontrolle erstrecken, liegt es auf der Hand, dass nicht jede Verletzung menschenrechtlicher Garantien, die sich auf dem Gebiet unter seiner Jurisdiktion abspielt, dem betreffenden Staat zugerechnet werden kann261 • Dieser Grundsatz erscheint selbstverständlich, wird etwa an gegen Regierungsorgane gerichtete Gewalthandlungen von Mitgliedern aufständischer Bewegungen, an "gewöhnliche" Kriminalität oder an Gewalt im privaten Bereich gedacht. Trotz der grossen praktischen Relevanz der angesprochenen Frage schweigen sich die Menschenrechtsverträge darüber aus, welche Individuen oder Gruppierungen den Staat direkt völkerrechtlich zu verpflichten vermögen. Genau dieser Frazs' Unten Abschn. 3.-5. Siehe oben Abschn. IV. 2. 261 Siehe fUr dieses Prinzip der limitierten Verantwortlichkeit des Staates etwa den ersten Bericht des ILC-Berichterstatters, James Crawford, UN Doc. NCN. 4/490/Add. 5, pal60

ras.l58f.

V. Träger der Verpflichtungen

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genkomplex wird jedoch durch den Entwurf der ILC zum Recht der Staatenverantwortlichkeit in ausführlicher Weise geregelt 262: So ist gernäss der Grundnorm von Art. 3 dieser Kodifikation ein Staat international nur für eine Verletzung des Völkerrechts verantwortlich, falls ein Verhalten oder Unterlassen erstens den Bruch einer völkerrechtlichen Primärnorm bewirkt und zweitens dieses Verhalten dem Staat auch zugerechnet werden kann263• Dieses zweite Element wird vom ILC-Entwurf in den Art. 5-15 in detaillierter Weise normiert264• Diese Bestimmungen werden im Folgenden unter Berücksichtigung der sich auf sie stützenden Praxis menschenrechtlicher Überwachungsorgane dargestellt.

bb) Organe und defacto Organe Art. 5 des Entwurfs der ILC formuliert die Grundregel, wonach das Verhalten staatlicher Organe als Verhalten des Staates gilt, d. h. diesen völkerrechtlich direkt verpflichtet. Wie die folgenden zwei Bestimmungen und auch eine konstante menschenrechtliche Praxis verdeutlichen, ist es dabei irrelevant, erstens zu welcher staatlichen Gewalt - Exekutive, Legislative oder Judikative - das Organ gehört, zweitens auf welcher Hierarchiestufe dieses Organ steht, drittens welcher territorialer Einheit resp. Untergliederung es in Bundesstaaten angehört265 und viertens, ob der Staat in einer hoheitlichen oder in seiner Funktion als Unternehmer auf262 Eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Kodifizierung der Zurechenbarkeitsregeln findet sich in ibid, paras.144ff. 263 Gewisse Autoren verlangen als weiteres konstitutives Element einer Völkerrechtsverletzung das Vorhandensein eines Schadens. Selbst diese Stimmen akzeptieren aber, dass dies im Bereich der Menschenrechte nicht gelten kann (siehe dazu mit weiteren Hinweisen Meron, Customary Law, 201 ff). Was die umstrittene Frage der Notwendigkeit des Verschuldeos als eines weiteren subjektiven Elementes betrifft, so ist Art. 3 ILC-Entwurf als Erfolgshaftung aufgebaut, die Ausgestaltung der Unrechtsausschliessungsgründe (dazu hinten Kap.5, III.2.c) und 4.) dieses Entwurfes zeigt aber, dass die Schuldkomponente in diesem Entwurf nicht völlig gestrichen wurde; so Simma (Grundfragen) 367ff. 264 Zu den Zurechenbarkeitsregeln des ILC-Entwurfs siehe z. B. Caron 126ff; Simma (Grundfragen) 370ff; Achermann 84f und 147ff; Meron (Customary Law) 155ff; Brownlie (Principles) 449ff; ders. (State Responsibility) 132ff; Higgins (Problems and Process) 148ff und den ersten Bericht des Berichterstatters der ILC, James Crawford, UN Doc. A/CN. 4/ 490/Add. 5, paras. l44ff. 265 Gernäss Art. 9 ILC-Entwurf gelten als Organe eines Staates auch diejenigen Organe, welche diesem ein anderer Staat oder eine internationale Organisation zur Verfügung gestellt hat und welche seiner Kontrolle unterstehen. Die Grundregel der Unerheblichkeit der hierarchischen Position des die Völkerrechtsverletzung begehenden Organs wurde vom EGMR bereits im Falle Ireland v. United Kingdom, Series A Vol. 25, para. 159 bestätigt. Siehe dazu Frowein (Probleme) 297. Aussagekräftig erweist sich in dieser Hinsicht auch das Urteil dieses Organs im Falle Lukanow v. Bulgaria judgement of20 March 1997, Reports 1997-11, para.40, wo festgehalten wird, dem Staat seien auch Akte der Judikative zuzurechnen, selbst wenn diese nicht unter der Kontrolle anderer Staatsorgane stehe. Siehe dazu auch Lawson 94 f.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

tritt266 • Von einem völkerrechtlichen Standpunkt aus gesehen gilt der Staat somit als Einheit. Alle diese Organe vermögen jedoch den Staat nur dann zu binden, falls sie auch in ihrer Kapazität als Organe handeln267 • Folglich können Beamte durch ihr privates Verhalten - wie beispielsweise bereits im Jahre 1986 vom damaligen Sonderberichterstatter für Folter anerkannt268 - den Staat völkerrechtlich nicht direkt verpflichten. Andererseits gilt aber, was im Bereich des Menschenrechtsschutzes wesentliche Bedeutung haben dürfte, dass die Entstehung einer Verpflichtung des Staates nie269 ausgeschlossen wird, falls dieses Organ zwar in seiner Kapazität als Organ des Staates, aber ausserhalb seiner zugewiesenen Kompetenzen oder gar gegen klare Instruktion, d. h. ultra vires, gehandelt hat270 • 266 Erster Bericht des Sonderberichterstatters der ILC,James Crawford, UN Doc.NCN.4/ 490/Add.5, para. 177 sowie bereits der EGMR in Swedish Engine Driver's Union Case, Series A Vol 20, para. 37. m Art. 5 ILC-Entwurf: ,,For the purposes of the present articles, conduct of any State organ having that status under the intemallaw of that State shall be considered as an act of the State concemed under intemationallaw, provided that organwas acting in that capacity in the case in question". Diese Umschreibung wird von Meron (Customary Law, 156) als ungenau kritisiert. Siehe dazu auch die Stellungnahme der USA zu diesem Entwurf (ILM 1998, 468ft), welche dazu ausführt: "[T]he intemallaw loophole in article 5 effectively creates the possibility for a wrongdoing state to plead intemallaw as a defense to an unlawful act. Under this forrnulaic rule, it could be that according to some state law, the conduct of state organs will be attributable to the state, while the conduct of identical entities in other states will not be attributable to the state". 268 Report des UN Sonderberichterstatters für Folter, Pieter H. Kooijmans, UN Doc. E/ CN.4/1986/15, 11, para. 38: "[P]rivate acts ofbrutality- even the possible sadistic tendencies of particular security offi.cials- should not imply State responsibility. Since these would norrnally be ordinary criminal offences under nationallaw". 269 Die ILC scheint in diesem Punkt eine strikte Linie zu verfolgen; siehe Yearbook ILC 1975 II, 61, para. 1: "There is no exception to this rule even in the case of manifest incornpetence of the organ perpetrating the conduct complained of, and even if other organs of the State have disowned the conduct of the offending organ". Siehe dazu auch Simma (Grundfragen) 371f. 270 Art.IO ILC-Entwurf: "The conduct of an organ of a State (...) shall be considered as an act of the State under intemationallaw even if, in the particular case, the organ exceeded its competence according to intemallaw or contravened instructions conceming its activity". Dies bedeutet im menschenrechtliehen Bereich, dass sich z.B. ein Staat nie für die Folterung von Häftlingen mit dem Hinweis, Folter sei ein Verbrechen gernäss internem Strafrecht resp. solche Handlungen seien entgegen einem ausdrücklichen Verbot der vorgesetzten Stelle erfolgt, der völkerrechtlichen Verantwortung entziehen kann. Die Verhinderung solcher Schlupflöcher war denn auch das erklärte Ziel der ILC. Siehe Yearbook ILC 1975 II, 69, und dazu auch Prowein (Probleme) 298 und Meron (Customary Law) 157f, der diese Regel als Bestandteil des Gewohnheitsrechts einstuft. Ein Beleg für diese Einschätzung sieht dieser Autor in der Bestimmung von Art. 91 ZPI, die festhält, dass der Staat ,,für alle Handlungen verantwortlich ist, die von den zu ihren Streitkräften gehörenden Personen begangen werden". So auch der IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol. 4, paras. 169ff, und Neira Alegria v. Peru, Series C Vol.l3, para. 63: "The Court considered it unnecessary to analyze whether the functionaries and authorities who took part in the eroshing of the riot acted consistently with their

V. Träger der Verpflichtungen

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Die bisher erwähnten Organe, deren Handlungen dem Staat zugerechnet werden können, teilen die Gemeinsamkeit, dass sie auch formell Teil der offiziellen staatlichen Verwaltung sind. Staatliche Verantwortung kann jedoch nicht allein durch diese Organe entstehen. So hält Art. 7 Abs. 2 des Entwurfs, wiederum in Übereinstimmung mit einer entsprechenden menschenrechtliehen Praxis, fest, dass auch eine Einheit, welche formell nicht der staatlichen Verwaltung zugehört, diesen verpflichtet, falls sie vom Staat zur Ausübung von Staatshandlung ermächtigt worden ist271 • Zusätzlich - und diese Regel erweist sich von grossem Belang im Bereich des völkerrechtlichen Individualschutzes - statuiert Art. 8, dass der Staat im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag auch durch Akte von de facto Organen, die ohne eigentliche Kompetenzdelegation gehandelt haben, völkerrechtlich haftet. Aus den Bestimmungen von Art. 7 und 8 des ILC-Entwurfs lässt sich somit der Grundsatz herleiten, dass eine explizite oder implizite Delegation von Aufgaben, welche eine Verletzung menschenrechtlicher Verpflichtungen des delegierenden Staates implizieren oder wahrscheinlich erscheinen lassen, an Verbände wie paramilitärische Verbände oder der Geheimpolizei272, nichts an der Entstehung einer difunctio'ns and in accordance with domestic law, since the responsibility for the actions of the Government functionaries is attributable to the State independently of whether the functionary contravened provisions of intemal law or overstepped the Iimits of its authority; under internationallaw a State is responsible for the acts of its agents undertaken in their official capacity and for their omission even when those agents act outside of their authority or violate intemal law". Siehe dazu auch die Entscheide des EGMR im Falle McCann and Others v. United Kingdom, Series A Vol. 324, para. 180, und des Ausschusses für Menschenrechte, Communication 449/1991, Mojica v. Dominican Republic, para. 5.6. 271 Siehe zur diesbezüglichen Praxis des EGMR z.B. Costello-Roberts v. United Kingdom, Series A Vol.247-C (Leiter einer Privatschule); Cosado Cocas v. Spain, Series A Vol.285 (Anwaltskammer), und Forde 266ff. Für eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Praxis des Ausschusses für Menschenrechte siehe Zwaart 90 f. 272 /an Brownlie, State Responsibility: The Problem of Delegation, in Ginther et al. (Hrsg.), Völkerrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Realität, Festschrift für Karl Zemanek, Berlin 1994, 300; Simma (Grundfragen) 37; Dipla 67 ff; Lawson 95 f und Meron (Customary Law, 163), der das Beispiel von terroristischen Anschlägen begangen durch staatlich kontrollierte Gruppen ausserhalb des eigenen Staatsgebietes erwähnt. Siehe für die Rechtsprechung des US- Iran Claims Tribunal bzgl. einer Verantwortung Irans für das Verhalten der Revolutionsgarden Caron 138 ff. Besonders interessant in diesem Zusammenhang erscheint der Fall Yeagerand Iran (17 C.T.R. 92 [1987-IV], para.42), wo das Gericht festhält: .,While there is some doubt as to whether revolutionary ,Komitehs' or ,Guards' can be considered ,organs' of the Government of Iran, since they were not formally recognized during the period relevant to this Case, attributability of acts to the State is not limited to acts of organs formally recognized under intemallaw. Otherwise a State could avoid responsibility under intemationallaw merely by invoking its intemallaw. lt is generally accepted in intemationallaw that a State is also responsible for acts of persons, if it is established that those persons were in filct acting on behalf of the State. (...)An act is attributable even if apersonor group of persons was in fact merely exercising elements of governmental authority in the absence of the official authorities (...)in operations ofwhich the new Government must have had knowledge and to which it did not specijically objecf' (Hervorhebungen durch den Autor). Es gilt deshalb mit anderen Worten eine Vermutung für die Zurechenbarkeit, falls der Staat bei Wissen um die Ausübung

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

rekten staatlichen Verantwortlichkeit ändert. Dies gilt zumindest dann, wenn eine tatsächliche Kontrolle des Staates über das Verhalten dieser Gruppierungen nachgewiesen werden kann 273 • Die grosse praktische Bedeutung der Zurechenbarkeit des Handeins solcher Organe zu einem Staat, wurde neulich im Fall des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien manifest: So gewährleistet eine derartige Zurechenbarkeit nicht nur eine klare völkerrechtliche Verantwortung für das Verhalten solcher Gruppen, sondern sie vermag, wie erwähnt 274 , auch zu bewirken, dass Konflikte zwischen Aufständischen, falls diese de facto Organe eines Drittstaates sind, und dem Staat, auf dessen Territorium sich ein Konflikt abspielt, als internationale Auseinandersetzung gelten. Im Sachurteil The Prosecutor v. Dusko Tadic gelangte die Appeals Chamber des ICfY nach ausführlichen Erwägungen zum Schluss, eine nichtstaatliche Gruppe erfülle das Anforderungsprofil eines de facto Organs während bewaffneten Auseinandersetzungen, falls einem Drittsaat eine bedeutsame Rolle in der Organisation, der Koordination, der Finanzierung, der Ausbildung, der Ausrüstung und der Gewährung Operationeller Hilfe zukomme. Hingegen ist gernäss dieser Rechtsprechung für die Entstehung einer Verantwortlichkeit des Drittstaates nicht notwendig, dass die zu beurteilenden Handlungen gestützt auf eine direkte Instruktion des Staates erfolgten275. Diese allgemeinen Regeln wurden im Hinblick auf die verschiedenen möglistaatlicher Autorität durch das de facto Organ nichts dagegen unternimmt. Siehe in diesem Zusammenhang auch EGMR, Loizidou v. Turkey (merits) judgement of 18 December 1996, Reports 1996-VI, para. 56, wo die Organe der Republik Nordzypern implizit als de facto Organe der T!lrkei eingestuft werden. Interessant auch die Aussage der EKMR zum Verhalten türkischer Dorfschiltzer im Entscheid Kurt v. Turkey, Application 24276/94, para. 210, wobei nicht völlig klar wird, ob einer direkten Zurechenbarkeit von Handlungen der DorfschOtzer oder einer Verhinderungspflicht der türkischen Behörden das Wort geredet wird: "The participation of armed civilians in security operations, where citizens may be subject to measures of detention and the use of force, calls for careful control and strict accountability in order to prevent abuse ofpower". 273 Im Falle Military and Paramilitary Activities in and Against Nicaragua, ICJ Reports 1986, 65, para.115, hielt der IGH fest, dass eine Verantwortung der USA für das Verhalten der "Contras" nur unter folgender Voraussetzung gegeben wäre: "[F]or [the Contras) conduct to give rise to legal responsibility of the United States, it would in principle have tobe proved that the State had effective control of the military or paramilitary operations in the course of which the alleged violations were committed". Siehe die Interpretation dieses Urteils durch den ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic (Judgement; Anrn.61), paras.102ff. Vgl. dazu auch anschliessend Anrn.275f. 274 Siehe oben Abschn. IV. 3. b) aa) (3). m ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Dusko Tadic (Judgement; Anrn. 61), para.l37: "Where the question at issue is whether a singleprivate individual or a group that is not militarily organised has acted as a de facto State organ when performing a specific act, it is necessary to ascertain whether specific instructions conceming the commission ofthat particu1ar act had been issued by that State to the individual or group in question; altematively, it must be established whether the unlawful act had been publicly endorsed or approved ex post facto by the State at issue. By contrast, control by a State over subordinate armed forces or militias or paramilitary units may be of an overall character (and must comprise more than the mere provi-

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chen faktischen Umfelder, in welchende facto Organe Parteien eines bewaffneten Konfliktes sein können, mit folgendem obiter dieturn weiter verfeinert276: "138. Of course, if, as in Nicaragua, the controlling State is not the territorial State where the armed clashes occur or where at any rate the armed units perform their acts, more extensive and compelling evidence is required to show that the State is genuinely in control of the units or groups not merely by financing and equipping them, but also by generally directing or helping plan their actions. 139. The same substantial evidence is required when, although the State in question is the territorial State where armed clashes occur, the general Situation is one of turmoil, civil strife and weakened State authority. 140. Where the controlling State in question is an adjacent State with territorial ambitions on the State where the conflict is taking place, and the controlling State is attempting to achieve its territorial enlargement through the armed forces which it controls, it may be easier to establish the threshold".

cc) Private Falls Private keine der oben genannten Qualifikationen erfüllen und damit auch Private im Sinne der Zurechenbarkeitsregeln sind, ist ihr Verhalten dem Staat nie zurechenbar277. Damit gilt, dass der Staat durch die Akte krimineller Vereinigungen, nichtstaatlicher Akteure im Bürgerkrieg, bewaffneter Oppositionsgruppen oder durch Übergriffe der Mehrheit auf Minderheiten, aber auch durch auf seinem Terrision of financial assistance or military equipment or training). This requirement, however, does not go so far as to include the issuing of specific orders by the State, or its direction of each individual operation. Under international law it is by no means necessary that the controlling authorities should plan all the operations of the units dependent on them, choose their targets, or give specific instructions conceming the conduct of military operations and any alleged violations of international humanitarian law. The control required by intemationallaw may be deemed to ex.ist when a State (or, in the context of an armed conflict, the Party to the conflict) has a role in organising, coordinating or planning the military actions of the military group, in addition to financing, training and equipping or providing operational support to that group. Acts performed by the group or members thereof may be regarded as acts of de facto State organs regardless of any specific instruction by the controlling State conceming the commission of each of those acts". Siehe zum Ganzen auch den ersten Bericht des ILC Sonderberichterstatters, James Crawford, UN Doc.NCN.4/490/Add.5, paras.200ff. 2' 6 lbid. Siehe dazu auch William J. Fenrick, The Application of the Geneva Conventions by the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, IRRC 1999, 317 ff. m Art. 11 ILC-Entwurf: "1. The conduct of a person not acting on behalf of the State shall not be considered as an act of the State under intemationallaw". In diesem Zusammenhang gelten auch die Akte von Organen fremder Staaten und internationaler Organisationen als Akte von Privaten, d. h. von Nichtorganen des Staates (Art. l2 und 13 ILC-Entwurf). Siehe dazu z. B. Epiney 106ft'; Simma (Grundfragen) 372; Achermann 149f. Gernäss dem gegenwärtigen Sonderberichterstatter der ILC soll diese Bestimmung zusammen mit den anderen ,,negativen" Bestimmungen der Art.l2-14 aus dem ILC-Entwurf gestrichen werden, ,,since those articles were circular in substance as weil as expression". Vgl. auch Crawford 439. II Kunzli

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

torium handelnde Organe eines Drittstaates278 oder einer internationalen Organisation279 grundsätzlich nicht direkt verpflichtet werden kann 280. Diese eindeutige Sekundärregel schliesst aber keinesfalls aus, dass dieses private Verhalten erst durch eine dem Staat direkt zurechenbare Verletzung einer Handlungs- oder Schutzpflicht seiner Organe ermöglicht wurde. Privates Handeln kann deshalb, allerdings nur auf diesem indirekten Weg, die Ursache einer Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht durch einen Staat bilden281 . Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn er nicht mit der notwendigen Vorsicht Massnahmen zur Verhinderung menschenrechtstangierender privater Akte ergriffen hat oder falls besondere Zurechnungstatbestände vorliegen 282. Ob aber eine menschenrechtliche Garantie eine solche Verhinderungspflicht umfasst, ist keine Frage der Zurechenbarkeitsregeln, sondern ist durch Auslegung der relevanten Primärnormen abzuklären283 .

278 Art. 12 ILC-Entwurf; diese Regel gilt jedoch gernäss Art. 9 ILC-Entwurf explizit nicht, falls Organe eines Drittstaates einem Staat zur Verfügung gestellt werden und unter ausschliesslicher Weisungsbefugnis von Letzterem stehen. Siehe dazu Yearbook ILC 1975 II, 83ff. 279 Art.l3 ILC-Entwurf. Der Kommentar zu dieser Bestimmung findet sich in Yearbook ILC 1975 II, 87ff. 280 Siehe Yearbook ILC 1975 II, 71, para. 3: .,The acts of private persons (...) are in no circumstances attributable to the State", und 82, para. 35: .,The acts of private persons not acting on behalf of the State cannot be attributed to the State and cannot as such involve the responsibility of the State". 281 Siehe dazu z. B. den zweiten Bericht des Sonderberichterstatters der ILC, Roberto Ago, Yearbook ILC 1970 II, 188, para. 35: .,With regard to the conduct which must be susceptible of being considered as conduct of the State, what can be said in general isthat it can be either positive (action) or negative (omission). lt can even be said that the cases in which the international responsibility of a State has been invoked on the basis of an omission are perhaps more numerous than those based on action taken by a state. There has been innumerable cases in which States have been held responsible for darnage caused by individuals ( ...) [T]hese ( ...) cases of State responsibility for acts of individuals are really cases of responsibility of the State for omissions by its organs, the State is responsible for having failed to take appropriate measures or punish the individual's act". So auch Gordon A. Christenson, The Doctrine of Attribution in State Responsibility, in Lillich (ed.), International Law of State Responsibility for Injuries to Aliens, Charlottesville 1983, 326ff. Zwar undeutlich, aber wohl in die gleiche Richtung weisend, auch Leckie (lndivisibility, 111 ), der unter dem Titel ,,Nonstate Actors" ausfUhrt: .,Traditional views of human rights law distinguish between public and private actors. This once widely accepted dichotomy, however, has become blurred suchthat private actors ( ...) now be deemed liable for violations of economic, social and cultural rights. ( ...) The horizontal effectiveness of rights ( ...) impliesdte existence of correlative state duties to ensure the protection of an individual's rights from violation by third parties not generally linked to the state". 282 Dazu ausftlhrlich Epiney 135 ff. 283 Zur Verpflichtung der Staaten, die Verletzung menschenrechtlich geschützter Positionen im privaten Rahmen zu verhindern, siehe ausftlhrlich hinten Kap. 3, IV.

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dd) Aufständische Die Art. 14 und 15 ILC-Entwurf enthalten spezielle Zurechnungsregeln für das Verhalten aufständischer Bewegungen. Die erste Bestimmung hält dabei als Konkretisierung des Art. 11 ILC-Entwurf den Grundsatz fest, dass das Handeln solcher Gruppierungen dem Staat nicht zugerechnet werden kann284• Dieser Schluss gilt allerdings nur für eine direkte Verpflichtung des Staates durch das Verhalten von Aufständischen. Denn auch im Falle einer Rebellion kann ein Staat eine durch Primärnormen stipulierte eigene Verhinderungspflichten verletzen, falls er es - was ihm jedoch wohl nur selten nachgewiesen werden kann 285 - beispielsweise versäumt, Eingriffe solcher Gruppen in menschenrechtlich geschützte Positionen unter Anwendung der dafür notwendigen Sorgfalt rechtzeitig zu unterbinden resp. zu beenden286• Nicht geregelt wird durch diese Bestimmung - da der Entwurf der ILC sich ausschliesslich der Regelung der staatlichen Verantwortlichkeit widmet- die Frage einer eigenen völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Aufständischen 287 • Endet eine Rebellion oder ein Aufstand aber mit dem Erfolg einer aufständischen Bewegung, kann ausnahmsweise das Verhalten solcher "privater" Gruppen retroaktiv direkt einem Staat zugerechnet werden. Eine solche rückwirkende Zurechnung wird durch den ILC-Entwurf in zwei Fällen anerkannt: Erstens, falls die frühere Rebellenbewegung die neue Regierung des bisherigen Staates bilden und zweitens, 2M Die Ablehnung der Zurechenbarkeit des Verhaltens revolutionärer Gruppen rührt insbesondere aus der Tatsache, dass deren Handeln oder Unterlassen meist gegen die amtierende Regierung gerichtel ist; siehe Epiney 144. 285 Yearbook ILC 1975 II, 92, para. 4. 286 Siehe Brownlie (State responsibility) 139f; Simma (Grundfragen) 372; Epiney l45f; Achermann 150; Stefan Wolf, Die gegenwärtige Entwicklung der Lehre über die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten, ZaöRV 1983, 510ff; Michael Akehurst, State Responsibility for the Wrongful Acts of Rebels- An Aspect of the Southem Rhodesia Problem, BYIL 1968, 49ff, und Yearbook ILC 1975 II, 92, para.4, und 94f, paras.16f: ,,lt will rarely be possible to accuse a Stale of failing in its own obligations of vigilance and protection in relation to the conduct of organs of an insurrectional movement because, most of the time, the actions in question are entirely beyond its control" (a. a. 0., para. 4). In der Praxis der Überwachungsorgane der Menschenrechtsverträge finden sich keine Hinweise darauf, dass je versucht wurde, das Verhalten von Aufständischen einer Vertragspartei zuzurechnen (siehe z. B. die Fälle gegen die Türkei vor dem EGMR seit 1997). Andererseits wurde in solchen Situationen sOIVeit ersichtlich noch nie die Verletzung einer Unterlassungspflicht durch einen Vertragsstaat konstatiert. Dieser Befund gilt jedoch nicht für die Afrikanische Kommission für Menschenrechte, die bezüglich der Bürgerkriegssituation im Tschad zwar auch zwischen Handlungen von Organen des Staates und denjenigen von Aufständischen unterscheidet, aber von einer umfassenden Verhinderungspflicht des Staates ausgeht, wenn sie lapidar festhält: ,,In the present case, Chad has failed to provide security and stability in the country, thereby allowing serious and massive violations of human rights. ( ...) Even where it cannot be proved that violations were committed by govemment agents, the govemment bad a responsibility to secure the safety and the liberty of its citizens". Communication 74/92, Commission Nationale des Droits de l' Homme et des Libertes v. Chad, para. 22 (abgedruckt in HRU 1997, 34 f). 287 Simma (Grundfragen) 372f; siehe dazu auch unten Abschn. 3.-5.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

wenn sie einen neuen Staat, der sich im Gefolge eines Aufstandes von einem bisherigen Staat abspaltete, gründen kann 288 • In dieser Hinsicht bestätigt Art.l5 des Entwurfs geltendes Gewohnheitsrecht289, indem gestützt auf das Prinzip der Billigkeit290 und eigentlich der Logik des Aufbaus des ILC-Entwurfes widersprechend291 , eine Zurechnung des Verhaltens von Gruppen, die vor ihrem Erfolg wie Private zu behandeln sind, zum Staat akzeptiert wird. Diese Regelung in der Kodifikation der ILC lässt sich aber auch mit dem Prinzip der Kontinuität292 völkerrechtlicher Verpflichtungen erklären, indem die neue Regierung oder der neue Staat als Fortsetzung der bisherigen aufständischen Gruppe betrachtet werden293 • 288 Art.l5 ILC-Entwurf: .,1. The act of an insurrectional movement which becomes the new g.ovemment of a State shall be considered ;15 an act ofthat State. (...) 2. The act of an insurrectional movement whose action results in the formation of a new govemment in part of the territory of a pre-existing State (...) shall be considered as an act of the new State". Damit bleibt aber die heikle Frage ungelöst, wann private Handlungen als solche im Sinne von Art. 14 gelten und demzufolge pot~ntiell fähig sind, zukünftig eine staatliche Verantwortung auszulösen; Simma (Grundfragen) 373. Klar ist jedenfalls, dass sich diese Grenzlinie nicht entlang der Unterscheidung von Befreiungsbewegungen und anderen aufständischen Gruppen des humanitären Völkerrechts resp. des Selbstbestimmungsrechts der Völker zieht; Atlam 37. Siehe auch Yearbook ILC 1975 II, 92, para. 7: .,[T]he Commission is (...) not required to say anything about the various forms which insurrectional movements may take according to whether there is a relatively limited intemal struggle, a genuine civil war situation, an anticolonial struggle, the action of a nationalliberation front, revolutionary or counter-revolutionary movement and so on, or about the questions which may arise in connection with the problern of the internationallegitimacy of some of these forms". Später wird ausgeführt, ,,no distinction should be made, for the purpose of this article [15] between different categories of insurrectional movements (...)".An anderer Stelle (a.a.O. 91, para.3) erwähntjedoch der Kommentar der ILC gewisse Anforderungen, wie die Kontrolle über ein Territorium und eine gewisse organisatorische Struktur der aufständischen Bewegung, als Voraussetzung für eine Anwendung des Art. 15 ILC-Entwurf. Der Sonderberichterstatter der ILC, James Crawford (UN Doc. NCN. 4/490, para. 273), schlägt vor, .,the threshold for the application of the laws of armed conflict (...) as a guide" heranzuziehen. So auch Epiney 138, welche diese Rechtsfolge nur annimmt, falls die Aufständischen die Qualität eines de facto Regimes besitzen, d. h. falls diese ein gewisses Gebiet mit einer gewissen Stabilität unter ihrer Kontrolle haben. 289 Simma (Grundfragen) 373; Epiney 152; Caron 145 und Meron (Customary Law) 162. 290 Epiney 156. 291 Brownlie (State Responsibility) 178. 292 Yearbook ILC 1975 II, 100, para.4, und 101, para.6, sowie Caron 144. 293 Dies ändert jedoch nichts daran, dass im Falle der ersten, der in Art. 15 des Entwurfs genannten Konstellationen dem Staat nicht nur das Verhalten der früheren Rebellen, sondern im Sinne einer doppelten Kontinuität auch dasjenige der Vorgängerregierung zugeschrieben wird; Yearbook ILC 1975 II, 101, para. 7, undAtlam 52. Diese Schlussfolgerung gilt selbstverständlich nicht für die zweite Situation - die Sezession - da in diesen Fällen der bisherige Staat, wenn auch territorial verkleinert, weiter existiert. Von diesen Fragen gilt es wiederum das Problem, welche völkerrechtlichen Verpflichtung des Vorgängerstaates auf den infolge der Sezession neu entstandenen Staat übergehen, zu unterscheiden. Von Relevanz ist dabei insbesondere, ob auf den neuen Staat und damit indirekt auch auf die siegreiche aufständische Gruppe auch die vertraglichen Verpflichtungen des bisherigen Staatsgebildes übergehen. Diese Zurechnungsregel enthält immanent aber- wie aus der Praxis des US-Iran Claims Tribunals exemplarisch hervorgeht (dazu Caron 144tl)- ein weiteres Problem, das von der

V. Träger der Verpflichtungen

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c) Zurechenbarkeitsregeln und Menschenrechte Die Zurechenbarkeitsregeln gehören zu denjenigen Bereichen des Rechts der Staatenverantwortlichkeit, in welchen sich der ILC am eindeutigsten auf eine nahezu einheitliche Meinung der Doktrin resp. auf eine gewohnheitsrechtliche Grundlage abstützen konnte 294 • Infolgedessen ging die ILC für diesen Teilbereich besonders deutlich von einer Grundannahme aus, dass die Grundsätze der Zurechenbarkeit in allen Gebieten des Völkerrechts, d. h. auch im Bereich der Menschenrechte Anwendung zu finden hätten. In diesem Sinn führte beispielsweise der Sonderberichterstatter der ILC, Roberto Ago, aus, die Normierung des ILC-Entwurfs in diesem Bereich ,Jormulate a really general rule to cover all cases of violation of international obligations, and especially of the basic obligations of the State, whether they concemed security, peace, the sovereignty and the independence of States, or the protection of fundamental human rights" 295 •

Trotz der eben illustrierten einheitlichen Praxis verschiedener Menschenrechtsorgane, die deutlichen Beleg für eine grundsätzliche Anwendbarkeit dieser Regeln gibt, sowie der klaren Absicht der ILC stösst die Anwendung dieser Regeln im Bereich der Menschenrechte in der Doktrin nicht auf ungeteilte Zustimmung296: • Generell abgelehnt wird eine Abstützung auf diese Bestimmungen von Clapham, der argumentiert, "that intemationallaw on State responsibility is not, and should not be, considered appropriate in the context of the European Convention" 297• Als Argument für diese Meinung weist dieser Autor insbesondere darauf hin, die dem ILC-Entwurf inhärente Dichotomie zwischen privatem und staatlichem Verhalten ILC bewusst übergangen wurde: Damit eine Handlung gernäss Art. 15 ILC-Entwurf als Handlung des Staates betrachtet werden kann, ist es notwendig, vorgängig abzuklären, ob eine Handlung der früheren revolutionären Gruppe zugerechnet werden kann. In pragmatischer Weise wendet dieses Gericht die Grundsätze der ILC auch in der erwähnten Situation an. So z. B. Short and Iran 16 C. T.R. 76 (1987-III), para. 34: "The acts of supporters of a revolution cannot be attributed to the govemment following the success of the revolution just as the acts of supporters of an existing govemment are not attributable to the govemment". 294 Meron (Customary Law) 161; Simmo (Grundfragen) 370. 295 Yearbook ILC 1975 I, zitiert nach Meron (Customary Law) 160. 296 Die Mehrheit der Doktrin teilt jedoch, falls sie sich überhaupt zu dieser Frage äussert, wenn auch oft undeutlich die Meinung der ILC: Ramcharan 242ff; Meron (Customary Law) 160; Lawson 98ff; Forde 264ff; Achermann 147ff; Merrills 109ff; Zwaart 90ff und 99ff; Leckie (lndivisibility) 108ff; Dipla 99ff; Luigi Condorelli, L'imputation ~!'Etat d'un fait intemationalement illicite, RdC Vol. 189, 1984-VI, 149ff mit weiteren Hinweisen, und Chris Warbrick, The European Convention on Human Rights and the Prevention ofTerrorism, ICLQ 1983,94. 297 Clapham 188, eine identische Aussage findet sich in ders., The ,,Drittwirkung" of the Convention, in McDonald/Matscher/Petzold (eds.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht/Boston/London 1993, 170.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

führe zu willkürlichen Ergebnissen 298 • Dieser Meinung kann m. E. nicht beigepflichtet werden: Wie die Übersicht über die Praxis gezeigt hat, wenden Menschenrechtsorgane nicht nur nahezu ausnahmslos diese Prinzipien an, sondern es existiert, soweit ersichtlich, kein Entscheid eines solchen Organs, in welchem das Handeln privater Individuen oder Gruppierungen im Sinne von Art. 11-14 des ILC-Entwurfs einem Staat zugerechnet wurde299• Ein effektiver Schutz der Individuen unter der Jurisdiktion eines Staates gegenüber menschenrechtsgefährdenden Akten von Privaten hängt denn auch nicht primär von den Sekundärregeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit ab 300• Entscheidend dürfte vielmehr sein, wie umfassend die entsprechenden primären Verpflichtungen der Menschenrechtsverträge ausgestaltet sind, d. h. insbesondere, ob und in welchem Umfang dem Staat kraft Primärregeln eigene Verpflichtungen zum Schutz von Personen unter seiner Jurisdiktion gegenüber den Übergriffen von mächtigeren resp. aggressiveren Individuen und privaten Einheiten auferlegt werden 301 . • Zwei weitere Autoren bezweifeln nur die Angemessenheil der Zurechenbarkeitsregeln von Art. 14 und 15 des ILC-Entwurfs in Situationen der Auflösung staatlicher Autorität. Sie betrachten die generelle Anwendung der Unrechtsausschliessungsgründe der höheren Gewalt und des Staatsnotstands als sachgerechtere Lösung302. Auch dieser Einwand vermag m. E. nicht zu überzeugen: Denn eine An298 lbid., Anm. 29: "(T]he public intemationallaw framework should not be followed (...): the Convention does not primarily operate at the inter-state Ievel, as it grants remedies to individuals; effective protection demands that the Convention control private actors; the Convention takes effect in the national order of the Contracting Parlies ( ... ); a public/private dichotomy is arbitrary, unreasonably discriminatory, and perpetrates the exclusion of certain kinds of violations of rights which are then ,forgotten' ( ... )". An anderer Stelle stuft dieser Autor eine solche Anwendung gar als ,,meaningless and dangerous" ein (a. a. 0. 136). 299 Dies insbesondere auch nicht, wie Clapham (190: ,,It is therefore now beyond doubt that States can be held responsible under the Convention even where the action which is proscribed by the Convention is not carried out by that State 's own agents") m. E. flilschlicherweise unter Bezugnahme auf das Soering-Urteil argumentiert, in den denjenigen Fällen, in welchen der Menschenrechtsausschuss und der EGMR eine Auslieferung bei drohender Folter als selbständige Verletzung des Folterverbotes durch den ausliefernden Staat qualifizierten. Denn auch in diesen Fällen wird die Auslieferung durch Organe des Staates ausgeführt (Soering v. United Kingdom, Series A Vol.161, para. 91). Siehe dazu auch hinten Kap.3,IV.5.e)bb). Ausdrilcklich im hier vertretenen Sinn abgelehnt wird die Meinung Clapham' s auch durch Lawson 98 ff. 300 Die Zurechnung von privatem Handeln zum Staat kann zudem zu absurden Resultaten fUhren. So z. B. falls das Handeln einer terroristischen Gruppe, welche gegen die staatlichen Autoritäten kämpft, aber in einem konkreten Fall menschenrechtliche Positionen von Privaten verletzt, dem Staat zugerechnet werden soll. Sachgerechter als eine Zurechnung des Handeins einer Gruppe, die völlig ausseehalb seiner Kontrolle steht, zum Staat, scheint die Anerkennung einer eigenen Verpflichtung des Staates, falls diese Schädigung privater Interessen auf einer pflichtwidrigen Unterlassung der Schutzgewährung staatlicher Organe beruht. 30' Zu diesen Schutzpflichten siehe hinten Kap. 3, IV. 302 Matthias Herdegen, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt im Völkerrecht: The ,,Failed State", in Thürer/Herdegen/Hohloch, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: ,.The Failed State", Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Band 34, 77 ff, und diesem zustimmend Achermann 151.

V. Träger der Verpflichtungen

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wendung der Unrechtsausschliessungsgriinde macht in einem zweiten Schritt eines Prüfungsprogramms nur Sinn, falls in einem ersten das Bestehen eines völkerrechtlichen Deliktes und damit die auch Zurechenbarkeit eines Verhaltens festgestellt werden konnte. Eine solche generelle Zurechenbarkeit von Akten Aufständischer zum Staat hätte aber absurde Resultate zur Folge, z. B. dass Kriegsverbrechen von Aufständischen gegen Angehörige der staatlichen Armee als Akte des Staates eingestuft würden 303 • Da jedoch eine Verantwortung des Staates infolge der vorgeschlagenen grosszügigen Anwendung der Rechtfertigungsgründe in einem zweiten Schritt routinemässig ausgeschlossen würde, erhöhte sich das menschenrechtliche Schutzniveau bei Anwendung dieser Lösung keinesfalls. Es erscheint deshalb nicht nur dogmatisch korrekt, sondern auch sachgerecht, auch in Situationen von "failed states" die Verantwortung des Staates auf eigenes Verhalten zu beschränken, das, wie erwähnt, auch in einem Unterlassen von Vorsorge- und Handlungspflichten bestehen kann 304• Zusammengefasst gilt, dass die Zurechenbarkeitsregeln, wie sie im Entwurf des ILC-Entwurfs festgehalten werden, in integraler Weise auch im Gebiet der Menschenrechte zur Anwendung gelangen. 3. Nationale Befreiungsbewegungen a) Die Rechtsstellung nationaler Befreiungsbewegungen im Völkerrecht

Zwar nicht die nationalen Befreiungsbewegungen an sich, aber das Volk, als dessen Organ diese fungieren, nehmen im Völkerrecht eine Sonderstellung ein. Diese Besonderheit manifestiert sich in der Tatsache, dass sie neben Staaten und internationalen Organisationen heute als weiteres Subjekt des Völkerrechtes anerkannt werden 305 und damit Adressaten von Rechten aber auch von Pflichten des Völker303 Weiter erscheint m. E. schwer nachvollziehbar, warum einem Staat ausgerechnet in einer Situation, in welcher er um seine Existenz ringt, zusätzlich das Verhalten von nichtstaatlichen Gruppierungen, die ihn weiter zu schwächen trachten, zugerechnet werden soll. 304 So auch Epiney 139 ff mit ausführlichen Hinweisen auf die Praxis. 305 In der Literatur wird oft nicht unterschieden zwischen der Stellung des Volkes, das als Träger des Selbstbestimmungsrechts das Völkerrechtssubjekt ist, und derjenigen der Befreiungsbewegung, die als Organ des Volkes im selben Verhältnis wie eine Regierung zum Staat steht. Diese mangelnde Differenzierung mag wohl daher rUhren, dass diese Völker oft nur im Zusammenhang mit der bekannteren Befreiungsbewegung wahrgenommen werden. Zumindest eine partielle Völkerrechtssubjektivität von selbstbestimmungsberechtigten Völkern resp. Befreiungsbewegungen anerkennen z.B. Nowak (Commentary) 19ff; Verdross/Simma 246f; Doehring 116; Atlam 43 ff; Epiney 138; Brownlie (Principles) 62f; Cassese, Self-Determination of Peoples, Oxford 1995, 141 ff, Philippe Cahier, Changement et continuit~ du droit international, RdC Vol. 195, 1985-VI, 148 ff, und Konrad Gimher, Liberation Movements, EPIL, Vol. 3, 245 ff. Diese Einigkeit in der Frage der Subjektqualität solcher Völker an sich darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Frage, welches die Kriterien für eine solche Anerkennung sind, zu den umstrittensten des Völkerrechts gehört; siehe dazu oben Abschn. IV. 3. b) aa)(2).

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

rechts sein können. Da sich die sogenannten Befreiungskriege gernäss Art. 1 Abs. 4 ZPI gerade durch die Teilnahme einer solche Gruppe definieren, stellt sich die Frage, ob in solchen Fällen nicht nur der Staat kraft einer indirekten Zurechenbarkeit, sondern diese Organisation resp. das durch sie vertretene Volk infolge einer direkten eigenen völkerrechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der Garantien des Rechts der internationalen Konflikte aber auch der Menschenrechte gebunden ist306•

b) Verpflichtungen aus Menschenrechten? Als Subjekt des Völkerrechts stehen das selbstbestimmungsberechtigte Volk resp. die Mitglieder von Befreiungsbewegungen als dessen Organe unter der Verpflichtung, gewohnheitsrechtlich geltende Menschenrechte zu beachten. Soweit Garantien ausschliesslich in Vertragsform enthalten sind, lässt sich eine Bindungswirkung nur schwer konstruieren, da solche Gruppen kaum je Vertragspartei sind und sein können und deshalb durch vertragliche Instrumente nicht verpflichtet werden. Eine Bindungswirkung liesse sich allenfalls erreichen, falls ein solches Volk resp. dessen Organ als Nukleus eines neuen Staates eingestuft werden und deshalb das Recht der Staatennachfolge analog bereits auf Befreiungsbewegungen angewendet würde. Da im Rechtsgebiet von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht in den letzten Jahren eine Tendenz weg vom tabula-rasa- hin zum Kontinuitätsprinzip zu beobachten ist307, liesse sich mittels eines Analogieschlusses allenfalls eine vorwirkende Verpflichtung zur Beachtung vertragsrechtlicher Verpflichtungen konstruieren 308•

c) Verpflichtungen aus humanitärem Völkerrecht? Das ZP I zu den Genfer Konventionen hat die Frage einer Verpflichtungen nationaler Befreiungsbewegungen dogmatisch überzeugend geregelt, ohne jedoch selber zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine bewaffnete Gruppe als Befrei306 Diese Möglichkeit wird auch von Art. 14 Abs. 3 ILC-Entwurf ausdrUcklieh offen gelassen: ,,Paragraph 1 is without prejudicc to the attribution of the conduct of the organ of the insurrectional movement to that movement in any case in which such attribution may bc made under intemationallaw". Siehe dazu Yearbook ILC 1975 II, 99, para.31. Damit muss auch an dieser Stelle abgeklärt werden, welche Handlungen der Befreiungsbewegung resp. dem Volk zugerechnet werden können. Hier drängt sich wiederum eine analoge Anwendung der Grundsätze der Art. 5-15 des ILC-Entwurfs auf, wobei infolge der weniger ausgereiften ,,staatlichen" Strukturen die Abgrenzung zwischen Handlungen der Organe der Bewegung und Privaten sich vergleichsweise schwierig erweisen dUrfte; siehe dazu auch Atlam 46 ff. 307 Siehe dazu oben Abschn. IV. 2. a)cc). 3011 Aber selbst unter dieser Annahme wäre eine Beschwerdeführung von Individuen vor den Überwachungsorganen der entsprechenden Verträge nicht möglich, da solche Beschwerden nur gegen Staaten gerichtet werden können und auch dies wohl erst nach Abgabe einer Nachfolgeerklärung des neuen Staates.

V. Träger der Verpflichtungen

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ungsbewegung und damit als Vertretetin eines zumindest partiellen Subjektes des allgemeinen Völkerrechts anzusehen ist309• Gernäss Art. 96 Abs.l ZPI kann eine Befreiungsbewegung, die gegen eine Vertragspartei dieses Vertrages eine bewaffnete Auseinandersetzung führt, beim Depositär der Genfer Abkommen- dem schweizerischen Bundesrat - eine Verpflichtungserklärung 310 abgeben. Diese bewirkt, dass der gesamte Komplex des humanitären Völkerrechts für beide am Konflikt beteiligten Parteien in identischer Weise Anwendung findet. Die Befreiungsbewegung ist demzufolge als Subjekt des Völkerrechts auf quasi-vertraglicher Grundlage Adressatin der Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts 311 • Aus zwei Gründen darf jedoch die praktische Bedeutung dieser direkten völkerrechtlichen Verpflichtung einer nichtstaatlichen Gruppierung nicht überschätzt werden. Dies, obwohl sicherlich bereits die Tatsache der Verpflichtung zur Beachtung des humanitären Völkerrechts das Schutzniveau während einer bewaffneten Auseinandersetzung erhöhen kann: So fand erstens diese Bestimmung - infolge des umstrittenen Adressatenkreises des Selbstbestbestimmungsrechts nicht weiter erstaunlich -bis heute noch nie Anwendung. Zweitens dürften sich selbst im Falle der Abgabe einer solchen Deklaration Ansprüche wegen Verletzung des humanitären Völkerrechts durch eine solche Bewegung nur bei sehr stabilen Verhältnissen als erfolgsversprechend erweisen. Im Normalfall könnten sie wohl erst im Falle eines Sieges der Aufständischen, d. h. in Anwendung der Regel von Art.l5 des ILC-Entwurfs, durchgesetzt werden312• 4. Stabile de facto Regimes Noch unpräziser präsentieren sich die Grenzen eines weiteren, von der herrschenden Lehre 313 und wohl auch der Praxis314 anerkannten (partiellen) Völkerrechtssubjektes, den sogenannten stabilen de facto Regimes. Immerhin scheint insoweit Einigkeit zu bestehen, dass solche Gebilde, sollen sie als Rechtssubjekte gelten, gewisse Grundanforderungen in zeitlicher und organisatorischer Hinsicht zu erfüllen haben, d. h. auf einem bestimmten Territorium eine tatsächliche, effektive parastaatSiehe dazu oben Abschn. IV. 3. b) aa) (2). Gernäss Wortlaut von Art. 96 ZPI handelt es sich dabei um eine unilaterale Deklaration, d. h. keine Ratifikation im eigentlichen Sinne. Die Befreiungsbewegung wird deshalb auch nicht Vertragspartei dieses Protokolls, sondern dieser Vertrag gilt nur zwischen den Parteien des bewaffneten Konflikts; siehe David (Principes) 195 ff mit weiteren Hinweisen. m Siehe dazu z. B. Oeter 413f; Wilson 168tf; David (Principes) 195; Bothe/Partsch/Solf 555f; ZP-Kommentar Rz. 3759ff. Gernäss Provost 408 ist die Regierungsseite jedoch auch dann an das gesamte Genfer Recht gegenüber der Befreiungsbewegung gebunden, falls diese die Deklaration (noch) nicht abgegeben hat. 112 So wohl auch Atlam 50. 3l3 So z. B. Verdross!Simma 239ff; Doehring 114 f; Brownlie (Principles) 63 f; Epiney 138 ff; Jochen Abr. Frowein, Das de facto-Regime im Völkerrecht, Köln/Berlin 1968, 69 tf, und Zischg 37 f, der Konflikte zwischen einem solchen Gebilde und einem Staat als internationale bewaffnete Auseinandersetzungen einstuft. 314 Siehe Yearbook ILC 1975 II, 98f, paras.28f. 309

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liehe Kontrolle ausüben und eigene Staatlichkeit anstreben müssen 315• In der Regel dürfte es sich deshalb um Gebilde handeln, die faktisch die völkerrechtlichen Voraussetzungen eines Staates erfüllen, jedoch in dieser Eigenschaft nicht anerkannt werden, weil z. B. ihre Sezession durch die Staatengemeinschaft nicht gebilligt wird 316. Wahrend gernäss modernem Völkerrecht bereits die Erfüllung dieser Anforderungen317 die Subjektqualität als de facto Regime begründen, wurde diese gernäss traditioneller Konzeption durch die konstitutive Anerkennung der Eigenschaft als Kriegführende 318 erworben. Diese Charakteristika eines stabilen de facto Regimes erinnern aber ihrerseits stark an die vom ZP II aufgestellten Anforderungen an die nichtstaatliche Partei einer höherschwelligen internen bewaffneten Auseinandersetzung, d. h. eines klassischen Bürgerkrieges 319 . Obwohl die Kriterien beider Rechtsfiguren sich nicht als deckungsgleich erweisen 320, machen sie doch- insbesondere bei restriktiver Auslegung von Art. l ZP II - die Subjektqualität des nichtstaatlichen Akteurs in einem klassischen Bürgerkrieg wahrscheinlich 321 . Während in einem solchen Falle einer internen bewaffneten Auseinandersetzung die Anwendung von Gewohnheitsrechtl22 dogmatisch unproblematisch erscheint, stellen sich bezüglich der Begründung einer vertraglichen Bindung der nichtstaatlichen Akteure die gleichen Probleme wie im Fall der Verpflichtung nationaler Befreiungsbewegungen aus Menm Verdross/Simma 239ff; Kay Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin/New York 1997, 195 f. 316 Verdross/Simma 240; gegenwärtig können wohl Taiwan (ibid.) und Somaliland (siehe zur selbst proklamierten Republik Somaliland etwa Gerard Prunier, Somalia, Civil War, Intervention and Withdrawal, Refugee Survey Quarterly 1996, 71 ff) als solche Gebilde eingestuft werden. m Verdross/Simma 240. 311 Gernäss diesem Institut war es einem Staat erlaubt, Aufständische als kriegfUhrende Partei anzuerkennen, falls diese "[are] under a responsible and organized command, which actually controls and administers a sizeable portion of the territory of the intemationally recognized State in question and furthermore conduct the hostilities in accordance with the law of war''. Eibe H. Riede/, Recognition of Belligerency, EPIL Vol. 4, 167. Siehe auch ders., Recognition of Insurgency, EPIL Vol. 4, 171 ff, und Zischg 48 ff. 319 Siehe oben Abschn.IV.3.c)aa). 32° So muss das de facto Regime nicht begriffsnotwendig in eine bewaffnete Auseinandersetzung verwickelt sein, während andererseits für eine Anwendung des ZPII weniger strenge Anforderungen an die Dauer der Beherrschung eines Gebietes, d.h. an dessen "Staatsähnlichkeit" gerichtet werden dUrften. 321 In diesem Sinne ist wohl auch folgende Aussage der ILC (Yearbook ILC 1975 II, 98, para. 28) zu verstehen: "[T]he injurious conduct of organs of an insurrectional movement is to be distinguished from that of individuals or groups of individuals during a riot or demonstrations by a rebellious mob. This is because, in the case of a genuine insurrectional movement in the sense which that term is understood in intemationallaw, there is a possibility of holding the movement itself responsible for the wrongful acts of its organs". 322 Das heisst des Art. 3 GK I-IV und der gewohnheitsrechtlich geltenden Garantien des ZP II und der Menschenrechte; siehe dazu ausführlicher oben Abschn. IV. 3. c) bb).

