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German Pages 628 [639] Year 2018
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von Albrecht Beutel 185
Christopher König
Zwischen Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung Arthur Bonus (1864–1941) als religiöser Schriftsteller im wilhelminischen Kaiserreich
Mohr Siebeck
Christopher König, geboren 1975; 1994–2002 Studium der Ev. Theologie in Bonn und Prag; 2003–06 Research Assistent („Assistent in Opleiding“) für Kirchengeschichte an der PThU Kampen, Niederlande; 2007–09 Vikariat; 2010–15 Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland; seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Reformations geschichte der Evang.-theol. Fakultät der Ruhr-Universität-Bochum. orcid.org/0000-0003-4237-4775
ISBN 978-3-16-156069-9 / eISBN 978-3-16-156070-5 DOI 10.1628/978-3-16-156070-5 ISSN 0340-6741 / eISSN 2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfälti gung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Syste men. Das Buch wurde von Gulde Druck aus der Times New Roman gesetzt, auf alterungsbe ständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Danksagung Dieses Buch fragt nach dem Ort des Nationalen in den Religions- und Kultur debatten des liberalen Protestantismus der Jahrhundertwende. Es handelt zu dem von einem Pfarrer und religiösen Schriftsteller, Arthur Bonus, der um 1900 zum Sprachgeber einer scharfen Kritik an der kirchlichen Frömmigkeit und der bürgerlichen Kultur des Wilhelminismus wurde. Und schließlich versucht die ses Buch, von seinem Protagonisten ausgehend ein religiöses Kommunikations feld zu erfassen, das seit der Jahrhundertwende einem breiten Spektrum von Entwürfen, den kirchlichen Protestantismus in eine freie, existentielle Fröm migkeit umzuformen, einen Raum bot. Entstanden ist dieses Buch als Dissertation unter dem Titel „Germanisierung des Christentums. Arthur Bonus im Spannungsfeld von Kulturprotestantismus und völkischer Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich“ an der Protestanti schen Theologischen Fakultät in den Niederlanden. Sie wurde im Herbst 2014 in Groningen verteidigt und wird hier in einer teilweise gekürzten Fassung vor gelegt. Als wissenschaftliche Arbeit war dieses Buch auf Unterstützung angewiesen. Mit Anregungen und Diskussionen wurde es von Hans-Martin Kirn begleitet, dem ich für seine vielfältige, vertrauensvolle und freundschaftliche Begleitung durch Höhen und Tiefen dankbar bin. Wichtige Hinweise habe ich von meinen Gutachtern erhalten: Wolfgang Breul, Martin H. Jung, Gert van Klinken, Markus Matthias und Arie L. Molendijk. Als Quellengrundlage greift diese Studie auf Nachlässe und Zeitschriften zu rück. Ohne die Hilfe zahlreicher Archiv- und Bibliotheksmitarbeiter und -mit arbeiterinnen in Berlin, Bonn, Göttingen, Kiel, Koblenz und Marburg wäre das nicht möglich gewesen. Hervorzuheben ist besonders das Landeskirchenarchiv in Eisenach, das mich in mehreren Arbeitsphasen beherbergt hat. Auch in der letzten Entstehungsphase hat dieses Buch Unterstützung erhal ten: Von Albrecht Beutel, der die Aufnahme der Studie in die Reihe „Beiträge zur historischen Theologie“ befürwortet hat, von Elena Müller vom Verlag Mohr Siebeck und von Hans Cymorek, der eine detailreiche und gründliche Lektorierung durchgeführt hat. Die Evangelische Kirche im Rheinland und die
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Danksagung
Evangelische Kirche in Mitteldeutschland haben die Entstehung mit einem namhaften Zuschuss zu den Druckkosten gefördert. Erste aufmerksame Leser hat diese Arbeit in Gershom M. Ratheiser, Cornelia Brinkmann-Kück und Michael Brinkmann gefunden. Ihnen allen möchte ich danken. Jeden einzelnen Schritt dieses Buches hat meine Familie begleitet. Ihre stän dige Ermutigung, Geduld und Rückendeckung hat mir sehr geholfen. Besonders meiner Frau ist hier zu danken, sie weiß wofür. Trier, im Herbst 2017
Christopher König
Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Erstes Kapitel: Einleitung. Fragestellung, Forschungsgeschichte, Quellen und Aufbau der Arbeit . . . . . 1 I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch: Arthur Bonus zwischen Reformbewegung und Nationalsozialismus . . . . . . . 1 1. Religion deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Forschungsstand und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3. Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 II. „Interferenzen“. Kulturprotestantismus und Völkische Bewegung: Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 26 1. Zum Begriff des „Völkischen“ im Kaiserreich . . . . . . . . . . 26 2. Deutschchristliche Synkretismen im Kaiserreich . . . . . . . . 33 3. Kulturprotestantismus und liberale Theologie . . . . . . . . . . 42 a) Zum Begriff „Kulturprotestantismus“ . . . . . . . . . . . . 42 b) Kulturprotestantismus und Nation . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Deutschtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. „Interferenzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Im „neuen Religionsbetrieb“: Zur Bedeutung von Zeitschriften im religiösen Diskurs der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . 64
Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“. Religiöse Reform zwischen modernem Protestantismus und Kunstwart-Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 I. „Unverstandenes Sehnen des Herzens, wie bist du stark!“ Prägungen in der Studienzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Moderne Theologie und christliche Weltgestaltung: Arthur Bonus im Kreis um die Christliche Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Die Christliche Welt als Artikulationsort einer „modernen Theologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Kierkegaard, Egidy, Schrempf und der Apostolikumstreit von 1892 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
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III. „Von Stöcker zu Naumann“: Die soziale Frage und der Transformationsbedarf des Christentums . . . . . . . . . . . . . . 110 1. „Sozialismus des inneren Lebens“. Sozialprotestantische Aufbrüche zwischen Christlicher Welt und Naumann-Kreis . . 112 a) Christlich-soziale Anfänge ab 1890 . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Existentialisierung der christlichen Liebe: Christlich-soziale Konkretionen bei Bonus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 c) Christliche Sozialreform als nationale Aufbruchsbewegung . 130 2. Eine Vereinigung „deutscheren Glaubens“: Zur Politisierung in der Gründungsphase des Nationalsozialen Vereins . . . . . . 133 a) Die Krise der evangelisch-sozialen Bewegung . . . . . . . . 133 b) Der Nationalsoziale Verein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 IV. „Eine neue Art Glaubenslehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. „Subjektivismus“: Theologische Lösungsversuche über den modernen Protestantismus hinaus . . . . . . . . . . . . . . 157 3. „Ein Wort zur Germanisierung des Christentums“. Religion als nationalkulturelle Aufbruchsbewegung . . . . . . . . . . . . . 160 V. Im „Kampf um die Weltanschauung“: Nationale Kulturreform und Religion im Kunstwart und im Eugen Diederichs Verlag . . . . . . 167 1. „Kulturarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Der Kunstwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3. Der Verlag Eugen Diederichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4. Der Weg aus dem Pfarramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Drittes Kapitel: Deutscher Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Bonus als „Nichttheologe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1. „Glauben ist Schaffen“: Theologiekritik und die religiöse Überwindung der Verstandeskultur . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. „Arbeiten und nicht verzweifeln“: Der religiöse Weg der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. „In Fesseln und Banden“: Glauben als Willenskraft . . . . . . . 225 4. „Erhöhung des ganzen Menschen“. Zur Interpretation der Entwicklungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Das „Christentum der Zukunft“. Die heroische Umwertung der Jesusüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6. Der „neue Mythos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 7. Nietzsche und Lagarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
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III. Nationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. „Deutsch sein […] bis in den Seelengrund“ – Religion als Vertiefung der Nationalkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Der „Deutsche Glaube“ von 1897 als antikonservative Programmschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 3. Volksreligion und Volksgemüt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. „Island“ und „Deutsche Mystik“: Verortungen der Religion zwischen Diederichs-Universum und nationaler Kulturbewegung 293 a) „Ein Atmen und Hauchen“: Märchen und die deutsche Volksliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Island und die „Stimmung der Saga“ . . . . . . . . . . . . . 299 c) Meister Eckhart und die „Deutsche Mystik“ . . . . . . . . . 307
Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“ Deutsches Christentum und die ‚Moderne Theologie‘ . . . . . 311 I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 311 II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“: Die Germanisierungsthese in kulturprotestantischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . 333 III. Die „religiöse Krisis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1. „Jenseits der Kultur“: Der Abschied von der modernen Theologie 351 2. Jatho, Traub und die „Geheimreligion der Gebildeten“ . . . . . 362 3. Die Volkskirche: Substrat für den Kulturstaat . . . . . . . . . . 370 4. Gogarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 5. Ein deutsches „Kulturprogramm“: Fichte . . . . . . . . . . . . 386
Fünftes Kapitel: „…wir müssten nur Ideale sehen“. Religion, Nation und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 I. Deutsch bleiben: Kulturnationalismus als Reformforderung . . . . 397 II. „Abwehr der Phrase“: Die reformnationalistische Position in den Kolonialdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. „Deutscher Nationalismus“: Gegen die Tägliche Rundschau . . 409 2. Burenbegeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 III. „Assimilation“: Zur Rolle des Judentums . . . . . . . . . . . . . . 419 IV. Die „Kurzsichtigkeit der Hetzpolitik“. Zur Behandlung der nationalen Minderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 V. Kulturpolitik: ein nationales Programm für den Liberalismus . . . 429 1. Der Liberalismus im Betkämmerlein: Für eine parlamentarische Stärkung des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 2. Der Liberalismus als „Weichtierbildung“: Stärkung durch Religion 432
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VI. Völkisch, Alldeutsch, Pangermanisch? Bonusʼ Selbsteinordnung im radikalnationalistischen Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
Sechstes Kapitel: „Im Kampf der Moralen“. Der Erste Weltkrieg als Kulturkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 447 I. Kriegsbegeisterung und Reformwillen: Die Anfänge des Weltkrieges 447 1. Das „Augusterlebnis“. Reaktionen zu Beginn des Weltkrieges . 447 2. Der „Kulturkrieg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 3. Der deutsche „Weltgedanke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 II. „Religion als Wille“: Der Krieg als religiöses Ereignis . . . . . . . 466 1. „Bankrott des Christentums“. Der Krieg als religiöse Krise . . 467 2. Die „neue Frömmigkeit“ im Krieg: Bonus’ Interpretation des Kriegsgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 3. Reaktionen auf Bonus’ Kriegstheologie . . . . . . . . . . . . . 478 III. „Sachliche Staatsgestaltung“ und nationaler Sozialismus: Reformvorschläge am Ende des Krieges . . . . . . . . . . . . . . 484 IV. Von der Revolution zur Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 1. Für einen „nationalen Sozialismus“: Die Revolution als politischer Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 2. „Zur religiösen Krise“. Zwischen Gogarten und Religiösem Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Siebtes Kapitel: Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick . 525 I. „Großmäuligkeit“. Zur politischen Positionierung 1932/33 . . . . . 531 II. Verbindungen zu deutsch-christlichen und deutschgläubige Gruppierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Achtes Kapitel: Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Anhang: Kurzlebenslauf Arthur Bonus . . . . . . . . . . . . . . 555 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 I. Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 II. Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 III. Bibliographie Arthur Bonus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 IV. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
Erstes Kapitel
Einleitung. Fragestellung, Forschungsgeschichte, Quellen und Aufbau der Arbeit I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch: Arthur Bonus zwischen Reformbewegung und Nationalsozialismus 1. Religion deutsch „Wir wollen unsere Religion deutsch.“1 Diese Forderung stellte einen Hauptge danken im Werk des evangelischen Pfarrers und religiösen Publizisten Arthur Bonus (21. Januar 1864–6. April 1941) dar, der seit Mitte der 1890er Jahre unter der Formel „Germanisierung des Christentums“ für eine weitreichende Natio nalisierung des Protestantismus warb. Im Zeitalter des Imperialismus diagnosti zierte er sowohl eine Krise des Christentums wie auch ein neues politisches Aufgabengebiet, dem er eine religiöse Unterfütterung zueignen wollte: „Gott trägt die Volksfarbe.“2 Damit gehört er zu den Schlüsselfiguren, an denen sich der Einfluss nationalistischer Denkmuster insbesondere im Kulturprotestantis mus vor dem Ersten Weltkrieg ablesen lässt. Bonus lässt sich einem intellektuellen Feld zurechnen, das sich um die Jahr hundertwende am Rand des etablierten Protestantismus bildete und hier für eine Legierung aus Religion und Nationalismus eintrat. Bereits in Armin Mohlers einflussreicher Bibliographie zur „konservativen Revolution“ zwi schen Weimarer Republik und Nationalsozialismus wird Bonus den „deutsch gläubigen Leitfiguren“ zugerechnet und als einflussreicher Vordenker völkisch- religiöser Vorstellungen dargestellt.3 Sein Werk steht paradigmatisch für den „Übergang vom christlichen Liberalismus zum Deutschgläubigen“ und scheint die hohe Offenheit für nationalistische Einstellungen unter den protestantischen Bildungseliten und im Kulturprotestantismus zu dokumentieren.4 1
A rthur Bonus: Zur Germanisierung, Jena 1911, 102. Ders.: Individualisirung und Nationalisirung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 148. 3 Vgl. A rmin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Graz 2005, 429 f. (die erste Auflage erschien 1950). 4 Ebd., vgl. Uwe P uschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. 2
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Erstes Kapitel: Einleitung
Bereits in älteren Studien zum Antisemitismus und zur Genese des völki schen Nationalismus im Kaiserreich etwa von Uriel Tal oder George L. Mosse ist auf die weltanschaulichen Ambivalenzen im kulturprotestantischen Bürger tum hingewiesen worden, das einerseits eine hohe Sensibilität für die sozialen und gesellschaftlichen Bruchlinien der wilhelminischen Gesellschaft zeigte und hier ein hochdifferenziertes politisches Gestaltungspotential erkennen ließ, an dererseits mitunter den weltanschaulichen Synthesen der Jahrhundertwende offenstand und von den nationalistischen Geschichtsmythen der modernen Massengesellschaft erreicht wurde.5 Für die französische Historikerin Rita Thalmann stellte sich der Kulturprotestantismus als „schwer definierbarer Komplex“ dar, dem intellektuelle Führungsgestalten des liberalen Bürgertums wie Ernst Troeltsch oder Friedrich Naumann ebenso wie die bei ihr als deutsch christlich bezeichneten Pastoren Gustav Frenssen oder Arthur Bonus angehö ren.6 Auch die neueren begriffs- und intellektuellengeschichtlichen Studien von Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger verweisen auf Bonus als glei chermaßen symptomatischen wie exzentrischen Vertreter einer religiösen und Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, 382; Gangolf Hübinger: Kulturprotestantis mus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, 249; Ders.: Sakralisierung der Nation und Formen des Natio nalismus im deutschen Protestantismus, in: Gerd K rumeich /H artmut Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 233–247, 243. Eine einlinige Kontinuitätsthese vom „liberal“ oder „cultural Protestantism“ zum Natio nalsozialismus wurde zuletzt von Richard Steigmann-Gall starkgemacht (The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity, 1919–1945, New York 2003). In dieser Arbeit wurde weder hinreichend zwischen den unterschiedlichen sozialen und religiösen Ausprägungen liberaler Theologien seit dem Wilhelminismus differenziert noch die hochkomplexe religiöse Ge sprächslage zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus berücksichtigt, in der sich schon bei Einschränkung auf die protestantischen Milieus eine Vielzahl an Ansätzen, Verbänden und Synkretismen finden lassen, die einfache ideengeschichtliche Ableitungen erschweren. Zu den unterschiedlichen politischen und kirchenpolitischen Dispositionen libe ralprotestantischer Pfarrer nach 1933 vgl. eindrücklich die Berliner Fallstudien bei M anfred Gailus: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durch dringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001, 628 f. sowie die kritische Diskussion der These durch Doris Bergen, Manfred Gailus, Richard J. Evans und andere im Journal of Contemporary History 42/1 (2007), 5–78. 5 Uriel Tal: Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich, 1870–1914, Ithaca 1975; George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Gott. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein 1979. 6 R ita Thalmann: Die Schwäche des Kulturprotestantismus bei der Bekämpfung des An tisemitismus, in: Kurt Nowak /Gérard R aulet (Hg.): Protestantismus und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Frankfurt 1994, 147–165, 147 f.; ausführlich dies., Protestantisme et nationalisme en Allemagne. De 1900 à 1945, Paris 1976.
I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch
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kulturellen Krise, der sich einflussreich in die kulturprotestantischen Diskurse einschalten konnte.7 Als einer der „ersten Apologeten eines germanisierten Christentums“ neben Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain habe Bonus die Aufschließung des kirchlichen Protestantismus für einen nationalen Glauben vorbereitet.8 Entsprechend wird er häufig als gedanklicher Konstruk teur eines völkisch transformierten Christentums im wilhelminischen Kaiser reich wahrgenommen, dessen Werk seine Wirkung im Nationalsozialismus und bei den Deutschen Christen entfalten konnte.9 Auch wenn die neuere Forschung ein insgesamt differenziertes Bild des Kul turprotestantismus gezeichnet hat, erscheinen die weltanschaulichen Auseinan dersetzungen insbesondere an seinem rechten Rand noch eher unterbestimmt. Die Linienziehung von Bonus zu den Deutschen Christen ist nicht unberechtigt. Sie ist maßgeblich durch die deutsch-christlichen Anknüpfungsversuche ge prägt, die sich auf das Werk von Bonus und auf seine Germanisierungsforde rung zurückbezogen und ihn zum „Bahnbrecher der völkischen Ideologie“ auf protestantischem Boden stilisierten.10 In diese Richtung weist etwa, dass Bonus 7
Friedrich Wilhelm Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ‚Verlagsreli gion‘ des Eugen Diederichs Verlags, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moder ner Geister, München 1996, 243–298, 254; ders.: Alter Mensch und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900, in: ders.: Die Wiederkehr der Götter, München 2004, 133– 178, 146.177; Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, 249. 8 Uwe P uschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, 133; vgl. ders.: Deutschchristentum, 109; Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, 98.135 (Breuer schreibt Bonus allerdings miss verständlich eine „nationalisierte Deutung der Christmythe“ zu); K laus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt 1970, 195; R ainer Flasche: Vom Deutschen Kaiserreich zum Dritten Reich. Nationalreligiöse Bewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, in: Zeitschrift für Religionswissen schaft 2 (1993), 28–49. 9 K laus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt 1970, 195. 10 Als Grundlage zu Bonus’ Leben und Werk wird immer wieder eine biographische Ar beit herangezogen, die ihn aus der Selbstsicht der radikalen Deutschen Christen als völkisch christlichen Vorreiter des Nationalsozialismus darstellt. Aufgrund von Bonus’ eigenen Auf zeichnungen sowie einer selektiven Auswahl einzelner Werke und Schriftstücke hatte der Mitarbeiter im Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Ein flusses auf das deutsche kirchliche Leben“, Herbert von Hintzenstern, 1942 einen Nachruf verfasst (Arthur Bonus. Weg, Wille und Werk, in: Volk im Werden 10 (1942/43), 1–12, hier 1), der Bonus für die eigene Ideologie reklamierte und ihn in engen Zusammenhang mit den massiv antisemitischen Vorstellungen der Thüringer Kirchenbewegung stellte. Vgl. auch ders.: Abschied von Artur Bonus, in: Die Nationalkirche 10 (1941) 100; Rudolf Grabs, Arthur Bonus, in: Die Nationalkirche 10 (1941), 108; Paul Jaeger: In memoriam Artur Bonus, in: Deutsches Christentum 6 (1941), 3; ders.: Arthur Bonus, ein Vorkämpfer Deutschen Christen
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Erstes Kapitel: Einleitung
1939 zum Ehrenmitglied der Thüringer Deutschen Christen erklärt wurde. Doch auch andere Beobachter der religiösen Situation nach 1933 sahen in ihm einen Denker, der auf einen völkisch-germanischen Glauben hingearbeitet hatte.11 Dass hier jedoch zu differenzieren ist, belegt etwa der Einspruch von Wilhelm Schubring, der als Generalsekretär des Deutschen Protestantenvereins und kulturprotestantischer Befürworter der Bekennenden Kirche die Berechti gung der deutsch-christlichen Bezugnahme auf das Werk von Bonus bestritt.12 Auch im Kreis um die liberalprotestantische Zeitschrift Die Christliche Welt wurde einer linearen Entwicklung „von Arthur Bonus zu Alfred Rosenberg“ widersprochen.13 Trotz dieser wirkungsgeschichtlichen Zuschreibungen gehört Bonus zu den eher unbekannten Gestalten der neueren Theologiegeschichte. In der Topogra phie der völkischen Bewegung des Kaiserreiches ist sein vielschichtiges und ausuferndes Werk nur beiläufig und selektiv wahrgenommen worden. Während Bonus dem heutigen Fachpublikum durch Einträge in Handbüchern und Spe zialstudien und überwiegend aufgrund des Schlagwortes „Germanisierung des Christentums“ bekannt ist, galt er seinen Zeitgenossen als eine markante, aber auch umstrittene Gestalt am Rand des etablierten Protestantismus. Dass seinen Thesen in der zeitgenössischen theologischen Debatte Relevanz beigemessen wurde, belegt das Handwörterbuch Die Religion in Geschichte und Gegenwart, das Bonus einen Eintrag widmete und ihn als einen Kirchenkritiker würdigte, tums. Zu seinem 76. Geburtstag (21. Januar), in: Deutsches Christentum 5 (1940), 3–4; K arl König: Zur Germanisierung des Christentums. Arthur Bonus und sein Lebenswerk, in: Deut sches Christentum 4 (1939), 1–2. Zum Eisenacher Institut und der hier vertretenen Christentumsinterpretation in ihren ideologischen Verflechtungen vgl. Susannah Heschel: The Aryan Jesus, Princeton 2008; dies.: Deutsche Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Eisenacher ‚Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“, Frankfurt/Main 1999, 147–167; Peter v.d. Osten-Sacken: Das mißbrauchte Evangelium, Berlin 2002; Oliver A rnhold: „Entjudung“ – Kirche im Abgrund, 2 Bde., Berlin 2010. 11 Erwin Rudert: Das völkisch-germanische Christusbild, Berlin 1934, 2; Johannes Witte: Völkisches Neuheidentum, Berlin 1934, 12; in der Auseinandersetzung mit Alfred Rosen berg: E.W. Schmidt: Christliche Liebe und nationale Ehre, in: CW 48 (1934), 531; Georg Witzmann: Rosenbergs ‚Mythus des 20. Jahrhunderts‘, in: CW 49 (1935), 26. 12 Jörg M etzinger: Art. Schubring, Wilhelm, in: BBKL 9 (1995), 1042–1044. 13 Fritz Burbach: ‚Germanisierung des Christentums‘ (Von Arthur Bonus zu Alfred Rosenberg). Thesen zu dem am 3. Oktober in Friedrichroda auf der Versammlung der ‚Freun de der Christlichen Welt‘ gehaltenen Vortrag, in: CW 47 (1933), 1128–1133; vgl. Johannes R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 432–434. Zu den Auseinandersetzungen, die sich auf die kirchlichen Positionierungskämpfe gegenüber den weltanschaulichen Ansprü chen des Nationalsozialismus bezogen, s. u.
I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch
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dem es um eine grundsätzliche Erneuerung des Christentums zu tun war.14 Als Grenzgänger, dessen hauptsächliches Publikationsgebiet außerhalb der akade mischen Theologieproduktion überwiegend in Zeitschriften lag, wurde er von manchen als religiöser Erneuerer gefeiert, der den Protestantismus für die Mo derne öffnete, von anderen als liberalprotestantischer Dissident mit zweifelhaf ten religiösen Ansichten abgelehnt. Die kritische Einordnung als „stramme[r] Nationalist“ stellte jedoch nur selten eine Rezeptionsblockade dar.15 Vielmehr zählte er etwa für den Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch zu den Intellektuellen, die in der Krisenstimmung der Jahrhundertwende „die von der Lage geforderte Neubildung der Religion“ propagierten und in einer theologi schen Umbruchsphase als radikale Kritiker von Kirche und akademischer Theologie hervortraten.16 Er ließ sich als ein „deutscher Kierkegaard“ wahrneh men, dessen Werk gleichsam die Quintessenz der Moderne darstellte.17 Seit der Jahrhundertwende gehörte Bonus zu den wahrnehmbaren Intellek tuellen, die sich der Beschreibung kultureller, religiöser und sozialer Defizite widmeten und publizistisch eine deutsche Kultur in der Moderne einforderten. Dabei blieb er eng mit der von Martin Rade herausgegebenen Zeitschrift Die Christliche Welt verbunden, die für ihn zwischen 1890 und 1939 die wichtigste Publikationsplattform bildete. Diese Zeitschrift stellte als Knotenpunkt der liberalprotestantischen Intellektuellennetzwerke den prägenden Sammlungsort für die theologischen und kirchenpolitischen Erneuerungsbestrebungen, aber auch für kulturkritische Stimmungen im Kulturprotestantismus zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik dar. Ohne sich von seinen protestantischen Wurzeln zu lösen, fand Bonus seit der Jahrhundertwende eine weitere Wir kungsstätte im religiös-weltanschaulichen Programm des Verlags von Eugen Diederichs, der ihm eine literarische und ästhetische Beraterfunktion beimaß. 14 H einrich M eyer-Benfey: Art. Arthur Bonus, in: RGG1 1 (1909), 1302–1305, erneut in Überarbeitung in: RGG2 1 (1927), 1198–1199; zur ebenso aufgenommenen Germanisierungs these s. die Einträge: Paul Jaeger: Art. Germanisierung des Christentums, in: RGG1 2 (1910), 1336–1339, überarbeitet in: RGG2 2 (1928), 1069–1071. Über die theologiepolitischen und herausgeberischen Hintergründe der RGG als steuerndes Referenzwerk der akademischen Theologien um die Jahrhundertwende informiert Ruth Conrad: Lexikonpolitik. Die erste Auflage der RGG im Horizont protestantischer Lexikographie, Berlin 2006. 15 Notizen, in: Monatsschrift für die kirchliche Praxis 23/24 (1901), 227. 16 Troeltsch: in: GS Bd. 2, 816, Anm. 95. 17 Diese Charakterisierung übermittelte Eugen Diederichs brieflich an Arthur Bonus (Brief Diederichs an Bonus, 1.9.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_004], vgl. Eugen Die derichs. Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, Jena 1926 [im folgenden abgekürzt: LuW], 59). Diederichs zitierte dabei aus einer Rezension von Heinrich Hart, die ich nicht verifizieren konnte. Vgl. aber auch Rudolf Günther: Arthur Bonus’ Schriften, in: ZThK 11 (1901), 214–229, 216.
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Erstes Kapitel: Einleitung
In diesem von Max Weber als „Warenhaus für Weltanschauungen“ karikierten Kulturverlag wurde er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Theoretiker einer religiösen Umbruchssituation, der er grundlegende Bedeutung für die Er neuerung der Gegenwartskultur beimaß. Zugleich schloss er sich dem Kreis um die einflussreiche Kulturzeitschrift Der Kunstwart an, dem führenden Organ einer „ästhetischen Opposition“ gegen die wilhelminische Bürgerlichkeit und einer nationalen Kunst- und Kulturreform, deren Kurs er in der Übergangspha se zwischen Kriegsende, Revolution und demokratischem Neubau 1917–1919 als Redakteur mitsteuerte und in der er die Neuanfänge der Weimarer Republik politisch kommentierte.18 Das Werk von Arthur Bonus, das religiöse, soziale und kulturkritische Reformideen in sich vereinte, konnte um die Jahrhundertwende in der deut schen Öffentlichkeit eine aus heutiger Perpektive erstaunliche Aufmerksamkeit erlangen.19 Vergleiche mit Friedrich Nietzsche oder die Bezeichnung als „deut scher Kulturkämpfer“ deuten auf die hohe Bedeutung hin, die ihm und anderen bisher eher wenig beleuchteten „Religionsintellektuellen“ in der deutschen Öffentlichkeit um 1900 verliehen wurde.20 Die Wahl seiner publizistischen Plattformen und der in seinem Nachlass nachvollziehbare Kommunikationszu sammenhang weisen auf eine enge Vernetzung in das protestantische Bildungs bürgertum und die Reformbewegungen hin. Stellvertretend seien einige Persön lichkeiten benannt, die mit Bonus in Kontakt standen oder sich auf ihn bezogen: Theologen wie Wilhelm Herrmann, Otto Baumgarten, Martin Rade, Adolf Har nack, Julius Kaftan, Ernst Troeltsch, sozialpolitische Reformer wie Friedrich Naumann, Gottfried Traub oder Paul Göhre, Publizisten und Verleger wie Fer dinand Avenarius und Eugen Diederichs. Was brachte ihm solche Aufmerksam keit ein? Es ist das Ziel dieser Studie, Bonus’ Werk in seinen Bezügen zur pro testantischen Theologie, zur völkischen Bewegung und zur bürgerlichen Le bensreform im wilhelminischen Kaiserreich zu rekonstruieren.
18 Zum
Begriff „ästhetische Opposition“ als Sammelbezeichnung für die verschiedenen kulturkritisch-kunstreformerischen Strömungen seit der Jahrhundertwende mit Blick auf den Kunstwart-Kreis s. Bertold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen ‚Ring‘-Kreises 1918–1933, Berlin 1996, 29–33. 19 Graf: Alter Geist und neuer Mensch, 146. 20 Ebd.; die Bewertungen von Bonus sind entnommen: M ax M aurenbrecher: Arthur Bonus, in: Neue Rundschau 25 (1913), 279–282; K arl König: Deutsche Kulturkämpfer. A rthur Bonus, in: Deutsche Kultur 1 (1906/07), 282–286.
I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch
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2. Forschungsstand und Quellen In seiner pionierhaften Studie zur protestantischen Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung im Kaiserreich hatte Rainer Lächele 1996 festgestellt, dass ein „Stand der Forschung“ zu dieser Fragestellung im Grunde nicht existie re.21 Inzwischen hat sich die Forschungssituation zur völkischen Bewegung deutlich verbreitert. In einer Vielzahl von Fallstudien zu völkischen Protagonis ten und Vordenkern, Splittergruppen, Zeitschriften und Vereinigungen sind seit den 1990er Jahren die Ursprünge, die organisatorischen und ideologischen Ver ästelungen sowie die weltanschaulichen Kontroversen innerhalb der hochfrag mentierten völkischen Bewegung von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus erkundet worden.22 Der Resonanzboden für radikal nationalistische Einstellungen mit Bezügen zur völkischen Weltanschauung wird überwiegend in den protestantischen Teilmilieus ausgemacht, die Multi plikatorenfunktion von evangelischen Pfarrern generell als hoch veranschlagt und etwa im Evangelischen Bund oder in der Los-von-Rom-Bewegung verortet, die in der Verbindung von konfessionalistischen Deutungsmustern und protes tantischem Reichsgedanken die Abgrenzung der deutsch-protestantischen Kul tur gegen Rom und die katholischen Bevölkerungsteile durchzusetzen versuch ten und dabei vielfach alldeutsche Anliegen aufgriffen.23
21 Vgl. R ainer Lächele: Protestantismus und völkische Religion im deutschen Kaiser reich, in: Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918 [im folgenden abgekürzt: HzVB], München 1996, 149–163, 149; vgl. auch seine auf breiterer Quellenbasis fußende Studie: Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi: Arthur Bonus – Max Bewer – Julius Bode, in: Stefanie v. Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, 165–183 sowie ders.: ‚Germanisches‘ Christentum und die Protestanten im deutschen Kaiserreich – die Kontroverse um Gustav Frenssens Roman ‚Hilligenlei‘, in: JGNK 93 (1995), 27–46. 22 Als Sammeldarstellungen ist zu verweisen auf: George L. Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Gott. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein 1979; HzVB; Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1997; Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Walther Schmitz/Clemens Vollnhals (Hg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer poli tisierten Kultur, Dresden 2005; Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; Uwe Puschner /Clemens Vollnhals (Hg.): Die völk isch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktge schichte, Göttingen 2012. 23 Vgl. P uschner: Die völkische Bewegung im Kaiserreich; ders.: Strukturmerkmale der völkischen Bewegung (1900–1945), in: Michel Grunewald/ders. (Hg.): Le milieu intellect uel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960), Bern 2003, 445–468; vgl. ders.: Deutschchristentum. Eine völkisch-christliche Weltanschauungsreligion, in: R ichard
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Erstes Kapitel: Einleitung
Dem Werk von Arthur Bonus wurde zunächst Gewicht im Rahmen der älte ren, ideengeschichtlich ausgerichteten Ursachenforschung zum Nationalsozia lismus beigemessen. Verschiedene Arbeiten zum „Kirchenkampf“ verwiesen ohne rezeptionsgeschichtliche Kontextualisierung auf Bonus als Stichwortgeber eines völkischen Christentums und als „Bindeglied in der Ahnenreihe des ‚mystischen Nationalismus‘“ zwischen dem Kaiserreich und den deutschchrist lichen Entwürfen.24 Sein Wirken galt als Hinweis auf die frühe Verflechtung des „nationalprotestantischen Denkens“ mit völkischen Ideen und letztlich anti christlichen Akzenten.25 Die Forderung einer „Germanisierung des Christen tums“ verwies auf die tiefe Verankerung antisemitischer Grundpositionen im Protestantismus schon im Kaiserreich und auf ein triumphalistisches religiöses Sendungsbewusstsein.26 Bonus wurde von der Kirchenkampfforschung Seite an Seite mit Chamberlain und Lagarde gleichsam in ein Triumvirat völkisch-christ licher Vordenker einbezogen, die eine nationalreligiöse Auflösung des Christen tums, einen rassistisch begründeten Antisemitismus und die Idee eines „ari schen Jesus“ für die ihnen nachfolgenden Generationen vorbereiteten.27 Zumeist Faber /Gesine Palmer (Hg.): Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur?, Würz burg 2003, 93–122. 24 Theodor Strohm: Theologie im Schatten politischer Romantik, München 1970, 64; vgl. K arl-Heinz Götte: Die Propaganda der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ und ihre Beurteilung in der deutschen Tagespresse. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich, Münster 1957, 10, Anm. 1; K arl Kupisch: Die deutschen Landeskirchen im 19. und 20. Jahr hundert, Göttingen 1966, 91; Helmuth Baier: Die Deutschen Christen Bayerns im Rahmen des bayrischen Kirchenkampfes, Nürnberg 1968, 4; Friedrich Wilhelm K antzenbach: Poli tischer Protestantismus. Von den Freiheitskriegen bis zur Ära Adenauer, Saarbrücken 1993, 108.119; Gerhard Niemöller: Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kir che zu Barmen, Göttingen 1984, 13. 25 Vgl. Horst Zillessen (Hg.): Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970. 26 Gottfried M aron: Luther und die ‚Germanisierung des Christentums‘. Notizen zu ei ner fast vergessenen These, in: ZKG 94 (1983), 313–337. Eine weitere Traditionserfindung, die unter der Überschrift der „Germanisierung“ fungierte, betraf Forschungen zur Christia nisierung der Germanen in der Spätantike. Arbeiten zwischen 1880 und 1945 interpretierten die spätantike Religionsgeschichte unter der Prämisse, dass sich im Prozeß der Missions bewegung im Übergang zum Mittelalter eine spezifisch germanische Interpretationsform des Christentums ausgebildet habe. Vgl. K nut Schäferdiek: Art. Germanisierung des Christen tums, in: TRE 12 (1984), 521–524; vgl. ders.: Germanisierung des Christentums?, in: Der Evangelische Erzieher 48 (1983), 333–342; Friedrich Wilhelm Graf: Art. Germanisierung des Christentums, in: RGG4 3 (2000), 754. 27 In dieser Konstellation fand Bonus zuletzt Erwähnung bei: Wolfgang Fenske: Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005, 115–118. Materialreich zur Frage nach einem „ari schen Jesus“ vgl. M artin Leutzsch: Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945, in: Puschner /Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus,
I. Anknüpfungspunkte im Widerspruch
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unausgesprochen schwangen Verdikte gegen den Kulturprotestantismus der Kaiserzeit als bürgerliche Hoftheologie in diesen Einschätzungen mit, dessen angebliche Diesseitsbezogenheit zur Aufgabe theologischer Grundprinzipien geführt habe. Aufgrund des weit verbreiteten liberalen Jesusbildes und seines „liberalen Schöpfungsglaubens“, so Wolfgang Tilgner, habe Bonus das „heils geschichtliche Christuszeugnis“ in eine innerweltliche Frömmigkeit umgebo gen und damit auf die völkische Bewegung eingewirkt.28 Während es in den Augen dieser Forschergeneration insgesamt nur ein „relativ dünner Strahl“ völ kischer Vorstellungen war, die vor 1918 in den Protestantismus der Kaiserzeit einwanderten, stellten religiöse Autoren wie Bonus Leitfiguren einer ideolo gisch-nationalistischen Umformung dar, deren Wirksamkeit sich in den politi schen Wirren der Weimarer Jahre entfalten konnte.29 In der Weise, in der die Forschung zum Kaiserreich seit einigen Jahrzehnten politik-, mentalitäts-, religions- und kulturgeschichtliche Fragestellungen kom biniert, wurden auch breitere Zugänge zum Thema Religion, Nation und ins besondere zum Kulturprotestantismus erschlossen. Das eher düstere Bild des Kaiserreichs als einem modernitätsverweigernden Obrigkeitsstaat ist einem mehrperspektivischen Panorama gewichen, das teilweise konstrastierende Kon tinuitätslinien nebeneinanderstellt und sich überschneidende „Aufbrüche in die Moderne“ wahrnimmt.30 Die Intellektuellengeschichte hat das Umfeld der „na tionaloppositionellen“ Kulturbewegung der Jahrhundertwende analysiert, wie sie sich im Verlag Eugen Diederichs oder der Kulturzeitschrift Der Kunstwart manifestierte.31 Bonus wird hier im Zusammenhang der Umbrüche im wilhel minischen Bürgertum wahrgenommen, das zwischen Imperialismus, Lebens Göttingen 2012, 195–218; mit Blick auf die Deutschen Christen vgl. Susannah Heschel: The Aryan Jesus, Princeton 2008. 28 Wolfgang Tilgner: Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube. Ein Beitrag zur Ge schichte des Kirchenkampfes, Göttingen 1966, 84 f. 29 So die Einschätzung bei K arl Kupisch: Die deutschen Landeskirchen, Göttingen 1966, 91. 30 Zur Forschungsgeschichte Cornelius Torp/Sven Oliver Müller: Das Bild des Deut schen Kaiserreichs im Wandel, in: dies. (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Konstroverse, Göttingen 2009, 9–27; Benjamin Ziemann spricht im gleichen Band von „Polykontexturali tät“: Das Kaiserreich als Epoche der Polykontexturalität, in: ebd., 51–65. Zur Debatte s. auch: M atthew Jefferies (Hg.): Contesting the German Empire, 1871–1918, Malden 2008. 31 Zu Bonus’ prägender Mitarbeit im Kunstwart vgl. Gerhard K ratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göt tingen 1969; zur Zeitschrift vgl. außerdem Rüdiger vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner /H ans M anfred Bock (Hg.): Le Milieu Intellectuel Conservateur en Allemagne, sa Presse et ses Réseaux (1890–1960), Bern 2003, 353–375. Zur Rolle der Intellektuellen vgl. Gangolf Hübinger: Intellektuelle im Strukturwandel der Öf fentlichkeit, in: Michel Grunewald (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutsch
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reform und Moderne an einer nationalen Vertiefung der deutschen Kultur arbei tete und dabei auch völkische Ideen in sich aufnahm. Besonders in der von Ger hard Kratzsch bereits 1969 ausführlich dargestellten Zeitschrift Der Kunstwart fand Bonus ein Forum, um die nationale Suche nach einer eigenständigen deut schen Kunstsprache wirksam zur Geltung zu bringen. Einen wichtigen Kristallisationskern der bildungsbürgerlichen Kulturdeu tung stellte der Jenaer Verlag von Eugen Diederichs dar. Vor allem die Arbeiten von Gangolf Hübinger, Friedrich Wilhelm Graf und Irmgard Heidler zur Ver lagsgeschichte belegen, dass sich hier nicht einseitig antimoderne Stimmen, sondern verbunden mit einem Diskurs um neue Ausdrucksformen in Literatur und Kunst ein durchaus hohes Interesse an Sozialreform, politischen Gegenent würfen zum wilhelminischen Staat und generell einem neuen Lebensstil in der Moderne sammelte.32 Konzentrierten sich hier einerseits die Bestrebungen einer die moderne Sach lichkeit transzendierenden „Neuromantik“, lassen sich die bildungsbürgerlichen Stimmungen der Jahrhundertwende andererseits nicht nur auf den Nenner eines zivilisationskritischen „Kulturpessimismus“ bringen.33 Ohne rundweg dem völkischen Spektrum zugerechnet werden zu können, verband sich in diesem Umfeld das Streben nach neuem Volkstum und nationaler Identität mit einer unruhigen Suche nach Modernität, nach Reformideen und weltanschaulicher Inspiration. Die eingangs erwähnten Arbeiten von Rainer Lächele zeichnen die Bedeutung der unterschiedlichen Vorstellungen einer „Germanisierung des Christentums“ bei Bonus, Gustav Frenssen und anderen als völkische Gewächse auf dem Boland, Bern 2008, 26–39; ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellenge schichte, Göttingen 2006. 32 Zu Eugen Diederichs und seinem Verlag vgl. I rmgard H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), Wiesbaden 1998; Justus H. Ulbricht/Meike Werner (Hg.): Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen-Diederichs-Verlag im Epochenkontext 1900 bis 1949, Göttingen 1999; Meike Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experi mente im Fin-de-Siècle Jena, Göttingen 2003; Erich Viehöfer: Der Verleger als Organisator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frank furt 1988; Friedrich Wilhelm Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ‚Verlags religion‘ des Eugen Diederichs Verlags, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort mo derner Geister. Der Eugen-Diederichs-Verlag, München 1996, 243–298; Hübinger: Kultur kritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?, in: Horst R enz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Umstrittene Moder ne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, 92–114. 33 Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideolo gie in Deutschland, Stuttgart 2005 (zuerst 1963 erschienen); zur älteren Diederichsforschung s. Mosse: Ein Volk – ein Reich – ein Führer, v. a. 74–77; Jost Hermand/R ichard H amann: Stilkunst um 1900, München 1973, 142 f.; 32 f.