V. Träger der Veipflichtungen

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schenrechten 323• Auch wenn eine analoge Anwendung von Grundsätzen der Staatensukzession bei de facto Regimes aus Effektivitätsüberlegungen überzeugender wirktl24, erscheint eine solche Anwendung infolge der fehlenden völkerrechtlichen Legitimität der Sezessionsversuche dieses Gebildes als weniger zwingend. Abschliessend gilt es aber zu bemerken, dass wie in allen internen Konflikten auch in einer solchen Konstellation die Parteien einer bewaffneten Auseinandersetzung sich bilateral verpflichten können, den gesamten Korpus des Genfer Rechts zu beachten325. Die praktische Bedeutung der Anerkennung der "Staatsähnlichkeit" von de facto Regimes, konkret im Fall der einzelnen, sich gegenseitig bekämpfenden Fraktionen in Somalia, wurde neulich auch vom Ausschuss gegen die Folter der UNO auf indirekte Weise bestätigt326. Da gernäss Art. 1 CAT als Folter nur Handlungen gelten, welche von staatlicher Seite durchgeführt werden, stellte sich für dieses Organ die Frage, ob eine drohende unmenschliche Behandlungen durch Organe dieser Fraktionen trotzdem als Folter im Sinne dieses Vertrages qualifiziert werden könnte. Dabei gelangte es zu folgender Schlussfolgerung: "6.5. The Committee does not share the State party's view that the Convention is not applicable in the present case since, according to the State party, the acts of torture the author fears he would be subjected to in Somalia would not fall within the definition of torture set out in article 1 (...). The Committee notes that for a number of years Somalia has been without a central govemment, that the international community negotiates with the warring factions and that some of the factions operating in Mogadishu have set up quasi-governmental institutions and are negotiating the establishment of a common administration. lt follows then that, de facto, those factions exercise certain prerogatives that are comparable to those normally exercised by legitimate government. Accordingly, the members of those factions 323 Siehe oben Abschn. 3. Zu Gunsten der vertraglichen Geltung des humanitären Rechts fUhrt Wilson 49 f für den vergleichbaren Fall einer Anerkennung als Kriegspartei zusätzlich als Begründungen den gemeinsamen Art. 2 Ziff. 3 der GK an. Dieser bestimmt Folgendes: "Wenn eine der im Konßikt befindlichen Mächte am vorliegenden Abkommen nicht beteiligt ist, bleiben die daran beteiligten Mächte in ihren gegenseitigen Beziehungen gleichwohl durch das Abkommen gebunden. Sie sind aber durch das Abkommen auch gegenüber dieser Macht gebunden, wenn diese dessen Bestimmungen annimmt und anwendet". Damit ergibt sich, dass die Ratifizierung dieser Verträge nicht Bedingung für die gegenseitige Anwendung der Normen des humanitären Völkerrechtes zwischen innerstaatlichen Konßiktparteien ist. Dieselbe Meinung wird von David (Principes 198 f) mit Normen des humanitären Völkerrechts begründet, die wie z. B. Art. 4 A Ziff. 3 GK III, auch ,,Angehörige regulärer bewaffneter Kräfte, die sich zu einer von der Gewahrsamsmacht nicht anerkannten Regierung oder Behörde bekennen", unter den Schutz des humanitären Völkerrechts stellen. 324 Da im Falle stabiler de facto Regimes, die sich allein durch dieses Effektivitätskriterium definieren, wohl strengere Anforderungen an die "Staatsähnlichkeit" dieser Organisation zu richten sind als im Falle von Befreiungsbewegungen, deren Stellung als Völkerrechtssubjekt vom Merkmal einer besonderen Legitimität herrührt, die sich wiederum auf völkerrechtliche Verträge zurückfUhren lässt. 325 Gernäss Art. 3 Ziff. 2 Abs. 2 GK. 326 Ausschuss gegen die Folter, Sadiq Shek Elmi v. Australia, Cornmunication 120/1998.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

can fall, for the purpose of the application of the Convention, within the phrase ,public officials or other person acting in an official capacity' contained in article 1".

5. Aufständische in internen bewaffneten Auseinandersetzungen a) Allgemeines Der Ausdruck "Aufständische" ist kein klar definierter Rechtsbegriff des Völkerrechts. Vielmehr sollen unter diesen Begriff im Sinne einer negativen Abgrenzung alle nichtstaatlichen Gruppen subsumiert werden, welche an einer internen bewaffneten Auseinandersetzung im Sinne des gemeinsamen Art. 3 GK oder des Art. 1 ZP II teilnehmen und damit über eine gewisse Organisationsstruktur und über ein gewisses militärisches Potential verfügen327, jedoch die Voraussetzungen einer Befreiungsbewegung resp. eines de facto Regimes nicht erfüllen. Somit kann dieser Sammelbegriff so unterschiedliche Gruppierungen umfassen wie z. B. • nur sehr temporär bestehende bewaffnete Fraktionen, die keine eigentlichen politischen Ziele verfolgen und die möglicherweise in rascher Abfolge sowohl ihre Zielrichtung wie auch ihre Zusammensetzung ändern, • bewaffnete Organe einer politischen Organisation, einer staatlichen Minderheit oder eines Volkes, das sich nicht auf ein Selbstbestimmungsrecht abstützen kann, • meuternde Truppenteile einer staatlichen Armee oder • andere staatsähnliche Gebilde, welchen irgendeine zur Anerkennung als Völkerrechtssubjekt notwendige Voraussetzung fehlt, In der politischen Realität spielen sich seit dem Ende des Kalten Krieges die meisten Kriege zwischen einem Staat und einer aufständischen Gruppierung oder aber in "failed state" Situationen zwischen mehreren dieser Gruppen ab. So wird erstens der klassische zwischenstaatliche Konflikt mehr und mehr durch verschiedenste Formen von internen bewaffneten Auseinandersetzungen abgelöst und zweitens kann nur in den wenigsten Fällen die Völkerrechtssubjektivität nichtstaatlicher Gebilde unzweideutig bejaht werden. Aus diesem Grund drängt es sich auf, die Möglichkeit einer direkten völkerrechtlichen Verpflichtung dieser negativ definierten Gruppierungen genauer zu untersuchen. b) Verpflichtungen aus Menschenrechten Trotz ihrer Uneinheitlichkeit ist, wie erwähnt, allen diesen nichtstaatlichen Gruppen gemeinsam, dass sie zumindest gernäss allgemeinem Völkerrecht keine Sub327

Siehe dazu oben Abschn.IV.3.c)aa).

V. Träger der Veipflichtungen

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jektqualität besitzen. Da eine Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppierungen auch durch keinen Menschenrechtsvertrag nonniert wird, finden sich sowohl in der Praxis wie auch in der Literatur nur wenige Stimmen, welche einer Verpflichtung dieser Gebilde aus Menschenrechtsverträgen das Wort reden: • In internationalen Organisationen spielt die Frage einer Verpflichtung nichtstaatlicher Akteure in neuester Zeit anlässlich der Diskussionen zu zwei Themenbereichen eine gewisse Rolle: In Studien zum Problem des Terrorismus wird regelmässig die Frage gestellt, ob nicht die Bindung von Aufständischen resp. Terroristen an Menschenrechte eine effiziente Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Phänomens öffnen würde 328, und in Vorbereitungsprojekten für eine Kodifikation umfassend geltender "minimum humanitarian standards" wird die Ausdehnung von völkerrechtlichen Verpflichtungen auf alle in Krisensituationen handelnden Gruppierungen als Möglichkeit de lege ferenda ins Auge gefasst329• Keine dieser Studien330 geht jedoch de lege lata von einer unzweideutig bestehenden Verpflichtung privater Gruppierungen zur Beachtung der Menschenrechte aus, und einige 328 Siehe z. B. die Studie Terrorism and Human Rights, Working paper submitted by Kalliopi K. Koufa vom 26.6.1997 (UN Doc E/CN.4/Sub. 2/1997/28, paras.l5-6): "While the internationallaw ofhuman rights is, indeed, addressed to the behaviour of States and deals with acts or omissions of govemment officials or their agents, (...) recent authoritative pronouncements, and a respectable body of theory tend to embrace elements leading to some modification of the traditional position that private individuals or groups are not capable of violating human rights. All these elements should, in fact, be sought out and thoroughly explored in order to assess objectively whether (and, eventually, to what extent) international human rights law is moving beyond the traditional dichotomy of individual versus State, beyond the duty of States to respect and ensure the observance of human rights, and towards the creation of Obligations applicable also to private individuals and other non-State actors, including (...) terrorist organizations". Ähnlich auch die Resolutionon combating terrorism in the European Union vom 13.11.1996 des Ausschusses für Büxgerrechte und innere Angelegenheiten des Europäischen Parlaments (Dokument A4-0368/96), die ausführt, dass "acts of terrorism violate numerous fundamental rights of the individual, particularly the right to life, the right to physical integrity and the right to personal freedom". 329 Siehe z. B. Analytical report of the Secretary-General submitted pursuant to Commission on Human Rights resolution 1997/21 on Minimum Humanitarian Standards vom 5.1.1998 (UN Doc.E/CN.4/1998/87), paras.60 und 64: "Some Govemments argue that armed groups can commit human rights violations, and should be held accountable under international human rights law. Other Govemments maintain that (...) they arenot properly speaking human rights violations since the legal obligation which is violated is one that is only binding on Governments. (...) lt seerns beyond doubt that when an armed group killed civilians (...) it raises an issue of potential international concern. This will be especially true in countries where the Govemment has lost the ability to apprehend and punish those who commit such acts. But very serious consequences could follow from a rushed effort to address such acts through the vehicle of existing international human rights law, not least that it might serve to legitimize actions against members of such groups in a manner that violates human rights". Siehe auch Art. 2 der Thrku Declaration (Anm. 249). 330 Die Ausnahme bildet der Bericht des Special Rapporteurs zum Söldnerwesen, der im Jahre 1991 für ein möglichst breite, auch Private umfassende Verpflichtung plädierte; UN Doc.E/CN.4/1991/14, para.l58.

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

folgen gar einer Prämisse, wonach ausschliesslich Staaten als Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen in Frage kommen können 331 • • In der menschenrechtliehen Doktrin ist die Ausweitung des Adressatenkreises menschenrechtlicher Verpflichtungen auf nichtstaatliche Gruppierungen gestützt auf die geltende Rechtslage kein oft diskutiertes Problem: Falls zu dieser Frage überhaupt Stellung bezogen wird, geschieht dies nahezu ausschliesslich in einem ablehnenden Sinn 332 • Die wenigen befürwortenden Stimmen stammen aus dem Bereich des internationalen Strafrechts und gehen das Problem unter dem Blickwinkel der Terrorismusbekämpfung333 oder unter einem m. E. dogmatisch unzutreffenden Rückgriff auf eine direkte Drittwirkung der Menschenrechte334 an. Nach der heute geltenden Rechtslage kann deshalb mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass eine direkte Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppierungen mit Ausnahme der oben erwähnten Spezialfälle nichtstaatlicher Völkerrechtssubjekte335 aus völkerrechtlich geltenden Menschenrechten ausgeschlossen werden kann. c) Verpflichtungen aus humanitärem Völkerrecht aa) Der Wortlaut der Gen/er-Konventionen und die Position des IKRK und internationaler Organisationen

Weniger eindeutig präsentiert sich die Situation im humanitären Völkerrecht. So geht bereits aus dem Wortlaut des gemeinsamen Artikels 3 unzweideutig hervor, dass im Falle eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts ,jede der am Konflikt beteiligten Parteien" gehalten ist, die in dieser Bestimmung kodifizierten Minimalgarantien zu beachten. Bereits diese Aussage macht deutlich, dass alle Parteien und damit auch die nichtstaatliche Partei in internen bewaffneten Auseinandersetzungen durch diese Norm gebunden werden sollen. Im Unterschied dazu verpflichtet Art. 1 ZP II nicht explizit alle Parteien eines Bürgerkrieges. Doch es folgt aus der 331 Siehe z. B. Report on intemally displaced persons (Anm. 222), para. 38. So auch die IAKMR im Fall Juan Carlos Abella v. Argentina, Case 11.136, Report W 55/91, November 18, 1997 (Tablada Case), para.174. 332 Siehe z. B. Kooijmans 243; Meron (lnternal Strife) 36 und wohl auch Weissbrodt 189f. 333 Siehe z. B. Jordan J. Paust, The Link Between Human Rights and Terrorism and lts Implications for the Law of State Responsibility, Hastings International and Comparative Law Review 1987, 41 f; Y. Alexander, Minorities and Terrorism: Some Legal and Strategie Perspectives, Israel Yearbook on Human Rights 1992, 157; Sompong Sucharitkul, Terrorism as an International Crime: Questions of Responsibility and Complicity, Israel Yearbook on Human Rights 1989, 249. Dieselbe Meinung wird wohl auch von David (Principes, 201) geteilt, der ausführt: ,,En cas de conflit non internationalles parties sont lies par les dispositions de 1'Art. 3 commun (...) etles regles relative aux droit de l'homme". 334 Leckie (lndivisibility) 111; Clapham (Private Sphere) 89ff. Siehe zu den Schutzpflichten ausführlich Kap. 3, IV. 335 Oben Abschn. 3. und 4.

V. Träger der Verpflichtungen

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durch diese Bestimmung stipulierten Bedingung, wonach der nichtstaatliche Akteur in der Lage sein muss, die Bestimmungen von ZPII zu implementieren, damit dieser Vertrag Anwendung finden kann, dass auch dieses Abkommen eine Verpflichtung solcher Gruppen voraussetztl 36• Trotz dieser soliden Verankerungen einer völkerrechtlichen Verpflichtung in Vertragstexten erscheint die Begründung einer völkerrechtlichen Verpflichtung heterogener, instabiler Gruppen, welche diese Instrumente des humanitären Völkerrechts nie ratifiziert haben und die nicht Subjekte des allgemeinen Völkerrechts sind, durch einen völkerrechtlichen Vertrag problematisch337• In seinen quasi-offiziellen Kommentaren führt das IKRK eine auf den ersten Blick überzeugende Argumentation zur Auflösung dieses Dilemmas an. So gründet gernäss dieser Organisation die Verpflichtung Aufständischer bereits auf der Tatsache der Ratifikation dieser Verträge durch den Staat, auf dessen Staatsgebiet sich die Auseinandersetzung abspielt. Denn- so der Kommentar des IKRK- "when a State ratifies the Convention, it does so on behalf of all its nationals, including those who revolt against the established authority" 338• Zusätzlich seien die nichtstaatlichen Akteure "bound by the very fact that [they] claim to represent the country, or part of the country. The ,authority' in question can only free itself from its obligations under the Convention by following the procedure for denunciation laid down in Article 158. But the denunciation would not be valid, and could not in point of fact be effected, unless the denouncing authority was recognized intemationally as a competent Govemment. (...). If an insurgent party applies Article 3, so much the better for the victims of the conßict. No one will complain. If it does not apply it, it will prove that those who regard its actions as mere acts of anarchy or brigandage are right" 339•

Diese klare Haltung des IKRK, wonach das humanitäre Völkerrecht grundsätzlich alle an einem Konflikt beteiligten Parteien bindet, d. h. auch in diesem Bereich der traditionellen Grundlage dieses Völkerrechtszweiges, dem Reziprozitätsgedanken340, Rechnung trägt, wird auch in Aufrufen des IKRK zur Beachtung des humanitären Rechts verdeutlicht, die sich regelmässig unterschiedslos an alle Parteien eines internen Konflikts richten 341 • Die Organe der UNO andererseits haben zur Frage einer Verpflichtung zur Beachtung des humanitären Völkerrechts durch nichtstaatliche Parteien soweit ersichtlich Siehe Frits Ka/shoven, Constraints on the Waging of War, Genf 1987, 139. So äusserten sich denn auch an der diplomatischen Konferenz, an welcher 1949 die Genfer Konventionen beschlossen wurden, verschiedene Delegierte- wie z. B. diejenigen der Schweiz, Australiens und Grossbritanniens- dahingehend, dass eine Verpflichtung der Aufständischen nicht möglich sei; Actes de Ia Conference Diplomatique de Geneve de 1949, Tome II, Section B, 89 und 95, zitiert nach Frowein (Anm. 313) 159. 331 GK-lll-Kommentar 43 und ZP-Kommentar 1345. 339 GK-IV-Kommentar 37. 340 Respektive dem Gedanken der Waffengleichheit, siehe dazu Provost 404 ff. 34t Siehe z. B. Gasser (Einführung) 90f. 336 337

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nie in allgemeiner Form Stellung genommen. Trotzdem haben Sicherheitsrat und Generalversammlung verschiedentlich alle Parteien eines Bürgerkrieges aufgefordert, die Regeln des humanitären Völkerrechts zu ·beachten342• Dieses Problem wurde auch öfters in Berichten von Sonderberichterstattern des Generalsekretärs der UNO angesprochen: So werden von demjenigen zur Menschenrechtslage im Sudan ausdrücklich auch die nichtstaatlichen Parteien zur Beachtung des humanitären Völkerrechts aufgerufen 343 und in allgemeinerer Form wird in einem Bericht des UNOGeneralsekretärs über menschenrechtliche, jederzeit zu beachtende Minimalstandards, festgehalten: "The importance of common article 3 should not be underestimated. lt sets out in Straightforward terms a number of important protections that all parties to a conflict must respect (...)" 344•

bb) Doktrin Erstaunlicherweise haben bis heute nur wenige Stimmen der Doktrin zur völkerrechtlichen Verpflichtung Aufständischer aus dem humanitären Völkerrecht und insbesondere aus Art. 3 GK I-IV Stellung bezogen. Trotzdem lassen sich drei verschiedene Gruppen von Lehrmeinungen herauskristallisieren: • Eine erste Gruppe von Autoren ist kritisch gegenüber der Möglichkeit der Begründung einer generellen völkerrechtlichen Verpflichtung von bewaffneten Gruppen im Anwendungsbereich des für interne Konflikte geltenden humanitären Völkerrechts eingestellt345 oder lehnt eine solche Möglichkeit sogar völlig ab 346• 342 Vgl. z. B. die folgenden SR Res. 775, para. 7; 793, para.15; 804, para.lO; 811, para.ll; 812, para.4; 876, para.4; 1231, para.3, und 1234, para.6: "Calls upon all parties to the conflict in the Democratic Republic of the Congo to protect human rights and to respect international humanitarian law, in particular, as applicable to them, the Geneva Conventions of 1949 and the Additional Protocols of 1977, and the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide of 1948". 343 Bericht des Sonderberichterstatters Gaspar Biro, UN Doc. E/CN. 4/1994/48, paras. 23 und 130. 344 Analytical report of the Secretary-General submitted pursuant to Cornmission on Human Rights resolution 1997/21 on Minimum Humanitarian Standards vom 5.1.1998 (UN Doc. E!CN. 4/1998/87) para. 74 (Hervorhebung im Original). So auch Human Rights, Mass Exoduses and Intemally Displaced Persons, Report of the Representative of the Secretary-General, Francis Deng, Compilation and analysis of legal instruments (UN Doc. E/CN. 4/1996/52/ Add. 2) para. 39: "Common Article 3 binds both parties to the conflict, i. e. Govemment and dissident forces". 345 Bothe1Partsch/Solf100; Hess 90ff; Yoran Dinstein, The International Law of Civil Wars and Human Rights,lsrael Yearbook on Human Rights 1976, 66ff; Wilson 50f; Kooijmans 234 und 245; Stefan Oeter, Civil War, Humanitarian Law and the United Nations, Max Planck Yearbook of United Nations Law 1997, 203; Thomas Fleiner-Gerster/Michael A. Meyer, New Developments in Humanitarian Law: AChallenge to the Concept of Sovereignty, ICLQ 1985, 272. So wohl auch Meron (lntemal Strife) 39 ("lt is desirable that Art. 3 should be construed as imposing direct obligations on the forces fighting the govemment") und 151 fund ders., Con-

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• Ein anderer Teil der Doktrin stimmt mit der erwähnten Position des IKRK entweder ausdrücklich überein 347 oder geht- was häufiger der Fall ist- unter Postulierung derselben Lösung überhaupt nicht auf die mit einem solchen Modell verbundenen dogmatischen Schwierigkeiten ein 348 • • Die letzte Lehrmeinung schliesslich versucht mittels verschiedener dogmatischer Modelle eine partielle oder sektorielle völkerrechtliche Subjektqualität aller oder doch zumindest bestimmter bewaffneter Gruppen zu konstruieren 349• Zusammenfassend präsentieren sich die Lehrmeinungen in dieser Frage völlig uneinheitlich. Die verhältnismässig geringe Beschäftigung mit dieser praktisch sehr relevanten Frage lässt den Verdacht nicht völlig von der Hand weisen, dass das Schweigen vieler Autoren auch daher rührt, dass die Schlussfolgerung einer zumindest auf einem wackligen Fundament stehenden Verpflichtung dieser Gruppierungen im humanitären Völkerrecht vermieden werden soll.

cc) Mögliche Modelle zur Begründung einer direkten Verpflichtung Aufständischer Infolge desFehlenseiner allgemein akzeptierten Theorie, welche diese Bindungswirkung überzeugend zu erklären vermag, soll im Folgenden eine Übersicht über mögliche Theorien geboten sowie ansebliessend deren Plausibilität beurteilt werden.

• Verpflichtung aufgrund einer vertragsrechtlich begründeten Völkerrechtssubjektivität: Dieses und auch das folgende Modell fussen auf der Grundüberlegung, dass nur selbständiger Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten sein temporary Conflicts and Minimum Humanitarian Standards, in Wellens (ed.), International Law: Theory and Practice, Essays in Honour of Eric Suy, The Hague/Boston/London 1998, 624. 346 Rajawer 71; Kooijmans 245 und Kar/ Josef Partsch, Neue Zeitschrift für Wehrrecht 1989, zitiert nach Kooijmans 245 FN 42: .,[T]he proposition that also the adverse party is bound by the rules for non-international conflicts can only be made by means of a rather hazardous construction, viz. that the ratification by the Contracting State of the Geneva Conventions or Protocol II not only binds the ratifying State, but also the adverse party". 347 David (Principes) 201 ff; ZP-Kommentar Rz. 1369ff; Rosemary Abi-Saab, Conflits arm6s non internationaux, Paris/Geneve 1986, 156ff; Georges Abi-Saab (Conßits arm6s non internationaux) 269; Weissbrodt 190, FN 42; Shigeki Miyazaki, The Application of the New Humanitarian Law, IRRC 1980, 188, und Sydney Bailey, Prohibitionsand Restraints in War, Oxford 1972,88. 348 Siehe z. B. Provost 392 (bezüglich der Anwendung des gemeinsamen Art. 3 GK); Clapham 112 ff; Duy Tan 191; Oeter 461; Chris Jochnik, Confronting the Impunity of Non-State Actors: New Fields for the Promotion of Human Rights, HRQ 1999, 62, und Greenwood 42, der wohl stillschweigend von einer umfassenden Verpflichtungskraft ausgeht, wenn er ausführt, ,,Art. 3 [GK I-IV ist] allgemein genug gehalten, um auch einen Konflikt zwischen verschiedenen Rebellengruppen zu erfassen, die um die Macht im Staate streiten, dessen Regierung nicht an der Auseinandersetzung beteiligt ist". 349 Siehe die ÜbersichtUber die vorwiegend ältere Literatur bei Hess 92. 12 KUnzli

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

kann, wer Rechtssubjekt ist. Deshalb wird in der Literatur gelegentlich argumentiert350, bereits die blosse Statuierung von Verpflichtungen nichtstaatlicher Parteien im humanitären Völkerrecht begründe eine zumindest partielle Rechtsfähigkeit aufständischer Gruppierungen. Abgesehen davon, dass allein gestützt auf diese Einschätzung die Bindungswirkung eines Vertrages für eine Nichtvertragspartei noch nicht erklärt werden kann 351 , ist mit dieser Lösung eine weitere Schwierigkeit verbunden. So ergibt bereits ein Blick auf den Wortlaut von Ziff. 2 Abs. 3 des gemeinsamen Art. 3 GK, der festlegt, dass die Anwendung dieser Norm "auf die Rechtsstellung der am Konflikt beteiligten Parteien keinen Einfluss" habe, dass sich abgestützt auf diese Bestimmung nur mit Schwierigkeiten eine allgemeine Subjektqualität der Akteure niederschwelliger bewaffneter Auseinandersetzungen konstruieren lässt. Andererseits lässt sich diese Wendung auch dahingehend auslegen, dass erstens die blosse Anwendung dieser Bestimmung nichts an einer bereits aufgrunddes lnkraftstehens dieser Norm bestehenden Rechtsfähigkeit ändert oder dass zweitens mit der Bestimmung von Ziff. 2 des gemeinsamen Art. 3 bloss das Anwachsen von einer partiellen - auf die Anwendung dieser materiellen Bestimmung des Art. 3 GK beschränkten- zu einer allgemeinen Subjektstellung im Völkerrecht verhindert werden soll. Doch sowohl eine historische Auslegung 352 wie auch die Interpretation dieser Bestimmung durch das IKRK, das im Übrigen diese Argumentationslinie selber nie Jso Georges Abi-Saab, Wars of National Liberation and the Laws of War, Annals International Legal Studies 1972, 96, zitiert nach Meron (lntemal Strife) 38: "Common article 3 does confer a certain legal status on ,rebels' in confticts not of an international character. (...) [l]t is an objective status emanating from the Convention thernselves and thus Iranseending the discretionary and relative character of the ,recognition of belligerency' ". m Eine solche Bindung liessesich eventuell wieder auf den Grundgedanken der Kontinuität der Vertragsverpflichtungen aus humanitärem Recht stützen; siehe oben Anm. 307. A. M. Rajower 70: ,,Attestiert man den Aufständischen partielle Rechtspersönlichkeit, so muss ihnen auch das Recht zugebilligt werden, sich selbständig für oder gegen eine Bindung an das humanitäre Völkerrecht zu entscheiden". JS2 Der Kommentardes IKRK (GK-IV-Kommentar44) hält zu dieser Präzisierung fest: "This clause is essential. Without it neither Article 3, nor any other Article in this place, would ever have been adopted. (...) It makes absolutely clear that the object of the Convention is a purely humanitarian one, that is in no way concemed with the intemal affairs of States (...). Consequently, the fact of applying Article 3 does not in itself constitute any recognition by the de jure Govemment that the adverse party has authority of any kind". Art. 3 Ziff. 2 Abs. 3 GK muss deshalb m. E. in dem Sinne ausgelegt werden, dass sogar die Anwendung dieser Norm keine allgemeine Rechtssubjektivität der aufständischen Gruppierung begründet. Diese Auslegung wird auch durch das System der objektiven Bestimmung der Anwendbarkeit unterstützt: Gemäss dieser Theorie gelangt auch Art. 3 GK bei Vorliegen bewaffneter Auseinandersetzungen unabhängig von einem Parteiwillen zur Anwendung (siehe dazu kritisch Hess 87ff und Kooijmans 229). GestUtzt auf die Anwendung dieser Normen durch die staatliche Konfliktpartei kann deshalb keinesfalls auf eine quasi-vertragliche Anerkennung der nichtstaatlichen Gruppierung geschlossen werden.

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verwendet 353, lehnen derartige Einstufungen ab. Die gleiche Schlussfolgerung gilt es auch, obwohl nicht explizit im Wortlaut enthalten, für das ZPII zu ziehen. Hier wurde auf eine explizite Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppen deshalb verzichtet, da viele Staaten fürchteten, "that the mere reference to an adverse party might in concrete instances be interpreted as a form of recognition" 354• Die Garantien des Art. 3 GK und Art. l Abs. 1 ZP II begründen deshalb auch keine beschränkte Rechtspersönlichkeit von Aufständischen.

• Verpflichtungaufgrund einer gewohnheitsrechtlich begründeten Völkerrechtssubjektivität: Infolge der unsicheren vertraglichen Begründung der Rechtsfahigkeit solcher Gruppen versuchen gewisse Stimmen, diese als bereits gewohnheitsrechtlieh geltend vorauszusetzenm. Die gleiche Linie vertreten- umgekehrt argumentierend - auch all jene, die aus der gewohnheitsrechtliehen Geltung oder dem ius cogens Charakter von Art. 3 GK eine generelle Bindung auch nichtstaatlicher Parteien abzuleiten versuchen 356• Dies gilt, weil die zusätzliche Verankerung einer vertraglich universell geltenden Norm im ungeschriebenen Recht nur im Falle der Existenz eines Rechtssubjektes, das die Genfer Konventionen weder ratifiziert hat, noch mangels ihrer Staatlichkeil dies wird können, von Bedeutung sein kann. Falls diese Subjektqualität aber für Gebilde, welche die Voraussetzungen eines "de facto Regimes" resp. einer Befreiungsbewegung nicht erfüllen, begrifflich ausgeschlossen ist, bleibt unklar, inwiefern die Art der Rechtsquelle resp. die Frage, ob eine Garantie zum zwingenden oder dispositiven Recht zu zählen ist, einen Einfluss auf die Verpflichtung eines Gebildes ohne Rechtsfahigkeit haben kann. Denn Verpflichtungen mit ius cogens Charakter zeichnen sich zwar durch ihren absolut unbedingten Geltungsanspruch aus, jedoch keinesfalls durch das Merkmal eines unbegrenzten auch Gruppierungen ohne Rechtspersönlichkeit umschliessenden Adressatenkreises. • Verpflichtung aufgrundder territorialen Jurisdiktion einer Vertragspartei: Eine Theorie, die keine Subjektqualität von Aufständischen voraussetzt, bildet eine der Hauptargumentationslinien des IKRK. Demnach sind aufständische Gruppen deswegen an die Verpflichtungen der rechtsetzenden Normen des Art. 3 GK resp. des ZPII gebunden, weil sie unter der territorialen Jurisdiktion einer Vertragsparm Siehe GK-JV-Kommentar 37 bezUglieh der Bindungswirkung des Art. 3 GK für Rebellen: "Until recently it would have been considered impossible in law for an international Convention to bind a non-signatory Party- a Party, moreover, which was not yet in existence and which need not even represent a legal entity capable of undertaking international obligationS'' (Hervorhebung durch den Autor). 354 Frits Kalshoven, Constraints on the Waging of War, Genf 1987, 138. m Z. B. David P. Forsythe, Legal Management of Interna! War, The 1977 Protocol on Non International Armed Confticts, ARL 1978,291, ähnlich wohl auch Brownlie (Principles) 64f. 356 Aldo Lombardi (Anm. 199) 94; Elisabeth Chadwick, Self-Determination, Terrorism and the International Humanitarian Law of Arrned Conftict, The Hague/Boston/London 1996, 148 f; sowie die von Rajower 71 und Hess 92 erwähnten Autoren. AusdrUcklieh abgelehnt wird eine solche BegrUndung von Kooijmans 229. 12*

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

tei stehenm. Zur Begründung dieser Verpflichtung wird teilweise zusätzlich die Implementation einer entsprechenden Norm im nationalen Strafrecht als erforderlich angesehen 358• Mit der Annahme dieser Theorie wird somit stillschweigend vorausgesetzt, dass Aufständische keine Rechtspersönlichkeit auf internationaler Ebene besitzen und dass interne Konflikte im Verhältnis zwischen den Konfliktparteien - nicht aber zwischen der staatlichen Partei und den übrigen Vertragsparteien- keine völkerrechtlichen Rechtsverhältnisse sind 359• Auch diese Begründung beinhaltet verschiedene Problembereiche. So mangelt es ihr erstens an Praktikabilität. Denn es erscheint nur schwer vorstellbar, wie eine aufständische Bewegung zur Beachtung von Normen überzeugt werden soll, falls der Bestand dieser Verpflichtung gerade auf der Unterordnung dieser Gruppe unter eine Regierung beruht, die sie gewaltsam stürzen will resp. auf ihrer Zugehörigkeit zu einem Staat basiert, von dem sie sich zu trennen beabsichtigt. Zusätzlich bietet diese Lösung aber auch dogmatische Schwierigkeiten, weil sie keinesfalls überzeugend zu erklären vermag, wie eine Gruppe von Individuen, welcher die Qualität als Völkerrechtssubjekt abgesprochen wird, einer direkten und völkerrechtlichen Verpflichtung unterliegen soll, die beispielsweise gar eigentliche Leistungspflichten in den Verfahrensgarantien des Art. 3 GK stipuliert. Wird aber anerkannt, dass eine direkte Verpflichtung einer Gruppe, die mangels Subjektqualität im Völkerrecht nur schwerlich Trägerio von direkten Pflichten dieses Rechtsgebiets sein kann, nur mittels einer "rather hazardous construction"360 erreicht werden kann und wird deshalb die Bindung der Gruppe nicht als direkte völkerrechtliche Verpflichtung eingestuft, stellen sich weitere Probleme: Wie die Forderung nach Aufnahme einer strafrechtlichen Norm in das nationale Strafrecht zeigt, wird unter dieser Annahme die Bindung der nichtstaatlichen Gruppe als indirektes Resultat einer völkerrechtlichen Verpflichtung des Staates 357 Siehe z. B. ZP-Kommentar 1345: "The question is often raised how theinsurgent party can be bound by a treaty to which it is notaHigh Contracting Party. ( ...) lt may therefore be appropriate to call here the explanation given in 1949: the commitment made by a State not only applies to the govemment but also to any established authorities and private individuals within the national territory ofthat State and certain obligations are therefore imposed upon them. The extent of rights and duties of private individuals is therefore the same as that of the rights and duties of the State. Although this argument has occasionally been questioned in legalliterature, the validity of the obligation imposed upon insurgents has never been contested". So auch ausdrücklich David (Principes) 201 f und Lombardi (Anm. 199) 94; skeptisch gegenüber dieser Lösung äussem sich BothelPartsch!Solf 699 f. 358 Siehe dazu Meron (lntemal Strife) 38 f. 359 Hess 91. Teilweise wird zusätzlich das Argument vorgebracht, die Bindung Aufständischer Hesse sich mittels der Theorie der Drittwirkung der Menschenrechte erklären (Clapham 112ff; zu dieser Theorie siehe hinten Kap.3, IV.). Dies m.E. zu Unrecht, da eine Anwendung dieser Rechtskonstruktion keine Verpflichtung von privaten Körperschaften zu begründen vermag, sondern den Staat verpflichtet, fUr eine Beachtung menschenrechtlicher Postulate auch im Verhältnis zwischen Privaten zu sorgen. 360 Kooijmans 245.

V. Träger der Verpflichtungen

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verstanden, auf seinem Territorium auch Private und Gruppierungen zur Beachtung dieser Norm des humanitären Völkerrechts anzuhalten361 • Beruht folglich die Pflicht der Aufständischen zur Beachtung von Art. 3 GK auf innerstaatlichem Recht, ist die nichtstaatliche Gruppe einzig gegenüber der gegnerischen staatlichen Partei verpflichtet. Auf internationaler Ebene, d. h. gegenüber anderen Vertragsstaaten, hätte sich aber der Staat unter Anwendung aller seiner Ressourcen im Sinne einer Schutzpflicht 362 dafür einzusetzen, dass die Gruppe das humanitäre Völkerrecht beachtet. Da aber gerade die Tatsache desBestehenseines internen Konfliktes deutlich macht, dass der Staat gegenüber dieser Gruppe nicht zur Durchsetzung einer solchen Verpflichtung befähigt ist, versagt auch diese dogmatisch durchaus plausible Konstruktion in praktischer Hinsicht. • Verpflichtung infolge des Anspruchs auf Übernahme der staatlichen Regierungsgewalt: Nicht als Rechtsunterworfene einer Vertragspartei, sondern im Gegenteil aufgrund ihres Anspruchs als eigentliche legitime Vertreter eines Staates, sollen Aufständische gernäss einer weiteren Begründung des IKRK durch die in Art. 3 GK I-IV kodifizierten Minimalgarantien gebunden werden. Dem IKRK-Kommentar lässt sich dabei entnehmen, dass zwei dogmatische Rechtsfiguren zur Abstützung dieser Theorie herangezogen wurden:

1. Gestützt auf die tatsächliche partielle Machtausübung der Rebellen in einem Staat wird erstens argumentiert, diese übten die Funktion von de facto Organen des Staates aus,.obwohl deren Handeln gegen die offizielle Regierung gerichtet sei. Deshalb seien sie als Quasistaatsorgane durch die Verpflichtungen, die der Staat eingegangen sei, direkt gebunden 363• Mittels einer solch extensiven Auslegung des Begriffs des staatlichen Organs liesse sich tatsächlich eine Verpflichtung eines Völkerrechtssubjektes für Handlungen der Rebellen auf dogmatisch klare Art erklären. Diese Theorie verkehrt aber die notwendigen Voraussetzungen, damit eine nichtstaatliche Gruppe als de facto Organ eingestuft werden kann, geradezu in ihr Gegenteil 364• So wird hier nicht aus der umfassenden Kontrolle einer staatlichen Partei über die Tätigkeiten der Gruppe auf diese Eigenschaft geschlossen. Vielmehr wird in systemwidriger Weise einer Gruppe diese Eigenschaft zugesprochen, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass der Staat nicht fähig ist, Einfluss auf ihr Handeln auszuüben. Folgerichtig impliziert dieses Modell bei seiner konsequenten Anwendung die absurde Fol361 Diese Verpflichtungsart findet sich häufig im Volkerrecht. So sind, wie in Kap. 3 zu zeigen sein wird, beispielsweise im Bereich der Menschenrechte die Staaten verpflichtet, Verletzungen von materiellen Garantien durch Individuen und Gruppierungen zu verhindern. Auf diese Weise werden nichtstaatliche Gruppen indirekt kraft innerstaatlichem Recht zur Beachtung völkerrechtlicher Bestimmungen verpflichtet. 362 Siehe zu staatlichen Schutzpflichten hinten Kap. 3, IV. 363 Siehe z. B. GK-1-Kommentar 51: ,,But if the responsible authority at their head exercises effective sovereignty, it is bound by the very fact that it claims to represent the country, or part of the country". So auch David (Principes) 202; Hess 90; Rajawer 70. 364 Siehe zu Rechtsfigur der de facto Organe oben Abschn.IV.2. b)bb).

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ge, dass auf internationaler Ebene der Staat für Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 durch die Aufständischen haftbar wäre. 2. Als zweite Basis benutzt diese Theorie die Rechtsfigur der Vertragssukzession im Falle eines durch Sezession neu entstandenen Staates365 • Gestützt auf diese Theorie werden die Aufständischen bezüglich ihrer Vertragsverpflichtungen bereits wie ein eigenständiges, von der Vertragspartei losgelöstes, jedoch im Moment noch nicht handlungsfähiges Subjekt behandeltl66 • Eine solche Begründung einer völkerrechtlichen Verpflichtung steht aber im Widerspruch zu dem vom IKRK selbst vertretenen Grundsatz eines ausschliesslich von einem nationalen Rechtsregime geregelten Verhältnisses zwischen den Aufständischen und der Vertragspartei. Zusätzlich mangelt es auch dieser Theorie an Stringenz, indem einer solchen Einheit zwar eine quasi-völkerrechtliche Verpflichtung auferlegt wird, die Fähigkeit, diese abzulehnen, ihr aber infolge mangelnder Handlungsfähigkeit wieder abgesprochen wird. Gernäss der hier vertretenen Ansicht kann deshalb der Grundsatz der Vertragssukzession resp. der Vorwirkung von Verpflichtungen eines Staates auf Vorgängergebilde erst zum Tragen kommen, wenn einer aufständischen Gruppe Völkerrechtssubjektivität zukommt, was bei Aufständischen im Unterschied zu nationalen Befreiungsbewegungen und de facto Regimes bereits begrifflich ausgeschlossen ist. • Verpflichtung als Reflex einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit: Die letzte Möglichkeit zur Begründung einer objektiven Verpflichtung aller beteiligten Parteien in internen Konflikten, besteht darin, dass diese als Reflex einer Verpflichtung von Individuen konstruiert wird 367 • Eine solche individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen auf indirekte Art bereits die Genfer Konventionen und das ZP I, indem die Vertragsstaaten verpflichtet werden, gewisse schwerwiegende Verslösse gegen das humanitäre Recht innerstaatlich unter Strafe zu stellen 368 • Aktualität gewann das völkerrechtliche Strafrecht jedoch erst wie36s Siehe Anrn. 307. Dies gilt natürlich nicht, falls die aufständische Bewegung für die MachtUbernahme in einem bestehenden Staat kämpft resp. keine klaren politischen Ziele verfolgt, sondern nur im Falle eines Sezessionskrieges. 366 So die rn. E. in sich widersprüchliche Argumentation des GK-1-Kommentars 51 f: "The ,authority' in question can only free itself frorn its obligations under the Convention by following the procedure for denunciation ( ...). But the denunciation would not be valid, and could not in point of fact be effected, unless the denouncing authority was recognized intemationally as a cornpetent Govemrnent. It should, rnoreover, be noted that under Article 63 denunciation does not take effect irnrnediately". Siehe auch David (Principes) 202 und Wilson 51. 367 Siehe Hess 92; Rajawer 70; Green 122 sowie David (Principes) 202 und 203 ff. Eine Verbindung zwischen einer Verpflichtung von Individuen und einer solchen von Aufständischen stellt auch der GK-II-Kommentar 34 her, wenn er zur Begründung der Bindung der Aufständischen ausführt: "The answer is provided in rnost nationallegislations; by the fact of ratification, an international Convention becornes part of law and is therefore binding upon all the individuals ofthat country". 368 Art.50fGKI; 5lfGKII; 129fGKIII; 146fGKIV; 86 ZPI. Art. l47 GKIV bestimmt: ,,Als schwere Verletzung(...) gelten jene, die die eine oder die andere der folgenden Handlun-

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der mit der Einrichtung der Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda resp. mit dem Vertrag zur Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofes369. Aufgrund dieser Entwicklung ist heute unbestritten, dass Individuen auch in internen Konflikten 370 unter einer direkten strafrechtlichen VerantwortIichkeit stehen können und eine Verletzung grundlegender Menschenrechte folglich eigentliche völkerstrafrechtliche Folgen nach sich ziehen kann 371 . Diese strafrechtliche Verantwortung ist aber begrifflich auf das Individuum ausgerichtet. Deshalb kann mit ihrer Hilfe bloss auf eine mittelbare Verpflichtung extra-konstitutioneller Gruppierungen geschlossen werden. Somit ergibt sich aus der Summe dieser individuellen Verpflichtungen keine darüber hinausgehende Bindung für die Gesamtheit, d. h. für die Gruppe, welcher die Individuen angehören. Andererseits- und in diesem Sinne besteht tatsächliche eine enge Reflexwirkung- pönalisieren diese Straftatbestände primär372 Verhaltensweisen von Personen, welche in ihrer Stellung als Angehörige einer Gruppe und damit quasi in Organfunktion handelten. So wurden von der Commission on Experts on the forrner Yugoslavia die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit umschrieben als 373 : gen umfassen, sofern sie gegen Personen oder Güter begangen werden, die durch das vorliegende Abkommen geschützt sind: vorsätzlicher Mord, Folterung oder unmenschliche Behandlung einschliesslich biologischer Experimente, vorsätzliche Verursachung grosser Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, der Gesundheit, ungesetzliche Deportation oder Versetzung, ungesetzliche Gefangenhaltung, Nötigung einer geschützten Person zur Dienstleistung in den bewaffneten Kräften der feindlichen Macht oder Entzug ihres Anrechts auf ein ordentliches und unparteiisches, den Vorschriften des vorliegenden Abkommens entsprechendes Gerichtsverfahren, das Nehmen von Geiseln sowie Zerstörung und Aneignung von Gut, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt sind und in grossem Ausmass auf unerlaubte und willkürliche Weise vorgenommen werden". Gernäss der jeweils ersten Absätze der zitierten Normen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, die Begehung dieser "grave breaches' durch aktives Tun oder durch die Erteilung eines solchen Befehls unter Strafe zu stellen und die Täter zu ermitteln und zu verurteilen oder an einen anderen Staat auszuliefern. 369 Siehe dazu vorne Kap. 1, III.4. c). 370 Vgl. z. B. Art. 3 Statut ICfR. Siehe dazu etwa Theodor Meron, The Continuing Role of Custom in the Formation of International Humanitarian Law, AJIL 1996, 238 ff. 371 Dabei gilt es festzuhalten, dass grundsätzlich nur Personen, welche eine je nach Delikt mehr oder weniger eng definierte Organfunktion in einem Staat aber auch in einem de facto Staatsgebilde ausüben, individuell zur Verantwortung gezogen werden können. Damit besteht international "bloss" eine individuelle Organverantwortlichkeit. Dies gilt jedoch nicht für die aus dem Genozidverbot resultierende Verantwortlichkeit, welche auch private Einzelperson beschlägt (Art. IV Genozidkonvention), sowie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bei welchen gernäss Art. 7 des Statuts des internationalen Strafgerichtshofes die Organfunktion in irgendeiner Gruppe oder Organisation genügt. 372 Im Urteil der Appeals Chamber des ICfY, The Prosecutor v. Dusk.o Tadic (Judgernent; Anm. 61), para. 272, wird dieser Konnex allerdings mit folgenden Worten relativiert: "[l]n the opinion of the Appeals Chamber, the requirement that an act must not have been carried out for the purely personal motives of the perpetrator does not form part of the prerequisites necessary for conduct to fall within the definition of a crime against humanity ( ...)". 373 Cornmission on Experts on the former Yugoslavia, UN Doc. S/1994/674, paras. 84 ff; zitiert nach Green 122.

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Kap. 2: Geltungsbereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen "gross violations of fundamental rules of humanitarian and human rights law committed by persons demonstrably linked to a party to the conflict, as part of an official policy based on discrimination against an identifiable group of persons, irrespective of war and the nationality of the victim" 374•

Durch dieses zusätzliche Erfordernis, das auch in den übrigen völkerrechtlichen Strafbestimmungen verankert ist375, kann das internationale strafrechtliche System nicht nur mittels seiner individualpräventiven Wirkung Einfluss auf das Verhalten einer solchen Gruppe insgesamt ausüben376, sondern es kann auf diese Weise gar eine völkerrechtliche, allerdings nur mittelbare Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppierungen auf dogmatisch überzeugende Weise begründet werden. Eine direkte Bindung solcher Organisationen lässt sich aber auch auf diese Weise nicht erklären. • Verpflichtung aufgrund von ad hoc Vereinbarungen oder Deklarationen: Da die bisher dargestelltim Modelle zur Begründung einer direkten und objektiven Verpflichtung aller an einer internen bewaffneten Auseinandersetzung beteiligten Parteien gewisse Schwächen aufweisen, stellt sich die Frage, ob eine Anwendung des Art. 3 GK und des Zusatzprotokolls II gestützt auf ad-hoc Vereinbarungen oder Deklarationen377 dieses Schutzdefizit aufzufüllen vermag 378 • Wie die Praxis zeigt, werden regelmässig sowohl von staatlicher wie auch von nichtstaatlicher Seite zuhanden des IKRK Erklärungen abgegeben, in welchen sich Konfliktparteien zur Beachtung humanitärer Normen verpflichten 379• Dies lässt darauf schliessen, dass während interner bewaffneter Auseinandersetzungen das System Hervorhebung durch den Verfasser. m V gl. beispielsweise Art. 8 Statut ICC. 376 Diese präventive Wirkung gilt um so mehr, als auch im Völkerstrafrecht grundsätzlich anerkannt ist, dass die Berufung auf höheren Befehl kein Rechtfertigungsgrund ist. So z. B. Art. 5 Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind der ILC und mit Ausnahmen auch Art. 33 Statut ICC. Siehe zu dieser umstrittenen Rechtsfigur des internationalen Strafrechts z. B. Maurice Aubert, The Question of Superior Orders and the Responsibility of Commanding Officers, IRRC 1988, 105 ff, und Paola Gaeta, The Defence of Superior Orders: The Statute of the International Criminal Court versus Customary International Law, EJlL 1999, 172ff. 377 D. h. auf analoge Weise wie in nationalen Befreiungskriegen; siehe oben Abschn. 3. 378 Dabei zeigen zwei Bestimmungen der Genfer Konventionen, dass die Anwendung dieses Rechtsgebietes aufgrund subjektiver Kriterien nicht als Fremdkörper innerhalb des humanitären Rechts zu sehen ist, sondern vielmehr neben der Regelung von Art. 96 ZP I bereits in den GK verankert ist: Gernäss dem gemeinsamen Art. 2 Abs. 3 GK kann eine Macht, die nicht Vertragspartei ist, die Bestimmungen dieser Verträge mittels einer Erklärung annehmen und anwenden, dies mit der Folge, dass auch die Vertragsparteien gegenüber dieser Macht gebunden sind: Allerdings erscheint in concreto fragwürdig, ob der Begriff der Macht auch nichtstaatliche Gruppierungen mitumfassen köMte (siehe dazu GK-JV-Kommentar 22ff). Weiter statuiert bereits Art. 3 Ziff. 2 GK, dass die Parteien eines Konfliktes zusätzliche Bestimmungen des Rechts der internationalen Konflikte auch in internen Konflikten gegenseitig für anwendbar erklären können (dazu GK-IV-Kommentar 42f). 379 ICTY, The Prosecutor v. Tadic (appeal on jurisdiction, Anm.130), paras. 100ff. 374

V. Träger der Verpflichtungen

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der objektiven Anwendbarkeit kein allzu grossesVertrauen geniesst380 • Da andererseits aber aufständische Gruppierungen in der Regel bestrebt sein dürften, eine politische Diskreditierung infolge einer Nichtbeachtung der Basisnonnen des gemeinsamen Art. 3 zu vermeiden, sondern vielmehr um einen irgendwie gearteten internationalen Status bemüht sein werden381 , wird deren Bereitschaft zur Unterzeichnung solcher Vereinbarungen in der Regel kein schwer zu überwindendes Hindernis darstellen 382• Zusätzlich dürfte die tatsächlich vorhandene Bereitschaft zur Einhaltung von Bestimmungen, zu deren Beachtung sich eine nichtstaatliche Gruppe selbständig verpflichtet hat, grösser sein, als im Falle einer Verpflichtung, die sich auf die bestrittene Abhängigkeit dieser nichtstaatlichen Einheit von einer Vertragspartei resp. deren Regierung stützt. d) Schlussfolgerungen

Eine zwingende und direkte völkerrechtliche Verpflichtung aufständischer Gruppierungen lässt sich somit de lege lata nur mit Schwierigkeiten konstruieren. Auf indirekte Weise lässt sich eine objektive Verpflichtung dieser Gruppen als Reflex einer strafrechtlichen Verantwortung von Individuen begründen. Zusätzlich kann sich eine Bindung dieser Gruppen auch aufgrund bilateraler Abkommen ergeben. Es bleibt damit abzuklären, ob und inwieweit diese Einstufung einer sich zumindest auf einem unsicheren Fundament bewegenden direkten völkerrechtlichen Verpflichtung von Gruppierungen ohne Völkerrechtssubjektivität das menschenrechtliehe Schutzniveau während internen bewaffneten Auseinandersetzung tatsächlich zu beeinflussen vermag. Ausgehend von der hier verwendeten negativen Definition von Aufständischen gilt es eingangs festzuhalten, dass solche Gruppen mangels personeller, fachlicher oder organisatorischer Kompetenz oft kaum in der Lage sein dürften, positive Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts - zu denken ist hier in erster Linie an Verfahrensgarantien383 - im geforderten Ausmass zu erfüllen. Die übrigen Unterlassungspflichten des Art. 3 GK begründen jedoch für den Fall ihrer Verletzung eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit. Aus diesem Grund und infolge der oft nicht sehr straffen hierarchischen Ordnung solcher Gruppen wird sich während Siehe dazu Hess 93 und Rajower 11. Zur verwandten Frage von Verträgen zwischen Staaten und privaten Gruppierung zur Beendigung interner Konflikte siehe Pieter H. Kooijmans, The Security Council and Non-State Entities as Parties to Conflicts, in Wellens (ed.), International Law: Theory and Practice, Essays in Honour of Erle Suy, The Hague/Boston/London 1998, 337 ff. 380 381

382

Hess 92.

Eine aktive Leistung verlangen aber auch weitere in Art. 3 GK enthaltene Garantien, wie die Verpflichtung zu menschlicher Behandlung von Mitgliedern der gegnerischen Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, sowie die Pflicht zur Pflege von Verwundeten und Kranken. 383

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

Konflikten im Sinne des gemeinsamen Art. 3 GK eine fehlende objektive, d. h. nicht freiwillig eingegangene, Verpflichtung einer solchen Gruppe faktisch oft kaum nachteilig auf das menschenrechtliche Schutzniveau auswirken. Zudem dürfte, wie oben erwähnt, die Bereitschaft solcher Gruppen, sich mittels einer unilateralen Deklaration zur Einhaltung dieser Normen zu verpflichten, häufig gegeben sein. Mit dieser Einstufung wird aber auch eine zwingend reziproke Geltung des gemeinsamen Art. 3 zwischen den Parteien eines internen Konfliktes abgelehnt384 • Somit ist es der staatlichen Partei verwehrt, die Anwendbarkeit des Art. 3 GK I-IV allein unter Berufung darauf abzulehnen, dass die Gegenpartei nicht in der Lage sei, ihrerseits die Verpflichtungen zu erfüllen, die aus dieser Bestimmung ßiessen. Eine solche Entkoppelung der staatlichen Verpflichtung des gemeinsamen Art. 3 GK von Anforderungen hinsichtlich der Organisationsstruktur resp. der territorialen Jurisdiktion von Aufständischen 385 entzieht aber Argumenten, die für eine hohe Anwendungsschwelle des gemeinsamen Art. 3 GK plädieren, ihr wesentliches Fundament. So kann das Defizit, das aus der allenfalls prekären Bindung Aufständischer resultiert, weitgehend dadurch ausgeglichen werden, dass die staatliche Partei, deren Armee in der Regel vergleichsweise straff hierarchisch organisiert ist, bereits in Situationen mit vergleichsweise niedriger Gewaltintensität an diese Grundnorm des humanitären Völkerrechts gebunden ist 386• Endlich gilt es die Situation auch unter dem Blickwinkel der Durchsetzbarkeil der völkerrechtlichen Ansprüche aus Art. 3 GK zu beurteilen. Dabei muss realistischerSiehe dazu auch Kap.5, 111.2.a). Dieses Argument kann nicht auf Konflikte im Sinne von Art. 1 ZPII übertragen werden, da in jener Bestimmung diese beiden Elemente ausdrUcklieh verbunden werden und zusätzlich die Anwendungsschwelle dieses Vertrages genauer definiert wird. Siehe dazu oben Abschn. IV. 3.c)aa). 386 In einem ähnlichen Sinn kann auch die folgende Äusserung des GK-1-Kommentars 50 interpretiert werden: "The above criteria are useful as a means of distinguishing a genuine armed conflict from a mere act of banditry or an unorganized and short-lived insurrection. Does this mean that Article 3 is not applicable in cases where armed strife breaks out in a country, but does not fulfil any of the above conditions (which are not obligatory and are only mentioned as an indication)? We do not subscribe to this view. We think, on the contrary, that the Article should be applied as widely as possible. There can be no reason against this". In diesem Sinne wandte auch die IAKMR im Fall Juan Carlos Abella v. Argentina (Case 11.136, Report N° 55/97, November 18, 1997 [Tablada Case]) den gemeinsamen Art. 3 auf den Sachverhalt einer kurzzeitigen militärischen Revolte an, ohne die Gegenpartei- die nur während der etwa dreissig Stunden andauernden Revolte bestehende "Organisation" der Rebellen - in irgendeiner Form als Organisation völkerrechtlich haftbar zu erklären. Zwar erklärt auch dieses Organ, beide Parteien seien aus Art. 3 GK I-IV unabhängig von Reziprozitätsüberlegungen verpflichtet (a. a. 0., para. 174), bezeichnet die "Organisation" der Revoltierenden kurz darauf aber wieder als "private actors". Dieses Beispiel eines Konflikts im Sinne der Anwendungsvoraussetzungen des gemeinsamen Art. 3 illustriert auch unter praktischen Gesichtspunkten besonders deutlich, dass in solchen Konstellationen die Konstruktion einer Haftung einer solchen, nur sehr kurzlebigen Gruppe als Organisation über die individuelle strafrechtliche Verantwortung hinaus keinen oder nur einen marginalen zusätzlichen Rechtsschutz bewirken kann. 384

385

VI. Fazit

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weise davon ausgegangen werden, dass Wiedergutmachungsleistungen aufständischer Gruppen für begangene Völkerrechtsverletzungen nur im Falle von "erfolgreichen" Gruppierungen möglich sind und dies zusätzlich erst nach Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung, zumindest aber erst ab einem Zeitpunkt, in welchem diese Organisation die Jurisdiktion über ein stabiles de facto Staatsgebilde innehat und deshalb vermutungsweise als Völkerrechtssubjekt einzustufen ist. Im gegenteiligen Fall eines erfolglosen Aufstandes kann aus offenkundigen Gründen die mittlerweile untergegangene Gruppe in keiner Weise selbständig als Organisation völkerrechtlich haftbar gemacht werden.

VI. Fazit: Geltungsbereiche und Adressaten der Verpflichtungen aus Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht • In einem internationalen bewaffneten Konflikt werden Angehörige einer geschützten Personenkategorie, die nicht ausdrücklich vom persönlichen Geltungsbereich der GK ausgeschlossen sind, gegenüber dem Feindstaat - resp. auch gegenüber dem eigenen Staat im Falle von Flüchtlingen und Angehörigen staatlicher Minderheiten, die nicht mehr unter dem Schutz ihres Heimatstaates stehen- kumulativ durch folgende Normkomplexe geschützt: Den vollen Bestand der Genfer-Konventionen, je nach Ratifizierung alle Bestimmungen des ZPI oder ausservertraglich zumindest die Grundsätze von Art. 75 dieses Vertrages, den gemeinsamen Art. 3 GK, die Garantien des allgemeinen Völkerrechts mit ius cogens Qualität sowie -bei Ratifizierung der entsprechenden Abkommen durch die Konfliktparteien - zumindest die notstandsfesten Garantien der Menschenrechtsabkommen. • Nur wenig schwächer ist der Schutz von nicht direkt an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligten Personen in Befreiungskriegen gernäss Art. 1 Abs. 4 ZPI ausgebaut, wenn auch in solchen Situationen zumindest de lege lata fraglich sein kann, ob Befreiungsbewegungen auch durch die vertraglichen Menschenrechtsgarantien, welche zwar der Staat, der dieses Territorium zu Unrecht unter Kontrolle hält, nicht aber sie selber ratifiziert haben, verpflichtet werden. • Unter dem Schutz von Art. 75 ZPI, der grundlegenden Bestimmungen der GKIII und IV kraft ungeschriebenen Rechts, von Art. 3 GK I-IV sowie der Menschenrechte im oben erwähnten Umfang stehen von einem internationalen Konflikt betroffene Personen, welche sich unter der Jurisdiktion des eigenen Staates befinden oder aus anderen Gründen nicht in den persönlichen Schutzbereich einer der Genfer Konventionen fallen. • Das ZP II, Art. 3 der GK I-IV, grundlegende Bestimmungen der Genfer Konventionen als allgemeine Rechtsprinzipien, ius cogens Garantien des allgemeinen Völkerrechts und bei Ratifikation der entsprechenden Verträge wenigstens die notstandsfesten Menschenrechte finden in mit hoher Intensität geführten Bürger-

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Kap. 2: Geltungshereiche/Träger menschenrechtlicher Verpflichtungen

kriegen gegenüber den von staatlichen Massnahrnen betroffenen Individuen Anwendung. Die nichtstaatliche Gegenseite wird unter der- durchaus wahrscheinlichen - Voraussetzung, dass diese Gruppe zumindest partielle Völkerrechtsfahigkeit besitzt, durch die ungeschrieben geltenden Garantien von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht sowie unter der Annahme der Geltung des Grundsatzes der Sukzession von Verträgen humanitären Inhalts auch durch die vertraglichen Verpflichtungen im seihen Umfang wie die staatliche Seite verpflichtet. • Bezüglich staatlichen Verhaltens beschränkt sich in folgenden Situationen das Schutzniveau auf die Garantien des gemeinsamen Art. 3 GK, der Grundsätze von Art.4-6 ZPII resp. von Art. 75 ZPI als allgemeine Rechtsprinzipien und wiederum diejenigen Menschenrechte, welchen ius cogens Charakter zukommt oder- bei Ratifikation der entsprechenden Instrumente- die notstandsfest ausgestaltet sind: In internen Auseinandersetzungen gernäss der Definition von Art. 3 GK, welche die für eine Anwendung des ZPII nötige Intensität nicht erreichen; in Kriegen, die diese Intensitätsstufe zwar erreichen, falls der betreffende Staat das ZPII aber nicht ratifiziert hat, sowie in internationalen Konflikten bei Nichtratifizierung des ZPI durch den relevanten Staat, falls von der Auseinandersetzung betroffene Menschen sich infolge des beschränkten persönlichen Geltungsbereichs nicht auf die GK berufen können. Die Begründung einer objektiven direkten völkerrechtlichen Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppen präsentiert sich in solchen Situationen- da die nichtstaatliche Partei nicht Völkerrechtssubjekt ist- als sehr problematisch. Eine Bindung dieser Gruppierung lässt sichjedoch indirekt als Reflex einer strafrechtlichen Verpflichtung der Organe dieser Gruppe konstruieren. • Noch weniger ausgebaut präsentiert sich das Schutzniveau in internen Auseinandersetzungen, die unterhalb des von Art. 3 GK definierten Konfliktgrades liegen. In solchen Situationen kann der Staat seine Verpflichtung auf die Menschenrechte - von welchen zudem unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgebotes gestützt auf die Derogationsklauseln abgewichen werden kann - oder je nach Ratifikation von Menschenrechtsverträgen gar nur auf Menschenrechte, die zum Bestand des ius cogens gehören, beschränken. Die nichtstaatlichen Gruppierungen an sich unterstehen hingegen keinen Verpflichtungen aus dem Völkerrecht. • Weder direkt durch Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, noch durch Menschenrechte verpflichtet werden die Parteien einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Rebellengruppen, diebeidekeine Völkerrechtssubjektivität besitzen. Auch in dieser Konstellation lässt sich aber eine mittelbare Verpflichtung aufgrund der völkerstrafrechtlichen Verpflichtung ihrer Organe konstruieren. Da der Staat zudem zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts auf seinem Gebiet verpflichtet ist, sind diese Gruppen gestützt auf das nationale Recht zur Beachtung der Garantien von Art. 3 GK verpflichtet.

Kapite/3

Die Verpflichtungsarten und ihr Einfluss auf die Flexibilität menschenrechtlicher Verpflichtungen I. Einleitung Nachdem im vorherigen Kapitel der Umfang der Verpflichtungen aus Menschenrechten in persönlicher, territorialer und in situationsbedingter Hinsicht eingegrenzt wurde, gilt es in diesem Abschnitt abzuklären, inwieweit bereits als Folge der verschiedenen aus Menschenrechten fliessenden Verpflichtungsarten den Staaten Freiräume in der Verwirklichung menschenrechtlicher Postulate gewährt werden. Es ist mit anderen Worten zu untersuchen, ob bereits anlässtich der Abklärung, ob ein behördliches Verhalten überhaupt geeignet sein kann, den Geltungsbereich einer Garantie zu tangieren, den Staaten eine Berücksichtigung situationsabhängiger Umstände erlaubt wird. So verpflichten gernäss einer weit verbreiteten Meinung wirtschaftliche und soziale Rechte im Gegensatz zu den bürgerlichen und politischen Garantien die Staaten ausschliesslich in programmatischer Weise, d. h. sie erlauben Vertragsstaaten der entsprechenden Verträge, das Ausmass ihrer Verpflichtungen unter anderem von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfaltigkeil abhängig zu machen. Träfe diese Einschätzung zu, hätte dies zur Folge, dass ein passives staatliches Verhalten kaum je klar als Verletzung einer solchen Garantie taxiert werden könnte. Diese Unterschiede rühren aus folgender - in dieser Form allerdings veralteten- Theorie her: Laut dieser kann, sobald die Erfüllung eines Rechtes eine positive staatliche Leistung eines Staates verlangt, dieser bloss verpflichtet werden, unter Verwendung seiner konkret vorhandenen Infrastruktur auf die Erfüllung dieses Postulates hinzuarbeiten. Im Gegensatz dazu soll bei einem geforderten Unterlassen staatlicher Aktivitäten mangels Abhängigkeit der Verpflichtung vom Vorhandensein von Ressourcen ein sofortiges Resultat verlangt werden können. Diese angebliche Diskrepanz in der Erfüllungsstruktur menschenrechtlicher Garantien, je nachdem, ob diese primär ein Unterlassen oder aber eine staatliche Leistung verlangen, wurde während Jahrzehnten mit der Unterteilung der Menschenrechte in die Kategorie der bürgerlichen und politischen einerseits und diejenige der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte andererseits gleichgesetzt. Aus diesem Grund soll in einem ersten Schritt der Einfluss dieser menschemechtlichen Kategorisierung auf die Verpflichtungsart einzelner Garantien untersucht werden. D. h. es soll geprüft werden, ob der Grundsatz, wonach bürgerliche Menschenrechte ausschliesslich ein Unterlassen verlangen, während ein 'gleiches Verhalten die ausschliessliche Verletzungs-

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

fonn im Falle von Sozialrechten darstellt, noch der heutigen Praxis völkerrechtlicher Organe entspricht. Ansebliessend soll gernäss der heute vorherrschenden Unterteilung menschenrechtlicher Verpflichtungen in Unterlassungs-, Schutz- und Leistungspflichten abgeklärt werden, inwieweit je nach spezifischer Verpflichtungsart den Staaten eine Berufung auf situationsbedingte Umstände bereitsanlässlich der Eruierung der aus einer materiellen Garantie fliessenden völkerrechtlichen Verpflichtung ermöglicht wird.

II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten 1. Die antagonistische Auffassung• Seit Jahrzehnten beschwören verschiedenste internationale Deklarationen2 beinahe routinemässig die Einheit, Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte. Trotzdem beherrschte, geprägt von ideologischen Auseinandersetzungen zur Zeit des Kalten Krieges, bis Ende der achtziger Jahre das Bild einer grundsätzlichen Andersartigkeit und damit eines Gegensatzes zwischen bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Garantien andererseits die Rechtswirklichkeit Erstere wurden dabei ausschliesslich als Abwehrrechte verstanden, welche einem Staat ein Aktivwerden in den durch diese Rechte geschützten Bereichen untersagen. Letztere hingegen wurden als Leistungspostulate eingestuft, die mittels gerichtlicher Entscheidungen nicht durchgesetztl werden können und denen deshalb ein rein programmatischer Charakter zukommt. Vertreter der antagonistischen Theorie begründen die angeblich beschränkte nonnative Verpflichtungskraft wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte regelmässig mit folgenden Argumenten: Solche Garantien würden in der Regel einen vergleichsweise wenig präzis gefassten materiellen Geltungsbereich besitzen. Zudem legten Verträge, welche Rechte dieser Kategorie kodifizieren, den Vertragsstaaten meist keine Ergebnisverpflichtungen, sondern ausschliesslich rein programmatische4 Verhaltensverpflichtungen mit vorwiegend politischem Charakter5 zur ErreiSiehe für die folgende Übersicht auch Künzli 528 ff. Vgl. z.B. die Präambel der beiden Menschenrechtspakte und die Vienna Declaration and Programme of Action aus dem Jahr 1993 (UN Doc. NConf. 157/23) Ziff.l.5. 3 Eine Berufung auf dieses Argument verkennt den Unterschied zwischen der Geltung eines Rechts an sich und der Frage nach dessen (gerichtlicher) Durchsetzbarkeit; vgl. dazu Scheinin (Legal Rights) 41 ff. 4 So z. B. Christion Tomuschat, Human Rights in a World-Wide Framework- Some Current lssues, ZaöRV 1985, 566: ,,None of the rights granted under the CESCR is of a self-realizing nature.(...) States are enjoined to take action for the fulfihnent ofthe goals which the CESCR establishes under the cover of rights". s Siehe dazu E. G. Vierdag, The Legal Nature of the Rights Granted by the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, NYIL 1978, 69ff, der kategorisch erklärt: "The implementation of these provisions is a political matter, not a matter of law, and hence not a matter of rights". Eine analoge Meinung vertritt auch M. Bossuyt, La distinction juridique entre 1

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II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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chung utopischer Ziele6 auf. Folgerichtig seien diese auch mit schwächeren Durchsetzungsinstrumentarien bestückt. Neuerliche Nahrung gab Vertretern dieser Theorie der Beginn der Rezession anfangs der neunziger Jahre. Unter Berufung auf den kurz zuvor erfolgten Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Mittel- und Osteuropa wurde argumentiert, es sei kein Staat in der Lage, ein Erfüllungsversprechen-wie es die sozialen und wirtschaftlichen Rechte erforderten- abzugeben 7• Der egalitäre Grundgedanke und die "Generosität" von Sozialpakten dränge zudem "die am meisten Bedürftigen an den Rand und lenkt davon ab, dass es Gruppen in der Gesellschaft gibt, ( ...) für die Gewähr oder Nichtgewähr öffentlicher Leistungen eine Frage von Leben oder Tod ist" 8 •

2. Die integrative Auffassung Diese Einschätzung einer grundsätzlich verschiedenartigen Rechtsnatur der zwei Menschenrechtskategorien wurde in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen wesentlich aufgeweicht: Wurde früher, wie die Beispiele der Doppelverträge von Pakt I und II resp. von EMRK und ESC verdeutlichen, strikt darauf geachtet, keine menschenrechtliehen Garantien unterschiedlicher Kategorien in ein und demselben Instrument zu verankern, wird in neueren Verträgen auf diese Spaltung verzichtet, d. h. es werden Rechte beider Kategorien in demselben Vertragswerk kodifiziert. Diese Möglichkeit einer einheitlichen Verankerung beider Generationen wurde jedoch- von der Doktrin vielfach unbeachtet9 - in besonders eindrücklicher Form seit Jahrzehnten vom humanitären Völkerrecht vorweggenommen. Neben der Beseitigung dieser Diskrepanz auf rein formaler Ebene wurde durch die Überwachungsorles droits civils et politiques et les droits economiques, sociaux et culturels, Human Rights Journal1975, 783 ff. Eine noch radikalere Kritik findet sich bei Maurice Cranston, What areHuman Rights?, New York 1973, 65 ff. Ähnlich auch Andreas Khol, Der Menschenrechtskatalog der Völkergemeinschaft, Wien 1968, 42f, und Heinz Guradze, Die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1966, Jahrbuch für internationales Recht 1971, 242, beide zitiert nach Nowak (Inhalt) 9, Anm. 14. 6 Tomuschat (Anm. 4) 567: "The discrepancy between legal vision and hard realities attains almost shocking dirnensions when one reads in Art. 11 ( 1) of the CESCR that everyone has a right ,to the continuous irnprovement of living conditions'. More than a light touch of utopia is also inherent in Art. 7 where it is stated that everyone's right to the enjoyment of just and favourable conditions of work includes ,rest, Ieisure and reasonable Iimitation of working hours and periodic holidays with pay, as weil as remuneration for public holidays' ". 7 Christion Tomuschat, Bewahrung, Stärkung, Ausgestaltung- Zur künftigen Menschenrechtspolitik Deutschlands in der Weltorganisation, Vereinte Nationen 1991, 10. Folgerichtig wird von diesem Autor auch die Gleichwertigkeit beider Menschenrechtskategorien bestritten: ,,Fast wird es heute schon als ein unumstössliches Dogma betrachtet, dass beide Gruppen von Rechten einander gleichwertig seien" (a. a. 0. 9). 8 Ibid. 9 So handelt es sich beim Artikel von Rosas/Sandvik, soweit ersichtlich, um den einzigen Beitrag der Doktrin, welcher sich spezifisch mit der Verankerung sozialer und wirtschaftlicher Rechte in diesem Völkerrechtszweig beschäftigt.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

gane menschenrechtlicher Verträge das Bild einer diametral anderen Erfüllungsstruktur beider Menschenrechtskategorien nach und nach aufgeweicht. Eine Pionierrolle nahm in dieser Hinsicht der Ausschuss für WSK-Rechte ein: Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Doktrin 10 schenkte dieses Organ sowohl anlässlich der Prüfung von Staatenberichten, wie auch in seinen General Comments vermehrt der Tatsache Beachtung, dass gewisse Teilgehalte sozialer und wirtschaftlicher Garantien primär ein staatliches Unterlassen verlangen und deshalb auch unmittelbar zu erfüllende Verpflichtung enthalten. In umgekehrter Hinsicht lässt sich aber auch in der Praxis der Überwachungsorgane des Pakts II und der EMRK ein vermehrtes Abstandnehmen von einem rein defensiven Verständnis bürgerlicher und politischer Rechte beobachten.

a) Die Überwindung der Spaltung aufformeller Ebene aa) Menschenrechte Bereits in Verträgen, die zeitlich vor der Kodifizierung der universellen Menschenrechtspakte verabschiedet wurden, finden sich Elemente beider Menschenrechtskategorien. Allerdings beschränken sich die in diesen Abkommen verankerten sozialen und wirtschaftlichen Garantien auf ihre negativen Teilgehalte: So wird in Art. II lit. d der Genozidkonvention die "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für eine Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen" als Völkermord qualifiziert, dies jedenfalls dann, wenn die übrigen Voraussetzungen dieses Straftatbestandes erfüllt sind 11 • Ebenfalls als Abwehr- oder Freiheitsrecht ist das im ZP1/EMRK 12 verankerte Recht auf Bildung ausgestaltet 13• Eine gleichberechtigte Aufnahme beider Rechtskategorien in umfassende allgemeine resp. personenspezifische verbindliche Instrumente nach dem Vorbild der AEMR wurde erst anfangs der achtziger Jahre mit der AfMRK erstmals vollzogen. Auf universeller Ebene folgten im Jahre 1989 die Kinderrechtskonvention und 1990 die gegenwärtig noch nicht in Kraft stehende Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und.ihrer Familien. Alle diese Verträge beschränken die Sozialrechte nicht auf ihre Abwehrfunktion, und sie enthalten zusätzlich bezüglich beider Rechtskategorien dieselben - allerdings nicht sehr wirksam 10 Vgl. z. B. Alston (ESC Rights) 137ff; Alston!Quinn 156ff; Eide (Strategies) 459ff; ders. (ESC Rights) 21 ff und van Hoof97 ff. 11 Siehe dazu vorne Kap.l, III.4.c). 12 Art.2 ZPl/EMRK; siehe dazu z.B. Frowein!Peukert 828ff. 13 In diesem Zusammenhang gilt es auch Art. 5 der Konvention zur Verhinderung der Rassendiskriminierung zu erwähnen, welcher die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, die Gleichheit vor dem Gesetz nicht nur für die Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte, sondern ebenso für eine umfangreiche Liste wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte zu gewährleisten.

II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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ausgestalteten- Durchsetzungsmechanismen 14• Schliesslich gilt es in diesem Zusammenhang auch das Projekt eines Zusatzprotokolls zur EMRK über fundamentale soziale Menschenrechte zu erwähnen 15• Wird dieses verwirklicht, hätte dies für diese Garantien auch automatisch die Teilhabe an dem im System des Völkerrechts wohl effektivsten Durchsetzungsinstrumentarium zur Folge 16• Das Bestehen eines politischen Willens der Staaten zur Kodifizierung eines solchen Zusatzprotokolls erscheint allerdings gegenwärtig noch sehr unsicher. bb) Humanitäres Völkerrecht Bei weitem in den Schatten gestellt wird diese Vereinheitlichung auf formeller Ebene im Rahmen menschenrechtlicher Verträge aber durch das humanitäre Völkerrecht. So enthalten bereits die GKI-IV aus dem Jahr 1949, aber auch die beiden ZP von 1977 neben Verpflichtungen, die analog den bürgerlichen Rechten ein Unterlassen gebieten resp. ein Eingreifen in einen geschützten Bereich verbieten, eine Fülle von Bestimmungen zum Schutz vor allem sozialer, aber vereinzelt auch wirtschaftlicher und kultureller Rechtspositionen17• Diese sind als integraler Bestandteil des humanitären Völkerrechts gar notstandsfest zu beachten 18• Diese Normen lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Einerseits in zum Teil weitgehende, unmittelbar zu erfüllende Pflichten, welche eine Vertragspartei zu positiven Leistungen 19 primär zugunsten von Staatsangehörigen der Gegenpartei verpflichten, denen als direkte Folge der bewaffneten Auseinandersetzungen vollständig oder teilweise die 14 Die CRC enthält aber als einziger dieser Verträge eine unterschiedliche allgemeine Verpflichtungsklausei für die Leistungsverpflichtungen, je nachdem aus welcher Menschenrechtskategorie diese fliessen. So bestimmt Art.4 CRC: ,,Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Massnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte. Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte treffen die Vertragsstaaten derartige Massnahmen unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit". Andererseits kann aus dieser Norm auch gefolgert werden, dass Leistungsverpflichtungen aus bUrgerliehen und politischen Rechten dieses Instrumentes unmittelbar zu erfüUen sind. Insofern wird hier erstmals explizit die traditioneUe Gleichsetzung von Leistungsverpflichtung und progressiver ErfüUungsstruktur durchbrachen. Siehe dazu ausführlich unten Ziff. V. 15 Am 24. Juli 1999 empfahl die Parlamentarische Versammlung des Europarates, ein ZusatzprotokoU mit grundsätzlich justiziablen Sozialrechten auszuarbeiten. Siehe dazu Council of Europe, Parliamentary Assembly, Additional Protocol to the European Convention on Human Rights conceming fundamental social rights, Doc. 8357. 16 Pellonpää 869ff. 17 Siehe zu diesem Thema neben der oben in Kap. 2, Anm. 27, erwähnten Literatur zum humanitären Völkerrecht insbesondere die Beiträge von Rosas/Sandvik und von Jasudovicz 37ff sowie den Bericht des Sonderberichterstatters zur Menschenrechtssituation im irakisch besetzten Kuwait (UN.Doc.E/CN.4/1992/26, insbesondere paras.l85-235). 18 Siehe dazu hinten Kap.5, 111.5.b). 19 Gasser (Einführung 26 f) sieht in diesen zahlreichen Leistungsverpflichtungen- m. E. zu Unrecht- gar einen Beleg für den Unterschied zwischen humanitärem Kriegsvölkerrecht und dem Recht der Menschenrechte.

13 KUnzli

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Möglichkeit einer selbständigen Befriedigung ihrer Existenzbedürfnisse entzogen wurde20 und andererseits in eigentliche Verbotsnormen, welche entweder die Zerstörung der sozialen Infrastruktur oder die Verunmöglichung der selbständigen Befriedigung von Subsistenzbedürfnissen durch die Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegführung untersagen. Gar als umfassende Kodifikationen des Rechts auf Gesundheit für verwundete Angehörige der Land- und der Seestreitkräfte können die GK I und II eingestuft werden. Aber auch die für die vorliegende Arbeit relevanteren GK III und IV sowie die ZP I und II enthalten umfangreiche Leistungsverpflichtungen zum Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte: Ein erstes umfangreiches Bündel von Garantien soll die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Bekleidung und Unterkunft sicherstellen: Kriegsgefangene sind gemäss der schrankenlos und absolut, d. h. ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gewahrsamsmacht, geltenden 21 Grundlagennorm von Art. 15 GK III unentgeltlich mit allen zur Aufrechterhaltung der Gesundheit notwendigen Subsistenzgütern zu versorgen 22 • In teilweise sehr detaillierter Form wird dieser Grundsatz in den Art. 25 GK III für den Anspruch auf Unterkunft23, in Art. 26 GK III für die Versorgung mit Nahrungsmitteln 24 und in Art. 27 GK III für den Anspruch auf Bekleidung25 konkretisiert. Analog den Bestimmungen der Sozialpakte beschränkt sich auch dieser Vertrag nicht auf Leistungsverpflichtungen, welche bloss das absolute Überleben sichern sollen, sondern er verlangt von den Vertragsstaaten die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards für Kriegsgefangene26• Ähnliche Regelungen kennt die GK IV zum Schutz internierter Personen27 und zugunsten der Zivilbevölkerung eines besetzten Gebietes. So verpflichtet dieses völkerrechtliche Abkommen eine Besatzungsmacht, "die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- ( ...)mitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen"28. Weiterentwickelt und in ihrem persönlichen Geltungsbereich auf die ge20 D.h. primär Bewohner besetzter Gebiete, Zivilinternierte und Kriegsgefangene. Siehe zur Rechtsnatur dieser Leistungspflicht hinten Ziff. V. 3. d) und e) aa). 21 GK-111-Kommentar 153. 22 GK-111-Kommentar 152. 23 Siehe GK-111-Kommentar 192ff. 2A Art. 26 Abs. 1 GK 111: "Die tägliche Grundration von Nahrungsmitteln soll in Menge, Beschaffenheit und Abwechslung ausreichend sein, um einen guten Gesundheitszustand der Gefangenen zu gewährleisten und um Gewichtsverluste zu verhindern". Die zentrale Bedeutung, welche die GK 111 einer ausreichenden Ernährung der Kriegsgefangenen zumisst, wird auch in Abs. 6 dieser Bestimmung deutlich, der "sämtliche kollektiven Disziplinarmassnahmen auf dem Gebiet der Ernährung" untersagt. Siehe zu dieser Regelung auch GK-1//-Kommentar 196 ff und Fischer 285 f. 2S GK-111-Kommentar 201 f. 26 Jasudewicz 38. 27 Art. 81, 85 und 89f GKIV; vgl. dazu GK-/V-Kommentar 377ff. 28 Art. 55 Abs. 1 GK IV; siehe GK-/V-Kommentar 309ff und Gasser (Zivilbevölkerung) 214f.

II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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samte Zivilbevölkerung ausgedehnt wurde diese Norm durch Art. 69 Abs. 1 ZP I 29• In nicht-internationalen Konflikten statuiert Art. 5 Abs. 1 lit. b eine positive und absolute, jedoch in ihrem Ausmass von relativen Faktoren bestimmte30 Verpflichtung zum Schutz der Subsistenzbedürfnisse der Zivilbevölkerung und von Personen, denen die Freiheit entzogen ist. Ein weiterer Schwerpunkt des humanitären Völkerrechts in diesem Bereich verpflichtet die Staaten zu Leistungen, welche den Schutz der Gesundheit verschiedener Personenkategorien gewährleisten sollen. Die GKIII hält die Vertragsstaaten zu Massnahmen in Form unentgeltlicher ärztlicher Behandlung von Kriegsgefangenen und zu Vorsorgemassnahmen zur Vermeidung von Epidemien sowie zur Sicherstellung der Hygiene in Lagern etc. an 31 • Zugunsten der Zivilbevölkerung verpflichtet die GK IV ihre Vertragsparteien zur Errichtung resp. zur Betreibung einer Gesundheitsinfrastruktur, zur Gewährleistung eines speziellen Schutzes von Gesundheitseinrichtungen mit dem Zweck, die öffentliche Gesundheit und Hygiene in besetzten Gebieten zu erhalten, und zur unentgeltlichen ärztlichen Behandlung internierter Personen 32• Diese Vielzahl von Bestimmungen in den GK wurde 1977 durch die Subsidiärnorm von Art. 10 ZP I ergänzt, wonach alle Verwundeten und Kranken "gleichviel welcher Partei sie angehören(...) so umfassend und so schnell wie möglich die für ihren Zustand erforderliche medizinische Pßege und Betreuung" erhalten müssen. In Situationen interner bewaffneter Auseinandersetzungen statuiert neben der Grundregel des Art. 3 GK I-IV, wonach Verwundete und Kranke geborgen und gepflegt werden sollen, einzig Art. 5 Abs. 2 lit. d ZP II ein Recht von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sich ärztlich untersuchen zu lassen33 • Schliesslich fanden auch andere, oft in ähnlicher Weise in Sozialpakten verankerte Positionen im humanitären Völkerrecht Aufnahme, wenn auch in weniger detaillierter Form. Referenzen zum Recht auf Erziehung finden sich in der GK IV zugunsten internierter Personen und der Bevölkerung besetzter Gebiete 34• Verpflichtungen 29 .,Über die in Artikel 55 des IV. Abkommens bezeichneten Verpflichtungen betreffend die Versorgung mit Lebens- und Arzneimitteln hinaus sorgt die Besetzungsmacht im Ralunen aller ihr zur VerfUgung stehenden Mittel und ohne jede nachteilige Unterscheidung auch fUr die Bereitstellung von Kleidung, Material fUr die Übernachtung, NotunterkUnften, anderen für das Überleben der Zivilbevölkerung des besetzten Gebietes wesentlichen VersorgungsgUtem und Kultgegenständen". Vgl. zu dieser Bestimmung ZP-Kommentar 811. 30 ZP-Kommentar 1386; siehe zur Struktur dieser Verpflichtung hinten Anrn.493. 31 Siehe Art. 14, 20,22-26,29-34,47, 89 und 110 GKIII. 32 SieheArt.16, 38Ziff. 2, 55f, 81,91 fund 125 GKIV; dazu Gasser(Zivilbevölkerung) 217. 33 Diese fundamentale Verpflichtung steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass sie nur insoweit befolgt werden muss, als sie im Ralunen der Möglichkeiten der fUr die Haft oder Internierung zuständigen Person liegt (ZP-Kommentar Rz.4580ff). Vgl. die Kritik an dieser Relativierung in Bothe!Partsch/Solf646 und in Rosas!Sandvik 344, Anrn. 11. 34 Art. 50 Abs.1 GK IV: ,,Die Besatzungsmacht soll in Zusammenarbeit mit den Landes- und Ortsbehörden den geordneten Betrieb der Einrichtungen erleichtern, die zur Pflege und Erziehung der Kinder dienen" (siehe dazu GK-/V-Kommentar 284fT). Als Minimalgarantie wird in Art. 4 Ziff. 3 lit. a ZPII zudem ein Anspruch auf Erziehung von Kindem entsprechend den Wün-

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

zur Sicherstellung von gerechten und sicheren Arbeitsbedingungen sind im humanitären Recht für Kriegsgefangene 3s, Bewohner besetzter Gebiete 36 und lnternierte 37 verankert. Ein eigentliches, wenn auch programmatisch formuliertes Recht auf Arbeit38 findet sich in Art. 39 GK IV, der bestimmt, dass "geschützten Personen, die infolge des Konflikts ihren Broterwerb verloren haben,( ...) die Möglichkeit geboten werden [soll], eine bezahlte Arbeit zu finden". Schliesslich weisen auch die zahlreichen Bestimmungen des Genfer Rechts zum Schutz von Frauen, Kindern und älteren Personen 39 einen engen Konnex zu sozialen Menschenrechten auf. Die eben dargestellten Normen verpflichten aber die Staaten nicht nur zu den erwähnten Leistungen. Vielmehr enthalten sie zusätzlich eine negativ zu erfüllende Verpflichtungsschicht, indem sie auch- wie z. B. im Bericht des UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechtsverletzungen im irakisch besetzten Kuwait 40 festgestellt - die Verschlechterung der Versorgungslage durch vorsätzliche Verweigerung des Zugangs zu Infrastrukturanlagen oder der Vertreibung von Fachpersonal untersagen: Im erwähnten Bericht wurde deshalb die Weigerung von Besatzungsbehörden, den Zugang zu Spitälern zu gewähren, die Vertreibung des ausländischen Gesundheitspersonals sowie die Plünderung und Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen als Verletzung der Verpflichtung erkannt, die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrungs- und Arzneimitteln41 resp. mit Gesundheitseinrichtungen sicherzustellen 42 • Anders als in Sozialpakten finden sich im humanitären Völkerrecht auch häufig explizite Verbotsbestimmungen zum Schutz sozialer, wirtschaftlicher und gelegentlich auch kultureller Rechte. Diese lassen sich sachgerecht in vier Kategorien einteilen: • Verbot der Zerstörung von zivilen lnfrastrukturanlagen: Als Bestandteil des Raager oder Kriegführungsrechts 43 statuiert Art. 52 ZPI ein generelles Verbot, zivile Objekte anzugreifen44 • Konkretisiert wird diese Bestimmung in Art. 54 Ziff. 2 sehen ihrer Eltern oder gesetzlichen Vertretern kodifiziert. Ein sozialrechtliches Postulat verankert zudem Art. 38 GK III, der die Gewahrsamsstaaten unter Achtung der persönlichen Vorlieben der einzelnen Gefangenen zur Förderung der geistigen, erzieherischen und sportlichen Tätigkeit verpflichtet. 35 Art. 51-55 und 57 GKIII; siehe GK-111-Kommentar 613ff. 36 Art. 51 Abs. 3 GK IV; dazu GK-IV-Kommentar 298. 37 Art. 95 Abs.4 GKIV; vgl. GK-IV-Kommentar416f. 38 So explizit der Titel im GK-IV-Kommentar 250. 39 Siehe insbesondere die Art. 14 Abs. 2, 25 Abs. 4 und 29 Abs. 2 GK III; Art. 14 Abs. 1, 16 f, 20 Abs. 1, 24-26, 27 Abs. 2, 49 Abs. 3, 50, 82 Abs. 2 und 3, 89 Abs. 5 und 91 Abs. 2 GK IV; Art. 75 Ziff.5, 76-78 ZPI; Art.4 Ziff. 3, 5 Ziff. 2lit. a ZPII. 40 UN Doc. E/CN. 4/1992/26. •• Art. 55 f GK IV. 42 UN Doc. E/CN. 4/1992/26, paras. 185-200. 43 V gl. zu dieser Unterscheidung Kap. 1, II. 2. 44 V gl. zu dieser zentralen Bestimmung des ZPI, die den sog. "totalen Krieg" verbietet, ZPKommentar Rz. 1994 und BothelPartsch/Solf 318 ff.

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ZP I, welcher es Kriegsparteien verbietet, lebensnotwendige Objekte "wie Nahrungsmittel, zur Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzte landwirtschaftliche Gebiete, Ernte und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte und Bewässerungsanlagen" unbrauchbar zu machen45 • Diese Verbotsnormen des ZP I finden ihre Vorläufer in der GK IV 46 und kennen auch eine Parallele im ZPII 47 • • Eng verwandt mit der eben besprochenen Kategorie ist das Verbot der Verunmöglichung oder Behinderung der selbständigen Befriedigung sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse einer geschützten Personenkategorie. Im Zentrum stehen dabei die analogen Bestimmungen von Art. 54 Ziff. 1 ZP I und Art. 14 ZP II, die - wiederum materiell Haager Recht -das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegführung verbieten48 und deren Verletzung gernäss dem Statut des internationalen Strafgerichtshofes gar als Kriegsverbrechen gilt49 • Daneben untersagen verschiedene Bestimmungen ein Verhalten, das auf eine Behinderung der Möglichkeit zielt, selbständig das Recht auf Gesundheit50, auf Arbeit 51 , auf Erziehung52 resp. auf Bekleidung53 wahrzunehmen. • Ein Spezialfall des Verbotes der Erschwerung der selbständigen Bedürfnisbefriedigung stellt das Verbot der Behinderung von Hilfeleistungen Dritter dar. So soll 45 Ziff. 2 dieser Bestirnrnung gestattet jedoch unter eng umschriebenen Voraussetzungen Ausnahmen von diesem Grundsatz. Siehe ZP -Kommentar Rz. 2083 ff. 46 Siehe z. B. Art. 53 GK-IV, der die Zerstörung von privaten oder öffentlichen GUtem nicht grundsätzlich verbietet, sondern den Erlaubnisvorbehalt der zwingenden militärischen Notwendigkeit kennt (falls die ,,zerstörung wegen militärischer Operationen unerlässlich" erscheint). Art. 18 Abs. I GK IV verbietet, Spitäler zum Ziel von Angriffen zu machen, und Art. 55 Abs. 2 GK IV untersagt grundsätzlich die Requirierung von Lebensmitteln in besetzten Gebieten durch die Besatzungsmacht. 47 Art.11 und 14 Satz 2 ZPII. Siehe dazu auch para. 7 der Declaration on the rules on international humanitarian law goveming the conduct of hostilities in non-international armed conflicts vom 7. April 1990 des International Institute of Humanitarian Law: "The general rule prohibiting attacks against the civilian populations implies, as a corollary, the prohibition to attack, destroy, remove or render useless objects indispensable to the survival of the civilian population". Diese Deklaration reflektiert die Meinung einer Expertengruppe, wonach u. a. diese Regel des in internationalen Konflikten geltende Kriegführungsrechts kraft Gewohnheitsrecht auch in innerstaatlichen bewaffneten Auseinandersetzungen Gültigkeit habe. 48 Siehe zu diesen grundlegenden Bestimmungen z. B. Breining-Kaufmann 195 ff und 215 f; ZP -Kommentar 651 ff und BothelPartsch/Solf 334 ff. 49 Art. 8 Abs. 2 lit. b (xxv) Statut ICC. 50 Art. 30 Abs. 4 GK III und Art. 91 Abs. 4 GK IV: Verbot, Kriegsgefangene und Internierte daran zu hindern, sich ärztlich untersuchen zu lassen. Art. 57 GKIVund Art. l4 ZPI: Beschränkung der Zulässigkeil der Requisition von Spitälern und zivilen Sanitätseinheiten. ' 1 Art. 52 Abs. 2 GK IV: Verbot von Massnahmen, die darauf abzielen, Arbeitslosigkeit zu schaffen. ' 2 Art. 94 GK IV: Pflicht, den Internierten alle Erleichterungen zu gewähren, um ihre Studien fortfUhren zu können oder neue zu beginnen. ' 3 Art. 90 GK IV: Pflicht, den Internierten alle Erleichterungen zu gewähren, um sich mit Kleidung auszustatten.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

gernäss Art. 23 GKIV 54 jede Vertragspartei "allen Sendungen von Medikamenten und Sanitätsmaterial freien Durchlass gewähren" 55 • Zudem darf die kollektive Hilfe von Staaten oder humanitären Organisationen zugunsten der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete bei ungenügender Versorgungslage durch die Besatzungsmacht nicht behindert werden 56• An verschiedenen Stellen stipulieren sowohl die GK III als auch die GK IV zusätzlich ein Verbot, private Hilfe zugunsten von Einzelpersonen zu unterbinden: So sind sowohl ausländische Staatsangehörige auf dem Gebiet einer am Konflikt beteiligten Partei, Bewohner besetzter Gebiete, Internierte als auch Kriegsgefangene zum Bezug individueller Hilfesendungen berechtigtH. • Besonders eng mit der Struktur bürgerlicher und politischer Rechte verwandt ist schliesslich die letzte Verbotskategorie, welche den staatlichen Eingriff in persönliche Rechtsgüter untersagt, welche im Friedensvölkerrecht üblicherweise durch Sozialpakte geschützt werden. Das Recht auf Gesundheit wird in dieser Form in den Minimalgarantien aller Konventionen des Genfer Rechts58 beispielsweise durch ein Verbot des Angriffs auf die Gesundheit geschützt. Einen weitergehenden Schutz gewähren Bestimmungen des ZP I, die jegliche medizinischen Massnahmen untersagen, die "nicht durch den Gesundheitszustand geboten [sind] und [die] nicht mit den allgemein anerkannten medizinischen Grundsätzen im Einklang" stehen, "die unter entsprechenden medizinischen Umständen auf Staatsangehörige der das Verfahren durchführenden Partei angewandt wUrden, denen die Freiheit nicht entzogen ist"59• Diese Auflistung belegt, dass im humanitären Völkerrecht- noch vermehrt als im klassischen System des Menschenrechtsschutzes- eigentliche Freiheitsrechte resp. Verbotsbestimmungen mit Leistungspflichten untrennbar zu einer Einheit verknüpft sind. Diese prominente Stellung von leistungsorientierten Bestimmungen zum Schutz sozialer und wirtschaftlicher Rechtspositionen lässt sich wohl primär aus der zur Zeit der Kodifizierung der GK noch rein reziproken Grundkonzeption 60 dieses 54

Siehe zu dieser zentralen Bestimmung z. B. GK-JV-Kommentar 177 ff; Breining-Kauf-

mann 180ffund Gasser (Einführung) 55ff.