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den des Kulturprotestantismus nach. Lächele fragte in seinen Forschungen nach den Schnittstellen zwischen Protestantismus und völkischer Weltanschauung, die er anhand einer Durchsicht unterschiedlicher kirchlicher Zeitschriften im Kaiserreich eher in den Publikationsorganen des Kulturprotestantismus ausma chen kann. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine mentalitätsgeschichtliche Studie von Wolfgang Heinrichs, die sich den Haltungen zum Judentum in der kirchlichen Presse widmete.34 Die politischen Konstellationen und ambivalenten Haltungen im Kultur protestantismus der Jahrhundertwende, die sich in diesem Teilsegment des deut schen Protestantismus zunehmend polarisierten, sind vor allem von Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger und Matthias Wolfes betont worden. Hübin ger zeichnet einerseits die eng mit dem Liberalismus verwandten politischen und gesellschaftlichen Grundeinstellungen im Kulturprotestantismus nach, ver weist zugleich aber auch auf das Anwachsen eines neuen integralistischen Na tionalismus an den Rändern der kulturprotestantischen Gruppierungen hin.35 Gegen eine reine Realpolitik erhob Martin Rade 1911 die Forderung nach De mokratisierung und nach „Mehr Idealismus in der Politik!“, kulturprotestanti sche Politiker wie Paul Rohrbach oder Friedrich Naumann beklagten – bei ener gischer Ausrichtung an einer imperialistischen Weltpolitik – den Mangel an politischem Verstand im deutschen Bürgertum und riefen zur Beteiligung und zur politischen Bildung auf.36 Diese Bestrebungen wiesen über das politisch erstarrte wilhelminische Vorkriegsdeutschland hinaus, belegen aber auch, dass ihren Reformimpulsen nur ein enger Aktionsradius offenstand.37 Andererseits blieben diese Kreise vom Krisendenken der Jahrhundertwende nicht unberührt. Friedrich Wilhelm Graf hat dargestellt, wie sehr der Kulturpro testantismus zwischen seinen Ansprüchen, grundsätzlich eine an der Moderne 34 Wolfgang H einrichs: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln 2000. 35 Vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik; ders.: Drei Generationen deutscher Kulturprotestanten, in: Johannes Dantine u. a. (Hg.): Protestantische Mentalitäten, Wien 1999, 181–193. 36 M artin R ade: Mehr Idealismus in der Politik, Jena 1911. Dieser Band erschien in der Reihe Staatsbürgerliche Flugschriften im Verlag Eugen Diederichs und verweist damit auf die vielschichtigen Versuche in diesem Umfeld, Kulturkritik und gesellschaftliche Moderni sierung miteinander zu verknüpfen. Vgl. Friedrich Naumann: Die Stellung der Gebildeten in der Politik, in: Patria 7 (1907), 80–94; Paul Rohrbach: Der deutsche Gedanke in der Welt, Leipzig 1912. 37 Zu den Bestrebungen um politische Bildung, „Kulturpolitik“ und einen eingegrenzten Imperialismus vgl. Rüdiger vom Bruch: Gesellschaftliche Initiativen in den auswärtigen Kul turbeziehungen Deutschlands vor 1914. Der Beitrag des deutschen Bildungsbürgertums, in: ders.: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 2005, 302–333.
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ausgerichtete Form des Christentums und der sittlichen Kultur zu vertreten, der neureligiösen Kirchenkritik etwa im Monismus und der Ablehnung seiner kon servativ-kirchlichen Gegner zerrieben wurde.38 Hier wuchs der Bedarf nach weltanschaulicher Synthese und nach Eindeutigkeit sowie die Bereitschaft, in der Nation einen Festpunkt zu suchen. In der Auseinandersetzung mit der völ kischen Bewegung und dem Nationalismus schien der Kulturprotestantismus dadurch eine offene Flanke zu besitzen.39 In den Worten seines Zeitgenossen Ernst Troeltsch stellte Arthur Bonus’ Werk ein „charakteristisches Erzeugnis der religiösen Krisis“ der Jahrhundert wende dar und stand für eine Theologengeneration im Umbruch, die seismogra phisch kulturelle Strömungen und Widersprüche erfasste und für die die kirch liche Theologie einer tiefgreifenden Umformung bedurfte.40 So stellte ihn be reits Johannes Rathje als symptomatischen Autor für eine Kirchenkritik dar, die sich aus erheblichen Zweifeln an den wissenschaftlichen Grundlagen der akade mischen Theologie ergab.41 In seiner Suche nach weltanschaulicher Eindeutig keit und seiner Abkehr von wissenschaftlichen Grundprinzipien hin zu einer positionellen, wertenden Weltbeschreibung lässt er sich als Vorbote der „anti historistischen Revolution“ der zwanziger Jahre wahrnehmen.42 Er gehörte ne ben Carl Jatho, Gottfried Traub und Johannes Müller zu den Repräsentanten eines Antiintellektualismus auf religiösem Gebiet, der auf den Plausibilitäts verlust des alten Christentums hin nach einem neuen Dogma verlangte.43 In diesem theologie- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang hat Fried rich Wilhelm Graf Arthur Bonus als Typus des „Protesttheologen“ und „Oppo 38 Friedrich Wilhelm Graf: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theolo giepolitischen Chiffre, in: H ans M artin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 21–77; ders.: Art. Kulturprotes tantismus, in: TRE 20 (1990), 235–239. 39 Vgl. dazu vor allem die Untersuchung von Friedrich Wilhelm Graf: ‚Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen‘. Liberaler Protestantismus und ‚Judenfrage‘ nach 1933, in: Jochen-Christoph K aiser /M artin Greschat (Hg.): Der Holocaust und die Protestanten, Frankfurt 1988, 151–185. 40 Ernst Troeltsch: Rez. A. Bonus, Theologie als Schöpfung, in: ThLZ 28 (1903), 275– 276, 276. 41 Johannes R athje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evan gelischen Geistesgeschichte, Stuttgart 1952. 42 Kurt Nowak: Die ‚antihistoristische Revolution‘. Symptome und Folgen der Krise his torischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: R enz/Graf (Hg.): Umstrittene Moderne, Gütersloh 1987, 133–171; Friedrich Wilhelm Graf: Die ‚antihistoristische Revolu tion‘ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.): Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre, Göttingen 1988, 377–405. 43 Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 2, Tübingen 1997, 344.
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sitionspfarrers“ in die Geschichte der modernen Theologie eingeordnet und ihn als einen repräsentativen Vertreter für ein frommes Unbehagen am bürgerlichen Kulturprotestantismus und den akademischen Theologien dargestellt.44 Für Graf zählt Bonus beispielhaft zu den dem Protestantismus entwachsenen „Reli gionsintellektuellen“ der Jahrhundertwende, die in einer „Grundlagenkrise der modernen Kultur“ in der Religion nach gültigen Gegenkonzepten zur ökonomi schen Funktionalisierung des Menschen, zur bloßen Zweckrationalität und dem stählernen Gehäuse der Massengesellschaft suchten.45 Die Suche nach unver fälschtem Deutschtum und neuer Religiosität gehört demnach zu den Bewälti gungsstrategien gegenüber einer komplexen, weltanschaulich und sozial seg mentierten Moderne. Eine enger theologiegeschichtlich orientierte Interpretationslinie, die aller dings die nationalreligiösen Elemente und Bonus’ Verdeutschungsforderung eher als eine Nebenspur seiner Anliegen wahrnimmt, hat Matthias Kroeger im ersten Teil seiner Biographie zu Friedrich Gogarten verfolgt. Diese bisher de taillierteste Darstellung stellt Bonus als exzentrische „Außenseiterfigur im Spektrum des damaligen Protestantismus“ vor.46 Hervorgehoben wird seine Nietzsche- und Darwininterpretation, auf deren Grundlage er gegen den theo logischen Intellektualismus nach einer „Weiterentwicklung“ des Christentums unter der Einbindung von Lebensphilosophie und Entwicklungsgedanken streb te. Kroeger, der erstmals auch Teile des Nachlasses in seiner Darstellung be rücksichtigte, liefert wesentliche Hinweise zur Biographie von Bonus und be zieht auch seine Verbindungen in die bürgerliche Reformbewegung insbesonde re am Beispiel des Eugen-Diederichs-Verlags mit ein. Vor den theologischen Konflikten im Kulturprotestantismus wird Bonus als ein Autor nachgezeichnet, der die Diastasen zwischen Welt und Religion, zwischen Kultur und Christen tum entdeckte und weniger in der Nation, sondern vor allem in der Persönlich keit die feste Burg einer neubegründeten christlichen Frömmigkeit suchte. In ähnlicher Perspektive ordnet Uwe Stenglein-Hektor Bonus’ Werk der „Rationa litätskrise“ liberaler Theologien der Jahrhundertwende zu. Stenglein-Hektor beschreibt ihn im Horizont des Marburger Systematikers Wilhelm Herrmann und sieht ein verbindendes Element darin, dass Bonus eine Erfahrungstheologie entfaltete, die nach einem Erkenntnisort forschte, von dem aus religiöses Erle ben auf seinen Wahrheitsgehalt hin befragt werden könne.47 Bonus zielte auf 44
Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 254. Ders.: Alter Mensch und neuer Mensch, 146.177. 46 M atthias K roeger: Friedrich Gogarten. Leben und Werk in zeitgeschichtlicher Per spektive, Stuttgart 1997, 80. 47 Uwe Stenglein-H ektor: Religion im Bürgerleben. Eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie zur Rationalitätskrise liberaler Theologie um 1900 am Beispiel Wilhelm Herrmann, 45
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eine Umschreibung der christlichen Tradition ins Subjektive, Erlebnishafte, was ihn in Frontstellung gegenüber der akademisch-kirchlichen Theologie brachte. Wie sehr den fin-de-siècle-Theologien von Bonus und seinem Umfeld als ge sellschaftlichen Gegenentwürfen zum Wilhelminismus eine politische Dimen sion anhaftete, hat eine Arbeit von Frank Fehlberg thematisiert, die sich mit dem Spannungsverhältnis von Protestantismus, Sozialreform und imperialistischem Denken im Umfeld des Nationalsozialen Vereins und der Naumann-Bewegung auseinandersetzt. Neben Gottfried Traub, Gustav Frenssen, Paul Rohrbach und Friedrich Naumann selbst rechnet er ihn zu den Theologen, die sich aus religiö ser Überzeugung einem nationalen Sozialismus zuwandten und staatliche Machtentfaltung und innere Reform miteinander verknüpfen wollten.48 Fehl bergs Arbeit verweist auf die auch von Eric Kurlander problematisierte Bedeu tung völkischer Ideologeme innerhalb des Linksliberalismus.49 Das Bekenntnis zu einem „nationalen Sozialismus“ habe einer konsequenten liberalen Wand lung im Wege gestanden und harmonisierende Gesellschaftsbilder nicht abge legt, nach welchen die sozialen Gegensätze unter dem Dach der Nation versöhnt werden sollten. Im Gefolge des anwachsenden Interesses am Kulturprotestantismus sowie an den bildungsbürgerlichen Mentalitäten, Einstellungen und intellektuellen Netz werken im Kaiserreich sind inzwischen einige biographisch ausgerichtete Stu dien entstanden, die einzelne aus dem Protestantismus stammende Autoren in den Blick genommen haben. Diese nahmen in unterschiedlicher Intensität auf völkische Ideologeme bezug. Das Gegenüber von geistigen Segmentierungspro zessen im gebildeten Bürgertum, einer Krise des Liberalismus und einem ent schiedenen „Aufbruch in die Moderne“ stellt dabei den Interpretationshinter grund dar, der sich für die Theologiegeschichte nutzbar machen lässt.50 Anhand biographischer Einzeldarstellungen und Werkbiographien ist das etwa bei Jo hannes Müller-Elmau oder Gustav Frenssen geschehen, die jeweils heterogene Münster 1997, 118–131. Stenglein-Hektor nimmt sensibel die ekstatischen Momente in Bo nus’ Andachtstexten wahr, die er als Beleg einer quasipietistischen Erlebnisfrömmigkeit ei nem tatsächlich stattgefundenen Bekehrungserlebnis zuschreibt. Auch wenn diese biogra phische Deutung zu weit reicht, trifft Stenglein-Hektor sehr genau ein Motiv in Bonus’ Werk, nämlich die lebensphilosophisch fundierte Suche nach einem religiösen Stil, der ohne intel lektualistisch-theologische Rahmengebung das menschliche Wesen im Ganzen existentiell ergreifen und umwandeln soll. 48 Vgl. Frank Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann, Bonn 2012, 49–93. 49 Eric Kurlander: The Price of Exlusion: Ethnicity, National Identity, and the Decline of German Liberalism, New York 2006. 50 Vgl. dazu August Nitschke/Detlev J.K. Peukert u. a. (Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek 1990.
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Formen christlicher Frömmigkeit am Rande des kulturprotestantischen Spek trums entwickelten. Ebenso sind so unterschiedliche populäre Religionsdeuter der Jahrhundertwende wie Friedrich Rittelmeyer, Carl Jatho, Christoph Schrempf oder Rudolf Eucken in den Blick genommen worden. Eine zusammenhängende Studie zu Arthur Bonus, die seine religiöse Ver kündigung und seine kulturkritischen Äußerungen verbindet, ist bisher ein Desiderat geblieben.51 Das hat seine Gründe: Eine kritische Auseinanderset zung mit seinem publizistischen Wirken erweist sich insofern als schwierig, als dass Arthur Bonus’ gesellschaftlich-politische Ideen und seine teilweise eklek tischen religiös-kulturellen Vorstellungen durch Widersprüche und unaufgelös te Gedankengänge gekennzeichnet waren. Als germanistischer Dilettant be stimmte er im Kontext der „nordischen Mode“ nach der Jahrhundertwende die Neuentdeckung isländischer Mythologien mit und widmete sich volkskund lichen Studien, die sich der theologischen Klassifizierung weitgehend entzie hen.52 Mitunter stellt sein Werk sprachlich eine Herausforderung dar, da es sich häufig manieristisch an expressionistische Versuche anlehnt.53 Die Quellenlage hingegen erweist sich als überaus ergiebig: Arthur Bonus hat insgesamt fünf zehn eigenständige Bücher und zahlreiche Beiträge in Sammelbänden veröf fentlicht.54 Weltanschaulich-religiöse Themen und andachtsähnliche Selbstre flexionen stehen im Vordergrund seines publizistischen Arbeitens. Hinzu treten kulturtheoretisch ausgerichtete Werke wie sein 1909 erschienener Band Die Kirche oder eine 1908 veröffentlichte, kommentierte Sammlung mit Rätseln der Weltvölker. Schließlich verfasste er philologisch ambitionierte Übersetzungen isländischer Sagas wie im mehrfach aufgelegten Isländerbuch, ohne damit ei nen streng wissenschaftlichen Anspruch zu verfolgen. Sein eigentliches Wir kungsgebiet indes war das Feld der Kulturzeitschriften im Kaiserreich. Eine bibliographische Durchsicht hat weit über 800 Einzelartikel in verschiedenen Zeitschriften ergeben, ohne die ein trennscharfes Bild seiner weltanschaulichen Positionen gar nicht möglich ist.55 Das Spektrum beginnt bei den Führungsblät51 Vgl.
Friedrich Wilhelm Graf: Friedrich Gogartens Deutung der Moderne, in: ZKG 100 (1989), 169–230, 173, Anm. 10; K roeger: Gogarten, 77. 52 Zu Bonus’ Saga-Rezeption vgl. Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten, Berlin 1994. 53 Um die besondere, oft provokante sprachliche Form von Bonus’ Verkündigung nach vollziehbar zu machen, wird die Darstellung seiner Gedankengänge mit teilweise auch län geren Zitaten ergänzt, die als Textproben zu verstehen sind. 54 Nicht eingerechnet sind die zahlreichen Wiederabdrucke und Neuauflagen seiner Is landerzählungen, die nach 1918 in verschiedenen Jugendauswahlbänden oder als Einzelver öffentlichungen aufgelegt wurden. 55 Ein vorläufiger Versuch einer bibliographischen Übersicht ist dieser Arbeit angehängt.
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tern der modernen Theologie Die Christliche Welt, Naumanns Hilfe oder zeit weilig der Theologischen Rundschau, erstreckt sich über bildungsbürgerliche Kulturzeitschriften wie den Kunstwart, die Preußischen Jahrbücher oder die Neue Rundschau und bezieht linksliberale Journale wie den März ein. Bonus publizierte in den 1890er Jahren in der nationalistischen Täglichen Rundschau und wechselte nach der Jahrhundertwende zur liberal-diskursiven Berliner Tageszeitung Der Tag. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg findet man ihn in der reformkonservativen Monatsschrift Das neue Deutschland genauso wie in Gottfried Traubs freiprotestantischer Zeitschrift Die Christliche Freiheit. In der Weimarer Republik kommen Organe hinzu, die sich einer nationalen Gegen moderne verschrieben hatten wie die dem Diederichs-Verlag entstammende Tat oder Wilhelm Stapels Deutsches Volkstum. Ausgesprochen völkisch-religiöse Blätter wie die „Vierteljahrsschrift für deutschen Gottglauben“ Rig oder Jakob Wilhelm Hauers Kommende Gemeinde spielen erst ab 1930 mit einer geringen Zahl von Beiträgen eine Rolle. Kontinuierlich hingegen bleibt seine Verbunden heit mit der Christlichen Welt, in der er von 1891 bis 1937 durchgängig vertreten war.56 Quantitativ und inhaltlich lag der Schwerpunkt seiner Publikationstätig keit deutlich im Kaiserreich.57
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Seine letzte Publikation, die 1938 im Weimarer Verlag Deutsche Christen erschienene Andachtssammlung Von Tod und Tapferkeit, enthält Schulandachten, die Bonus als Haus lehrer und Seelsorger auf Schloss Bischofstein, einer reformpädagogischen Privatschule, ge halten hat. Die hier enthaltenen Texte waren überwiegend schon vor 1933 fertiggestellt. Aus Altersgründen und wegen zunehmender Erblindung übernahm seine Frau Beate Bonus in den dreißiger Jahren zunehmend die Korrespondenz; an die Vorbereitung eigenständiger, umfangreicherer Publikationen war kaum noch zu denken. 57 An den Verkaufszahlen seiner im Diederichs-Verlag erschienen Bücher lässt sich die Bedeutung der Zeitschriftenpublizistik einerseits, andererseits seine Verankerung im Kai serreich ablesen. Von seinem relativ erfolgreichen Band Religion als Schöpfung, der 1902 in einer ersten Gesamtauflage von 2000 Exemplaren erschienen war, waren, bis zum 1.7.1903 916 Exemplare verkauft. Der Absatz sank rasch: 1903/04: 267 Exemplare; 1909/10: 330 Ex emplare, dann nur jeweils unter 100 verkaufte Bücher. Von Germanisierung des Christentums (Jena 1911) wurden 1911/12 318 Exemplare verkauft, in den folgenden Jahren nur noch etwa 100 pro Jahr. Nach dem Ersten Weltkrieg sank der Absatz auf Einzelexemplare ab. Für Vergleichszahlen sei auf das mit erheblicher Öffentlichkeitswirksamkeit beworbene Buch von A lbert K althoff: Das Christusproblem, verwiesen, das 1902/03 mit 894 Exemplaren verkauft wurde, in den Folgejahren aber schnell vom Markt verschwand. Ähnlich verhielt es sich mit dem reißerisch beworbenen Sammelband Der Monismus, vom dem bei Erscheinen 1907/08 636 Exemplare verkauft wurden (die Zahlen sind entnommen aus: Heidler: Der Ver leger Eugen Diederichs, 180; 284 f.; 287). Bonus Bücher bedienten also nie den literarischen Massenmarkt, fielen aber auch nicht hinter anderen Erzeugnissen der religiös-weltanschauli chen Produktion zurück.
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Eine zweite Quellenbasis dieser Arbeit stellt Arthur Bonus’ äußert umfang reicher Nachlass im Landeskirchlichen Archiv Eisenach dar.58 Teilweise akri 58 Die Geschichte dieses wohlgehüteten Nachlasses bietet interessante Einsichten in den Umgang mit dem schriftstellerischen und theologischen Erbe von Arthur Bonus. Die Kon struktion einer völkischen Tradition bis ins 19. Jahrhundert durch die Thüringer DC wie auch die Verdrängungsgeschichte der nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich daran ablesen. Für die Akquirierung des Nachlasses hatte vermutlich der Thüringische Kirchenrat Karl König gesorgt, der sich als langjähriger Freund und Verehrer auch für die finanzielle Förderung des am Ende vereinsamten Autors einsetzte. Im Frühjahr 1940, noch zu seinen Lebzeiten, gelangte der Nachlass in den Besitz des Eisenacher Ober kirchenrats. Mit Unterstützung des Eisenacher Kirchenrats Hugo Stüber erfolgte seine Über führung in das Archiv des Thüringischen Landeskirchenrates, den Vorläufer des heutigen Landeskirchenarchivs Eisenach. Die Familie des seit 1939 an Demenz erkrankten und durch mehrere Schlaganfälle geschwächten Bonus zeigte sich mit der damit geschaffenen Anbindung an eine Einrichtung der DC durchaus nicht einverstanden. Der „Stempel ‚Deutscher Christ‘“ sollte vorzugsweise vermieden werden, schrieb Bonus’ Ehefrau an Martin Rade (Brief Beate Bonus an Rade, Lengenfeld 6.3.1940 [UB Marburg, NL Rade, Ms. 839]). Zunächst wurde auf grund der engen räumlichen und finanziellen Bedingungen an eine Übergabe der Bonus’schen Bibliothek und seines Briefbestandes an Rade oder an eine Einlagerung in einem „Landpfarr haus“ gedacht. Eine erste Sichtung unternahm Herbert von Hintzenstern, der zu diesem Zeit punkt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Eisenacher Entjudungsinstitut war, im Rahmen seiner ideologischen „Forschungsarbeit“ als deutsch-christlicher Chamberlain-Experte. Hintzenstern sollte eine Edition einzelner Bonus-Texte vorbereiten, kam allerdings über einen Nachruf 1942 nicht hinaus. Zur Vorbereitung legte er eine Sammlung von Bonus-Texten sowie ausgewähltem biographischem Material an, das er dem Nachlass entnommen und unter interessegeleiteten Gesichtspunkten geordnet hatte. Die völkischen Aspekte in Bonus’ Werk blieben an der Ober fläche, während die religiösen und kunstkritischen Verbindungen besonders in seinem Brief wechsel in die tieferen Schichten der Nachlass-Tektonik absackten. Die Wiederentdeckung des Nachlasses erfolgte unter völlig anderen Gesichtspunkten, nämlich im Rahmen der Erforschung der Dialektischen Theologie am Beispiel von Friedrich Gogarten, einem theologischen Schüler von Bonus. Der Hamburger Systematiker Matthias Kroeger hatte sich im Rahmen seiner Recherchen zu seiner 1997 erscheinenden Gogarten- Biographie 1991 an das Landeskirchenarchiv Eisenach gewandt und hier die Korrespondenz zwischen Bonus und Gogarten rekonstruiert. Während der ersten Bearbeitungsphase an diesem Projekt war der Nachlass nur zu Teilen geordnet und auch nicht zur Gänze einsehbar. Inzwischen hat eine verdienstvolle Erschlie ßung des Nachlasses durch ein von Prof. Dr. Johannes Michael Scholz als ehrenamtlicher Mitarbeiter des Landeskirchenarchivs Eisenach vorgelegtes Findbuch stattgefunden; zudem ist der Nachlass nach den üblichen archivalischen und wissenschaftlichen Gepflogenheiten der Nutzung zugänglich. Damit ist ein dringendes Desiderat abgedeckt. Mit Bonus’ Nachlass steht die vielschichtige Hinterlassenschaft eines einflussreichen Autors zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus der wissenschaftlichen Arbeit offen, die Einblicke in die reform religiösen Netzwerke am Rand des freien Protestantismus ermöglicht. Mit der Erschließung dieses Nachlasses wird die Dokumentation eines randständigen, aber gleichwohl einfluss reichen kulturprotestantischen Gedankenweges zwischen Kaiserreich und Nationalsozialis mus der religionshistorischen Forschung zugänglich, dessen Bearbeitung bis dahin nicht ohne diplomatische Hartnäckigkeit möglich war.
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bisch hat Bonus seine private und seine schriftstellerische Korrespondenz ge sammelt, so dass sich aus ihr ein tiefschichtiges Bild von Arthur Bonus als Schriftsteller, Publizist und Religionsintellektuellen ergibt. Neben biographi schen Erinnerungen, Verwandtschaftspost und Examensunterlagen enthält die ser Nachlass auch vielfältige Reaktionen auf seine publizierten religiösen An sichten. In ihm zeichnen sich in unterschiedlicher Dichte die Auseinander setzungen um seine Theologie im Umkreis der Christlichen Welt ab. Bonus fand in Martin Rade einen engen Wegbegleiter, seine akademischen Lehrer Adolf Harnack und Julius Kaftan nahmen an seinem religiösen Werdegang Anteil. Mit Eugen Diederichs diskutierte er über die Schaffung einer deutschen Kultur in der Moderne. Der Nachlass ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die relative Popularität von Bonus als Autor, aber auch dafür, wie unterschiedlich seine Vor stellungen aufgenommen wurden. Im Nachlass tritt er als eng in den bildungs bürgerlichen Kulturdebatten vernetzter Zeitschriftenpublizist entgegen, der hier ein Forum fand, seine religiösen Vorstellungen an die Öffentlichkeit zu bringen.
3. Fragestellungen Diese Arbeit ist als Fallstudie zum Wirkungskreis eines religiösen Intellektuel len an den Rändern des Kulturprotestantismus im wilhelminischen Kaiserreich angelegt. Um das von Bonus entwickelte Ideenkonglomerat und die kirchen politischen, sozialkritischen und kulturreformerischen Quellen nachvollziehen zu können, die er in seinen religiösen Vorstellungen amalgamierte, ist ein weiter Fokus auf das Kaiserreich als Laboratorium für das 20. Jahrhundert und die Moderne notwendig.59 Die Impulse der neuen Ideengeschichte haben die methodische Grenzziehung zwischen der Erforschung intellektueller Höhenlagen und den alltäglichen Niede rungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend abgebaut.60 Angewendet Ergänzend wurde an den Nachlässen von Adolf Harnack (Berlin), Paul Göhre (Bonn), Gottfried Traub (Koblenz), Friedrich Naumann (Berlin), Martin Rade (Marburg), Paul Jaeger (Karlsruhe), Gustav Frenssen (Kiel), Jakob Wilhelm Hauer (Koblenz), Friedrich Gogarten (Göttingen) und Eugen Diederichs (Marbach) gearbeitet. 59 Vgl. zu dieser Einschätzung der Jahrhundertwende zwischen Kulturpessimismus und Lebensreform Uwe Puschner /Christina Stange-Fayos/K atja Wimmer (Hg.): Laboratorium der Moderne. Ideenzirkulation im Wilhelminischen Kaiserreich, Frankfurt 2015. Ähnlich: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klas sischen Moderne, München 2009. 60 Vgl. zur Dikussion um die „new intellectual history“ in den Geschichtswissenschaften A lexander Gallus: ‚Intellectual History‘ mit Intellektuellen und ohne sie. Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: HZ 288 (2009), 139–150; D. Wickberg: Intellectual History vs. the Social History of Intellectuals, in: Rethinking History 5 (2001), 383–395;
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auf die Theologiegeschichte wird diese nicht isoliert, sondern in Verbindung mit den zeitgleichen sozialen und kulturellen Diskursen beschrieben. Weniger die Entwürfe großer Denker als die Kontextualisierung intellektueller Denkstile und ihrer Produzenten in ihren jeweiligen sozialen Gegebenheiten, ihrem lebenswelt lichen Umfeld und den institutionellen Rahmenbedingungen sind in den Blick gekommen. Damit einher geht eine Erweiterung der Quellenbasis, die die litera rische Alltagsproduktion in Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren in die his torische Analyse einbezieht. Um die Vermittlungsstrukturen lebensreformerischer und auch völkischer Ansätze rekonsturieren zu können, sind diese in ihrem „Kommunikationszusammenhang“ zu untersuchen, indem die Ideenverarbei tung und die persönlichen Verbindungen ihrer Vertreter in ihren spezifisch poli tisch-kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ausgeleuchtet werden.61 Zwei leitende Fragestellungen werden verfolgt: Erstens wird nach den For men und Grenzen der Rezeption von Bonus’ Vorstellungen im Umfeld des libe ralen Protestantismus gefragt, die sich besonders im Umkreis der Zeitschrift Die Christliche Welt nachweisen lassen. Die enge Verbindung eines Autors wie Arthur Bonus in die kulturprotestantischen Netzwerke der Jahrhundertwende lässt sich als „Ausdruck für Einbruchstellen völkischen Denkens auch in den liberalen Kulturprotestantismus“ werten.62 Vor diesem Hintergrund ist zu ana lysieren, welchen Ort seine Interpretation des protestantischen Christentums auf dem „Feld religiöser Kultur“ einnehmen konnte und welche Anschluss fähigkeit seine kulturkritischen Positionen im Kontext der liberaltheologischen Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende besassen.63 Dem liegt die Beob achtung zugrunde, dass sich theologische Fachdiskurse nicht unabhängig von politischen Weltsichten und kulturell geprägten Weltbildern konstituieren: Die von Friedrich Wilhelm Graf für die Weimarer Republik formulierte Feststel lung, dass in Forschungen zur Theologiegeschichte auch die sozialen und vor allem politischen Kontexte „theologischer Ideenproduktion“ einzubeziehen Eckhart Hellmuth /Christoph von Ehrenstein: Intellectual History made in Britain: The Cambridge School und ihre Kritiker, in: GG 27 (2001), 149–172. 61 Justus H. Ulbricht: Verlagsgeschichtliche Zugänge zum ideologischen Syndrom ‚Kon servative Revolution – Völkische Bewegung – Nationalsozialismus‘, in: Schmitz/Vollnhals (Hg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus, Dresden 2005, 229–233, 233. 62 Gangolf Hübinger: Harnack, Rade und Troeltsch. Wissenschaft und politische Ethik, in: Kurt Nowak /Otto G. Oexle (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissen schaftspolitiker, 85–102, 90. 63 H ildegard Châtellier: Kreuz, Rosenkreuz und Hakenkreuz. Synkretismus in der Weimarer Zeit am Beispiel Friedrich Lienhards, in: Gangl/R aulet (Hg.): Intellektuellendis kurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt 2007, 93–104, 94.
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Erstes Kapitel: Einleitung
sind, wird hier aufgegriffen.64 Religion ist als „ein Stück Deutungskultur“ in den Sprachspielen der fachdisziplinierten Theologie verankert, aber auch in ih ren Alltagsbezügen, sozialen Deutungen und ihrer Rolle als Sinngeber.65 Zweitens ist nach der Interaktion von Bonus mit weiteren Akteuren der bür gerlichen und reformerischen Kulturszene der Jahrhundertwende zu fragen. Aus Bonus’ Briefkorrespondenz ergibt sich, dass er sowohl zu Schlüsselfiguren des kulturprotestantischen Vereinswesens wie Martin Rade als auch zu ver gleichbaren Religionsintellektuellen wie Johannes Müller intensive Beziehun gen unterhielt. Diese Briefwechsel dokumentieren nicht nur die jeweiligen An sichten und Erfahrungen ihrer Schreiber in den Zeitläuften: In ihnen treten vielmehr auch inhaltliche Absprachen, Abstimmungen über redaktionelle Zeit schriftenpolitiken und konkrete inhaltliche wie materielle Unterstützungsange bote hervor. Die bisherigen Studien zu den reformerischen und kulturprotestan tischen Gruppierungen haben sich nur in Ausnahmefällen auf Nachlassmateri alien und Privatkorrespondenzen, sondern eher auf publizierte Quellen gestützt. In der privaten Kommunikation lassen sich kurzfristige Allianzen, Kontakt angebote, aber wie im Falle von Rade, Diederichs und Ferdinand Avenarius längerfristige, redaktionelle und inhaltliche Kooperationen nachvollziehen, die sich auch aus der kommentierfreudigen Zeitschriftenpublizistik nicht erhellen lassen. Bonus’ Umfeld lässt sich ansatzweise als intellektuelles Netzwerk be schreiben, als ein informelles, persönliches Deutungsbündnis, das aufgrund von Sympathien und einem geteilten Sendungsbewusstsein zusammenfand.66 Um diese persönlichen, publizistischen und ideologischen Verbindungslinien sichtbar zu machen, wird ein akteurszentrierter Ansatz gewählt. Aufgrund der hohen archivalischen Überlieferungsdichte wird dabei exemparisch vorgegan gen. Der Fokus liegt auf den Debatten zu Religion und Kultur um Jahrhundert wende, während andere Aspekte seines Werkes nur am Rande berücksichtigt werden. Nicht alle Bezüge in die Kunst- und Literaturwelt der Jahrhundertwen de und in die weitverstreuten Reformbewegungen werden aufgedeckt. Bonus’ 64 Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Repu blik, in: ders.: Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 1–110, 10. 65 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch, 7 f. Vgl. Frank-M ichael Kuhlemann: Men talitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der Religion im 19. und 20. Jahrhundert, in: Wolfgang H ardtwig/H ans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschich te Heute, Göttingen 1996, 182–211; Wolfgang Heinrichs: Die Haltung des Protestantismus gegenüber dem Judentum in der Zeit des deutschen Kaiserreichs (1871–1918) als Indikator bürgerlicher Mentalität in der Krise der Moderne, in: MEKR 52 (2003), 133–156. 66 Zur Darstellung von Netzwerken in der Geschichtswissenschaft vgl. Morton R eitmayer / Christian M arx: Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Stegbauer / Roger H äussling (Hg.): Handbuch der Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, 869–880. Eine Netzwerkanalyse wird in dieser Studie allerdings nicht intendiert.
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ausufernde Tätigkeit als Rezensent oder seine teilweise engen Freundschafts kontakte zu Künstlern wie Käthe Kollwitz werden nur angedeutet.67 Diese Ar beit besitzt streckenweise biographische Züge, intendiert aber keine Gesamt schau eines Intellektuellenlebens, sondern möchte die kulturprotestantischen Kontexte ausleuchten, in denen die Idee einer „Germanisierung des Christen tums“ entstand und rezipiert wurde. Als theologiehistorischer Beitrag zur Geschichte des Kaiserreichs folgt diese Studie der seit den 1990er Jahren erweiterten Perspektive auf die Kirchen- und Religionsgeschichte der Jahrhundertwende, die nicht mehr einseitig als Abbruchsund Verfallsszenario beschrieben wird. Lineare Säkularisierungsthesen, die ei nen engen Zusammenhang zwischen Moderne und dem Verschwinden von Reli gion aus der Öffentlichkeit behaupten, gehören der Vergangenheit an. Vielmehr haben kirchen- und religionsgeschichtliche Arbeiten zur Jahrhundertwende ins gesamt das Bild einer religiösen Mobilisierung gezeichnet, die sich am deutlichs ten auf die kirchlich verfasste Religion auswirkte, zudem aber auch eine Auf fächerung durch die Etablierung außerkirchlicher Deutungssysteme erbrachte. Im Kaiserreich lässt sich zusammenfassend eine „Renaissance religiöser Orientierungen und Konflikte“ beobachten, die zeitgleich mit einer „Relevanz krise der Religion“ einherging.68 Während sich einerseits vor allem in der kirch lichen Eigenwahrnehmung der Eindruck eines Bedeutungsverlusts verstärkte, kann andererseits von einer „Vitalisierung der Religiosität“ gesprochen werden, die sich allerdings häufig als Steigerung außerkirchlicher Frömmigkeitsformen auswirkte.69 67 Die Steuerfunktion des religiösen Rezensionswesens im Spektrum der Kultur- und Kir chenzeitschriften insbesondere mit Blick auf die Durchsetzung der religionsgeschichtlichen Schule wäre durchaus eine eigene Untersuchung wert. Insbesondere der Mitherausgeber des Handwörterbuchs Religion in Geschichte und Gegenwart Friedrich Michael Schiele erwies sich hier als geschickter Organisator, dem es gelang, die literarischen Erzeugnisse des freien Protestantismus markttauglich durch Zeitschriftenbesprechungen zu platzieren (vgl. Ruth Conrad: Lexikonpolitik, Berlin 2006, 214–224). Über die Redaktions- und Verlagstätigkeit Schieles zunächst bei der Christlichen Welt, dann bei Mohr in Tübingen ergab sich auch der Kontakt zu Bonus. 68 Auf die Ambivalenzen zwischen dem Zurückweichen religiöser Deutungsmuster und ihrer energischen Rückkehr in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Kaiser reichs verweist programmatisch die Einleitung von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann in ihrem inzwischen zum Standardwerk aufgestiegenen Sammelband: Religion im Kaiserreich, Gütersloh 1996, 8 f. 69 Vgl. das immer noch gültige Resümee im Forschungsbericht von Wolfgang Schieder , Sozialgeschichte der Religion im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 11–28, 24 sowie Ulrich Linse: ‚Säkularisierung‘ oder ‚Neue Religiosität‘? Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900, in: Recherches germa niques 27 (1997), 117–141, 118 f.
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Ernst Troeltsch wies 1913 als genauer Beobachter der religiösen Lage auf die „chaotische Zerspaltenheit unsres Religionswesens“ hin.70 Troeltsch teilte die Topographie des Protestantismus auf die theologischen Lager der „relativ Alt gläubigen“, der „Liberalen“ sowie das unübersichtliche und inhaltlich vielfältige Segment einer kirchenfernen Religiosität auf.71 Waren einerseits besonders die evangelischen Kirchen von einem spürbaren Rückgang der Gottesdienstbesu che und einer sinkenden Abendmahlsfrequenz betroffen, ließen sich anderer seits zahlreiche neue religiöse Bestrebungen beobachten. Neben die „offizielle“, kirchliche Religion rückten private Formen der Frömmigkeit sowie alternative religiöse Angebote, die sich teilweise als Konkurrenz zu den Großkirchen ver standen und – wie etwa der Monistenbund oder die Freidenkerbewegung – als postchristliche Avantgarde in eigenen Organisationsformen nach öffentlicher Anerkennung strebten. Innerhalb wie außerhalb der Großkirchen fand eine in tensive Aufladung von Lebenssphären wie Arbeit, Familie, Politik oder Bildung und Kunst mit religiösen Bedeutungen statt. Vor allem im Bürgertum herrschte eine religiöse Gestimmtheit vor, die Thomas Nipperdey unter dem Begriff der „vagierenden Religiosität“ als krisenbestimmte Antwort auf die Modernisie rung, die massengesellschaftliche Gefährdung der Personalität und der Kultur der Autonomie durch die Zwänge der modernen Zivilisation zusammenfasst.72 Vor diesem Hintergrund ist das Orientierungskonzept „Nation“ neu konturiert worden. Die gedachte und gefühlte Ordnung Nation stellte eine Projektionsflä che auch für die synkretistischen fin-de-siècle-Theologien à la Bonus dar, die schon um die Jahrhundertwende in der Abrechnung mit bestehender Kultur und der unbeweglichen wilhelminischen Bürgerlichkeit radikale Antworten auf die Diagnose einer umfassenden Kulturkrise vorbereiteten. Die Nationalismusfor schung hat an der Schnittstelle von Kultur- und Sozialgeschichte die Nation als „gedachte Ordnung“ und als ein „politisches Projekt“ analysiert.73 Wo die Nation 70
Ernst Troeltsch: Religion, in: David Sarason (Hg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Berlin 1913, 533–549, 534 71 Ebd., 549. 72 Thomas Nippderdey: Religion im Umbruch. 73 Vgl. Benedict A nderson: Imagined Comunities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991 (der deutsche Titel deutet mit dem Terminus „Erfindung“ einen willkürlichen Entstehungszusammenhang an, der mit den obenstehenden, konstruktivisti schen Begriffen nicht intendiert ist): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgen reichen Konzepts, Frankfurt 1996); zum Begriff der „gedachten Ordnung“ vgl. M. R ainer Lepsius: Nation und Nationalismus in Deutschland, in: ders.: Interessen, Ideen und Institu tionen, Opladen 1990, 232–246; Jörg Echternkamp/Sven O. Müller (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, München 2002; Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, 24–33.
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als umfassende „gedankliche Vision“ (Pierre Bourdieu) soziale Bindekräfte frei setzen soll, schafft sie eine scharfe Innen-Außen-Unterscheidung und rekurriert auf historische Narrative, um ihr eine gemeinsame Herkunft zu verleihen und um ihre Teilhaber unter einem gemeinsamen Schicksal zu verbinden. Ein Blick in die Konfessionsgeschichte des 19. Jahrhunderts genügt, um festzustellen, dass der Anspruch des Nationalismus als Integrationsideologie gleichzeitig Quelle ununterbrochener Konflikte im Widerstreit konkurrierender, sich ausschließen der Nationsmodelle darstellt.74 Die Nation wurde zu einem umkämpften Bedeu tungsfeld, an dem sich widerstreitende Idealbilder und Erfahrungsräume an lagerten.75 Dies zeigte sich besonders entlang der protestantischen „Euphorien“ und „Traumatisierungen“ 1870–1914/18–1933 und danach, an denen konfessio nelle Stereotypen unschwer eine Verbindung mit nationalen Feindbildern ein gingen und sich, wenigstens in einigen Segmenten des protestantischen Milieus, auch dem hypertrophen Nationalismus des 20. Jahrhunderts öffneten.76 Bereits 1918, noch in den Wirren des Ersten Weltkrieges, hatte Ernst Troeltsch auf die hohe Synthesefähigkeit von Nationalismus und Religion verwiesen und eine Tendenz im Bürgertum beschrieben, sich in der „Sehnsucht nach Religion und Kraft des Glaubens“ der Nation zuzuwenden. Der Glaube an das Vaterland, so Troeltsch, stelle eine „nationalistische Ersatzreligion“ dar, die gleichwohl „sich mit allerhand religiösen Ideen verbinden gelernt“ hatte.77 Trotz der Substi tutionsmetaphorik führte er den Nationalismus nicht auf das Verschwinden der religiösen Traditionen zurück, sondern verwies auf die Amalgamierung neuer, nationaler Zukunftserwartungen mit alten, christlichen Glaubensinhalten. Er lässt sich nicht als Verdrängungsprozess der christlichen Weltdeutung betrach 74
Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, 27. Dass der Nationalismus als Integrationsideologie zugleich eine polarisierende Wirkung hat, die seinem Anliegen zuwider läuft und durch das Nebeneinander unterschiedlicher Nationsmodelle Konflikt verursacht, verfolgt prägnant anhand britischer und deutscher Na tionalismen im Ersten Weltkrieg Sven O. Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, Göttingen 2003. 76 Frank Becker: Protestantische Euphorien. 1870/71, 1914 und 1933, in: M anfred Gailus/ H artmut Lehmann (Hg.): Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, 19–44; Frank- Michael Kuhlemann: Protestantische Traumatisierungen. Zur Situationsanalyse nationaler Mentalitäten in Deutschland 1918/19 und 1945/46, in: ebd., 81–102. Zum Verhältnis Religion und Nation vgl. Gerd K rumeich /H artmut Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“; Heinz-Gerhard H aupt/ Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in Euro pa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 2004; Michael Geyer /H artmut Lehmann (Hg.): Religion und Nation, Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004. 77 Ernst Troeltsch: Briefe über religiöses Leben und Denken im gegenwärtigen Deutsch land, II, in: Schweizerische theologische Zeitschrift 35 (1918), 24–31, 25. 75
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ten, sondern als eine erfolgreiche Umformung, bei der auf Denkfiguren und Überzeugungen der religiösen Traditionen zurückgegriffen wurde. Der Erfolg des Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts ist mit der „Neuformulierung überkommener Bestände“ oder der „Kombination von alten Elementen […] und neuen Erfindungen“ verknüpft.78 Entsprechend sind auch hier das vielschichtige Zusammenwirken von traditioneller Religion und nationaler Identitätsstiftung, die „symbolisch vermittelte Sakralisierung der Nation […] sowie die Nationali sierung christlicher Glaubensbestände“ in den Blick zu nehmen.79 Exemplarisch lässt sich dieses Ineinanderschieben nationaler und religiöser Weltsichten – im Anschluss an Claude Lévi-Strauss und Friedrich Wilhelm Graf lässt sich von bricolage sprechen – bei Arthur Bonus verfolgen, dessen Werk nach eigenem Bekunden „bewusst oder unbewusst das Problem Deutsch und Christlich zugrunde“ lag.80 Seine Äußerungen zu einer kommenden, deut schen Volksreligion vermischten die abgrenzenden, auf Identität zielenden Züge des Nationalismus mit politischen Reformideen und der Frage nach dem Wesen der Kultur.81 Sie hatten dabei eine den Charakter eines auf Zukunft gestellten Erziehungsprojektes, das sich auf die Transformation der bestehenden kultu rellen und sozialen Zustände richtete: Die religiöse Fundamentalisierung der Nation zielte auf ein „ideales […] Volk“, das sich erst noch bilden musste und das Bonus den Realitäten des wilhelminischen Deutschlands entgegenstellte.82 Vor diesem Hintergrund lässt sich die von Bonus entfaltete Kombination von religiösen, kirchenkritischen und kulturnationalistischen Einstellungen thesen artig als volkserzieherischen Gestaltungversuch bezeichnen, der auf die Schaf fung einer gezielt modernen und zugleich emphatisch als „deutsch“ verstan denen Bildung aus war. Er besass eine utopisch-zukunftsorientierte Grund richtung, die sich die Freilegung eines „neuen Menschen“ und einer neuen 78 Shulamit Volkov: Reflexionen zum ‚modernen‘ und zum ‚uralten‘ jüdischen Natio nalismus, in: Wolfgang H ardtwig/H arm-Hinrich Brandt (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, 145–160, 157; Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, in: K rumeich /Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“, 285– 318, 303. 79 Gangolf Hübinger: Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deut schen Protestantismus, in: K rumeich /Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“, 233–247, 234; vgl. vor allem Peter Walkenhorst: Nationalismus als ‚politische Religion‘? Zur religiösen Dimen sion nationalistischer Ideologie im Kaiserreich, in: Blaschke/Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich, 503–529. 80 A rthur Bonus: Aus der schönen Literatur, in: ThR 1 (1898), 480–492, 490; Graf: Die Nation – von Gott ‚erfunden‘?, 309. Graf verweist auf den Begriff der „bricolage“, um den synkretistischen Charakter des Nationalismus heuristisch zu entfalten. 81 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 250. 82 Bonus: Heimkehr ins Vaterland – Krieg. Erfahrungen und Erwägungen, in: Christliche Freiheit 30 (1914), 592–594.