55 Zum Durchlass verpflichtet ist ein Staat gernäss Abs. 2 dieser Bestimmung, falls er "die Gewissheit besitzt, keinen triftigen Grund zur Befürchtung haben zu müssen: a. die Sendungen könnten ihrer Bestimmung entfremdet werden oder b. die Kontrolle könne nicht wirksam sein oder c. der Feind könne daraus einen offensichtlichen Vorteil für seine militärischen Anstrengungen und seine Wirtschaft ziehen(...)". ~Art. 59 GKIV; vgl. dazu GK-W-Kommentar 319ff. 57 Siehe Art. 72 GK III; Art. 38 Abs. 1, 62 und 108 GK IV. 58 Art. 75 Ziff. 2lit. a ZPI resp. Art.4 Ziff. 2lit.a ZPII. Implizit ist dieses Verbot auch in Art. 3 Ziff. 1 lit. a GK I-IV enthalten, der VerstUmmelungen jederzeit verbietet. Gernäss dem IKRK schützt diese Bestimmung gegen die Vomahme jeglicher biologischer Experimente an Personen (GK-/V-Kommentar 39). 59 Art. 11 Abs. 1 ZP I und Art. 5 Ziff. 2 lit. e ZP II. 60 Siehe dazu Kap.5, III.2. a)bb).

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Rechtsbereichs erklären. Zusätzlich verpflichten diese zwar die Staaten, schaffen aber andererseits- anders als menschenrechtliche Sozialpakte- keine komplementären lndividualgarantien, sondern deren Erfüllung ist de jure ausschliesslich gegenüber den anderen Vertragsstaaten geschuldet. Weiter sind in Situationen, in welchen das humanitäre Völkerrecht zur Anwendung gelangt61 , die durch diese Verträge geschützten Personen regelmässig daran gehindert, ihre Subsistenzbedürfnisse selbständig zu befriedigen. Dies rückt diese Leistungsverpflichtungen wiederum in die Nähe der zahlreichen erwähnten Verbotsnormen: So können sie auch als partieller Ausgleich der Eingriffe in menschenrechtlich geschützte Rechtspositionen verstanden werden, die vom humanitären Völkerrecht - da es kriegerische Handlungen nicht verbietet, soweit sie nach den Regeln des Haager Rechts geführt werden- quasi als kriegsimmanent hingenommen werden. Obwohl in dieser Arbeit im Verhältnis zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht von einem integralen Ansatz ausgegangen wird62, kann aufgrund der situationsbedingten Grundkonzeption des humanitären Völkerrechts im Allgemeinen63 und der eben dargestellten Besonderheiten im Bereich der Leistungspflichten dieses Rechtsgebietes im Besonderen dem Schluss von Jasudowicz nicht gefolgt werden, wonach "if, in the time of war and occupation social rights must be protected to such an extent by an enemy state, they must all the more be protected in time of peace by one's own state!" 64 Das humanitäre Völkerrecht zeigt zwar in eindrücklicher Weise, dass es möglich ist, Sozialrechte juristisch in verbindlicher, ,,harter" Form zu fassen. Zusätzlich enthält es Ansätze, die aufzuzeigen vermögen, in welchen Situationen auch die Rechte von Sozialpakten unmittelbar verpflichtend sind. Eine direkte Übertragung dieser Regeln auf Situationen ausserhalb des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts muss aber abgelehnt werden. b) Die Überwindung der Spaltung durch die Praxis der Überwachungsorgane der Sozialpakte Ein Ansatz, der anerkennt, in welchem Ausmass soziale und wirtschaftliche Rechte nicht nur durch staatliche Leistungen erfüllt werden, sondern auch wirksam durch Unterlassen geschützt werden können, prägt zunehmend die Praxis des Ausschusses für WSK-Rechte. So stellt dieses Organ zu Beginn seines General Comments65 zur allgemeinen Verpflichtungsklausel des Sozialpaktes fest: "[Article 2] describes the nature of the generallegal Obligations undertaken by State parlies to the Covenant. Those obligations include both what may be termed ( ...) obligations of con-

61 Vgl. oben Kap. 2, IV. 3.

Siehe oben Kap. 2, II. und III. Vgl. dazu Kap.2, IV.3.b). 64 Jasudowicz 39. 65 Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 3, para.l . 62 63

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

duct and obligations of result. While great emphasis has sometimes been placed on the difference between the formulations used in this provision and that contained in the equivalent article 2 of the Covenant on Civil and Political Rights, it is not always recognized that there are also significant similarities. In particular, while the Covenant provides for progressive realization and acknowledges the constraints due to the Iimits of available resources, it also imposes various obligations which are of immediate effect" 66 •

Eine solche unmittelbare und primär durch Unterlassen zu verwirklichende Verpflichtungswirkung spricht dieses Organ67 etwa der Koalitionsfreiheit68 und dem Streikrecht69, dem Verbot eines staatlichen Schulmonopols70, der Forschungs- und Kunstfreiheit1 1 und dem Schutz des geistigen Eigentums zu72 • In seinem General Comment 12 zum Recht auf Nahrung aus dem Jahre 1999 machte dieses Organ den letzten Schritt zur Anerkennung einer grundsätzlich einheitlichen Verpflichtungsstruktur aller Menschenrechte unabhängig von ihrer ,.Generationenzugehörigkeit", indem es ausführte: ,.The right to adequate food, like any other human right, imposes three types or Ievels of Obligations on States parties: the obligations to respect, to protect and to fultil'm.

Einer grundsätzlich einheitlichen Rechtsnatur beider Kategorien von Menschenrechten wird auch von der IAKMR das Wort geredee•. So steht die staatliche Ver66 Die Ähnlichkeiten der Verpflichtungen aus Menschenrechten beider Generationen wird auch im General Comment 9 dieses Organs betont, wo festgehalten wird: ,.10. In relation to civil and political rights, it is generally taken for granted that judicial remedies for violations are essential. Regrettably, the contrary assumption is too often made in relation to economic, social and cultural rights. This discrepancy is not warranted either by the nature of the rights or by the relevant Covenant provisions. The Committee has already made clear that it considers many of the provisions in the Covenant to be capable of immediate implementation. ( ...) The adoption of a rigid classification of economic, social and cultural rights which puts them, by definition, beyond the reach of the courts would thus be arbitrary and incompatible with the principle that the two sets of human rights are indivisible and interdependent". Siehe zur diesbezüglichen Praxis dieses Organs auch hinten Abschn. V. 67 General Comment 3, para.5, und General Comment 9, para.10. 68 Art. 8 Abs. 1 lit. a Pakt I. 69 Art. 8 Abs. 1 lit. d Pakt I. 70 Art. 13 Abs. 3 Pakt I. 71 Art. 15 Abs. 3 Pakt I. nAberauch bei anderen Garantien kommt dieser Schicht praktische Bedeutung zu; z.B. bei Art. 6 (Recht auf Arbeit) in den Aspekten der Berufswahlfreiheit und im Verbot der Zwangsarbeit. Selbst bei Garantien, wie z. B. dem Recht auf Gesundheit (Art. 12), deren Erfüllung schwergewichtig eine staatliche Leistung erfordert, lassen sich Konstellationen denken, in welchen staatliches Handeln einen Eingriff darstellen kann; so z. B. falls einem Gefangenen nicht erlaubt wird, sich auf eigene Kosten von einem Arzt seiner Wahl behandeln zu lassen. Siehe zum Ganzen auch KünzlilKälin 117 ff. 73 Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 12, para. 15. 74 IAKMR Report 1993 (OENSer. L/V/II. 85), Chapter V, I, II: ,,Moreover, the progressive development of rights is not limited to economic, social and cultural rights wt is applicable to and inherent in allhuman rights instruments as they are elaborated and expanded. Human rights

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pflichtung zur Respektierung im Zentrum der allerdings schmalen Praxis dieses Organs zu den sozialen und wirtschaftlichen Garantien der Amerikanischen Deklaration der Rechte und Pflichten der Menschen75 : In verschiedenen Beschwerdefallen gegen Kuba sah die IAKMR angesichts körperlicher und psychischer Misshandlungen während Gefängnisaufenthalten - worunter auch eine ungenügende Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung subsumiert wurde - insbesondere das Recht auf Gesundheit76 als verletzt an 77 • Vereinzelt wurden aber auch fehlende staatliche Leistungen als Missachtung dieser Erklärung eingestuft: So in einem gegen Brasilien gerichteten Fall die Unterentwicklung des Gesundheitssystems im Siedlungsgebiet eines indigenen Volkes 78 und in einem Paraguay betreffenden Entscheid die Vorenthaltung staatlicher medizinischer Notmassnahmen zur Linderung der Auswirkungen einer Epidemie in einer abgelegenen Gegend79 • Eigentliche Abwehransprüche verankern gernäss dem Überwachungsorgan der Europäischen Sozialcharta endlich auch die Koalitionsfreiheit von Art. 5 und das Streikrecht gernäss Art. 6 Abs. 4 der ESC 80• c) Die Überwindung der Spaltung durch die Praxis der Überwachungsorgane des Pakts II, der EMRK und der AMRK a) Die Künstlichkeil einer absoluten Abgrenzung zwischen beiden Menschenrechtskategorien wird eindrUcklieh auch durch die neuere Praxis sowohl des Menschenrechtsausschusses als auch der Strassburger Organe belegt81 • Auf zwei funktional eng verknüpften Ebenen nahmen diese Institutionen Abstand von einem rein defensiv verstandenen Konzept bürgerlicher Menschenrechte, indem sie erstens vermehrt Gewicht auf die Erkenntnis legten, dass die Erfüllung der Verpflichtung von Vertragsstaaten aus bürgerlichen Menschenrechten auch positive staatlicheMassnahmen implizieren kann82• Zweitens machte eine dynamitreaties frequently include provisions which eilher implicitly or explicitly envision expansion of the rights contained therein". 15 Siehe die Zusarnrnenstellung der Kommissionspraxis in American University Journal of International Law and Policy 1994, 19ff, insbesondere 277ff. 76 Gernäss Art. XI der Amerikanischen Deklaration der Rechte des Menschen. 77 Siehe z. B . IAKMR, Case 6093, Roger Reyes Fernandes v. Cuba; Case 6091, Eduardo Capole Rodriguez v. Cuba; Case 4402, Polilical Prisoners ofCombinado del Este Prison v.Cuba. Das Recht auf Erziehung nach Art. XII der amerikanischen Deklaration wurde gernäss der IAKMR durch die zwangsweise Schliessung aller Bildungseinrichtungen der Jehovahs Zeugen verletzt (Case 2137, Jehovah's Wilnesses v. Argentina). 78 IAKMR, Case 7615, Yanomani Indians v. Brasil. 79 IAKMR, Case 1082, Ache Tribe v. Paraguay. 80 So Gomien!Harris!Zwaak 391 und 393; vgl. auch Samuel105ffund 161 ff. 81 Siehe dazu auch Künzli 529 ffund die ausführliche Zusarnrnenstellung in Wiesbrock I 02 ff. 82 Diese Konzeption ist bereits im Wortlaut der Verpflichtungsklauseln von Art. 2 Abs. 1 Pakt II resp. von Art. 1 EMRK und Art. 1 AMRK angelegt, welche die Vertragsstaaten zur Achtung und zur Gewährleistung resp. Sicherung der materiellen Garantien anhalten.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

sehe Auslegung der Garantien von EMRK und Pakt II ersichtlich, dass einzelne dieser Rechte als eigentliche Einfallstore zum Schutz von Rechtspositionen eingestuft werden können, die gernäss klassischer Konzeption durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte geschützt werden83. In seinen ersten General Comment zum Recht auf Leben 84 führte der Ausschuss für Menschenrechte aus: "[T]he Cornrnittee has noted that the right to live has been too often narrowly interpreted. The expression ,inherent right to life' cannot properly be understood in a restrictive manner, and the protection of this right requires that States adopt positive measures. In this connection, the Cornrnittee considers that it would be desirable for States parties to take all positive measures to reduce infant mortality and to increase life expectancy, especially in adopting measures to eliminate malnutrition and epidemics".

Eine solche Interpretation eines bürgerlichen Menschenrechtes verwischt die Grenzen zu sozialen Menschenrechten weitgehend, indem auf der Leistungskomponente von den Vertragsstaaten umfassende Massnahmen gefordert werden, die aber- wie der Ausdruck "desirable" verdeutlicht- teilweise höchstens als progressiv zu erfüllende Verhaltensverpflichtungen eingestuft werden können85. Zudem korrespondieren diese Verpflichtungen aus dem Recht auf Leben materiell zu einem grossen Teil mit solchen aus dem Recht auf Nahrung86 und dem Recht auf Gesundheit87 des Paktes I. In eine ähnliche Richtung weisen auch Ausführungen der Strassburger Organe, wonach "the concept that ,everyone's life shall be protected by law' enjoins the State not only to refrain from taking a person 's life ,intentionally' but also to take appropriate steps to safeguard life" 88 • Siehe dazu auch Viljanen 52ff; Scheinin (Legal Rights) 44ffund Künzli 529ft. Ausschuss für Menschenrechte, General Cornrnent 6/16, para.5. ss Siehe zusätzlich auch Ausschuss für Menschenrechte, General Cornrnent 14/23, in welchem dieses Organ bereits den Besitz von Kernwaffen als mit dem Recht auf Leben in Widerspruch stehend einstufte. Zu den progressiv zu erfüllenden Verpflichtungen aus Art. 6 Pakt II vgl. auch McGoldrick 330ff. Gar ausdrücklich eine umfassende Brücke zu den WSK-Rechten wird in General Cornrnent 17/35 gebaut: "3. In most cases, however, the measures tobe adopted arenot specified in the Covenant and it is for each State to determine them in the light of the protection needs of children in its territory and within its jurisdiction. The Committee notes in this regard that such measures, although intended primarily to ensure that children fully enjoy the other rights enunciated in the Covenant, may also be economic, social and cultural. For example, every possible economic and social measure should be taken to reduce infant mortality and to eradicate malnutrition among children and to prevent them from being subjected to acts of violence and cruel and inhuman treatment or from being exploited by means of forced labour or prostitution, or by their use in the illicit trafficking of narcotic drugs, or by any other means. In the cultural field, every possible measure should be taken to foster the development of their personality and to provide them with a Ievel of education that will enable them to enjoy the rights recognized in the Covenant, particularly the right to freedom of opinion and expression". 16 Art. 11 Pakt I. 87 Art. 12 Pakt I. 88 EKMR, Application 11604/85, Naddafv. Germany, DR50, 260. Diese Wendung wurde vom EGMR neulich in den Urteilen L. C.B. v. United Kingdom judgement of9 June 1998, Re83

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II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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In Anwendung dieses Grundsatzes anerkannte die EKMR deshalb folgerichtig, dass Todesfälle infolge eines mangelhaften staatlichen Gesundheitssystems als "failure to take appropriate steps to safeguard life" und damit als Verletzung des Rechts auf Leben i. S. v. Art. 2 EMRK eingestuft werden können 89 • b) Die Ähnlichkeiten der staatlichen Verpflichtungen reichen aber auch in weitere unmittelbar zu erfüllende Teilgehalte bürgerlicher Menschenrechte hinein. So verlangt der Menschenrechtsausschuss für inhaftierte Personen gestützt auf das Recht auf Leben und das Recht auf menschliche Haftbedingungen90 besondere Gewährleistungsmassnahmen91 • Unterlassungen wie eine mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln und anderen überlebenswichtigen Subsistenzgütern oder eine ungenügende medizinische Betreuung können in einer solchen Situation, in welcher der Staat eine umfassende Garantenstellung gegenüber den Inhaftierten innehat92, zu einer Verletzung dieser Garantien führen 93 • Einen ähnlichen Ansatz verfolgte auch die EKMR im Entscheid Hurtado v. Switzerlant:P\ als sie in der Weigerung der schweizerischen Behörden, einem Häftling saubere Kleidung und medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen, eine Verletzung des Verbotes unmenschlicher und erniedrigender Behandlung erblickte95 • In einem Belgien beports 1998-lll, para. 36; Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 115; Mahrnut Kaya v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 85, und Kili~ v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 62, wörtlich übernommen. 89 EKMR, Application 16593/90, Tavares v. France, siehe dazu Pellonpää 865. Andererseits kann diese Bestimmung nicht zum Schutz eines angemessenen Lebensstandards herangezogen werden, da sie nur das physische Überleben sichern soll (Velu/Ergec 180f). 90 Art. 6 und 10 Pakt II. 91 Siehe auch General Comment 21/44 des Ausschusses für Menschenrechte zum Recht auf menschenwUrdige Haftbedingungen: ,,Article 10, paragraph 1, imposes on States Parties a positive obligation towards persons who are particularly vulnerable(...)". 92 Zur besonderen Erfüllungsstruktur staatlicher Leistungspll.ichten gegenüber Personen, die sich unter einer umfassenden Kontrolle des Staates befinden siehe unten Abschn. V. 3. e). 93 Ausschuss für Menschenrechte, Communication 458/1991, Womah Mukong v. Cameroon, para. 9.3. Siehe zu diesem Entscheid auch unten Anm.474. Im Entschied zur Communication 242/1987, Tshisekedi v. Zaire, para.l3lit. b, wurde die Nichtabgabe von Nahrungsmitteln und Getränken während einer Dauer von vier Tagen seit der Inhaftierung als unmenschliche Behandlung eingestuft. Ähnlich auch Communication 719/1996, Levy v. Jamaica, para. 7.4. Siehe dazu auch Nowak (Commentary) 107 und St. Livingstone, Prisoners' Rights, in Harris!Joseph (eds.), The International Covenant on Civil and Political Rights and the United Kingdom Law, Oxford 1995,272. 94 Bericht der EKMR, abgedruckt in Series A Vol. 280, Anhang, lOff. 95 Ähnlich auch die Meinung der Kommission im Fall Herczegfalvy v. Austria (abgedruckt in Series A Vol. 244, Anhang, 45): "The Commission has repeatedly considered the medical treatment of prisoners or mental health patients under Art. 3 of the Convention. Failure to provide adequate medical treatment may be contrary to this provision". Konkret erblickte die EKMR in diesem Fall in den Umständen der Zwangsernährung und der Isolation des Beschwerdeführers eine Verletzung dieser Bestimmung. Der EGMR teilte diese Einschätzung hingegen nicht (a. a. 0., para. 79 ff). Siehe zu dieser Praxis z. B. Harris/0' Boyle/Warbrick 71 f.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

treffenden Fall wurde das Fehlen jeglicher Erziehungsprogramme in einem Gefangnis für Jugendliche als Verletzung von Art. 5 Abs.llit. d EMRK eingestuft96 • Beide Vertragswerke verpflichten deshalb die Staaten in Situationen, in welchen sie eine besondere Verantwortung gegenüber einer Person trifft, Mittel zur Gewährleistung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rechte zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus fordert die völkerrechtliche Doktrin 97 auch ausserhalb besonderer Rechtsverhältnisse, eine staatliche Weigerung, Mittel zur Befriedigung grundlegendster Subsistenzbedürfnisse zur Verfügung zu stellen, als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK resp. Art. 7 Pakt II zu qualifizieren 98 • c) Eine weitere Einbruchstelle für soziale Menschenrechtspositionen stellen die weitgehend kongruenten Verfahrensgarantien der genannten Vertragswerke dar99 • Deren Hauptverpflichtung häh die Staaten zu einer Zurverfügungstellung von effizient funktionierenden Gerichtsinstanzen und damit zu einer positiven Leistung an 100• Darüber hinaus sind die Ansprüche auf unentgeltliche Rechtsvertretung und auf einen unentgeltlichen Dolmetscher im Strafverfahren 101 gar als eigentliche Sozialrechte zu qualifizieren. Bereits im Jahr 1979 wurde diese Komponente des Art. 6 EMRK durch den EGMR im Fall Airey v. Ireland in den Vordergrund gestellt 102, in welchem wegen prohibitiv hoher Gerichtskosten das Recht auf Zugang zum Gericht als verletzt eingestuft wurde: "The Courtisaware that the further realization of social and economic rights is largely dependent on the situation- notably financial- reigning in the State in question (...) Whilst the Convention sets forth what are essentially civil and political rights, many of them have EGMR, Bouamar v. Belgium, Series A Vol.129, para.52. Prederic Sudre, La premi~re decision "quart-monde" de la Commission europeenne des droits de l'homme: Une bavure dans lajurisprudence dynamique, RUDH 1990, 349; Prowein (Wirtschaftliche und soziale Rechte) 215f; Prowein!Peukert56 und Cassese 141 ff: ,,Article 3 could therefore constitute an appropriate means for the Commission and the Court to make, if only in extreme cases, the protection of economic and social rights more incisive" (a. a. 0. 143). 98 Anlass für diese Aussagen bildete die Unzulässigkeitsentscheidung der EKMR in der Beschwerde 14641/89, Van Volsen v. Belgium (abgedruckt in RUDH 1990, 384f).ln diesem Entscheid wurde die Weigerung der Behörden, einer Mutter von zwei Kindem Elektrizität zu Heizzwecken zur Verfügung zu stellen, welche infolge ungenügender Sozialhilfeleistungen nicht in der Lage war, ihre Rechnungen zu zahlen, nicht als Verletzung von Art. 3 EMRK taxiert. 99 Art.6 EMRK und Art. 14 Pakt II. 100 Eine gewisse Ähnlichkeit zu diesen Verfahrensgarantien weist auch das Recht auf Ehe des Art. 23 Abs. 3 Pakt II resp. des Art. 17 Abs. 2 AMRK auf, das von den Vertragsstaaten verlangt, ein Privatrechtsinstitut anzuerkennen und die für eine rechtlich gültige Eheschliessung notwendigen Verfahrensgarantien zur Verfügung zu stellen. 101 Art. 14 Abs. 3 lit. d und f Pakt II resp. Art. 6 Abs. 3 lit. c und e EMRK. Siehe dazu auch Prowein (Wirtschaftliche und soziale Rechte) 203 ff; Plinterman 173 f und van Dijk 17 ff. 102 Series A Vol. 32, para. 26. V gl. zur positiven Verpflichtung der Vertragsstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass der Einzelne von seinem Recht auf Zugang zum Gericht auch Gebrauch machen kann, z. B. Prowein!Peukert 197 f; Lawson!Schermers 91 f; van Dijklvan Hoof 420f. 96 97

II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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implications of a social or economic nature. The Court therefore considers ( ...) that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no waler-light division separating that sphere from the field covered by the Convention" 103•

Weitere Perspektiven eines gerichtlichen Schutzes sozialer und wirtschaftlicher Rechte öffnet schliesslich die Rechtsprechung dieser Organe zu denjenigen Bestimmungen der EMRK und des Pakts Il, die einen Zugang zu einem unabhängigen Gericht vorschreiben, soweit "civil rights" in einem konkreten Verfahren in Frage stehen 104. In einer dynamischen und facettenreichen Rechtsprechung schlossen insbesondere die Strassburger Organe nach und nach auch Ansprüche aus Sozialversicherungen und Sozialhilfe in den Begriff der "civil rights" ein 105 • Im Urteil Schuler-Zgraggen v. Switzerland stellte der Gerichtshof folgenden Grundsatz auf: "[T]oday the general rule is that article 6 § 1 does apply in the field of social insurance, including even welfare assistance" 106. Der konkrete Anspruch der Beschwerdeführetin wurde dabei insbesondere bejaht, da "she was claiming an individual, economic right tlowing from specific rules laid down in a federal statute" 107. Diese Rechtsprechung verschafft deshalb nicht nur Ansprüchen aus dem Recht auf soziale Sicherheit 108 gerichtlichen Rechtsschutz, sondern enthält ein solches Potential auch für andere soziale Menschenrechte, soweit diese Rechte auf innerstaatlicher Ebene als individuelle Ansprüche ausgestaltet sind 109. d) Im Unterschied zur EMRK enthält der Pakt II nicht bloss ein akzessorisches Diskrirninierungsverbot110, sondern ein selbständiges Rechtsgleichheitsgebot Diese Rechtsnatur wurde insbesondere in den Fallen Broeks 111 und Zwaan de Vries v. 103 Die Leistungskomponente der Verfahrensrechte kommt auch in den Urteilen Guincho v. Portugal, Series A Vol. 81, und Süssmann v. Germany judgement of 16 September, Reports 1996-IV, deutlich zum Ausdruck. •04 Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 Pakt II. 105 Siehe z. B. EGMR, Feldbrugge v. the Netherlands, Series A Vol. 99, paras. 26ff; Salesi v. ltaly, Series A Vol.257-E, para.19, und Kerojärvi v. Finland, Series A Vol. 322, para. 36. Vgl. zur Entwicklung dieser Rechtsprechung auch Lawson/Schermers 513. 106 Series A Vol. 263, para. 46. 107 lbid. •os Art. 9 Pakt I und Art.12 ESC. 109 Scheinin (Legal Right) 49; Enrich i Mas 174 fundProwein (Wirtschaftliche und soziale Rechte) 215: ,,Es spricht vieles dafür, dass damit alle sozialen Rechte, die aufklare Geldbeträge lauten, in den Schutzbereich von Art. 6 gehören". Siehe auch Frowein/Peukert 168. 110 Der rein akzessorische Charakter von Art.14 EMRK wurde jedoch z.B. im Urteil Petrovic v. Austria judgement of 27 March 1998, Reports 1998-11, paras. 28ff, insofern eingeschränkt, als Diskriminierungen neu auch in allen Bereichen untersucht werden, welche mit dem sachlichen Geltungsbereich einer Garantie irgendwie verbunden sind. So klärte der EGMR in diesem Urteil ab, ob die Verweigerung der Leistung von Elternzulagen als Instrument der Familienförderung vor Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK Bestand haben. 111 Communication 172/1984.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

the Netherlands 112 deutlich, die sich auf geschlechtsspezifische Unterschiede im Arbeitslosenversicherungsrecht bezogen. Die gerügten Diskriminierungen geschahen somit in einem grundsätzlich von materieJlen Garantien der Sozialpakte abgedeckten Sachbereich. Der Ausschuss für Menschenrechte überprüfte die vorgebrachten Rügen trotzdem und begründete die Überlappung der Auswirkungen dieser Bestimmungen auf den Pakt I folgendermassen: "The Committee has also examined the contention of the State party that article 26 of the International Covenant on Civil and Political Rights cannot be invoked in respect of a right which is specifically provided for under article 9 of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights. ( ...) Although article 26 requires that legislation should prohibit discrimination, it does not itself contain any obligations with respect to the matters that may be provided for by legislation. Thus it does not, for example, require any State to enact legislation to provide for social security. However, when such legislation is adopted in the exercise of a State 's sovereign power, then such legislation must comply with article 26 of the Covenant" 113 •

Diskriminierungen in aJlen Bereichen, die durch den Sozialpakt der UNO oder die Sozialcharta des Europarates abgedeckt sind, können deshalb gestützt auf Art. 26 Pakt II- soweit der betreffende Vertragsstaat keinen Vorbehalt 114 zu dieser Bestimmung angebracht hat und im betreffenden Bereich legiferiert hat- vor dem Menschenrechtsausschuss gerügt werden 115 • e) Weitere prägnante Beispiele einer Verpflichtung zu positiven staatlichen Massnahmen aus bürgerlichen und politischen Rechten liefert die Praxis zum Recht auf Achtung des Privatlebens gernäss Art. 8 EMRK und 17 Pakt II. So ist bereits im Wortlaut des Abs. 2 der letzteren Bestimmung ein ausdrücklicher AnCommunication 182/1984. lbid., paras. 12.2 und 12.4. Seit diesem Grundsatzentscheid überprüfte der Menschenrechtsausschuss Diskriminierungen z. B. in folgenden nicht durch den Pakt II materiell abgedeckten Rechtsbereichen: Invalidenrenten (Communication 218/1986, Vos v. the Netherlands); staatliche Erziehungsleistungen (Communication 191/1985, Biom v. Sweden, und Communication 298-9/1988, Lindgren et a/. v. Sweden); staatliche Krankenversicherung (Communication 395/1990, Sprenger v. the Netherlands) und Familienzulagen (Communication 426/1990, Oulajin v. the Netherlands). 114 Siehe den Vorbehalt der Schweiz zu Art. 26 Pakt II, der dieses Recht auf ein akzessorisches Diskriminierungsverbot analog der Bestimmung von Art. 14 EMRK beschränkt. 11 s Die Diskriminierungsverbote des Paktes II sind jedoch nicht nur Einfallstore zum Schutz sozialer Rechtspositionen, sondern sie verlangen von den Staaten auch positive Massnahmen zur Erreichung einer diskriminierungsfreien Ausübung der im Pakt II anerkannten Rechte. So z. B. General Comment 18/37, para. 5 des Menschenrechtsausschusses: "The Committee wishes to draw the attention of States parties to the fact that the Covenant sometirnes expressly requires them to take measures to guarantee the equality of rights of the persons concemed. For example, article 23 (4) stipulates that State parties shall take appropriate steps to ensure equality of rights as weil as responsibilities of spouses as to marriage, during marriage and at its dissolution. Such steps may take the form of legislative, administrative or other measures, but it is a positive duty of State parties to make certain that spouses have equal rights as required by the Covenant". 112

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II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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spruch auf rechtlichen Schutz gegen Eingriffe in oder Beeinträchtigungen des Privatlebens festgehalten 116• Diese explizite Anerkennung einer Verpflichtung der Staaten zum Schutz vor Eingriffen Dritter in das durch diese Garantien geschützte Rechtsgut erfordert deshalb von Vertragsstaaten nebst Massnahmen im Privat- und Verwaltungsrecht auch den Erlass eines Minimums an strafrechtlichen Verbotsnormen zum Schutz der in dieser Bestimmung verankerten Rechtspositionen 117• Obwohl nicht im Wortlaut des Art. 8 EMRK verankert, anerkennen auch die Strassburger Organe die Verpflichtung der Staaten, gewisse Garantien dieses Instruments auch im Verhältnis zwischen Privaten durchzusetzen und damit auch eine Verpflichtung zu positiven staatlichen Massnahmen 118: So hielt der EGMR im Fall X and Y v. the Netherlands fest: "[T]here may be positive obligations inherent in an effective respect for private or family life. ( ...)These obligations may involve the adoption of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves" 119• Die Möglichkeit der Verletzung einer Bestimmung der EMRK durch Nichterfüllung einer positiven Schutzpflicht beschränkt sich jedoch nicht nur auf diese Norm, sondern wurde von den EMRK-Organen auch auf andere klassische Freiheitsrechte ausgedehnt. In diesem Sinn führte der EGMR im UrteilPlattform ,,Ärzte für das Leben" v. Austria zur staatlichen Verpflichtung aus der Versammlungsfreiheit gemäss Art. 11 EMRK aus: "Genuine, effective freedom of peaceful assembly cannot, therefore, be reduced to a mere duty on the part ofthe State not to interfere: a purely negative conception would not be compatible with the object and purpose of article 11. Like article 8, article 11 sometimes requires positive measures to be taken, even in the sphere of relations between individuals, if need be (...). In this area the obligation [States] enter into under article 11 of the Convention is an Obligation as to measures tobe taken and not as to results tobe achieved" 120• Identisch auch Art. 11 Abs. 3 AMRK. Nowak (Kommentar) 304f; ders. (Commentary) 289f. Siehe auch General Comment 16/32 des Menschenrechtsausschusses, para. 1: "In the view of the Committee this right is required to be guaranteed against all such interferences and attacks whether they emanate from State authorities or from natural or legal persons. The obligations imposed by this article require the State to adopt legislative or other measures to give effect to the prohibition against such interferences and attacks as weil as to the protection of this right". 118 Vgl. z. B. Harris/0' Boyle/Warbrick 321 f; van Dijklvan Hoof534ff; Lawson/Schermers 81f, 93 und 160; Frowein/Peukert 342ff; Enrich i Mas 163ffundRusso 226. 119 Series A Vol. 91, para.23. Der Erlass gesetzlicher Normen wurde vom EGMR z.B. auch in folgenden Fällen zum Schutz von Art. 8 EMRK fUr nötig befunden: Marck.r v. Belgium, Series A Vol. 31; Airey v. lreland, Series A Vol. 32; Johnston and Others v. lreland, Series A Vol.ll2. Siehe dazu auch die Zusammenstellung in Wildhaber/Breitenmoser, Rz. 74ff. 120 Series A Vol. 139, paras. 32 und 34. Aus dieser Bestimmung leitete der EGMR im Urteil Young, James and Webster v. United Kingdom, Series A Vol. 44, paras. 51 ff, auch eine negative Gewerkschaftsfreiheit ab. Siehe dazu z. B. Russo 223 ff und Lawson/Schermers 121 f. 116

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

In allgemeinerer Form- d. h. bereits abgestützt auf das Begriffspaar "sichern" und "garantieren" 121 in der generellen Verpflichtungsklausel von Art. I AMRK- betont auch der IAGMR die Notwendigkeit positiver staatlicher Massnahmen zur Erreichung eines effektiven Schutzes bürgerlicher und politischer Menschenrechte: "The second obligation of the States Parties is to ,ensure' the free and full exercise of the rights recognized by the Convention to every person subject to its jurisdiction. This obligation implies the duty of the States Parties to organize the govemmental apparatus and, in general, all the structures through which public power is exercised, so that they are capable of juridically ensuring the free and full enjoyment ofhuman rights. (...). The State has a legal duty to take reasonable steps to prevent human rights violations and to use the means at its disposal to carry out a serious investigation of violations committed within its jurisdiction, to identify those responsible, to impose the appropriate punishment and to ensure the victim adequate compensation" 122•

f) Vor allem kulturelle Rechte werden durch die Garantie von Art. 27 Pakt IP 23 geschützt, der unter anderem den Vertragsstaaten verbietet, Angehörigen staatlicher Minderheiten das Recht vorzuenthalten, "gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen". In seiner früheren Rechtsprechung ging der Ausschuss für Menschenrechte davon aus, diese Bestimmung verschaffe infolge ihres Wortlautes keinen Anspruch auf staatliche Leistungen zugunsten von Minderheiten 124• In einem kürzlich erschienenen General Comment 12.5 nahm dieses Organ aber Abstand von einer negatorischen Interpretation dieser Garantie: Es anerkannte nicht nur die Verpflichtung an, dieser Bestimmung auch zwischen Privaten Nachachtung zu verschaffen 126, sondern schloss nicht aus, dass auch positive Massnahmen 127 zum Schutz der kulturellen Rechte von Minderheiten notwendig sein können. 121 Diese Wortwahl wurde auch in die Verpflichtungsklausel des Art. 2 Abs. 1 Pakt II aufgenommen, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich alle materiellen Garantien auch durch Unterlassen einer positiven Leistungsverpflichtung verletzt werden können. Siehe dazu ansebliessend Abschn. 3. 122 IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol. 4; paras.166 und 174, so auch Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol.5, para.175. 123 Siehe zu dieser Bestimmung etwa Renale Oxenknecht, Der Schutz ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten in Art. 27 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, Frankfurt a.M. 1988 undNowak (Commentary) 480ff. 124 Ausschuss für Menschenrechte, Communication 24/1977, Love/ace v. Canada; so auch Nowak (Commentary) 504. 12.5 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 23/50. 126 Ibid., para. 6.1: ,,Positive measures of protection are ( ...) required not only against the acts of the State party itself (...), but also against the acts of other persons within the State party". 127 lbid., para. 6.2: ,,Accordingly, positive measures by States may also be necessary to protect the identity of a minority and the rights of its members to enjoy and develop their culture and language ( ...)". So auch Giorgio Malinverni, La Suisse et Ia protection des minorites, in Kälin/Malinvemi/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2. Aufl., Basel/ Frankfurt a. M. 1997, 241 ff.

II. Menschemechtskategorien und Verpflichtungsarten

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g) Eine letzte Durchmischung zwischen den zwei klassischen Menschenrechtskategorien ergibt sich endlich aus der Rechtsprechung insbesondere des EGMR, wonach soziale Menschenrechte in gewissen Konstellationen die Einschränkung von Garantien der EMRK zu rechtfertigen vermögen und damit wenigstens mittelbar auch durch diese Konvention geschützt werden 128• Solche Konflikte zwischen EMRK-Garantien und sozialen Menschenrechten ergeben sich dabei primär zwischen der in Art. 1 ZPl/EMRK garantierten Eigentumsfreiheit und dem in der EMRK nicht verankerten Anspruch auf angemessene Unterkunft. Im Fall James and Others v. United Kingdom 129 hielt das Gericht anlässlich der Prüfung der Frage, ob eine Reform des Pachtrechtes ein legitimes Eingriffsziel in die oben genannte Garantie darstelle, fest: "More especially, modern societies consider housing of the populationtobe a prime social need, the regulation of which cannot entirely be left to the play of market forces. The margin of appreciation is wide enough to cover legislation aimed at securing greater social justice in the sphere of people 's homes, even where such legislation interferes with existing contractual relations between private parties and confers no direct benefi.t on the State or the community at !arge. In principle, therefore, the aim pursued by the leasehold reform legislation is a legitimate one" 130•

Eine ähnliche Argumentationslinie vertrat der Gerichtshof auch im Fall Me/lacher and Others v. Austria 131 , in welchem die Beschwerdeführer den Einwand einer Verletzung der Eigentumsgarantie der EMRK infolge eines neuen Mietgesetzes vorbrachten, welches durch die Statuierung von Höchstmietzinsen zu einer Reduktion des Mietertrages führe. d) Zwischenergebnis Entgegen der Vermutung, die sich aus der Tatsache der Zweiteilung der UNOPakte resp. der EMRK und der ESC ziehen lässt und die bis vor kurzem auch durch die vorherrschende Lehrmeinung geteilt wurde, lassen sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht durch eine blosse Gegenüberstellung zu rein negatorisch verstandenen Freiheitsrechten definieren. Während sich bezüglich der Rechte der ersten Generation in der Praxis vermehrt die Überzeugung durchsetzt, dass ein wirksamer Schutz derselben auch staatliche Schutz- und Leistungspflichten erfordert, anerkennt heute der Ausschuss für WSK-Rechte, dass soziale und wirtschaftliche Rechte neben ihrem unbestrittenen Schwergewicht auf einer staatlichen LeistungsSiehe dazu auch den Überblick in Scheinin (Legal Rights) 50f. Series A Vol. 98. 130 lbid., para. 4 7. V gl. dazu auch Scott Leckie, The Justiciability of Housing Rights, in Coomans/van Hoof (eds.), The Right to Complain about Economic, Social and Cultural Rights, Utrecht 1995, 58f. 131 Series A Vol. 169. Eine Bestätigung dieser Rechtsprechung findet sich im Urteil Spadeo and Scalabrina v. ltaly, Series A Vol. 315-B, paras. 33 ff. Für weitere Beispiele auch aus der Praxis der EKMR siehe Frowein/Peukert 820ff. 128 129

14 Künzli

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

komponente auch wirksam durch staatliches Unterlassen geschützt werden können. Mithin muss- wie auch das Beispiel des humanitären Völkerrechts besonders deutlich zeigt - heute das Bild einer Antagonie zwischen den beiden Menschenrechtskategorien als überholt gelten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die klassische Zweiteilung nicht mehr der gegenwärtigen Völkerrechtswirklichkeit entspricht. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte unterscheiden sich nicht mehr prinzipiell, sondern höchstens noch graduell - da stärker leistungsorientiert - nach ihrem Verpflichtungsschwerpunkt von bürgerlichen und politischen Menschenrechten. 3. Der aktuelle Stand der Diskussion: Die Trias der Verpflichtungsschichten Die Übersicht über die Praxis der Überwachungsorgane menschenrechtlicher Verträge hat jedoch nicht nur einen Beleg für die zunehmende Irrelevanz der Aufteilung von Menschenrechten in Rechte erster und solche der zweiten Generation gegeben, sie zeigt auch auf, dass die meisten Garantien nicht nur entweder durch eine Unterlassung oder aber durch eine positive Leistung erfüllt werden können. Vielmehr erscheint offenkundig, dass eine effektive Gewährleistung aller Garantien ein Bündel von Verhaltensweisen notwendig machen kann und diese deshalb kumulativ negative und positive Verpflichtungen enthalten. Eine Pionierrolle in der Entwicklung eines solch Sachgerechteren Verständnisses der Rechtsnatur menschenrechtlicher Verpflichtungen kommt dabei vor allem Asbj~m Eide zu 132, welcher zu wesentlichen Teilen die Theorie prägte, wonach auf einer ersten Stufe jedes Menschenrecht unabhängig von seiner Generationenzugehörigkeit wirksam durch staatliches Unterlassen 133 geschützt werden kann 134• So enthält z. B. das in Art. 6 Pakt I verankerte Recht auf Arbeit auf dieser Stufe ein Recht auf Berufswahlfreiheit resp. ein Verbot der Zwangsarbeit analog zu den Bestimmungen der Art. 8 Abs. 3 Pakt II und Art. 4 Abs. 2 EMRK. Auf einer zweiten Stufe werden die Vertragsstaaten menschenrechtlicher Verträge gernäss dieser Theorie verpflichtet, die Ausübung der materiellen Garantien wirksam zu schützen 135 , d. h. auch im Verhältnis zwischen Privaten durchzusetzen. Diese sogenannten positiven Schutzpflichten der Staaten werden teilweise auch als horizontale Wtrkung der Menschenrechte resp. als (indirekte) Drittwirkung bezeichnet 136• Auf dieser Stufe verlangt demgernäss z. B. das Recht auf eine angemessene Wohnung 137 unter anderem den Erlass einer Mietrechtsgesetzgebung, welche Mieter und MieterinV gl. z. B. Eide (Right to Food) 37 ff; ders. (Strategies) 463 ff; ders. (Article 25) 387 ff. ,.Obligation to respect". 134 Vgl. dazu die Übersicht in Drzewicki 175 ff. m ,.Obligation to protect". 136 Siehe dazu ausführlich unten Abschn. IV. 137 Art. 11 Pakt I. 132 133

II. Menschenrechtskategorien und Verpflichtungsarten

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nen einen gewissen Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen einräumt, oder die Garantien von Art. 3 EMRK und Art. 7 Pakt li verpflichten zu staatlichen Schutzmassnahmen zur Prävention von Misshandlungen von Kindem im privaten Umfeld. Auf einer dritten Stufe wird schliesslich eine eigentliche Leistungspflicht des Staates zur Erfüllung dieser Garantien festgehalten 138• Diese Theorie entspricht mittlerweile der herrschenden Meinung der menschenrechtliehen Doktrin, resp. noch in Verstärkterem Rahmen der Ansicht derjenigen Autoren, die sich mit den Rechten des Pakts I und der ESC befassen 139• Explizit wurde diese Theorie einer generell geltenden dreifachen Verpflichtungsstruktur menschenrechtlicher Verpflichtungen bisher einzig vom Ausschuss für WSK-Rechte übemommen 140. Auf eine zweistufige Unterteilung beschränkt sich hingegen die Rechtsprechung des IAGMR, die von einer "duty to respect" und einer "duty to ensure", welche sowohl Schutz- und Leistungspflichten umfasst, ausgeht141. Der Ausschuss für Menschenrechte gebraucht zwar gelegentlich den Ausdruck einer "Obligation to protect" 142 und spricht regelmässig von einem ,,right to protection of the law" 143, doch scheint auch dieses Organ (noch) eine zweistufige Erfüllungsstruktur der materiellen Garantien dieses Paktes zu vertreten. Ebenfalls oft verwischt wurde die Unterteilung zwischen Schutz- und Leistungspflichten - wie obige Auflistung deutlich gemacht hat- durch die EMRK-Organe, welche grundsätzlich vom Unterscheidungskriterium von negativen und positiven, eine Leistung des Staates erheischenden Verpflichtungen ausgehen 144. Dies obwohl in gewissen Entscheiden seit langem davon gesprochen wird, Staaten hätten die materiellen Garantien "even in the sphere of the relation of individuals themselves" 14s zu gewährleisten. In neuesten Urteilen ist gar von einer Pflicht die Rede, die materiellen Ga138 "Obligation to fulfill". Auf dieser Ebene hat demgernäss ein Vertragsstaat beispielsweise in Erfüllung des Rechts auf Arbeit aktiv Massnahmen zur Verminderung der Arbeitslosigkeit zu ergreifen oder- um ein Beispiel des Ausschusses fUr Menschenrechte aufzugreifen- das Recht auf Leben durch Massnahmen zur Senkung der Kindersterblichkeit umzusetzen. 139 Vgl. z. B. van Hoof97; Craven (Covenant) 109ff; ders. (domestic application) 392; Leckie (lndivisibility) 90ff; Künnemann 327 ff; Dankva!Flinterman/Leckie 713 ff; Coomans 10; ders. , Clarifying the Core Elements of the Right to Education, in Coomans/van Hoof (eds.), The Right to Complain about Economic, Socia1 and Cultural Rights, Utrecht 1995, 22ffund Maastricht Guideline 6. 140 Ausschuss für WSK-Rechte, General Cornrnent 12, para. 15. Siehe dazu das Zitat oben beiAnm.73. 141 So besonders deutlich der IAGMR in den Urteilen Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol.5, paras.174und 176und Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol.4, para.166 (siehe das Zitat oben bei Anm. 122). 142 Siehe z. B. Ausschuss fUr Menschenrechte, Cornrnunication 195/1985, Delgado Paez v. Columbia, para. 5.4. 143 Siehe Nowak (Cornrnentary) 38. 144 Frediric Sudre, Les "obligations positives" dans la jurisprudence europeenne des droits de l'hornrne, Revue trimestrielle des droit de l'hornrne 1995, 369ff. So auch Harris/0' Boylet Warbrick 19ff, Frowein/Peukert 21 ff. 14S EGMR, X. and Y. v. the Netherlands, Series A Vol. 91, para. 23.

14°

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

rantien vor Verletzungen durch Private 146 resp. vor kriminellem Verhalten Privater zu schützen 147• In der Tat überzeugt unter dem Gesichtspunkt der vom Staat verlangten Handlungsform die dreistufige Unterteilung nicht völlig, da sowohl die Schutzpflichten als auch eigentliche Leistungspflichten zu ihrer Erfüllung eine positive staatliche Leistung benötigen. Hingegen unterscheiden sich diese beiden Leistungspflichten primär durch das Ziel der geforderten Massnahmen: Soll der Staat bei Erfüllung seiner Schutzpflichten zwar nicht ausschliesslich, aber doch primär 148 ein Unterlassen Privater erreichen, zielen eigentliche Leistungspflichten auf die Befriedigung sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse durch Leistungen des Staates. Werden staatliche Verpflichtungsarten aber nach dem Bereich, in welchem der Erfolg des staatlichen Verhaltens eintreten soll, unterschieden, bewegt sich die Unterlassungspflicht logisch nicht mehr auf derselben Ebene und lässt sich demzufolge nicht in diese TYpologie einordnen. Trotz dieser einer Einteilung in drei Verpflichtungsschichten inhärenten Ungereimtheiten soll in dieser Arbeit an dieser Kategorienbildung festgehalten werden. Dies deshalb, da sich Schutz- und Leistungspßichten, also positive Pflichten gernäss der EMRK-Terminologie, in der Voraussetzung ihrer Entstehung sowie im Mass der den Staaten gewährten Flexibilität nicht gleichartig verhalten. Die folgende Abklärung wird deshalb von einer Verpflichtungstrias im folgenden Sinn ausgehen:

• Unterlassungspflichten gebieten den Staaten ein Unterlassen. Folgerichtig bedingt die Verletzung einer solchen Pflicht ein aktives staatliches Handeln. • Umgekehrt präsentiert sich die Lage bei Leistungspjlichten, deren Verletzung durch ein Unterlassen oder ein ungenügendes Handeln resp. die dadurch verursachte Nichterreichung eines mit diesem Handeln angestrebten Erfolges verursacht wird und die deshalb zu ihrer Erfüllung eine positive Leistung des Staates resp. die Erreichung eines bestimmten Zieles verlangen 149• 146 EGMR, A . v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI, para.22. 147 EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para.115. 148 Siehe dazu die gleich folgende Außistung. 149 Dies hängt davon ab, ob die Leistungspflichten als sogenannte obligation of result resp. Zielverpflichtungen oder als obligation of conduct resp. Verhaltensverpflichtungen verstanden werden. Dieses Unterscheidungskriterium wurde von der ILC in den Art. 20 und 21 des Entwurfs zum Recht der Staatenverantwortlichkeit aufgenommen. Dabei wurden von der ILC die damals ausschliesslich als Leistungsverpflichtungen verstandenen Garantien des Paktes I als Beispiel reiner Verhaltensverpflichtungen eingestuft; Yearbook ILC 1977 11/2, para. 8. Mittlerweile wurde jedoch überzeugend dargelegt, dass diese Klassifizierung im Bereich der Menschenrechte zu keinen neuen Erkenntnissen führt; weshalb darauf im Folgenden nicht mehr eingegangen werden soll. Siehe Tomuschat 320 ff und Pierre-Marie Dupuy, Reviewing the Difficulties of Codification: On Ago 's Classification of Obligations of Means and Obligations of Result in Relation to State Responsibility, EJIL 1999, 382ff; gl.M. auch Craven (Covenant)

III. Unterlassungspflichten

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• Auch Schutzpflichten verlangen von den Vertragsstaaten eine positive Leistung. Sie sind damit Leistungspflichten. Deren spezifisches Ziel es ist jedoch, die Geltung der Menschenrechte auch im Verhältnis zwischen Privaten sicherzustellen. Dies bedeutet zum Einen, dass im Bereich der negatorischen Schicht der Menschenrechte, ein Unterlassen Privater oder privater Gruppierungen zu gewährleisten 150 resp. ein menschenrechtliche Garantien ritzendes privates Verhalten zu unterbinden istm. Andererseits kann aber in Bereichen derjenigen Verpflichtungsschichten, welche im "normalen" Verhältnis zwischen Staat und Privaten zu ihrer Erfüllung ein positives staatliches Verhalten erheischen, es gerade Funktion dieser Schutzpflichten sein, in umgekehrter Weise ein Unterlassen eines Privaten zu verunmöglichen resp. ein aktives Verhalten Privater oder privater Gruppierungen durchzusetzen. Diese zweite Form einer Schutzverpflichtung wird insbesondere in Bereichen der privaten Betreuung von Personen relevant, welche infolge ihres Alters oder ihrer Behinderung nicht fähig sind, ihre grundlegenden Subsistenzbedürfnisse selbständig zu befriedigen. Hier steht der Staat- wie z. B. von der Kinderrechtskonvention explizit statuiert 152 - unter einer Verpflichtung, eine Vernachlässigung dieser Personenkategorien durch Private zu verhindern resp. dagegen vorzugehen.

111. Unterlassungspflichten 1. Vorbemerkung Die allgemeinen Verpflichtungsklauseln sowohl des Paktes II, der EMRK wie auch der AMRK auferlegen ihren Vertragsstaaten eine primäre Verpflichtung, die materiellen Rechte zu achten oder zu sichern. Damit ist in erster Linie die Pflicht der Vertragsstaaten angesprochen, ein aktives Verhalten zu unterlassen, welches die Ausübung resp. den Genuss dieser Rechte durch die Begünstigten tangiert. Der konkrete Inhalt der Unterlassungspflicht- die sowohl faktisches wie auch gesetzgeberisches Handeln betreffen kann -ergibt sich dabei aus der Formulierung der jewei107f; Leckie (lndivisibility) und Meron (Customary Law) 182ff: "[The] ILC's distinction between obligations of means and obligations of result appears unnecessary and perhaps even misleading" (a. a. 0. 189). Auch der Ausschuss für WSK-Rechte geht in seinem General Comment 3 nicht näher auf diese Unterscheidung ein, sondern erwähnt lapidar: "1. Article 2 (...) describes the m1ture of the generallegal obligations undertaken by States parties to the Covenant. Those obligations include both what may be termed (following the work of the International Law Commission) obligations of conduct and obligations of result". In diesem Sinne auch Maastricht Guideline 7. 1 ~ Z. B. mittels Präventionsmassnahmen zur VerhUtung der Tötung einer Person durch eine Drittperson. 151 Z. B. mittels polizeilicher Massnahmen zur Beendigung einer privaten Freiheitsberaubung resp. mittels einer strafrechtlichen Untersuchung. 152 Art. 19 CRC; siehe dazu unten Abschn. IV. 3. c) bb).

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Iigen materiellen Garantie 153• Während diese Erkenntnis im Umfeld der bürgerlichen und politischen Rechte beinahe als Selbstverständlichkeit anmutet, erscheint sie weniger offenkundig unter Berücksichtigung der Verpflichtungsklauseln der Sozialpakte: Wie das Beispiel des Art. 2 Abs. 1 Pakt I IS4 zeigt, wird diese Art einer völkerrechtlichen Verpflichtung nicht explizit vorgeschrieben. Mittlerweile anerkennt aber sowohl die Praxis des Ausschusses für WSK-Rechte 155 wie auch die Doktrinu6 , dass alle materiellen Garantien dieser Verträge auch Abwehransprüche enthalten und somit auch eine Unterlassungspflicht statuieren. Dies gilt somit nicht nur für Rechte, deren Wortlaut von "Gewährleistung eines Rechts ' 157 spricht, sondern auch für solche, wo von Verpflichtung zur "Achtung einer Freiheit" 158 resp. vom Verbot der "Beeinträchtigung eines Rechtes ' 159 die Rede ist. Da zudem bereits der Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 Pakt I von einer Verpflichtung zur Gewährleistung und nicht wie in den meisten materiellen Garantien bloss von der Anerkennung eines bestimmten Rechtes spricht, ist in der internationalen Doktrin 160 und Praxis 161 unbestritten, dass 1s3 Siehe dazu z. B. Harris/O'Boyle/Warbrick 19; Wildhaber/Breitenmaser 27ff; Nowak (Conunentary) 36. 154 Siehe dazu unten Abschn. V. tss In vager Form kommt diese Einstufung bereits im General Conunent 3, para. 1, des Ausschusses für WSK-Rechte zum Ausdruck. Eine ausdrückliche Bestätigung findet sich demgegenüber in General Comment 7, para. 8: ,Jn essence, the Obligations of States Parties to the Covenant in relation to forced evictions are based on Article 11(1), read in conjunction with other relevant provisions. In particular, Article 2(1) obliges States to use ,all appropriate means' to promote the right to adequate housing. However, in view of the nature of the practice offorced evictions, the reference of Article 2(1) to progressive achievement based on the availability of resources will rarely be relevant. The State itself must refrain from forced evictions and ensure that the law is enforced against his agents or third parties who carry out forced evictions. ( ...) Moreover, this approach is reinforced by Article 17(1) of the International Covenant on Civil and Political Rights which complements the right not to be forcefully evicted without adequate protection ( ...). It is tobe noted that the State's obligation to ensure respect forthat right is not qualified by considerations relating to its available recourses". 156 Vgl. zusätzlich zu der oben in Anm.l39 aufgeführten Literatur z. B. Nowak (Inhalt) 9; Künnemann 330f; Künzli/Kälin 108 fund 117 ff; Scherf80, 142ffund 227; Gebert 127 und Gomien/Harris/Zwaak 39f. ts7 Art. 8 Pakt I. tss Art. 13 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 3 Pakt I. 1' ' Art. 5 ESC. Auf indirekte Art lassen sich weitere Abwehransprüche bereits aus dem Wortlaut ableiten. So macht das in Art. 6 Pakt I verankerte Recht, ,,seinen Lebensunterhalt durchfrei gewählte (...) Arbeit zu verdienen", deutlich, dass der Staat die Berufswahlfreiheit zu respektieren hat resp. die Anordnung von Zwangsarbeit unstatthaft ist. Künzli/Kälin 108, FN 19, und 117ff; so auchDrzewicki 175ff. 160 Siehe Craven (Covenant) 181 f; Garibaldi (ESC-Obligations) 166; Leckie (lndivisibility) 104f; Künzli 535f; Künzli/Kälin 109; Limburg Principle 35: ,,Article 2(2) calls for immediate application and involves an explicit guarantee on behalf of the States parties. lt should, therefore, be made subject to judicial review and other recourse procedures". 161 Ausschuss für WSK-Rechte, General Conunent 3, para. 5: "The Conunittee notes, for example, that the enjoyment of the rights recognized, without discrimination, will often be appropriately promoted, in part, through the provision of judicial or other effective remedies".

IV. Schutzpflichten

215

auch das akzessorische Diskriminierungsverbot des Sozialpaktes unmittelbar verpflichtend ist 162•

2. Unmittelbare und kontextunabhängige Verpflichtung Da Unterlassungspflichten per definitionem keinen Einsatz staatlicher Ressourcen benötigen, gilt es als Selbstverständlichkeit, dass alle Abwehransprüche- d. h. auch diejenigen aus Sozialpakten 163 - eine unmittelbare, ab dem Zeitpunkt des lnkrafttretens geltende internationale Verpflichtung begründen. Folglich kann ab diesem Zeitpunkt jedes staatliche Handeln grundsätzlich geeignet sein, den sachlichen Geltungsbereich einer materiellen Garantie zu tangieren. Dies gilt unabhängig von der Art des konkreten Rechtes resp. der wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Staates. Ob ein solches Verhalten eine materielle Garantie hingegen tatsächlich verletzt, beurteilt sich somit einzig nach der Umschreibung des Geltungsbereichs und der Schranken eines Rechts 164 resp. der Möglichkeit, von dieser Verpflichtung zu derogieren 165 , sowie nach dem Erfülltsein des persönlichen und situationsbedingten Geltungsbereichs der die Unterlassungspflicht begründenden Bestimmung.

IV. Schutzpflichten 1. Staatliche Schutzpflichten des klassischen Völkerrechts Die Begründung staatlicher Verpflichtungen, Individuen vor Übergriffen Privater oder nichtstaatlicher Organisationen zu schützen, ist keine originäre Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, sondern kann bereits auf lange Entwicklungslinien im klassischen Völkerrecht zurückblicken. Diese lassen sich in verschiedenen Bereichen dieses Rechtsgebietes beobachten: • Humanitäres Völkerrecht: Die vier Genfer Konventionen unterscheiden sich primär dadurch voneinander, dass ihr persönlicher Schutzbereich je eine unterschiedlich definierte Personenkategorie umfasst. Insgesamt bilden diese zusammen wiederum den Kreis der durch das humanitäre Völkerrecht "geschützten Per162 Es gilt aber zu beachten, dass sich die staatliche Verpflichtung zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbotes keinesfalls auf die Zurverfügungstellung von gerichtlichen Instanzen beschränken darf. Vielmehr legt der Ausschuss für WSK-Rechte besonderen Wert darauf, dass aktiv Massnahrnen zur Beseitigung von faktischen Diskriminierungen sogenannter "vulnerable groups" ergriffen werden. Vgl. dazu die General Comments 5 betreffend die Rechte behinderter Personen und 6 betreffend die Rechte älterer Personen. 163 Siehe KünzlilKälin 108 f. 164 Dazu Kap. 4. 165 V gl. Kap. 5, II. und III.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

sonen" 166• Bereits die Wahl dieses Ausdrucks macht deutlich, dass die Vertragsstaaten dieser Instrumente gegenüber solchen Personen eine Art Garantenstellung einnehmen, die auf reziproken Verpflichtungen der Gegenpartei gründet 167 und die mit umfassenden Schutzpflichten zugunsten dieser Personen verbunden ist. Diese beziehen sich zwar nicht explizit auf eine Pflicht zur Verhinderung privater Missachtung ihrer Schutzbestimmungen, doch ist beispielsweise die Zivilbevölkerung - und insbesondere diejenige besetzter Gebiete - auch gegenüber Gewalttätigkeiten privaten Ursprungs zu schützen 168 •

• Institut des diplomatischen Schutzes: Eigentliche Schutzpflichten statuiert auch

das gewohnheitsrechtlich geltende Institut des diplomatischen Schutzes: Derogernäss ist der Aufenthaltsstaat unter gewissen Bedingungen zwar nicht direkt gegenüber dem sich auf seinem Territorium aufhaltenden ausländischen Staatsangehörigen verpflichtet. Er schuldet vielmehr dessen Heimatstaat die Ergreifung von Massnahmen zum Schutz von Rechtspositionen seiner Staatsangehörigen wie Leben, Freiheit, Eigentum und Würde 169 vor Übergriffen privater Akteure. Dieser Schutz vor Akten Dritter ist insbesondere während Aufständen und anderen kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu gewährleisten 170•

• Diplomatenrecht: Noch deutlicher wird die Verpflichtung gegenüber einem Dritt-

staat schliesslich im eigentlichen Diplomatenrecht, welches den Aufenthaltsstaat explizit zu einem umfassenden Schutz der diplomatischen Missionen und des diplomatischen Personals anderer Staaten vor Übergriffen gleich welchen Ursprungs verpflichtet 171 •

166 Mit der Kodifikation der beiden ZP sowie der Entwicklungen im ausservertraglichen Bereich kann diese Unterscheidung im geltenden Recht so nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden. Siehe dazu ausführlicher Kap. 2, IV.l. b). 167 Zur reziproken Grundstruktur des humanitären Völkerrechts siehe Kap. 5, 111. 2. a) bb). 168 So z. B. die Grundnorm des Art. 27 GKIV: ,.Die geschützten Personen haben unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Ehre, ihrer Familienrechte, ihrer religiösen Überzeugungen und Gepflogenheiten, ihrer Gewohnheiten und Gebräuche. Sie sollen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und namentlich vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, vor Beleidigung und der öffentlichen Neugier geschützt werden". Zur Art der Verpflichtungen, die der zweite Satz dieser Bestimmung stipuliert, führt der GK-JV-Kommentar204 aus: ,.The Convention does not confine itself to stipulating that such acts arenottobe committed. lt goes further; it requires States to take all the precautions and measures in their power to prevent such acts and to assist the victims in case of need". Im ansebliessenden Abs. 2 dieser Bestimmung wird die Schutzverpflichtung zugunsten einer in Kriegssituationen besonders gefährdeten Gruppe weiter verdeutlicht: ,.Die Frauen sollen besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt werden". 169 Verdross/Simma 802. 170 V gl. dazu z. B. Woif234 ffund George T. Yates J/1, State Responsibility for Nonwealth Injuries to Aliens in the Postwar Era, in Lillich (ed.), International Law of State Responsibility for Injuries to Aliens, Charlottesville 1983, 231ff; dazu auch Restatement, paras. 711-713. 171 Art. 22 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehung vom 18. April1961: ,,Der Empfangsstaat hat die besondere Pflicht, alle geeigneten Massnahrnen zu

IV. Schutzpflichten

217

Diese kurze Auflistung zeigt bereits deutlich, dass sich die Existenz völkerrechtlicher Schutzpflichten auf ein solides Fundament stützen kann. Im Unterschied zur Systematik des modernen Menschenrechtsschutzes ist jedoch in allen erwähnten Beispielen der Berechtigte nicht das zu schützende Individuum, sondern - wie dies besonderes deutlich am Beispiel des Diplomatenrechts und des diplomatischen Schutzes wird- der Staat 112, dessen Bürgerrecht die betreffende Person besitzt. 2. Ausgangspunkt: Die Bedrohung menschenrechtlich geschützter Rechtspositionen durch Dritte Wie oben aufgezeigt 173, werden insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges teilweise selbst schwerste Verletzungen von Menschenrechten oft nicht mehr primär durch staatliche Organe, sondern auch durch Aufständische oder andere private Personenvereinigungen verursacht, deren Macht ein schwacher Staatsapparat nichts entgegenzusetzen hat. Eine analoge Problematik zeigt sich auch in weniger dramatischen Umständen als in Situationen eines "failed state". Vor allem in stabilen rechtsstaatliehen Demokratien sind Staaten oft unfähig, Einzelne gegen Übergriffe anderer privater Individuen zu schützten. Denn gerade Freiheitsrechte wie z.B. das Recht auf Privatleben hindem den Staat- zu Recht- daran, von solchen Verletzungen überhaupt Kenntnis zu erlangen resp. bei vorhandener Kenntnis diese zu verhindem oder zu beenden. Wie der IAGMR prägnant formulierte, handelt es sich hierbei um "individual domains that are beyond the reach of the State or to which it has but limited access" 174• Während somit in der ersten Situation der Staat private Gewalt aus faktischen Gründen nicht abwehren kann, zeichnet sich die zweite Konstellation dadurch aus, dass er rechtlich verpflichtet wird, sich aus gewissen privaten Sphären herauszuhalten. Da aber durch Private verursachte Eingriffe in den materiellen Geltungsbereich der Menschenrechte nicht als Handlungen des Staates und damit eines Trägers einer konkreten menschenrechtliehen Verpflichtung eingestuft werden können, gilt es abzuklären, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solches Verhalten trotzdem zur Entstehung eines einem Völkerrechtssubjekt zurechenbaren völkerrechtlichen Detreffen, um die Räumlichkeiten der Mission vor jedem Eindringen und jeder Beeinträchtigung zu schützen und zu verhindern, dass der Friede der Mission gestört oder ihre Würde beeinträchtigt wird". Für den Spezialfall von bewaffneten Konflikten statuiert Art. 44 dieses Vertrages zusätzliche Schutzpflichten des Empfangsstaates. Siehe dazu auch Epiney 249f und Wolf351ff mit weiteren Hinweisen. 172 Diese Verpflichtung zum Schutz der Interessen eines Drittstaates wird im klassischen Völkerrecht als Gegenstück zur territorialen Souveränität eines Staates resp. des daraus fliessenden Rechts auf ausschliesslicbe Kontrolle des Staates Uber sein Staatsgebiet qualifiziert. Vgl. Epiney 206fmit weiteren Hinweisen. 173 Siebe Kap. 2, V. 174 IAGMR, Advisory Opinion OC-6/86 vom 9. Mai 1986, The Word ,Jaws" in Article 30 of tbe American Convention on Human Rights, Series A Vol. 6, para. 21.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

likts führen kann. Eine solche Untersuchung setzt aber voraus, dass in einem ersten Schritt der Kreis der Akteure eingegrenzt wird, deren Handeln trotz ihrer fehlenden Organfunktion geeignet sein kann, gewisse Rechtsfolgen für den verpflichteten Staat auszulösen 175•

a) Privatpersonen und andere privatrechtliche Vereinigungen Es erscheint offenkundig, dass Verletzungen von Positionen, die im Verhältnis Staat- Individuum menschenrechtlich geschützt sind, vermutungsweise häufiger im Verhältnis zwischen Privaten geschehen als im Verhältnis zwischen staatlichen Organen und Individuum. Das Spektrum möglicher Verletzungen ist vielfaltigster Natur und demzufolge kaum eingrenzbar. Es reicht, um nur einige Beispiele herauszugreifen, von Bedrohungen und Verletzungen des Lebens und der physischen und psychischen Integrität im Falle strafrechtlich zu sanktionierender Delikte gegen Leib und Leben, über Gefährdungen des Rechts auf Wohnung bei Ausweisungen von Mietern und Mieterinnen aus ihren Wohnungen und der Verhinderung des Rechtes auf freie Meinungsäusserungen im Falle der Bedrohung einer friedfertigen Demonstration durch gewalttätige Gegendemonstrationen bis hin zur Bedrohung des Rechts auf Durchführung von Arbeitskampfmassnahmen durch sanktionsweise Entlassungen 176• Andererseits können gewisse menschenrechtliche Garantien- insbesondere Verfahrensgarantien 177 aber etwa auch das Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern - infolge ihres Charakters durch Private kaum je verletzt werden 178• Auch der Kreis möglicher privater Verletzer lässt sich definitorisch nicht eingrenzen, da bereits die eben erwähnten Beispiele zeigen, dass solche Übergriffe Privater ihren Ursprung bei unorganisierten Privatpersonen, bei terroristischen Gruppierungen aber auch bei Wirtschaftsunternehmungen finden können. Als Verhalten von Privatpersonen einzustufen sind auch Verletzungen von Menschenrechten, deren Verursacher nicht oder nicht mehr festgestellt werden können 179• In einem solchen Fall kann natürlich nicht die fehlende Möglichkeit einer Zuordnung innerhalb staatlicher Organe relevant sein, sondern vielmehr diejenige zwischen der Gesamtheit 175 Vgl. dazu Christine Chinkin, Third Parties in International Law, Oxford 1993, 7ff, und Weissbrodt 187ff. 176 Vgl. dazu auch die Zusammenstellung in Wiesbrock 19ff. 117 Art.6 EMRK und Art.14 Pakt II. Zu dieser Kategorie gehören aber z.B. auch das Verbot rückwirkender Strafgesetze (Art. 7 EMRK und Art. 15 Pakt li), der Grundsatz von ne bis in idem (Art. 4 ZP7/EMRK und Art. 14 Abs. 7 Pakt li) und das Recht auf Anerkennung als Rechtsperson (Art.16 Pakt II). 111 Kälin (Gewährleistung) 32. 179 IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vo1.4, para.172; Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol. 5, para. 182, und Caballero Delgado and Santana v. Columbia, Series C Vol. 17, para. 56.

IV. Schutzpflichten

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der staatlichen Organe im Sinne der Zurechnungsregeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit einerseits 180 und nichtstaatlichen Akteuren andererseits.

b) Aufständische Aufständischen Gruppierungen - unabhängig von ihrer rechtlichen Qualifikation 181 -ist gemeinsam, dass sie sich erstens regelmässig auf dem Gebiet eines Territorialstaates bewegen und dies zweitens regelmässig in Situationen, die von Gewalt geprägt sind und in welchen deshalb selbst zentralste Menschenrechtspositionen in hohem Grade auch durch ihre Organe bedroht werden. Diese Gefahr besteht sowohl in territorialer wie auch in zeitlicher Hinsicht nicht nur während eigentlichen Kampfsituationen. Vielmehr besteht eine hohes Verletzungsrisiko erfahrungsgemäss oft beispielsweise im Fall der Gefangennahme von Angehörigen gegnerischer Gruppen oder der staatlichen Armee. Ein solches ist auch häufig für die Zivilbevölkerung von Gebieten, die sich unter der Kontrolle dieser Organisation befinden, sowie im Falle von organisationsinternen quasi-staatlichen Verfahren in Straf- und Disziplinarsachen gegeben 182•

c) Drittstaaten Völkerrechtliche Verträge und damit auch menschenrechtliche Instrumente binden gernäss Art. 34 VRK nur diejenigen Staaten qua Vertrag 183, welche eine in einem konkreten Sachverhalt anwendbare Konventionen ratifiziert haben. Zudem kann ein Staat, mit der seltenen Ausnahme von Situationen, in welchen er die Kontrolle über die Regierung eines anderen Staatsgebildes ausübt 18\ nicht für das Verhalten eines anderen Staates völkerrechtlich haftbar gemacht werden 185 • Trotzdem kann das VerDazu vorne Kap.2, V.2.b). Die Spannweite solcher "dissident arrned forces" kann von straff organisierten Befreiungsbewegungen bis zu spontanen kurzlebigen Organisationen reichen. Dabei ist in dem hier zu besprechenden Zusammenhang irrelevant, ob die betreffende Organisation als ein stabiles de facto Regime oder als eine Befreiungsbewegung gernäss ZPI Völkerrechtssubjekt ist und deshalb selbständige Trägerio von Rechten und Pflichten sein kann oder ob dies nicht der Fall ist. • 82 Siehe dazu exemplarisch den Report of the Secretary General on the situation of human rights in Afghanistan vom 12. März 1998, UN Doc.E/CN.4/1998/71 und Report ofthe Special Rapporteur, Ms. Mona Rishmavi, on the situation of human rights in Somalia vom 16. Januar 1998, UN Doc. E/CN. 4/1998/96. V gl. auch vorne Kap. 2, V. 183 Diese Aussage steht unter Vorbehalt der Entstehung einer Uber den Kreis der ratifizierenden Staaten hinaus reichenden Bindungswirkung paralleler Normen auf gewohnheitsrechtlieber Grundlage. FUr eine solche Entwicklung im Bereich des humanitären Völkerrechts siehe vorne Kap. 2, IV.3. 184 Siehe für ein solches Beispiel EGMR, Loizidou v. Turkey (preliminary objections), Series A Vol. 310, para. 62, und Loizidou v. Turkey (merits) judgement of 18 December 1996, Reports 1996-VI, para. 56. lU Siehe dazu l.Awson/Schermers 323. 1so 181

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

halten eines Drittstaates - unabhängig davon, ob er Partei eines die entsprechende Rechtsposition schützenden völkerrechtlichen Instrumentes ist oder nicht- Auswirkungen auf die Rechtsposition von Individuen haben, die sich unter der Jurisdiktion eines verpflichteten Staates befinden oder befanden. Eine solche Wirkung kann drittstaatlichem Verhalten in folgenden Konstellationen zugesprochen werden: • Eine Bedrohung privater Interessen durch Drittstaaten kann sich erstens in Fällen ergeben, in welchen eine Person aus der Jurisdiktion eines Staates, der vertraglich zur Beachtung resp. Gewährleistung einer bestimmten menschenrechtliehen Garantie verpflichtet ist, in den Herrschaftsbereich eines Staates überstellt wird, in welchem ein reales Risiko einer Nichtbeachtung des entsprechenden Standards gegenüber dieser Person besteht. Eine solche Gefahr kann wiederum in zwei Konstellation latent werden. Der Staat, in welchen eine Person unter Befolgung eines bi- oder multilateralen Auslieferungsvertrages ausgeliefert oder aber abgeschoben wird, kann entweder nicht unter der betreffenden völkerrechtlichen Verpflichtung stehen oder es ist von einer gewissen Wahrscheinlichkeit auszugehen, dass er seinen bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt186. Solche Übergriffe eines Drittstaates finden zwar im Unterschied zu den bisher genannten Beispielen nicht auf dem Territorium resp. unter der Jurisdiktion des völkerrechtlich verpflichteten Staates statt, doch lässt sich ein Bezug dadurch herstellen, dass die Kausalkette, welche zur Verletzung dieser Positionen führte, sich auf ein bewusstes Verhalten des verpflichteten Staates zurückführen lässt resp. auf dessen Territorium oder unter dessen Jurisdiktion ihren Ausgang nahm 187. • Deutlicher werden die Ähnlichkeiten drittstaatlichen Verhaltens mit demjenigen von Privaten bei der zweiten möglichen Fallkonstellation einer Verletzung men186 Menschenrechtlich geschützte Gehalte können aber im Falle von Auslieferungen wtd Abschiebungen nicht nur durch Organe von Drittstaaten bedroht werden, sondern Akteure solcher auf dem Territorium eines Drittstaates begangenen Verletzungen können auch Privatpersonen oder insbesondere aufständische Gruppen sein. Eine derartige Konstellation stand auch im Falle Ahmed v. Austrio (EGMR, judgement of 12 December 1996, Reports 1996-Vl) zur Diskussion. Vgl. dazu auch unten Abschn.5. e)bb). Siehe dazu RalfAlleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, Berlin et al. 1996, 26, und Walter Kälin, Das Prinzip des non-refoulrnent, Bem/Frankfurt a. M. 1982, 183 ff. 187 Mittlerweile existiert eine reiche Judikatur zu solchen transnationalen Sachverhalten. Siehe z. B. EGMR, Soering v. UnitedKingdom, Series A Vol.161; Cruz Varas v. Sweden, Series A Vol. 201; Vilvarajah v. United Kingdom, Series A Vol. 215; Vijayanathan v. France, Series A Vol. 241-B; Chahal v. United Kingdom judgement of 15 November 1996, Reports 1996-V; Ahmed v. Austrio judgement of 17 December 1996, Reports 1996-VI; H. L.R. v. France judgement of 29 April1997, Reports 1997-111; D. v. United Kingdom judgement of2 May 1997, Reports 1997-III. Der Ausschuss für Menschenrechte befasste sich in Comrnunication 4 70/1991, Kindler v. Canada; Comrnunication 469/1991, Ng. V. Canada; Comrnunication 539/1993, Cox v. Canada; Comrnunication 692/1996, A. R.J. v. Australia und Comrnunication 706/1996, G. T. v. Australia mit Auslieferungs- und Abschiebwtgsfällen.

IV. Schutzpflichten

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sehenrechtlich geschützter Positionen durch Drittstaaten sichtbar 188 : Dem Handeln von Organen des Drittstaates auf dem Territorium desjenigen Staates, der Träger der in Frage stehenden menschenrechtliehen Verpflichtung ist. Auch diese Kategorie lässt sich wiederum in zwei Untergruppen aufteilen: In das Handeln von Organen fremder Staaten, welche mit Einverständnis des Territorialstaates tätig sind 189, und Handeln, das ohne oder gar gegen dessen Willen auf seinem Gebiet stattfindet 190• Während, wie bereits erwähnt, heute unumstritten ist, dass Handlungen dieser Organe ihrem Staat zurechenbar sind 191 und dieser wiederum auch für sein Agieren ausseehalb seines Territoriums völkerrechtlich haftbar ist 192, soll an dieser Stelle geprüft werden, ob aus solchen Handlunge~ auch eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Territorialstaates entstehen kann.

d) Internationale Organisationen Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet einer Vertragspartei eines menschenrechtliehen Instruments können ihren Ursprung schliesslich auch im Verhalten von Organen internationaler Organisationen finden 193• Hinsichtlich der hier interessierenden Frage einer Verantwortlichkeit des Territorialstaates ist diese Konstellation wiederum eng mit der Fallgruppe von drittstaatlichen, mit Einwilligung des Aufenthaltsstaates handelnden Organen verwandt. Im Unterschied zu diesem Parallelfall stellt sich aber hier in umgekehrter Hinsicht das Problem, dass deren Handeln nicht ohne weiteres der internationalen Organisation zugerechnet werden kann, da diese, obwohl sie Völkerrechtssubjektivität besitzt, kaum je Vertragspartei eines menschenrechtliehen Instruments sein wird. Umso mehr gewinnt daher die Möglichkeit der Konstruktion einer völkerrechtlichen Haftung des Territorialstaates für Menschenrechtsverletzungen, die auf einen solchen Ursprung zurückzuführen sind, an praktischer Bedeutung.

188 Diese Parallele wird denn auch von der ILC in Yearbook 1975 li, 85f, para.11, betont. V gl. zu dazu auch vorne Kap. 2, IV. 2. a). 189 Yearbook ILC 1975 II, 83, para. 1. Zu dieser Gruppe zählen insbesondere das diplomatische und konsularische Personal oder ausländische Militärangehörige, welche auf vertraglicher Grundlage im betreffenden Staat stationiert sind. 190 A. a. 0.; dazu gehören insbesondere fremde Truppen im Falle einer bewaffneten Intervention sowie Aktivitäten von Angehörigen ausländischer Nachrichtendienste. 191 Dazu vorne Kap. 2, V. 2. b). 192 V gl. zum territorialen Geltungsbereich menschenrechtlicher Verpflichtungen Kap. 2, IV.2.a). 193 Siehe dazu EGMR, Matthews v. United Kingdom judgement of 18 February 1999, Reports 1999-1, paras.29ff.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

3. Die völkerrechtliche Ausgangslage a) Keine direkte völkerrechtliche Verpflichtung von Nicht-Normadressaten Mit Ausnahme des Falles einer Verletzung von Menschenrechten durch Organe eines Drittstaates, der in einem konkreten Fall denselben menschenrechtliehen Verpflichtungen unterworfen ist 194, wie derjenige Staat, auf dessen Staatsgebiet sich dieses völkerrechtliche Delikt abspielte, ist allen oben beschriebenen Akteuren gemeinsam, dass sie nicht Adressaten einer im konkreten Fall anwendbaren Norm und damit nicht Träger einer entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtung sind. Wahrend aber im Falle von Drittstaaten bezüglich universeller Instrumente eine Begründung einer solchen Verpflichtung immer, bezüglich regionaler Verträgen zumindest bei Erfülltsein der geographischen Voraussetzungen 195 und im Falle von internationalen Organisationen bei entsprechender Modifikation von Menschenrechtsverträgen theoretisch möglich wäre 196, scheitert die Begründung einer eigenen Verpflichtung von Aufständischen in der Regel an deren fehlender Völkerrechtssubjektivität 197 und von Privaten immer an der Grundstruktur aller Instrumente des Menschen194 Diese Konstellation erscheint deshalb von geringem praktischem Belang, da bei bestehender vertraglicher Verpflichtung des Drittstaates, im Falle einer Verletzung einer menschenrechtlichen Garantie durch dessen Organe, gegen diesen selbst auch im Falle von extraterritorialem Handeln (dazu oben Kap. 2, IV. 2.) vorgegangen werden kann. Dies gilt umso mehr, falls der konkret anwendbare Vertrag es erlaubt, auch gegen den Drittstaat im Rahmen einer Individualbeschwerde vorzugehen. Ist dieses Vorgehen bezUglieh des Staates, auf dessen Territorium die Menschenrechtsverletzung stattfand, möglich, nicht aber gegenüber dem Verursacherstaat- da dieser z. B. dieses Vorgehen infolge fehlender Unterzeichnung eines entsprechenden Fakultativprotokolls verunmöglicht - muss aber eine Beschwerde gegen den erstgenannten Staat ausnahmsweise doch ins Auge gefasst werden. Falls ein Staat eine Person in einen Drittstaat, der zwar denselben menschenrechtliehen Verpflichtung wie der ausliefemde Staat untersteht, ausliefert, obwohl er weiss, wissen muss oder gar beabsichtigt, dass eine Übergabe dieser Person zu einer Verletzung ihrer Menschenrechte durch Organe dieses Staates fUhrt, kann der Beitrag des ausliefemden Staates gernäss der Sekundärregel von Art. 27 ILC-Entwurf ebenfalls als eigenständige Verletzung einer entsprechenden Garantie eingestuft werden. Art. 27 ILC-Entwurf bestimmt: ,,Aid or assistance by a State to another State, if it is established that it is rendered for the commission of an intemationally wrongful act carried out by the latter, itself constitutes an intemationally wrongful act, even if, taken alone, such aid or assistance would not constitute the breach of an intemationally wrongful act". 195 So für die EMRK Art. 59 EMRK i. V. m. Art.4 Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949. 196 Beispielsweise wurde durch die Europäischen Gemeinschaften verschiedentlich eine Ratifizierung der EMRK ins Auge gefasst. Siehe zu dieser Frage z. B. EuGH, Gutachten 2/94, Beitritt der Gemeinschaften zur EMRK vom 28. März 1996, abgedruckt in EuGRZ 1996, 197ff; dazu auch Clapham 280ff. 197 Wie in Kap. 2, V. 3.-5., festgestellt, kommt einzig Befreiungsbewegungen im Sinne von Art. 1 ZP I sowie kraft Gewotmheitsrecht den stabilen de facto Regimes eine solche Subjektqualität zu. Die BegrUndung einer vertraglichen Verpflichtung solcher Gruppen ist zwar theoretisch denkbar, wUrde jedoch eine in der Praxis wohl nur selten zu bewerkstelligende Änderungen von entsprechenden menschenrechtliehen Instrumenten bedingen.

IV. Schutzpflichten

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rechtsschutzes, ausschliesslich die Staaten als Adressaten ihrer Verpflichtungen zu bezeichnen 198 • Dieser dem gesamten System des internationalen Menschenrechtsschutzes gemeinsame Grundsatz wird auch nicht durch die Tatsache eingeschränkt, dass ver:schiedene Bestimmungen dieser Abkommen den Einzelnen zwar nicht direkt völkerrechtlich verpflichten, aber doch deutlich von einer Grundidee ausgehen, wonach der Schutz der Menschenrechte sich nur im Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Gruppen, unabhängig von der rechtlich bestehenden Verpflichtungsdichotomie zwischen Staat und Privaten, verwirklichen lässt 199: • So appellieren namentlich die Präambeln verschiedener Instrumente an ein menschenrechtliche Garantien beachtendes Verhalten Privater 200• Diese Gedanken werden in der allerdings nicht verbindlichen Declaration on the Right and Responsibility of lndividuals, Groups and Organs of Society to Promote and Protect Universally Recognized Rights and Fundamental Freedoms der UNO-Generalversammlung vom 8. März 1999201 weiterentwickelt. So hält Art. 10 dieser Deklaration beispielsweise fest: "No one shall participate, by act or by failure to act where required, in violating human rights and fundamental freedoms and no one shall be subjected to punishment or adverse action of any kind for refusing to do so."

• Als Besonderheit innerhalb des Kreises der verbindlichen Instrumente statuiert die AfMRK gar explizit Pflichten des lndividuums 202• 19& So legen alle generellen Gewährleistungsklauseln der Menschenrechtsverträge fest, dass sich die Vertragsstaaten zu einem bestimmten Verhalten zugunsten von Personen unter ihrer Jurisdiktion im Sinne der im jeweiligen Vertrag enthaltenen materiellen Garantien verpflichten (siehe etwa Art. 2 Abs.1 Pakt I und li, Art. 1 EMRK, Art. 1 AMRK, Art. 1 AfMRK, Art. 2 CRC, Art. 2 Abs. 1 Übereinkommen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung Art. 2 Abs. 1 CAT, Art.1 GKI-IV, Art. 1 ZPI). Träger der Verpflichtungen sind deshalb gernäss klarem Wortlaut stets die Staaten, während Private meist Träger der korrespondierenden Rechte und damit Drittbegünstigte sind. Zusätzliche Unterstützung findet dieser Grundsatz in denjenigen Bestimmungen, welche die Passivlegitimation in Individualbeschwerdeverfahren vor den Überwachungsbehörden der entsprechenden Instrumente stets auf die Vertragsstaaten beschränken (siehe etwa Art. 34 EMRK; Art. 1 FP/Pakt li; Art. 22 CAT; Art. 44 AMRK). 199 V gl. dazu Clapham 184 ff; Alkema 35 ff und Kälin (Gewährleistung) 32 f. 200 So erklärt bereits die Präambel der AEMR, das Ziel dieses "von allen Völkern und Nationen zu erreichenden gemeinsamen Ideals" sei, dass ,jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten". Gar von Pflichten der Einzelnen gegenüber Mitmenschen und der Gemeinschaft ist in Abs. 5 der Präambeln der Pakte I und li die Rede. Von einer Geltung auch zwischen Privaten geht e contrario auch Art. 2 Abs. 3 Pakt li aus, wenn er Staaten verpflichtet, "dafür Sorge zu tragen, dass jeder der in seinen durch diesen Pakt anerkannten Rechte oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht hat, eine wirksame Beschwerde einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben". Siehe dazu auch Weissbrodt 179 ff. 201 UN Doc.A/Res/53/144. 202 Die Art. 27-29 AfMRK statuieren gernäss dem Vorbild des Art. 29 AEMR ein vielfältiges Bündel von Verpflichtungen des Individuums gegenüber Familie, Mitmenschen, Staat und Ge-

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

• Zusätzlich enthalten viele solcher Abkommen sogenannte Missbrauchsklauseln, die es erlauben, die Möglichkeit einer Berufung auf gewisse Menschenrechte durch Private von deren Beachtung der einen Vertrag prägenden Grundsätze abhängig zu machen 203 • Eine solche Konditionalisierung der Ausübung der Menschenrechte kann zumindest als Reflexverpflichtung Privater interpretiert werden. • Wenn schliesslich Schrankenklauseln der Freiheitsrechte den Staaten einen Eingriff in deren sachlichen Geltungsbereich erlauben204, falls dies unter anderem zum Schutze der Rechte anderer Privatpersonen geschieht, wird auch mit dieser Methode die Ausübung solcher Freiheitsrechte unter die Bedingung einer privaten Beachtung der Garantien eines Vertrages gestellt und deshalb eine mittelbare Verpflichtung Privater statuiert205 • • Endlich wird eine indirekte Verpflichtung von Individuen zur Beachtung zentraler Menschenrechte auch dadurch erreicht, dass Staaten verpflichtet werden, die Urheber solcher Menschenrechtsverletzungen entweder selber zu bestrafen oder aber zum Zwecke der Bestrafung an einen anderen Staat auszuliefern206 • Mit der Errichtung von internationalen Strafgerichten fand dieser Grundsatz in neuester Zeit eine nachhaltige Bestätigung207 • All diese Hinweise, welche die Gefahr von Übergriffen durch Individuen und andere nichtvertragsstaatliche Einheiten auf menschenrechtlich geschützte Positionen indirekt bestätigen, vermögen aber nichts an der klaren Rechtslage zu ändern: Demnach sind im System zumindest des vertraglichen völkerrechtlichen Menschensellschaft. Da jedoch auch im Falle der AfMRK nur Staaten Parteien dieses Vertrages sein können, werden durch diese Bestimmungen keine völkerrechtlichen Verpflichtungen des Individuums statuiert. Vielmehr wird die Berechtigung zur Ausübung der Individualrechte dieses Vertrages unter den Vorbehalt der Beachtung dieser Pflichten gestellt, resp. es wird den Staaten erlaubt, zur Durchsetzung dieser Pflichten in den sachlichen Geltungsbereich der materiellen Bestimmungen einzugreifen. Vgl. Ankumah 172; Ouguergauz (Charte africaine) 241 ff; Weissbradi 183 f und Wiesbrack 42 ff. 203 Siehe zum Inhalt und zur Rechtsnatur der privaten Missbrauchsverbote der Art. 5 Pakt II resp. Art. 17 EMRK, welche die Berufung auf eine materielle Garantie zum Zwecke der Abschaffung dieser Garantien verunmöglichen sollen, Kap. 5, II. 2., und im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit einer Ableitung von Pflichten des Individuums aus diesen Klauseln Clapham 184ff. 204 Vgl. dazu Kap.4, V.3. e). 20s Gar eine ausdrückliche Regelung privater Beschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit kennt Art. 13 Abs. 3 AMRK. Gernäss dieser Bestimmung darf dieses Freiheitsrecht ,,nicht durch indirekte Verfahren oder Mittel eingeschränkt werden wie z. B. den Missbrauch staatlicher oder privater Kontrolle über die Nachrichtenpresse, die Rundfunkfrequenzen oder die Vorrichtungen, die für die Verbreitung von Nachrichten gebraucht werden, oder durch andere Mittel, die darauf abzielen, die Vermittlung und Verbreitung von Ideen und Meinungen zu verhindern". 206 Zur völkerrechtlichen Verankerung des Grundsatzes von aut dedere aut judicare siehe Verdrass/Simma261 ff. 201 Siehe dazu Kap. I, 111.4. c).

IV. Schutzpflichten

225

rechtsschutzes einzig Staaten als Vertragsparteien Träger der in diesen Instrumenten statuierten Verpflichtungen 208 • b) Die Zurechenbarkeit des Verhaltens von Niehf-Normadressaten im Falle einer Kompetenzübertragung Nachdem festgestellt wurde, dass ein Menschenrechtsgarantien verletzendes Verhalten von Nichtvertragsparteien eines menschenrechtliehen Vertrages keine direkte völkerrechtliche Verantwortlichkeit solcher Akteure auslösen kann, bleibt abzuklären, inwieweit deren Verhalten einem Vertragsstaat als dessen eigenes Verhalten zugerechnet werden kann. Wie bereits anlässtich der Darstellung der Zurechenbarkeitsregeln ausgeführt209, kann- ausser in Fällen der Übernahme eines privaten Verhaltens durch den Staat210 - ausschliesslich das Verhalten seinerde jure oder de facto Organe diesen völkerrechtlich verpflichten. Dieser zentrale Grundsatz des Rechts der Staatenverantwortlichkeit beruht wiederum auf der Grundüberlegung, dass nur im Falle von Organen "the existence of a reallink between the person performing the act and the State machinery"211 gegeben sei. Dieser Schluss rechtfertigt sich deshalb, weil- und diese ideologische Grundentscheidung dürfte wesentlich von einem liberalen Menschenrechtsverständnis geprägt worden sein - der Staat eine Weisungs- und Kontrollbefugnis nur gegenüber seinen Organen, grundsätzlich aber nicht gegenüber Privaten besitzt212 • Unter diesem Blickwinkel sind auch die einzigen dieses Grundprinzip scheinbar durchbrechenden und im Bereiche der Menschenrechte relevanten Fälle einer Zurechenbarkeit privaten Handeins zum Staat erklärbar: • Die erste Konstellation betrifft Übertragungen staatlicher Kompetenzen an Dritte, d. h. auf nationaler Ebene an Private213 oder bilateral an drittstaatliche Organe resp. an internationale Organisationen 21 \ in Bereichen, in welchen der Staat entweder hoheitlich das Verhalten von Privatpersonen bestimmt oder in Aufgabenbereichen, welche direkt mit dem Aufbau der staatlichen Struktur zusammenhänSiehe dazu ausführlicher vorne Kap. 2, V. Siehe oben Kap. 2, V. 2. b ). 21o Diese Ausnahme betrifft Konstellationen, in welchen revolutionäre Gruppen die Regierung eines bisherigen resp. neuen Staates übernehmen und wo aus Billigkeitsüberlegungen retroaktiv das gesamte Verhalten dieser Organisation dem Staat zugerechnet wird. Siehe dazu vorne Kap. 2, V. 2. b) dd). Gernäss Epiney 202 wird zusätzlich privates Verhalten von einer gewissen Dauer zum staatlichen Akt, falls die staatlichen Organe den Handlungsablauf dieses Ereignisses mit der Zeit so bestimmen, dass der Private einzig als staatliches Werkzeug erscheint. 211 Yearbook ILC 1974 ll/1, 283, para.2. 212 Im Falle von Drittstaaten fehlt es demgegenüber in der Regel- d. h. mit Ausnahme der in Art. 28 ILC-Entwurf umschriebenen Konstellation- bereits an der Fähigkeit zur Übernahme einer solchen Kontrolle. 213 Art. 7 Abs. 2 ILC-Entwurf. 214 Art. 9 ILC-Entwurf. 208

209

IS KUnzli

226

Kap. 3: Verpflichtungsarten

gen. Diese Bedingungen erfüllen etwa Kompetenzübertragungen im Bereich der obligatorischen Schule, der Polizei und des Strafvollzugs, sowie der Organisation von Wahlen. In diesen Bereichen erachtet es auch der EGMR als essentiell, dass die staatliche Kontrolle über die Tatigkeit von Dritten gewährleistet sein mussm. Folglich kann die staatliche Verantwortung auf diese Weise nicht reduziert werden216. Eine Berufung auf staatliche Schutzpflichten erweist sich damit in solchen Situationen als überflüssig, da das Handeln dieser Dritten dem Staat direkt zugerechnet werden kann. Dies gilt selbst dann, wenn er entgegen seinen internationalen Verpflichtungen keine tatsächlich Kontrolle über das Verhalten ausübt oder - wie im Falle einer staatsvertragliehen Kompetenzübertragung an eine internationale Organisation -keine solche ausüben kann. • Die gleiche Schlussfolgerung gilt auch in den Ausnahmefallen einer Übernahme von Aufgaben des Staates durch Private im mutmasslichen Interesse eines infolge Notstandes oder aus anderen Gründen 217 nicht handlungsfahigen Staates218 . In solchen Fällen gelten Dritte nach den Zurechenbarkeitsregeln der ILC als de facto Organe, welche einen Staat wiederum direkt zu verpflichten vermögen219 • Der Bereich direkten staatlichen Handeins wird somit durch die Zurechenbarkeitsregeln auch auf das Verhalten von de facto Organen ausgeweitet. Damit wird si215 In diesem Sinne auch explizit der EGMR im Urteil Coste/lo Roberts v. United Kingdom, Series A Vol. 247 -C, para. 27: "[T]he Court agrees with the applicant that the State cannot absolve itself from responsibility by delegating its obligations to private bodies or individuals". Dieser Grundsatz des allgemeinen Völkerrechts wurde von diesem Organ bereits in van der Musseie v. Belgium, Series A Vol. 70, paras. 28ff, angewandt. Vgl. dazu auch Lawson/Schermers 490. 2 16 EGMR, Matthews v. United Kingdomjudgement of 18 February 1999, Reports 1999-1, paras. 30ff: "The Court notes that the parties do not dispute that Article 3 of Protocol No. I applies in Gibraltar. (... ) The Court must nevertheless consider whether, notwithstanding the nature of the elections to the European Parliament as an organ of the EC, the United Kingdom can be held responsible under Article 1 of the Convention for the absence of elections to the European Parliament in Gibraltar, that is, whether the United Kingdom is required to ,secure' elections to the European Parliament notwithstanding the Community character of those elections. The Court observes that acts of the EC as such cannot be challenged before the Court because the EC is not a Contracting Party. The Convention does not exclude the transfer of competences to international organisations provided that Convention rights continue tobe ,secured'. Member States' responsibility therefore continues even aftersuch a transfer''. 217 Siehe dazu exemplarisch die Anwendung dieser Regel des ILC-Entwurfs durch die EKMR im Fall einer Privatperson, die im Namen eines Vertragsstaates auf dem Territorium eines anderen Staates tätig war, im Bericht der EKMR zum Falle Stocke v. Germany (abgedruckt in Series A Vol.l99, 24, para.168): ,,In the case of collusion between State authorities ( ...) and a private individual for the purpose of retuming against bis will a person living abroad, without consent of bis State of resident, to its territory where he is prosecuted, the High Contracting Party concemed incurs responsibility for the acts of the private individual who de facto acts on its behalf'. 211 Art. 8 lit. b ILC-Entwurf: "The conduct of a person or group of persons shall also be considered as an act of the State under intemationallaw if: ( ...) such person or group of persons was in fact exercising elements of the govemmental authority in the absence of the official authorities and in circumstances which justified the exercise of those elements of authority". 219 Siehe dazu vome Kap. 2, Abschn. V. 2. b) bb).