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Gesellschaft richtete. Für Bonus verbanden sich christliche eschatologische Vorstellungen und ein darwinistisch untermalter Fortschrittsbegriff darin, dass sie konkrete, auf die Zukunft ausgerichteten Handlungsperspektiven ergaben. Lucian Hölscher hat die Verwandtschaft zwischen christlicher Eschatologie und Reich-Gottes-Erwartungen und den Entwicklungsvorstellungen einer neuen Gesellschaft in der Sozialdemokratie untersucht.83 Doch lässt sich der Utopie begriff auch auf rechte, radikalnationalistische Denkmuster anwenden.84 Uto pien sind, wie eine Definition lautet, „Fiktionen innerweltlicher und zukunfts orientierter Gemeinwesen“.85 In ihnen kommt eine Kritik an gegenwärtigen gesellschaftlichen Institutionen und eine Umschreibung möglicher Alternativen zum Ausdruck. Die „Erhöhung der utopischen Intensität“ um die Jahrhundert wende aufgrund der als erhebliche Beschleunigung erfahrbaren wirtschaftli chen, technischen, wissenschaftlichen und sozialen Veränderungen wirkte sich auch auf die rechten Gesellschaftskritiken aus.86 Das Bedürfnis nach Erneue rung drückte sich vielfach in religiösen Begriffen aus, um den umfassenden, gesellschaftlichen wie geistigen Neuerungsbedarf zu umschreiben. Als führen der Entwurf bürgerlich-rechter Kulturkritik sprach Julius Langbehns Werk Rembrandt als Erzieher etwa von der Notwendigkeit einer geistigen und politi schen „Neugeburt unseres Vaterlandes“.87 Ähnlich umschrieb Friedrich Lange einen kommenden Menschheitsfrühling als „Sprengung veralteter, ungültiger Normen“, die auf die „Wiedergeburt“ der deutschen Nation hinauslaufen soll te.88 Die Erlösung der Nation aus ihrem zivilisatorischen Zustand hin zu einer nationalen Wiedergeburt und einer zukünftigen, inneren Einheit von Volk, Glauben und Staat gehörte zu den Grundlinien, in denen sich ein nationales Zukunftsbewusstsein ausdrückte. 83 Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zu kunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989. 84 Vgl. Wolfgang H ardtwig: Einleitung. Politische Kulturgeschichte der Zwischen kriegszeit, in: ders. (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, 7–22; Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt 1988; Frank-Lothar K roll: Utopie als Ideologie. Ge schichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1999. 85 R ichard Saage: Utopia als Leviathan, in: PVS 29 (1988), 185–209, 186; vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 37. 86 Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, 331; Ute Frevert (Hg.): Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000; Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999, 129–131. 87 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 411892, 123. 88 Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, Berlin 31894, 47.
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Erstes Kapitel: Einleitung
II. „Interferenzen“. Kulturprotestantismus und Völkische Bewegung: Begriffsbestimmungen 1. Zum Begriff des „Völkischen“ im Kaiserreich Die Diskussion darüber, was als „völkisch“ zu gelten hat, ist genauso alt wie der Begriff selbst, dessen Wurzeln sich in die 1880er Jahre und die Nationalitä tenkonflikte der österreich-ungarischen Donaumonarchie zurückverfolgen las sen.89 Im Kontext protestantischer Debatten lässt er sich erst nach der Jahrhun dertwende nachweisen, wo er neben Begriffen wie „chauvinistisch“ oder „natio nal“ als eine Neuschöpfung wahrgenommen wurde, die eine bewusste und exklusive Wertorientierung am eigenen Volke zum Ausdruck zu bringen such te.90 Angesichts der hohen Diversität konkurrierender Selbstzuschreibungen, sich ausschließender ideologischer Ansprüche und programmatischer Ansätze stellte eine Vereinheitlichung des Begriffs allerdings bereits für die Zeitgenos sen ein Problem dar. Trotz zahlreicher Anläufe gelang es den Völkischen im Kaiserreich nicht, „eine einheitliche, systematische und für die Bewegung all gemein verbindliche Ideologie“ auszuformen.91 Vielmehr sammelte sich unter diesem Schlagwort ein heterogenes Spektrum unterschiedlicher politischer, kulturkritischer und literarischer Bestrebungen, die ihre Grenzen zu den Re formbewegungen sowie zu kulturkonservativen und deutschnationalen Bestre bungen offen hielten. Die Feststellung George L. Mosses, die völkische Be wegung strukturiere sich „wie ein Spinnennetz“ in einem Geflecht von per sönlichen Beziehungen und organisatorischen Netzwerken mit zahlreichen divergierenden politischen, literarischen und kulturkritischen Motiven, hat nach wie vor Gültigkeit.92 Für die Geschichte der völkischen Bewegung ist es charak teristisch, dass gleichzeitig „verschiedene, sich teils überlappende – schwer punktmäßig antisemitisch, (lebens)reformerisch, eugenisch/rassenhygienisch,
89 P uschner: Die völkische Bewegung, hier 28 f.; ders.: Weltanschauung und Religion, Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion, in: zeitenblicke 5 (2006), 7; ders.: Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff, in: Paul Ciupke (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenen bildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, 53–66. Hinweise zur Wortgeschichte mit älteren Belegen bei Günter H artung: Völkische Ideologie, in: HzVB, 22–44, hier 23. 90 W.E. Schmidt, Nationalismus und Protestantismus, in: Deutsch-evangelische Blätter 30 (1905) 802–819, 809, vgl. R ainer Lächele, Protestantismus und völkische Religion, in: HzVB, 149–163, 152. 91 P uschner: Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff, 57 mit zahlreichen Beispielen für zeitgenössische Begriffsbestimmungen. 92 Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer, 89.
II. „Interferenzen“. Kulturprotestantismus und Völkische Bewegung
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kulturell und religiös ausgerichtete – Teilbewegungen“ nebeneinander stehen.93 Zahlreiche Querverbindungen laufen zu den verschiedenen Zweigen der Le bensreform, der Jugendbewegung und dem parteipolitisch organisierten Anti semitismus. Als der völkische Zeitschriftenverleger Wilhelm Schwaner 1911 die unter schiedlichen oppositionellen Reformbestrebungen zu einer „Kulturwahl“ mobi lisieren wollte, listete er die aus seiner Sicht gesinnungsverwandten Kreise auf, die hier als Beleg für die Streuung der Organisationen und Weltanschauungs programme dienen sollen, die sich in unterschiedlicher Intensität mit völkisch- nationalistischen Ideologemen aufladen ließen: Kunstwartleute, Türmer, Bodenreformer, Ethiker, Monisten, Freidenker, „Menschen“, Tem perenzler, Guttempler, Vegetarier, Impfgegner, Gartenstädtler, Theosophen, Schulreformer, Lichtfreunde, Hammerleute, „Falken“, Jung-Germanen, Biosophen u. a.94
Die hier zusammengestellten Bestrebungen umfassten in ihrer inhaltlichen und politischen Ausrichtung stark divergierende Zielsetzungen und reichten von den um die Zeitschrift Der Kunstwart gruppierten nationalkulturellen Reform kreisen über praktische Versuche einer Lebenserneuerung wie dem Vegetaris mus bis hin zu Anhängern der seit 1902 erscheinenden, radikal antisemitischen Zeitschrift Der Hammer. Blätter für deutschen Sinn. Nicht zu Unrecht quittierte der Naumannianer Theodor Heuss in der Zeitung Die Hilfe dieses Sammlungs programm mit einem gewissen Spott, es sei „entschieden humoristisch […] fast nicht greifbare Kreise“ unter einem einheitlichen Begriff der Kulturbewegung zusammenfassen zu wollen.95 Schwaners Aufstellung schloss etliche Gemein schaften ein, die sich nicht ohne weiteres dem völkischen Lager zuschlagen las sen, und verortete die Völkischen in einem weitgespannten Oppositionsspekt rum, das bis zum Ersten Weltkrieg Verbindungen zu den bürgerlichen Reform bewegungen und zu anderen weltanschaulichen Feldern keineswegs ausschloss. Das Beispiel Schwaners zeigt zudem, dass eine trennscharfe Abgrenzung des völkisch-ideologischen Komplexes innerhalb der deutschen Nationalismen der Jahrhundertwende nicht ohne Schwierigkeiten ist. Überlagerungen und inhalt liche wie personelle Überschneidungen mit der Lebensreformbewegung, den kulturnationalistischen Strömungen im Bürgertum oder den Spielarten des Na tionalprotestantismus machen eine engere Typisierung fundamentaler Merk male der völkischen Weltanschauung notwendig.
93 Ebd.,
57. Wilhelm Schwaner: Unsere Kulturwahl, in: Volkserzieher 15 (1911) 17. 95 Theodor H euss: Politischer Dilettantismus, in: Die Hilfe 17, Nr. 5 (2.2.1911) 67; vgl. Die Kulturbündlerwahl, in: ebd., Nr. 8 (23.2.1911) 124. 94
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Erstes Kapitel: Einleitung
In der Forschung sind dazu zwei parallele Versuche vorgelegt worden.96 Un ter der Ägide von Uwe Puschner hat sich zunächst in dem epochalen Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918 sowie fokussiert in seiner Studie zur völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich eine eher kulturge schichtlich motivierte Herangehensweise etabliert, die das Netzwerk völkischer Organisationen und Motive anhand der von ihnen geprägten Weltanschauung zu entflechten sucht. Demnach gruppiert sich die völkische Ideologie um die drei „Schlüsselbegriffe“ Sprache – Rasse – Religion, die gleichsam als herme neutisches Dreieck dazu dienen, der heterogenen, komplexen Weltanschauungs struktur der Völkischen Herr zu werden. Die völkische Weltanschauung war eine Purifikationsideologie, die Sprachreinheit als Eingangsschritt zum Er reichen einer unverfälschten, angeblich germanischen Nationalkultur propa gierte: Die „Verunreinigung“ der Sprache wurde als Einfallstor der „Verun reinigung der völkischen Substanz“ bewertet, so etwa im Umfeld der Zeitschrift Heimdall.97 Sodann bildete die „Rassenfrage“ ein weiteres, strukturierendes Grundthema der völkischen Diskurse, die gleichwohl nicht zu einem ausschließ lichen Kriterium anwuchs.98 Auch wenn Völkische wie Adolf Bartels für eine gesteuerte Bevölkerungspolitik durch „Rassenzucht“ plädierten99 und in Theo dor Fritschs radikalantisemitischer Zeitschrift Hammer mit rassistischer Be gründung die Trennung vom Judentum eingefordert wurde,100 entwickelte sich kein einheitlicher Rassenbegriff.101 Vielmehr stand das von dem Wagnerianer Ludwig Schemann progierte Rassenverständnis des Grafen Gobineau neben Spekulationen über die Herkunft des Ariertums oder eher kulturgeleiteten Vor stellungen einer germanischen „Geist-Rasse“; alle diese Spielarten ließen sich 96 Uwe P uschner: Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff; Stefan Breuer: Die Völ kischen in Deutschland, 7–22. 97 P uschner: Die völkische Bewegung, 14. 98 Ebd., 204–207. 99 So der Titel eines Aufsatzes von A dolf Bartels, in: Politisch-anthropologische Revue 7 (1908), 629–642. 100 Fritsch zählte zu den wirkmächtigsten Agitatoren des völkischen Antisemitismus, der als deutschradikaler Vernetzer über 1933 aktiv blieb. Zu ihm und seiner Zeitschrift vgl. Andreas Herzog: Theodor Fritschs Zeitschrift Hammer und der Aufbau des ‚Reichs-Ham merbund‘ als Instrumente der antisemitischen völkischen Reformbewegung (1902–1914), in: Mark Lehmstedt/ders. (Hg.): Das bewegte Buch, Wiesbaden 1999, 153–182; Michael Bönisch: Die ‚Hammer‘-Bewegung, in: HzVB, 341–365. 101 Thomas Gräfe: Antisemitismus in Deutschland. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliographie, Norderstedt 2010, 188; Stefan Breuer: Gescheiterte Milieubildung: Die Völkischen im Deutschen Kaiserreich, in: ZfG 52 (2004), 995–1016, 997; Puschner: Die völ kische Bewegung, 71–76.124–131; Felix Wiedemann: Rassenmutter und Rebellin. Hexen bilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007, 120.
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jedoch antisemitisch ausdeuten.102 Schließlich lässt sich mit Uwe Puschner in der Suche nach einer artgemäßen Religion das konstitutives Element, gleichsam der „archimedische Punkt“ der völkischen Weltanschauung, wahrnehmen.103 Im Zuge der Erforschung rechter Ideologien und der „konservativen Revolu tion“ hat der Soziologe Stefan Breuer den Fokus eher auf die politisch-sozialen Strukturen der Völkischen gerichtet, die er hinsichtlich ihrer Wertsetzungen und gesellschaftlichen Ziele als eine Mittelstandsideologie ausweist. Dadurch gerät bei ihm stärker der politische Flügel der völkischen Bewegung, etwa mit dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband oder – nach dem Ersten Welt krieg – dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund der Weimarer Jahre in den Blick. Breuer löst die völkische Bewegung aus einem Interpretationsmuster, das im wachsenden Radikalnationalismus des Kaiserreichs eine kulturpessimis tische Antwort auf die Herausforderungen der Moderne sieht.104 Er betont hin gegen die Reformbereitschaft und Fortschrittsgläubigkeit vieler Völkischer: Romantisch-religiöse, vielfach auf die Vergangenheit gerichtete „Stimmungen” stehen im Widerspruch zu der hohen Bereitschaft, sich positiv auf Erscheinungen der Moderne – auf Eugenik, Stadt- und Bevölkerungsplanung sowie Technisie rung – einzulassen.105 So warb der völkische Literat Adalbert Luntowski im Oktober 1912 in einem Vortrag vor dem Hamburger Deutschbund für eine „Ger manische Moderne“, die er als Gegenmodell zum Wilhelminismus und als Zu kunftsentwurf mit Sinnstiftungsqualitäten darstellte und mit der er auf die Re generation eines einheitlichen „deutschen Menschen“ hinarbeiten wollte.106 Nach vorsichtigen Schätzungen zählten bis zum Ausbruch des Ersten Welt kriegs nicht mehr als zehntausend Anhänger zum festen, in diversen Bünden und Vereinen organisierten völkischen Kern. Durch ein umfassendes Presse netzwerk, teilweise auflagenstarke Veröffentlichungen und modernste Verlags strategien gelang es der völkischen Agitation jedoch, weit über ihre zahlen mäßige Größenordnung hinaus die Öffentlichkeit zu erreichen.107 Das völkische 102
Puschner: Die völkische Bewegung, 62–82. Vorwort, in: HzVB, XIX. 104 Zum Kulturpessimismus bei Lagarde, Langbehn und Moeller-Van den Bruck vgl. Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. 105 Breuer: Die Völkischen in Deutschland, 11. Auch Puschner zeichet die völkische Be wegung als Suchbewegung nach einer alternativen Moderne nach. 106 A dalbert Luntowski: Die Geburt des deutschen Menschen, Leipzig 1914; vgl. Justus H. Ulbricht: Agenturen der ‚deutschen Wiedergeburt‘. Prolegomena zu einer Geschichte völkischer Verlagsarbeit in der Weimarer Republik, in: Schmitz/Vollnhals (Hg.): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus, 235–239, 235 f. 107 Zum völkischen Publikations- und Verlagswesen vgl. Ulbricht: Das völkische Ver lagswesen im deutschen Kaiserreich, in: HzVB, 277–301; ders.: ‚Ein heimlich offener Bund für das große Morgen…‘ Methoden systematischer Weltanschauungsproduktion während 103
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Erstes Kapitel: Einleitung
„Wirrwarr von Sekten, Verbänden und Kleinunternehmen“ war auf ein loses, extrem ausdifferenziertes Netz unterschiedlicher Gruppierungen verteilt, das jedoch durch seine Zeitschriften und die ihnen zugehörigen Teilbewegungen zunehmend an Eigenprofil gewann.108 Die völkischen Vereine und Verbände waren überwiegend männlich besetzt.109 Sie rekrutierten sich aus dem Mittel stand, besonders die völkischen Führungsriegen entstammten dem (bildungs-) bürgerlichen Milieu. Lehrer, Beamte, Freiberufler, Ärzte, auch einige evangeli sche Geistliche nahmen in der Ausformulierung und Verbreitung völkischer Ideen quantitativ und qualitativ eine wichtige Stellung ein. Die völkische Bewegung manifestierte sich als Gegen- und als Suchbewe gung, die von einem dichotomischen Weltbild ausging. Antisemitismus, Anti slavismus und Antiromanismus, die Klage über Verstädterung und Vermassung in der Industriekultur standen dem Streben nach einer autochthonen und einheit lichen Nationalkultur gegenüber. Die von völkischen Autoren immer wieder erhobenen Klagen über die „Entartung des Volkes“,110 über „Decadence“ und Verfall in Sitte und Sprache111 und dem gegenüber Julius Langbehns Ruf nach der Weimarer Republik, in: Hubert Cancik (Hg.): Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004, 65–82; Hinweise auch bei ders.: Bücher für die ‚Kinder der neuen Zeit‘. Ansätze zu einer Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 17 (1988–92), 77–140; M ark Lehmstedt/Andreas Herzog (Hrsg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewe gungen um 1900, Wiesbaden 1999 (darin v. a.: Andreas Herzog: Theodor Fritschs Zeitschrift Hammer und der Aufbau des ‚Reichs-Hammerbund‘ als Instrumente der antisemitischen völkischen Reformbewegung (1902–1914), in: ebd., 153–182); verlagsgeschichtlich zur Wei marer Republik über den völkischen Bereich im engeren Sinne hinaus: Wiebke Wiede, Rasse im Buch. Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weima rer Republik, München 2011. 108 Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten, 89 f.; P uschner: Strukturmerkmale der völkischen Bewegung, 446. 109 Vgl. aber zur gender-Frage und zur Rolle von Frauen in der völkischen Bewegung des Kaiserreichs K arin Bruns: Völkische und deutschnationale Frauenvereine im ‚zweiten Reich‘, in: HzVB, 376–396; Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; dies.: Reaktionäre Modernisten? Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antifeminismus in der völkischen Bewegung, in: Jahr buch für Antisemitismusforschung 11 (2002), 31–51; Eva Schöck-Quinteros/Christiane Streubel (Hg.): „Ihrem Volk verantwortlich“. Frauen der politischen Rechten (1890–1933). Organisationen, Agitationen, Ideologien, Berlin 2007. 110 Vgl. dazu die von Paul Schultze-Naumburg verfasste Aufsatzreihe im Kunstwart: Kulturarbeiten: K ratzsch: Kunstwart, 125; vgl. Norbert Borrmann: Paul Schultze-Naum burg 1869–1949, Essen 1989. 111 A dolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart, Leipzig 1900, 14 f. H ans von Hülsen: Neid als Gesinnung. Der manische Antisemitismus des Adolf Bartels, in: Karl Schwedhelm (Hg.): Propheten des Nationalismus, München 1969, 176–188; Steven N. Fuller: The Na zis’ Literary Grandfather. Adolf Bartels and Cultural Extremism, 1871–1945, New York 1996.
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geistiger „Synthese“112 waren nicht einfach antimodern, sondern wiesen auf den Wunsch nach einem holistischen Weltbild hin. Dabei stellte der Antisemitismus in unterschiedlichen Graden und Begründungsmustern – teils als biologistisch formulierter Rassenbegriff, teils als mit kulturellen Stereotypen durchsetzte Ab lehnung – ein Schlüsselelement dar, das zur scharfen Trennung zwischen Eige nem und Fremdem nutzbar war.113 Als eine spezifisch moderne Suchbewegung, die aus dem Krisenbewusstsein der Wende ins 20. Jahrhundert erwuchs, strebte die völkische Bewegung eine Umprägung der bürgerlichen Moderne an. Gleich sam als „Kulturrevolution von Rechts“ – so Justus H. Ulbricht – wurde nach Alternativen zur Gegenwart gesucht und im Sinne einer „reflexiven Modernisie rung“ an den Prämissen der Industriegesellschaft gelitten.114 Deren Folgen wirk ten sich besonders auf die Vertreter des vor allem städtischen Mittelstandes aus, aus denen die völkische Bewegung Zustrom erhielt, was sie fest im juste milieu der wilhelminischen Gesellschaft verankerte und ihr Züge einer sozialen Pro testbewegung verlieh. Gleichermaßen gegen übernationale Strukturen und die Großindustrie gerichtet, verbanden sich Antikatholizismus, Antisozialismus und Antikapitalismus eng in der Abwehr „der römischen Priestergarde“, „der roten Internationale“ und des „internationalen Raubtierliberalismus“.115 Dergleichen Anti-Einstellungen und abgrenzenden Beschreibungen des „Fremden“ stand die Suche nach einem „Selbst“, nach Identität gegenüber. Die Verklärung einer angeblichen germanischen Vorzeit und der Germanenmythos nahmen bei der Konstruktion der konstituierenden Ursprünge des Deutschen und seiner Wesenzüge eine grundlegende ideologische Funktion ein. Die „An nahme einer Kontinuität der germanisch-deutschen Volksgeschichte über die Jahrtausende hinweg“ gehörte zu den wirkmächtigen Elementen der Identitäts 112 Julius
Langbehn: Rembrandt als Erzieher, 228. Zu Langbehn und seinem langjährigen Bestseller vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der ‚Rembrandtdeutsche‘, in: HzVB, 94–113; Anja Lobenstein-Reichmann: Julius Langbehns ‚Rembrandt als Erzieher‘. Diskursive Traditionen und begriffliche Fäden eines nicht ungefährlichen Buches, in: M arcus Müller / Sandra K luwe (Hg.): Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation, B erlin 2012, 295–318. 113 Vgl. auch Breuer: Die Völkischen in Deutschland, 26 f. 114 Ebd., 13; vgl. Justus H. Ulbricht: Kulturrevolution von rechts. Das völkische Netz werk 1900–1930, in: Detlev Heiden/Gunther M ai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Köln 1995, 29–48. Den Begriff „reflexive Modernisierung“ hat der Soziologie Ulrich Beck mit Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt (vgl. ders.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986); im Sinne einer Selbstthematisierung der technisch-industriellen Welt und der durch sie bedingten sozialökonomischen Verände rungen, Statusbedrohungen, der ermöglichten sozialen und räumlichen Mobilität sowie der Ausdifferenzierung von Lebenswelten usw. lässt sich der Begriff aber auch auf die Um bruchssituation der Jahrhundertwende anwenden. Thomas Nipperdey spricht von einer „zwei ten Stufe der Moderne“ (Deutsche Geschichte, Bd. 1, München 1994, 825). 115 Wilhelm Schwaner: Streiflichter, in: Volkserzieher 9 (1905), 164.
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stiftung im Kaiserreich, auf die sich auch völkische Denker bezogen und an der auch Bonus teilhatte.116 Die intensiv betriebene Rezeption nordischer und mit telalterlicher Mythen und Sagenstoffe hatte hier eine wesentliche Bedeutung.117 In diesem Zusammenhang wurde die Edda in der völkischen Bewegung zu ei nem Buch mit „kultischem Charakter“ stilisiert, das als Hauptquelle einer unan getasteten germanischen Mythologie und Weltanschauung rezipiert wurde.118 Auch wenn, wie die Berliner Allgemeine Zeitung 1914 schilderte, manchen Zeitgenossen die „ueberspannte Deutschtümelei“ einiger Völkischer auffiel, die „ihr Denken und Fühlen besser in der Zucht“ hielten, handelte es sich bei ihnen mehrheitlich nicht um verstiegene ideologische Sonderlinge.119 Als Teil der bür gerlichen Bildungsschichten erstrebten die Völkischen die Selbstverpflichtung zu einer methodischen, auf das Volk ausgerichteten Lebensführung, sie ent wickelten den Nationalismus gleichsam zu einer Lebensform. Sie verstanden sich als eine „geistig-moralische […] Bewegung”, die schichten- und parteiüber greifend „Gesinnung“ zu schaffen beabsichtige.120 Friedrich Lange etwa, der Gründer der Deutschbundes, hielt einen „Nur-Antisemitismus“ nicht für zielfüh rend, sondern strebte nach einer umfassenderen, „höher greifenden nationalen Weltanschauung“ , die über den Bereich der Politik hinaus die Gesellschaft im Ganzen erfassen sollte.121 „Deutschlands Zukunft“, so eine Diagnose, war durch „Geistesbildung“ und die „Veredelung der Gesinnung“ zu erreichen.122 Der er 116
R ainer K ipper: Der Germanenmythos, 11; Ingo Wiwjorra: Die deutsche Vorgeschichts forschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: HzVB, 186–207. 117 Vgl. I ngo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, 66–71; ders.: Germanenmythos und Vorgeschichtsforschung im 19. Jahrhundert, in: Michael Geyer /H artmut Lehmann (Hg.): Religion und Nation, Nation und Religion, Göttingen 2004, 367–385; Julia Zernack: Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: HzVB, 482–511. 118 Julia Zernack: Germanische Restauration und Edda-Frömmigkeit, in: R ichard Faber (Hg.): Politische Religionen, religiöse Politik, Würzburg 1997, 143–160, 154; dies.: Germani sche Altertumskunde, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Re ligion, 227–253; zur Wirkung auch auf völkisch-christliche Kreise vgl. Ulrich Nanko: Das Spektrum völkisch-religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins ‚Dritte Reich‘, in: ebd., 208–226, 210. 119 Wotansdiener. Ueberspannte Deutschtümelei, in: Berliner Allgemeine Zeitung (8. Fe bruar 1914), vgl. Puschner: Deutschchristentum, 95. 120 Vgl. P uschner: Die Völkische Bewegung, 52, Theodor Fritsch: Neue Wege, Dresden 1922, 280–288, 281. 121 Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, Berlin 31904 (11893), 109; Puschner: Die völkische Bewegung, 52; Gregor Hufenreuter: Art. Friedrich Lange, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Berlin 2009, Band 2/2, 452–453. 122 Ernst Eberhardt-Humanus: Von Deutschlands Zukunft, in: Volkserzieher 12 (1908), 33–35.
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folgreiche völkische Literat Friedrich Lienhard verband mit dem Ruf nach „Mehr Seele!“ die Forderung, die Industrienation Deutschland innerlich zu einigen und, als ein Gegenentwurf zur rationalistischen Moderne, von „Durchgeistigungs männern, Künstlern und Herzensmenschen“ durchwirken zu lassen.123
2. Deutschchristliche Synkretismen im Kaiserreich Ausgehend von einem germanen- und rassenideologischen Denken und einer antisemitisch unterlegten Kritik am Christentum entstanden um die Jahrhun dertwende im Umfeld der völkischen Bewegung verschiedene Religionsent würfe, die von einem arisierten Deutschchristentum bis zu einer entschiedenen Ablehnung des Christentums mit neuheidnischen oder deutschgläubigen An sätzen reichten. Einvernehmen bestand im „antirömischen Affekt“ und in der Ablehnung des Judentums.124 Wie die völkische Bewegung insgesamt war das völkisch-religiöse Teilsegment dicht vernetzt und durch Doppelmitgliedschaften eng untereinander verbunden. Insgesamt lassen sich in der Zeit zwischen 1890 und 1945 etwa siebzig völkisch-religiöse Verbände ermitteln, die esoterische, ariosophische, monistische und deutschchristliche Splittergruppen umfassten.125 Die kontinuierlich hohe Präsenz der Religionsdiskurse in den völkischen Blättern wie auch in den bildungsbürgerlichen Kulturzeitschriften lässt vermu ten, dass es sich hier nicht nur um einen nebensächlichen Seitenast der völki schen Ideologie handelte, sondern um ein Kernbedürfnis. Vielfach finden sich hier Säkularisate des kirchlichen Protestantismus, aus dessen Reihen sich die überwiegende Mehrheit der Völkischen rekrutierte. Ihre Religionsvorstellungen lassen sich als Amalgam antisemitischer, antikatholischer, antiklerikaler und antiintellektualistischer Einstellungen beschreiben. Dabei entstand eine ausge sprochene „Intellektuellenreligiosität“, die überlieferte Glaubenssprachen und Heilssymbole synkretistisch kombinierte und in ein kulturkritisches Panorama der Gegenwart einbaute, um mit ihm ihre Forderungen nach einer grundlegen den Änderungen der geltenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ver hältnisse zu begründen.126 Die Selbstinszenierung als religiöse Propheten neuer 123
Friedrich Lienhard: Deutsch-evangelische Volksschauspiele, Leipzig 1901, 24. K laus von See: Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt 1970, 9 f. 125 Justus H. Ulbricht: Deutschchristliche und deutschgläubige Gruppierungen, in: Diethart K erbs/Jürgen R eulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegung, Wuppertal 1998, 499–511, 501. 126 Friedrich Wilhelm Graf: Propheten moderner Art? Die Intellektuellen und die Reli gion, in: APuZ 40 (2010), 26–30, 27; vgl. ders. (Hg.): Intellektuellen-Götter, München 2009; Justus H. Ulbricht, ‚…in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit…‘ Aspekte einer Problem geschichte ‚arteigener Religion‘ um 1900, in: Stefanie v.Schnurbein/ders. (Hg.): Völkische 124
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Erstes Kapitel: Einleitung
Religion und als tiefsinnige Deuter sollte ihren „Sinnsynthesen“ den Anschein normativer Verbindlichkeit verleihen.127 Für die Vertreter der völkisch-religiösen Bewegungen stellte Religion einen wesentlichen Ausdruck der Eigenschaften eines Volkes dar. Kultur und Reli gion, Gemüt und Emotionen wurden dabei mitunter als abhängig von den biolo gistisch bestimmen Rasseanlagen des Menschen beschrieben. Dabei wurde die Einheit von Religion und Lebensanschauungen als grundlegend für eine deut sche Zukunftskultur wahrgenommen: Nun fließen Religion und Kultur im Grunde wohl aus der selben Quelle, dem angeborenen, inneren Kern des Menschen, und sind nur zwei Worte für einen weiten Begriff, die sich ver halten wie Gefühl zum Ausdruck, wie Wesen zur Erscheinung. […] Kultur als Ausdruck des Innenlebens ist ohne Religion nicht zu denken und in der Auffassung und Darstellung der Religion, des inneren Verhältnisses des Menschen zu den Welträthseln, gipfelt die Kultur.128
In Umformung und Ablehnung bildete die Interpretation des Christentums und der Christusgestalt ein Kernthema der völkischen Religionsentwürfe. Die Ab lehnung des Christentums konnte sich in Zukunftsvisionen entleerter Kirchen äußern, die nicht nur als Indiz eines scharfen Antiklerikalismus zu lesen waren, sondern eher auf ein religiöses Bedürfnis hinwiesen, das im formalisierten pro testantischen Vereins- und Gottesdienstbetrieb nicht erfüllt wurde. In der neu religiösen Zeitschrift Der Heide veröffentlichte der Herausgeber Martin Hilde brandt ein Gedicht, das aufgrund eines obrigkeitlichen Staatskirchentums und geistlicher Leere im Christentum dessen Selbstauflösung heraufbeschwor: Die letzte Kirche – ist verlassen Von der Gemeinde, ausgestorben; Hier steht kein Christ mehr, sie sind all’ verdorben, Kein Rot der Inbrunst, kein verruchtes Hassen. Der Christen heilige Zufluchtsstätte Weltabgeschieden in der Felsenkluft, Ward ihres Glaubens Totenbette: Gottes Gruft.129 Religion, 3–24, 12; ders.: Art. Intellektuellenreligion, in: Christoph Auffarth (Hg.): Metzler Lexikon Religion, Bd. 2, Stuttgart 1999, 101–103; H ans G. K ippenberg, Intellektuellen-Reli gion, in: Peter Antes (Hg.): Die Religion von Oberschichten. Religion – Profession – Intel lektualismus, Marburg 1989, 181–201. 127 Graf: Propheten moderner Art, 29. 128 Josef L. R eimer: Ein Pangermanisches Deutschland. Versuch über die Konsequenzen der gegenwärtigen wissenschaftlichen Rassenbetrachtung für unsere politischen und religiö sen Probleme, Berlin 1905, 202. 129 M artin H ildebrandt: Gottes Grab, in: Der Heide 1 (1901), 5. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem umfänglicheren Poem, das programmatisch über die erste Ausgabe des kurzlebigen Blattes gestellt war. Der Herausgeber rief darin zur Gründung eines in Berlin- Charlottenburg stationierten „Heidenbundes“ auf. Hildebrandt entstammte der Bewegung um
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In der völkisch-religiösen Publizistik äußerte sich eine radikale Ablehnung der Kirchenlehre und der christlichen Ethik, die sich insbesondere auf die nationalen „Feinde, Rom und Juda“ bezog.130 Die „vampyrhaft-herrschsüchtige, dämonisch- geistesfeindliche“ katholische Kirche habe in Fortsetzung einer jüdischen Anthro pologie den „Gewalts-Christus mit Höllen-Perspektiven auf den Thron“ gesetzt und die überkonfessionell-germanische „Volkskirche“ zerstört.131 Die katholische Kirche wurde als römisch gesetzliche Fremdmacht oder als verbrämtes Judentum angegriffen, vielfach in Überschneidung mit den Anliegen der Los-von-Rom- Bewegung.132 Dementgegen wurde die lutherische Reformation – in Analogie zur nationalprotestantischen Indienstnahme des Reformators – als Ansatz zu einer Ein deutschung des Christentums wahrgenommen. Luther bildete einen Höhepunkt der Versuche des „deutschen Gewissens“, sich vom christlichen Fremdglauben zu befreien. Für die völkischen Religionstheoretiker war die Reformation jedoch nicht der Abschluss der religiösen Verdeutschung, auf deren Fortsetzung sie hindräng ten: „Luther war in dieser Kette natürlich noch nicht das letzte Glied. Er tat nur, was er zu einer Zeit tun konnte. Tun wir, was wir zu dieser Zeit vermögen!“133 ein Einiges Christentum um Moritz von Egidy und hatte sich in der sozialreformerischen Phase um 1890 durch mehrere politische Schriften hervorgetan, welche die weltanschauliche und soziale Einheit der deutschen Nation zu befördern gedachten: Ketzer-Briefe, Berlin 1891; ders.: Nicht gegen den Kaiser! Zur socialen Bewegung, Berlin 1890. Aufschlussreich für die gesellschaftlichen Konsequenzen eines solchen Religionsbekenntnisses war, dass die Einla dung zum Abonnement der Zeitschrift ausdrücklich betonte, dass bei ihr der Versand nicht wie sonst üblich offen unter Kreuzband über die örtlichen Postämter verlief, sondern diskret „in einem verschlossenen Briefumschlag“ erfolgte. In der Christlichen Welt wurde die Zeit schrift mit Ablehnung registiert, vgl. M artin R ade: Moderne Religionsstifter, in: CW 15 (1901), 938–941, 940: „An Ablehnung des Christentums läßt das Blatt Nichts zu wünschen übrig; was es dafür Neues bringt, ist wenig. Die Versicherung: ‚wir bekommen wieder Lei denschaft in geistigen Dingen,‘ hören wir wahrhaftig gern, aber vorläufig wird auch hier nur mit Wasser gekocht.“ Umgekehrt bescheinigte Hildebrandt den Versuchen einer Verbindung von Religion, Deutschtum und Moderne, wie sie bei Johannes Müller-Elmau und anderen hervortrat, dass es sich bei ihren Verfechtern um unentschiedene „Kompromiß-Süchtlinge“ handele; vgl. M artin Hildebrandt: Moderne Wanderpropheten, in: Der Heide 1 (1901), 77. 130 A dolf R einecke: Vom deutschen Glaubenstume, in: Heimdall 19 (1914), 4–6.17–29.41– 44, 43. 131 Willy Schlüter: Deutsche Religion, in: Volkserzieher 6 (1902), 204; 7 (1903), 8–9.25– 26.43–44.57–58, 43 f. 132 Vgl. dazu P uschner: Die völkische Bewegung, 207–214. Auf protestantischer Seite wirkte der vom Evangelischen Bund beauftragte Pfarrer Paul Bräunlich für eine Vernetzung in die völkische Bewegung hinein, vgl. von ihm z. B.: Wider die Versuche, auf kirchlichem Gebiet die deutsche Volksgemeinschaft aufzulösen, in: Heimdall 19 (1914), 28–29; vgl. ähn lich Ottmar Hegemann: Deutschtum und Christentum, in: Alldeutsches Tagblatt Nr. 124, 11. Jg. (1. Juni 1913), 1–2. 133 A dolf K roll: Baldertum und Kristentum, in: Heimdall 17 (1912), 4–5.
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Erstes Kapitel: Einleitung
Auch wenn zahlreiche völkische Religionsentwürfe die germanische Rasse zu ihrem Bezugspunkt erklärten und nach einer spezifisch „Deutschen Reli gion“ strebten, war es eine Minderheit, die den völligen Abschied vom Christen tum nahm.134 In einer religiösen Renaissance wurde die „feste Burg“ einer Er neuerung des Nationalgefühls gesucht.135 Dabei wurde die „Reformation des zwanzigsten Jahrhundert“ überwiegend aus einer Inkorporation nationaler Ge fühlslagen in das Christentum und nicht in dessen Auflösung erhofft. Es „drängt das wiedererwachte Nationalgefühl nach einer Wiedergeburt der christlichen Lehren im germanischen Geiste hin“, wie ein völkischer Autor zusammenfass te.136 Dabei wurde die Lösung von seinen jüdischen Wurzeln, die Abscheidung der paulinischen Theologie, schließlich auch eine Germanisierung der Jesus gestalt gefordert. Als Beispiel für viele lässt sich auf Adolf Reinecke verweisen, den Herausgeber der völkischen Zeitschrift Heimdall, der für das Christentum „in Fortsetzung der ersten durch Luther bewirkten Umformung und Reinigung nun eine zeitgemäße abermalige Reinigung in freiem und arischem Geist“ an mahnte.137 Dazu gehörte die Ausscheidung alttestamentlicher Stoffe aus dem Christentum, weil diese „mit dem Kristentum eigentlich gar nichts zu tun“ ha ben und „nach unseren arischen Ehr-, Redlichkeits- und Sittlichkeits-Begriffen höchst verderbliche sind“, sowie ein radikaler Antisemitismus.138 Zahlreiche völkische Autoren bemühten sich in unterschiedlichen Variatio nen um eine Ablösung Jesu aus dem Judentum. Mit antisemitischem Akzent wurden exegetische Spekulationen angestellt, um die reine Jesuslehre vom Ju dentum und vom Paulinismus abzuheben, der als die Grundlage für das Mach tinstitut Kirche angesehen wurde.139 In teilweise umfangreichen Beweisführun gen behaupteten manche völkische Autoren eine langfristige Sonderstellung 134 Vgl.
exemplarisch zur hohen Bedeutung protestantischer Einstellungen am Beispiel der Zeitschrift Der Volkserzieher: Christopher König: „Sonnengeistigkeit, Wald- und Frei heitsweben“. Die Zeitschrift Der Volkserzieher im Kaiserreich, in: Michel Grunewald (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, Bern 2008, 163–183. 135 E. Salle: Grundsteine und Bruchhäuser, in: Volkserzieher 12 (1908) 19. 136 R. Lieske: Die Reformation des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Volkserzieher 15 (1913), 54–55, 55. Vgl. zur Diskussion um einen Germanenglauben einschlägig die Serie von Ludwig Fahrenkrog: Germanentempel, in: Volkserzieher 12 (1908), 41–42.77–78.171–172; Ernst Wachler: Die Erweckung germanischer Religion, in: ebd. 15 (1911), 203 sowie z. B. R. Uslar: Rasse und Religion, in: ebd. 14 (1910), 165–167; E. Oemer: Religion und Volksbewußtsein, in: ebd., 2–3. 137 A dolf R einecke, Deutsche Wiedergeburt. Grundlegende Bausteine zur Jungdeutschen Bewegung, Lindau 1901, 183. 138 Ebd., 181. 139 Z. B. Wilhelm Schwaner , Alte und neue Religion, in: Volkserzieher 15 (1910), 1–2.12– 13.29–31.35–36.47–48.60–61; Ernst Eberhardt-Humanus, Deutsche Religion, in: ebd. 7 (1903), 96–98; J. Platt, Deutsche Religion und Deutsche Einheit, in: ebd. 15 (1911), 91–94;
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Galiläas als nichtjüdische Provinz, um Jesus in einem entjudeten Kontext ver ankern zu können. Bei Chamberlain und Lagarde fanden sich die historiogra phischen Stützen einer solchen Konstruktion, die in den völkischen Blättern aller Couleur rasch Verbreitung fand. So konnte der antisemitische Herausgeber der Zeitschrift Hammer, Theodor Fritsch, bei David ansetzen, den er als „in do-europäischen Amoniter“ verstand, Galiläa in einen Gau „blonder Gallier“ umwandeln, die dort als römische Söldner tätig waren, und demzufolge Jesus als von „blonden Galiläern“ abstämmigen Arier darstellen.140 Gegen die christlichen Kreuzes- und Erlösungsvorstellungen wurde von den Völkischen ein „Christus des Lebens“ propagiert, der als heroische Kämpferge stalt mit den Göttern der germanischen Heldensage verglichen wurde.141 Der als unbefriedigend und „wesensfremd“ empfundene Zustand der christlichen Je susdarstellung wurde teilweise in heftigen Gefühlsausbrüchen angeklagt: „Mensch, heute war ich nach langer langer Zeit wieder mal in der Kirche. Mein Gott, was hat man denn nur aus dem Krist gemacht!!! […] mein Gott, diese Verhöhnung, diese wahnsinnige Entstellung.“142 Programmatisch fasste der Wahlspruch des deutschchristlichen Telegraphendirektors Oskar Michel diese Richtung zusammen, mit dem er zu einer Bereinigung der christlichen Tradi tion aufrief: „Vorwärts zu Christus! Fort mit Paulus! Deutsche Religion!“143 Während viele dieser Entwürfe sich einem auf die völkische Binnenkommu nikation beschränkten „proletaroiden Intellektualismus“ zuordnen lassen, in dem sich scheinwissenschaftlicher Dilettantismus, sozialer Protest und Kritik an den kirchlichen, akademischen und bürokratischen Expertokratien in eine erhebliche Pathosfähigkeit und ein stetiges Unruheverhältnis steigerten, gelang den Geschichtskonstruktionen der nationalistischen Propheten Paul de Lagarde vgl. auch Oskar Michel, Deutsche Religion, in: Volkserzieher, Beiblatt Der Bücherfreund 4 (1905), 99–100. 140 Theodor Fritsch, Der Rückgang der blonden Rasse, in: Hammer 2 (1903), 411– 415.549–552, 551; Adolf Reinecke ging im Heimdall davon aus, dass etliche Jahrhunderte vor Jesu Geburt eine „arisch-germanische Einwanderung von Norden her nach Galiläa stattge funden“ habe. Die Nachfahren dieser Einwanderer – somit auch Jesus – verkörperten das „deutsche Blut“: Zur Beseitigung der Hebräischen Bestandteile aus dem Christentume, in: Heimdall 1 (1896), 14; vgl. Uwe Puschner: Deutschchristentum, 110. 141 Vgl. z. B. Josef L. R eimer: Ein Pangermanisches Deutschland, 89: In einem deutsch verstandenen Christus verkörpere sich zugleich der „lichte, strahlende, heroische Baldur“ wie der „starke schwerttragende“ Gott Tyr. 142 So in einem Brief des Hanauer Lehrers Karl Engelhard an den völkischen Herausgeber der Zeitschrift Der Volkserzieher Wilhelm Schwaner, Hanau, 22.6.1913, zitiert in: Christopher König: Sonnengeistigkeit, Wald- und Freiheitsweben, 180 (im Original Hervorhebung mit rotem Bundstift). 143 Oskar M ichel: Vorwärts zu Christus! Fort mit Paulus! Deutsche Religion!, Berlin 1905; vgl. ders.: Deutsche Zukunftsreligion in ihren Grundzügen, Berlin 21914.
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Erstes Kapitel: Einleitung
und Houston Stewart Chamberlain, aber auch den ambitionierten literarischen Entwürfen Friedrich Lienhards der Einzug in die gehobene bildungsbürgerliche Diskurslandschaft.144 Lagardes kulturstaatliche Einheitsvisionen verknüpften die Einsicht, dass das Deutschtum „im Gemüthe“ liege, mit der Forderung nach einer noch zu schaf fenden „nationalen Religion“.145 Anders als in der zeitgenössischen, konfessio nell zerrissenen religiösen Landschaft des deutschen Reiches sollte diese „Reli gion der Zukunft“ „die deutsche Seele widerspiegeln“ und die „unzerstörbare Gemeinschaft der Kinder Gottes“ wiederherstellen.146 Dergleichen Harmonisie rungen, die nationale und religiöse Identität aufeinander bezogen, besassen An ziehungskraft nicht nur für völkische Leser. Dass wahre „Kultur als Ausdruck des Innenlebens […] ohne Religion nicht zu denken“ sei, war ein Topos, den völkische Schriftsteller ebenso wie die Protagonisten einer Kulturreform des Verlags Eugen Diederichs oder den Kunstwart beschäftigte.147 Zum wichtigsten Stichwortgeber mit Resonanz im protestantischen Bildungs bürgertum stieg der britische Rassist Houston Stewart Chamberlain auf, der dem ästhetizistischen Kreis von Wagnerverehrern um die Bayreuther Blätter angehörte, aufgrund seiner sinngebungshaften Geschichtskonstruktion aber weit darüber hinaus wirksam wurde. Nach seiner Ansicht handelte es sich „beim Christentum nicht um eine normale religiöse Weltanschauung, sondern um eine künstliche, gewaltsam zurechtgeschmiedete“, die im „Völkerchaos“ des antiken Rom als synkretistische Umgestaltung der ursprünglich einfachen, heroischethischen Lebensideale des Ariers Jesus den Germanen aufgezwungen wur de.148 Er inszenierte die Weltgeschichte als einen Kampf um die Rückfindung einer ursprünglichen, germanischen Weltanschauung, den er dadurch dynami 144 Vgl.
Breuer: Die Völkischen in Deutschland, 127–132; zur bildungsbürgerlichen Chamberlain-Rezeption Udo Bermbach: Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwieger sohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015; Sven Brömsel: Exzentrik und Bürgertum. Houston Stewart Chamberlain im Kreis jüdischer Intellektueller, Berlin 2015; zu Lagarde Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007; zu Lienhard Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard, in: HzVB, 114–130. 145 Paul de Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik [1853], in: Deutsche Schriften, Göttingen 31892, 15–36, 24. 146 Ders.: Ueber das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion, in: ebd., 37–76, 62 und 76; ders.: Die Religion der Zukunft, ebd., 239. 147 Josef L. R eimer: Ein Pangermanisches Deutschland, 202. 148 Houston S. Chamberlain: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, 860. Das Jesusbild Chamberlains untersucht: Hildegard Châtellier, Rasse und Religion bei Houston Steward Chamberlain, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.): Völ kische Religion, 184–207; eine ausführliche Darstellung der protestantischen Rezeptions geschichte im Nationalsozialismus bietet: Barbara Liedtke: Völkisches Denken und Ver kündigung des Evangeliums, Leipzig 2012.
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sierte, dass in der Gegenwart eine Entscheidung als „Vollendung der Reforma tion“ anstehe. Aus dieser sollte nicht nur die religiöse, sondern zugleich auch die „nationale Wiedergeburt“ des Deutschtums erfolgen. Chamberlain erhoffte sich, eine vollkommene, vollkommen lebendige, der Wahrheit unseres Wesens und unserer An lagen, dem gegenwärtigen Zustand unserer Kultur entsprechende Religion zu schaffen, eine Religion, so gegenwärtig, so plastisch beweglich, so ewig wahr und doch so neu, dass wir uns ihr hingeben müssen, wie das Weib ihrem Geliebten, […] eine Religion, so genau unserem besonderen germanischen Wesen angepaßt […], dass sie die Fähigkeit besitzt, uns im Inners ten zu erfassen und zu veredeln und zu kräftigen.149
Ein solches Pathos stieß unter den wilhelminischen Zeitgenossen ebenso auf Bewunderung wie auf Widerspruch. Chamberlain gelang es, sich durch un scharfe Verweise auf einzelne Wissenschaftsdiskurse der Jahrhundertwende und vor allem durch einen vergleichsweise moderaten Ton von den aggressiven Darstellungsweisen abzugrenzen, die in weiten Teilen des völkischen Diskurses vorherrschten. Ausdrücklich distanzierte er sich in seinen Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts etwa vom radikalen Antisemitismus eines Theodor Fritsch als unhinterfragtes „blindes Vorurteil“, wohingegen er seine gegen das Judentum gerichtete Geschichtsinterpretation als „eigenes Urteil“ bekräftig te.150 Es lässt sich vermuten, dass diese rhetorische Verkapselung seiner eigent lichen Anliegen der Rezeption seines Werks unter den wilhelminischen Eliten ebenso zuträglich war wie die neoidealistischen Verweise auf die an Goethe und Kant angehängten deutschen Bildungstraditionen. Für die sich an Chamberlains Hauptwerk abzeichnende, gleichsam distingu ierte Vortragsform lassen sich an der Peripherie der völkischen Bewegung wei tere Beispiele finden. Der als „Bannerträger des deutschen Idealismus“ apostro phierte Friedrich Lienhard plädierte etwa für eine „Hochland“-Kunst, die sich gegen Internationalismus und Massengesellschaft auf die Festigung eines deutsch-national beseelten Kulturbegriffs richten sollte.151 Auf die Rückführung einer natürlichen „Harmonie“ von Volk, Bildung und Kunst war auch der ‚Rem brandt-Deutsche‘ Julius Langbehn aus, der für sich eine Verkörperung des natio 149
Houston S. Chamberlain: Grundlagen, Bd. 1, 645. 536 mit Erwähnung von Theodor Fritsch: Antisemitenkatechismus. Eine Zu sammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständniß der Judenfrage, Leipzig 1887 (diverse Nachdrucke); vgl. Wiebke Wiede: Rasse im Buch, 47. 151 Friedrich Lienhard: Hochland, in: Heimat 1 (1900), 65–74; in dieser Zeitschrift ließ Bonus 1901 eine programmatische Zusammenschau seiner religiösen Thesen erscheinen. Vgl. zu Lienhard Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard, in: HzVB, 114–130, 120–123; dies.: Kreuz, Rosenkreuz und Hakenkreuz. Synkretismus in der Weimarer Zeit am Beispiel Friedrich Lienhards, in: M anfred Gangl/Gérard R aulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, 93–104. 150 Ebd.,
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nalen Innenlebens in Anspruch nahm.152 Weit über den eigentlich völkischen Komplex hinaus waren verdeutschende Jesus-Imaginationen bedeutsam, die eine Verbindung von Nationalgeist und Kunst anzubahnen versuchten. Künstle rische Christusdarstellungen von Hans Thoma, Fritz von Uhde, W ilhelm Stein hausen oder Arnold Böcklin wurden vielfach auf ihr Potential hin wahr genommen, durch einen heimatlich-deutschen Stil nationale Empfindungen und ein zeitgemässes religiöses Bedürfnis miteinander zu vereinen. Die in der völ kischen Bewegung seit der Jahrhundertwende andauernde Auseinandersetzung mit der traditionellen Jesusfigur, die zunächst auf eine radikale Entfernung des überkommenen dogmatischen Gerüsts und eine Heroisierung des Menschen Je sus hinauslief, konnte über den Weg der Debatten um eine zeitgenössische Kunst und einen deutschen Stil auch in das kulturprotestantische Umfeld gelangen.153 Als Beispiel lässt sich auf den Wuppertaler Maler Ludwig Fahrenkrog verwei sen, der eine individuelle, aus der persönlichen Anschauung hervorgegangene Jesusdarstellung forderte, welche die theologischen Vorgaben hinter sich lassen sollte.154 Die Eckpunkte seines zeitgemäßen „Jesustyps“, den er auf oberfläch lich exegetischer Grundlage gewonnen zu haben meinte, legte er einer breiteren Öffentlichkeit in mehreren, durchweg mit Illustrationen versehenen Artikeln im Türmer, in der Monatszeitschrift Nord und Süd sowie zeitlich etwas versetzt 1909 immerhin im kirchlichen Christlichen Kunstblatt vor.155 Angereichert mit 152 Zur
vielschichtig mäandernden Langbehn-Rezeption vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der ‚Rembrandtdeutsche‘, in: HzVB, 94–113; Fritz Stern: Kulturpessimis mus als politische Gefahr, Stuttgart 2000. 153 Vgl. materialreich Eva-M aria K affanke: Der deutsche Heiland. Christusdarstellun gen um 1900 im Kontext der völkischen Bewegung, Frankfurt 2001; am Beispiel einer Ber liner Ausstellung mit Christusdarstellungen von 1896: Christopher König: Christ, Art and the Nation. The Berlin ‚Christ Exhibition‘ of 1896 and the Search for a Protestant Identity in Wilhelminian Germany, in: Willem van Asselt (Hg.): Iconoclasm and Iconoclash. Struggle for Religious Identity, Leiden 2007, 407–433. Diese Ausstellung wurde von Bonus’ Frau, der Malerin Beate Bonus-Jeep, in der Christlichen Welt präsentiert: Beate Bonus-Jeep: Eine ‚Christusausstellung‘, in: CW 10 (1896), 610–615. 154 Zu Fahrenkrog, der 1912 mit Wilhelm Schwaner zu den Mitbegründern der „Germani schen Glaubens-Gemeinschaft“ gehörte, vgl. Winfried Mogge: Ludwig Fahrenkrog und die Germanische Glaubens-Gemeinschaft, in: K ai Buchholz (Hg.): Die Lebensreform, Darmstadt 2001, Bd. 1, 429–432; Gisela Schmoeckel: Zwischen Bauchweh und Bewunderung. Der Ma lerdichter und Lehrer Ludwig Fahrenkrog, in: Bergische Blätter 13/14 (1994), 8–11; Ulrich Nanko: Die deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, 40–44; Stefanie von Schnurbein: Ludwig Fahrenkrog, in: HzVB, 904 (Kurzbiogramm). Fahrenkrog erhielt trotz seiner profi lierten weltanschaulichen Ausrichtung mehrfach Aufträge für kirchliche Kunstwerke. 155 Vgl. u. a. Ludwig Fahrenkrog: Ist der herkömmliche Christustyp echt?, in: Der Türmer 9/2 (1907), 424–432; ders.: Der Typ Jesus, in: Nord und Süd 32/2 (1908), 139–146; ders.: Die Gleichnisse Jesu und ihre Darstellung, in: Christliches Kunstblatt 51 (1909), 42–44, vgl. die Darstellungen und Diskussionsbeiträge: K arl St.[orck]: Von der äußeren Erscheinung
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Jugendstilelementen, aber in provozierender Abkehr von der ikonographischen Tradition versuchten sich seine Darstellungen am Skandal und erzielten damit die gewünschte Aufmerksamkeit. Seine Aufsätze gestalteten sich auf den ersten Blick als historiographische Überlegungen zu der Frage, wie denn der geschicht liche Jesus als antike Person sachgemäß wiederzugeben war, enthielten in ihrem Kern jedoch den wenig reflektierten Versuch, einen säkularisierten und als zeit gemäß zu verstehenden Nachfolger für die traditionellen Christologien zu schaf fen. In Fahrenkrogs Darstellung wurde Jesus zum großen Einzelnen, der sich aus prophetischem Ideal als „ein Mann der geistigen Kraft“ der gegebenen Ge sellschaftsordnung widersetzte. Die Botschaft des „Menschensohnes“ und er leuchteten Trägers einer besonderen Gotteserkenntnis faßte er als „die Befreiung des Menschen vom indifferenten, stupiden, toten Sein zu geistiger lebendiger Freiheit“ auf.156 Die religiöse Bedeutung Jesu war im Durchbruch zur Persön lichkeit durch die Freilegung des menschlichen „Willens“ als Lebensantrieb zu finden.157 Ohne die religiösen Prämissen Fahrenkrogs zu übernehmen, würdig ten protestantische Rezensenten seine Bilder als „Seelenkunst“ und als Beitrag zu einer zeitgemässen Auseinandersetzung mit dem Christentum.158 Das Werk von Arthur Bonus wurde in diesem Kontext als Hinweis auf eine kommende deutsche Religion registriert, die als Fortschreibung und Erweite rung des kirchlichen Christentums begrüßt wurde. Sein Versuch, einen dezi diert deutschen Zugang zur christlichen Überlieferung zu schaffen, fand bei manchen seiner völkischen Leser Anklang. So ließen sich Bonus’ Schriften dem Werk Adolf Harnacks an die Seite stellen als Beleg für eine neue Perspektive auf das Christentum als einer unmittelbaren, dogmenfreien Frömmigkeit. Für manchen Leser deutete sich in seinen Ideen eine religiöse „Sehnsucht“ an, die in der Gegenwart noch unerfüllt blieb.159 Insbesondere wurde die Zusammen Christi, in: Der Türmer 9/2 (1907), 126–129; ders.: Unsere Bilder, in: Der Türmer 15/2 (1913), 403–404; auch ders.: Ludwig Fahrenkrog, in: Der Türmer 9/1 (1906/07), 146–148; K arl Röhrig: Der Christustyp von Ludwig Fahrenkrog, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 11 (1906), 294–298; K arl Kühner: Von Overbeck zu Fahrenkrog: Eine Christusbildstudie, in: Christliches Kunstblatt 51 (1909), 161–172; ders.: Ein neuer Meister seelischer Kunst, in: Protestantenblatt 42 (1909), 726–728; kritisch: Georg Stuhlfauth: Kirchliche Kunst, in: Theologischer Jahresbericht 28/2 (1909), 409–540, 509 f.; R. Schmid: Ein bartloser Christustyp, in: Christliches Kunstblatt 50 (1908), 7–13; Gustav Lasch: Fahren krogsche Bilder, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 14 (1909), 50–51. 156 Vgl. Ludwig Fahrenkrog: Ist der herkömmliche Christustyp echt?, 426. 157 Ders.: Geschichte meines Glaubens, Halle 1906, 111, 116. 158 So vor allem die Beiträge des Pfarrers K arl Kühner: Von Overbeck zu Fahrenkrog: Eine Christusbildstudie, in: Christliches Kunstblatt 51 (1909), 161–172; ders.: Ein neuer Meister seelischer Kunst, in: Protestantenblatt 42 (1909), 726–728. 159 Vgl. z. B. H. Franck: Ein Buch der Sehnsucht, in: Volkserzieher 6 (1902) Beiblatt Der Bücherfreund 1 (14. September 1902), 47–48 (Besprechung von: A rthur Bonus: Religion als
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ziehung von Nationalgeist und Religion in seinem Werk als bahnbrechende Aus richtung auf die Zukunft wahrgenommen.160
3. Kulturprotestantismus und liberale Theologie a) Zum Begriff „Kulturprotestantismus“ Wie führt nun der Weg von den völkischen Religionsdiskursen des Kaiser reichs zum Kulturprotestantismus? Um die vielfach diagnostizierten „Ein bruchstellen völkischen Denkens“ in den kulturprotestantischen Diskursen der Jahrhundertwende differenzierend verorten zu können, sind hier ebenso wie zur völkischen Bewegung einige einleitende und abgrenzende Bemerkungen notwendig.161 Die hohe Bandbreite der unter diesem Schlagwort geführten theologischen Positionen und jeweils vertretenen Gesellschaftsideale lässt den Kulturprotestantismus als Phänomen in „Vielgestaltigkeit und von unscharfen Grenzen“ erscheinen.162 Als Sammelbegriff hat er sich für das weitgespannte Netzwerk liberal- und freiprotestantischer Anliegen innerhalb der Landeskir chen eingebürgert, und dies aufgrund seiner hohen forschungspraktischen Sondierungsqualitäten, welche die spezifische Vernetzung von politischen und religiösen Interessen- und Erfahrungslagen beschreibbar machen.163 Ursprüng lich eher ein weiträumiger Kampfbegriff als eine selbst gewählte theologische Konzeption, umfasst er die 1860 einsetzende Vielgestalt bürgerlicher, liberalund moderntheologischer Ansätze, die mit Reformbemühungen der zunehmen den Distanz weiter Kreise der Gesellschaft gegenüber Religion und Kirche zu Schöpfung, Leipzig 1902); H. K rause: Die Lehre Jesu, in: Volkserzieher 6 (1902) Beiblatt Der Bücherfreund 1 (21. Dezember 1902), 75–76. 160 B. I hringer: Die Kirche. Glossen zur Religions-Philosophie, in: Hammer 9 (1910) 656–658 (Besprechung von Arthur Bonus, Die Kirche, Frankfurt 1909). 161 Gangolf Hübinger: Harnack, Rade und Troeltsch. Wissenschaft und politische Ethik, in: Kurt Nowak /Otto G. Oexle (Hg.): Adolf von Harnack, 85–102, 90. 162 Als Resüme des Forschungsstandes zusammenfassend Graf: Art. Kulturprotestantis mus, in: RGG4 4 (2001), 1850–1852. 163 Dazu grundlegend Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Damit ist beispiels weise der kulturkämpferische Anspruch ausgeblendet, den einige neureligiöse Reformgrup pierungen erhoben: Gegenüber der zunehmenden Erosion konfessioneller Identitätsmuster wollten sie als „konsequente Kulturprotestanten“ die eigentliche Form einer modernen Reli gion auch gegen die Landeskirchen vertreten; zu solchen Ansprüchen vgl. etwa Walther Vielhabers im völkisch-reformerischen Lager angesiedelte Bemühungen um einen „Kultur bund“: Der Allgemeine Deutsche Kulturbund, in: Volkserzieher 11 (1907), 22–24, Zitat 23; vgl. ders.: Die Notwendigkeit eines großen Kulturkartells, in: Das Freie Wort 13 (1912/13), 324–330. Damit wurde die Tendenz, den Protestantismus insgesamt nicht mehr als Konfes sion, sondern als nationalkulturelle Fortschrittsbewegung zu säkularisieren, überspitzt.
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begegnen suchten und gleichzeitig die Vision eines einheitlichen National- und Kulturstaates verfolgten.164 Die gesellschaftlich-politische Grundbestimmung des Kulturprotestantismus lässt sich anhand der zeitgenössischen Formel charakterisieren, mit der 1865 die Zielsetzung des neubegründeten Deutschen Protestantenvereins umrissen wur de.165 In der liberal-nationalen Aufbruchsstimmung vor der Reichsgründung wurde auf eine dogmenkritische „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwick lung unserer Zeit“ gesetzt, von der eine versittlichende und freiheitliche Wir kung auf Staat und Gesellschaft ausgehen sollte.166 Durchaus mit kulturkämpfe rischem Impetus rang man um eine fortschrittsoffene Durchdringung der „mo dernen Geisteskultur“ mit christlichem Bewusstsein und ethischem Anspruch.167 Gangolf Hübinger hat die leitenden kulturprotestantischen Ordnungsvorstellun gen, die liberale und protestantische Denkmotive miteinander verbanden, als „bildungselitär, zivilreligiös und kulturhegemonial“ gekennzeichnet.168 Ener gisch wurde die „Projektion einer von Grund auf bürgerlichen Nationalkul tur“169 verfochten, um, wie Hübinger es zumal für den Protestantenverein for muliert, die „politische Utopie des sittlichen Kulturstaates protestantischer Pro venienz“ zu verwirklichen.170 Mit der Überzeugung, dass sich in der nationalen Kultur das Substrat eines starken Deutschen Reiches bilden würde, gingen hohe Erwartungen an die Homogenität der bürgerlichen Gesellschaft einher. Die Trägerschicht der kulturprotestantischen Einstellungen stellte das gebil dete Bürgertum. Trotz vergleichbarer Stoßrichtung und ähnlich gelagerten theo logischen Motivierungen bestand unter den kulturprotestantischen Gruppierun gen jedoch eine erhebliche organisatorische und inhaltliche Bandbreite, die Kurt Nowak von pluralisierten „Kulturprotestantismen“ sprechen lässt.171 In 164
Zur Begriffs- und Theologiegeschichte vgl. maßgeblich Graf: Kulturprotestantismus. H ans-M artin K irn: Protestantenverein, in: TRE 27 (1997), 538–542; Claudia Lepp: Art. Protestantenverein, in: RGG4 6 (2003), 1726–1727; dies.: Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne. Der deutsche Protestantenverein in der Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes, Gütersloh 1996. 166 Der allgemeine deutsche Protestantenverein in seinen Statuten, den Ansprachen seines engern, weitern und geschäftsführenden Ausschusses und den Thesen seiner Hauptver sammlungen 1865–1888, Berlin 1889, 1; vgl. zur Gründungsgeschichte Claudia Lepp: Protes tantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne, Gütersloh 1996; Hübinger: Drei Generationen deutscher Kulturprotestanten. 167 Der engere Ausschuss des deutschen Protestantenvereins an die deutschen Protestan ten (1871), in: Der allgemeine deutsche Protestantenverein in seinen Statuten, 31–35, 32. 168 Ebd., 307. 169 Ulrich Engelhardt: Bildungsbürgertum, Stuttgart 1986, 146. 170 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 263. 171 Kurt Nowak: Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik, Göttin 165 Vgl.
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Erstes Kapitel: Einleitung
Distanz zu dem Liberalismus des Protestantenvereins entwickelte sich die 1887 begründete und als kirchliche Kulturzeitschrift konzipierte Christliche Welt zum Sammlungsort des modernen Protestantismus und zum zentralen Dis kussionsforum kulturprotestantischer Positionen im wilhelminischen Kaiser reich.172 Gegen eine „kulturoptimistische, politisierte theologische Bildungs ideologie“, als deren wichtigster Repräsentant in der kirchlichen Öffentlichkeit der Protestantenverein und die von ihm getragene Kirchenzeitschrift, das Deutsche Protestantenblatt, herzuhalten hatten, und im Gegensatz zu dem den Liberalen vorgeworfenen „Vulgärliberalismus“ suchte die Christliche Welt ei nen Brückenschlag zwischen Protestantismus und moderner Bildungswelt.173 Zunächst dem Untertitel nach als „Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen“ begründet, erhob die Zeitschrift programmatisch den Anspruch, ein zeitgenössisches Christentumsverständnis, moderne Weltauffas sung und Gegenwartskultur miteinander in Verbindung zu bringen, ohne dabei Abstriche am theologischen Reflektionsgehalt zu machen. Unter dieser Ziel setzung entwickelte sie sich zu einem kirchlichen Vermittlungsorgan, das den theologischen Fachdiskurs in ein breit gefächertes Rezensionswesen zu bel letristischen und weltanschaulichen Veröffentlichungen einbettete und zudem Konzertkritiken, Ausstellungsberichte und zunehmend auch gesellschaftspoli tische Kommentare brachte. gen 1991, 5. Nowak trennt etwa zwischen einem „verfassungstreuen Kulturprotestantismus“, den er an Dietrich Graue und besonders Ernst Troeltsch und Adolf Harnack illustriert, und den diversifizierten, neuprotestantischen Strömungen am kulturprotestantischen Rand. Zu den internen Konkurrenzverhältnissen zwischen dem Kreis um die Christliche Welt und dem Protestantenverein vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. 172 Eine Probennummer wurde am 21. November 1886 versandt. Vgl. zur Geschichte und theologischen Ausrichtung dieser Zeitschrift grundlegend Johannes R athje: Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952 sowie als wichtige Quelle zum theologischen Kreis der „Freunde der Christlichen Welt“ das Vereinsblatt An die Freunde. Vertrauliche, d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen (1903–1934). Vgl. zur Zeitschrift weiterhin atthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, Berlin 1999, 51–56; Reinhard M Schmidt-Rost: Die Christliche Welt, in: H ans M artin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 245–257; Wilhelm Schneemelcher: ‚Christliche Welt‘. Das Problem des ‚Freien Protestantismus‘, in: EvTh 15 (1955), 255–281; Hermann Hermelink: Rez. zu: Die Welt des freien Protestantismus, in: ThLZ 78 (1953), 385–392; H ans M anfred Bock: Die Christliche Welt 1919–1933. Organisierte Akteure und diskursive Affinitäten in der kultur protestantischen Zeitschrift, in: Michel Grunewald (Hg.): Das evangelische Intellektuellen milieu in Deutschland, Bern 2008, 341–382; ders.: Modernitätskrise und Fortschrittsopti mismus in der Christlichen Welt um 1900, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Kri senwahrnehmungen in Deutschland um 1900, Bern 2010, 73–94. 173 M atthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, Berlin 1999, 47–51; programmatisch Otto Baumgarten: Der Protestantentag zu Bremen. Ein Jubiläum, in: CW 2 (1888), 440–444, 444.
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Die Zeitschrift bot kein verbindliches und einheitliches Programm einer „modernen Theologie“ dar, sondern wurde gezielt als Diskussionsort unter schiedlicher und konstrastierender theologischer Positionen gestaltet. Tatsäch lich waren es gerade die den Kreis um die Zeitschrift prägenden Konflikte und Fraktionierungen um eine der Gegenwart angemessene Gestalt der Theologie, die die Christliche Welt zu einer zentralen Stimme liberaltheologischer Sicht weisen im Kaiserreich werden ließen. Das war eine von Martin Rade intendier te Wirkung: Im ganzen kommen zu uns nur solche Theologen, denen der immer neue Konflikt und die dauernd notwendige Einigkeit von Wissenschaft und Religion als heiliges Anliegen auf der Seele brennt. Und so sind unsere Zusammenkünfte Theologenzusammenkünfte und werden es bleiben. Es spielt sich ab und spiegelt sich in diesen Verhandlungen ein Stück Geschichte unserer heutigen Theologie, und die Wirkung davon sieht der aufmerksame Beobachter hier und da durch die theologisch-kirchliche Gesamtbewegung hindurch.174
Die Bezeichnung als „liberal“ blieb im Umkreis der Christlichen Welt stets um stritten, nicht zuletzt wegen der politischen Implikationen, die bei weitem nicht alle hier versammelten Theologen teilten. Nach Martin Rade bestand in der An fangszeit der Zeitschrift gleichsam ein „Zustand von Feindschaft“ gegenüber der liberalen Theologie.175 Noch 1937, als Walter Niggs Geschichte des religiösen Liberalismus erschien und sich der Begriff in den theologischen Auseinan dersetzungen längst etabliert hatte, beanstandete Erich Foerster in einer Rezen sion seine Verwendung: Liberalismus scheint mir kein geeigneter Begriff zu sein, um theologische Erscheinungen des 19. Jahrhunderts auf einen Nenner zu bringen, kein geeigneter Leitfaden, an dem man sie aufreihen könnte; und ich meine deshalb, daß wir gut täten, Wortbildungen wie ‚religiöser Liberalismus‘ und ‚liberale Theologie‘ endgültig den Abschied zu geben.176
Die Selbstbezeichnungen der hier versammelten theologischen Ansätze lauteten anders: In der Zeitschrift Die Christliche Welt strebte man nach „moderner Theologie“ im Austausch mit den kulturellen Werten und der Wissenschaft der Gegenwart. Breiter eingestreut fand sich auch der Begriff „freies Christentum“, 174 M artin R ade: Die Zusammenkunft der Freunde der Christlichen Welt, in: CW (1901), 16–20. 175 Ders.: Unsere Zukunft. 3. Die liberale Theologie, in: An die Freunde (Nr. 97 v. 20.8. 1930), 1023–1027, 1025. 176 Erich Foerster: Die Aufklärung in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ThR 10 (1938), 329–357, 334; eine Rezension zu: Walter Nigg: Geschichte des religiösen Liberalis mus, Zürich 1937. Die Begriffsdebatten lassen sich in dem nicht öffentlichen Nachrichten blatt An die Freunde gut nachvollziehen, das unter den ab 1903 als Freundeskreis zusammen geschlossenen Lesern der Christlichen Welt verschickt wurde. Bonus war von der Gründung an Mitglied der ‚Freunde der Christlichen Welt‘.
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Erstes Kapitel: Einleitung
der nicht als gegenkirchliches Postulat verstanden wurde, sondern gegenüber einer strengen Bekenntnisorientierung auf die kritische Glaubens- und Gewis sensfreiheit als protestantisches Kernanliegen abzielte. Diskurse über Verbindendes und über trennende Linien beherrschten einen großen Teil der kulturprotestantischen Presseorgane und ihrer Verbandsarbeit. In der Christlichen Welt wurde versucht, die im Einzelnen deutlich unterscheid baren „Anhänger Ritschls, Mitglieder des Protestantenvereins und sonstige Li berale“ auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und sie als die „Nicht-Ortho doxen“ zu charakterisieren.177 Damit wurde auf das verbindende Anliegen einer theologischen und kirchenpolitischen Erneuerung des Protestantismus in schar fer Abgrenzung zu den Konsolidierungsbestrebungen der Traditionsverfechter abgehoben, die ängstlich auf Bewahrung und Erkennbarkeit des überlieferungs gemäßen Bekenntnisstandes zu pochen schienen. Die hier aufgebauten Tren nungslinien bildeten das Material für andauernde innerkirchliche Spannungen, die nicht nur von divergierenden Frömmigkeitsstilen stets aufs Neue mit Ener gie aufgeladen wurden, sondern die zudem durch unterschiedliche soziale und milieuhafte Verankerungen genährt wurden. Gangolf Hübinger zeichnet „Ekel schranken“ nach, die eine Kooperation zwischen den bildungsbürgerlich-libera len Kulturprotestanten und dem in konservativen Strukturen verankerten „Mo ralprotestantismus“ der Orthodoxen vielfach erschwerten.178 Die Allgemeine Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung als Führungsblatt des konservativen Protestantismus verurteilte 1898 die Christliche Welt, weil sie den Traditions abbruch zugunsten einer unklaren Modernisierung befördere: Es gehört zu den besonderen Aufgaben, die sich die „Christl.[iche] Welt“ gestellt hat, den Modernen möglichst entgegenzukommen; sie gefällt sich ordentlich in einem Kultus der mo dernen Welt und ihrer Leistungen, und je geringer sie von den Leistungen der vergangenen Geschlechter denkt (namentlich auf dem kirchlichen Gebiet), desto aufrichtiger ist ihre Be wunderung des Neuen. Was Wunder, wenn sie auch das alte Christenthum so viel als möglich den modernen Menschen mundgerecht machen will und dabei gänzlich an ihn und seinen Geist ausliefert.179 177 A rnold Köster: Ein Versuch, auf die ‚Laienforderungen‘ zu antworten, in: CW 14 (1900), 553–560, 555. 178 Vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik; s. auch bereits Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Dass es sich bei diesen Auseinandersetzungen nicht um Marginalien, sondern um schmerzhaft ausgefochtene Kernfragen der christlichen Frömmigkeit handelte, die bei den jeweiligen Kontrahenten in ähnlicher Intensität wie die altkirchlichen Prinzipien kämpfe geführt wurden, mag der Bericht von Emil Sulze illustrieren, der sich an Handgreif lichkeiten in Berlin erinnern konnte, wo sich „einmal die Liberalen und die Orthodoxen […] mit Biergläsern bekämpften“ (Muß der theologische Kampf in der Kirche weiter gehn?, 380 f.). 179 Die Zukunft des Christentums in der modernen Welt, in: AELKZ 31 (1898), 149– 153.175–178, 151.
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Damit ist der Blick auf die „innerprotestantischen Kulturkämpfe“ gerichtet, in die sich Bonus als Publizist vom Rand der theologischen Fachdebatten her als eine wahrnehmbare Stimme einschaltete.180 Das in den theologie- und kirchen politischen Konflikten der Jahrhundertwende wiederholt eingebrachte Gegen satzpaar „liberal oder orthodox“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesprächssituation des liberalen Protestantismus selbst von einer hohen Kom plexität gekennzeichnet war; sie lässt sich als Bewältigungskrise angesichts der Moderne nachzeichnen.181 Die verschiedenen, als kulturprotestantisch zusam mengefassten Strömungen nahmen ihren Ausgangspunkt bei eng verwandten Grundannahmen, welche die kritische Bewertung der Wissenschaften, die Hochschätzung der individuellen Persönlichkeit und ein tiefes Vertrauen in die ethische Formbarkeit der modernen Gesellschaft durch christliche Impulse be trafen. Das Anliegen, ein „undogmatisches Christentum“ in der Auseinander setzung mit den geistigen Errungenschaften der Moderne zu entwerfen, führte in eine Mehrzahl von Entwürfen und Sezessionsbewegungen, in denen sich je weils die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Spannungen der wilhelmi nischen Ära widerspiegelten.182 Der freie Protestantismus, so brachte Friedrich Naumann dieses Grunddilemma auf den Punkt, stehe „nach rechts und links immer in der Selbstverteidigung, immer im Sichselbersuchen“.183 Gerade der Anspruch, Frömmigkeit und Modernität miteinander zu verbinden, pluralisierte den Kulturprotestantismus, der in Naumanns Augen besser als der „suchende Protestantismus“ zu bezeichnen war.184
180 Unter
dieser Überschrift verbucht Harnacks Position in den kirchlichen Richtungs streitigkeiten Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004, 125–139. 181 So die Aufgabenstellung einer vom Protestantenverein 1901 ausgeschriebenen Preis aufgabe (Preisausschreiben, in: Protestantische Flugblätter 37 (1902), 8). Zu dem Wettbewerb wurden elf Arbeiten eingereicht; den Preis von 150 Mark erhielt der spätere Religionswissen schaftler Rudolf Franz Merkel, der zu diesem Zeitpunkt Theologie in München studierte. Merkel hatte seinen Beitrag mit Joh 8,32 überschrieben: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“ (vgl. Preisausschreiben ‚Liberal oder orthodox?‘, in: Protestantische Flugblätter 37 (1902), 60). 182 Vgl. Otto Dreyer: Undogmatisches Christentum. Betrachtungen eines deutschen Idea listen, Braunschweig 1888 (41890). 183 Friedrich Naumann: Die Stellung des freien Protestantismus zur Sozialpolitik, in: PrBl 41 (1908), 1082–1086.1106–1110. Hierbei handelte sich um die stenographierte Festrede Naumanns zum 26. Stiftungsfest des liberalen Parochialvereins Berlins. 184 Ebd., 1106.
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Erstes Kapitel: Einleitung
b) Kulturprotestantismus und Nation Die kulturprotestantische Sozialethik konnte im Staat einen eigenen sittlichen Wert erkennen. Das war eine Folge der Theologie Albrecht Ritschls, der die Realisierung des Reiches Gottes zum Hauptziel christlicher Ethik erkoren hatte, dieses aber nicht mehr rein als eschatologisches Geschehen, sondern als bereits im Handeln des Einzelnen in seinen gesellschaftlichen Bezügen angebahntes Ereignis umschrieben hatte. Der Kulturprotestantismus verfolgte mit der sittli chen Vervollkommnung ein innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu errei chendes Programm. Gegen die seelenlosen Mächte des modernen Kapitalismus und die Antagonismen in der wilhelminischen Gesellschaft wurde immer wie der an eine religiös-sittliche Hebung des „Staatsgeistes“ appelliert. Sichtbar wird dieser Zusammenhang etwa an der Ethik Wilhelm Herrmanns. Die Nation und ihre realpolitische Ausformung im Staat wurde von Herrmann als der Ort benannt, an welchem sich die Sittlichkeit des Einzelnen zu bewähren hatte: „Der Staat ist nicht ein Erzeugnis der sittlichen Gesinnung, aber kann und soll von Menschen, denen er gegeben ist, dem sittlichen Endzweck als sein mäch tigstes irdisches Werkzeug dienstbar gemacht werden.“185 Der Nationalstaat wur de nicht sakralisiert, aber bei richtigem Verständnis zu einem Instrument der Herbeiführung des Reiches Gottes erklärt. Dabei wurde prägnant die patriotische Überzeugung vertreten, dass dem Deutschen Reich und der deutschen Kultur ein eigener ethischer Wert unter den Kulturnationen Europas beizumessen sei: Die deutsche Kultur, in der die stärksten Gegensätze der menschlichen Natur gebunden sind, und deshalb der Raum für eine reiche Entwicklung enthalten ist, ist ein Erbe, das wir der Menschheit zu bewahren haben. Vor allem dadurch, daß wir selbst in ihr leben und wachsen, aber auch durch den Willen, dazu mitzuwirken, daß das deutsche Reich in seinen Ordnungen und in seiner Macht die Mittel hat, sie zu fördern und zu schützen.186
Das Deutsche Reich von 1871 wurde vielfach als Gipfelpunkt der nationalen Entwicklung seit der Reformation betrachtet. Für Paul Kirmß etwa hatte die Reichsgründung Deutschland „einen neuen Frühling“ gebracht.187 Die hier frei gewordenen nationalen Energien sollten auf Dauer gestellt werden, wozu, wie der Berliner Theologieprofessor Otto Pfleiderer ausführte, die „Einheit unseres Nationalbewußtseins“ auf religiöser und kultureller Ebene herbeigeführt wer den musste.188 Auch für Emil Sulze ergab sich aus der Verbindung von Nation 185
Wilhelm Herrmann: Ethik, Tübingen 1901, 217. 214. 187 Paul K irmss: Rede bei der Gedächtnisfeier am Kriegerdenkmal auf dem Forste bei Jena, in: PKZ 43 (1895), 817–820, 819. 188 Otto P fleiderer: Das deutsche Nationalbewußtsein in Vergangenheit und Gegenwart, in: PKZ 43 (1895), 169–175.193–197, 197. 186 Ebd.,
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und Patriotismus eine Integrationsaufgabe für die evangelische Kirche. Mit dem geeinigten Reich hatte für ihn eine neue, historische Epoche begonnen, in der ein mächtiger, protestantisch und sittlich fundierter Staat dem evangelischen Christentum ein größeres Gewicht in Europa verleihen konnte. In einer patrio tischen Besinnung zum 25. Jahrestag der Reichsgründung sah Sulze für das „wahre Christentum“ im Kaiserreich eine erzieherische Aufgabe gekommen, nämlich an der sittlichen Durchwirkung der Nation als Ganzer mitzuarbeiten, die Verpflichtung aller auf die Nation zu stärken und die Einzel- und Partei interessen zugunsten der Allgemeinheit zurückzudrängen.189 Dazu trug bei, dass viele Kulturprotestanten eine besondere Verwandtschaft zwischen Deutschtum und Protestantismus behaupteten, als deren historische Realisierung das Kaiserreich zu gelten hatte. In dem 1898 erschienenen Band Das deutsche Volkstum beschrieb der Bonner Kirchenhistoriker Karl Sell die spezifischen Umrisse der deutschen Reformation, die er als Ergebnis einer jahr hundertelangen Wechselwirkung zwischen deutschem Nationalgeist und den geschichtlichen Erlebnissen des deutschen Volkes darstellte. In theologischer Hinsicht blieb der Protestantismus für ihn universale „biblische Religion“. Trotzdem hatte sich für Sell in der Reformation eine „nationale und politische Religion“ realisiert, die nur aus der besonderen nationalen Konstellation der deutschen Geschichte heraus erklärbar war und die zudem in einen nationalen Staatsgedanken einfloss. Für den deutschen Protestantismus hatte nach Sell mit Blick auf das Deutsche Reich zu gelten: „Der Gedanke an Volk, Vaterland und staatliche Ordnung ist mit dem an Gott unzertrennlich verknüpft.“190 Auch Otto Pfleiderer nahm eine besondere Disposition des Deutschtums für das Christentum wahr, das im Protestantismus auf die Verwirklichung seiner deutschen Gestalt hindeuten würde. In der Reformation fand eine Individuali sierung des Christentums statt, die auf das persönliche Empfinden und die „In nerlichkeit des frommen Gemüts“ zielte: „Darum war das deutsche Volk prä destiniert zum evangelischen Christentum, dem es in den Kirchen der Reforma tion einen Ausdruck zu geben suchte.“ Diese Entwicklung zu vollenden und aus dem kirchlich gebundenen und durch unterschiedliche dogmatische Begriffe geteilten Christentum eine sittliche Gesinnungsreligion erwachsen zu lassen, war für Pfleiderer die einigende Aufgabe der evangelischen Kirchen im Deut schen Reich.191 189
Emil Sulze: Zum 18. Januar. Eine theologische Betrachtung, in: PKZ 44 (1896), 25–34. K arl Sell: Das deutsche Christentum, in: H ans Meyer (Hg.): Das deutsche Volkstum, Leipzig 1898, 335–394, 376. 191 Otto P fleiderer: Das deutsche Nationalbewußtsein in Vergangenheit und Gegenwart, 197. 190
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Fast alle kulturprotestantischen Autoren verbanden die Verpflichtung zur Na tion mit einem universalistischen Bekenntnis. Eine Absolutsetzung eines „deut schen Christentums“ erfolgte also nicht. In allen kulturprotestantischen Blättern lassen sich ausgewogene Würdigungen der Friedensgesellschaften und des Pazi fismus finden sowie deutliche Kritiken am wilhelminischen Machtstaat.192 Trotzdem war man von einer besonderen Weltstellung des Deutschtums über zeugt. Der Berliner Theologieprofessor Julius Kaftan begründete diesen Zusam menhang mit einem schöpfungstheologischen Verweis auf die Nationen als gött liche Einrichtungen. Die Menschheit, so seine Vorstellung, bildete eine „geglie derte Einheit“, in der organisch aufeinander bezogen unterschiedliche Völker und Nationen ein Ganzes bildeten. Den kulturellen und geistigen Ausbau der nationalen Anlagen zu fördern und eng mit dem sittlichen Geist des Christen tums zu vermählen, hielt er für eine patriotische Pflicht: „Es ist Christenpflicht, patriotisch zu sein, aber Nationaldünkel ist ein häßlicher Fehler“, fasste er diesen Gedanken in den Preußischen Jahrbüchern zusammen.193 Für das Christentum existierte mit der Menschheit und dem Reich Gottes ein Rahmen, der über den nationalen Partikularismus hinausreiche. Eine direkte Beziehung zwischen Christentum und Nation lehnte Kaftan ab. Als geschichtlich gewachsene Größen und als göttliche Stiftungen war die Nation dennoch der konkrete Ort, an dem sich die Sittlichkeit des Einzelnen zu erweisen hatte. Vor diesem Hintergrund gelangte er zu der Forderung: „Wir dürfen nicht bloß Deutsche sein, obwohl wir Christen sind. Wir sollen es sein, deutsche Christen, christliche Deutsche.“194 Ähnlich kam Heinrich Weinel 1908 in einem Vortrag vor der ‚Deutschen Friedensgesellschaft‘ zu dem Schluss, dass ein richtig verstandener Patriotis mus als christliche Pflicht zu gelten habe. Weinels Ausführungen flankierten den berühmten Vortrag von Martin Rade über „Machtstaat, Rechtsstaat, Kul turstaat“, in dem dieser eine Begrenzung des Nationalismus und humanistische Toleranzprinzipien für das Deutsche Reich einforderte.195 Rade wie Weinel woll ten sich nicht als pazifistische Gesinnungsethiker zu erkennen geben, sondern suchten nach einem „neuen, tieferen Patriotismus“, der nicht auf eine nationale Machtpolitik gerichtet war, sondern die Erziehung und kulturelle Hebung des 192 Vgl. z. B. Ernst Böhme: Krieg und Christentum, in: PB 39 (1906), 363–369.389–392. 413–415. 193 Julius K aftan: Christentum und Nationalität, in: PrJ 96 (1899), 61–77, 76 f.; vgl. ders.: National!, in: CW 18 (1904), 108–111. 194 Ebd., 77. 195 M artin R ade: Machtsstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat, in: CW 22 (1908), 505–512; vgl. dazu Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 233 f. Bonus hielt Rades Ausführungen für den modernen Kulturstaat für grundlegend, vgl. Bonus: Rundschau. Machtstaat, Recht staat, Kulturstaat, in: Kunstwart 21/4 (1907/08), 111–113.