IV. Schutzpflichten

227

chergestellt, dass einerseits die Bestimmung des Umfanges des Bereichs staatlicher Verantwortung nicht im freien Belieben des Staates steht und dass andererseits auch in Notsituationen die Erfüllung klassischer Staatsaufgaben in Befolgung der mutmasslichen Interessen des Staates staatliche Verantwortung auslösen kann. Diese Einschätzung ändert jedoch nichts am Grundprinzip, wonach private Eingriffe in Menschenrechte auf internationaler Ebene weder eine direkte Verantwortung der handelnden Akteure auslösen, noch als Handlung des völkerrechtlich verpflichteten Staates eingestuft werden können. c) Das Korrektiv: Die Pflicht zur Gewährleistung von Menschenrechten

Mit diesem Fazit ist es aber keinesfalls kategorisch ausgeschlossen, dass das Verhalten von Individuen und privaten Einheiten trotzdem eine Rechtsfolge auf internationaler Ebene auslösen kann. Dies kann im Gegenteil dann der Fall sein, wenn das Resultat des privaten Verhaltens Folge eines pflichtwidrigen Nichteingreifens eines Staates in ein Verhältnis zwischen Privaten ist. Ob aber eine solche Handlungs- oder Vorsorgepflicht vorliegt, ist, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, nicht eine Frage des Rechts der Staatenverantwortlichkeit, sondern ist mittels Auslegung der Primärregeln, d. h. der Garantien menschenrechtlicher Instrumente, abzuklären220. Und in der Tat legt bereits der Wortlaut der allgemeinen Verpflichtungsklauseln mit Wendungen, wonach die Vertragsstaaten die materiellen Garantien nicht nur zu achten, sondern "allen Personen( ...) zu gewährleisten" 221 resp. zu "sichem"222 haben, nahe, dass unter gewissen Voraussetzungen 223 Staaten kraft eigener völkerrechtlicher Verpflichtungen der Geltung von Menschenrechten auch zwischen Pri220 Besonders anschaulich wurde dieser Grundsatz vom IAGMR (Cabellero Delgada and Santanta v. Columbia, Series C Vol. 17, para. 56) zusammengefasst: "Thus in principle, any Violation of rights recognized by the Convention carried out by an act of public authority or by persons who use their position of authority is imputable to the State. However, this does not define all the circurnstances in which a State is obligated to prevent, investigate and punish human rights violations, nor all the cases in which the State may be found responsible for an infringement of those rights. An illegal act which violates human rights and which initially is not directly imputable to a State (...) can Iead to international responsibility of the State, not because of the act itself, but because of the Iack of due diligence to prevent the violation or to respond to it as required by the Convention". Gleichlautende Passagen finden sich auch in der übrigen in Anm. 179 aufgeführten einschlägigen Doktrin des IAGMR. 221 Art. 2 Abs. 1 Pakt II. Die verbindlichen englischen und französischen Versionen sprechen von "ensure" resp. "garantir". So auch Art. 2 Abs. 1 CRC. 222 Art, 1 EMRK. Die englischen und französischen Originalversionen verwenden die Begriffe "secure" resp. ,,reconnaitre". Diese Ausdrücke werden auch von Art. 1 AMRK verwendet, doch macht der Umstand, dass im Unterschied zur Regelung der EMRK in diesem Vertrag diese Wendung zusätzlich zum Verb ,,respect" gebraucht wird, deutlich, dass mit ,,secure" mehr als nur eine Unterlassungsverpflichtung statuiert werden soll. 223 Siehe dazu unten Abschn. 5.

15•

228

Kap. 3: Verpflichtungsarten

vaten Nachachtung zu verschaffen haben. Auch in der Doktrin herrscht deshalb Einigkeit darüber, dass Staaten Übergriffe auf Menschenrechte durch Individuen und Einheiten, deren Handeln ihnen nicht zugerechnet werden kann, zu verhindem resp. zumindest im Nachhinein aufzuklären haben224• Ergänzt wird diese allgemeine Verpflichtung zur Durchsetzung der Menschenrechte auch in privaten Verhältnissen durch den Wortlaut verschiedener spezifischer Artikel: So halten beispielsweise sowohl der Pakt II als auch die EMRK übereinstimmend die Vertragsstaaten zum gesetzlichen Schutz des Rechts auf Leben an225 , und Art. 17 Pakt II statuiert eine Pflicht des Staates, für den rechtlichen Schutz gegen Eingriffe in das Privatleben zu sorgen. Zusätzlich sind gewisse Rechte, wie die Garantien zum Schutz der Familie226 und des Kindes 227, aber auch das Recht auf Streik228 und das Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit229 sowie das Recht von Minderheiten auf Schutz230 bereits aufgrund ihres Charakters primär durch eine staatliche Regulierung der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zwischen Privaten zu erfüllen 231 • Gestützt auf diese Erkenntnis ist heute sowohl in der Lehre232 und der Praxis 233 zumindest dem Grundsatz nach unbestritten, dass ein Verhalten von Individuen, das im Ergebnis einen menschenrechtswidrigen Zustand herbeiführt, eine Haftung eines Staates auslösen kann. Die gilt jedenfalls dann, wenn ihm eine Verletzung einer eigenständigen Verpflichtung zur Verhinderung resp. Aufklärung solcher Vorfälle nachgewiesen werden kann. 22• Vgl. Nowak (Conunentary) 36ff; Frowein!Peukert 21 ff; Harris/0' Boyle/Warbrick 19ff; Jacobs/White 18 f und David Harris, The International Covenant on Civil and Political Rights and the United Kingdom: An lntroduction, in Harris/Joseph (eds.), The International Covenant on Civil and Political Rights and United Kingdom Law, Oxford 1995, 2f. 225 Art. 6 Abs. 1 Pakt II und Art. 2 Abs. 1 EMRK. 226 V gl. z. 8. Art. 23 Abs. 1 Pakt II: ,.Die Familie ist die natürliche Keimzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat". 227 Art. 24 Abs.1 Pakt II: ,)edes Kind hat(...) das Recht auf diejenigen Schutzmassnalunen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert". 228 Art. 8 Abs. 1 lit. d Pakt I; Art. 6 Ziff. 4 ESC. 229 Art. 4 EMRK; Art. 8 Pakt II; Art. 6 AMRK. 230 Art. 27 Pakt II. 23 1 Vgl. dazu auch Nowak (Conunentary) 40f. 232 Siehe z. 8 . Forde 253 ff; Alkema 33 ff; Clapham 89 ff; Jacobs!White 18 f; Harris/0' Boylet Warbrick 19 ff; van Dijk/van H oof22 ff; FroweinlPeukert 24; Kälin (Gewährleistung) 32 ff; Nowak (Conunentary) 37 ff und Meron (Customary Law) 155 ff. Für den Bereich wirtschaftlicher und sozialer Rechte vgl. Dankwa/Flintermann!Leckie 124 und Maastricht Guideline 18. Nicht nur die deutschsprachige Doktrin bezeichnet diese Verpflichtungsart häufig als Drittwirkung. Dieser Begriff soll jedoch in dieser Arbeit nicht verwendet werden, da er zumindest das Missverständnis erwecken kann, wonach durch menschenrechtliche Instrumente Privatpersonen unter gewissen Voraussetzungen selbständig völkerrechtlich verpflichtet wUrden (so auch Harris/0' Boyle/Warbrick 21). 233 Die Praxis der entsprechenden Vertragsüberwachungsorgane soll ansebliessend im Rahmen der Darstellung der Voraussetzung des Entstehens solcher Schutzpflichten dargestellt werden.

IV. Schutzpflichten

229

Neben diesen eher impliziten Hinweisen auf das Bestehen einer Verpflichtung zur Durchsetzung menschenrechtlicher Garantien zwischen Privaten in den allgemeinen Verpflichtungsnormen und den einzelnen materiellen Garantien der beiden Pakte und der regionalen Konventionen finden sich aber in Spezialinstrumenten auch explizite vertragliche Verankerungen solcher Schutzpflichten.

aa) Die explizite Verankerung von Schutzpflichten in generellen Verpflichtungsklauseln • Übereinkommen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau: Eine besonders deutliche Statuierung einer Pflicht der Vertragsstaaten, den materiellen Garantien eines Vertrages auch in privaten Verhältnissen Nachachtung zu verschaffen, findet sich in Art. 2lit. e dieses Abkommens. Demnach haben die Vertragsstaaten alles in ihrer Möglichkeit stehende zu unternehmen, um Diskriminierungen von Frauen auch ausserhalb des öffentlichen Bereichs zu verhindern 234 • Zusätzlich fällt auf, dass das Überwachungsorgan dieses Vertrages in seinen sogenannten General Recommendations zu den aus diesem Vertrag fliessenden Verpflichtungen kaum mehr zwischen staatlicher und privater Diskriminierung unterscheidet und damit von einer umfassenden Schutzpflicht des Staates zur Verhinderung solcher Menschenrechtsverletzungen ausgeht235 • • Übereinkommen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung: Auch dieses Instrument begründet in seinem Art. 2 Abs. 1 lit. d explizit eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, die materiellen Garantien des Vertrages auch im Verhältnis zwischen Privaten mit allen erforderlichen Mitteln durchzusetzen236• • Gemeinsamer Art.l der Genfer Konventionen und von ZP /: Zumindest den Anschein einer umfassenden staatlichen Schutzpflicht in einem doppelten Sinn er234 Art. 2 CEDW: "Die Vertragsstaaten (... )kommen überein, mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen und verpflichten sich zu diesem Zweck, (...) (e) alle geeigneten Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau durch Personen, Organisationen oder Unternehmen zu ergreifen". 23' Siehe beispielsweise General Recommendation 19(11), Violence against Women: ,,24. (...) [T]he Committee on the Elimination ofDiscrimination against Women recommends: (a) States parties should take appropriate and effective measures to overcome all forms of gender-based violence, whether by public or private ad' (Hervorhebung durch den Verfasser). Dieser Verzicht auf die Vomahme einer Unterscheidung wird auch offenkundig z. B. in den General Recommendations 13(8), Equal remuneration for work of equal value; 14(9), Fernale circumcision und 16(10), Unpaid women workers in rural and urban family enterprises. Siehe dazu Zagorka llic/Jvanka Corti, The Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, in United Nations (ed.), Manuel on Human Rights Reporting, Geneva 1997, 317f. 236 Diese Norm hält fest, zum Zwecke der Beseitigung der Rassendiskriminierung "verbietet und beendigt jeder Vertragsstaat jede durch Personen, Gruppen oder Organisationen ausgeübte Rassendiskriminierung mit allen geeigneten Mitteln einschliesslich der durch die Umstände erforderlichen Rechtsvorschriften".

230

Kap. 3: Verpflichtungsarten

weckt auch die in den Genfer Abkommen und ihrem Zusatzprotokoll I enthaltene Formulierung, wonach Staaten die erwähnten Instrumente nicht nur zu beachten, sondern zusätzlich ihre "Einhaltung durchzusetzen" haben. In der Literatur wird diese Wendung dahingehend interpretiert, dass auch die an einem bestimmten Konflikt nicht beteiligten Vertragsstaaten, beispielsweise mit den Mitteln der Diplomatie auf die Durchsetzung der Verpflichtungen dieser Verträge hinzuarbeiten hätten 237 • Alle Nichtkonfliktparteien haben somit bei anderen Staaten, d. h. bei Dritten, die infolge der universellen Ratifikation dieser Verträge immer auch Vertragspartei dieser Abkommen sind, die Einhaltung ihrer Verpflichtungen direkt zugunsten anderer Dritter und infolge der erga omnes Wirkung auch zugunsten ihrer eigenen rechtlichen Interessen einzufordern. Somit entspricht diese erste Konstellation nicht dem Bild einer klassischen Drittwirkung. Teilweise wird jedoch auch argumentiert, mit dieser Wendung solle unterstrichen werden, dass Staaten eine besondere Verantwortung hätten, die Beachtung dieser Verpflichtungen durch ihre Organe in genereller Weise sicherzustellen238: Gilt diese Überwachungspflicht in einem umfassenden Sinn, d. h. entgegen den allgemeinen Zurechenbarkeitsregeln239 nicht nur für eigentliches dienstliches (inkl. ultra vires), sondern auch für das ausserdienstliche Verhalten der (militärischen) Organe240 , kann im besonderen Umfeld bewaffneter internationaler Konflikte -zumindest falls keine nichtstaatlichen Organisationen operieren 241 - von Bestehen einer umfassenden Schutzpflicht ausgegangen werden. Unterstützt wird diese Schlussfolgerung durch Art. 91 ZP I, der den Grundsatz statuiert, dass die Konfliktparteien "für alle Handlungen" verantwortlich sind, "die von den zu ihren Streitkräften gehörenden Personen begangen werden" 242 • Anders als die Appeals Chamber des ICTY 243 sehen gewisse Stimmen der Doktrin 244 in dieser 237 Bothe!Partsch/Solf 43; GK-IV-Kommentar 15; ZP-Kommentar 35 f; Condorelli!Boisson de Chazournes 26f. 238 Condorelli/Boisson de Chazournes 24ff; ZP-Kommentar 35; GK-IV-Kommentar 16:

"The use in all four Conventions of the words ,and to ensure respect' was, however, deliberate: they were intended to emphasize the responsibility of the Contracting Potrties. ( ...) It would not, for example, be enough for a State to give orders or directions to a few civilian or military authorities, leaving it to them to arrange as they pleased for their detailed execution". 239 V gl. dazu vorne Kap. 2, V. 2. b ). 2AO Ob und wann während der Dauer eines Konfliktes militärische Organe überhaupt ausser Dienst stehen, ist eine Frage des nationalen Rechtes, die hier nicht geklärt werden muss. 2At Eine entsprechende Regelung fehlt denn auch in Art. 3 GK I-IV und im ZP II. Deshalb lässt sich eine indirekte Verpflichtung nichtstaatlicher Gruppen zur Beachtung der Garantien des humanitären Völkerrechts auch nicht auf dem Weg einer expliziten staatlichen Schutzpflicht zur Verhinderung von Verletzungen dieser Instrumente durch solche Gruppen konstruieren. 2A2 Hervorhebung durch den Autor. w ICfY, The Prosecutor v. Duslw Tadic (Appeals Chamber, Judgement of 15 July 1999), para. 98: ,,International humanitarian law does not contain any criteria unique to this body of law for establishing when a group of individuals may be regarded as being under the control of a State, that is, as acting as de facto State officials".

IV. Schutzpflichten

231

Norm die Grundlage eines spezifischen Zurechenbarkeitsregimes des ZPI, welches den Staat auch für privates Handeln der Angehörigen seiner Streitkräfte verantwortlich erklärt. Unabhängig von der Frage der Abstützung auf eine umfassende Schutzpflicht oder auf ein umfassendes Zurechenbarkeitsregime sprechen somit gute Gründe dafür, dass während internationalen Konflikten der Staat durch das Handeln seiner Streitkräfte in umfassender Weise verpflichtet wird.

bb) Die Verankerung von Schutzpflichten in spezifischen Garantien Neben allgemeinen Verpflichtungsklauseln können auch einzelne Garantien explizit eine Schutzpflicht des Staates zur Durchsetzung eines Rechtes zwischen Privaten statuieren. Da heute zunehmend anerkannt wird245 , dass Staaten unter einer besonderen Verantwortung stehen, sogenannte "vulnerable groups" nicht nur gegen staatliche, sondern auch gegen private Übergriffe zu schützen, erstaunt es kaum, dass insbesondere die Kinderrechtskonvention einige Bestimmungen enthält, welche die Staaten zu Massnahmen im Hinblick auf einen umfassenden Schutz von Kindern anhält. So stipuliert beispielsweise Art. 19 CRC: "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschliesslich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormundes oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut" 246• 244 lbid., FN 117: "The Appeals Chamber is aware of another approach taken to the question of imputability in the area of international hurnanitarian Jaw. The Appeals Chamber is referring to the view whereby by virtue of Article 3 of the IVth Hague Convention of 1907 and Article 91 of Additional Protocoll, international humanitarian Jaw establishes a special regime of State responsibility; under this Iex specialis States are responsible for all acts committed by their ,arrned forces' regardless of whether such forces acted as State offleials or private persons. In other words, whether or not in an armed conflict individuals act in a private capacity, their acts are attributed to a State if such individuals are part of the ,arrned forces' of that State. This opinion was authoritatively set forth by some members of the li:J.ternational Law Commission (,ILC') (Professor Reuter observed that ,[i] t was now a principle of codified internationallaw that States were responsible for a11 acts of their arrned forces' [Yearbook ILC 1975, Vol.l, p. 7, para.5]. Professor Ago stated that the IVth Hague Convention of 1907 ,made provision for a veritable guarantee covering a11 darnage that might be caused by arrned forces, whether they had acted as organs or as private persons' [ibid., p. 16, para.4]). This view also has been forcefully advocated in the legalliterature". w Siehe dazu unten Abschn. 5. f). 246 Während Art. 19 CRC eine Präventionspflicht statuiert, wird eine parallele kurative Pflicht in Art. 38 CRC festgehalten.

232

Kap. 3: Verpflichtungsarten

Ebenfalls explizite Verpflichtungen, Frauen und Kinder auch gegenüber privaten Gewalthandlungen zu schützen, kennen die Abkommen des humanitären Völkerrechts247. In diesem Sinn fordert Art. 27 GK IV: "Die geschützten Personen haben unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person, ihrer Ehre, ihrer Familienrechte, ihrer religiösen Überzeugungen und Gepflogenheiten, ihrer Gewohnheiten und Gebräuche. Sie sollen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und namentlich vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, vor Beleidigung und der öffentlichen Neugier geschützt werden. Die Frauen sollen besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung geschützt werden".

Auch der Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverletzungen während der irakiseben Besetzung von Kuwait stufte diese Bestimmung als Grundlage einer Schutzpflicht ein, wenn er ausführt: ,,Rapes committed by members of the Iraqi occupying forces during the exercise of their official functions (...) can be considered to constitute torture and cruel, inhuman or degrading treatment. In cases of rape committed by members of the lraqi armed forces off duty, lraq may have violated its obligation to protect women ,against any attack on their honour, ( ...)' " 248•

Als Zwischenfazit kann somit festgehalten werden, dass sich zumindest dem Grundsatz nach eine gewisse Verpflichtung zur Sicherstellung möglichst menschenrechtskonform ausgestalteter privater Verhältnisse in der heutigen internationalen Rechtswirklichkeit solide etabliert hat. Welche konkreten Verhaltensweisen diese Schutzpflichten im einzelnen fordern resp. die Frage, ob diese Verpflichtungen die Staaten unmittelbar oder progressiv verpflichten, d. h. unter Rücksichtnahme auf die in einer konkreten Situation gegebenen Möglichkeiten, gilt es in den folgenden Abschnitten abzuklären.

cc) Die Ausgestaltungen von Schutzverpflichtungen ( 1) Allgemeines Von Schutzverpflichtungen geforderte Massnahmen können gernäss der Praxis der Vertragsüberwachungsorgane in präventive und kurative Verpflichtungen unterteilt werden. Erstere verlangen Massnahmen, die darauf gerichtet sind, die Verletzungen materieller Rechte durch Private zu verhindem resp. eine solche Gefahr zu verringern. Die zweitgenannten Verpflichtungen umfassen diejenigen Massnahmen, welche die Staaten im Falle einer bereits erfolgten Verletzung zu ergreifen haben. Siehe z. B. Art. 27 Abs. I und 2 GKIV, Art. 11, 76 Abs. I und 77 Abs. 1 ZPI. Bericht des Sonderberichterstatters zur Menschenrechtssituation im irakisch besetzten Kuwait, UN Doc.E/CN.4/1992/26, para. l84. 24'

1M

IV. Schutzpflichten

233

Da sich bereits aus dieser Kategorisierung gewisse Rückschlüsse auf das Ausmass der den Staaten in Erfüllung ihrer Schutzpflichten gewährten Flexibilität ergeben, soll als erstes eine kurze Übersicht über die einzelnen Inhalte dieser Verpflichtungskategorien erfolgen. (2) Präventive Verpflichtungen

Bereits die oben zitierten Bestimmungen der Kinderrechtskonvention 249 machen deutlich, dass eine effektive Erfüllung der Verpflichtungen menschenrechtlicher Verträge von den Vertragsstaaten die Verabschiedung eines breiten Spektrums von Massnahmen verlangt, welche darauf gerichtet sind, die Geltung der materiellen Menschenrechte in Umfeldern wie der Familie, am Arbeitsplatz oder in anderen vertraglichen Verhältnissen zu sichern. Die eingangs dieses Kapitels dargestellte Rechtsprechung verschiedener Organe zu positiven Verpflichtungen belegen die Vielschichtigkeit der erforderlichen Einzelmassnahmen. Obwohl aus diesem Grund nicht im Einzelnen auf alle die erforderlichen Verhaltensweisen eingegangen werden kann, soll auf zwei Kategorien präventiver Pflichten wegen ihrer praktischen Bedeutung gesondert hingewiesen werden: • Verpflichtung zum Erlass strafrechtlicher Bestimmungen: Mit besonderer Deutlichkeit hat der Ausschuss für Menschenrechte festgehalten, dass die Verpflichtung, die materiellen Garantien des Paktes II zu gewährleisten, auch den Erlass strafrechtlicher Normen erheischen kann. Diese sollen Verhalten, welche den materiellen Geltungsbereich der Rechte dieses Vertrages ritzen, sowohl für Organe des Staates wie auch für Privatpersonen unter Strafe stellen. Der Ausschuss befand dies bislang für folgende materiellen Garantien als notwendig: Recht auf Leben250; Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung251 und Recht auf Privatleben252. Diese Gesetzgebungspflicht gilt auch im europäischen Kontext - wo jedoch mangels Bestehens einer Berichtspflicht resp. der fehlenden Kompetenz der EMRK-Organe zum Erlass von General Comments- es deq Überwachungsorganen verwehrt bleibt, sich in allgemeiner Form zur konkreten Ausgestaltung der materiellen Verpflichtungen zu äussern. So verlangt Art. 2 EMRK bereits gernäss seinem Wortlaut, dass diese Garantie auch auf dem Wege Siehe oben bei Anm. 246. Ausschuss für Menschenrechte, General Comrnent 6/16, para. 3, und Nowak (Comrnentary) 106. 2!51 Ausschuss für Menschenrechte, General Comrnent 20/44, para. 13; vgl. Nowak (Commentary) 136. Eine solche Pflicht ist ausdrücklich auch in Art.4 CAT verankert, doch gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass nach dem Wortlaut des Art. 1 CAT als Folter nur ein direktes Verhalten staatlicher Organe gilt. mAusschussfür Menschenrechte, General Comrnent 16/32, para. 9: ,.States parties are under a duty themselves not to engage in interferences inconsistent with article 17 of the Covenant and to provide the legislative framework prohibiting such acts by natural or legal persons." Vgl. Nowak (Comrnentary) 290. 249

2SO

234

Kap. 3: Verpflichtungsarten

der Gesetzgebung zu schützen ist. Der EGMR leitet daraus eine ausdrückliche Verpflichtung zum Erlass strafrechtlicher Bestimmungen zum Schutz des Lebens2'3 und analog auch zum Schutz des Privatlebens 2' 4 ab. Infolge der fundamentalen Natur der Garantie gilt diese Schlussfolgerung auch für die Garantien des Art. 3 EMRK2S'. Gar ohne eine Beschränkung auf gewisse materielle Garantien bejaht der IAGMR eine solche Verpflichtung2.S6.

• Verpflichtung zur faktischen Schutzgewährung: Neben dieser generellen Präventionspflicht kann gernäss der Rechtsprechung des Menschenrechtsausschusses und seit neuem auch des EGMR bei Vorliegen besonderer Umstände ein Staat zusätzlich verpflichtet sein, einer konkret bedrohten Person Schutz vor einer Verletzung ihrer Rechte durch Privatpersonen zu gewähren. Da in Fällen einer konkret drohenden derartigen Verletzung einer materiellen Garantie stets ein unmittelbares staatliches Handeln erforderlich erscheint, ja die Pflicht zur faktischen Schutzgewährung geradezu als Musterbeispiel einer unmittelbaren Schutzpflicht gilt, kann an dieser Stelle auf die Ausführungen zu den Voraussetzungen des Entstehens unmittelbarer staatlicher Schutzpflichten verwiesen werden2S7 • (3) Kurative Verpflichtungen

Die Schutzpflichten der Vertragsstaaten erschöpfen sich jedoch keinesfalls darin, im Vorfeld einer Gefahrdung materieller Garantien tätig zu werden. Vielmehr besteht auch während der Dauer eines Übergriffs durch private Personen oder Gruppierungen resp. solchen, deren Identität resp. Zuordnung nicht bekannt ist, und zeitlich nach dieser Verletzung eine Pflicht des Staates, wenn möglich die Verletzung zu beenden oder, falls der Übergriff bereits geschehen ist, die für dieses Geschehen verantwortlichen Personen zu identifizieren. Vom Bestehen einer derart umfassen2Sl EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 115: ,,It is common ground that the State's obligation in this respect extends beyond its primary duty to secure the right to life by putting in place effective criminallaw provisions to deter the commission of offences against the person backed up by law-enforcement machinery for the prevention, suppression and sanctioning of breaches of such provisions". Ähnlich auch Mahmut Kaya v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 86, und Kili' v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 62. 2S4 A. a. 0., paras.l24ff, wo, trotzFehlenseiner expliziten Verpflichtung zum gesetzlichen Schutz der durch Art. 8 EMRK geschützten Positionen in ähnlicher Weise wie anlässtich der Prüfung einer Verletzung des Art. 2 EMRK argumentiert wird. Im Resultat ähnlich auch X. and Y. v. the Netherlands, SeriesA Vol. 91, para. 27. Vgl. auch Frowein/Peukert 342f und Lawsonl Schermers 160. zss So der EGMR in A. v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI, paras. 23 ff, und in Mahrnut Kaya v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para.ll5. 2S6 IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol. 4, paras.174f, und Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol.5, paras.184f. 2S7 Siehe dazu unten Abschn.5.

IV. Schutzpflichten

235

den Untersuchungspflicht ging der IAGMR bereits im Jahre 1989 aus. Damals hielt dieses Gericht zumindest implizit den Grundsatz fest, dass diese Pflicht auch bei einer Verletzungen im privaten Umfeld bestehen könne 258 • In ihrer neueren Praxis gehen auch die Strassburger Organe ausdrücklich vom Bestehen einer Verpflichtung zur Untersuchung von schweren Menschenrechtsverletzungen aus und zwar unabhängig von der Frage, ob staatliche Organe oder Privatpersonen Verursacher dieser Verletzungen sind 259• Ein Staat kann deshalb den jeweiligen Vertrag auch dann verletzen, wenn er trotz Wissen um eine private Missachtung menschenrechtlicher Positionen, deren Verletzung er nach völkerrechtlichen Regeln strafrechtlich zu ahnden hatl60, nicht mit einer Untersuchung die Verantwortlichkeit für diese Übergriffe abklären lässt. In der bisherigen Rechtsprechung wurden Untersuchungspflichten im Falle der Verletzungen des Rechts auf Leben 261 , des Verbotes der Folter und der 2!18 IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol.4: "166. The second obligation of the States Parties is to ,ensure' the free and full exercise of the rights recognized by the Convention to every person subject to its jurisdiction. ( ...) As a consequence of this obligation, the States must prevent, investigate and punish any violation of the rights recognized by the Convention. ( ...) 176. The State is obligated to investigate every situation involving a violation of the rights protected by the Convention. If the State apparatus acts in such a way that the Violation goes unpunished and the victim 's full enjoyment of such rights is not restored as soon as possible, the State has failed to comply with its duty to ensure the free and full exercise of those rights to the persons within its jurisdiction. The same is true when the State allows private persons or groups to act freely and with impunity to the detriment of the rights recognized by the Convention". 2!19 EGMR, Yasa v. Turkey judgement of 2 September 1998, Reports 1998-VI, para. 100: ,Jn that connection, the Court emphasises that, contrary to what is asserted by the Government, the obligation is not confined to cases where is has been established that the killing was caused by an agent of the state. Nor is the issue of whether members of the deceased's family or others have lodged a formal complaint about the killing with the competent investigatory authorities decisive. In the case under consideration, the mere fact that the authorities were informed of the murder of the applicant 's uncle gave rise ipso facto to an obligation under Article 2 to carry out an effective investigation". So auch Tanrikulu v. Turkey judgement of 8 July 1999, Reports 1999, para.l03, und Cakici v. Turkey judgement of 8 July 1999, Reports 1999, para. 86. 260 Siehe oben Anm. 253-256. 261 Siehe EGMR, Ergi v. Turkey judgement of 28 July 1998, Reports 1998-IV, paras. 82: "[T]he Court(...) recalls that ( ...) the Obligation to protect the right to life under Article 2, read in conjunction with the State's general duty under Article 1 ( ...), requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as aresult ofthe use offorce by, interalios, agents ofthe State (...). Thus, ( ...) this obligation is not confined to cases where it has been established that the killing was caused by an agent of the State. Nor is it decisive whether members of the deceased's family or other have lodged a formal complaint about the killing with the competent investigatory authority. In the case under consideration, the mere knowledge of the killing on the part of the authorities gave rise ipso facto to an Obligation under Article 2 ( ...) to carry out an effective investigation into the circumstances surrounding the death". So auch Yasa v. Turkey judgement of 2 September 1998, Reports 1998-VI, para.lOO. Vgl. auch McCann and Others v. United Kingdom, Series A Vol. 324, para.l61; Kaya v. Turkey judgement of 19 February 1998, Reports 1998-1, para.86; Gülec v. Turkey judgement of 27 July 1998, Reports 1998-IV, paras. 77 ff; Tanrikulu v. Turkey judgementof8 July 1999, Reports 1999, para.lOl; Cakici v. Turkey judgement of8 July 1999, Reports 1999, para. 8; Mahrnut Kaya v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000,

236

Kap. 3: Verpflichtungsarten

unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung262, des Rechts auf Sicherheit263 sowie des Rechts auf ein ungestörtes Privatleben bejaht264• Inhaltlich beschränkt sich diese Verpflichtung auf die Vomahme einer effektiven, d. h. mit einer der jeweiligen Situation angepassten Sorgfalt durchgeführten Untersuchung. Wendet ein Staat diese gebotene Sorgfalt an 265 , verletzt er keinesfalls bereits deshalb die aufgeführten Garantien, weil eine solche Untersuchung ohne befriedigendes Ergebnis bleibt266 • Zudem steht dem Einzelnen gernäss dem Ausschuss para.102; Kilif v. Turkey judgement of28 March 2000, Reports 2000, para. 78, und Velikova v. Bulgaria judgement of 18 May 2000, Reports 2000, para. 80. Siehe auch Ausschuss für Menschenrechte, Communication 612/1995, Villafane Chaparro et al. v. Columbia, para. 8.8. Für die Praxis des IAGMR siehe die unter Anm. 266 aufgeführten Belegstellen. 262 EGMR, Assenov and Others v. Bulgaria judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 102: "The Court considers that (... ) where an individual raises an arguable claim that he has been seriously ill-treated by the police or other such agents of the State unlawfully andin breach of Article 3, that provision, read in conjunction with the State's general duty under Article 1 of the Convention to ,secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms in [the] Convention', requires by implication that there should be an effective official investigation. This obligation, as with that under Article 2, should be capable of leading to the identification and punishment of those responsible ( ...). If this were not the case, the generallegal prohibition of torture and inhuman and degrading treatment and punishment, despite its fundamental importance ( ...), would be ineffective in practice and it would be possible in some cases for agents of the State to abuse the rights of those within their control with virtual impunity". So auch das Urteil Jlhan v. Turkey judgement of 27 June 2000, Reports 2000, para. 92. Der Menschenrechtsausschuss statuiert eine solche Untersuchungspflicht bereits seit den Anfängen seiner Rechtsprechung; siehe Communication 7/1977, Santullo v. Uruguay, para.12. Daneben anerkennen sowohl der EGMR (Kurt v. Turkey judgement of25 May 1998, Reports 1998-Ill, paras.133 fl) wie auch der Ausschuss (siehe z.B. Communication 107/1981, Quinteros v. Uruguay, para.l4), dass fehlende Untersuchungshandlungen zur Aufklärung des Schicksals "Verschwundener" auch eine eigenständige Verletzung der Rechte nächster Angehöriger aus Art. 3 EMRK resp. Art. 7 Pakt II darstellen kann. So auch Rodley 110. In seinem Urteil Cakici v. Turkey (judgement of 8 July 1999, Reports 1999, paras. 98 t), relativierte der EGMR diese Einstufung aber dahingehend, dass eine solche eigenständige Verletzung "does not so much lie in the fact of the ,disappearance' of the family member but rather concems the authorities' reactions and attitudes to the situation when it is brought to their attention. lt is especially in respect of the latter that a relative may claim directly to be a victim of the authorities' conduct." Eine Mittelposition nimmt das Urteil Timurtas v. Turkey judgement of 13 June 2000, Reports 2000, paras. 95 ff, ein. Siehe dazu auch van Dijk 26 ff. 263 EGMR, Kurt v. Turkey judgement of 25 May 1998, Reports 1998-Ill, para.124, und Cakici v. Turkey judgement of 8 July 1999, Reports 1999, para. 104. 264 EGMR, X. and Y. v. the Netherlands, Series A Vol. 91 , und Menschenrechtsausschuss, Communication 400/1990, Monaco de Gallicchio v. Argentina, para.10.5. Aus dem Entscheid über Communication 322/1988, Hugo Rodriguez v. Uruguay, para.l2.4, kann zudem e contrario gefolgert werden, dass dieses Organ eine Untersuchungspflicht bei "gross violations" von Menschenrechten immer für gegeben hält. Siehe dazu das Zitat in Anm. 268. 265 Siehe z. B. EGMR, Yasa v. Turkey judgement of 2 September 1998, Reports 1998-VI, paras. 104ff. 266 Siehe IAGMR, Caballero Delgado & Santana v. Columbia, Series C Vol.l7, para. 58; Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol. 5, para. 188; Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol.4, para.177.

IV. Schutzpflichten

237

für Menschenrechte kein individuelles Recht auf die Vomahme einer staatlichen Strafverfolgung zu 267 • Umgekehrt ist jedoch- zumindest gernäss den UNO-Organen - die Situation zu beurteilen, falls eine Amnestiegesetzgebung die Durchführung einer solchen Prüfung vollständig verunmöglicht268 • Die regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe vertreten in dieser Frage eine andere Position und bejahen einen individuellen Rechtsanspruch zumindest von Opfern von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auf strafrechtliche Sanktionierung solchen Verhaltens 269• 4. Unmittelbar und progressiv zu erfüllende Schutzpflichten Schutzpflichten sind, wie erwähnt270, auch Leistungspflichten, die sich zwar durch die Spezialität auszeichnen, dass die geforderte Leistung darin besteht, alles notwendige vorzukehren, um je nach dem in Frage stehenden Recht ein Unterlassen resp. Handeln von Drittpersonen zu garantieren. Trotzdem zeichnen sie sich aber wie andere Leistungspflichten auch dadurch aus, dass sie von Staaten die Schaffung einer entsprechenden Gesetzgebung271 , einer Infrastruktur resp. die Bereitstellung 267 Cornmunication 612/1995, Villafane Chaparro et a/. v. Columbia, para. 8.8: "[T]he Committee has repeatedly held that the Covenant does not provide that private individuals have a right to demand that the State criminally prosecute another person ( ...). The Cornmittee nevertheless considers that the State party has a duty to investigate thoroughly alleged violations of human rights, particularly enforced disappearances and violations of the right to life, and to criminally prosecute, try and punish those deemed responsible for such violations. This duty applies a fortiori in cases in which the perpetrators of such violations have been identified". So auch Cornmunications 213/1986, H.C.M.A. v. the Nether/ands, para.11.6; 275/1988, S.E. v. Argentina, para. 5.5, und 343-345/1988, R.A., V.N. et al. v. Argentina, para. 5.5. 268 V gl. z. B. Ausschuss für Menschenrechte, Cornmunication 322/1988, Hugo Rodriguez v. Uruguay, para.12.4: "The Cornmittee moreover reaffirms its position that arnnesties for gross violations of human rights ( ...) are incompatible with the obligations of the State party under the Covenant". So auch der General Cornment 20/44 dieses Organs in para. 15: "The Cornmittee has noted that some States have granted arnnesty in respect of torture. Amnesties are generally incompatible with the duty of the State to investigate such acts". Vgl. dazu auch den Report des Sonderberichterstatters Joinet on question of the impunity of perpetrators of human rights violations (civil and political rights), UN Doc. E/CN. 4/Sub. 2/1997/20/Rev. 1 und denjenigen des Sonderberichterstatters EI Hadji Guisse on the question of the impunity of perpetrators of human rights violations (economic, social and cultural rights), UN Doc. E/CN. 4/ Sub. 2/1997/8. 269 EGMR, Aksoy v. Turkey judgement of 19 December 1996, Reports 1996-VI, para. 98: ,,Accordingly, as regards Article 13 (art.13), where an individual has an arguable claim that he has been tortured by agents of the State, the notion of an ,effective remedy' entails, in addition to the payment of compensation where appropriate, a thorough and effective investigation capable of leading to the identification and punishment of those responsible". So auch IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol.4, paras. 175f. 21o Siehe oben Abschn. II. 3. 271 Im Vergleich zu den eigentlichen Leistungsschichten erweisen sich Massnahmen der Gesetzgebung insbesondere im zivil- und strafrechtlichen Bereich im Falle von Schutzpflichten als wohl noch entscheidender zur Erreichung des geforderten Niveaus. Da damit auch die Ent-

238

Kap. 3: Verpflichtungsarten

von Geldmitteln fordern. Deshalb muss auch bei dieser Verpflichtungsschicht von der Vermutung einer progressiven Erfüllungsstruktur ausgegangen werden. Somit kann für Schutzpflichten, welche dieser Erfüllungsstruktur unterliegen, auf die Ausführungen zu den progressiv zu erfüllenden Bereichen der eigentlichen Leistungspflichten verwiesen werden 272 • Andererseits soll aber mit dieser Vermutung, die indirekt selbst vom Ausschuss für WSK-Rechte anerkannt wird273 , keinesfalls die Möglichkeit des Bestehens unmittelbarer, ohne Rücksicht auf die Besonderheiten der wirtschaftlichen und gesetzlichen Situation eines Staates geltender Schutzpflichten ausgeschlossen werden. Die Voraussetzungen einer solchen unmittelbaren Verpflichtung sind im folgenden Abschnitt abzuklären. Anlässlich dieser Prüfung soll das Schwergewicht auf diejenigen Bereiche gelegt werden, in welchen menschenrechtliche Garantien den Staat zur Durchsetzung eines privaten Unterlassens verpflichten. Diese Beschränkung rechtfertigt sich, weil im Falle einer akuten Bedrohung grundlegender Subsistenzrechte von Personen in privaten Betreuungsverhältnissen diese Gefahr wohl regelmässig effizienter direkt- d. h. mittels eigener staatlicher Leistungen -als indirekt - d. h. mittels staatlicher Durchsetzung einer privaten Leistungspflicht - abgewendet werden kann 274 • In solchen Konstellationen wird die Schutzpflicht deshalb regelmässig durch eine eigentliche Leistungspflicht des Staates substituiert275 •

richtung geldwerter Leistungen zur Erfüllung dieser Verpflichtungsebene eine weniger entscheidende Rolle einnehmen dürfte, kann bei progressiv zu erfüllenden Schutzpflichten ein Mangel an Ressourcen auch nur in seltenen Fällen ein Unterlassen von Verwirklichungsmassnahmen rechtfertigen. 272 Siehe dazu unten Abschn. V. 2. 273 Ausschuss für WSK-Rechte, General Comment 9, para. 10: ,,In relation to civil and political rights, it is generally taken for granted that judicial remedies for violations are essential. Regrettably, the contrary assumption is too often made in relation to economic, social and cultural rights. This discrepancy is not warranted either by the nature of the rights or by the relevant Covenant provisions. The Committee has already made clear that it considers many of the provisions in the Covenantlo be capable of immediate implementation". 274 Über einen solchen Sachverhalt hatte die EKMR in einer Zulässigkeilsentscheidung vom 6. Mai 1998 (Application 29392/95, K.L. and Others v. United Kingdom) zu befinden, wobei sich die Frage stellte, ob der Staat im Falle eines aussergewöhnlichen Ausmasses der Vernachlässigung von Kindem durch ihre Eltern auf der Basis von Art. 3 EMRK zu eigenen Leistungen, z. B. durch Plazierung der Kinder bei Dritten, verpflichtet sei. Die EKMR beurteilte diesen Anspruch als nicht offensichtlich unbegründet. m Siehe zur unmittelbar geltenden Verpflichtung der Staaten zur Verwirklichung der sogenannten "core contents" der Subsistenzrechte unten Abschn. V. 3. d).

IV. Schutzpflichten

239

S. Voraussetzungen unmittelbarer staatlicher Schutzpflichten a) Das Ausgangsparadox: Umfassender Schutz bedingt den allmächtigen und allwissenden Staat

Eine Missachtung von Menschenrechten durch Private, nichtstaatliche Einheiten oder Drittstaaten kann nur dann eine selbständige Verletzung einer Verpflichtung eines Staates bewirken, wenn der nicht oder auf ungenügende Weise handelnde Staat völkerrechtlich verpflichtet wäre, diesen Erfolg oder dieses Verhalten zu verhindern. Da wie von jedem Rechtssubjekt auch vom Staat nie das Unmöglichem verlangt werden kann, muss auch diese Verhinderungspflicht durch faktische wie auch durch rechtlich bedingte Schranken begrenzt sein. In tatsächlicher Hinsicht limitiert oder verunmöglicht wird die Möglichkeit eines Staates, Schutz vor Übergriffen zu gewähren, insbesondere in Situationen einer ausländischen Intervention, in Bürgerkriegs- und noch ausgedehnter in Situationen eines "failed state". Mit anderen Worten liegen die faktischen Schranken einer umfassenden Schutzpflicht dort, wo ein Staat infolge seiner Schwäche nicht in der Lage ist, trotzWissen um aktuelle oder drohende menschenrechtsgefahrdende Aktionen Privater diese zu verhindem resp. zu beenden. Vom konträren Bild des grundsätzlich allmächtigen Staates gehen demgegenüber zumindest in ihren Ursprüngen die rechtlich bedingten Grenzen staatlicher Schutzpflichten, die klassischen Freiheitsrechte, aus. Deren auch heute noch primäre Funktion ist es - wie oben anlässlich der Darstellung der Unterlassungspflicht dargestellt277 - , gewisse persönlichkeitsnahe Bereiche grundsätzlich von staatlicher Kontrolle freizuhalten. Es sind deshalb gerade menschenrechtliche Postulate, welche auch denjenigen Staat, der faktisch dazu in der Lage wäre, daran hindem können, für eine effektive Realisierung der Menschenrechte zu sorgen. Dies, indem sie dem Staat untersagen, in diesen Bereichen die zur Verhinderung drohender Übergriffe Privater auf menschenrechtlich geschützte Positionen notwendigen Vorsorgemassnahmen zu ergreifen278. Es gilt deshalb, je nach konkreter Situation und betroffenem Menschenrecht in diesem Spannungsfeld zwischen den - den starken Staat zurückdrängenden - Unterlassungsverpflichtungen und den- den effizienten, starken Staat bedin276 Siehe z.B. unten in Kap.5, III.3. a) und 4. b), die Ausführungen zu dem die nachträgliche Unmöglichkeit der Vertragserfüllung normierenden Art.61 VRK und zur Regelung des Tatbestandes der force majeure in Art. 31 ILC-Entwurf. 211 Siehe oben Abschn. III. 278 Am augenfälligsten kann dieses Paradox am Beispiel des Rechts auf Privatheil gernäss Art. 8 EMRK resp. Art. 17 Pakt II illustriert werden. So verbietet die erste Schicht dieser Garantie dem Staat grundsätzlich in das Privatleben einer Person einzugreifen, während dieses Recht in seiner zweiten Schicht den Staat verpflichtet, Übergriffe Privater auf die physische und psychische Integrität auch innerhalb dieses geschützten Bereichs zu verhindern. Lösen lässt sich das Dilemma im Falle dieser konkreten Garantie dadurch, dass verhältnismässige Eingriffe keine Verletzung dieses Menschenrechts darstellen, falls sie zum Schutz der Rechte Anderer ergriffen werden (siehe dazu Kap. 4, V. 3).