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Volkes im Inneren zum Ziele hatte.196 Weinel warnte davor, die in Sedans predigten spürbare „nationalistische Verengerung des Christentums“ zu verall gemeinern, denn diese stünde in offenem Widerspruch zur Bergpredigt und dem christlichen Liebesgebot.197 Dennoch schrieb er als Wirkungskreis für die christliche, sittliche Betätigung die konkrete, nationale Gemeinschaft fest. Volkstum, Sprache und Naturanlage bezeichnete er als göttliche Schöpfungs gaben, die dem Christen als „Aufgabe“ gestellt waren, „und zwar nach innen, sofern es gilt, dieses Volkstum immer reiner und edler in seiner Echtheit und Eigenart gegenüber jedem Nachmachen des Fremden herauszuarbeiten, und weiter so, daß alle Glieder des Volkes daran Anteil haben“, was für Weinel eine soziale Reformpolitik implizierte.198 Kulturprotestantische patriotische Predigten stellten einen inneren Zusam menhang zwischen dem Volk als Schöpfungsgabe, die es zu bewahren und sitt lich zu erhöhen galt, und dem Patriotismus her. So deutete Wilhelm Schubring im Protestantenblatt die Nation als von Gott gestiftete „Einheit“, die ihre Ange hörigen zur Beteiligung verpflichte.199 Für Schubring musste das National gefühl jedoch durch den Geist des Christentums eingegrenzt werden, um sich nicht zur „Leidenschaft“ und zum „Chauvinismus“ aufzuschaukeln. In seinen Augen brauchte die „Vaterlandsliebe“ einen religiösen Überbau, um das Be wusstsein für die menschliche Zusammengehörigkeit wachzuhalten und um keinen „pharisäerhaften Charakter“ anzunehmen.200 Die patriotischen Aufrufe dienten häufig dazu, an die bürgerliche Rolle einer freien und kritischen Öffentlichkeit gegenüber Staat und Obrigkeit zu erinnern. Das Protestantenblatt äußerte sich 1907 spöttisch über einen kirchlichen Patrio tismus, der sich „dickfellig“ auf königstreue Lobeshymnen beschränkte. Es war nicht die Aufgabe der Predigt, den Zuhörern die Grunddevise einzuschärfen, „vor allem Vertrauen [zu] haben und nicht Opposition [zu] machen“.201 Ab 1907 wurde verstärkt nach der Fundierung eines „deutschen Staatsgedanken“ geru fen, der protestantische Freiheit, Fortschrittsstreben und äußere Macht verbin den konnte.202 Dabei blieb ein Rückbezug auf liberale Forderungen nach politi scher Mitwirkung lebendig: „Heute machen die Völker durch ihre Parlamente 196 H einrich Weinel: Christentum und Patriotismus, in: Allgemeine deutsche Lehrerzei tung 60 (1908), 410–411, 411. 197 Ebd., 410. 198 Ebd. 199 Wilhelm Schubring: Christentum und Patriotismus, in: PrBl 39 (1906), 819–822, 821. 200 Ebd., 822. 201 Königlich preußisches Christentum, in: PrBl 30 (Beilage Nr. 15 v. 10.4.1907). Anlass war eine Eröffnungspredigt des Reichstags durch den Königsberger Hofprediger Faber, die der Artikel als eine „besondere Theologie“ ablehnte. 202 Dietrich Graue: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51–53.
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selber ihre Politik, und darum tragen auch die Völker und jeder einzelne in ih nen die Verantwortung.“203 Wiederholt wurde zu einem politischen Idealismus aufgerufen, als dessen Nährboden sich der liberale Protestantismus verstand. Aus dieser Sicht vermochte erst eine aus dem aufgeklärten Protestantismus ge borene sittliche Staats- und Volksauffassung die Grundlage der nationalen Zu kunft zu bilden. So fragte der Berliner Pfarrer Alfred Fischer 1908: Wo sollen wir hinaus mit unserm deutschen Volk? Wo sind die Grundlagen einer festen poli tischen Überzeugung? Gesinnungslosigkeit und politische Untätigkeit, vor denen beiden mir graut, drohen doch als sicheres Verhängnis.204
Ob es die Kritik am „Servilismus“205 war oder am „Byzantinismus“,206 ob der wilhelminische „Hurrapatriotismus“207 oder die „patriotische Romantik“ der nationalen Verbände verdammt wurde: Der Patriotismus sollte die „freien Pro testanten“ in die Pflicht nehmen, das Erbe der Reformation Luthers gegenüber dem konservativen Obrigkeitsstaat zu vertreten.208 Als Vorbild für diesen Patriotismus wurde auf Jesus verwiesen, dessen an Israel gerichtete Verkündi gung zum Prototypen der patriotischen Predigt erhoben wurde, der es um die sittliche Verbesserung der ganzen Nation ging. Mammonismus und Materialis mus wurden abgewehrt, eine kirchliche Liebedienerei gegenüber dem konser vativen Staat abgelehnt und ein reinigende, idealistische Staatsgesinnung gefor dert, für die Jesu Tempelreinigung zum Vorbild wurde. So konnte Otto Baum garten in einer Kieler Universitätspredigt „Jesu Patriotismus“ mit dem „tiefgehenden Deutschgefühl“ der nationalen Kulturbewegung vergleichen, die darauf zielte, „deutsche Art und deutsches Innenleben“ zu veredeln.209 Auch für Heinrich Weinel hatte Jesus an der „inneren Erneuerung“ seines Volkstums ge arbeitet.210 Bei Wilhelm Schubring schließlich mündete die patriotische Jesus deutung in einen Aufruf an seine Zeitgenossen ein: Also Jesus war national, war patriotisch gesinnt. Wir dürfen es auch, müssen es. Wir sollen für unser deutsches Volk arbeiten und wirken, kämpfen und leiden, wie es der Herr auch ge tan hat für sein Volk.211 75–78; vgl. auch die darauf folgende Diskussion: A lfred König: Religion und Politik, ebd., 802–803; C.P. Heil: Religion und Politik, ebd., 874–876. 203 C.P. H eil: Religion und Politik, PrBl 40 (1907), 874–876. 204 A lfred Fischer: Zur Wiedergeburt des Idealismus, in: PrBl 41 (1908), 33–40. 205 R. Schultze: Deutsch-evangelisch, in: Der Protestant 5 (1901), 966–967. 206 R einhold Emde: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, in: PB 39 (1906), 69. 207 Friedrich Battenberg: Sedan, in: Die Hilfe 1 (Nr. 35 v. 1. September 1895), 3–4. 208 R einhold Emde: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, 69. 209 Otto Baumgarten: Predigten aus der Gegenwart, Tübingen 21911, 85–92, 88. 210 H einrich Weinel: Christentum und Patriotismus, 410. 211 Wilhelm Schubring: Christentum und Patriotismus, 819.
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Kulturprotestantische Außenseiter wie Franz Overbeck äußerten sich am Bei spiel Harnacks spitzzüngig über die hier geschaffene „Theologie des deutschen Reiches“212 oder beklagten wie sein Schüler Carl Albrecht Bernoulli nach der Jahrhundertwende die Kulturtheologie der „Neuchristen“ im Umfeld der Christlichen Welt, die unter einer zu engen Identifizierung von Patriotismus und Christentum litten und aus ihren christlichen Überzeugungen ein nationales Kulturprogramm für Politik und Lebensgestaltung abgeleitet hätten.213 Ber noullis ironische Schilderung zeigt aber auch, dass der Patriotismus in den pro testantischen Bildungsschichten fest verankert war: So gesinnt sind nicht etwa kleine verstoßene Leute, verträumte Schwärmer, starrköpfige Sek tierer – nein, Gebildete, akademisch Gebildete, meistens Staatsbeamte in verantwortungs vollen, zum Teil hohen Stellungen, also weit überwiegend Leute von maßgebendem Einfluß und Ansehen.214
c) Deutschtum Mit dem Einbrechen der religiös konnotierten, kulturoptimistischen Erwartun gen im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung verstärkten sich im kultur protestantisch geprägten Bildungsbürgertum die Rufe nach einer vertieften Nationalkultur.215 Mit seinen antagonistischen sozialen Milieus und der regio nalen, gesellschaftlichen und konfessionellen „Zersplitterung“ konnte das Kai serreich die Homogenitätserwartungen an den bürgerlich-nationalen Kultur staat nicht erfüllen. Vielmehr traten die gesellschaftlichen und konfessionellen Gegensätze und die divergierenden Deutungskulturen der einzelnen Milieus nach 1890 offen zu Tage. Der Kulturprotestantismus befand sich mit den kon kurrierenden Katholiken, der konservativ-protestantischen Bevölkerung, den Sozialdemokraten und letztlich auch dem modernistischen Flügel in seinen ei genen Reihen in einem „Kampf um die Leitkultur“.216 Die bildungsbürgerlichen Selbstverständigungsdebatten im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende führten zu zahlreichen Krisenbeschreibungen und 212
Franz Overbeck: Kirchenlexicon. Texte J–Z, hg. v. Barbara von R eibnitz, Stuttgart 1995, 520. 213 Carl A. Bernoulli, Christus in Hilligenlei. Ein Wort zur Klarstellung, Jena 1906, 8–11. 214 Ebd., 11. 215 Für Uriel Tal, der in den 1960er Jahren das Verhältnis des liberalen Protestantismus zum Judentum untersucht hatte, stellte der Kulturprotestantismus die Strömung im Kaiser reich dar, die das Erstarken des radikalen Nationalismus als sein engster Verbündeter wesent lich mitbefördert hatte (Christians and Jews in Germany, 161 und 220). 216 So überschreibt Kurt Nowak sein Kapitel über das Kaiserreich in: Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1995.
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Erstes Kapitel: Einleitung
Versuchen der kulturellen Vergewisserung, aber zugleich der Neuorientierung angesichts der Moderne.217 Mitunter geschah das in Verlängerung der religiösen Kulturstaatsvorstellungen der kulturprotestantischen Anfänge. Das klang etwa in dem Aufruf des altliberalen Berliner Pfarrers Paul Graue an, einem prominenten Mitglied des Protestantenvereins, der seine Leser 1894 auf eine christlich-natio nale Erneuerung des Kaiserreichs aus protestantischen Wurzeln zurückführen wollte: „Laßt uns dem neuen, äußerlich geeinten Reich eine evangelische Seele geben, wiedergeben“. Ihm ging es darum, eine „deutsche Frömmigkeit zu er schaffen“, die die sozialen Spannungen der Gegenwart überwölben sollte.218 Auch Martin Rade äußerte ein auf die Nation gerichtetes Reformbedürfnis: „Vom deutschen Reich zum deutschen Vaterlande!“ Das ist die Losung, der alles sich unter ordnen muß. Das Reich steht da als äußerer Bau wohl gezimmert, nun gilt es ihn mit deut schem Wesen zu füllen, dazu bedarf es neuer Männer in neuer Zeit.219
Hinter solchen Aussagen verbarg sich keineswegs ein völkischer Nationalismus, vielmehr drückte sich in ihnen eine wachsende Unsicherheit aus, inwieweit sich die moderne Kultur noch mit dem Geist christlicher Sittlichkeit durchprägen ließ. Damit partizipierten auch Vertreter des Kulturprotestantismus am Unbe hagen der Jahrhundertwende als einer Übergangszeit, in der im Sinne einer „re flexiven Modernisierung“ nach Einheitlichkeit und einem verbindlichen Deu tungsrahmen gesucht wurde, der den Überblick über eine sich diversifizierende Gegenwart wiederherstellte. An den Rändern des Kulturprotestantismus zeigte man sich zudem nach der Jahrhundertwende zunehmend aufgeschlossen für kulturelle Alternativbewe gungen, die weltanschauliche und künstlerische Avantgarde und schließlich auch für die unterschiedlichen Weltanschauungsvorschläge der „vagierenden Religiosität“.220 Aufgrund der hohen Dynamik, die diese Stimmungslagen ge winnen konnten, ist es berechtigt, von einer „politischen Mehrdeutigkeit“ des Kulturprotestantismus zu sprechen, der besonders nach der Jahrhundertwende bereit war, sich mit neuen weltanschaulichen Entwürfen auseinanderzusetzen, und nach synthetischen Kulturbildern strebte.221 Friedrich Wilhelm Graf hat in 217 Volker Drehsen/Walter Sparn: Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: dies. (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse, Berlin 1996, 11–12. 218 Paul Graue: Deutsch-evangelisch, Stuttgart 1894, Zitate 95 und 72. Paul Jaeger stellte in einer Rezension dieser Schrift die Verbindung zu den Vorstellungen von Arthur Bonus her: Ein kirchenpolitisch Heimatloser. Deutsch-evangelisch von Graue, in: CW 12 (1898), 484–487. Für ihn teilten beide Autoren das gleiche Anliegen. 219 M artin R ade: Die tägliche Rundschau, in: CW 7 (1893), 211–214, 214. 220 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 113; ders.: Drei Generationen deutscher Kulturprotestanten, 184. 221 Graf: Kulturprotestantismus, in: TRE 20 (1990), 235–239.
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seiner begriffsgeschichtlichen Studie ausgeführt, dass sich viele kulturprotes tantische Vertreter im Ringen um eine aus den zeitgenössischen Diskursen be gründbare, moderne Form des Christentums mitunter neuen weltanschaulichen Positionen – dem Monismus, der Darwin’schen Entwicklungslehre und dem Nationalismus – annäherten. Ähnlich sah Gangolf Hübinger in Teilen des Kul turprotestantismus der Jahrhundertwende eine Offenheit für eine neuartige, weltanschauliche Überhöhung des Nationalen, die gegenüber der eher liberal- patriotischen Zielgebung der Reichsgründungszeit auch integralnationalistische Züge annehmen konnte. Die Arbeiten von Geoffrey Field zur Chamberlain- Rezeption oder von Uriel Tal zum Verhältnis von Protestantismus und Juden tum belegen, dass sich seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von der Peripherie des kulturprotestantischen Spektrums ausgehend eine hohe Auf geschlossenheit gegenüber synthetisch-harmonisierenden Denkansätzen ent wickelte, die eine Hypostasierung des Volkes und der deutschen Kultur ermög lichte.222 Den hier versammelten kultur- und kirchenkritischen Stimmen, die eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf den modernistischen Flügel des etablierten Kirchentums besaßen, ist auch Arthur Bonus zuzurechnen.223 Seine Forderung nach einer „Germanisierung des Christentums“ stellte, wie Wolfgang Heinrichs herausarbeitet, durchaus kein „Randphänomen“ dar, sondern traf in den Zeitschriften des liberalen protestantischen Bürgertums auf einen „auf fällig breiten Anklang“.224 Rainer Lächele diagnostizierte im Handbuch zur Völkischen Bewegung anhand einer Durchsicht protestantischer Kirchenzeit schriften, dass der Protestantismus insgesamt auf die völkischen Religionsexpe rimente „nicht oder kaum reagiert“ habe, verwies zugleich aber auf das protes tantische Bildungsbürgertum, das sehr viel deutlicher an der Suche nach einer Verbindung von Religion und Deutschtum partizipierte.225 Insbesondere die „Propheten“ eines völkisch verstandenen Deutschtums stießen im Kulturprotes tantismus auf Resonanz: Lagarde, Julius Langbehn und Chamberlain wurden als publizistische Einzelentwürfe rezipiert, die auf eine Neubelebung deutscher Kultur und Religion hinzuführen schienen. 222
Geoffrey Field: Evangelist of Race, New York 1981, 311; Uriel Tal: Christians and Jews in Germany, Kap. 4. 223 Vgl. Hübinger: Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deut schen Protestantismus, in: K rumeich /Lehmann (Hg.): „Gott mit uns“, 233–247, 234 f. 224 Wolfgang H einrichs: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs, 693. 225 R ainer Lächele: Protestantismus und völkische Religion. Thomas Nipperdey schwächt die Bedeutung der radikal-nationalistischen und neureligiösen Bestrebungen für den Kultur protestantismus ab: Seiner Ansicht nach war etwa „der völkisch-nationale Exprotestant Lagar de […] nicht typisch. Die Überspannungen zum Völkischen und Germanischen waren Rand phänomene“ (Religion im Umbruch, 97).
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Die protestantische Auseinandersetzung mit diesen völkischen Meister denkern erfolgte nicht kritiklos; zu stark war bei diesen der Antiklerikalismus und die Ablehnung des kirchlichen Protestantismus verankert; zu deutlich ver banden sie eine häufig exzentrische Geschichtskonstruktion mit Antiintellektu alismus und Rationalitätskritik. Manche Theologen sahen hier deswegen einen Nachholbedarf, um den Protestantismus auf eine Höhe mit der nationalen Kul turbewegung zu bringen. So klagte der Bremer Pfarrer Julius Burggraf 1907 über das Desinteresse seiner Amtskollegen an einer Nationalisierung des Chris tentums, das in Widerspruch zu den Bestrebungen um eine nationale Kunst sprache oder eine deutsche Musik stand: Während man in der Kunst, von den Bildern eines Dürer, Thoma, Böcklin und von den Wag nerschen Opern ergriffen, von Henry Thodes Grundsätzen geleitet, Umbau und Ausbau im Sinne deutscher Wesenart erstrebt, finden die Anregungen eines Lagarde, Chamberlain und Arthur Bonus, ihre Hinweise auf die Notwendigkeit einer gründlichen Verdeutschung des Christentums, bei der großen Mehrzahl unserer Theologen, ebenso bei der eigentlich kirch lichen Gemeinde noch herzlich wenig Verständnis.226
Tatsächlich wurden die von Burggraf erwähnten Bestrebungen einer nationalen Kulturreform sehr wohl registriert. So ließ sich etwa auf Seiten des Protestantenvereins eine inhaltliche Parallele mit den Anliegen Lagardes behaupten: „Er forderte eine nationale Religion, eine deutsche Theologie und Religion im bes ten Sinne des Wortes; wir auch.“227 Ähnlich gelagert ließen sich Chamberlains völkisch-christliche Vorstellungen in ihrer Verbindung von scheinbarer Wissen schaftlichkeit und zeitgenössischem Empfinden als eine „Apologie des Chris tentums“ gegenüber modernen Glaubenszweifeln lesen.228 In auffälliger Weise lassen sich Überschneidungen zwischen den Befür wortern einer nationalen und religiösen Kulturreform und den Interessenten am Werk von Arthur Bonus beobachten. Mit einem vergleichenden Blick auf Bonus’ Werk wies der Giessener Kirchenhistorischer Gustav Krüger diesen auf Chamberlain hin, dessen Gegenwartsbedeutung in seinem Widerspruch gegen eine kirchliche „Religion für das Philistertum“ liegen würde.229 Chamberlains 226 Julius
Burggraf: Präliminarien zum Deutschen Christus, in: Bremer Beiträge zum Ausbau der Kirche 2 (1907/08), 81–91, 83. 227 Otto Veeck: Paul de Lagarde’s Anschauungen über Religion und Kirchenwesen, in: PrM 2 (1899), 225.236.286–296, 295. Vgl. auch Hermann Mulert: Paul de Lagarde, Berlin- Schöneberg 1913; Friedrich Daab: Deutscher Glaube. Deutsches Vaterland. Deutsche Bil dung. Paul de Lagarde. Das Wesentliche aus seinen Schriften, Jena 1913. 228 O. K raft: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, in: CW 13 (1899), 1144–1145 229 Brief Krüger an Bonus, Giessen 21.10.1900 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_015]; vgl. K rügers Rezensionen: Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, in: CW 14 (1900), 988–991; vgl. ders.: Worte Christi, in: CW 15 (1901), 1228; ders.: Noch einmal Cham berlains Grundlagen, in: CW 16 (1902), 811–812.
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holistischer Entwurf einer germanischen Nationalgeschichte diente sinnstiftend gegenüber dem „kleinlichen Spezialistentum“ der historistischen Fachperspek tive, hob der Schweizer Literat Eduard Platzhoff-Lejeune hervor.230 Max Christ lieb schließlich, ebenfalls ein Chamberlain-Verehrer, der Bonus schätzte, bezog sich auf die von Chamberlain ausgeführten Rassevorstellungen, die er für reli gionsgeschichtlich bedeutsam hielt.231 Chamberlains Anliegen, ein germani sches Geschichtsbild zu präsentieren, wurde spätestens nach seiner Autorisie rung durch Kaiser Wilhelm II. nicht mehr als „Windeier, gelegt von der ge schichtsphilosophischen Henne“, betrachtet, sondern als ein welthistorischer „Zauberschlag“ angegangen, der als ernstzunehmender Großentwurf zu gelten hatte.232 Der Stettiner Pfarrer Christian Lülmann nahm 1912 in der Christlichen Welt sehr sensibel das Anwachsen völkisch-religiöser Bestrebungen wahr und hielt diesen entgegen, dass das Christentum als „Weltreligion“ nicht in einen nationalen Partikularismus verfallen dürfe. Dass es aber an das „Deutschtum“ und „seinen nationalen Volkscharakter“ angepasst werden müsse, blieb für ihn eine Notwendigkeit.233 230
Eduard Platzhoff-Lejeune: Aus der neueren philosophischen Literatur, in: CW 15 (1901), 819; zu Platzhoffs Bonus-Lektüre vgl. zudem seine kurze Besprechung eines Kunst blattes, das Bonus und seine Frau vertrieben: Arbeiten und nicht verzweifeln, in: CW 14 (1900), 1238 sowie ders.: Der Kulturwert der deutschen Schule (Rezension von Bonus: Zum Kulturwert der deutschen Schule, Jena 1904 [LKA Eisenach, NL Bonus, 17_073, Zeitschrif tenausschnitt]). Platzhoff äußerte sich mehrfach bewundernd zu Bonus’ Aufsätzen in Christlicher Welt und Kunstwart (vgl. Postkarte Platzhoff an Bonus, Chateau d’Oex/Wallis 11.4. 1902 [ebd., 12_004] sowie den vorhergehenden Briefwechsel, der auf ein nicht spannungs freies Konkurrenzverhältnis schließen lässt [ebd., 02_009]; zu ihm vgl. Rudolf Eisler: Art. Platzhoff-Lejeune, Eduard, in: ders.: Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin 1912, 559. 231 M ax Christlieb: Weltgeschichte und Weltanschauung, in: CW 17 (1903), 1248–1251; ders.: Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, in: Deut sche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 3 (1903), 880–887. Christlieb wirk te nach einem längeren Aufenthalt in Japan ab 1899 als publizistisch aktiver Pfarrer in Baden. Seit 1902 verfasste er die religionsphilosophischen Berichte im Theologischen Jahresbericht unter Einbeziehung der „Themen Rasse, Volkstum, Religion“ (Hermann Mulert: Der Christ und das Vaterland, Leipzig 1915, 218; vgl. zu ihm auch M atthias Wolfes: Art. Christlieb, Max, in: BBKL 16 (1999), 258–261); zum Verhältnis zu Bonus: s ders.: Rez. Arthur Bonus, Religion als Schöpfung, in: PrJ 110 (1902), 544–546. Ausgesprochen im Sinne eines Cham berlainschen Rassebegriffes äußerte sich der Münchner Militärgeistliche Johannes Kübel: Rasse und Religion, in: CW 21 (1907), 35–42; vgl. zu diesem: Christian Weise: Art. Kübel, Johannes Georg, in: BBKL 20 (2002), 875–886 sowie Wolfgang Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 472–476. 232 Houston S. Chamberlain: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, München 1903, 736; ders.: Briefe 1882–1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II., Mün chen 1928, 142. 233 C. Lülmann: Christentum und Deutschtum, in: CW 26 (1912), 243–247.274–280.
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Es ging bei diesen Überlegungen um die Begründung eines eigenständigen deutschen Stils und um die Freilegung eines angeblichen Wesenskerns der deut schen Kultur. Die Moderne-Erfahrungen von Globalisierung, Kolonialismus und religiöser Differenz schlugen sich hier nieder, indem sie die Frage provo zierten, was denn ‚Deutschtum’ ausmache.234 Auch die zunehmende Pluralisie rung religiöser Lebenswelten wirkte sich aus, die dem protestantischen Landes kirchentum spürbare Konkurrenz erwachsen ließ. So grenzte beispielweise Otto Baumgarten in dem Handbuch Die Religion in Geschichte und Gegenwart die Grundlagen eines deutschen Frömmigkeitsstils, der für ihn aus Ernsthaftig keit und Innerlichkeit bestand, gegen andere, emotionalere Ausdrucksformen ab, die für ihn dem deutschen Charakter widersprachen und zur Veräußerli chung der Religion führen würden.235 Die Suche nach einem deutschen Stil soll te, wie Wilhelm Schubring ausführte, nicht zu einer nationalistischen Einen gung führen, sondern die Merkmale eines einheitlichen Nationalcharakters hervorkehren: Deutsche Kunst ist nicht nur und durchaus nicht immer solche Kunst, die vaterländische Stoffe behandelt; ebensowenig verdient eine Frömmigkeit den Titel „Deutsche Religion“ schon deshalb, weil sie von Walhall und Wodan redet. Es handelt sich um den deutschen Geist.236
In den kulturprotestantischen Zeitschriften, die sich als Diskussionsforen an boten, wurden diese Entwürfe nicht unwidersprochen hingenommen, sondern blieben eine Position unter vielen.237 Die Versuche, sich Vergewisserung über die Grundlagen der deutschen Kultur in der Moderne zu verschaffen, korres pondierten jedoch mit einer grundlegenden Irritation an den theologischen Me thoden und Urteilskriterien. Dieses Problem erhielt durch die Religionsge schichte und die Leben-Jesu-Forschung ein besonderes Gewicht. Zur Verdeutli chung sei auf Friedrich Naumann hingewiesen, der nach seiner Palästina-Reise 1898 in der protestantischen Öffentlichkeit einer Glaubenskrise Ausdruck ver lieh, die auf der unvereinbaren Differenz zwischen moderner, deutscher Kultur ülmann hatte einen Vortrag des völkischen Ludwig Gurlitt gehört, nach dem das Christen L tum „das deutsche Volk […] um sein bestes betrogen“ habe; ferner bezog er sich auf Ludwig Schemann, Chamberlain und Lagarde. 234 Es wäre höchst anregend, die in der Arbeit von Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006 gesetzten Impulse einer Globalgeschichte des Nationalen für die protestantischen Kolonialmissionen und ihre Rückwirkungen auf den heimischen Protestantismus auszuwerten. 235 Otto Baumgarten: Art. Engländerei im kirchlichen Leben, in: RGG1 2 (1910), 337– 339, 338. 236 Wilhelm Schubring: Germanisierung des Christentums, in: Deutschland. Monats schrift für die gesamte Kultur 3 (1904), 399–411, 408. 237 Vgl. z. B. F. Küchler: Die Bibel- und Babel-Litteratur, in: CW 17 (1903), 275.
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und der Geisteswelt der biblischen Erzählungen beruhte.238 Wo „Textkritik, Li terarkritik, Zeitgeschichte“ versuchten, den historischen Jesus der Gegenwart näher zu bringen, förderten sie tatsächlich nur einen „Fremdling“ zutage und lösten „Enttäuschung“ aus.239 Auf seine Palästinareise zurückblickend berichte te Naumann, er habe in Palästina oft „an Paul de Lagarde gedacht und seinen Traum eines wiedererwachten altdeutschen Glaubens“.240 Kurz vor der Jahrhun dertwende warf Naumann in der von ihm herausgegebenen Zeitung Die Hilfe die Frage auf: „Warum haben wir Deutschen keine deutsche Religion?“241 Die Zeit war reif, so seine Antwort, dass sich die Deutschen entsprechend der Höhenlage, die im wissenschaftlichen und kulturellen Leben erreicht war, nun auch in der religiösen Sphäre aufmachten, ein „eigenes Bekenntnis“ zu bilden und das Christentum „in deutsche Schalen“ umzugießen.242 Das Beispiel Nau manns führt in die Mitte der Problemkonstellation, aus der heraus eine neue, religiöse Anbahnung, wie sie in Bonus’ Werk vorlag, für kulturprotestantisch geprägte Theologen Interesse gewinnen konnten.243 Neben scharfer Ablehnung lassen sich auch Avancen auf Seiten einzelner völ kischer Religionsvertreter in Richtung moderner Theologie beobachten. Radi kale Deutschgläubige hielten eine aufgeklärte, reflektionsbereite Theologie zweifelsohne für eine Halbheit. In diesem Sinne warf der völkische religiöse Autor Ernst Hunkel dem liberalen Protestantismus vor, einer „Selbsttäuschung“ zu unterliegen, wenn er meine, durch seine Dogmenkritik ein christliches Glau benserlebnis unter den Voraussetzungen der Gegenwart zu ermöglichen: die historische Bibel- und Bekenntniskritik führe in der Konsequenz zur Selbstzer setzung des Christentums.244 Damit verwies er auf ein auch innerprotestantisch 238 Arthur Bonus war zu dieser Reise von Paul Rohrbach eingeladen worden, lehnte aber freundlich ab. 239 Friedrich Naumann: Asia, Berlin-Schöneberg 51907, hier 115 f. 240 Ebd., 119 f. 241 Ders.: Deutsches Christentum, in: Die Hilfe 5 (Nr. 42 v. 15. Oktober 1899), 1. 242 Ebd. 243 Bonus veröffentliche 1902/03 eine mehrteilige Besprechung zur zeitgenössischen Jesus-Debatte in der Münchner Allgemeinen Zeitung, in der er u. a. auf Naumanns Asia bezug nahm. 244 Eine solche Kritik war keine Domäne völkischer Religionstheoretiker, sondern eine verbreitete, freireligiöse Position, die den protestantischen Fokus auf Sittlichkeit festlegte und das Fehlen ästhetischer und erlebnishafter Inhalte beklagte, vgl. z. B. die Ansicht der schwedischen, in Deutschland viel rezipierten Reformpädagogin Ellen Key, die den theologi schen Liberalismus für die „am wenigsten herzgewinnende und am wenigsten tragfähige von allen Formen des Christentums“ hielt, weil sie den Menschen nicht mehr „stark ergreifen“, sondern nur noch belehren könne. Seine gereinigte Lehre entspreche nur dem Bedürfnis, als „freisinniger Theologe mit Gewissensruhe im Amt bleiben zu können“ (Ellen K ey: Der Le bensglaube. Betrachtungen über Gott, Welt und Seele, Berlin 1906, 34); ähnlich auch Ernst
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verhandeltes Problem: „Die Geister müssen sich scheiden. Folgerichtige Ortho doxie führt zum Katholizismus zurück, folgerichtiger Liberalismus aus dem Christentume heraus.“245 Daneben existierten jedoch auch Aussagen, die im Protestantismus durchaus eine Realisierung nationaler Erwartungen erblickten. Friedrich Lange löste in seiner Artikelserie über Reines Deutschtum den Protestantismus von seiner kon fessionellen Grundlage ab und umschrieb ihn als religiösen Fortschrittsgedan ken und als kulturell-sittliche Welthaltung des Deutschtums. Protestantismus, Deutschtum und Kulturmenschentum gerieten in seiner Darstellung gleichsam zu Synonymen unter der Voraussetzung, dass der Protestantismus die „deutsch- nationale Gestaltung des christlichen Religionsgedankens“ darstelle.246 Der Pro testantismus als subjektive Weltsicht und als Religion der Innerlichkeit stand für ihn in enger Verknüpfung mit dem deutschen Nationalgeist: Der recht verstandene Protestantismus bedeutet die Entwicklung der Autoritäts-Religion zur Persönlichkeits-Religion im Einklange mit unserem germanischen Rassencharakter, der recht verstandene Protestantismus bedeutet die fortschreitende Steigerung der Sittlichkeits begriffe vom Schein ins Sein, vom Aeußern ins Innerliche, vom Niedrigen ins Adlige, wozu wiederum der germanische Volkscharakter die größte natürliche Anlage hat.247
Der von Lange angeführte „recht verstandene Protestantismus“ war natürlich alles andere als ein kirchliches Christentum, vielmehr ein Durchgangsstadium, Haeckel, der im modernen Protestantismus nur noch „Scheinchristentum“ erblicken konnte (vgl. Ernst H aeckel: Die Welträtsel, Bonn 1903, 129, zur Auseinandersetzung damit vgl. Bruno Weiss: Monismus, Monistenbund, Radikalismus und Christentum, in: PrB 40 (1907), 508–513.535–541.554–560; Weiß war Pastor an St.Remberti, Bremen). 245 Ernst Hunkel: Hie fremder Glaube – hie deutsches Leben!, in: Alldeutsches Tagblatt 11 (Nr. 133 v. 12.6.1913), 1–2; (Nr. 134 v. 13.6.1913), 1–2; ders.: Mehr Klarheit und Sachlich keit!, in: ebd. (Nr. 155 v. 8.7.1913), 1–2. Hunkel griff mit seinem Beitrag in eine umfängliche re völkische Diskussion über die Stellung zum Christentum ein, die im Sommer 1913 den Hauptvertretern der völkischen Religionsbewegung die Möglichkeit gab, ihre Positionen im Gegensatz zu entfalten, vgl.: Heinrich Pudor: Die deutschvölkische Bewegung und das Christentum, in: Alldeutsches Tagblatt 11 (Nr. 111 v. 16.5.1913), 1–2; Otto Hegemann: Deutschtum und Christentum, in: ebd. (Nr. 124 v. 1.7.1913), 1–2; ders.: Deutschtum und Christentum, ebd. (Nr. 148 v. 29.7.1913), 1–2; ders.: Ein Schlußwort an Herrn Dr. Hunkel, ebd. (Nr. 160 v. 13.7.1913), 1–2; A dolf K roll: Germanische oder christliche Religion?, in: ebd. (Nr. 152 v. 4.7.1913), 1–2; Ernst Wachler: Ueber die religiöse Einigung der Deutschen, in: Allgemeiner Beobachter 3 (1913), 153–154.181–182; Heinrich Driesmans: Ueber die reli giöse Aufartung der Deutschen, in: ebd., 199–200; Ludwig Gurlitt: Die religiöse Aufartung der Deutschen, in: ebd., 226–227; Ludwig Fahrenkrog: Die Germanische Glaubens-Gemein schaft, in: ebd., 227–229; Oskar Michel: Ueber die religiöse Einigung der Deutschen, in: ebd., 237–239; Paul Bräunlich: Wider die Versuche, auf kirchlichem Gebiet die deutsche Volksgemeinschaft aufzulösen, in: Heimdall 19 (1914), 28–29. 246 Friedrich Lange: Reines Deutschtum, 45. 247 Ebd., 79.
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an dessen Ende die Auflösung des Christentums in eine idealistische „Deutsch religion“ stehen würde. Langes Entwurf wurde gleichwohl in der Christlichen Welt mit einer ausführlichen Besprechung gewürdigt, was nicht zuletzt daran lag, dass die von Lange herausgegebene Tägliche Rundschau mehrfach als vor bildliche Tageszeitung Erwähnung gefunden hatte. Diese würde nämlich über das „Parteiengezänk“ und „alles Unedle“ hinausführen zu wirklicher „Vater landsliebe“.248 Umgekehrt stellte Lange in der Täglichen Rundschau mit Blick auf Martin Rade und sein Umfeld den „Idealismus gerade dieses neuen Ge schlechts evangelischer Theologie“ positiv heraus.249 Das Reine Deutschtum wurde hingegen distanzierter wahrgenommen als eine „unglaubliche Idealisie rung deutscher Art und eine ebenso unglaubliche Verkennung christlichen We sens“.250 Dennoch stieß seine als idealistischer Kulturpatriotismus verstandene „lodernde Vaterlandsliebe“ auf Wertschätzung, so dass Lange als „ein besserer Erzieher unsers Volkes als der Rembrandtdeutsche“ gelten konnte, allerdings unter deutlicher Ablehnung seiner antisemitischen Grundhaltung.251 Langes Forderung, das Christentum „durch das eingeborene Rassegewissen des Deutschtums“ abzulösen, traf hingegen im Kontext der modernen Theologie auf entschiedenen Widerspruch.252 Der von Lange verbreitete „nationale Ge danke“ verband sich aber in seinen Erwartungen an Sittlichkeit, Innerlichkeit und Wesenhaftigkeit mit den Kulturidealen des liberalen Protestantismus. Die Überführung des Christentums in „germanischen Geist“ galt etwa im Kunstwart als eine Konsequenz seiner geschichtlichen Entwicklung. Hier beschrieb der Berliner Pfarrer Walther Nithack-Stahn – völkischer Anschauung völlig un verdächtig – den Protestantismus als subjektive Lebenshaltung, die eine sittli che Weltanschauung für die Gegenwart bot: Der Protestantismus stellte seiner Ansicht nach nämlich keine dogmatisch entschlackte Religion oder ein „verein fachtes Christentum“ dar, sondern eine „Gesinnung“.253 248
R ichard Bürkner: Christentum und Deutschreligion, in: CW 7 (1893), 760–766.788– 792, 761. 249 H abermann: Eine Tragödie?, in: CW 7 (1893), 626–627, 626 (Zitat aus der Täglichen Rundschau, Nr. 132, Juni 1893). 250 R ichard Bürkner: Christentum und Deutschreligion, 792. 251 Ebd. 252 M artin R ade: An Herrn Dr. Friedrich Lange, Herausgeber der Täglichen Rundschau, in: ders.: In Sachen der Mission, in: CW 7 (1893), 1035–1036, 1036 mit scharfer Kritik an Langes redaktioneller Praxis, die Rade recht unverhohlen als unseriös darstellt. Zuvor aller dings hatte er die Tägliche Rundschau zweimal einer ausdrücklichen Belobigung unterzo gen: ders.: Verschiedenes. Die Tägliche Rundschau, ebd., 23; ders.: Die Tägliche Rundschau, ebd., 211–214. 253 Walther Nithack-Stahn: Protestantische Kunst, in: Kunstwart 19/1 (1906), 432–437, 435.
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Eine offene Werbung um die „liberalen Theologen“ von völkischer Seite lag in einem Aufsatz von Friedrich Lienhard vor, der unter dem Titel „Christenthum und Deutschthum“ 1895 in der Täglichen Rundschau auf ein geteiltes national kulturelles und religiöses Bestreben hinwies. Gerade im modernen Segment des Protestantismus, so Lienhard, würde man „dem Idealismus der Deutschbewe gung am nächsten stehen“.254 Ohne Abstriche bei seinem Antisemitismus und im offenkundigen Interesse, den jüdischen Hintergrund des Christentums zu retuschieren, das „wenigstens zum Theil dem Arierthum zuzuweisen“ sei, er klärte er mit Verweis auf Schleiermacher eine christliche Religion der „Ver klärung und Überwindung der Welt“ sowie das Liebesgebot zur gemeinsamen Verständigungsgrundlage.255 Im idealistischen Kampf gegen die angebliche Verknöcherung des Kirchenprotestantismus und den Zerfall des Deutschtums sah er eine gemeinsame Handlungsbasis.
4. „Interferenzen“ Die hier zusammengestellten Beispiele deuten ein Diskursfeld innerhalb des Kulturprotestantismus an, in dem sich die Vorstellungen von Arthur Bonus ent falten konnten. Mehr illustrativ als analytisch lässt sich dieses Feld anhand ei nes Romans skizzieren, den der völkische Heimatschriftsteller Ottomar Enking unter dem Titel Ikariden zur Jahrhunderwende veröffentlichte.256 Enking, ein Mitglied der Volkserzieherbewegung Wilhelm Schwaners, ließ in seinem dem Naumannianer und Bodenreformer Adolf Damaschke gewidmeten Buch einen jungen, idealistischen Theologen und Dorflehrer, Klaus Feddersen, auftreten, der als Schüler eines Kieler Theologieprofessors – unschwer als die liberal-theo logische Führungsfigur Otto Baumgarten zu erkennen – in einen Konflikt zwi schen Kirche, Patriotismus und moderner Lebenshaltung gerät. Innerlich kaum gefestigt leidet der Protagonist unter dem Druck der dörflichen Honoratioren, die an seiner sozial engagierten und theologisch modernen Predigt wenig Gefal len finden. Die kirchliche Zurückhaltung in der sozialen Frage hält er für zu „bequem“,257 den Patriotismus der dörflichen Kriegerfeste, die nach markigen Reden des Gutsherrn in alkoholgeschwängerten Kneipabenden enden, für un genügend, die Theologie seines kirchlichen Vorgesetzten für wissenschaftlich
254
Friedrich Lienhard: Christenthum und Deutschthum, in: Tägliche Rundschau (Nr. 117 v. 19. Mai; Nr. 120 v. 23. Mai 1895), 466–467.478–479.481–482, Unterhaltungsbeilage, hier: 467. 255 Ebd., 479. 256 Ottomar Enking: Ikariden, 2 Bde., Dresden 1900. 257 Ebd., Bd. 2, 24.
II. „Interferenzen“. Kulturprotestantismus und Völkische Bewegung
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unhaltbar.258 Lösungswege deuten sich an, als ein Reformautor auftritt, der nach einer kirchenfreien Erziehung zum „Edelmenschen“ strebt;259 und vollends, als der örtliche Frauenverein eine handlungskräftige Synthese aus „Christentum und Vaterlandsliebe“ schafft, die das enge Korsett des landeskirchlichen Protes tantismus zu einem freien, patriotischen Glauben durchbricht.260 Im Medium des Romans wurde die zeitgenössische Suche nach einer engen Verbindung von Religion, Ethos, sozialem Handeln und nationaler Kultur geschildert. Völkische Ideologeme wie das holistische Bild einer ganzheitlichen National kultur beschränkten sich nicht auf solche Verbände und Vereinigungen, die eine explizit völkische Zielrichtung vertraten. Vielmehr trieben sie ihre Ableger, wie Stefan Breuer formuliert, auch in andere Bewegungen und Organisationen hin ein, die kulturelle und weltanschauliche Motive verfolgten, die unschwer mit völkischen Interessenlagen zu vereinbaren waren, ohne deckungsgleich in die sen aufzugehen.261 Das galt für die Bestrebungen um eine nationale Kultur reform, wie sie etwa im von Friedrich Avenarius herausgegebenen Kunstwart zusammenliefen, oder für protestantisch-nationale Kulturzeitschriften wie die Wartburgstimmen oder den Türmer, oder für ein auf Heimatkultur und deut sches Stilempfinden in der Religion gemünztes Blatt wie Heinrich Sohnreys Dorfkirche. Ein breites Spektrum weltanschaulicher Positionen am Rande des Protestantismus vernetzten Gottfried Traubs ‚Freunde der christlichen Freiheit‘ und die dazugehörige Zeitschrift Christliche Freiheit, in der diverse kulturkri tische Stimmen zu Wort kamen.262 Völkische Autoren wie Friedrich Lienhard oder Adolf Bartels gehören zu den Autoren dieser Zeitschriften, aber auch dem Kulturprotestantismus zuzurechnende Religionsschriftsteller lassen sich mit je weils unterschiedlich nuancierten Programmen in diesem Feld finden wie Emil Fuchs, Heinrich Steinhausen, die Brüder Friedrich und Bernhard Daab, und, neben anderen, auch Arthur Bonus. Stefan Breuer spricht hier von Interferenzen, mithin von Überlagerungs erscheinungen auf dem Feld nationalistischer Kulturdebatten: Er verweist auf Resonanzen eines kulturkritischen Denkens und einzelner völkischer Versatz 258
Ebd., Bd. 1, 191. Ebd., Bd. 2, 81, 86. 260 Ebd., Bd. 2, 72. Als ein weiteres illustratives Romanwerk aus diesem Umfeld ist auf die Schilderung Wilhelm Schwaners hinzuweisen von: K arl Schöllenbach [Pseud. Robert Theuermeister]: Wilm Heinrich Berthold, Leipzig 1912; auch Gustav Frenssens Roman Hilligenlei, Berlin 1906, besitzt eng vergleichbare Züge. 261 Breuer: Die Völkischen in Deutschland, 98 f. 262 Einzelne Überschneidungen dieses Kreises zur Zeitschrift Der Volkserzieher von Wilhelm Schwaner, aus der sich heraus unter Mitwirkung des völkischen Kunstprofessors Ludwig Fahrenkrog die Germanisch-deutsche Religions-Gemeinschaft bildete, habe ich dar gestellt in: Sonnengeistigkeit, Wald- und Freiheitsweben. 259
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Erstes Kapitel: Einleitung
stücke, die letztlich ekklektisch sind wie die völkische Bewegung vor dem Ers ten Weltkrieg selbst. Der völkische Nationalismus partizipierte als „Trittbrett fahrer“ an Themen wie der – etwa im Kunstwart propagierten – Verbindung von Kulturliberalismus und demokratischem Nationalismus, umgekehrt lagen etwa im Streben nach einer Schaffung einer deutschen Kunst- und Formensprache und einer nationalen Ästhetik Argumentationsfiguren vor, die Kultur- und völ kische Bewegung teilten. Gegenseitige Resonanzen sind auch im Bereich der sozialen Frage wahrzunehmen, deren Lösung als Schritt hin zu nationaler Ein heit gedeutet wird. Die Kritik am Kapitalismus und ein Streben nach der Über windung des ‚Mammonismus‘ gehören hier her. Schließlich ist die Suche nach einer ausdrucksvollen, überkonfessionellen, nationalen Religion in diese Schnittmenge einzubeziehen. Von „völkischer Dominanz“, so Breuer, lässt sich in diesen Fällen nicht sprechen, wohl aber von einem „Ideenaustausch“, der sich auch an Bonus nachvollziehen lässt.263 Damit rücken nicht die akademischen, gleichsam „kanonischen“ Theologien des Kulturprotestantismus in den Mittel punkt dieser Untersuchung, sondern seine sezessionistischen Randgruppen.
III. Im „neuen Religionsbetrieb“: Zur Bedeutung von Zeitschriften im religiösen Diskurs der Jahrhundertwende Wenn hier nach den „Interferenzen“ völkischer und nationaler Religionsdiskur se gefragt wird, kommt Zeitschriften als Medien des religiösen Diskurses eine zentrale Funktion zu. Als Trägern der alltäglichen und popularisierenden Ideen kommunikation sowie der Frömmigkeitskultur ist Zeitschriften in der theolo giehistorischen Forschung eine eher marginale Funktion eingeräumt worden. In dem vielschichtigen Komplex der „bürgerlichen Religion“ besitzt die durch Zeitschriften, Broschüren oder religiöse Romane vermittelte individuelle Lese kultur jedoch einen hohen Stellenwert.264 Auch für die Frage nach protestanti schen „Mentalitätsthemen“ haben die in Zeitschriften ausgetauschten Positio nen und Argumente einen hohen Quellenwert als Schlüssel zu kollektiven reli giösen und sozialen Einstellungen. So hat etwa Frank-Michael Kuhlemann auf die Bedeutung der konfessionellen Zeitungen und Zeitschriften sowie die inter nen Nachrichtenblätter und Vereinsschriften hingewiesen, in denen sich religiö se Haltungen und Konflikte unmittelbarer niederschlugen als in der akademi 263
Ders.: Die Völkischen in Deutschland, 99. Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch, 136–153; Lucian Hölscher: Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: HZ 250 (1990), 595–630, 605 f. 264
III. Im „neuen Religionsbetrieb“
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schen Theologieproduktion.265 Zeitschriften kam eine wichtige strukturierende Funktion in der religionskulturellen Vernetzung und Vergesellschaftung der religiösen Submilieus zu, in der Vergewisserung in frommen Alltagsfragen wie auch im Austausch über Werthaltungen und sittliche Grundfragen.266 Diese Aufgabe erfüllten im protestantisch-bildungsbürgerlichen Umfeld weniger aus drücklich kirchennahe Organe, sondern eher die um die Jahrhundertwende in eine Blütephase eintretenden Kulturzeitschriften, die als Hilfsmittel wahrge nommen wurden, „im Sinne eines kulturellen Lotsen“ zeitgenössisches Gesche hen zu reflektieren, zu ordnen und mit Positionierungsangebot zu versehen.267 Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass in der bisherigen Erforschung der Reli gionsgeschichte des Kaiserreiches die bürgerlichen Kulturzeitschriften und die mit ihnen verwandten Kulturverlage eine eher marginale Rolle gespielt haben, obwohl sie – den nach wie vor prägenden Arbeiten von Karl Ulrich Syndram und Rüdiger vom Bruch folgend – um 1900 im Kommunikationsnetzwerk des Bildungsbürgertums die zentralen Artikulationsorgane für kulturelle und poli tische Werte darstellten.268 Zahlreiche Beobachter um die Jahrhundertwende stellten fest, dass sich die Vermittlung religiöser Inhalte zunehmend von der Kanzel auf den Buch- und Zeitschriftenmarkt verlagert hatte. „Gott redet heute ganz besonders durch Bü cher“, so stellte ein aus liberaltheologischer Quelle stammendes Handbuch, das sich der Rückgewinnung der Gebildeten für den kirchlichen Protestantismus verschrieben hatte, die Tendenz zur Individualisierung der Frömmigkeitspraxis durch eigenständige Lesegewohnheiten thesenartig heraus, die sich auch auf das Zeitschriftenwesen übertragen lässt.269 Dass „dem neuen Religionsbetrieb“ in 265 Frank-M ichael Kuhlemann: Mentalitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der Religion im 19. und 20. Jahrhundert, in: Wolfgang H ardtwig (Hg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, 182–211, 192 f.; vgl. die konzeptionellen Überlegungen bei Wolfgang Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. 266 H ans M anfred Bock /M ichel Grunewald: Zeitschriften als Spiegel intellektueller Mi lieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in: dies. (Hg.): Das lin ke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2002, 21–33; vgl. mit Blick auf die protestantischen Netzwerke dies. (Hg.): Das evange lische Intellektuellenmilieu in Deutschland, Bern 2008. 267 Rüdiger vom Bruch: Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeit schriften des Kaiserreichs, in: Ekkehard M ai (Hg.): Ideengeschichte und Kunstwissenschaft, Berlin 1983, 313–347, 314. 268 K arl Ulrich Syndram: Rundschau-Zeitschriften. Anmerkungen zur ideengeschicht lichen Rolle eines Zeitschriftentyps, in: ebd., 349–370; ders.: Kulturpublizistik und nationa les Selbstverständnis, Berlin 1989; Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, 32. 269 Rudolf Wielandt: Die Arbeit an den Suchenden aller Stände, Göttingen 1906, 2.
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Erstes Kapitel: Einleitung
besonderer Weise durch eine rapide angewachsene Zahl von „Büchern, Bro schüren und Zeitschriften“ gedient wurde, notierte der Herausgeber der Zeit schrift Die Christliche Welt, Martin Rade.270 Die „religiöse Literatur“, meinte Heinrich Meyer-Benfey, selbst ein kulturreligiöser Schriftsteller, sei zu einer den Buchmarkt und die religiösen Diskurse verändernden „Mode geworden“.271 Der interessierte Beobachter um die Jahrhundertwende kam nicht umhin, zu bemerken, dass die literarische Umsetzung von religiösen Themen „nicht nur besprochen, sondern auch gekauft“ würde.272 So monierte Constantin von Zast row, ein theologisch äußert belesener Laie aus dem Kreis um die Christliche Welt, die Gemeindepredigt könne weder inhaltlich noch in der Wirkung „mit dem konkurrieren, was uns jederzeit ein Griff in unsern Bücherschrank, was uns täglich unsere Presse an religiösen Gedanken und Anregungen überreich lich bietet“.273 In der liberalen, reformorientierten Wochenzeitung Die Hilfe machte der Autor Hermann Weinheimer die Beobachtung, dass Zeitschriften und Bücher von zentraler Bedeutung für einen kirchendistanziert-bildungs frommen Gottesdienst waren: Er kenne „eine nicht unbeträchtliche Zahl von Gebildeten, die nicht zur Kirche gehen,“ aber religiösen Publikationen hohe Aufmerksamkeit schenkten. Weinheimer wies in seinem liberalprotestanti schen Kontext ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei dem begehrten Lese stoff nicht um kirchennahe Organe handelte, sondern um Veröffentlichungen aus der Feder von protestantischen Pfarrern, die sich besonders den religiösen Deutungskonflikten in der Moderne verschrieben hatten. Weinheimer erwähnte etwa Naumanns Briefe über Religion oder das von Friedrich Daab und Hans Wegener herausgegebene Jahrbuch Das Suchen der Zeit, dessen Titel bereits die offene Perspektive der hier praktizierten Gottsuche einfing.274 Ganz ähnlich be trachtete der in Kiel lehrende Professor für praktische Theologie, Otto Baum garten, das Spektrum der bürgerlichen Kulturzeitschriften als den geeigneten Ort, um mit einer modern-reflekierten Theologie in populären Aufsätzen auf die „suchenden Geistern der Gegenwart“ zuzugehen.275 Hinter dem Anwachsen des 270
M artin R ade: Moderne Religionsstifter, in: CW 15 (1901), 938–941, 938. Heinrich Meyer-Benfey: Moderne Religion, Leipzig 1902, 9. 272 Otto K iefer: Zur religiösen Bewegung der Gegenwart, in: Der Mensch 5 (1903), 89– 90, 89. Vgl. auch Kiefers Darstellung: Religiöse Bewegungen der Gegenwart, in: Ethische Kultur 11 (1903), 274–276. 273 Constantin von Zastrow: Die Theologie der Christlichen Welt in Laienbeurteilung, in: An die Freunde (Nr. 27 vom 8. Februar 1909), 257–270, 268. 274 H ermann Weinheimer: Religiöse Fragen der Gegenwart, in: Die Hilfe 16 (Nr. 52 vom 27. Dezember 1908), 849–850. Arthur Bonus beteiligte sich mit mehreren Beiträgen an dieser Zeitschrift. 275 Otto Baumgarten: Predigt-Probleme, Tübingen 1904, 113. Baumgarten erwähnte als geeignete Organe aus dem Spektrum der etablierten Kulturzeitschriften die Deutsche Rund271
III. Im „neuen Religionsbetrieb“
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religiösen Leseinteresses schien sich nicht eine bloße Modeentwicklung zu ver bergen, wie ein weiterer Berichterstatter meinte, sondern ein der Gegenwart zutiefst innewohnendes Bedürfnis. Die erfolgreichen „Romantheologien“, etwa Gustav Frenssens Hilligenlei, und das deutlich erweiterte Angebot an religiösen Publikationen offenbarten eine neu erwachende Nachfrage nach seelischer Füh rung und weltanschaulicher Bereicherung, das sich als Hinweis auf einen intel lektuellen Umbruch deuten lässt: „Andere Zeiten, andere Bücher.“276 Das erweiterte Interesse, das religiöse Themen für sich beanspruchen konn ten, spiegelt die Bedeutung wider, mit der theologische Auseinandersetzungen um die Jahrhundertwende wahrgenommen und medial in Szene gesetzt wur den.277 Bereits von den Zeitgenossen wurden etwa das Presseecho auf den Babel-Bibel-Streit, die Diskussionen um Adolf Harnacks Wesen des Christentums oder ein Jahrzehnt später der Streit um die Amtsenthebung der Pfarrer Carl Jatho und Gottfried Traub als paradigmatisch für eine neue Weise empfun den, religiöse Fragen vor dem Forum der Öffentlichkeit zu debattieren.278 Das war nicht nur Lust am Skandal. Ging es in diesen Debatten einerseits um die Klärung theologischer Grundsatzfragen in der Moderne, etwa um die Bedeu tung der exegetischen Forschung, um die bleibende Relevanz der Frömmig keitstraditionen oder um das Verhältnis von Lehrfreiheit, Kirchenzucht und staatlicher Autorität, so boten diese Konflikte andererseits den lesenden Konsu menten die Möglichkeit, sich selbst in den theologischen Modernisierungssch üben inhaltlich zu vergewissern. Nicht ohne Neid musste der Herausgeber der konservativen Kirchenzeitung Die Reformation anerkennen, dass moderne Theologen wie Adolf Harnack oder Heinrich Weinel durch ihre erfolgreiche Publikations- und Vortragstätigkeit im Bildungsbürgertum als „moderne Evan gelisten“ wirkten.279 Von liberaltheologischer Seite wurde die erweiterte Öffentlichkeit, die durch die publizistischen Religionsdebatten geschaffen wurde, begrüßt und mitbe stimmt. Das lag daran, dass die Aussichten, durch sachliche Auseinanderset zung, fachlichen Diskurs und moderne Frömmigkeitspflege christlichen Boden zurückzugewinnen, recht optimistisch eingeschätzt wurden: schau, die Deutsche Monatsschrift, Deutschland, die Wartburgstimmen und den Türmer. Als geeigneten Zugang zu den intellektuellen Strömungen der Moderne für Theologen empfahl er die Christliche Welt (ebd., 100). 276 R egine Deutsch: Hilligenlei, in: Deutsche Kultur 2 (1906), 541–545, 541; zum Begriff „Romantheologie“ vgl. die gleichnamige, anonyme Rezension eines Pfarrers im Volkserzie her 10, Nr. 4 (26. Februar 1906) Beiblatt Der Bücherfreund. 277 Dazu vgl. Graf: Alter Mensch und neuer Mensch. 278 So z. B. Otto K iefer: Zur religiösen Bewegung der Gegenwart, 89. 279 Ernst Bunke: Moderne Evangelisten, in: Die Reformation 2 (1903), 562–565.
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Es sind alles Versuche, in den gewaltigen Strom modernen Lebens christliche Gedanken hin einzumischen, der Entfremdung vom Christentum zu steuern und die Aktion der Kirche auch auf Kreise auszudehnen, die das im Gottesdienst gepredigte Wort kaum mehr erreicht oder doch nicht mehr befriedigt. Und ob nicht heute in der That die Wirksamkeit der kirchlichen Presse weiter reicht, als die der Predigt?280
Die literarische Vermittlung religiöser Themen schien aufgrund der individuel len Rezeptionsmöglichkeiten und der nicht an kirchliche Traditionsmuster gebundenen Sprache „der modernen Theologie in ihrer Aufklärungsarbeit im religiös-sittlichen Leben die besten Dienste“ zu leisten, wie ein Rezensent mein te.281 Zudem bestand die Erwartung, beispielsweise in Reihenwerken wie den Religionsgeschichtlichen Volksbüchern für die deutsche christliche Gegenwart neue Erkenntnisse der wissenschaftlichen Theologie zu popularisieren, um so einer liberaltheologischen Christentumsinterpretation größeres Gewicht in der Öffentlichkeit zu verleihen.282 Zahlreiche Theologen erblickten hier einen er heblichen Handlungsbedarf: Unser Volk dürstet nach euren Worten über die Religion und ihre Geschichte! Seid ja nicht zu ängstlich und glaubt ja nicht, das, was ihr erkannt habt, dem Laien verschweigen zu müssen! Wie wollt ihr Vertrauen haben, wenn ihr letzten Fragen ausweicht? Jetzt ist es noch Zeit. Bald ist es zu spät. Wenn ihr aber schweigt, dann reden die Schwätzer.283
Das Potential, durch eine angemessene Popularisierung wissenschaftlicher Er gebnisse die Gebildeten für das Christentum rückzugewinnen, und der Aufklä rungsbedarf wurden demnach als hoch eingeschätzt. Der in diversen Journalen publizierende Arthur Bonus wurde vor diesem Hintergrund von seinem gelehr ten Umfeld verschiedentlich als Ratgeber herangezogen, wie eine öffentlich keitstaugliche Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse verfahren sollte. Her mann Gunkel etwa ließ seinen Genesiskommentar 1901 von Bonus stilistisch durchsehen;284 Friedrich Michael Schiele versuchte als rühriger Organisator der Religionsgeschichtlichen Volksbücher und anderer liberaltheologischer Reihen, 280 Erich Foerster: Die kirchliche Presse – ein Kirchenregiment, in: CW 10 (1896), 1130– 1134, 1132. 281 H. Schnellbach: Die kirchlich-religiöse Frage in der Romanliteratur, in: Die Hilfe 13 (Nr. 47 vom 24. November 1907), 747. 282 Dazu vgl. Nittert Janssen: Theologie fürs Volk, Göttingen 1993. 283 H ermann Gunkel: Ein Notschrei aus Anlaß des Buches ‚Himmelsbild und Weltan schauung im Wandel der Zeiten‘, in: CW 14 (1900), 58–61, 60, noch einmal aufgegriffen von: H. Vollmer, Zu den ‚Laienforderungen‘, in: CW 14 (1900), 545–546. 284 Vgl. Brief Gunkel an Bonus, Lichterfelde 2.3.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 08_001]: „Mir liegt der Gedanke, daß unsere Kirche u. Wissenschaft so wenig für die Auf klärung der Gebildeten tut, beständig auf der Seele. Wir haben in der Theologie sicherlich Ergebnisse u. Bestrebungen, die unsere Gebildeten befreien u. ihrem Interesse, zunächst für die Geschichte der Religion Nahrung geben könnten. Aber es geschieht so wenig, sie diesen
III. Im „neuen Religionsbetrieb“
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ihn in die apologetisch-popularisierenden Bestrebungen der modernen Theolo gie einzubinden.285 Dass sich um 1900 generell ein Trend abzeichnete, weltanschauliche und re ligiöse Fragen als Konflikte auszutragen und mit einem hohen Bedürfnis nach Deutung und Positionierung zu verbinden, registrierte ein aufmerksamer pro testantischer Zeitschriftenherausgeber wie Martin Rade sehr deutlich: Neue Zeitschriften – Wochen-, Monats- und Vierteljahresschriften – schießen wie Pilze aus der Erde. Da im allgemeinen nicht gleichzeitig ein Bankrott der alten zu beobachten ist, be deutet diese Erscheinung ein auffälliges Wachstum ideal-geistiger Bestrebungen. Denn das bloß politische Interesse oder vollends die Neugier auf Tagesneuigkeiten wird durch die Ta geszeitungen befriedigt; den in größeren Zeiträumen erscheinenden Blättern eignet irgend wie eine Tendenz auf Sammlung, Vertiefung oder Verbreiterung der Interessen. Dem natur gemäß oberflächlicheren Zuge der Tagesschriftstellerei tritt eine Publizistik mit wachsendem Erfolg zur Seite, die ihr Publikum und seine Bedürfnisse nach irgendeiner Seite ernster nimmt.286
Die religiöse Pluralisierung im späten 19. Jahrhundert spiegelte sich in der Auf fächerung der Zeitschriftenlandschaft wider. Kirchenparteien schufen publizis tische Netzwerke, die vielfach durch Besprechungen, Wiederabdrucke und An zeigen auf nichtkirchliche Parallelorgane Bezug nahmen, dabei lebensweltliche Abgrenzungen und Vergesellschaftungsprozesse reflektierten und verstärk ten.287 Martin Rade konnte so in der Rückschau auf das fünfjährige Bestehen der Christlichen Welt beklagen, dass sich ein richtungsübergreifender Aus tausch unter den kirchlichen Parteien über einen Zeitschriftendiskurs deutlich erschwert hatte. Die kirchlichen Parteizeitschriften waren für ihn der entschei dende Faktor, der die Auffächerung der religiösen Teilmilieus beschleunigte: […] es scheint offenbar leichter oder wichtiger, in den Spalten der Parteikirchenzeitung oder auf Parteikonferenzen dem eigenen Standpunkt immer wieder einen ausschließenden Aus tausch zu geben, als ihn hier vor der Gemeinde an dem Einen Ziele zu erproben, wer am besten imstande sei, die Suchenden unter den Gebildeten dem Evangelium näher zu bringen. […] Die Parteikirchenzeitungen leben von einander und für einander, der ewige Zwist […] ist ihnen Lebenselement.288 Kreisen auch zugänglich zu machen.“ Zur Bitte um eine Durchsicht für „weitere Kreise“ s. Brief Gunkel an Bonus, Friedenau 17.10.1901 und Bonus’ Antwortkonzept, 20.11.1901 [ebd.]. 285 Schiele bat Bonus um kritische Stellungnahmen zur zeitgenössischen religiösen De batte sowohl in den Religionsgeschichtlichen Volksbüchern als auch in der Tagespresse (Brief Schiele an Bonus, 22. April 1904 sowie die Kontaktaufnahme durch den Verlag der Volksbücher Gebauer-Schwetschke nach Vermittlung durch Schiele, Halle März 1904 [bei des LKA Eisenach, NL Bonus, 08_002]. Eine Publikation entstand nicht. 286 M artin R ade: Neue Zeitschriften, in: CW 15 (1901), 585–588, 585. 287 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Art. Zeitschriften. III. Christentum. 1. Kirchliche Zeit schriften, in: RGG4 8 (2005), 1824–1825. 288 M artin R ade: Nach fünf Jahren, in: CW 6 (1892), 2–6, 3.
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Erstes Kapitel: Einleitung
Die hier zusammengestellten exemplarischen Beobachtungen verweisen dar auf, dass den um die Jahrhundertwende mit hoher Bandbreite publizierten Zeit schriften für die Frage nach dem Ort und der Vermittlung von Religion in der Moderne eine wesentliche Bedeutung zukommt. Zeitschriften und Druckpubli kationen erfüllten eine wichtige Funktion in der Organisation und Ausgestal tung religiösen Lebens. Jüngere Forschungen zur religiösen Kommunikation haben den engen Zusammenhang „der ‚religiösen Evolution‘ mit der Evolution der Verbreitungsmedien“ betont.289 Die Auffächerung der religiösen Milieus ging mit einer entsprechenden Vermehrung der Druckerzeugnisse einher, die jeweils einschlägig Grundhaltungen, ästhetische Werte und Einstellungen re präsentierten und vertieften. Insbesondere den Zeitschriften kam in diesem Kontext eine wesentliche Funktion als Publikationsort theologischer Meinun gen und des fachlichen Informationsaustausches zu. Sie sollten der Vereinze lung entgegenwirken und überregionale, auf geteilte Interessen gerichtete Ver gesellschaftung ermöglichen. Sie dienten der Vernetzung, rückten dabei selbst zum Medium der Frömmigkeit und der religiösen Auseinandersetzung auf und schufen ein kommunikatives Netzwerk für Gleichgesinnte. Zugleich dienten sie auch der Verfestigung von Gruppeninteressen, indem sie Vereinen als Plattform oder als Bestätigungs- und Artikulationsorgan für gemeinsame Interessenlagen dienten, sie halfen, die vielbeklagte Vereinzelung zu überwinden. Die klassi sche Definition kirchlicher Zeitschriften von Gerhard Stoll ist auf die religiöse Zeitschrift insgesamt übertragbar, insofern diese als „Organe gesellschaftlichen Zusammenlebens […] der Kommunikation bestimmter, begrenzter, interessen verbundener Kreise dienen.“290 Sie schufen einen erweiterten, literarischen Raum zur religiösen Reflektion und Betätigung, in dem sie Meinungen und In teressen verbanden und einen Referenzrahmen zur Plausibilisierung von Über zeugungen und Weltansichten anboten, in dem Werte verhandelt sowie Identi tätsbilder konstruiert und dargestellt werden konnten. Für das reformreligiöse Spektrum hat Rita Panesar diese Funktion von Zeitschriften „als Medium, Trä ger, Stifter und Prediger von Religion und Religiosität“ betont.291
289 H artmann Tyrell/Volkhard K rech /Hubert K noblauch: Religiöse Kommunikation. Einleitende Bemerkungen zu einem religionssoziologischen Forschungsprogramm, in: dies. (Hg.): Religion als Kommunikation, Würzburg 1998, 7–29, 26 f.; Hartmann Tyrell: Religiöse Kommunikation: Auge, Ohr, Medienvielfalt, in: ders.: Soziale und gesellschaftliche Diffe renzierung, Wiesbaden 2008, 251–314, 260 290 Gerhard E. Stoll: Die evangelische Zeitschriftenpresse im Jahre 1933, Witten 1963, 28. 291 R ita Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung, Stuttgart 2006, 26. Inwieweit die Zeit schriften selbst „als Form von Religion“ religiöse Qualität erhalten, wäre durch intensive, extrem aufwendige Leserforschung zu klären gewesen.
III. Im „neuen Religionsbetrieb“
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Besonders am Rand des protestantisch-bürgerlichen Milieus erfüllten Zeit schriften wie die Christliche Freiheit Gottfried Traubs eine wichtige Rolle in der Artikulation und Vergesellschaftung religiöser Bedürfnisse. Aufgrund ihres Anspruchs stellten diese Zeitschriften keine Massenliteratur dar, nur selten überstiegen ihre Auflagen 10000 Stück. Kürschners Handbuch der deutschen Presse gab 1902 für einige Zeitschriften Auflagenzahlen an. Die kulturprotes tantischen Blätter Die Christliche Welt (5100 Exemplare) und Die Hilfe (10500 Exemplare) lagen dabei im oberen Feld.292 In ihnen kam kirchlicher Protest zum Ausdruck wie auch die Vergewisserung, mit seinen religiösen Vorstellungen nicht allein zu stehen. Auffällig tritt die Vermittlerfunktion für religiöse Frage stellungen im Kunstwart zutage, einem wirkungsvollen, bildungsbürgerlichen Organ zur literarischen, künstlerischen und ästhetischen Situation der Moder ne. Häufig wurden hier religiöse Themen behandelt. Seit der Jahrhundertwende wurden diese Beiträge durch Buchberichte zur religiösen Entwürfen der Gegen wart ergänzt. Hier wurden solche Neuerscheinungen aus allen religionsspezifi schen Problemgebieten vorgestellt, die dem Herausgeber als charakteristisch für die zeitgenössische Lage und als „wertvoll“ im Sinne einer religiösen Weiterent wicklung galten. Die Buchberichte hatten damit eine kulturpolitische Wirkung in der bildungsbürgerlichen Leserschaft des Kunstwarts und trugen zur Förde rung, Bewertung und Abgrenzung religiöser Strömungen bei.293 Die wissensorganisatorische Scharnierfunktion von Zeitschriftenredakteu ren und Verlegern als „Kulturunternehmern“ ist neben dem Kunstwart beson ders am Beispiel von Eugen Diederichs beobachtet worden.294 Diese Verleger 292 Als Vergleichszahlen seien genannt: Die Grenzboten (2000 Ex.); Preußische Jahr bücher (2000 Ex.); Sozialistische Monatshefte (5000 Ex.); Die Gegenwart (5000 Ex.); Die Zukunft (10000 Ex.). 293 Vgl. Gerhard K ratzsch: Kunstwart; Rüdiger vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund; Monika Dimpfl: Die Zeitschriften Der Kunstwart, Freie Bühne/Neue Deutsche Rundschau und Blätter für die Kunst: Organisation literarischer Öffentlichkeit um 1900, in: dies. (Hg.): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Tübingen 1990, 117– 198 sowie die ältere Arbeit von Herbert Broermann: Der Kunstwart in seiner Eigenart, Ent wicklung und Bedeutung, München 1934. 294 Diese Perspektive ließe sich auch auf die Gebrüder Langewiesche oder für den liberal protestantischen Bereich auf die Verlage Schwetschke in Halle oder Eugen Salzer in Heil bronn ausdehnen. Die Funktion des Verlegers als „cultural entrepreneur“ und Erzeuger ei ner deutschen „middlebrow culture“ vor der Jahrhundertwende betont besonders K atrin Voelkner: Books for a Better Life, Ann Arbor 2002; vgl. unter der Perspektive der ideolo gisch aufgeladenen Verlagsprogramme Gary D. Stark: Entrepreneurs of Ideology, Chapel Hill 1981. Zu dem 1733 gegründeten Traditionsunternehmen Schwetschke, dass von den frü hen Veröffentlichungen der Lichtfreunde über den aufblühenden religionskritischen Libera lismus im Kaiserreich bis zur religionsgeschichtlichen Schule ein religiöses Trendprogramm publizierte, liegt nur eine ältere Selbstdarstellung vor: Erich Neuss: Gebauer-Schwetschke,
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traten als „Propheten und Erzieher“ auf, die sich für die religiösen und kultu rellen Reformbewegungen einsetzen und diese mitprägten.295 Vergleichbar mit Eugen Diederichs, der sein nationalreformerisches Verlagsprogramm gezielt unter Einbeziehung der „religiösen Kultur“ der Gegenwart gestaltete, sah sich beispielsweise der Düsseldorfer Verleger Wilhelm Langewiesche der „leise aufsteigenden deutschen Kultur“ verpflichtet, die von seiner verlegerischen Tä tigkeit ein klares Konzept zu den „Lebensmächten“ Religion, Politik, Kultur forderte.296 Dieses Spektrum ließe sich noch erheblich verbreitern: Kaum zu überschätzen ist die Bedeutung beispielsweise der ab 1898 von Johannes Müller- Elmau zunächst gemeinsam mit Heinrich Lhotzky herausgegebenen Blätter zur Pflege persönlichen Lebens, die mit ihren oft erzählerisch umkleideten, ethi schen Ratschlägen ganz auf die individuelle Christentumsinterpretation ihres Schriftleiters zugeschnitten waren und sukzessive einen überregionalen Leser kreis um sich sammelten. Um diese Zeitschriften gruppierten sich lockere, freie Leserschaften, die in jeweils unterschiedlichem Grade nach Vernetzung streb ten. Martin Rade sprach hier ironisch von „Buch- und Konventikelreligionen“, womit er sich auf das Bedürfnis nach weltanschaulicher Zusammengehörigkeit bezog.297 Aus religionssoziologischer Sicht wird man allerdings den von ihm begründeten ‚Freunden der Christlichen Welt‘, Traubs ‚Freunden der Christ lichen Freiheit‘, den lokalen Gemeinden des ‚Protestantenvereins‘ oder auch Ferdinand Avenarius’ ‚Dürerbund‘ eine vergleichbare Funktion beimessen, ei ner kulturellen Gesinnung einen sozialen Ort zu geben und ihr damit Gewicht zu verleihen.
Halle 1933. Zu Karl Robert Langewiesche, dem Verleger der kulturreformerischen „Blauen Bücher“ vgl. K atrin Völkner: Kultur-Konsum und Konsum-Kultur, in: Andy H ahnemann/ David Oels (Hg.): Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Berlin 2008, 137–147; Gabriele K lempert: „Die Welt des Schönen“. Eine hundertjährige Verlagsgeschichte in Deutschland, Königstein 2002; zu dem Verlagshaus Eugen Salzer, das sich ein neuprotestan tisches Programm auf die Fahnen geschrieben hatte, existiert nur eine Selbstdarstellung: Uwe Jacobi: 100 Jahre Salzer: Geschichte eines Verlages, Heilbronn 1991. 295 Dazu vor allem die zahlreichen, quellenreichen Studien von Justus H. Ulbricht: ‚Ein heimlicher Bund für das große Morgen…‘ Methoden systematischer Weltanschauungs produktion während der Weimarer Republik, in: Buchhandelsgeschichte 20 (1993) Heft 1, B1-B17; ders.: ‚Lebensbücher, nicht Lesebücher!‘ Buchhandelsgeschichtliche Ansichten der bildungsbürgerlichen Reformbewegungen um 1900, in: M ark Lehmstedt/Andreas Herzog (Hg.): Das bewegte Buch, Wiesbaden 1999, 135–151. 296 Wilhelm Langewiesche: Ein deutscher Verlag, in: Volkserzieher 17 (1913), 56; vgl. Karin Voelkner: Books for a Better Life, Ann Arbor 2002, 211–279; Georg Jäger (Hg.): Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt 2001. 297 M artin R ade: Moderne Religionsstifter, 941.
III. Im „neuen Religionsbetrieb“
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Die Vernetzung der bildungsbürgerlichen Blätter unter der Zielsetzung einer nationalkulturellen Reform lässt sich eindrücklich an der gegenseitigen Beob achtung und Empfehlung von Christlicher Welt und Kunstwart belegen. Dem Kunstwart wurde zugesprochen, „verwandte Ziele“ zu verfolgen, zu denen „Fühlung“ herzustellen sei, nämlich im Anliegen, „Entwicklung“ und „Fort schritt“ auf dem Feld von Kunst und Kultur zu unterstützen, wo sich die Christliche Welt dem religiösen Ausbau zugewandt hatte; beide scheuten sich nicht, sich als „modern zu bezeichnen“.298 Umgekehrt wies Ferdinand Avenarius, der Herausgeber des Kunstwarts, auf die Gesinnungsnähe zu den kulturprotestanti schen Führungsblättern hin: Geistesverwandte unter den deutschen Zeitschriften hätten wir früher nur in weit kleinerer Zahl bezeichnen können, als jetzt, denn seit einigen Jahren hat der neue zugleich soziale und nationale Geist auch auf diesem Gebiete recht mannigfach befruchtet. Hier haben wirklich die Theologen geführt. Pfarrer Naumanns ‚Hilfe‘ und Martin Rades ‚Christliche Welt‘ sind Zeitschriften geworden, die zu unseren allerbesten gehören; sie verdienen auch in den Krei sen der nicht kirchlich Gesinnten eine immer noch viel regere Beachtung, sie wirken gerade zu segensreich.299
Für Avenarius äußerte sich in diesen Zeitschriften zwischen sozialer Verant wortung und nationaler Geltung ein wachsender Gestaltungsanspruch, der mit ähnlichen Zielen aufwarten konnte, so dass sich von einer ‚Geistesverwandt schaft‘ sprechen ließ. In paralleler Weise nahm die Christliche Welt auf den Kunstwart Bezug und ordnete noch weitere Blätter wie die Neue Rundschau und die Hilfe einer gemeinsamen Gesinnung zu: Als „gute Gesellen“ dienten diese Zeitschriften der „Förderung des Deutsch-Nationalen ohne konservativpatriotischen Beigeschmack“.300 Ausdrücklich wurden hier auch die Namen der Autoren genannt, die als Ga ranten eines „vaterländischen und religiösen Sinnes“ für eine Gesinnungsver wandtschaft im protestantischen Bildungsbürgertum standen: Adolf Bartels, Rudolf Eucken, Paul Natorp, Friedrich Naumann, Wilhelm Rein, Peter Roseg ger, Heinrich Sohnrey, Wilhelm Steinhausen, Hans Thoma, Marianne Weber, Emil Fuchs, Friedrich Niebergall, Leonhard Ragaz, Ernst Troeltsch und schließ lich Arthur Bonus.301 Mit einer ähnlichen Zusammenstellung wandte sich Fried rich Naumann 1901 an Bonus, um ihn für den Herausgeberkreis des national 298
Verwandte Ziele, in: CW (1899), 898. Ferdinand Avenarius: Vermischtes: Geistverwandte, in: Kunstwart 13/1 (1900), 366. Avenarius nennt neben der Christlichen Welt Naumanns Hilfe, den von Frhr. Grotthuß her ausgegebenen Türmer, sowie als richtungsweisende Fachzeitschrift Boussets Theologische Rundschau. 300 F. Willmann: Boykott gegen den Kunstwart?, in: CW 27 (1913), 1068–1072, 1069 f. 301 Emil Fuchs: Die Not unserer Volks- und Jugendbüchereien, in: CW 27 (1913), 1050. 299
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Erstes Kapitel: Einleitung
sozialen Jahrbuchs Patria zu gewinnen: „Sie, [Adolf] Damaschke, [Hellmut von] Gerlach, [Paul] Schubring, [Martin] Wenck, [Erich] Schlaikjer, [Max] Mauren brecher, ich“ sollten einen „Schreibring“ bilden, um durch die gemeinsame lite rarisch-journalistische Arbeit eine politische, religiöse und ästhetische Wende vorzubereiten, in der Bonus die Rolle eines Literaturfachmannes zugesprochen wurde.302 „Interferenzen“ sind hier bereits auf publizistischer Ebene als Ver netzung verschiedener Zeitschriften und ihrer Autoren sichtbar.
302
Brief Naumann an Bonus, 15.8.1900 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_008].
Zweites Kapitel
„Germanisierung des Christentums“. Religiöse Reform zwischen modernem Protestantismus und Kunstwart-Geist In den folgenden Abschnitten soll Bonus’ Entwicklung vom Kreis um Martin Rade und seine Zeitschrift Die Christliche Welt hin zur Lebensreformbewegung und den „Nationaloppositionellen“ im Kunstwart und im Verlag Eugen Diede richs verfolgt werden. Dabei soll die Verflechtung von religiösen, sozialen und kulturreformerischen Ideen im Fokus stehen und nach den grundlegenden Prä gungen gefragt werden, die Bonus’ Kurs in der Lebensphase bestimmten, in der die Formulierung der „Germanisierung des Christentums“ entstand.
I. „Unverstandenes Sehnen des Herzens, wie bist du stark!“ Prägungen in der Studienzeit Bonus bezeichnete sich als einen „Entdeckungsfahrer im Reich der Lebens motive“.1 Eine weitere Selbstbezeichnung, mit der er sich als Vertreter einer freien, unkonfessionellen Religiosität zu erkennen geben wollte, lautete „Gott sucher“.2 Die Entwicklung auf eine religiöse Wende hin – zeitlich kurz nach der Jahrhundertwende eingeordnet – stellte er als den Fluchtpunkt seiner biogra phischen Entwicklung dar. In einem Lebenslauf, den Bonus 1926 für die im 1 So in einem handschriftlichen Lebenslauf von 1924, der Studienerinnerungen enthält und bis zu seiner Tätigkeit im Pfarramt in Groß Muckrow um die Jahrhundertwende zurück reicht [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_001]. 2 Publizistisch verwendete Bonus diesen Begriff in seinem Band Gottsucher. Hymnen und Gesichte, Heilbronn 1898; als briefliche Selbstumschreibung seiner religiösen Lage fiel er etwa zeitgleich auch im Briefwechsel (Briefkonzept Bonus an einen Professor, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]). Dass der Begriff des „Gottsuchers“ durchaus die reli giösen Bedürfnisse der Generation um die Jahrhundertwende auffing, belegt der Briefwech sel zwischen Bonus und der Frankfurter Schülerin Clem Cramer, die als Reaktion auf den Gottsucher ihr Bedürfnis nach religiöser Befreiung und einem Berührtsein von Gott zum Ausdruck brachte, das sie im kirchlichen Umfeld nicht erreichen konnte (Brief Cramer an Bonus, 23.4.1898 [ebd., 13_008]).