240

Kap. 3: Verpflichtungsarten

genden- Schutzverpflichtungen eine der jeweiligen Situation angemessene Lösung zu finden. Anders formuliert, gilt es abzuklären, wann der Eintritt eines durch Private herbeigeführten Erfolges trotz Fehlens einer allgemeinen staatlichen Garantenstellung im Völkerrecht279 dem Staat als eigenes Delikt vorgeworfen werden kann. Ausgehend von der Prämisse, dass die Ausübung einer solchen Schutzpflicht erstens das Wissen um die Gefahr einer Verletzung oder um die Verletzung selbst und andererseits die faktische Möglichkeit des Eingriffs in einen Handlungsablauf voraussetzt, sollen ansebliessend die Voraussetzungen der Entstehung von solchen unmittelbaren völkerrechtlichen Verpflichtungen in typischen Fallkonstellationen untersucht werden.

b) Der Massstab der .,due diligence" Bereits die Grundregel von Art. 11 ILC-Entwurf macht, wie erwähnt, deutlich, dass dem Staat nicht jeder private völkerrechtliche Unrechtstatbestand, der auf seinem Territorium begangen wird, zugerechnet werden kann. Sie beruht aber auch auf der Erkenntnis, dass die meisten primärrechtlichen Grundlagen nicht jede private Erfüllung eines solchen Tatbestandes indirekt als eigene Verletzung einer völkerrechtlichen Verhinderungspflicht der staatlichen Organe qualifizieren210• Vielmehr verletzt ein Vertragsstaat eines menschenrechtliehen Instruments seine Pflicht zur Gewährleistung eines konventionsgernässen Menschenrechtsstandards auch zwischen Privaten nur bei pflichtwidriger Verletzung der in der konkreten Situation gebotenen Sorgfalt281 • Entwickelt wurde dieser Massstab im Recht des diplomatischen Schutzes, doch ist mittlerweile unbestritten, dass dieser Bewertungsmassstab allgemein im Bereich von sog. "Obligations of result" und damit auch im Bereich der unmittelbar geltenden menschenrechtliehen Schutzpflichten anzuwenden ist282• Dies 219 IGH, Korfu-Kanal-Fall, ICJ Reports 1949, und Art. 11 ILC-Entwurf; vgl. auch Verdross/ Simma 863 und Epiney 207. 280 Vgl. Yearbook ILC 1975 II, 74ffund Forde 265f. 21 1 Dieser Massstab der "due diligence" wurde wesentlich durch den Schiedsspruch von Max Huber in der Affaire des bien britanniques au Maroc espagnol vom 1. Mai 1925 entwickelt (Reports of International Arbitral Awards II, 642ft). Für eine Umschreibung dieser Haftungsart siehe z. B. Epiney 205 ff; Wolf35l ffund ausfUhrlieh Riccardo Pisillo Mazzeschi, ,,Due Diligence" e responsibilitl internazianale degli stati, Milano 1989. 212 Epiney 210; Verdross/Simma 864. Diese Terminologie beruht auf der im ILC-Entwurf enthaltenen Unterteilung völkerrechtlicher Verpflichtungen in Ergebnis- (obligations of result) und Verhaltensverpflichtungen (Obligations of conduct). Als Sonderfall der ersteren gilt dabei die Verhinderungspfiicht, die in Art. 23 des ILC-Entwurfs folgendermassen umschrieben wird: "When the result required of a State by an international obligation is the prevention, by means of its own choice, of the occurrence of a given event, there is a breach ofthat obligation only if, by the conduct adopted, the State does not achieve the result". Auch wenn diese Bestimmung keinen direkten Bezug darauf nimmt, ob eine solche Verhinderungspflicht unabhängig von der

IV. Schutzpflichten

241

wird mittlerweile auch von den Überwachungsorganen der AMRK 28l, von UNO-

Vertragsorganen284 und seit neuestem auch vom EGMR 285 anerkannt. Ein Staat hat

Beachtung der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt zu einer völkerrechtlichen Haftung des Staates führen kann, enthält doch der Kommentar zu dieser Bestimmung entsprechende Hinweise. So in Yearbook ILC 1978 11/2, 82f, para. 6: ,,However, the occurrence of the event is not the only condition specifically stipulated for the existence of a breach of an international Obligation requiring the State to achieve the result of preventing the occurrence ofthat event. In assuming obligations of this kind, States are not underwriting some kind of insurance to cover contracting States against the occurrence, whatever the conditions, of events of the kind contemplated, i. e. against the occurrence of the event even regardless of any material possibility of the State's preventing it from occurring in a given case. The State can obviously be required only to act in such a way that the possibility of the event is obstructed, i. e. to frustrate the occurrence of the event as far as lies within its power. Only when the event has occurred because the State has failed to prevent it by its conduct, and when the State is shown to have been capable of preventing it by different conduct, can the result required by the Obligation be said not have been achieved". Siehe dazu auch Gattini 201 ff und Simma (Grundfragen) 367 f. 283 Siehe z. B. IAGMR, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C Vol. 4, para.172: ,,An illegal act which violates human rights and which is initially not directly imputable to a State (for example, because it is the act of a private person or because the person responsible has not been identified) can lead to international responsibility of the State, not because of the act itself, but because of the Iack ofdue diligence to prevent the violation or to respond to it as required by the Convention" (Hervorhebung durch den Autor). Diese Aussage wurde in den Fällen Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol. 5, para. 182, und Caballero Delgada & Santana v. Columbia, Series C Vol. 17, para. 56, mit identischen Worten bestätigt. V gl. dazu auch Meron (Customary Law) 164 ff, der sich bereits zu einem sehr frUhen Zeitpunkt dafür aussprach, dass die oben zitierte Rechtsprechung des IAGMR infolge der Ähnlichkeiten des Wortlautes der Gewährleistungsklauseln von Art. 1 AMRK einerseits und von Art. 2 Abs. 1 Pakt II resp. Art. 1 EMRK andererseits auch im europäischen resp. universellen Kontext gelten müsste. So wohl auch Wolf 273ft'. 214 In sehr allgemeiner Form wurde die Anwendung dieses Massstabs auch durch das Committee on the Elimination of Discrimination against Women bestätigt (Analysis of Article 2 of the Convention; UN Doc. CEDAW/C/1995/4): .,Under general internationallaw and specific human rights covenants, States may also be responsible for private acts if they fail to act with due diligence to prevent violations of rights ( ...)".Eine andere Wortwahl benutzt demgegenüber der Ausschuss für Menschenrechte: Gernäss diesem Organ werden die Vertragsstaaten durch die materiellen Garantien des Pakts li zur Ergreifung von Schutzmassnahrnen verpflichtet, die ,,reasonable and appropriate" sein müssen (so z. B. Cornrnunication 195/1995, Delgado Paez v. Columbia, para.5.5). 21s Mehr an der klassischen Schrankensystematik orientierte sich bis vor kurzem die Praxis der Strassburger Organe, die bzgl. der Freiheitsrechte vom Bestehen staatlicher Schutzpflichten ausgeht, soweit ein sog. ,,fair balance test" ergibt, dass das zu schützende private Interesse staatliches Handeln verlangt (siehe zur Kritik an dieser Praxis die Darstellung in Kap. 4, V.3.g)bb)). Im Urteil Osman v. United Kingdom (judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116) hat sich dieses Organ aber erstmals zum Massstab der Sorgfalt geäussert, welche staatliche Behörden im Rahmen ihrer Pflicht zum Schutz des Lebens gernäss Art. 2 EMRK zu beachten haben: .,The Court does not accept the Govemment's view that the failure to perceive the risk to life in the circurnstances known at the time or to take preventive measures to avoid that risk must be tantamount to gross negligence or wilful disregard of the duty to protect life ( ...).Such rigid standard must be considered tobe incompatible with the requirements of Article 1 of the Convention and the obligations of Contracting States under that Article toseeure the practical and effective protection of the rights and freedoms laid down therein, includ16 KUnzli

242

Kap. 3: Verpflichtungsarten

demgernäss mit der Sorgfalt eines "ordnungsgemäss organisierten und funktionierenden Staates" 286 die durch Private verursachten Menschenrechtsverletzungen auf seinem Hoheitsgebiet zu verhindem oder zu beenden. Somit hängt die Beurteilung, ob ein Staat eine Schutzpflicht verletzt hat, davon ab, ob er unter Anwendung der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt287 das Wissen und die Fähigkeit besessen hatte, einen Erfolg, d. h. einen Übergriff auf menschenrechtlich geschützte Positionen, zu verhindern288 • c) Wissen

Es erscheint selbstverständlich, dass ein Staat für die mangelnde Verhinderung eines privaten Übergriffs resp. für die fehlende oder ungenügende Untersuchung eines bereits geschehenen Vorfalls nur bei tatsächlicher Kenntnis -oder falls der Staat in Anwendung der notwendigen Sorgfalt Kenntnis davon haben müsste289 - völkerrechtlich kraft eigener Verpflichtung haftbar gemacht werden kann. ing Article 2 ( ...). For the Court(...) it is sufficient for an applicant to show that the authorities did not do all that could be reasonably expected of them to avoid a real and immediate risk to life of which they have or ought to have knowledge". Ähnlich auch L. C.B. v. United Kingdom judgement of 9 June 1998, Reports 1998-III, paras.36ff. l86 Verdross!Simma 278 und 863. 287 Gernäss dem EGMR (Os man v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116) bemisst sich diese nach dem gefährdeten Rechtsgut resp. beurteilt sich "in the light of all the circumstances of any particular case". Tomuschat 333 andererseits spricht sich für einen objektivierten Sorgfaltsbegriff aus, indem er vom Bestehen eines Minimalstandards als Gegengewicht zur staatlichen Souveränität ausgeht: "To be sure, no State can be required to do the impossible. However there are certain minimum requirements. In the first place it is incumbent upon States to establish a system capable of effectively ensuring the basic functions of public authority. Every State must have an operative legislature, an executive which safeguards law and order and a judiciary that correctly administers law. lt cannot be heard with the excuse that is has not succeeded in establishing appropriate structures and mechanisms to deal with its international obligations". Zu der in der Literatur in diesem Zusammenhang heftig umstrittenen Frage, ob das due diligence Konzept durch Primärnormen oder aber durch das völkerrechtliche Haftungsrecht bestimmt wird, siehe z.B. die Zusammenstellung bei Achermann 83 f. 288 EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116. Brownlie (State Responsibility, 44) spricht deshalb von einer "prima facie responsibility", was klar andeutet, dass gernäss dem Konzept der ILC die Frage des Verschuldens nicht an dieser Stelle anzusiedeln ist, sondern die Anwendung des KQnzepts der "due diligence" vielmehr zu einer Beweislastumkehr führt, indem der Staat den Nachweis des Gebrauchs einer einem internationalen Standard entsprechenden Sorgfalt nachzuweisen hat. So auch Simma (Grundfragen) 370; Achermann 84 und Gattini 221 f. 289 EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116: ,,In the opinion of the Court where there is an allegation that the authorities have violated their positive obligation to protect the right to life in the context of their ( ...) duty to prevent and suppress offences against the person ( ...), it must be established to its satisfaction that the authorities knew or ought to have known a the time of the existence of a real and immediate risk to the life of an identified individual or individuals from the criminal acts of a third party

IV. Schutzpflichten

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aa) Grundsatz: Keine Pflicht zur Überwachung privater Verhältnisse zwecks Prävention von Eingriffen Dritter

Es ist geradezu ein Kennzeichen eines demokratischen Rechtsstaates, dass sich gewisse Lebenssachverhalte grundsätzlich ausserhalb des Bereichs staatlicher Kontrolle abzuspielen haben. Insbesondere die Freiheitsrechte und besonders prominent das Recht auf Privatleben gernäss Art. 8 EMRK resp. Art. 17 Pakt II. stellen in diesem Sinn eigentliche Barrieren gegen eine unkontrollierte staatliche Informationsbeschaffung dar. Staatliche Aktivitäten in diesem Bereich, mögen sie auch in Ausübung einer Schutzpflicht erfolgen, bewegen sich daher immer in einem Spannungsfeld zwischen den Unterlassungsgeboten der Freiheitsrechte und den Verpflichtungen zur Schutzgewährung. Gefordert ist somit eine Balance, welche diesen beiden Prämissen möglichst gerecht wird. Ein wesentliches Element dürfte dabei das Ausmass einer drohenden Gefährdung sein. Das Interesse eines Staates an der Durchführung von Massnahmen zur Informationsbeschaffung ist somit bei einer umfassenden, beispielsweise durch Aktivitäten einer aufständischen Bewegung verursachten, Bedrohung stärker zu gewichten, als bei einer solchen, welche sich in einem auf wenige Personen beschränkten Umfeld abspielt: • Von privaten Gruppierungen verursachte Situationen, welche menschenrechtlich geschützte Positionen einer grossen Anzahl von Personen bedrohen, können mit den Stichworten Bürgerkrieg oder Aufruhr zusammengefasst werden. In solchen Konstellationen muss davon ausgegangen werden, dass der Staat unter Anwendung der notwendigen "due diligence" Kenntnis von einer solchen Gefahrensituation hat oder haben müsste290• Ein Staat hat deshalb präventiv Untersuchungen zur Erkennung solcher die Bevölkerung generell bedrohender Gefahrensituationen vorzunehmen. Das Bestehen einer Schutzpflicht kann daher in solchen Konstellationen in aller Regel nicht mit dem Argument der fehlenden Kenntnis einer Gefahr abgewendet werden. • Anders ist die Situation im Hinblick auf präventive Vorkehrungen zum Schutz bedrohter Rechtsgüter im Einzelfall zu beurteilen. Zwar stehen alle Staaten unter einer völkerrechtlichen Pflicht, zur Vermeidung gewisser privater Übergriffe in generalpräventivem Sinne eine straf- und privatrechtliche Gesetzgebung zu erlassen und einen wirksamen Strafverfolgungsapparat aufzubauen 291 • Aus dieser Gesetzand that they failed to take measures within the scope of their powers which, judged reasonably might have been expected to avoid that risk". 290 Siehe Ausschuss fUr Menschenrechte, General Comrnents 6/16 und 20/44, sowie die ausdrückliche Aufforderungen dieses Organs an die Vertragsstaaten in Entscheidungen über lndividualbeschwerden, u. a. auch mittels Änderung der Gesetzgebung sicherzustellen, dass Verletzungen von Menschenrechten durch dem Staat nicht zurechenbare Akteure verhindert werden können (z. B. Comrnunication 161/1983, Herrera Rubio v. Columbia, para. 12). V gl. dazu auch Woif218. 191 Siehe dazu auch EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIU, para.llS, wo festgehalten wird, die primäre Pfticht eines Vertragsstaates zur 16*

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

gebungspßicht darf jedoch keinesfalls geschlossen werden, Vertragsstaaten stünden unter einer menschenrechtliehen Verpflichtung, aus eigenem Antrieb stichprobenweise Untersuchungen zwecks Informationsbeschaffung anzustellen, um Gefahrensituationen im Privatbereich erkennen zu können. Die Verwirklichung eines solchen Sorgfaltsanspruchs würde nicht nur regelmässig die staatlichen Ressourcen überfordern292, sondern einem solchen Vorgehen stehen bereits auf internationaler Ebene rechtliche Barrieren in Form von Freiheitsrechten entgegen. Dies gilt etwa für das Recht auf Privatheit aber auch die Meinungsäusserungs- oder die Versammlungsfreiheit sowie die Garantien des Art. 5 EMRK und des Art. 9 Pakt 11293•294• Dies bedeutet wiederum, dass ein solches Unterlassen nur völkerrechtlich relevant sein kann, falls ein Staat trotz klarer, objektiver Hinweise, die auf eine grosse Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs hindeuten, keine positiven Schutzmassnahmen ergreift. Solche Indizien können, wie sich aus der - allerdings schmalen - Praxis menschenrechtlicher Überwachungsorgane ergibt, in folgenden Situationen gegeben sein: Falls eine Person, welche Kenntnis bereits erfolgter Übergriffe hat, zur Verhinderung weiterer Übergriffe um staatlichen Schutz nachsucht oder noch deutlicher, falls zusätzlich die vergangeneo Übergriffe bereits behördennotorisch sind295 ; falls ernst zu nehmende Drohungen von Privaten erfolgGewährleistung des Rechts auf Leben bestehe darin, "putting in place effective criminallaw provisions to deter the commission of offences against the person backed up by law-enforcement machinery for the prevention, suppression and sanctioning of breaches of such provisions". So auch EGMR, Mahrnut Kaya v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 85, und Kili~ v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 62. 292 Eine infolge begrenzter Ressourcen notwendige diesbeZÜgliche Prioritätensetzung wird denn auch vom EGMRausdrücklich akzeptiert. Vgl. EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para.116: ,,For the Court, and bearing in mind the difticulties involved in policing modern societies, the unpredictability of human conduct and the operational choices which must be made in terms of priorities and resources, such an obligation must be interpreted in a way which does not impose an impossible or disappropriate burden on the authorities. Accordingly, not every claimed risk to life can entail for the authorities a Convention requirement to take operational measures to prevent that risk from materialising". So auch EGMR, Mahrnut Kaya v. Turkey judgement of28 March 2000, Reports 2000, para. 86, und Kili~ v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para 63. 293 Dieser Aspekt wird denn auch vom EGMR im Urteil Osman v. United Kingdom judgement of 28. October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116, explizit hervorgehoben: ,,Another relevant consideration is the need to ensure that the police exercise their powers to control and prevent crime in a manner which fuUy respects the due process and other guarantees which legitimately place restraints on the scope of their action to investigate crime and bring offenders to justice, including the guarantees contained in Articles 5 and 8 of the Convention". 294 BezUglieh absolut geschützter Garantien wie dem Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung tind Strafe können noch so gewichtige, auf eine schwere Verletzung menschenrechtlich geschützter Bereiche durch Private hinweisende Indizien nie einen Eingriff in deren Schutzbereich rechtfertigen. Siehe dazu Kap.4, III.l. und Kap.5, II. l.e). 295 Siehe z. B. EGMR, A. v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI, paras. 7 ff. illustrativ dazu auch z. B. Beschwerde 29392/95, K.L. and Others v. Unit-

IV. Schutzpflichten

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ten, welche gegenüber anderen Personen bereits in die Tat umgesetzt wurden296 resp. falls andere Umstände vorliegen, welche die Wahrscheinlichkeit eines solchen Übergriffs bei sorgfaltiger Auswertung der behördlichen Kenntnisse als gross resp. nahezu unauswei~hlich erscheinen lassen 297• Ein staatliches Untätigbleiben kann deshalb im Falle eines erfolgten Übergriffs Privater auf menschenrechtlich geschützte Bereiche nur bei Vorliegen sehr spezifischer298 Gefährdungsmomente als Verletzung einer völkerrechtlichen Pflicht eingestuft werden. Andernfalls kann dieses Unterlassen mangels Wissen des Staates überhaupt nicht als staatliches Verhalten, welches geeignet ist menschenrechtliche Garantien zu tangieren, d. h. als potentieller Eingriff eingestuft werden. Mit dieser Feststellung erübrigt sich aber unter menschenrechtliehen Gesichtspunkten jede weitere Prüfung eines Sachverhaltes299 • bb) Ausnahmen: Untersuchungspflicht bei bestehendem staatlichen Gewahrsam Grundsätzlich von der gegenteiligen Ausgangslage ist demgegenüber in Fällen staatlichen Gewahrsams auszugehen, d. h. in Situationen, in welchen der Staat gegenüber einem Individuum eine umfassende Garantenstellung einnimmt. Dies kann der Fall sein, wenn - wie in Fällen der Inhaftnahme - dem Individuum teilweise bewusst die Möglichkeit entzogen wird, seine Rechte selbständig wahrzunehmen. Analog ist die Situation zu beurteilen, wenn eine Person, welche dazu nicht befähigt ist, zu ihrem eigenen Schutz unter die Beaufsichtigung staatlicher Institutionen- wie z. B. Institutionen der Psychiatrie oder des Schutzes Jugendlicher- genommen wird. Die gleiche Konstellation liegt zudem vor, wenn Individuen als direkte Folge staatlichen Verhaltens der Gefahr einer Verletzung von Menschenrechten durch private oder drittstaatliche Personen, deren Handeln nicht dem betreffenden Vertragsstaat zugerechnet werden kann, ausgesetzt werden. Dies kann beispielsweise bei Auslieferungen oder Abschiebungen einer Person an einen Drittstaat aber auch bei ed Kingdom, in welcher die EKMR eine Beschwerde von Kindem gestützt auf Art. 3 EMRK,

die von ihren Eltern in extremer Weise vernachlässigt wurden, für nicht offensichtlich unbegrilndet einstufte, da der lokale Sozialdienst trotz Kenntnis der Situation keine entsprechenden Massnahmen ergriff (Zulässigkeitsentscheid vom 26. Mai 1998). 296 Siehe für das Vorliegen solcher Indizien z. B. Ausschuss für Menschenrechte, Communication 195/1985, Delgado Paez v. Columbia, para.5.6: "There appears to,have been an objective need for Mr. Delgado tobe provided by the State with protective measures to guarantee his security, given the threats made against him, including the attack on his person and the murder of a close colleague". 297 Vgl. dazu beispielsweise EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, paras.l Off, und Kilif v. Turkey judgement of28 March 2000, Reports 2000, paras. 64-77. 298 Resp. gernäss Wortlaut des EGMR in "certain well defined circumstances" (Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 115). 299 Siehe zum Ganzen auch Wolf218.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Wiederherstellung der elterlichen Obhutsberechtigung über ein Kind und allgemein bei Aufgabe besonderer staatlicher Schutzmassnahmen zugunsten einer gefährdeten Person der Fall sein 300• • Diese Einstufung versteht sich ohne Weiteres in all denjenigen Fällen, in welchen staatliche Schutzmassnahmen, die infolge einer Drittgefährdung eines In~ividu­ ums getroffen wurden, wegen Wegfalls dieser Gefährdung beendet werden. Im Falle der Abschiebung von Personen an einen Drittstaat infolge Wegfalls einer Gefahrenlage in diesem Staat, der Wiederherstellung elterlicher Gewalt über eine minderjährige Person und der Beendigung spezifischer staatlicher Schutzmassnahmen zugunsten konkret gefährdeter Personen wie z. B. Zeugen, Politiker oder anderer von privater Gewalt bedrohter Individuen ist deshalb von einem anderen Prüfungsmassstab auszugehen 301 • In all diesen Sachverhalten wurde die Gefährdung in einem früheren Zeitpunkt explizit bejaht, weshalb der Schutz nur bei sicherem Wissen um den Wegfall derselben wieder aufgehoben werden darf. In solchen Konstellationen ist daher das Nichtmehrbestehen dieser Gefährdung mit allen vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Mitteln zu prüfen. Erweist sich diese Prüfung im Nachhinein als unzutreffend, kann sich der Staat nur auf mangelndes Wissen um den nach der Aufhebung der Garantenstellung eingetretenen Übergriff berufen, falls aussergewöhnliche Umstände eine korrekte Risikoeinstufung tatsächlich auch bei Beachtung aller Sorgfalt als nicht erreichbar erscheinen lassen. • Auch während der Dauer des Bestehens einer staatlichen Garantenstellung gegenüber einer handlungsunfähigen Person ist der Staat zur Durchführung von Untersuchungsmassnahmen zum Schutz dieser Person vor Übergriffen Dritter verpflichtet. Ein solches Vorgehen erscheint nicht nur unter Berücksichtigung der Freiheitsrechte der von einer solchen Massnahme betroffenen Person als unproblematisch, sondern es ist geradezu der Zweck der Begründung einer solchen Garantenstellung, den Schutz menschenrechtlicher Positionen dieser Individuen integral vor Eingriffen nichtstaatlicher Stellen - und möglicherweise gar vor sich selber302 - zu schützen. 300 Eine Schutzpflicht nicht gegenOber einer bestimmten Person, sondern gegenüber der Allgemeinheit besteht in der Fallgruppe der Aufgabe des Gewahrsams auch in einer umgekehrten Konstellation: So z. B. anlässtich der Abklärung der Möglichkeit der Haftentlassung einer in der Vergangenheit als gemeingefährlich eingestuften Person. 301 Solche Konstellation waren z. B. in EGMR, A. v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI, para. 7, bei anerkannter Gefahrdung im privaten Bereich, und im Falle Ahmed v. Austria judgement of 17 December 1996, Reports 1996-VI, paras. 11 ff, bei anerkannter Verfolgung in einem Drittstaat gegeben. 302 Diese menschenrechtlich gebotene Untersuchungspflicht kann sich bei Vorliegen entsprechender Indizien auch auf eine mögliche Selbstgefährdung einer sich in staatlichem Gewahrsam befindlichen Person beziehen. So hat die EKMR eine Beschwerde für nicht offensichtlich unbegründet erklärt, in welcher die Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht im Falle eines psychisch kranken, suizidgefährdeten Geflingnisinsassen gerügt wurde, der sich in Haft

IV. Schutzpflichten

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• Weniger offenkundig erscheint demgegenüber die Bejahung einer umfassenden Untersuchungspflicht in Situationen einer zwangsweisen Garantenstellung des Staates, welche nicht dem Schutz der davon betroffenen Personeneo dient. Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Staat einem Individuum weitgehend die Möglichkeit entzieht, sich selbst dem Risiko privater Übergriffe zu entziehen, ja eine Person unter Umständen gerade mit der Zwangsmassnahme einem gewissen Risiko aussetzen kann, erscheint es aber folgerichtig, vom Bestehen einer umfassenden staatlichen Untersuchungspflicht zur Prävention möglicher Verletzungen als Korrelat dieser Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten resp. des Privatbereichs eines Individuums auszugehen. Proportional ansteigend zum Entzug der Handlungsmöglichkeiten einer Person resp. zum Ausmass der staatlichen Kontrolle über ein Individuum besteht deshalb eine mehr oder weniger umfassende Schutz- oder Vorsorgepflicht gegenüber dieser Person 303• Aufprozessualer Ebene wird diese Verpflichtung durch die Praxis der Überwachungsorgane menschenrechtlicher Instrumente verstärkt, indem bei nachgewiesenen Übergriffen während staatlicher Haft mittels einer Beweislastumkehr nicht das Opfer den Beweis zu erbringen hat, dass die Rechtsverletzung dem Staat zuzurechnen ist, sondern der Staat das Gegenteil zu belegen hat304• Der prekären Beweislage in Situationen selbst tötete. Dies zeigt, dass im Falle zwangsweiser Begründung des staatlichen Gewahrsams über eine Person die Kontrollpflichten umfassend zu verstehen sind und bei Vorliegen von Indizien, die auf eine Selbstgefährdung menschenrechtlich geschützter Interessen durch eine urteilsunfähige Person hindeuten, Staaten im Sinne einer Fürsorgepflicht gar diese Eventualität abzuklären haben. Siehe dazu die Zulässigkeitsentscheidung der EKMR vom 22. Mai 1998, Application 27229/95, Keenan v. United Kingdom. 303 So besonders deutlich RichterWalshin EGMR, Klaas v. Germany, Series A Vol. 269, 28: .,When the police take a person into custody they have automatically assumed the duty and the obligation to save the person from harm whether from members of the police or from any other party". Siehe auch die Meinung der EKMR in Ribitsch v. Austria, Series A Vol. 336, para. 31. Prägnant auch Lawson/Schermers 628: ,,By depriving a person of his liberty, however legitimate the reason for doing so may be, the State authorities assume full control over him. Control entails responsibility: the authorities must ensure full respect for the dignity of the individual who is in their power''. 304 EGMR, Aksoy v. Turkey judgement of 18 December 1996, Reports 1996-VI, para.61: .,[W]here an individual is taken into police custody in good health but is found tobe injured at the time of release, it is incumbent on the State to provide a plausible explanation as to the causing ofthe injury, failing which a clear issue arises under Article 3". So auch Ribitsch v. Austria, Series A Vol. 336, para. 34; Tomasi v. France, Series A Vol. 241-A, paras.108ff; Selmouni v. France judgement of28 luly 1999, Reports 1999, para. 87; Velikova v. Bulgaria judgement ofl8 May 2000, Reports 2000, para. 70, und Timurtas v. Turkey judgement of 131une 2000, Reports 2000, para. 82. Der Ausschuss für Menschenrechte hat sich bisher nicht in solcher Deutlichkeit zu dieser Frage geäussert. Allerdings spricht sich auch er sich für eine strikte Untersuchungspflicht von Menschenrechtsverletzungen während Haftsituationen aus und geht zumindest implizit von einer Beweislastumkehr aus. Siehe z. B. bereits Communication 7/30, Bleier v. Uruguay und aus der neueren Praxis z. B. Communication 480/1991, Garcia Fuenzalida v. Ecuador, para. 9.4; Communication 481/1991, Viiiacres Ortega v. Ecuador, para. 9.2, und insbesondere Communications 623, 624, 626 und 627/1995, Domukovsky, Tsiklauri, Gelbakhiani and Dokvadze v. Georgia, para. 18.6. Zu dieser Praxis des Ausschusses für Menschenrechte siehe

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

einer vollständigen staatlichen Kontrolle über eine Person wird somit in der Weise Rechnung getragen, dass Rechtsverletzungen, deren Verursacher nicht nachgewiesen werden können, im Zweifel als Akte staatlichen Ursprungs gelten. Selbst im Fall der Möglichkeit des Nachweises einer privaten Urheberschaft, d. h. falls direkt zurechenbares staatliches Verhalten ausgeschlossen werden kann, hindert auch hier mangelndes staatliches Wissen um diese Gefährdung die Entstehung eines völkerrechtlichen Delikts nur bei einem aussergewöhnlichen, auch bei Ergreifung aller vernünftigen Vorsichtsmassnahmen nicht einkalkulierbaren Risiko.

cc) Kurative Schutzpflichten Da das Wissen um einen privaten Übergriff bei kurativen Schutzpflichten definitionsgernäss nicht mittels einer notwendigerweise mit einem Unsicherheitsfaktor behafteten Prognose gebildet werden muss, spielt diese Voraussetzung hier keine entscheidende Rolle. Auszugehen ist hier von der Annahme, dass private Handlungen oder Unterlassungen, die, würden sie von einem Organ des Staates aufgeführt, als Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren wären, in der Regel auch Tatbestände des nationalen Strafrechts erfüllen. Folglich sind die Behörden bereits aufgrund eines Hinweises resp. aufgrund auf einen solchen privaten Übergriff hindeutenden Indizien zur Vornahme einer Untersuchung verpflichtet. Will ein Staat somit in solchen Fällen eine selbständige völkerrechtliche Haftung für die durch Private oder durch eine unbekannte Täterschaft begangene Rechtsverletzung vermeiden, hat er, sobald entsprechende Indizien vorliegen oder die Opfer dies verlangen, eine Untersuchung durchzuführen 305 • Mangelndes Wissen vermag hier die Entstehung einer völkerrechtlichen Verletzung nie auszuschliessen. auch Wolf216 ff. Gewisse Parallelen zu dieser Beweisführung finden sich auch in der Praxis des IAGMR. Vgl. z.B. Neira Alegria v. Peru, Series C Vol.13, paras. 73ff. 305 So z. B. Ausschuss für Menschenrechte, Cornrnunication 449/1991, Mojica v. Dominican Republic, para. 6; Cornrnunication 161/1983, Herrera Rubio v. Columbia, para. 10 .3, und Communication 468/1991, Bahamonde v. Equatorial Guinea, paras. 9.2ff. Besonders deutlich auch der EGMR in Ergi v. Turkey judgement of 28 July 1998, Reports 1998-IV, para. 82: ,,In addition, the Court has attached particular weight to the procedural requirement implicit in Articlc 2 of the Convention. It recalls that, according to its case-law, the obligation to protect the right to life under Article 2, read in conjunction with the State's general duty under Article 1 to ,secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in [the] Convention', requires by implication that there should be some form of effective official investigation when individuals have been killed as a result of the use of force by, inter alia, agents of the State. Thus, contrary to what is asserted by the Governrnent ( ...), this obligation is not confined to cases where it has been established that the killing was caused by an agent of the State. Nor is it decisive whether members of the deceased 's family or others have lodged a formal complaint about the killing with the competent investigatory authority. In the case under consideration, the mere knowledge of the killing on the part of the authorities gave rise ipso facto to an obligation under Article 2 of the Convention to carry out an effective investigation into the circumstances surrounding the death". Ähnliche Aussagen finden sich in Kaya v. Turkey judgement of 19 February 1998, Reports 1998-1, paras. 86 und 91; Gülec v. Turkey judgement of 27 July

IV. Schutzpflichten

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d) Möglichkeit zur Einflussnahme auf den Handlungsablauf Auch bei vorhandenem Wissen um ein drohendes oder bereits geschehenes Verhalten von privater Seite, das im Ergebnis einer Menschenrechtsverletzung entspricht, kann ein Staat durch sein Nichteingreifen seine unmittelbaren Schutzpflichten nur verletzen, falls er die Möglichkeit besitzt, auf den Handlungsablauf einzuwirken. Somit kann er nur eine Völkerrechtsverletzung begehen, wenn er bei Beachtung der in einer konkreten Situation zu erwartenden Sorgfalt überhaupt die Möglichkeit hatte, auf die zu diesem Übergriff führende Kausalkette Einfluss zu nehmen, d. h. diese zu unterbrechen3oc; oder aber zumindest im nachhinein die Verantwortlichkeit für solche Vorfälle abzuklären. Auch dieses zweite notwendige Element für das Bestehen einer entsprechenden unmittelbaren Handlungspflicht soll wiederum anband der verschiedenen möglichen Konstellationen abgeklärt werden.

aa) Bestehende staatliche Kontrolle über den Handlungsablauf Keine Schwierigkeiten bereitet dieses Kriterium hinsichtlich aller Situationen, in welchen sich eine Person unter vollständiger Kontrolle eines Staates befindet. Denn diese Kontrolle ist nur zu rechtfertigen, falls dem Staat die Möglichkeit gegeben ist, jederzeit erkennbare private Übergriffe auf diese Personen zu verhindern. In solchen Situationen kann demzufolge eine fehlende Eingriffsmöglichkeit als Grund für die Nichtexistenz einer Verpflichtung zur Ergreifung der notwendigen Schutzmassnahmen oder für das Ungenügen derselben nur herangezogen werden, falls die Behörde infolge eines Ereignisses, mit welchen trotz Ergreifung aller Sicherheitsmassnahmen nie hätte gerechnet werden müssen, unfähig sind, private Übergriffe auf Personen unter ihrer direkten Kontrolle resp. Aufsicht zu unterbinden307•

bb) Geplante Aufgabe der Kontrolle überden Handlungsablauf Die gleiche Einschätzung gilt es auch in Bezug auf das oben näher bestimmte308 Fallbeispiel der Aufgabe des staatlichen Gewahrsams resp. der Kontrolle über eine Person zu ziehen. Auch hier wäre der den Gewahrsam innehabende Staat stets zu ei1998, Reports 1998-IV, para. 77, und Yasa v. Turkey judgement of 2 September 1998, Reports 1998-VI, paras. 98 und 100. 306 EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para. 116, und Kilif v. Turkey judgement of 28 March 2000, Reports 2000, para. 76. 307 In diesem Sinn auch EGMR, Kurt v. Turkey judgement of 25 May 1998, Reports 1998-III, para.121: "Having established that Üzeyir Kurt was in the custody of the security forces ( ...), the Commission reasoned that this finding gave rise to a presumption of responsibility on the part of the authorities to account for bis subsequent fate. The authorities could only rebut this presumption by offering a credible and substantiated explanation for bis disappearance". Vgl. auch Timurtas v. Turkey judgement of 13 June 2000, Reports 2000, para. 82. 308 Siehe oben Abschn.5.c).

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

nem den verpönten Erfolg verhindernden Handeln, d. h. einer Verlängerung der Kontrolle resp. der Aufsicht über eine Person 309, befähigt.

cc) Keine gegenwärtige Kontrolle über den Handlungsablauf Einem Staat stehen unter Anwendung der von einem ordnungsgernäss funktionierenden Staatsgebilde zu erwartenden Sorgfalt im Hinblick auf die Organisation seines Sicherheitsapparates bei Wissen um die genauen Umstände privater Eingriffe meist keine faktischen Umstände im Wege, welche ihn daran hindern können, diese zu beenden resp. zu verhindern. Wie bereits erwähnt, können aber rechtliche Hindernisse, d. h. das Recht auf Freiheit und Sicherheit310, das Recht auf Leben 311 oder die Freiheitsrechte der von einer staatlichen Intervention betroffenen Person ein solches Vorgehen als unverhältnismässig erscheinen und damit zum völkerrechtswidrigen Akt anwachsen lassen 312 • Selbst bei sicherem Wissen um ein privates Verhalten, das im Ergebnis einer Menschenrechtsverletzung gleichkommt, ist deshalb die Gewährung staatlichen Schutzes nur dann geboten, resp. gar völkerrechtlich erlaubt, wenn eine Güterahwägung ergibt, dass durch dieses Vorgehen nicht gewichtiger zu bewertende Interessen, sei es des potentiellen Opfers eines privaten Übergriffs oder sei es von unbeteiligten Dritten, missachtet werden 313 • 309 Theoretisch liesse es sich jedoch vorstellen, dass ein Staat während innerer Unruhen nicht mehr fähig ist, bestimmte Personen zu schützen, und deshalb gezwungen ist, trotz weiter bestehender Drittgefährdung seinen Gewahrsam aufzuheben. 31° Falls der geplante private Übergriff auf menschenrechtliche Positionen zugleich den Tatbestand eines strafrechtlichen Delikts erfüllt, darf einer Person die Freiheit entzogen werden, um sie "an der Begehung einer strafbaren Handlung oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern" (Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK). 311 Z.B. im Fall einer Geiselnahme. 312 So der EGMR in Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, para.121: "[T]he police must discharge their duties in a manner which is compatible with the rights and freedoms of individuals. In the circumstances of the present case, they cannot be criticised for attaching weight to the presumption of innocence or failing to use powers of arrest, search and seizure having regard to their reasonably held view that they lacked at relevant tirnes the required standard of suspicion to use those powers orthat any action tak:en would in fact have produced concrete results". 313 Falls deshalb ein privates Verhalten, das, wUrde es von staatlichen Organen durchgeführt, die Schwelle des Verbotes von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung überschreitet, bekannt wird, ist ein Staat in der Regel berechtigt und verpflichtet in das Recht auf Privatleben einzugreifen. Dieses Vorgehen, das die Abwägung von zwei entgegenstehenden privaten Interessen bedingt, ist regelmässig hinsichtlich von Freiheitsrechten angebracht, die in ihren materiell determinierten Schrankenvorbehalten den Eingriffszweck der ,,Rechte anderer" kennen (siehe dazu unten Kap.4, V. 3.e)). Andererseits darfunterdem Vorwand einer Ausübung völkerrechtlicher Schutzpflichten nie in den materiellen Geltungsbereich absolut geschützter Rechte eingegriffen werden. Zu dem bei Bestehen einer staatlichen Garantenstellung anwendbaren Rechtfertigungsgrund des persönlichen Notstandes gernäss dem ILC-Entwurf und dessen Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Menschenrechte vgl. Kap. 5, III.4.c).

IV. Schutzpflichten

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Neben diesen rechtlichen Barrieren existieren allerdings insbesondere in zwei Fallgruppen faktische Handlungsschranken, die auch von einem mit der notwendigen Sorgfalt agierenden Staat nicht ausgeschlossen werden können und bei deren Bestehen die Unterlassung einer Schutzgewährung nicht gegen Verpflichtungen aus menschenrechtliehen Instrumenten verstossen kann. • Die erste Konstellation betrifft strafrechtlich relevantes Verhalten von Dritten z. B. in Form von Entführungen oder Geiselnahmen, das Rechtsgüter wie das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Leben resp. das Verbot unmenschlicher Behandlungen gefahrden kann. Auch bei sicherem Wissen um die genauen Umstände einer drohenden derartigen Straftat, können insbesondere zeitliche Gründe, aber auch im konkreten Zeitpunkt fehlende personelle oder technische Ressourcen die Prävention eines solchen privaten Übergriffs unmöglich machen. Wird das Vorliegen eines solchen Mangels - sowie die Tatsache, dass er nicht auf fehlender "due diligence" beruhte- durch den Staat nachgewiesen, kann eine solche Unterlassung nie als staatliche Verletzung menschenrechtlieber Garantien qualifiziert werden. • Quasi situationsimmanent zeigt sich in noch ausgeprägterem Mass während Bürgerkriegen sowie im Falle einer ausländischen Besetzung von Teilen seines Staatsgebietes gar eine Ohnmacht des Staates, auf seinem Staatsgebiet befindliche Personen vor privaten Übergriffen zu schützen. Eine Verletzung seiner Schutzpflichten dürfte in solchen Konstellationen nur in den sehr unwahrscheinlichen Fällen zu bejahen sein, in welchen einem Staat nachgewiesen werden kann, dass ein Mangel an zurnutbarer Sorgfalt im Einsatz seiner vorhandenen Ressourcen die direkte Ursache des Erfolges eines Aufstandes 314 oder eine Besetzung315 war. In diesem Sinne wird auch die Aussage der ILC verständlich, dass trotz dem Grundsatz der Nichtzurechnung des Handeins von Aufständischen 316 ein Staat in Ausnahmefallen für Handlungen von Rebellen zur Verantwortung gezogen werden kann: Dies jedoch nur, falls erstens sein Kontrollverlust auf einer Verletzung seiner Schutzpflichten beruht und dieses Verhalten zweitens zu einem Zeitpunkt geschah, als noch die Möglichkeit bestand, die drohenden Menschenrechtsverletzungen durch Dritte abzuwenden 317• Nicht sachgerecht erscheint deshalb eine Entscheidung der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte, in welcher von einer unbedingten Verpflichtung der 314 So Micheal Akehurst, State Responsibility for the Wrongful Acts of Rebels- An Aspect of the Southem Rhodesian Problem, B YIL 1969, 49 ff und Brownlie (State Responsibility) 172. 315 Im Falle der Besetzung eines Teil des Territoriums im Gefolge eines internationalen bewaffneten Konfliktes durch einen anderen Staat dUrfte ein Mangel an Sorgfalt kaum je nachzuweisen sein. 316 Art. 14 ILC-Entwurf. Siehe dazu ausführlicher vorne Kap. 2, V. 2. b)dd). 31' Yearbook ILC 1975 Il, 92, para.4: ,,lt willrarelybe possible to accuse a Stateoffailing in its own obligations of vigilance and protection in relation to the conduct of organs of an insurrectional movement because, most of the time, the actions in question are beyond its control".

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Vertragsstaaten der AfMRK ausgegangen wurde, Menschenrechtsverletzungen von Rebellen zu verhindem 318 • Eine solche Pflicht erscheint nicht nur, aber besonders, im afrikanischen Kontext verfehlt, da auf diese Weise die Staaten geradezu verpflichtet werden, ihre knappen finanziellen Ressourcen prioritär in den Aufbau eines Sicherheitsapparates zu investieren. Zudem lässt sich dieser Entscheid auch kaum in Übereinstimmung mit den Zurechenbarkeitsregeln des allgemeinen Völkerrechts bringen 319• Aber selbst falls einem Staat hinsichtlich seines Unterlassens präventiver Massnahmen völkerrechtlich kein Mangel an Sorgfalt nachgewiesen werden kann, begeht dieser eine Verletzung seiner Schutzverpflichtungen, falls er nicht, und zwar sobald seine Handlungsfähigkeit wieder auflebt, kurativ tätig wird; d. h. falls er die Verantwortung für geschehene Übergriffe nicht abklären lässt und allfällige für diese Übergriffe verantwortliche Dritte nicht zur Rechenschaft zu ziehen versucht.

e) Relevanz der gefährdeten resp. verletzten Garantie? Nachdem die zwei Voraussetzungen aufgezeigt wurden, bei deren Erfüllung Vertragsstaaten grundsätzlich einzuschreiten haben, falls privates Verhalten im Ergebnis zu einer Menschenrechtsverletzung führte oder zu führen droht, stellt sich als nächstes die Frage, ob eine solche Verpflichtung unabhängig vom konkret gefährdeten oder im Ergebnis verletzten materiellen Recht gilt oder aber ob diese Verpflichtung je nach Garantie einer irgendwie gearteten Abstufung unterliegt. Auch diese Frage soll erneut anband der typischen Fallkonstellationen abgeklärt werden.

aa) Bei Bestehen staatlichen Gewahrsams In Situationen eines umfassenden staatlichen Gewahrsams - die mit wenigen Ausnahmen praktisch immer mit Haftsituationen in einem weit verstandenen Sinn gleichzusetzen sind - ist der Staat, der eine umfassende Kontrolle ausübt, bereits aufgrund der Garantie auf Freiheit und Sicherheit zu umfassenden Schutzmassnahmen verpflichtetl20 • Da ein Individuum durch ein Verhalten staatlicher Organe zwangsweise in diese Situation gebracht wurde, haben diese dafür einzustehen, dass einer sich in Haft befindlichen Personen nicht von Dritten Gefahr für ihre men318 Afrikanische Kommission für Menschenrechte, Communication 74/92, Commission Nationale des Droit de I'Homme et des Libertes v. Chad, para. 22; abgedruckt in HRU 1997, 34f. 3' 9 Die diesbezügliche Praxis der Afrikanischen Kommission für Menschenrechte kann zudem gar zu absurden Resultaten fUhren, da bei einer solch umfassend verstandenen Schutzpflicht Staaten auch durch Übergriffe von Rebellen auf ihre eigenen Organe völkerrechtlich verantwortlich erklärt werden müssten. 320 Art. 5 EMRK resp. Art. 9 Pakt II. Siehe dazu auch hinten Abschn. 6.

IV. Schutzpflichten

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sehenrechtlich geschützten Positionen droht. In diesem Sinn wird von Überwachungsorganen menschenrechtlicher Instrumente das Verschwindenlassen von Personen nach einer Verhaftung durch staatliche Organe, auch wenn die Verantwortung für die Rechtsverletzung nicht mehr abgeklärt werden kann, regelmässig dem Staat zugeschrieben 321 • Eine weitere direkte Verpflichtung zum Schutz vor Übergriffen Dritter kann auch aus der Bestimmung von Art. 10 Pakt II, dem Recht Inhaftierter auf menschenwürdige Behandlung abgeleitet werden322• In diesen Konstellationen haben staatliche Behörden deshalb alle Personen unter ihrer Kontrolle umfassend- d. h. unabhängig von der Art des konkret gefährdeten Menschenrechts -vor Übergriffen Privater zu schützen.

bb) Bei geplanter Aufgabe des staatlichen Gewahrsams Besonders komplex präsentiert sich diese Sachlage im Falle der Aufgabe staatlichen Gewahrsams. So finden sich in der Doktrin nicht weniger als vier verschiedene Theorien, welche die Entstehung einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des seinen Gewahrsam aufgebenden Staates im Falle einer Verletzung der in diesem Staat geltenden menschenrechtliehen Verpflichtungen durch Dritte zu erklären versuchen. Zwar beschlagen all diese Theorien die Frage des Bestehens einer staatlichen Verpflichtung im Falle einer Auslieferung oder Abschiebung einer Person an einen Drittstaat, doch lassen sie sich analog auch auf andere Konstellationen einer gegen den Willen der betroffenen Person erfolgten Aufgabe des staatlichen Gewahrsams übertragen. Mit Ausnahme der letzten Theorie beruhen die im Folgenden darzustellenden rechtlichen Konstruktionen aber nicht auf dem Modell menschenrechtlicher Schutzpflichten. Trotzdem erweist sich eine Auseinandersetzung mit diesen als notwendig, da erst ihr Einbezug in die Abklärung es ermöglicht, die Frage nach der Relevanz der konkret betroffenen materiellen Garantien innerhalb der hier zu untersuchenden 321 In diesem Sinn hält auch Art. 2 der Declaration on the Protection of All Persons from Enforced Disappearance (UN-GV Res.47/133) fest, dass ein Staat Fälle von Verschwindenlassen nicht nur nicht durchführen, sondern auch nicht tolerieren dürfe. Vgl. auch die Aussage des EGMR im Fall Kurt v. Turkey judgement of 25 May 1998, Reports 1998-111, para.122: ,.The Court notes at the outset the fundamental importance of the guarantees contained in Artic1e 5 for securing the right of individuals in a democracy to be free frorn arbitrary detention at the hands of the authorities. lt is precisely for that reason that the Court has repeatedly stressed in its case-law that any deprivation of liberty must not only have been effected in conforrnity with the substantive and procedural rules of nationallaw but must equally be in keeping with the very purpose of Article 5, namely to protect the individual from arbitrariness". So auch dasselbe Organ in Cakici v. Turkey judgement of 8 July 1999, Reports 1999, paras. 86 ff und 104 ff. 322 So enthalten die Standard Minimum Rules for the Treatment ofPrisoners (ECOSOC Res. 663C/1957 und 20761977, ein soft law Instrument, das bei der Auslegung von Art. 10 Pakt II zu beachten ist [Nowak [Commentary] 185], z.B. in den Ziff. 8 und 9 verschiedenen Bestimmungen, die auch dazu dienen, das Risiko von Rechtsverletzungen, die durch Mithäftlinge begangen werden, zu verhindern.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Fallgruppe der Aufgabe des staatlichen Gewahrsams über ein Individuum abzuklären323. Mit anderen Worten gilt es deshalb zu untersuchen, ob in solchen Situationen Vertragsstaaten verpflichtet sind, von Ausschaffungen oder Abschiebungen bei konkret drohender Verletzung eines beliebigen materiellen Rechtes abzusehen oder ob eine solche völkerrechtliche Barriere nur bei Vorliegen eines konkreten Risikos der Verletzung absolut fundamentaler Garantien besteht. • Die erste dieser Theorien beruht auf dem Modell der direkten Zurechnung privaten oder drittstaatlichen Verhaltens zum Staat und wird primär von Andrew Clapham vertreten. Dieser Autor lehnt, wie bereits an anderer Stelle erwähnt 324, die Anwendung der Zurechenbarkeitsregeln des allgemeinen Völkerrechts innerhalb der Systematik der Menschenrechte ab. Dies primär mit der m. E. unzutreffenden Begründung, wonach eine Unterscheidung zwischen privatem und staatlichem Verhalten zu willkürlichen Ergebnissen führe 325 und private Gewalt weitgehend von einer Regulierung durch das Völkerrecht ausschliesse 326• Folgerichtig wird eine Geltung der Menschenrechte zwischen Privaten und auch zwischen Privaten und Drittstaaten 327 so konstruiert, dass der Staat bei Vorliegen gewisser Bedingungen für das Verhalten dieser Privaten oder Drittstaaten völkerrechtlich verantwortlich ist, d. h. dass deren Handlungen als das Verhalten des verpflichteten Staates gilt328 • • Eine zweite Theorie stützt eine Verpflichtung des ausliefernden Staates nicht auf eine direkte Zurechenbarkeit des Verhaltens Dritter. Vielmehr versucht sie diese damit zu begründen, dass ein Staat, welcher eine Person trotz Wissen um das 323 Keine besondere rechtliche Konstruktion ist hingegen zur Begründung des Verbots, eine Person in ihr Bestimmungsland abzuschieben, im Falle einer positiv rechtlichen Verankerung dieses sogenannten non-refoulement Prinzips nötig. So bestimmt Art. 3 Abs. 1 CAT: ,,Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden". 324 Siehe oben Kap. 2, V. 2. c). 32.5 Clapham 188. Eine identische Version findet sich auch in Andrew Clapham, The ,,Drittwirkung" of the Convention, in Matscher/Petzold (eds. ), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht/Boston/London 1993, 170. 326 Für eine Kritik an dieser Schlussfolgerung siehe Kap. 2, V. 2. c). 317 Clapham 189; damit steht diese Theorie auch in direktem Widerspruch nicht nur zu den Zurechnungsregeln, sondern auch zu Art. 28 des ILC-Entwurfs, welcher die Zurechenbarkeit des Verhaltens eines Drittstaates von der Ausübung der Kontrolle durch den Staat, dem das Verhalten zugerechnet werden soll, abhängig macht. 328 Clapham 189: ,,Particularly interesting is Article 3 and the ernerging idea that States may be responsible for the actions of autonomous groups or terrorists, or even for the actions of other non-contracting States". Dass dieser Autor von einer direkten Verpflichtung von Staaten durch privates oder drittstaatliches Verhalten ausgeht, zeigt auch seine Aussage, wonach zwar nicht auf internationaler Ebene [infolge der Bestimmung von Art. 34 EMRK] wohl aber "at the national Ievel, Article 8 can be used directly against private bodies in the national courts of those countries where the Convention has domestic status and Article 8 has been incorporated or is considered self-executing" (a. a. 0 . 212).

IV. Schutzpflichten

255

Missbrauchsrisiko ausliefere, "knowingly concurs in a violationofthat person's fundamental human rights by another State". Deshalb sei "the first state (...) coresponsible for this infringement as a participator" 329• Die Verantwortlichkeit des ausliefemden Staates wird somit aus dem Tatbestand einer Mittäterschaft an einer durch den Bestimmungsstaat begangenen Völkerrechtsverletzung abgeleitet330• Auch diese Theorie ist abzulehnen, da sie in einer unter menschenrechtliehen Gesichtspunkten unbefriedigenden Weise eine Verantwortlichkeit des ausliefemden oder abschiebenden Staates ausschliesslich vom Bestehen einer selbständigen völkerrechtlichen Verpflichtung des Drittstaates abhängig machtl31 • Deshalb kann mit Hilfe dieser Theorie nur bei identischen Verpflichtungen beider Staaten in überzeugender Weise das Bestehen von Abschiebungshindernissen erklärt werden; ein Erfordernis das - wie die Praxis eindrücklich demonstriert- zumindest bei Abstützung auf Garantien in regionalen Verträgen 332 kaum je gegeben sein dürfte 333• Die Zulässigkeit einer Auslieferung trotz drohender Menschenrechtsverletzungen bestimmt sich bei einer Abstützung auf diese Theorie deshalb allein durch das Ausmass der völkerrechtlichen Verpflichtungen des Ziellandes. Da aber gerade Staaten mit schlechter Menschenrechtsbilanz sich solchen Verpflichtungen resp. ihrer Überwachung zu entziehen versuchen, erscheint ein solcher Konnex wenig sachgerecht. Abzulehnen ist auch die auf ähnlichen Grundlagen beruhende Konstruktion, welche die Geltung von Menschenrechtsgarantien in Auslieferungs- und Ausweisungsverfahren auf das Bestehen einer extraterritorialen Geltung 334 menschen329 Christine Van den Wyngaert, Applying the European Convention on Human Rights to Extradition: Opening a Pandora's Box?, ICLQ 1990, 760f. 330 Grundlage dieser Theorie ist somit das oben dargestellte Modell des Art. 27 ILC-Entwurf. So bereits ausdrücklich Theo Vogler, The scope of extradition in the light of the European Convention on Human Rights, in Matscher/Petzold (eds.), Protecting Human Rights: The European Dimension, Studies in honour of Gerard J. Wiarda, Köln et al. 1988, 666. 331 Die z. B. in dem von dieser Autorin besprochenen Fall nicht gegeben wäre. Vgl. EGMR, Soering v. United Kingdom, Series A Vol.161, para. 86, wo festgehalten wird, diese Nichtverpflichtung eines Drittstaates "cannot, however, abso1ve the contracting parties from responsibility under Article 3 for all and any foreseeable consequences of extradition suffered outside their jurisdiction". 332 Eine gleiche vertragliche Verpflichtung ist wiederum selbst bei Bestehen einer gewohnheitsrechtlich verankerten Parallelregeln aus prozessualen Gründen unentbehrlich, da VertragsUberwachungsorgane nur die Kompetenz besitzen, einen Sachverhalt unter dem Blickwinkel der materiellen Bestimmungen des fraglichen Vertrages zu beurteilen. 333 So standen in den oben in Anm.187 dargestellten Urteilen des EGMR allesamt Auslieferungen in aussereuropäische Staaten zur Diskussion. Die vom Ausschuss für Menschenrechte beurteilten Fälle betrafen hingen auch Auslieferungen von Kanada in die USA, d. h. in einen Staat, der zwar den Pakt II, nicht aber dessen Fakultativprotokoll ratifiziert hat. Trotzdem wäre es wohl gestUtzt auf diese Theorie möglich, in einer gegen Kanada gerichteten Beschwerde eine solche Auslieferung mit dem Argument anzufechten, Kanada sei aus dem Pakt verantwortlich infolge Beihilfe zu einer Verletzung dieses Vertrages durch die USA. J34 Zum territorialen Geltungsbereich der Menschenrechte siehe vorne Kap. 2, IV. 2. a).

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

rechtlicher Verpflichtungen stützen will 335• Zwar kommt dem Verbot einer Ausweisung oder Abschiebung im Falle drohender Menschenrechtsverletzungen indirekt durchaus eine Wirkung zu, welche in territorialer Hinsicht über den Bereich der Jurisdiktion des verpflichteten Staates hinausreicht. Trotzdem erscheint diese Begründung zumindest missverständlich, da sie den Anschein erweckt, mit einem solchen Verbot solle eine Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung des ausliefemden Staates verhindert werden, welche ausserhalb seines Staatsgebietes und zu einem Zeitpunkt droht, in welchem der verpflichtete Staat tatsächlich keine Kontrolle mehr über das Schicksal der auszuliefemden Person ausübt. • Auch von einer direkten Verpflichtung des auslieferungswilligen Staates geht das dritte Begründungsmodell aus: Demgernäss bildet nicht die am Massstab der vertraglichen Verpflichtungen des Auslieferungsstaates zu messende Behandlung im Drittstaat Schranke einer Auslieferung oder Abschiebung. Vielmehr widerspricht gernäss diesem Modell der Akt der Abschiebung oder Auslieferung an sich stets dem Verbot unmenschlicher Behandlung, falls eine solche Handlung durchgeführt wird, obwohl klare Indizien eine schwere Menschenrechtsverletzung im Zielland als wahrscheinlich erscheinen lassen 336• Grundlage dieser Theorie ist somit die Überlegung, wonach eine Ausweisung oder Abschiebung einer Person in einen Staat, in welchem ihre fundamentalen Menschenrechte schwer verletzt werden, an sich mit einem Mass an Leiden verbunden ist, welches die Anwendungsschwelle des Verbotes unmenschlicher Behandlung überschreitet, zu dessen Beachtung sich der ausliefemde Staat vertraglich verpflichtet hat. Da somit bereits der Akt der Abschiebung selbst337 als Verletzung einer Unterlassungs33' So zumindest missverständlich Dugard!Van den Wyngaert 191; Juan-Antonio CarilloSalcedo, Article I, in Pettiti/Decaux/lmbert (eds.), La Convention europeenne des droits de l'homme, Paris 1995, 140, und Antonio Cassese, Prohibition of Torture andInhuman or Degrading Treatment or Punishment, in Macdonald/Matscher/Petzold (eds.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht/Boston/London 1993, 249. 336 So insbesondere Walter Kälin, Tragweite und BegrUndung des Abschiebungshindernisses von Art. 3 EMRK bei nichtstaatlicher Gefährdung, in Hailbronner/Klein (Hrsg.), Einwanderungskontrolle und Menschenrechte- Immigration Control and Human Rights, Beiträge anlässlich eines Symposiumsam 29./30. Juni 1998 in Potsdam, Heidelberg 1999, 52ff. So auch ders., Das menschenrechtliche Verbot der Rückschiebung und seine Bedeutung für das Flüchtlingsrecht, Asyll997, 3f, und ders. (Anm.l86) 176ft'. Leichtabweichend und weniger stringent wird auch argumentiert, ein Ausweisungsakt stelle eine Verletzung des Verbotes unmenschlicher Behandlung dar, falls dieses behördliche Verhalten ein wesentliches Glied in einer Kausalkette bilde, die zu einer derart schweren Verletzung eines Menschenrechtes im Zielland führe, dass auch die Anwendungsschwelle des Verbotes unmenschlicher Behandlung überschritten wird. Vgl. Harris/O'Boyle/Warbrick 77 und Jacobs/White 61. Zwar erwähnt- aber deutlich abgelehnt- wird diese Begründung auch von Lawson/Schermers 324. Auch Frowein/Peukert 51 ff gehen vom Modell aus, wonach der Akt der Ausweisung in solchen Fällen die EMRK verletzt, ziehen aber nicht explizit den Schluss, wonach auch eine schwere Verletzung anderer fundamentaler Menschenrechte unter das Verbot von unmenschlicher Behandlung subsumiert werden kann. m In Auslieferungsfallen dürfte der auszuliefemden Person vergleichsweise selten eine durch nichtstaatliche Akteure begangene, dem Staat nicht zurechenbare Misshandlung drohen.

IV. Schutzpflichten

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pflicht des Staates Art. 3 EMRK resp. Art. 7 Pakt II widerspricht, ist nach dieser Theorie auch irrelevant, ob die drohende schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Destinationsstaat staatlichen oder nichtstaatlichen Ursprungs sein wird, da allein der Auslieferungsakt, der immer staatlichen Ursprungs ist, den relevanten Anknüpfungspunkt bildet. Ein Vertragsstaat der EMRK oder des Paktes II, der eine Person in einen anderen Staat abschieben will, steht gernäss dieser Begründung deshalb unter einer direkt durch das Verbot der unmenschlichen Behandlung statuierten Pflicht, bei erheblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung von Menschenrechten, wie dem Verbot unmenschlicher Behandlung, dem Recht auf Leben aber auch zentralster Verfahrensgarantien 338, eine solche Handlung unabhängig von der Frage nach der mutmasslichen Urheberschaft solcher Übergriffe zu unterlassen339•

• Erst die letzte Begründung einer menschenrechtlich bedingten Schranke gegen Ausweisungen und Abschiebungen stützt sich schliesslich auch in diesem Anwendungsfall auf die Verpflichtung der Staaten, allen Personen unter ihrer Jurisdiktion die in einem bestimmten Vertrag kodifizierten Rechte auch gegenüber Dritten zu gewährleisten340 • Falls ein Staat eine Persontrotz Bestehenseiner erheblichen Wahrscheinlichkeit, dass sie im Destinationsstaat Opfer von Misshandlungen sein wird, deportiert, verletzt er seine Schutzpflicht gegenüber der auszuliefemden Person. Damit ist auch bereits angetönt, dass auch diese Begründung eines menschenrechtliehen Abschiebungshindernisses sowohl Fälle einer drohenden unmenschlichen Behandlung durch eine private Gruppe wie auch solche durch drittstaatliche Organe zu erklären vermag. Dies gilt, da alle potentiellen Verletzter im Destinationsstaat gegenüber dem völkerrechtlich verpflichteten Auslieferungsstaat als Dritte gelten341 • Im Unterschied zur vorher dargestellten 331 FrecJeric Sudre, Article 3, in Pettiti/Decaux/Imbert (eds.), La Convention europeenne des droits de l'homme, Paris 1995, 173f. Jacobs/White 61 erwähnen zusätzlich eine Verletzung von Art. 4 EMRK sowie "persecution or discriminatory treatment, by reason of his political opinion, his religion, or his race". Eine solche dogmatische Konstruktion wird wiederum von Lawson!Schermers 324 explizit kritisiert: "It would be artificial to hold that Article 3 [ECHR] would be violated if an individual is extradited to a country where he will suffer a denial of justice". Van Dijk!van Hoof331 f wiederum gehen von einer gewissen Parallelität zwischen dem Schutzbereich von Art. 3 EMRK einerseits und dem Flüchtlingsbegriff andererseits aus, wenn sie festhalten, dass "the deportation of a person to a country where he has a well-founded fear of being persecuted will in general amount to a real risk of being exposed to ill-treatment in the sense of Article 3. (...).In conclusion, therefore, it is submitted that a person who has wellfounded fear of persecution within the meaning of Article 1(A) of the Refugee Convention and is protected by the prohibition of refoulement in Article 33( 1) of this Convention as a rule can also claim that he may not be retumed to his country of origin because that would expose him to a real risk of ~ing subjected to a treatment prohibited by Article 3". 339 Kälin (Anm. 336) 54 ff. 340 So wohl Lawson!Schermers 324f. 341 Im Falle einer eigenen Schutzpflicht des Zielstaates liesse sich bei drohenden Übergriffen durch private Gruppen eine Verpflichtung des ausliefemden Staates auch als Kaskadenschutzpflicht begründen.

17 KUnzli

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Theorie vermag aber diese Konstruktion eine rechtliche Barriere gegen Auslieferungen resp. Abschiebungen auf direktere Weise zu erklären: So müssen Verhaltensweisen, die im traditionellen Menschenrechtsverhältnis zwischen verpflichtetem Staat und berechtigtem Individuum den materiellen Geltungsbereich anderer Garantien als das Verbot unmenschlicher Behandlung tangieren würden, nicht unter dieses Verbot im Sinne eines Auffangrechts subsumiert werden. Zudem braucht nicht aus der Schwere der drohenden Menschenrechtsverletzung auf die Unmenschlichkeit des Auslieferungsaktes geschlossen zu werden 342• Dies impliziert gernäss den Vertretern dieser Konstruktion wiederum, dass auch in dieser spezifischen Anwendung eine Schutzpflicht grundsätzlich aus jeder materiellen menschenrechtliehen Garantie herauswachsen kann 343 • Bereits aufgrund dieses kursorischen Überblicks über die theoretisch möglichen Begründungen einer menschenrechtliehen Pflicht des Aufenthaltsstaates, von einer Deportation eines Individuums abzusehen, lässt sich ableiten, dass die ersten beiden Theorien diese Abschiebungs- und Auslieferungshindernisse nicht umfassend und auf dogmatisch stringente Weise zu begründen vermögen. Deshalb soll ansebliessend mittels eines Überblicks über die Praxis der Strassburger Organe und des Ausschusses für Menschenrechte einzig versucht werden, Klarheit über Anwendungsbereich und Grenzen der beiden letztgenannten Theorien zu finden. Erste Aussagen des Ausschusses für Menschenrechte zur Verpflichtung der Vertragsstaaten zum Schutz Einzelner gegen Übergriffe Privater finden sich bereits in den frühen General Comments dieses Organs. In diesen Dokumenten wird jedoch kein spezifischer Bezug auf das Abschiebungs- resp. Auslieferungshindernis der drohenden Verletzung von Menschenrechten genommen 344• Diese Verknüpfung erfolgte erst mit Erlass des General Comment 20/44 im Jahre 1992, in welchem dieses Organ -nach einer Verdeutlichung seiner früheren Aussagen zum Bestehen staatlicher Schutzpflichten 34' - folgerte, die Vertragsstaaten dürften Individuen auch dann nicht dem Risiko von Folter oder unmenschlicher Behandlung aussetzen, wenn diese in die Jurisdiktion eines anderen Staates überstellt werden346 • Trotz der Statuierung 342 D. h. es lässt sich auch bei dieser Variante eine grosse Dehnung des Begriffs der unmenschlichen Behandlung nicht vermeiden. So muss abgeklärt werden, welche drohenden Menschenrechtsverletzungen neben unmenschlicher Behandlung an sich die notwendige Schwere erreichen, damit die Auslieferung die von relativen Faktoren mitbestimmte Anwendungsschwelle der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erfüllt. 343 Lawson/Schermers 324 erwähnen das Beispiel von aus den Freiheitsrechten der Art. 8--11 EMRK erwachsenden Schutzptlichten. 344 General Comments 6/16 zu Art. 6 Pakt II, paras. 4 f, und 7/16 zu Art. 7 Pakt II, para. 2: ,,Finally, it is also the duty of public authorities to ensure protection by the law against such treatment even when committed by persons acting outside or without official authority". 345 A. a. 0., para. 2: ,,lt is the duty of the State party to afford everyone protection through legislative and other measures as may be necessary against the acts prohibited by article 7, whether inßicted by people acting in their official capacity, outside their official capacity or in private capacity". 346 A.a.O., para.9.

IV. Schutzpflichten

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von Schutzpflichten und der Anerkennung einer Geltung des Art. 7 Pakt II in Fällen von Abschiebungen und Auslieferungen in ein und demselben Dokument wurde aber keine direkte Verbindung zwischen diesen zwei rechtlichen Konstruktionen hergestellt. Ein solcher Konnex wurde erst anlässlich der konkreten Prüfung von Individualbeschwerden in Auslieferungs- und Abschiebungsfällen vorgenommen 347: In allen bisherigen Entscheidungen hielt der Ausschuss für Menschenrechte bereits anlässlich der Begründung zur Zulässigkeil der Beschwerden folgenden Grundsatz fest: Eine Übergabe einer Person an einen anderen Staat, in welchem das Risiko einer Verletzung von Garantien dieses Abkommens besteht, kann der allgemeinen Verpflichtung zur Gewährleistung der Paktrechte, wie sie Art. 2 Abs. l Pakt II statuiert, widersprechen resp. verletzt bei sicherem Wissen um diese Misshandlung den Paktl48 • Diese Aussage verdeutlicht, dass das Überwachungsorgan des Paktes II vom Bestehen einer- auch solche Konstellationen- umfassenden Schutzpflicht der Vertragsstaaten ausgeht, die zudem in ihrer Anwendung wenigstens dem Grundsatz nach nicht auf einen bestimmten Kreis materieller Garantien beschränkt ist. Gernäss Ansicht des Ausschusses verletzt der ausliefemde Staat bei Bestehen einer gewissen Verletzungswahrscheinlichkeit bereits mit der Auslieferung an sich das jeweilige im Drittstaat konkret bedrohte materielle Recht des Paktes. Diese Einschätzung wird auch durch die Begründungen in der Hauptsache der Auslieferungsentscheide weiter verdeutlicht: So prüfte der Ausschuss in allen Fällen nicht nur, ob eine Auslieferung eine Verletzung von Art. 7 durch den ausliefemden Staat darstellte 349, sondern gar an erster Stelle - nachdem erneut die fundamentale Bedeutung der allgemeinen Verpflichtungsklausei für die Beurteilung solcher Fälle hervorgehoben wurde 350 - ob 347 Siehe dazu auch Margaret De Merieux, Extradition as the Violation of Human Rights. The Jurisprudence of the International Covenant on Civil and Political Rights, NQHR 1996, 23ff. 348 Comrnunication 470/1991, Kindler v. Canada, para. 6.2: ,,Article 2 of the Covenant requires States parties to guarantee the rights of persons within their jurisdiction. If a person is lawfully expelled or extradited, the State party concemed will not generally have responsibility under the Covenant for any violations ofthat person 's rights that may 1ater occur in the other jurisdiction. In that sense a State party clearly is not required to guarantee the rights of persons within another jurisdiction. However, if a State party takes a decision relating to a person within its jurisdiction, and the necessary and foreseeable consequence is that that person 's rights under the Covenant will be violated in another jurisdiction, the State party itself may be in violation of the Covenant. That follows from the fact that a State party's duty under article 2 of the Covenant wou1d be negated by the handing over of a person to another State (whether a State party to the Covenant or not) where treatment contrary to the Covenant is certain or is the very purpose of the handing over. For example, a State party wou1d itself be in violation of the Covenant if it handed over a person to another State in circumstances in which it was foreseeable that torture would Iake place. The foreseeability of the consequence would mean that there was a present violation by the State party, even though the consequence would not occur untillater on". Identische Aussagen finden sich in Comrnunication 469/1991, Ng v. Canada, para. 6.2. 349 Comrnunication 470/1991, Kind/er v. Canada, paras.15.1 ff; Communication 469/1991, Ng v. Canada, paras 16.1 ff; Comrnunication 539/1993, Cox v. Canada, paras.17.1 ff. 3~ Siehe z.B. Comrnunication 470/1991, Kind/er v. Canada, paras.13.1 f: ,,AState party to the Covenant is required to ensure that it carries out all its other legal comrnitments in a manner

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

diese mit der materiellen Verpflichtung aus Art. 6 Pakt II vereinbar sei 351 • Dieses Organ baut daher in Auslieferungs- und Abschiebungsfällen seine Entscheidungen konsequent und in sehr genereller Form auf dem Argument des Bestehens staatlicher Schutzpflichten auf. Folgerichtig hat es den Kreis der als Basis solcher Pflichten in Frage kommender materieller Garantien bisher nicht eingeschränkt. Allerdings gilt es bei dieser Einstufung zu berücksichtigen, dass sich der Ausschuss bis heute nicht mit Beschwerden zu befassen hatte, in welchen die drohende Verletzung von Freiheitsrechten in Auslieferungsfällen gerügt wurde. Diese Rechtsprechung liefert deshalb noch keinen deutlichen Beleg dafür, ob überhaupt und wo zukünftig die Grenzlinie zwischen Auslieferungen zu ziehen sein soll, die der Pakt II verbietet und solchen, die trotz drohendem Eingriff in den Geltungsbereich einer Garantie- resp. gar trotz Verletzung einer solchen- paktkonform sein können. Auf eine breitere Basis sowohl in Auslieferungs- wie auch in Fällen von Abschiebungen kann sich eine Beurteilung der entsprechenden europäischen Praxis stützen. Aufbauend auf einer langjährigen und konsistenten Rechtsprechung der EKMR, die deutlich macht, dass sowohl bei drohender Folter als auch bei anderen schweren Menschenrechtsverletzungen von einer Rückschiebung abzusehen ist, da diese in solchen Fällen unmenschlich im Sinne von Art. 3 EMRK sei352, beschäftigte sich der consistent with the Covenant. The starting point for an exarnination of this issue must be the Obligation of the State party under article 2, paragraph I, of the Covenant, namely, to ensure to all individuals within its territory and subject to its jurisdiction the rights recognized in the Covenant. The right to life is the most essential of these rights. If a State party extradites a person within its jurisdiction in circumstances such that as a result there is a real risk that bis or her rights under the Covenant will be violated in another jurisdiction, the State party itself may be in violation of the Covenant". So auch Communication 706/1996, G. T. v. Australia, para. 8.1. 351 Communication 470/1991, Kindler v. Canada, paras. 14.1 ff; Communication 469/1991, Ng v. Canada, paras.15.1 ff; Communication 539/1993, Coxv. Canada, paras.16.1 ff. Zahlreiche abweichende Meinungen von Mitgliedern des Ausschusses gingen in allen drei Fällen weiter als die Mehrheit der Ausschusses und leiteten zusätzlich aus der Thtsache, dass Kanada die Todesstrafe ausser für gewisse Militärdelikte abgeschafft hat, auch eine Schutzpflicht bezUglieh dieses Teilgehaltes des Rechts auf Leben ab (so insbesondere die abweichenden Meinungen von Fausto Paocar und Bertil Wennergren im Falle Kindler v. Canada [Communication 470/1991)). Basis für eine solche Interpretation könnte der Entscheid der Communication 706/1996, G. T. v. Australia, para. 8.3, sein, wo festgehalten wurde: .,The Committee observes that Article 6, Paragraphs 1 and 2 read together, allows the imposition of the death penalty for the most serious crimes, but that the Second optional Protocol, to which Australia is a party, provides that no one within the jurisdiction of a State party shall be executed and that the State party shall take all the necessary measures to abolish the death penalty in its jurisdiction. The provisions of the Second Optional Protocol are tobe considered as additional provisions to the Covenant". Im Anschluss an diese Passage wurde auf keine Verletzung von Art. 6 Pakt II geschlossen, da das Bestehen einer erheblichen Wahrscheinlichkeit einer Vollstreckung der Todesstrafe im Falle einer Abschiebung des Beschwerdeführers verneint wurde. So auch Communication 692/1996, A.RJ. v. Australia, para.6.11. 352 Siehe z. 8 . EKMR, Application 10308/83, Altun v. Germany, DR 36, 209: ,,A person 's extradition may, in certain exceptional circumstances, be contrary to the Convention, notably Article 3, where there are serious reasons to believe that the individual will be subjected, in the receiving State, treatment prescribed by this Article". Bestätigt wurde die Methode einer Sub-

IV. Schutzpflichten

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EGMR im Fall Soering v. Germany 353 erstmals eingehend mit dieser Problematik: Dabei hielt das Gericht einerseits fest, Art. 3 EMRK beinhalte eine inhärente Verpflichtung, einen Flüchtigen nicht in ein Land zurückzuschicken, in welchem ihm unmenschliche Behandlung drohe35C, führte aber andererseits unter dem Titel ,.Alleged Breach of Article 6" auch aus: "The Court does not exclude that an issue might exceptionally be raised under Article 6 by an extradition decision in circurnstances where the fugitive has suffered or risks suffering a flagrant denial of a fair trial in the requesting country"m.

Obwohl diese Aussage keinerlei Verbindung zu Art. 3 EMRK herstellt, kann allein gestützt auf dieses dieturn kaum auf eine Übernahme der ,.Schutzpfticht-Theorie" durch den EGMR geschlossen werden. Zudem lässt diese Aussage die Sprache vermissen, wie sie üblicherweise von diesem Organ im Zusammenhang mit Schutzpflichten verwendet wird 356• Mit dem Gebrauch des Verbs ,.suffer" wird zudem eine gewisse Nähe zum Begriff der unmenschlichen Behandlung hergestellt. Ein klarerer Positionsbezug in dieser Frage lässt sich auch den zeitlich folgenden Urteilen des EGMR nicht entnehmen: Zwar wurde im Urteil Vilvarajah v. United Kingdom 351 eine Verletzung von Art. 3 EMRK verneint. Dies jedoch nicht, weil geprüft wurde, ob eine Misshandlung im Zielland stattgefunden habe358, sondern weil der Auslieferungsstaat dieses Resultat im Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Auslieferung nicht voraussehen konnte 359• Aus dieser Prüfungsmethode folgt zwar, dass auch gernäss dem europäischen Gerichtshof die EMRK-Widrigkeit einer Abschiebung an sich und nicht die tatsächliche Behandlung im Zielstaat das massgebliche Entscheidkriterium bildet360• Sie lässt sich aber auch in Übereinstimmung mit der sumption von Geltungsbereichen anderer materieller Garantien unter den Schutzbereich von Art. 3 EMRK aber auch in neuen Fällen wie z. B. in Application 25894/94, Bahaddar v. the Netherlands, para. 78: ,,As to the prohibition of intentional deprivation of life, the Commission does not exclude that an issue might be raised under Article 2 in circurnstances in which the expelling state knowingly puts the person concerned at such high risk of losing his life as for the outcome tobe near-certainty. The Commission considers, however, that a ,real risk' (...) of loss of life would not as such necessarily suffice to make expulsion an ,intentional deprivation of life' prohibited by Article 2". Diese Argumentation ist m. E. nicht ganz stichhaltig, da die Darstellung der Struktur des Art. 2 EMRK aufzeigt, dass auch fahrlässige Tötungen Art. 2 verletzen können. V gl. Kap. 4, V. 2. Siehe dazu auch Kälin (Anm. 336) 52 ff und auch die ausführliche Zusammenstellung dieser Rechtsprechung in van Dijklvan Hoof328 ff. 353 Series A Vol. 161. 354 A. a. 0 ., para. 88. Lawson/Schermers sehen in dieser Aussage einen möglichen Beleg für die Theorie, wonach Auslieferungshindernisse gernäss der EMRK letztlich stets auf der Grundlage von Art. 3 EMRK beruhen müssen. m A.a.O., para.113. 356 Siehe oben Anm. 348. m Series A Vol 215. 358 Eine solche Misshandlung fand vermutungsweise staU, a. a. 0 ., para. 112. 359 Kälin (Anm. 336) 63 ff. 360 A.a.O.

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

Theorie der Schutzpflichten bringen, da auch mittels deren Anwendung eine Verpflichtung des ausliefemden Staates nur bei Voraussehbarkeit der Misshandlung im Moment der Auslieferung begründet werden kann. Deshalb ist folgerichtig auch von einer Verletzung einer Schutzpflicht auszugehen, falls jemand trotz Bestehens einer hohen Wahrscheinlichkeit einer Misshandlung ausgeliefert wird, aber eine ex post Prüfung zeigt, dass sich diese Befürchtung entgegen der ex ante Beurteilung im Auslieferungs- oder Abschiebungsentscheid nicht bewahrheitet hat. Dies muss deshalb gelten, da eine solche Pflicht nicht nur den Schutz vor tatsächlichen, durch Dritte verursachte Übergriffe auf menschenrechtliche Positionen umfasst, sondern dieser bereits zeitlich ab dem Zeitpunkt der Voraussehbarkeit der Gefahr einer Verletzung, d. h. präventiv, einzusetzen hat. Eine klarere Anwort auf die Frage, welcher Theorie dieses Organ folgt, lässt sich auch dem Fall Ahmed v. Austria nicht entnehmen; dem ersten Urteil, in welchem eine Abschiebung infolge eines bestehenden grossen Risikos einer Verletzung zentraler Menschenrechte des Beschwerdeführer im Zielland, das von privaten Individuen ausging, als Verletzung von Art. 3 EMRK eingestuft wurde 361 • Dieser Schluss gilt, weil beide Theorien, wie oben erwähnt362, solche Sachverhalte problemlos zu erklären vermögen. Klarer in Richtung einer Akzeptanz staatlicher Schutzpflichten weist hingegen ein Urteil aus dem Jahre 1997, das einen vergleichbaren Sachverhalt betraf und in dem auf explizite Rüge der Verletzung von staatlichen Schutzpflichten hin 363 der Gerichtshof ausführte: "Owing to the absolute character of the right guaranteed, the Court does not rule out the possibility that Article 3 of the Convention may also apply where the danger enmates from persons or groups of persons who are not public officials" 364•

Zusätzliches Gewicht bekam diese Äusserung, weil sie in einem weiteren Fall, der klarerweise die Beachtung der Garantien des Art. 3 EMRK im Privatbereich betraf, als Belegstelle für das Bestehen einer aus dieser Bestimmung fliessenden Schutzpflicht aufgeführt wurde365 • Ein weiterer Abschiebungsfall aus dem Jahre 1997 schliesslich366 verdient insbesondere deshalb Beachtung, da auf eine Verletzung des Art. 3 EMRK geschlossen Siehe EGMR, Ahmed v. Austria judgement of 17 December 1996, Reports 1996-VI. Siehe oben S.257f. 363 EGMR, H.L.R. v. France judgement of 29 Aprill997, Reports 1997-ill, para.30: ,,By virtue of the positive obligations incumbent on the States and the absolute character of the right concemed, Article 3 applied to inhuman and degrading treatment resulting from the actions of private individuals where a Contracting State bad, through its acts or passivity, failed to comply with its duties under the Convention. As the French State bad sought and obtained from H.L.R. information on the organisers of the traffic, it had a duty to protect him". 364 A. a.O., para. 40. 36!1 EGMR, A. v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI, para.22. 366 EGMR, D. v. United Kingdom jUdgement of 2 May 1997, Reports 1997-ill. 361

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IV. Schutzpflichten

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wurde, obwohl dem Beschwerdeführer keinerlei Verfolgung, weder durch private noch durch drittstaatliche Akteure drohte367• Vielmehr rechtfertigten allein die nach einer Abschiebung zu erwartenden ökonomischen und gesundheitlichen Lebensumstände der abzuschiebenden Person diese Einstufung368• Auch dieses Urteil des EGMR lässt sich wiederum mit Hilfe beider Theorien begründen 369: Eine solche Abschiebung kann als Verletzung von Art. 3 EMRK eingestuft werden, da es unmenschlich erscheint, eine Person mittels staatlicher Massnahmen einer solchen Situation auszusetzen. Es kann aber auch argumentiert werden, der Auslieferungsstaat habe die Pflicht, eine Person vor einem drittstaatlichem Unterlassen 370 zu schützen, welches am Massstab der EMRK-Verpflichtungen des ausliefemden Staates gemessen, als unmenschlich einzustufen ist 371 • Zusätzlich - und dies wohl überzeugender - kann ein solches trotz fehlender Verfolgung existierendes Abschiebungshindernis auch schlicht mit der aus den materiellen Garantien der EMRK fiiessenden Verpflichtung zu positiven Leistungen zugunsten von Personen unter der Jurisdiktion eines Vertragsstaates erklärt werden. Schliesslich gilt es, zwecks Abklärung dieses "Theoriendisputes" noch einen letzten Entscheid in Betracht zu ziehen 372 • In diesem Urteil hatte der EGMR über die Frage zu befinden, ob die Mutter einer Person, die aus behördlichein Gewahrsam verschwand, als Opfer einer selbständigen Verletzung von Art. 3 EMRK betrachtet werden könne. Diese Frage wurde bejaht373, da nächste Angehörige eines Verschwundenen infolge des quälenden Ungewissens über dessen Schicksal ein Ausmass an Leiden zu ertragen hätten, welches die Anwendungsschwelle von Art. 3 EMRK überschreite 374• Da somit auch die Unsicherheit, die Angehörige im Falle A. a. 0., 49. Der Beschwerdeführer, ein an Aids im letzten Stadium leidender Drogenkurier, konnte nachweisen, dass das erzwungene Ende seiner medizinischen Behandlung in Grossbritannien seine Lebenserwartung massiv reduzieren wUrde und er in seinem Heimatstaat St. Kitts ohne jegliche medizinische Betreuung, ohne Unterstützung durch Bekannte und ohne finanzielle Mittel im völligen Elend zu sterben hätte. 369 Für die Begründung mittels Schutzpflichten spricht jedoch die Tatsache, dass der EGMR in diesem Entscheid (a. a. 0., paras. 55 ff) die Frage einer allfälligen Verletzung des Art. 2 EMRK im Falle einer Abschiebung ausdrücklich offen liess. 370 Dabei ist in diesem Zusammenhang irrelevant, ob dem Drittstaat überhaupt die Möglichkeit offenstand, die zu erwartende Situation des Beschwerdeführers zu ändern. Entscheidend ist einzig, ob der abschiebungswillige Staat die Situation beeinflussen kann oder nicht. 371 Die Erklärung mittels Schutzpflichten bedingt deshalb die Anerkennung einer aus Art. 3 EMRK fliessenden Leistungspflicht; siehe dazu unten Abschn. V. 3. d). 372 Kurt v. Turkey judgement of 25 May 1998, Reports 1998-lll. 373 Dies obwohl infolge eines Mangels an Beweisen der Verschwundene nicht als Opfer einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK wohl aber von Art. 5 EMRK eingestuft wurde (a. a. 0., paras.100ff). 374 A. a. 0., paras. 133 f: ,,As a result, she has been left with the anguish of knowing that her son bad been detained and that there is a complete absence of oflicial information as to bis subsequent fate. This anguish has endured over a prolonged period of time. Having regard to the circumstances described above as weil as to the fact that the complainant was the mother of the 367

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

drohender schwerer Verletzung der Rechte verschwundener Familienmitglieder zu erleiden haben, die Anwendungsschwelle von Art. 3 EMRK überschreiten kann, muss dies erst Recht im Falle der Auslieferung einer Person in einen Staat gelten, in dem ihr selbst eine Verletzung grundlegender Menschenrechte droht. Dieser Überblick über die Rechtsprechung beider Organe zeigt zweierlei auf: Erstens lassen sich grundsätzlich mit Hilfe beider Theorien befriedigende Lösungen erreichen und zweitens schliessen sich diese Theorien in ihrer Anwendung nicht gegenseitig aus. Vielmehr können -wie vor allem die sehr kasuistische, nicht klar erkennbar auf einem dogmatischen Grundkonzept beruhende Praxis des EGMR offenkundig macht -je nach konkretem Einzelfall ohne explizite Berufung auf eine spezifische Theorie Aspekte beider Grundlagen nutzbar gemacht werden. Diese sehr pragmatische Vorgehensweise überzeugt jedoch nicht vollständig, da die Resultate einer Abstützung der Rechtsprechung auf die eine oder andere Erklärung nicht zwingend identisch zu sein haben und sich zudem ungleich in die allgemeine Systematik menschenrechtlicher Verpflichtungen einordnen lassen. Derjenigen Theorie, welche Deportationen von Personen in einen Drittstaat dann als menschenrechtswidrig bezeichnet, wenn dieser Akt an sich als unmenschlich im Sinne von Art. 3 EMRK einzustufen ist, kommt Unbestrittenermassen das Verdienst zu, für Rechtssicherheit zu sorgen. Denn dank der schrankenlosen Geltung des Verbotes unmenschlicher Behandlung in allen menschenrechtliehen Instrumenten wird der Versuchung einer allzu starken Berücksichtigung faktischer und rechtlicher375 Interessen des Aufenthaltsstaates ein solider Riegel vorgeschoben. Gerade diese schrankenlose Geltung des Art. 3 EMRK schafft andererseits infolge der ihr inhärenten fehlenden Flexibilität376 auch Probleme: So lässt sich bei exklusiver Abstützung auf diese Theorie dogmatisch nur schwer erklären, warum beispielsweise dem Recht auf Leben nicht selbständig dieselbe Wrrkung beigemessen werden soll. Es fragt sich mit anderen Worten, warum aus diesem Recht zwar gegenüber Dritten im Sinne von Privaten und nichtstaatlichen Gruppierungen, nicht aber gegenüber Dritten im Sinne von Drittstaaten eine Schutzpflicht fliessen kann. Weiter erscheint es unter Berücksichtigung der Eingriffsintensität wenig einsichtig, warum in Anlehnung an den Fall A v. United Kingdom 371 eine Ausweisung im Falle drohender Missvictim of a human rights violation and herself the victim of the authorities' complacency in the face of her anguish and distress, the Court finds that the respondent State is in breach of Artide 3 in respect of the applicant". Zur gleichen Schlussfolgerung gelangte im Zusanunenhang mit dem Verschwindenlassen von Personen bereits im Jahre 1983 der Ausschuss für Menschenrechte; Communication 107/1981, Quinteros v. Uruguay, para.14. In seinem Entscheid Cakici v. Turkey (judgement of 8 July 1999, Reports 1999, paras. 98 t) relativierte jedoch der EGMR diese Einstufung teilweise, indem er betonte, eine solche eigenständige Verletzung von Art. 3 EMRK liege primär im Verhalten der Untersuchungsorgane gegenüber den Angehörigen begründet. m Die z. B. in der Erfüllung eines Auslieferungsvertrages bestehen können. 376 Zur absoluten Geltung von Art. 3 EMRK siehe ausführlich Kap. 4, III. 1. 377 EGMR, A . v. United Kingdom judgement of 23 September 1998, Reports 1998-VI.

IV. Schutzpflichten

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handlungen in der Form von Schlägen durch Erziehungsberechtigte rechtlich absolut verunmöglicht sein soll, während gernäss dieser Theorie z. B. selbst eine vollständige Verunmöglichung der Ausübung eines Freiheitsrechtes durch den Drittstaat keine Barriere gegen die Ergreifung einer Auslieferungsmassnahme sein kann. Gelangt diese Theorie in solchen Konstellationen deshalb exklusiv zur Anwendung, kann dieser Widerspruch einzig dadurch verhindert werden, indem eine Auslieferung auch bei drohender massiver Missachtung von Freiheitsrechten als unmenschlich eingestuft wird. Eine solche Subsumption würde aber nicht nur bewirken, dass einem Kernbereich der Freiheitsrechte - da dessen Verletzung zugleich als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 zu qualifizieren wäre- ein nicht einschränkbarer, absolut geltender Kern zukommen würde, sondern auch, dass das Verbot unmenschlicher Behandlung in solchen Lebenssachverhalten als Auffangmenschenrecht378 einzustufen wäre. Eine solche Qualität kann dieser Garantie aber in ihrer Anwendung in anderen Lebenssachverhalten nicht beigemessen werden, und sie steht gar in einem paradoxen Verhältnis zu ihrer Funktion als absolut geltende Barriere gegen unmenschliche Handlungen. Derartige Probleme stellen sich nicht bei einer ausschliesslichen Abstützung solcher Sachverhalte auf die Theorie staatlicher Schutzpflichten. Da diese Verpflichtungsart sich nicht nur aus besonders zentralen, sondern aus allen materiellen Garantien ableiten lässt, deren Verwirklichung durch privates oder drittstaatliches Verhalten verletzt werden kann, würde folgerichtig die drohende Verletzung eines beliebigen Menschenrechtes im Falle von Abschiebungen und Auslieferungen die Entstehung eines völkerrechtlichen Deliktes bewirken können. Selbst eingedenk der Tatsache, dass im Falle einschränkbarer Garantien von einer Verletzung nur ausgegangen werden kann, falls eine Auslieferung entweder nicht im öffentlichen Interesse lag oder nicht verhältnismässig war, überdehnt dieses Resultat wohl den Umfang menschenrechtlicher Verpflichtungen 379• Dies ergibt sich offenkundig arn Beispiel von vertraglich geschützten Garantien, wie z. B. dem Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher im Strafverfahren. Aber selbst wenn der Grundgedanke grundsätzlich einleuchtend erscheint, dass eine Menschenrechtsverletzung begangen durch Unterlassen der Schutzgewährung weniger streng zu beurteilen ist, als eine direkte Verletzung desselben Menschenrechts durch staatliche Organe, lässt sich eine solche Ungleichbewertung unter exklusiver Abstützung auf die Theorie der Schutzpflichten dogmatisch nur schwierig 378 Diese Methode besitzt aber genau aus diesem Grund den grossen Vorteil gegenüber dem Modell "Schutzpflichten", dass die drohende Verletzung im Heimatstaat nicht genau zu spezifizieren ist. 379 Diese Einstufung findet jedoch ihre Berechtigung nur in zwischenstaatlichen Konstellationen. Gibt der Staat in rein innerstaatlichen Sachverhalten seinen Gewahrsam auf, sind keine Gründe ersichtlich, welche die Entstehung staatlicher Schutzpflichten nur auf eine bestimmte Auswahl von Menschenrechten zu beschränken vermögen. Vielmehr besteht diese Verpflichtung des Staates in solchen Fällen integral bezüglich aller Garantien, welche durch Private verletzt werden können (vgl. dazu oben Abschn. 5. c) bb).

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

begründen. Zwar existieren verschiedene Parameter- wie z. B. die Notstandsfestigkeit380 resp. die absolute Geltung oder Schrankenlosigkeit381 bestimmter Garantien, die gewohnheitsrechtliche Verankerung oder gar die ius cogens Qualität eines Rechtes382 und Rechte, deren Verletzung eine individuelle Verantwortlichkeit auslösen383 resp. als Verbrechen des Staates gelten384 - die zu einer Unterscheidung zwischen auslieferungs- resp. abschiebungshindernden Menschenrechten und solchen, denen diese Schrankenfunktion nicht beigemessen werden kann, herangezogen werden könnten. Keines dieser Unterscheidungskriterien vermag jedoch in diesem Zusammenhang überzeugend zu erklären, weshalb gewissen Rechten diese Qualität zukommen soll und anderen nicht. Trotzdem zeigt ein Vergleich dieser Hierarchiernassstäbe deutliche Tendenzen, wonach eine abschiebungshindernde Schutzpflicht sich auch in diesen transnationalen Sachverhalten zumindest aus allen notstandsfesten Garantien inklusive aus den zentralen Verfahrensrechten und aus den grundlegenden Schichten des Rechts auf Freiheit und Sicherheit ergeben muss. Zusätzlich spricht Vieles dafür, diesen Schutz auch bei weiteren Garantien, deren Verletzung sowohl in den meisten Staaten als auch gernäss völkerrechtlichen Strafkatalogen eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich zieht, wie z. B. der Verletzung von zentralen Bereichen von Art. 8 EMRK resp. Art. 17 Pakt II sowie bei Verletzungen von zentralen Bereichen der Subsistenzrechte385 , zu gewährleisten. Denn kein Staat kann von seinen Organen in Form der Mithilfe bei Ausschaffungen und Abschiebungen einen Tatbeitrag zu einem Erfolg in einem Drittstaat verlangen, der- würde er durch diese Organe selbständig herbeigeführt- für diese strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Dieses Resultat unterscheidet sich wiederum wohl nur wenig von einem solchen, das sich unter Anwendung der Theorie der Unmenschlichkeit der Abschiebung selbst erreichen liesse. Als Fazit kann somit festgehalten werden, dass in solchen grenzüberschreitenden Sachverhalten -dem praktisch relevantesten Fall von Schutzpflichten bei Aufgabe des staatlichen Gewahrsams -die Verpflichtung des Aufenthaltsstaates grundsätzlich aus allen den Vertragsstaat notstandsfest vertraglich verpflichtenden Garantien386 sowie aus grundlegenden Verfahrensgarantien und zentralen Bereichen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit abgeleitet werden kann. Das Unterlassen einer Schutzgewährung, das eine faktische Verletzung einer anderen materiellen Garantie Siehe dazu Kap.5, II. l.e). Dazu ausführlich Kap. 4, III. J82 Zu diesen Kategorien siehe Kap. 1, III. 2. und 4. 313 Siehe vorne Kap. I, III.4.c). 384 Vgl. Kap. I, III.4.b). m Da sowohl der Pakt li wie die EMRK keine solchen Garantien enthalten und die Überwachungsorgane der Sozialpakte nicht mittels einer Individualbeschwerde angerufen werden köMen, lässt sich in solchen Fällen eine Subsumption unter Art. 3 EMRK resp. Art. 7 Pakt II nicht vermeiden. 316 D. h. konkret in dem für einen europäischen Staat wahrscheinlichen Fall einer kumulativen Ratifizierung der EMRK und des Pakts li die ausführlichere Liste notstandsfester Rechte des Art. 4 Pakt li. 380 Jll

IV. Schutzpflichten

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zur Folge hat, kann hingegen kaum zur Entstehung einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit führen. cc) Bei Fehlen eines staatlichen Gewahrsams Die gegenwärtig noch schmale Praxis internationaler Menschenrechtsorgane hat bisher eine Pflicht des Staates zur Ergreifung von Massnahmen zum Schutz vor drohenden Übergriffen Privater zugunsten von Personen, die nicht unter Gewahrsam des Staates stehen, im Falle folgender Garantien bejahtl87 : Recht auf Leben 388, Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung389; Recht auf Freiheit und Sicherheitl90; Recht auf Schutz des Privatlebens vor Drohungen und Übergriffen Dritter391 sowie Recht auf Versammlungsfreiheit, d. h. im konkreten Fall das Recht auf polizeilichen Schutz Demonstrierender vor einer Gegendemonstration392. Zwei Kriterien scheinen für diese Auswahl ausschlaggebend zu sein: • Das erste betrifft strafrechtlich relevante Eingriffe von privater Seite in die Bewegungsfreiheit und die physische und psychische Integrität. Insofern trifft sich die Pflicht zur Gewährung von Schutz in einer konkreten Gefahrensituation und einer Verpflichtung zum Erlass einer strafrechtlichen Gesetzgebung 393 in diesem Punkt. Droht deshalb die Gefahr der Verletzung eines Rechts, dessen Verletzung als strafrechtliches Delikt gilt, verletzt staatliches Unterlassen, falls die zurnutbare Sorgfalt verletzt wurde, die entsprechenden bedrohten Garantien. • Zweitens erscheint staatlicher Schutz insbesondere dann notwendig, wenn Dritte die Ausübung demokratischer Rechte resp. private Meinungsäusserungen auf öffentlichem Grund behindern oder verunmöglichen. Die Rechtsprechung hat sich bisher erst zum Problem des Schutzes von Demonstrationen vor Gegendemonstrationen geäussert, doch scheinen die gleichen Voraussetzungen z. B. bei privater Behinderung der Stimmabgabe, bei privater Verunmöglichung einer anderen meinungsbildenden Versammlung oder einer Verteilung von meinungsbildenden Druckerzeugnissen gegeben zu sein 394• Dieser Schluss drängt sich auch deshalb Siehe dazu auch Claplulm 178 ff und Forde 271 ff. EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, paras. 115 ff. 389 EGMR, A. v. United Kingdomjudgement of23 September 1998, Reports 1998-VI, paras.19ff. 390 Ausschuss für Menschenrechte, Communications 195/1985, Delgado Paez v. Columbia, para. 5.5, und 468/1991, Balulmonde v. Equatorial Guinea, para. 9.2 (siehe dazu auch unten Anm.408f), sowie IAGMR, Godinez Cruz v. Honduras, Series C Vol.5, paras.163 und 196. 391 EGMR, Osman v. United Kingdom judgement of 28 October 1998, Reports 1998-VIII, paras.124ff. 392 EGMR, Plattform ,,Ärzte für das Leben" v. Austria, Series A Vol. 139, paras. 24 ff. 393 Siehe dazu oben Abschn.3. c)cc)(2). 394 So wohl auch Harris/0' Boyle/Warbrick 383. 387 381

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Kap. 3: Verpflichtungsarten

auf, da andernfalls private Gruppierungen die Ausübung dieser demokratischen Partizipationsrechte praktisch vollständig verhindern könnten 395 • dd) Bei kurativen Schutzpflichten

Was die staatlichen Pflichten im Nachgang eines Übergriffs auf menschenrechtlieh geschützte Bereiche durch eine private Urheberschaft betrifft, lassen sich wiederum gernäss der Rechtsprechung zwei hauptsächliche Kategorien bilden. • Untersuchungspflicht Ohne Beschränkung hinsichtlich der in Frage stehenden Garantie anerkennt- allerdings in einem obiter dieturn und deshalb nicht mittels einer konstanten Rechtsprechung zu belegen - einzig der IAGMR eine staatliche Untersuchungspflicht 396• Von einer Beschränkung dieser Pflicht auf private Missbräuche, die auch von strafrechtlicher Relevanz sind resp. die zumindest als "gross violations" bezeichnet werden können gehen hingegen der Menschenrechtsausschuss und die EMRK-Organe aus 397• • Ermöglichung von Rechtsschutz gegen private Übergriffe: Zusätzlich kommt Vertragsstaaten menschenrechtlicher Instrumente eine Pflicht zu, zwar nicht wie im Falle von staatlichen Übergriffen in jedem Fall, so aber doch bei privaten Übergriffen in das Recht auf Familienleben398 und auf Privatsphäre399 sowie in das Recht auf (negative) Vereinigungsfreiheit400, Rechtsschutz zur Verfügung zu s~ellen. Mit anderen Worten stehen Vertragsstaaten unter einer spezifischen Pflicht, Garantien, deren Verwirklichung in besonderem Mass durch das Verhalten von Privatpersonen bedroht erscheinen, durch eine Zurverfügungstellung entsprechender Beschwerdemöglickeiten zu schützen. f) Relevanz persönlicher Eigenschaften des Opfers?

Eine letzter Anhaltspunkt zur Bestimmung des Bestehens staatlicher Schutzpflichten bilden endlich persönliche Eigenschaften des Opfers privater Menschenrechtsmissbräuche. Wohl als Korrektiv zur Tatsache, dass gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen wie Kinder, aber auch Behinderte und ältere Personen generell und noch vermehrt während Betreuungssituationen nur vergleichsweise einm Frowein!Peukert4ll.

Vgl. oben Anm.258. Siehe oben Abschn.3.c)cc)(3). 398 EGMR, Keegan v./reland, Series A Vol. 290, paras. 46ff; Hokkanen v. Finland, Series A Vol. 299, paras. 55 ff; Velosa Barreto v. Portugal, Series A Vol. 334, paras. 21 ff. 399 EGMR, X. and Y. v. the Nether/ands, Series A Vol. 91, paras. 21 ff; Stubbings and Others v. United Kingdom judgement of 22 October 1996, Reports 1996-IV, paras. 61 f.