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
Diederichs-Verlag erscheinende nationalreformerische Zeitschrift Die Tat ver fasste, gab Bonus seine Biographie als vom Ringen um diese religiöse Wende bestimmt wieder. Im Rückblick schien alles auf die Entscheidung zuzulaufen, seine „theologische Vergangenheit zugunsten reinerer Religion auf Eis zu le gen“,3 oder wie er es 1908 formulierte, „untheologisch“ zu werden, um sich die religiöse „Echtheit“ bewahren zu können.4 Im kirchlichen Protestantismus schien das nicht möglich zu sein. Arthur Bonus verfasste eine Vielzahl autobiographischer Dokumente, die von Tagebüchern über Lebensläufe bis zu religiösen Selbstrechtfertigungen rei chen, in denen er sich und seinen Lesern Aufschluss über seine religiöse Ent wicklung gab.5 Die meisten dieser Texte waren nicht zur Veröffentlichung be stimmt. Allerdings sah Bonus sich mehrfach aufgefordert, für Lexikoneinträge und Jubiläumsartikel auch öffentlich über seinen Lebenslauf zu berichten.6 In diesen Texten kam eine deutliche Abgrenzung gegenüber der akademischen Theologie zum Ausdruck, die seiner Ansicht nach zu oberflächlich, rationalis tisch und lehrhaft ausgerichtet war, um dem wirklich Religiösen als Fundament zu dienen. Autobiographische Texte stellen immer einen „Akt der Ich-Synthese“ dar, die der subjektiven Einordnung des Erlebten dient.7 Zudem entstehen autobiogra phische Selbstdeutungen immer im Kontext mit der historischen Darstellung und der eigenen, gruppenspezifischen Erfahrung einer Zeit, die in der Autobio graphie gedeutet werden. In diesem Spannungsfeld erweisen sich autobiogra phische Texte als aufschlussreich, in dem sie „Spiegel und Reproduktionsort“ politisch-kultureller Denkmuster und religiöser Wahrnehmungen sind. Bonus’ autobiographische Skizzen lassen sich daher nicht nur im Blick auf individuelle Lebensstationen auswerten, sondern sich auch auf die in ihnen enthaltenen Ge 3 Bonus: Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur, in: Die Tat 18/2 (1926/27), 921–930, 924 f.; erneut abgedruckt in der völkisch-religiösen Zeitschrift Rig 6 (1931), 74–83 (dort 77). 4 Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. 5 Mehrere dieser Dokumente sind in seinem Nachlass gesammelt: Hier finden sich länge re handschriftliche Lebensläufe, oft in unterschiedlichen Versionen sowie Kindheits- und Studienerinnerungen [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_001]. Eine knappe biographische Über sicht entstand 1924 im Rahmen seiner Anstellung an der Erziehungsschule Schloss Bischof stein bei Lengenfeld unterm Stein, Eichsfeld [ebd., 38_003]. 6 Ein Beispiel für eine solche biographische Selbsteinschätzung ist ein Brief an Heinrich Meyer-Benfey, in dem Bonus wesentliche Lebensstationen als Grundlage für einen RGG-Ein trag zusammenstellte (Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [ebd., 13_008]). 7 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: GuG 29 (2003), 441–476, 456; M arcus Funck /Stephan M alinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quellen einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kai serreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), 236–269, 241.
I. „Unverstandenes Sehnen des Herzens, wie bist du stark!“
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nerationserfahrungen befragen. Friedrich Wilhelm Graf zufolge verband viele neureligiöse Autoren eine gemeinsame Herkunft und Sozialisationserfahrung.8 Die Religionsintellektuellen im Kaiserreich entstammten häufig den alten kirchlichen Institutionen, die sie frustriert verließen, weil sie die inneren Span nungen und Konflikte zwischen ihren religiösen Glaubensüberzeugungen und dem kirchlichen Alltag nicht mehr zu ertragen vermochten. Sie hatten sich aus sozialreformerischen und tiefreligiösen Motiven für ein Theologiestudium ent schieden, fühlten sich im Pfarrberuf dann aber als Vertreter eines „religiösen Beamtentums“ dazu gezwungen, die Religion eher zu verwalten als lebendigen, persönlichkeitsstärkenden und kulturkräftigen Glauben zu schaffen.9 Für die bürgerliche Religiosität an der Wende ins 20. Jahrhundert haben bio graphische und frömmigkeitsgeschichtliche Studien in ähnlicher Weise die Spannung im Streben nach persönlicher Wahrhaftigkeit und der Enttäuschung über die kirchlichen Institutionen als generationsspezifische Erfahrungen her vorgehoben. Die hohen Erwartungen an eine intensive, subjektive Frömmigkeit wurden in der Kirche nicht erfüllt.10 In Bonus’ Selbstdarstellungen lässt sich dieses religiöse Ringen mit einem als formalisiert erfahrenen Kirchentum als für die wilhelminischen „Übergangsmenschen“ signifikante und mit seinen Al tersgenossen geteilte religiöse Erfahrung wiederfinden.11 Wenn im Folgenden Bonus’ Selbstbeschreibungen kritisch befragt werden, geht es also nicht darum, sie als Konstruktion zu entlarven, sondern darum, sie in ihren generationstypi schen Rahmen einzubetten. Bereits die Darstellungen von Bonus’ früher Kindheit lebten von Kontrasten. Die Religion war in der Rückschau für das Kind Arthur Bonus ein „Gebiet der großen Entdeckungen statt des absolut Feststehenden“ gewesen.12 Geboren wurde er am 21. Januar 1864 auf dem Rittergut Neu-Prussy im Landkreis Ko nitz in der Provinz Westpreußen, das sein Vater seit den 50er Jahren als Verwal ter führte. Mit sechs Geschwistern wuchs Bonus in einer ländlichen Umgebung auf, die stark vom Katholizismus der polnischen Bevölkerungsmehrheit im öst lichen Preußen bestimmt war.13 Nach Bonus’ Erinnerungen war die Kindheit im 8
Friedrich Wilhelm Graf: Wiederkehr der Götter, München 2004, 146. Bonus: Religiöses Beamtentum, in: Kunstwart 26/1 (1912/13), 342–343. 10 Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, Mün chen 2005, 297; vgl. zur Religion im Bürgertum überblicksartig auch nach wie vor Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. 11 M artin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim 1986. 12 Vgl. die späte, stark romantisierende Selbstdarstellung: Kindheitserinnerungen aus Westpreußen, in: Ostdeutsche Monatshefte 7 (1926), 167–175. 13 Vgl. die statistischen Angaben zur Bevölkerungsverteilung bei Leszek Belzyt: Sprach liche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914, Marburg 1998, 107. 9
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
dörflichen Zusammenhang prägend für seine religiösen Ansichten. Erwähnung fanden die Rituale und Traditionen des polnischen Katholizismus, mit denen Bonus unter der Landbevölkerung in Berührung kam, die Spukgeschichten und Geistersagen, die unter den Dorfkindern ausgetauscht wurden, sowie die ur wüchsige, waldreiche Landschaft, die den Kindern Raum zu Entdeckungen und freien, phantasievollen Spielen ließ. Die Familie Bonus lebte eine intensive Frömmigkeit, zu der regelmäßige Morgenandachten mit Bibellektüre, aber auch Märchen und Erzählungen gehörten wie ein regelmäßiger Kirchgang.14 Das Zu sammenspiel von religiösen Geschichten, lebendiger Frömmigkeit und einem ungebrochenen Naturerleben hinterließ bei dem Kind einen bleibenden Ein druck. Eine zweite Kontrastlinie erlangte in Bonus’ Selbstberichten Bedeutung, nämlich der wirtschaftlich erzwungene Wechsel in die Großstadt Berlin. Der Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 bedeutete für die Familie einen tiefen Einschnitt. Das Gut war mit Hypotheken überlastet, die mit dem Kriegs beginn gekündigt wurden und zum Verkauf des Landwirtschaftsbetriebes zwangen. Völlig mittellos zog die Familie mit dem arbeitslosen Vater nach Ber lin, wo man zunächst mit sehr eingeengten Verhältnissen zu Recht kommen musste. Der Weg aus der konservativ-agrarischen preußischen Provinz in die quirlige und rasant wachsende Hauptstadt bedeutete für die Familie eine erheb liche Herausforderung. Der Kontrast zwischen der großstädtischen Umwelt Berlins und der ländlichen Umgebung, in der er aufgewachsen war, beschäftigte Bonus als Erwachsenen weiter. „Ich kam als siebenjähriges Kind nach Berlin, fühlte mich nicht wohl und lernte die Stadt hassen“, lautete 1908 sein Resü mee.15 Die „Fabrikstadt“ blieb als einschränkender Lebensraum, als Bedrohung freier kultureller Entfaltung und als Ursprung aller sozialer Laster und Übel an verschiedenen Stellen seines Werkes präsent.16 In Berlin durchlief Bonus seine Schulzeit, die er mit dem Abitur am könig lichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Friedrichstadt abschloss. Bonus’ Ich-Berichte betonten den „Gegensatz“ zum humanistisch-gymnasialen Schul betrieb.17 Nicht zuletzt als Reaktion darauf spielte sich die Entdeckung der ger manischen Frühzeit bereits während der Schülerzeit ab, in der er „fünf Ferien wochen lang“ Heliand gelesen hatte.18 Die Begeisterung für das Germanentum lässt sich beim Gymnasiasten Bonus nachweisen, der mit Mitschülern einen 14
Bonus: Märchen in der Kirche, in: CW 10 (1896), 819–824, 822 f. Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_008]. 16 Bonus: Deutscher Glaube. Träumereien aus der Einsamkeit, Heilbronn 1897, 138. 17 Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_008]. 18 Bonus: Heliand, in: CW 9 (1895), 329–331.344–346, 330; vgl. Brief Bonus an Meyer- Benfey, 30.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_008]. 15
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Leseverein ‚Asgard‘ gründete.19 Sicherlich fand in der biographischen Darstel lung eine Verklärung der religiösen Kindheitserinnerungen statt, die als Hin weis auf die scheinbar instinktive Berührung des jungen Bonus mit einer viel lebendigeren religiösen Atmosphäre gelesen werden sollten, als er in der Gegen wart vorfand. Erwähnenswert sind die kirchlichen Eindrücke, die er in Berlin sammeln konnte, die sich vom üblichen Betrieb einer protestantischen Gemeinde in der preußischen Hauptstadt absetzten. Die Bonus-Kinder besuchten die Sonntags schule in der Berliner Christuskirche, die an die Londoner Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden angebunden war. Diese Gemeinde grenzte sich – etwa in der Liturgie – von der Landeskirche ab, pflegte eine inten sive Frömmigkeit, und unterstand als Missionskirche nicht dem Berlin-Branden burgischen Konsistorium. Hier predigte der Theologe und Schriftsteller Paulus Cassel, der sich in den 1880er Jahren durch die Abwehr des Treitschke’schen Antisemitismus verdient machte.20 An der Sonntagsschule der Berliner Chris tuskirche nahm auch der junge Adolf Damaschke teil, der nach 1896 ähnlich wie Bonus den Weg über die soziale Frage in Naumanns Nationalsozialen Ver ein finden und als Bodenreformer dem Berliner literarischen und politischen Alternativmilieu angehören sollte.21 Auch für Damaschke war die Großstadt im Rückblick gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Ausbeutung, sie stand für 19
Im Nachlass befindet sich sich eine Kladde mit der Aufschrift „Asgard. Tagebuch des Vereins“, die allerdings mit Briefen aus den 1880er Jahren gefüllt ist [LKA Eisenach, NL Bonus, 04_074]. Die Ehefrau Beate Bonus berichtete in einem um 1940 entstandenen Kurz lebenslauf aus Bonus’ Erinnerungen, dass der gemeinsam mit zwei Schulfreunden errichtete Verein unter dem Ziel stand, „die Erforschung deutscher Vergangenheit und besonders Ur vergangenheit“ zu ermöglichen (Typoskript Beate Bonus, „Zu Leben und Werk von Arthur Bonus“ [ebd., 01_002]). 20 A dolf Damaschke: Aus meinem Leben, Leipzig 1924, 71; vgl. Paulus Cassel: Wider Heinrich von Treitschke – für die Juden, Berlin 1880; ders.: Die Antisemiten und die evange lische Kirche, Berlin 1881; knapp zu Cassels Eingreifen in die Auseinandersetzung, das ge zielt auf die religiöse Bedeutung des Judentums als christliche „Mutterreligion“ einging: Uffa Jensen: Gebildete Doppelgänger, Göttingen 2005, 246. En passant s. auch zu Cassel und der Christuskirche Theodor Fontane: Effi Briest, 32. Kapitel. 21 Damaschke war ab 1896 als Schriftleiter für die Kieler Neuesten Nachrichten tätig, die er vom Volkserzieher-Redakteur Wilhelm Schwaner übernommen hatte. Vorher leitete er zu sätzlich zu einer Lehrerstelle das bodenreformerische Organ Frei-Land (A dolf Damaschke: Aus meinem Leben, Leipzig 1924, 283–287; 353; T. Heuss, Art. Damaschke, Adolf, in: NDB 3 (1957), 497–498). Neben dem Vorsitzenden Arthur Titius war Damaschke Mitbegründer der nationalsozialen Parteigruppe in Schleswig-Holstein, vgl. Rubrik: Aus der Bewegung, in: Volksstimme 1 (1896), 239; 246. Zu Damaschkes Vorstellungen einer Bodenreform im Rah men des nationalsozialen Programms: Was ist National-Sozial?, Berlin-Schöneberg 1903 (11898), 13; vgl. Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein, München 1972, 170–174; zu Damaschke im „Naumann-Kreis“ vgl. Theodor Heuss: Erinnerungen, Tübingen 1963, 33 ff.
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Mietskasernenelend und bewirkte, als Kehrseite, die Idealisierung eines selb ständigen Handwerkerstandes.22 Es lässt sich kaum abschätzen, wie weit diese Entwurzelungserfahrungen in die später geäußerte Kulturkritik einflossen; gleichwohl fällt der in beiden Fällen erhöhte Druck durch soziale, räumliche und religiöse Mobilisierung auf.23 Für Bonus jedenfalls ergab sich in der Rückschau aus seiner Schul- und Jugendzeit bruchlos die Entscheidung zum Theologiestudium: Zum Sommer semester 1885 schrieb er sich an der Berliner Universität ein. Die Theologische Fakultät in der preußisch-deutschen Metropole besaß einen ausstrahlenden Ruf als moderner Wissenschaftsort. Von den Berliner Theologieprofessoren nannte Bonus in seinen Erinnerungen Bernhard Weiss, bei dem er Neues Testament hörte, den Systematiker Julius Kaftan sowie Adolf Harnack. Zu Weiss entwi ckelte sich eine persönlichere Beziehung, weil Bonus die knappen finanziellen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, bis zum Wintersemester 1887/88 durch einen Mittagstisch im Professorenhaushalt von Weiss sowie zeitweilig über kostenfreies Logis im Predigerkonvikt entlasten konnte.24 Für drei Semester nahm Bonus an der wissenschaftlichen Sozietät Kaftans teil, der Bonus’ litera risch-theologischen Werdegang bis zu seinem Abschied aus der Theologie kri tisch begleiten sollte. Eine besondere Rolle nahm jedoch Adolf Harnack ein, der zu seinem wissenschaftlichen Lehrer wurde. Der öffentliche Skandal, den die Durchsetzung der Berufung Harnacks 1888 auslöste und in dem nicht zuletzt die wissenschaftstheoretische Fundierung der Theologie als freier Forschung oder als gebundener Schrift- und Lehrauslegung zur Debatte stand, ließ ihn als Führungsfigur eines erneuerten Protestantismus erscheinen. Bis über das Ende des Kaiserreiches hinaus standen beide in einem respektvollen Briefwechsel. Vor dem Hintergrund der öffentlich ausgetragenen kirchenpolitischen und theologischen Grundsatzkonflikte an der Berliner Fakultät blieben Bonus’ Be 22 Vgl.
A dolf Damaschke: Aus meinem Leben, Leipzig 1924, 14.31–34. Vgl. zur Herlei tung des später vertretenen Ideals einer Bodenreform aus Damaschkes Großstadterfahrun gen K evin R epp: Reformers, critics, and the paths of German modernity, Cambridge 2000, 69 f.; zur Bedeutung von Antiurbanismus und der Gegenübersetzung von freiem Handwerk und unproduktiver Spekulation für den Antisemitismus vgl. Shulamit Volkov: The rise of popular antimodernism in Germany, Princeton 1978, 135–142. 23 Sowohl Bonus als auch Damaschke schweigen sich über ihre Verbindung aus. Bonus Schwester Hedwig blieb Damaschke als Haushälterin lebenslang verbunden; Bonus spätere Ehefrau Beate Jeep zeichnete eine Vignette für Damaschkes Zeitschrift Deutsche Volks stimme, die Bonus wiederum eigenständig als Sinnspruch vertrieb, dazu s. u.; vgl. A dolf Damaschke: Zeitenwende, Leipzig 1925, 183. 24 Bernhard Weiss: Aus neunzig Lebensjahren, Leipzig 1927, 192. Mehrfach finden sich im Briefwechsel mit Martin Rade Hinweise aus den 1890er Jahren, dass Bonus über sein Elternhaus und durch sein Studium mit nicht geringen Schulden belastet war.
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richte über das Theologiestudium erstaunlich blass. In der theologischen Lehre schien es nur Weniges zu geben, das ihn inhaltlich bannte und ihn zur Ausein andersetzung gezwungen hätte. Eher hatte er die Professoren „bis auf den für sie entscheidenden Punkt […] durchgehört“, um sich die „Gesetze des religiösen Vorstellens, Anschauens, Empfindens und Denkens“ anzueignen.25 Die fachli chen Auseinandersetzungen in der wissenschaftlichen Theologie schienen sei nen Erinnerungen zufolge während des Studiums keine nachhaltige Wirkung gezeigt zu haben. Da waren die wissenschaftliche Entdeckung der Religions geschichte für die theologisch-historische Grundlagenforschung und die Aus einandersetzung mit der Ritschl’schen Schule um die individuelle Bedeutung der sittlichen Persönlichkeit für das Christentum. Mit Kaftan schließlich hatte er einen akademischen Lehrer, der sich intensiv um die theologische Auseinan dersetzung mit dem Darwinismus und der Entwicklungslehre bemühte. Plastischer waren die Eindrücke, die er außerhalb der Theologischen Fakultät sammeln konnte. Bei dem neuidealistischen Philosophen Friedrich Paulsen hörte er Philosophie und Pädagogik und begann unter seiner Anleitung mit der Lektüre Kants, durch den er sich die „Erkenntnis der reinen Vernunft als höch stes Gut“ erwarb. Ganz anders ausgerichtet waren die Vorlesungen des Kunst historikers Herman Grimm, dessen popularisierende Schriften ihm im wilhel minischen Bürgertum einen erheblichen Einfluss verschafft hatten und der Bonus dem materialistischen Geist der Zeit entgegen in die Welt Goethes und der Weimarer Klassik führte. Einen großen Eindruck hinterließ der Historiker Heinrich von Treitschke, dessen Vorlesungen er als die „inhaltsreichsten unseres Studiums“ erlebt hatte. Bonus war von Treitschkes Vortragsstil fasziniert, der aufgrund von Schwer hörigkeit einen undeutlichen, häufig kaum verständlichen Sprachduktus ange nommen hatte. Der Liberale Treitschke hatte sich aufgrund seiner Ende der 1860er Jahre einsetzenden borussisch eingefärbten Geschichtsschreibung, die auf einen starken, deutschen Staat unter preußischer Führung hinstrebte, den Ruf eines „‚Propheten‘ des Reiches“ erworben.26 Treitschke, der als langjähri ger Herausgeber die honorigen Preußischen Jahrbücher zum Sprachrohr einer kleindeutsch-liberalen Politikauffassung machte, war erfüllt vom Glauben an die Sendung der deutschen Kultur. Er zählte zu den Vordenkern des bürgerli chen Nationalliberalismus, bei dem sich die Forderung nach Freiheit im Priva 25
So der Lebenslauf von 1924 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_001], vgl. Matthias Kroeger: Gogarten, 77. 26 Zitiert aus: Ulrich Langer: Heinrich von Treitschke, Düsseldorf 1998, 376. Zum Natio nalismus Treitschkes vgl. Peter Winzen: Treitschke’s Influence on the Rise of Imperialist and Anti-British Nationalism in Germany, in: Paul M. K ennedy (Hg.): Nationalist and racialist movements in Britain and Germany before 1914, London 1981, 154–170.
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ten mit dem Ruf nach starken staatlichen Instanzen und nach militärischer Machtsicherung gegen Bedrohungen von außen verband. Treitschke vertrat ein sprachlich und abstammungsmäßig gedachtes Nationalitätsprinzip, das er zur Stärkung der deutschen Einflusssphäre als einheitlicher Kultur- und Herrschafts raum durchzusetzen erhoffte. Seine Deutschtumsideologie scheute vor anti semitischen Ausbrüchen nicht zurück, die besonders im „Berliner Antisemitis musstreit“ 1879–1881 aufbrachen.27 Gebannt war Bonus von der auf die histo rische Sendung des Deutschtums hinauslaufenden Geschichtssynthese, die Treitschke vortrug. Für Treitschke zielte die Arbeit des Historikers nicht auf eine auf Objektivität gerichtete Darstellung der Vergangenheit, sondern auf Wertung und Verwertung des Geschichtsbildes für die Politik der Gegenwart. Wenn Treitschke über deutsche Geschichte dozierte, dann schien für Bonus da rin „das Element selbst, dessen Name Sturm bedeutet: der Geist“ auf.28 Wichtige Impulse gewann er auch durch die Lektüre populärwissenschaftli cher Werke aus dem Bereich der Naturwissenschaften, unter denen er sich be sonders mit Ernst Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte auseinandersetz te. Damit stieß er auf einen in der Öffentlichkeit allerdings höchst wahrnehm baren „Sonderfall“ in der fachbiologischen Darwin-Debatte, der durch seine monistische Interpretation der Entwicklungslehre einen quasireligiösen Füh rungsanspruch des Darwinismus vertrat.29 Haeckel wandte sich scharf gegen das „Dunkelmännertum“ des Kirchenglaubens. Für ihn war die Naturerkennt nis der eigentliche kulturelle Fortschrittsweg. Nicht nur biologische Arten, son dern auch Gesellschaft, Kultur und Religion unterlagen dem Entwicklungsge setz. Bonus berief sich damit auf ein sehr verbreitetes Buch, das dem weltan schaulichen Darwinismus zum Durchbruch verholfen hatte und sein Verständnis einer „monistischen Naturreligion“ als die „wahre Religion der Zukunft“ ver kündete.30 Pauschal benannte er zudem Nietzsche und Lagarde als wirkmächtige Ein flüsse.31 Bonus bewunderte an Paul de Lagarde die Vorstellungen einer nationa len, überkonfessionellen und vom Kirchentum losgelösten deutschen „Zu 27
Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: PJbb 44 (1879), 559–576. Die öffent liche Auseinandersetzung um die „Treitschkiade“ ist gut dokumentiert und eingeleitet bei K arsten K rieger (Hg.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881, München 2003. 28 Bonus: Redekunst. In memoriam Treitschke † 28. April 1896, in: KW 19/2 (1906), 59–60. 29 A ndreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, München 2002, 449. Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte war 1868 in der ersten Auflage erschienen und erlebte bis 1899 neun Neudrucke. 30 Ernst H aeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin 71879, 680. Die Vortrags sammlung war 1868 zum ersten Mal erschienen; vgl. Frank Simon-R itz: Die Organisation einer Weltanschauung, Gütersloh 1997, 36 f.; Horst Groschopp: Dissidenten, Berlin 1997, 256 f. 31 Zu beiden vgl. die Ausführungen unten.
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kunftsreligion“ und übernahm dessen scharfe Kritik am Bismarckreich, an der protestantischen „Buchreligion“ und an der religiösen Indifferenz des Liberalis mus. Lagardes Ruf nach einem „Evangelium“ in „einer deutschen Ausgabe, die kein Buch“ sein sollte, hallte in Bonus’ Suche nach einer religiösen Grund legung einer vertieften und machtvollen Nation wider.32 Auch die Vorstellung des Germanentums als durch die Geschichte nur verdeckte, aber durch Be wusstmachung wiederbelebbare Größe hatte hier ein Vorbild. Mit dem Theologiestudium betrat Bonus eine Welt, die ihn einerseits faszi nierte, ihn andererseits aber intellektuell und religiös enttäuschte. Zum Theolo giestudium hatte er sich entschieden, weil er den „religiösen Problemen […] zu leibe zu gehen“ wollte, wie er in der Rückschau formulierte.33 Briefe aus seinen Studienjahren belegen, dass Bonus tiefe Zweifel an seiner Berufung zum Pfarr dienst und an seiner Glaubensfähigkeit erlebte, die mit der wissenschaftlichen Theologie eher zu wachsen als sich zu klären schienen.34 Aus seinen Berichten klingt die Erinnerung an eine tiefe religiöse Erschütterung nach. Zunächst ver suchte er, seine Zweifel erfolglos durch eine „sehr heftige pietistische Affek tion“ zu überwinden, die allerdings nur von kurzer Dauer war.35 Dem Selbst bericht zufolge resultierten daraus schwerste innere Nöte, die ihn „fast an den Rand der Lebensfähigkeit“ brachten.36 Seinem Freund Fritz Benthien vertraute er an, dass er eine tiefe, fast verzweifelte Sehnsucht nach Religion empfand, die er im Studium und in der Kirche nicht stillen konnte.37 Unregelmäßige Tage buchnotizen zeigen einen zutiefst aufgewühlten, ungefestigten jungen Men schen, der mit seinem religiösen Lebensweg ringt. Unter seinen Notizen findet sich eine Sammlung von Selbstreflektionstexten unter der Überschrift „Unver standenes Sehnen des Herzens, wie bist du stark!“ aus den späten 1880er Jahren, die auf große Glaubens- und Berufungszweifel hindeuten. „Herr, mein Gott, soll ich zurück?“ – der religiös hoch sensible Theologiestudent Bonus bat um Leitung und Stärkung auf dem Weg ins Pfarramt.38 Der akademische Zugang der gelehrten Theologie vermittelte ihm keine ge schlossene religiöse Identität und verhalf ihm auch nicht zur Vertiefung einer gelebten Frömmigkeit. Er empfand die Theologie als zu steril und zu eng mit 32
Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, Göttingen 31892, 75. Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_008]. 34 Vgl. den Briefwechsel Bonus mit Alexander Schönfeld, Briefe vom 16.7. und 20.7.1887 [LKA Eisenach, NL Bonus, 08_006] 35 Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [ebd.]. 36 Vgl. den Selbstbericht; K roeger: Gogarten; H erbert von H intzenstern: Arthur Bonus, in: Volk im Werden 10 (1942/43), 1–12, 1. 37 Vgl. die Briefe Bonus an Benthien, 12.8., 13.8. sowie 25.8.1886 [ebd., 05_011]. 38 Tagebuchnotizen, 13.11.1887–24.1.1888 [ebd., 38_043]. 33
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den Traditionsbahnen und dem Lehrstoff verhaftet. Sie beschrieb nur die Au ßenseite des religiösen Geschehens, während seine religiösen Erfahrungen und Zweifel in der akademischen Ausbildung keinen Niederschlag fanden. Bereits während seines Studiums hatte er scheinbar den „Intellektualismus als Feind“ einer wirklichen Frömmigkeit ausgemacht.39 Sein Studienfreund Karl Kühner erinnerte sich von Heidelberg aus an die gemeinsamen Studienjahre, in denen sie das „Schimpfen auf die Wissenschaft“ verband.40 Bonus suchte nach einem tieferen Einstieg in die Beschreibung der Frömmigkeit. In der Rückschau war es die Lektüre der Reden über die Religion von Fried rich Schleiermacher, die ihn aus seiner religiösen Sinnkrise hinausführte. Mit dem späteren Systematikprofessor Arthur Titius debattierte er über Schleier macher und Ritschl und über „Religion als höchstes Wissen“.41 Schleiermachers Religionsbegriff, der „Sinn und Geschmack für’s Unendliche“, bedeutete für Bonus eine valide und gegenwartsbezogene Definition des Religiösen, während er den Schleiermacher’schen Gegenbegriff, das Bewusstsein der schlechthinni gen Abhängigkeit, ablehnte. Für Bonus bedeutete Religion die Erlösung zu in nerer Freiheit und ein Kraftpotential. Sich selbst sah er dabei zunehmend weni ger als Vertreter einer kirchenamtlichen Dogmatik, sondern als Vertreter einer existentiellen Theologie, die sich aus philosophischen Elementen mit einem starken Erfahrungsbezug zusammensetzte. Doch ein Durchbruch zu einer frei en Religiosität hatte hier noch nicht stattgefunden. Im Gegenteil, Bonus entwickelte inspiriert von Harnack ein reges Interesse an der theologischen Wissenschaft. Der Abschluss des Studiums wurde ihm dadurch erleichtert, dass er sich mit dem Gewinn aus zwei erfolgreichen theolo gischen Preisarbeiten finanzieren konnte. Im Februar 1889 bestand er das Erste Theologische Examen, im Dezember 1890 konnte er mit gutem Ergebnis das Studium mit der zweiten Prüfung beenden. Immerhin hegte Bonus Pläne, mit einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit zum Reich-Gottes-Begriff im Neuen Testament zum Lizentiatenexamen anzutreten, die allerdings vor Fertigstellung fallen gelassen wurden.42 Mit diesem Thema hätte Bonus eine exegetische Frage berührt, die seit den Veröffentlichungen von Johannes Weiß nicht ohne Brisanz 39
Brief Bonus an Meyer-Benfey, 30.4.1908 [ebd., 13_008]. Brief Kühner an Bonus, 14.9.1889 [ebd., 05_003]. 41 Brief Titius an Bonus 29.9.1887 [ebd., 08_007]. 42 Harnack gegenüber erwähnte Bonus dieses Arbeitsvorhaben von seiner ersten eigenen Stelle in Groß Muckrow aus als Ausweis seiner wissenschaftlichen Fähigkeit, die er im Dorf pfarramt jedoch kaum ausleben konnte (Brief Bonus an Harnack, 23.9.1897 (StaBi Berlin [Nachlass Harnack, Briefwechsel Bonus, 4]). Dem theologischen Mentor Rade teilt er offen mit, dass „Faulheit“ sowie das Eintauchen in die praktische Gemeindearbeit die Fertigstel lung verhinderten (Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 30.1.1893 [UB Marburg, Nachlass Rade]; diesem Brief ist die Themenstellung zu entnehmen). 40
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für die Theologie diskutiert wurde. Zudem gehörte Bonus einem ausgewählten Studentenkreis an, der im 14tägigen Abstand zum persönlichen Austausch beim Hofprediger Adolf Stoecker eingeladen wurde.43 Die Tendenz, die eigene Studienzeit abzuwerten und die fehlende intellektu elle Befriedigung durch die akademische Theologie zu betonen, welche die ei gene religiöse Suche nicht weiterführte, sondern blassen, historischen Bildungs stoff wiederholte, lässt sich bei einigen weiteren Theologen finden, die um 1900 als religiöse Publizisten tätig waren. Knapp lassen sich hier einige Beispiele anführen, um Bonus’ Selbstbericht, der die religiöse Entfremdung vom Kir chentum bereits im Studium wurzeln lässt, mehr Tiefenschärfe zu verleihen. Das Gefühl, dass die disziplinären Vorgaben der Fachtheologie mit den Bedürf nissen der Gegenwart nicht mehr übereinstimmten, was sich auf die Predigt und Frömmigkeitspraxis auswirkte, lässt sich als eine generationstypische Erfah rung erfassen. Das fromme Unwohlsein in der Theologie war weniger auf eine durch die entwicklungsgemäße Ablösung von Kindheitsmustern bedingte Ero sion von Glaubensvorstellungen zurückzuführen. Die – manchmal aus den Elternhäusern mitgeführten – hohen Erwartungen an eine religiöse Erfülltheit im Theologiestudium und der kirchlichen Ausbildung brachen an dem tiefen Gegensatz zur Realität an den Universitäten und in der Kirchenbürokratie auf. Ähnliche Erfahrungen wie Bonus beschrieb beispielsweise Friedrich Rittel meyer, der 1892 als Student von Erlangen nach Berlin wechselte und zeitgleich mit dem Wittenberger Seminaristen Bonus die Kaftan’sche Sozietät und das privatissimum – ein exklusives Oberseminar – im Hause Harnack besuchte.44 Mit Arthur Titius, Paul Rohrbach, Paul Göhre und Erich Foerster gehörten ne ben Bonus einige junge Theologen diesem Umfeld an, das sich vor der Jahrhun dertwende auf die Suche nach einer modernen Theologie machte. Rittelmeyer bekannte in autobiographischer Perspektive, von seinen Studieninhalten ernüch tert: „Was man ein ‚inneres Leben‘ nennt, habe ich in jener Zeit nicht gefühlt. […] Es war wohl ein unausgesetztes halb unbewußtes inneres Suchen da. […] Aber wohin man auch kam, man kehrte nur noch hoffnungsloser zurück.“45 43
Brief Bonus an Fritz Benthien, 27.11.1886 [LKA Eisenach, Nachlass Bonus]. Friedrich R ittelmeyer: Aus meinem Leben, Stuttgart 1937, 60 f. Zu Rittelmeyers Bio graphie als schrittweise Suchbewegung über die liberale Theologie zur freireligiösen Chris tengemeinschaft vgl. Claudia Becker: Versuche religiöser Erneuerung in der Moderne, Berlin 2001 (zur Berliner Zeit 17–20); Ute Gause: Friedrich Rittelmeyer (1872–1938). Vom liberalen Protestantismus zur anthroposophischen Christusfrömmigkeit, in: ZRGG 48 (1996), 152–171; Helmut Zander: Friedrich Rittelmeyer. Eine Konversion vom liberalen Protestan tismus zur anthroposophischen Christengemeinschaft, in: Graf/Müller (Hg.): Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996, 238–297. 45 Ebd., 313 f. 44
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ittelmeyer erlebte den protestantischen Gottesdienst als „Enttäuschung“46 und R die Theologie als eine „tote Wissenschaft“, die keine Anstalten machte, sich mit existentiellen Grundfragen, dem „Lebensrätsel“, auseinanderzusetzen.47 Als Pfarrer empfahl Rittelmeyer eine Verkündigung, die die „innere Wahrhaftig keit“ des Glaubenserlebnisses in ihre Mitte stellte, sich aber von dem „alten Autoritätswesen“ des institutionalisierten Kirchentums löste.48 Vergleichbar be richtete auch Johannes Müller, den Bonus im Kreis um die Christliche Welt kennenlernen sollte, von seinem Ablösungsprozess von den Prägungen, die er aus einem streng pietistischen Pfarrhaus mitbrachte. Gegen die konservative „Zuchthausform des Christentums“, die strenge Lehre und rigide Moral verein te, und die bloß theoretische „Buchreligion“ des kirchlichen Protestantismus, verlagerte er sich bereits während des Studiums auf ein freies Christentumsver ständnis, in dem die religiöse „Lebensempfängnis“ im Zentrum stand.49 Bonus zögerte, den Weg in das Pfarramt weiter zu verfolgen. Die Gründe la gen einerseits darin, dass er sich in seiner Persönlichkeit für diese Aufgabe nicht genügend gefestigt hielt. Andererseits machte es ihm die enge Stellensituation gewiss nicht leichter, seine Glaubenszweifel zu überwinden. Ihm ging es wie zahlreichen jungen Theologen, denen „das Messer an der Kehle“ saß, „weil ih nen so gut wie alle privaten Mittel fehlen, um sich bis zu einer etwaigen Anstel lung durchschlagen zu können.“50 Bonus entschied sich für die Fortsetzung des Studiums am Predigerseminar in Wittenberg im alten Augustinerkloster. Mög licherweise, so seine Erwägungen, ließ sich von hier aus eine „wissenschaftliche Laufbahn als Dozent an der Universität vorbereiten“.51 Mit Karl Reinicke fun gierte hier ein liberal eingestellter Konrektor als Ausbildungsleiter, der die Vi kare zur Fortsetzung ihrer theologischen Studien ermutigte und sie noch einmal reflektierend auf die zukünftige Gemeindetätigkeit vorbereitete.52 Dazu gehörte die regelmäßige Mitarbeit der Kandidaten in Wittenberger Kirchengemeinden. Die Seminarzeit hinterließ einen positiven Eindruck, namentlich durch die hier mögliche Verbindung von Wissenschaft und Praxis. Als um die Jahrhundert wende eine strenge Haus- und Lebensordnung im Predigerseminar eingeführt 46
Friedrich R ittelmeyer: Aus meinem Leben, 81. Ders.: Berlin. Aus meinem Leben, Teil 8, in: Die Christengemeinschaft 11 (1935), 311– 316, 312. 48 Ders.: Was fehlt der modernen Theologie? Vortrag vor den Freunden der Christlichen Welt, in: CW 24 (1910), 1034–1043, 1036. 49 Johannes Müller: Erinnerungen, in: Grüne Blätter 38 (1936), 1–55.81–147.161–288, 24.94. Vgl. Haury, 61–65. 50 F. Müller: Kandidatennot, in: CW 8 (1894), 597–601, 597. 51 Brief Bonus an Doris de Charles, 6.7.1891 [LKA Eisenach, NL Bonus, 05_009]. 52 Otto Dibelius: Das Königliche Predigerseminar zu Wittenberg 1817–1917, Berlin 1918, 231–252. 47
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werden sollte, widersprach Bonus diesen Versuchen einer kirchlichen Normie rung der Pfarrerausbildung heftig. Die besondere Leistung der Seminarzeit be stand seiner Ansicht nach in der Ermöglichung der „wissenschaftlichen Wei terarbeit“, die die persönliche Freiheit, die tägliche Lebensgestaltung und den freien Austausch der Kandidaten nicht einschränkte. Das Seminar formte „Cha raktere“, die wissenschaftliche Theologie und Predigt vorbildlich miteinander verbanden. Der „Nachdruck“ der Seminarausbildung, meinte Bonus, lag „nicht mehr auf der Mittheilung neuer Kenntnisse, sondern auf der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, dem Zusammenleben der freien sich gegenüber gleichberech tigten und abschleifenden Aussprache, dem Nachdenken über das Verhältnis der Wissenschaft zur Praxis“.53 In den Wittenberger Jahren lernte Bonus auch seine spätere Frau Beate Jeep kennen, eine künstlerisch aktive Pfarrerstochter. Beate Jeep hatte an den Aka demien in Berlin und München Malerei studiert und dabei eine enge, lebens lange Freundschaft zu Käthe Kollwitz aufgebaut. Aufgewachsen war die reso lute und selbstbewusste Frau in Rom, wo ihr Vater als Gesandtschaftsprediger amtiert hatte. Bonus verlobte sich 1893 mit ihr, die Hochzeit fand im Oktober 1895 nach seiner Berufung auf die erste Pfarrstelle statt. Bonus fand in der Abschlussphase seines Theologiestudiums mit dem Kreis um Martin Rade und seine Zeitschrift Die Christliche Welt ein Umfeld, das ihn festigte und in seiner Suchbewegung persönlich bestärkte. Martin Rade betätig te sich zunächst als beruflicher Ratgeber und als Seelsorger, bald auch als Freund, der Bonus’ kurvenreichen Lebensweg und seine religiöse Laufbahn mit Anteilnahme begleitete.54 Wenn Bonus in der Rückschau seinen Weg als gerad linige Entwicklung auf eine religiöse Wende hin darstellt, dann betonte er dabei die Enttäuschung über den kirchlichen Protestantismus. In der Außenperspekti ve stellte sich das eher als eine Suchbewegung dar, die auf dem Boden des mo dernen Protestantismus stattfand. Eine Richtung war nicht gefunden: „Ja, was ist meine Bahn?“55 Die prägenden Einflüsse des Umfelds um Martin Rade wer den im Folgenden darzustellen sein.
53 Bonus: Das Wittenberger Predigerseminar, in: Tägliche Rundschau vom 6.3.1900. Vgl. zum Zusammenhang Birgit Weyel: Praktische Bildung zum Pfarrberuf, Tübingen 2006, 247–250. 54 Der Briefwechsel zwischen Rade und Bonus ist ein Beleg für die außerordentliche Be lesenheit und gedankliche Spannkraft Rades; er zeigt aber auch, auf welch hochsensible und zuvorkommende Weise dieser Ausnahmetheologe in der Lage war, ein Netzwerk an Schü lern, Freunden und Gleichgesinnten aufzubauen, diese zu fördern und auf eine vornehme Art seelsorgerisch zu betreuen. 55 Briefkonzept Bonus an Rade, 27.11.1893 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002].
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II. Moderne Theologie und christliche Weltgestaltung: Arthur Bonus im Kreis um die Christliche Welt 1. Die Christliche Welt als Artikulationsort einer „modernen Theologie“ Die schriftstellerische Entwicklung von Arthur Bonus ist nicht von den theolo gischen und kirchenpolitischen Einstellungen zu trennen, die in der Zeitschrift Die Christliche Welt verhandelt wurden.56 Diese Zeitschrift und das sich um sie herum gruppierende Netzwerk von Pfarrern und Universitätslehrern trugen ent scheidend zu seiner theologischen Positionierung bei. Im Umfeld Martin Rades entwickelte sich ein Sonderbewusstsein in der Überzeugung, einer Avantgarde anzugehören, die auf eine grundlegende „Revision“ der Theologie hinarbeite te.57 Die Christliche Welt wurde zum Kommunikationsort einer Gruppe von jüngeren Theologen und Pfarrern, die in einen offensiven Dialog mit allen ernsthaften religiösen und wissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart zu treten gewillt waren und gleichzeitig auf eine prinzipielle Neuorientierung der kirchlichen Theologie hindrängten. Sie repräsentierten einen konfliktreichen Generationswechsel, der sich in einer theologischen und kirchenpolitischen La gerbildung niederschlug und in der Christlichen Welt ein Podium fand.58 Um Rade formierte sich ein informelles Netzwerk, das auf Studienfreundschaf ten, brieflichen und publizistischen Kontakten beruhte und die Zeitschrift nutzte, um die eigenen theologischen und sozialethischen Stellungnahmen in den kul turprotestantischen Diskurs einzutragen. Für Matthias Wolfes zählten neben Martin Rade Otto Baumgarten, Wilhelm Bousset und Ernst Troeltsch sowie Erich Foerster, Paul Jaeger, Julius Kaftan und Heinrich Weinel zu den „Wortführern“ der Zeitschrift in den 1890er Jahren.59 Arthur Bonus ist in diese Aufstellung der theologisch engagierten Gestalten der Zeitschrift einzugliedern, die zudem um die von Paul Göhre, Paul Rohrbach und Friedrich Naumann vertretene Verbin 56 Die
enge, kirchen- und theologiepolitische sowie persönliche Verbindung zwischen Bonus und der Christlichen Welt bestätigt sich im Briefwechsel mit Martin Rade. Für Rade gehörte Bonus untrennbar „zu den Anfängen“ der Zeitschrift; er maß ihm im Zuge seiner Selbsthistorisierung nach dem Rückzug aus der aktiven Redaktionsleitung bei der Vorberei tung einer „Geschichte der CW“ erhebliches Gewicht bei: Bonus gehörte gleichsam zum In ventar der Zeitschrift (Postkarten Rade an Bonus, Marburg 19.2.1932 und Hohemark 21.6. 1932 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_003]). 57 Bonus: Eine Revision, in: Tägliche Rundschau 19 (Nr. 249 v. 23. Oktober 1898, Unter haltungs-Beilage), 994–996. Bonus nahm in diesem Artikel eine ausdrückliche Selbsteinord nung in die Theologie der Christlichen Welt vor, die er als Stimme eines modern verstande nen Protestantismus vorstellte. Vgl. ähnlich programmatisch: Otto Baumgarten: Die Christ liche Welt, in: ZPT 21 (1899), 245–276. 58 Vgl. Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, 52; K roeger: Gogarten, 79. 59 Ebd.
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dung von religiösen und sozialpolitischen Problemstellungen erweitert werden muss. Die Christliche Welt stellte einen sich zunehmend profilierenden Aus tauschort zur Wahrnehmung und konfliktreichen Deutung gegenwärtiger gesell schaftlicher und kirchlicher Herausforderungen dar. Organisatorisch bildete Rades Zeitschriftenredaktion ab 1892 in Frankfurt am Main, ab 1899 in Marburg, einen wichtigen Knotenpunkt, an dem über den inhaltlichen Kurs des Blattes ent schieden wurde und verschiedene Theologen als Redaktionsmitarbeiter eine pub lizistische Ausbildung erhielten. Bonus war 1891 durch Vermittlung Paul Göhres für die Redaktionsassistenz als Nachfolger für Erich Foerster vorgesehen.60 Durch zahllose Eigenbeiträge, die redaktionelle Kommentierung auch von inhaltlich gegenläufigen Beiträgen, durch politische Nachrichten und durch die Rubrik „Sprechsaal“ stellte Rade die prägende, allgegenwärtige Figur der Christlichen Welt dar. Rade bildete das persönliche Zentrum der Zeitschrift, um das herum sich ein zunächst loses, von gemeinsamen Interessen geleitetes und oft von Rade moderiertes Netz von Bekanntschaften knüpfte, auf das die Christliche Welt eine zunehmende Identifikationswirkung ausübte. Der Bedarf an Verbindlichkeit wuchs im Zuge der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um Adolf Harnack und den Apostolikumstreit von 1892, was in den an die Aus einandersetzungen anknüpfenden Eisenacher Jahrestagungen zum Ausdruck kam, die auch für Bonus zu einem wichtigen theologischen Austausch- und An laufpunkt wurden.61 Daneben bildeten sich regionale Zirkel als Lese- und Ar 60 Paul Göhre schlug Bonus als Redakteur der Christlichen Welt und als Nachfolger von Erich Foerster vor (Brief Foerster an Bonus, 23.1.1891 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]). Ein publizistisches Interesse hatte Bonus wohl schon am Ende seines Studiums entwickelt. Vielleicht war das eine Notlösung, da der Weg ins Pfarramt sich aufgrund der schlechten Stellensituation nicht ganz einfach gestaltete. Von Martin Rade bekam Bonus jedoch die Empfehlung, weiter am Pfarramt festzuhalten: „Sie haben das 2. Examen gemacht, dürfen nicht noch 1–2 Jahre einem Berufe widmen, der sie äußerlich gar nicht vorwärts bringt.“ Rade riet ihm, nur dann in seine Redaktion zu kommen, „wenn Sie einen ganz besonderen Drang fühlen, in die Publizistik hineinzukommen, u.[nd] wenn ich die Überzeugung gewin ne, daß Sie sich über Ihre Zukunftspläne vollkommen klar sind“. Brief Rade an Bonus, 22.1.1891 [ebd., 03_002]. Mit der Übertragung einer Hilfspredigerstelle in Luckenwalde 1893 gab Bonus die Redaktionspläne bei der Christlichen Welt endgültig auf: Rade wünschte ihm in einem Brief vom 29.3.1893 Glück für die Bewerbungspredigt: „Finden Sie ein Amt, so machen Sie sich meinetwegen keine Skrupel. Es ist mir ja leid, wenn Sie nicht kommen, denn ich brauche Sie wirklich, aber ich freue mich ja nur, wenn wir Sie glücklich unter Dach u.[nd] Fach haben. Gottes Segen zu Ihrer Osterpredigt u.[nd] zu allem weiteren“ [ebd.]. 61 Die Einladungen zu den vertraulichen Zusammenkünften wurden seit 1893 als Druck blatt verschickt und die Vorträge zumeist um Thesenpapiere ergänzt; vgl. die zahlreichen an verschiedenen Stellen im Nachlass erhaltenen Einladungen [ebd., 05_017] sowie die persön lichen Einladungsschreiben von Rade (Postkarten Rade an Bonus, 25.8.1894; 4.9.1895; 26.10. 1896; 3.6.1897 [ebd., 03_002]).
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beitsgemeinschaften, etwa im Frankfurter Umfeld Rades, in Berlin, in Dresden oder Schleswig-Holstein, die sich mit unterschiedlicher Intensität den Anliegen der Zeitschrift verbunden fühlten und durch Briefkontakte oder Vorträge und öffentliche Einladungen in der Zeitschrift untereinander Kontakt hielten und Gleichgesinnte zu erreichen suchten.62 Zudem boten die Tagungen des Evange lisch-sozialen Kongresses die Möglichkeit, informelle Begegnungen außerhalb des Hauptprogramms zu organisieren. Der Eigenhistoriographie der Christlichen Welt zufolge verband sich mit den theologie- und weltanschauungskritischen Äußerungen von Bonus und anderen Autoren, vor allem Ernst Troeltsch, eine prinzipielle Anfrage an die gedankli chen Grundformen der gegenwärtigen Theologie und Kirchlichkeit.63 In Bonus’ Korrespondenz spiegelt sich diese Einschätzung wider, die sich an Briefkontak ten zu Kommilitonen und Kollegen im Pfarramt weiter erhärten lässt. Diese kritischen, zumeist jüngeren Theologen, die ihr Studium zu Beginn der 1890er Jahre abgeschlossen hatten, verband untereinander und mit der Christlichen Welt eine „stimmungsmäßige Verwandtschaft“;64 hier kam ein „Gruppenge fühl“ zum Ausdruck, das nach Möglichkeiten suchte, einen theologischen Prin zipienkonflikt zu inszenieren, um gegen die etablierten theologischen Positio nen „Musik“ zu machen.65 Als Führungsgestalten wurden Friedrich Naumann und Martin Rade genannt, die in ihrer sich im Lauf der 1890er Jahre immer deutlicher abzeichnenden Ausrichtung auf soziale Wirksamkeit und theologi sche Erneuerung den gleichen „Herzensdialekt“ zu sprechen schienen.66 Für Bonus hob sich der Kreis um Martin Rade entschieden durch sein energisches Ringen um eine „Modernisierung der Dogmen und Bekenntnisse“ gegenüber dem wilhelminischen Protestantismus ab.67 Als Zentrum des Kreises und als gekonnter theologiepolitischer Vernetzer verkörperte Rade diese Anliegen in Bonus’ Augen höchstpersönlich, dessen „gute Tapferkeit“ er bewunderte: „Ich habe Rade lieb bis zum Exceß.“68 Die Christliche Welt vermochte es in seinen 62 Vgl. z. B. die Absprachen und Einladungen: Brief Foerster an Bonus, 31.10.1899 [ebd., 07_014]; Brief Pfarrer Jansen an Bonus, 27.2.1899 [ebd.]. 63 Vgl. Horst Stephan: Die Christliche Welt und die systematische Theologie, in: H ermann Mulert (Hg.): Vierzig Jahre „Christliche Welt“, Gotha 1927, 112–119, 114; R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 104–109; K roeger: Gogarten, 79. Zu den Berührungspunk ten zwischen Bonus und Troeltsch s. u. 64 Briefkonzept Bonus an Pfarrer Jansen, undatiert (Februar 1899) [ebd., 07_014]. 65 Brief P. Schubring an Bonus, 19.6.1896 [ebd., 06_001]; vgl. Postkarte Foerster an Bonus, 19.8.1896 [ebd., 13_006]. 66 Brief P. Schubring an Bonus, 24.2./18.3.1896 [ebd., 06_001]. 67 Bonus: Religiöse Spannungen, Jena 1912, 188 f. 68 Briefkonzept Bonus an Pfarrer Jansen [ebd., 07_014]; Briefkonzept Bonus an Bousset [ebd., 13_007].
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Augen wie keine andere Zeitschrift, ein reflektiertes, protestantisches Christen tum mit den Bildungswelten der Gegenwart zu verknüpfen.69 Darin brachte sie den dringenden Entwicklungsbedarf des kirchlichen Protestantismus zur Spra che, trat den Entkirchlichungstendenzen unter den Gebildeten entgegen und be saß eine hohe Sensibilität für sozialpolitische Fragen: Sie machten sich wirklich an die Arbeit. Sie hatten ein Bewußtsein von der Langsamkeit aller Entwicklung, von ihrer Bruchlosigkeit, Stetigkeit. Sie wollten mit Zartheit und Vorsicht das Alte in das Neue hinüberführen, hinüberbilden, hinüberentwickeln. […] Wenn man gerecht sein will, wird man dieser Richtung trotz allem, was man gegen sie haben mag, ihr Gutes nicht absprechen können. Auch abgesehen von den persönlichen Ver diensten ihres Führers, Martin Rade, der stets gewußt hat, den Kampf großzügig und aller Kleingeisterei fern zu halten. Es hat doch die Richtung als Ganzes betrachtet das Verdienst, dafür gesorgt zu haben, daß aus unfruchtbarem Gezänk der Möglichkeit nach etwas wie eine Diskussion wurde. Nicht nur nach der Orthodoxie hin, sondern mehr noch nach der Seite der Unkirchlichen. Dazu der Freimut in der Verhandlung der sozialen Angelegenheiten.70
Die Ausrichtung an der Christlichen Welt war als Entschluss zur kirchlichen Erneuerung, aber nicht als Bekenntnis im theologischen Richtungsstreit zu ver stehen. Für Bonus’ Umfeld boten sich weder die konservativ-lutherischen Theo logien noch der theologische Liberalismus des Protestantenvereins als Lösungs weg aus den kirchlichen Krisen vor der Jahrhundertwende an, sondern ein er neuerter Gesamtprotestantismus jenseits der Parteibildungen.71 Darin folgte man der Zielsetzung Rades, der nach außen hin eine einseitige Positionierung seines Blattes vermeiden wollte und gegenüber theologischen Schulzuweisun gen Einspruch erhob. Die Christliche Welt konzipierte er vielmehr als eine „Ar beitsstätte“, die der „Bewältigung aller gegenwärtig zur Beantwortung drän 69 Auch in Bonus’ Privatkorrespondenz lässt sich dieses bisweilen enthusiastische Be kenntnis zur Christlichen Welt als einem „rechte[n] Blatt für die Gebildeten“ wiederfinden, das durch ihre am Beispiel Paul Göhre personifizierte religiös-soziale Aufgeschlossenheit geradezu einen Beitrag zur Rettung der Kirche für die Gegenwart darstellte (Briefkonzept Bonus an Doris de Charles, undatiert (1891) [ebd., 05_009]). 70 Bonus: Religiöse Spannungen, 188 f. 71 Vgl. z. B. einen um 1890 verfassten Brief vermutlich an Julius Kaftan, dem er eine von Otto Pfleiderer geprüfte Preisarbeit einreicht mit dem Kommentar, sich sich weder auf libe rale noch auf pietistische Grundsätze eingrenzen zu wollen (Brief Bonus an Kaftan, undatiert [ebd., 05_001]. Die Christliche Welt befand sich in seinen Augen in einer Frontlinie gegen die „Gegner von der nervösen Orthodoxie bis zum altersschwachen theologischen Rationalis mus“ (Bonus: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24, 18). Nach dem Ersten Welt krieg wiederholte Bonus seine Ablehnung der „altüberkommene[n] Einteilung in orthodoxe und liberale Theologie […], die, wie ich hier in der Christlichen Welt und sonst stets vertreten habe, völlig unwesentliche Dinge in den Mittelpunkt schiebt“ (Verschiedenes. Religiöse An sätze im modernen Sozialismus, in: CW 33 (1919), 677–678, 677).
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genden kirchlichen und religiösen Fragen“ dienen sollte.72 Die Zeitschrift knüpfte programmatisch an die Reformation an, um als „unkonfessionalisti sches Luthertum“ zu einer Neubewertung und -begründung des reformatori schen Christentums in der Gegenwart beizutragen.73 In der Probenummer hatte Friedrich Loofs die Bedeutung Luthers als Namensgeber eines nationalen Sammlungsprogramms erläutert: Das „ganze evangelische Deutschland“ sollte „zu gemeinsamer Arbeit an unserm Volk, zu gemeinsamer Abwehr der Feinde des Protestantismus“ aufgerufen werden.74 Für Bonus lag darin das Verspre chen, einen gestaltungskräftigen und sozial relevanten Protestantismus für die Gegenwart zurückzuerlangen. Nicht weniger als die Wiederaufnahme und Fort führung der Reformation Luthers wurde zum Ziel.75 Entsprechend sah er die Stimmung des frühen Kreises um die Christliche Welt als Erwachen aus dem Geist der Reformation, das er in nationalprotestantischen Übertönen beschrieb: „Wir knüpften mit vollem Bewußtsein an die Wendung an, die das Christentum in Martin Luthers Germanisierung gewonnen hatte, eine Stimmung, deren Trotz und Kraftfülle zu atmen man nur einige Seiten Luther zu lesen braucht.“76 Dahinter verbarg sich die Hoffnung, dem Protestantismus eine neue nationale Bedeutung als wahrhafte „Volkskirche“ zu erschließen.77 Dabei stellte der vorrangig vom Protestantenverein repräsentierte angebliche „Parteifanatismus“ der liberalen Theologie ein Feindbild dar.78 Das war einer Aversion gegen Begriffe wie „Rationalismus“ oder „Liberalismus“ geschuldet, die bei „allen kirchlichen Kindern ein rotes Tuch“ darstellten, wie der Heraus geber der Berliner liberaltheologischen Kirchenzeitung Der Protestant gegen über Bonus zusammenfasste.79 Bereits in seinen ersten Veröffentlichungen äu ßerte sich Bonus am Beispiel des Bremer Protestantenvereins distanzierend über die liberale Theologie, die in seinen Augen „gar nichts Eigentümliches, gar keine positive Kraft der Seele“ mehr besaß, sondern auf sittliche Verhaltensvor
72
M artin R ade: Wer sind ‚wir‘?, in: CW 7 (1893), 16–20, 17. Vertrauliches Rundschreiben vom August 1886, in: Vierzig Jahre Christliche Welt, 12–15, 12; vgl. ders.: Unkonfessionalistisches Luthertum. Erinnerung an die Luther freude in der Ritschlschen Theologie, in: ZThK 18 (1937), 131–151; vgl. auch die sehr inst ruktive Selbstdarstellung der Anliegen der Zeitschrift von Otto Baumgarten: Die Christli che Welt, in: ZPT 21 (1899), 245–276, 247 f. 74 Friedrich Loofs: Lutherisch, in: CW 1 (1886), 2 f. 75 Vgl. Bonus: Schwalb, in: CW 5 (1891), 746–750, 749. 76 Ders.: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24, 18. 77 Ebd., 19. 78 Ders.: Schwalb, in: CW 5 (1891), 746–750, 749. 79 Briefkarte W. Staerk an Bonus, Halensee bei Berlin 30.10.1897 [ebd., 13_007]; Bonus gehörte zu den Autoren der Zeitschrift. 73 ders.:
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gaben und Wissenschaftsgläubigkeit hinauslief.80 Er vermisste am Liberalismus den „starken männlichen Glauben Luthers“, der in der Lage war, „Welt, Natur und Kultur, zu meistern“.81 Diese Kritik am angeblichen Seligkeitschristentum des Protestantenvereins wurde in seinem Umfeld geteilt. So pflichtete ihm etwa der Theologe und spätere Kunsthistoriker Paul Schubring bei, dass das liberale Christentumsverständnis für „Philister“ ausreiche, „die einfach durch Besser werden selig werden“.82 Die liberale Theologie wurde aufgrund ihrer ethischen und rationalistischen Akzente angesichts der Komplexität des modernen Be wusstseins als zu seicht und theoretisch abgelehnt. Eine kulturelle Durchprägung der Gegenwart war allerdings vom konserva tiven Protestantismus ebenso wenig zu erwarten, der sich für Bonus in einen Gegensatz zu der sozialen und politischen Aufbruchsstimmung gestellt und gegenüber dem Fortschrittsbewusstsein der 1890er Jahre als retardierendes Moment erwiesen hatte: Unsere Zeit ist eine Zeit geschlossener aufstrebender Kraft. Wir mögen sehen, wohin wir wollen: auf allen Gebieten sucht sich ein Neues zu gestalten. In Kunst und Wissenschaft, im Staatsleben und im Schulwesen, in allen wirtschaftlichen Verhältnissen, überall ringen neue Gedanken um Verwirklichung, um Dasein. Ja, unsere Zeit ist eine durchaus männliche Zeit!83
Wie im Liberalismus ließ sich der gestalterische, als maskulin konnotierte Zug der Zeit in der gegenwärtigen, konservativen Kirche nicht auffinden, die er als schwächlich abtat: „was thut sie? Sie sammelt Weiber und Kinder um sich und – weint!“84 Der kirchliche Protestantismus verfehlte den sich allenthalben zeigenden Fortschrittsgeist, indem er sich in den Schutzraum konservativ-poli tischer Wertstellungen zurückzog. Mit der Christlichen Welt war in Bonus’ Augen das Gegenprogramm einer modernen Theologie verbunden, das sich auf eine Neugestaltung der protestan tischen theologischen Denkweise auf der Grundlage von individueller Glau bensreflektion, historischer Kritik und sozialer Wirksamkeit zuspitzte und für das die Namen „Ritschl, Wellhausen, Harnack“ als Chiffre standen.85 Der von 80
Ebd., 748.
81 Ebd.
82 Brief
P. Schubring an Bonus, 26.8.1894 [ebd., 06_001]; zu Schubring als wichtigem Popularisierer kunsttheoretischer und ästhetischer Auffassung in der Christlichen Welt vgl. M atthias Wolfes: Art. Schubring, Paul Wilhelm Julius, in: BBKL 17 (2000), 1247–1251. 83 Bonus: Jesaja 42,1–8, in: CW 6 (1892), 637–639, 637. Der Passus ist auch übernommen in: Mitten im Leben des Christus, in: Zwischen den Zeilen, Heilbronn 1895, 141. 84 Ebd. Der Gegensatz von männlichem Christentum und verweichlichter Kirche wurde konstitutiv für seine Kirchenkritik. 85 Ders.: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24, 17. Als ein „rechtes Blatt für
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Bonus als „letzter großer evangelischer Kirchenvater“ nach Kant und Schleier macher verehrte Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl stellte zumindest in der Anfangsphase der Christlichen Welt für die Mehrzahl ihrer Autoren einen wichtigen Orientierungspunkt dar.86 Der bis zu seinem Tod 1889 in Göttingen lehrende Theologe hatte einen dogmatischen Entwurf vorgelegt, der unter den Vorzeichen der Industrialisierung und der Moderne entstanden war und im Lichte der Reichsgründung die lutherische Tradition zur Grundlage der moder nen Kultur erklärte, damit aber auch die hegemonialen Ansprüche einer bürger lich-protestantischen Leitkultur gegenüber dem Katholizismus und der Sozial demokratie festigte. Ritschl hatte eine Verbindung zwischen der „menschlichen Culturbewegung“ und dem Reich Gottes hergestellt.87 Der universale Anspruch des Gottesreichs konkretisierte sich im individuellen Handeln und der „Lebens führung“, insofern „jeder Einzelne sittlich handelt, indem er das allgemeine Gesetz in seinem besonderen Beruf erfüllt“.88 Für Ritschl bedeutete Kultur „die die Gebildeten“ bezeichnete er sie 1891 in einem Brief an seine Französischlehrerin (Brief Bonus an Doris de Charles, 6. Juli 1891 [ebd., 05_009]). Ganz ähnlich gab Wilhelm Bornemann die Ausrichtung der „Gründerväter“ der Zeit schrift wieder. Die Studienfreunde, die die Christliche Welt begründeten, gingen „alle von kirchengeschichtlichen Studien aus, waren aber alle auch vollauf systematisch, praktisch und biblisch interessiert. Wir alle hatten uns um Harnack geschart und waren unmittelbar oder mittelbar von Albrecht Ritschl aufs Stärkste beeinflußt“ (Die Ursprünge der ‚Christlichen Welt‘, in: Hermann Mulert (Hg.): Vierzig Jahre „Christliche Welt“, Gotha 1927, 4 ff., 8). Tatsächlich stand Ritschl als spiritus rector und geistiger Anreger hinter dem Projekt, war daran aber aktiv nicht beteiligt und bestimmte nicht exklusiv die Ausrichtung des Blattes. Auch Adolf Harnack hielt sich in den Anfangsjahren der Zeitschrift im Hintergrund. Ent sprechend fuhr Bornemann in seiner Schilderung fort: „Aber bei der Gründung der ‚Christ lichen Welt‘ war Harnack nur hier und da mit seinem Rat beteiligt, und Ritschl wurde gewis sermaßen vor die vollendete Tatsache gestellt, war zunächst sogar nicht ganz ohne Vorbehalt und Bedenken.“ Ähnlich auch M artin R ade: Art. Christliche Welt und Freunde der Christ lichen Welt, in: RGG1 1 (1909), 1703 f. Der von Bonus erwähnte Exeget und Orientalist Julius Wellhausen wurde von ihm als Hinweis auf die hohe Bedeutung der historisch-kritischen Zugangsweise zur biblischen Überlieferung genannt, spielte aber für die Organisation der Christlichen Welt und in Bonus’ Werk keine zentrale Rolle. 86 So in einem unveröffentlichten Manuskript „Zur Idee des Gebets“ [ebd., 03_011]. Zu Ritschl s. Friedrich Wilhelm Graf/K laus Tanner: Das religiöse Fundament der Kultur. Zur Geschichte der neueren protestantischen Kulturdebatte, in: R ichard Ziegert (Hg.): Protestan tismus als Kultur, Bielefeld 1991, 7–66, 29; M anuel Zelger: Modernisierte Gemeindetheolo gie. Albrecht Ritschl (1822–1889), in: Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Gütersloh 1992, 182–204; Rolf Schäfer: Ritschl – Grundlagen eines fast verschollenen dog matischen Systems, Tübingen 1968; Hermann Timm: Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns, Gütersloh 1967. 87 Ebd., vgl. A lbrecht R itschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöh nung, Bd. 3, Bonn 1895, 576. 88 Ebd., 594.
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intellectuelle und die technische Art der Weltbeherrschung“, die zunehmend als sittliche Fortschrittsbewegung ausgebaut werden musste, ohne dass dabei die religiös begründete „gemeinschaftliche geistige und sittliche Bestimmung“ des Menschen aufgegeben werden durfte.89 In Bonus’ Zusammenfassung hatte Ritschl die protestantische Theologie „auf das praktische Gebiet gewiesen, und zwar nicht im alten Sinne auf innere Mis sion, Heidenmission, ‚christliches Vereinsleben‘ und dergleichen, sondern auf das breite, weite Gebiet der Kulturbewegung.“90 Von Ritschls Orientierung auf das Feld der Kultur ging eine neue Stimmung im „Kampf um die Wirklichkeit“ aus, die sich in ihrem Tatoptimismus und ihrem gesellschaftlichen Gestaltungs willen vom traditionellen Protestantismus abzuhob.91 Die als vom Geist Ritschls durchdrungen wahrgenommene Christliche Welt wurde dadurch zu einem Hoffnungsträger für einen modernisierten und sozial wirksamen Protestantis mus. Sie verwirklichte einen nicht-spekulativen, sondern praktischen „religiö se[n] Realismus“, der sich empirisch auf die vorfindbaren religiösen und sozia len Gegebenheiten ausrichtete und den Bonus kurzum „als moderne Theologie oder schlechtweg als Ritschlianismus“ bezeichnete.92 Entsprechend wurde Bonus vor der Jahrhundertwende von seinem Umfeld als exponierter „Wegberei ter Ritschlscher Gedanken“ wahrgenommen, wobei seine Ritschl-Interpretion als antimetaphysischer und gegenwartsbezogener Durchbruch gegen jede Form von intellektualistischer Begriffs-Theologie auf Sympathien stieß.93 Doch wie sen die hier versammelten religiösen Gegenwartsdiagnosen über die Zielsetzung Ritschls hinaus, die eine Wiederbelebung des Protestantismus in der Moderne nicht mehr nur innerhalb einer erneuerten „Kirchlichkeit“ suchten, sondern in der energischen Betätigung in den gesellschaftlichen Konflikten.94 Ritschls Bedeutung lag in der „tapferen, herben, antipietistischen Deutung“ des Evangeliums.95 Bonus folgte seiner ethischen Darstellung der Reich-Gottes- Predigt, gab ihr aber eine säkulare Wendung im Sinne eines Gestaltungsauf trags an den Protestantismus: Das Reich Gottes wurde „nicht einseitig durch religiöse Gedankenbildung“, sondern „durch die ganze Kulturbewegung ange 89 Ebd.,
578. Zur Schulbildung im Gefolge Ritschls vgl. Joachim Weinhardt: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996, 24–37. 90 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, Heilbronn 1896, 19. 91 Ebd., 20 f.; vgl. auch ders.: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 19. 92 Ders.: Der Gedanke einer göttlichen Offenbarung, in: CW 7 (1893), 942–943. 93 Brief F. Uhl an Bonus, 23.11.1892 [LKA Eisenach, NL Bonus, 04_073]; Brief Karl Kühner an Bonus, Heidelberg 23.8.1889 [ebd., 05_003]; Brief M. Stein an Bonus, Angermün de 5.1.1893 [ebd., 05_005]. 94 Brief Adolf Ranft an Bonus, Eisenberg 26.10.1890 [LKA Eisenach, NL Bonus, 05_006]. 95 Bonus [„Grm“]: Glossen zur Frage der Epochen- und Nationentheorie, in: Allgemeine Zeitung (München), Beilage (Nr. 228 v. 4.10.1904), 17–18.
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bahnt. Und die Bewegung der Kultur thatkräftig je nach Beruf dahin zu leiten, ist […] die Aufgabe.“96 Wenn Bonus sich hier als Kulturprotestant par excellence zu erkennen gibt, darf doch nicht übersehen werden, dass sich die von ihm anvisierte Durchprägung von Kultur und Protestantismus nicht wie in Ritschls Reich-Gottes-Verständnis primär als Resultat des ethischen Handelns in der Gottes- und Nächstenliebe darstellte. Vielmehr war die erwünschte Kultur synthese eine Zukunftserwartung, deren Anbahnung für die moderne Theolo gie zur Handlungsverpflichtung wurde. Zudem enthielt sie – wie noch zu zeigen ist – im Gegensatz zur Ritschlschen Theologie ein starkes affektiv-existentialis tisches Element. Das religiöse Bewusstsein des Einzelnen war für Bonus weni ger die Grundlage einer sittlichen Weltbeziehung, wie es die Ritschlianer auf fassten, als ein individuelles, stärkendes Weltgefühl, das auf Gestaltung und Durchsetzung drängte. Johannes Wendland, einer der ersten Historiker der Ritschl- Schule, nahm in Bonus folgerichtig einen Interpreten weniger von Ritschls Theologie als von dessen Religiosität wahr, die es für die moderne Kultur zu bewahren galt.97 Mit den Namen Julius Wellhausen und Adolf Harnack berief sich Bonus – sachlich unscharf – auf ein weiteres Themengebiet, das entscheidende Bedeu tung für die Christliche Welt erlangte, nämlich die Wendung zur historischen Erforschung der Geschichte von Bibel und Christentum. Für die Christliche Welt stellte der 1892 von dem Neutestamentler Johannes Weiß mitinaugurierte und sich an der Destruktion der Ritschl’schen Reich-Gottes-Lehre entzündende Aufbruch der Religionsgeschichtlichen Schule ein einschneidendes Ereignis dar.98 Vor allem von Ernst Troeltsch wurde das Problem angesprochen, wie weit sich noch normative Grundlagen für die christliche Theologie angesichts eines historistischen Wissenschaftsbegriffs und seiner relativierenden Wirkung for mulieren ließen.99 Enger an den Anregungen der Theologie Ritschls orientiert und in spannungsreicher Distanz gegenüber den Religionsgeschichtlern förder te der Kirchenhistoriker Adolf Harnack die Übertragung der Arbeitsmethoden der kritischen Geschichtswissenschaft auf die Darstellung der Theologiege schichte. Als der „persönlich lebendige Genius des Kreises“ um die Christliche 96
Ders.: Von Stöcker zu Naumann, Heilbronn 1896, 20. Wendland: Albrecht Ritschl und seine Schüler im Verhältnis zur Theologie, zur Philosophie und zur Frömmigkeit unsrer Zeit, Berlin 1899, 12. 98 Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892. Vgl. Gerd Lüdem ann: Die Religionsgeschichtliche Schule, in: Bernd Moeller (Hg.): Theologie in Göt tingen, Göttingen 1987, 325–361; forschungsgeschichtlich Berthold Lannert: Die Wieder entdeckung der neutestamentlichen Eschatologie durch Johannes Weiß, Tübingen 1989; zum Umfeld Michael Murrmann-K ahl: Die entzauberte Heilsgeschichte, Gütersloh 1992. 99 Vgl. zum Problemhorizont im Kontext der liberalen Theologie Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, 48 f. 97 Johannes
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Welt stand er für die Verbindung von theologischer Wissenschaft, einer aufge klärten Kirchlichkeit und der kritischen Begleitung der politischen und gesell schaftlichen Vorgänge des Kaiserreichs.100 Seine Kontakte zu den liberalen Ber liner Professoren- und Beamtenkreisen, seit der Jahrhundertwende auch zum Hof, machten ihn zu einer häufig beneideten Symbolfigur einer Gelehrtenpoli tik, die zwar nicht im Parteisinne in das politische Tagesgeschäft eingriff, aber deutlich auf die Meinungsbildung einzuwirken suchte, wie sich etwa in der Mit begründung des Evangelisch-sozialen Kongresses zeigte.101 Vor allem in seinem zwischen 1886 und 1888 erstmalig erschienenen und sofort hochumstrittenen Lehrbuch der Dogmengeschichte hatte er kritisch auf den vielschichtigen Ent stehungsgang der christlichen Glaubensaussagen hingewiesen. Die historische Untersuchung der Lehrentwicklung war für ihn ein Mittel der „Dogmenkritik“; sie beruhte auf der Überzeugung, dass die christliche Dogmenentwicklung nicht abgeschlossen war, zugleich aber im ursprünglichen Evangelium einen „Kern“ enthielt, der durch alle zeitbedingten Formen hindurch aufzusuchen war.102 Entsprechend schlug Harnack heftige Ablehnung in der konservativen Kirchenpresse entgegen, was Bonus mehrfach bewog, öffentlich Position gegen die an vielen Stellen „wogenschlagende Harnackhetze“ zu beziehen.103 Für Bo nus war Harnack eine inspirierende Persönlichkeit, da es ihm gelang, ausgehend von der methodisch strengen historischen Arbeit eine wertende Religionsinter pretation zu entwickeln und diese in die Gegenwartsdeutung zu überführen: „Ich verehre in Harnack einen der ganz wenigen, die mit einem immensen Wis sen einen ganz freien Umblick verbinden, und die trotzdem das Interesse für das in der Zeit Nötige nicht verlieren“, bekannte er 1908 vor den Lesern des Kunstwarts.104 Bonus attestierte Harnack „einen feurigen Willen zum Fortschritt“105, fügte aber einschränkend hinzu, dass Harnack die Fortschrittsentwicklung nur als langsames und konsequentes geschichtliches Wachstum verstehen konnte, was er nicht zuletzt mit Harnacks umgreifender Gelehrsamkeit begründete:
100 So Rade über Harnack in einem Brief an Ludwig Darmstädter vom 8.8.1921, zitiert aus: Anne Nagel: Martin Rade, Gütersloh 1996, 31. 101 Zu Harnack als Gelehrtenpolitiker vgl. Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930, Tübingen 2004; zu Harnack im Kontext der Christlichen Welt vgl. die Briefedition: Johanna Jantsch: Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin 1996. 102 M ichael Basse: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, Göttingen 2001, 123. 103 Bonus: Vom Glauben und von der Gläubigkeit, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669– 676, 669. 104 Ders.: Rundschau. Adolf Harnack, in: Kunstwart 21/4 (1907), 214–217, 216. 105 Ebd.
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Er [Harnack] sieht die menschlichen Dinge in ihrem breiten geschichtlichen Strom, er sieht alle Dinge relativ. Er sieht sie deshalb von ihren verschiedenen Seiten, er sieht zum Einerseits stets das Andererseits. Er hat vor allem ein allerlebhaftestes Gefühl für die Langsamkeit aller endgültigen Entwicklung, alles wirklich der Rede werten Fortschreitens.106
Der Kirchenhistoriker Harnack wurde in Bonus’ Augen also zu einem Theore tiker des religiösen Fortschritts im Christentum. Einflussreich wirkte sich auf ihn Harnacks Hellenisierungs-These aus, derzufolge die ursprüngliche, einfa che Jesusbotschaft in der Verarbeitung der sich bildenden Kirche zunehmend durch Kategorien der antiken Philosophie umformuliert und in das entstehende christliche Lehrgebäude umgegossen wurde.107 In seinen 1900 erschienenen Vorlesungen über das Wesen des Christentums entfaltete Harnack sein Jesusbild in einer übersichtlich gehaltenen Form, die rasch eine öffentliche Auseinandersetzung auslöste.108 Dieses Buch galt in Bonus’ theologischem Freundeskreis rasch als Pflichtlektüre, die zwar an interessierte „Laien“ gerichtet war, dabei aber den Fachdiskurs an „historischem Instinkt“ bei weitem übertreffe.109 Nach Harnacks Rekonstruktion stellten Gotteserfahrung und Weltgefühl den Kern des Christentum dar: „Harnack sagt: ‚Es kümmert sich nicht um die Dinge, sondern um die Seele des Menschen‘“, zitierte Bonus die zentrale These Harnacks in einem Rezensionartikel.110 Nach Harnack hatte Jesus eine unmittelbare, praktische und ethische Gottesbeziehung vorgelebt, die sich für das christliche Selbstverständnis in der Gegenwart erneuern ließ.111 „Er be zeichnet es näher mit den Worten ‚Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele‘“, resümierte Bonus, „und er behauptet, daß in dieser engen Zu sammenbindung der Seele und ihres Gottes sich zeigt, ‚daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die andern, daß es nichts Statutarisches und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist.‘“112 106 Ebd.
107 Vgl. Eckhard Lessing: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie, Göttingen 2000, 36–39. 108 Vgl. die Zusammenstellung der Reaktionen bei Agnes von Zahn-H arnack: Adolf von Harnack, Berlin 1936, 185 ff.; Johanna Jantsch: Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin 1996, 77–79; Thomas Hübner: Adolf von Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfragen als sachgemässer Zu gang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte, Frankfurt 1994. 109 In diesem Sinne sprachen etwa Paul Jaeger und Heinrich Weinel nachdrückliche Lese empfehlungen aus (Brief Jaeger an Bonus, 13.11.1900 [ebd., 07_015]; Brief Weinel an Bonus, Bonn 14.11.1900 [ebd.], dort die Zitate). 110 Bonus: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 767. Bonus zitiert aus A dolf H arnack: Das Wesen des Christentums, Leipzig 1900 (2. Aufl.), 74. 111 Vgl. Johann H. Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der libe ralen Theologie, Tübingen 1997, 101 f. 112 Bonus: Religion, Natur, Naturreligion, 767. Bonus zitiert aus: Wesen des Christen
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Harnack hatte damit einen Punkt berührt, der das kritische Netzwerk um Bo nus auf seiner Suche nach einer christlichen Frömmigkeit in der Moderne inten siv beschäftigte. Die historische Perspektive verwies auf die Notwendigkeit, den „Kern“ des Christentums für die Gegenwart neu zu formulieren; mit ihr stellte sich aber auch das Problem, über die kontingenten historischen Erscheinungs formen hinaus eine Standortbestimmung für die Gegenwart vorzunehmen: Wir stehen freier und frischer auf Gottes Boden als viele Generationen vor uns. Vor allem, wir haben eingesehen, daß alle heiligen Dogmen und Gebote nur Veranschaulichungen sind des einfachen Lebens, das Geist aus Gott ist. Wir benutzen alles das nun in Freiheit. Wir werfen weg, was aus einer Veranschaulichung eine Verdunklung geworden ist und wir schaf fen neue Veranschaulichungen. […] Das hat uns alle diese kritische Arbeit genützt: wir sind einfacher, einfältiger, natürlicher geworden. Wir wissen, daß es nicht darauf ankommt, frem des Leben und fremde Lebensgewohnheiten nachzumachen, sondern selbst zu leben.113
Indem die Christliche Welt sich gezielt für die Suche nach Antworten in diesen Konflikten öffnete, wurde sie für Bonus zum zentralen Selbsterfahrungsort in einer kirchlich-religiösen Umbruchssituation und bot ihm – und einigen ande ren Theologen – den Raum, eine avantgardistische Theologie des „Sturm und Drang“ zu entwickeln, die ihn rasch zum teils skeptisch, teils fasziniert beob achteten Außenseiter werden ließ.114 Hier wurde der Bedarf einer theologischen Neuorientierung diskutiert, der jedoch über traditionelle kirchliche Formen und sukzessive auch über Anliegen der Christlichen Welt hinauswies. Dem Christliche Welt-Autor Rudolf Hermes zufolge hatte sich die Amtskirche als religiöse Institution für die gegenwärtige Theologengeneration überlebt, wie er Bonus mitteilte, der seinerseits für eine langsame Umwandlung der evangelischen Landeskirche eintrat.115 Dabei wurden die Nähe zu den konservativ-bürokrati schen Eliten, die Tendenz zur Behördenbildung sowie die strenge Bekenntnis bindung beklagt. Wichtiger war aber der Eindruck, dass die protestantische Theologie in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen einen dramatischen Bedeutungsverlust erfahren hatte. Für Paul Schubring betraf das auch das idea listisch-kulturfreudige Selbstverständnis mancher „frohen Goethekinder“ der Christlichen Welt, die er zwar von den „phrasenreichen Verkleisterern“ des Li beralismus unterschieden wissen wollte. Trotzdem fehlte ihm auch in Rades tums, 40 f. Gunther Wenz: Der Kulturprotestant: Adolf von Harnack, München 2001, 47–55; vgl. auch ders.: Adolf von Harnack, in: Peter Neuner /ders. (Hg.): Theologen des 20. Jahr hunderts, Darmstadt 2002, 33–52. 113 Bonus: Zwischen den Zeilen. Noch etwas für besinnliche Leute, Heilbronn 1901, 26. 114 M artin R ade: Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196, 1196. 115 Das bringen mehrere Briefe von Hermes an Bonus im Frühjahr 1895 zum Ausdruck [LKA Eisenach, NL Bonus, 05_018]. Hermes war zu diesem Zeitpunkt als Redaktionshilfs kraft bei Martin Rade in Frankfurt tätig.
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Zeitschriftenprojekt das „Schwarzbrot“ einer kräftigen, unmittelbaren, die ge samte Existenz erfassenden Religiosität.116 Wie Bonus suchte er nach einem Christentum, das näher an den Kern der individuellen Persönlichkeit herandrin gen musste als der ethische Fortschrittsglaube der liberaltheologischen Vorläu fer. Ritschl hatte zwar eine stärkere empirische Hinwendung zur religiösen und sozialen Wirklichkeit ermöglicht, diese aber Schubring zufolge in ihrer wissen schaftlichen „Objektivität“ und rationalistischen „Herzlosigkeit“ als philoso phisches „Problem“ nur theoretisch erfasst. Es fehlte kurzum an einer Theolo gie, die seelischen „Eindruck“ hinterließ.117 Paul Jaeger brachte die gesuchte Richtung schließlich auf die Formel „frisch, fröhlich, lutherisch“.118 Bei Bonus setze sich im Kreis der Christlichen Welt – unter anderem in der Auseinandersetzung mit Harnack – bis zur Jahrhunderwende die Ansicht durch, dass die religiösen Problemstellungen der Gegenwart aus dem Christentum in seiner kirchlichen Gestalt hinauswiesen. Ihm stellte sich zunehmend die Frage, wie weit sich die nach dem von Harnack vorgedeuteten Schälungsprozess übrig bleibende Religion noch als Christentum verstehen lassen würde, wenn es von seinen lehrhaften, von Bonus als Mythos bezeichneten Schalen entkleidet war. Harnacks Wesen des Christentums nahm er als Baustein einer umfassenden reli giösen und kulturellen Umbruchssituation wahr, wie er mit Martin Rade disku tierte.119 Harnacks historische Durchdringung der Entstehungsbedingungen des Christentums schien zu belegen, dass unter den Hüllen des Uneigentlichen und Gewordenen – den Ritualen und dogmatischen Sätzen, den mit dem Christentum verbundenen Fundamentalaussagen über das Leben – eine religiöse Wirklichkeit verborgen war, die in Zukunft eine ganz andere Form benötigen würde als die, die die Kirche bieten konnte. Nicht ohne Wehmut stellte Bonus fest, dass für ihn mit der Freilegung der Jesusverkündigung als unmittelbare Religion durch Harnack eine Epoche in der Religionsentwicklung zu ihrem Ende gekommen war. An Rade schrieb er über Harnacks Wesen des Christentums: Das Testament eines schwer Reichen, in hehrem Sinne Reichen; wenn du willst eine Goethe sche Natur. Ich hatte die Empfindung wie von einem langsamen Zumachen einer Thür. Das ist nun zu Ende. Nun wollen wir etwas Neues anfangen. Als wenn ein sehr lieber Freund weggegangen und mir in der Thüre auf einmal sein volles Antlitz freundlich zu wendete; es liegt eine reife Vergangenheit darin. Aber es wird mir nichts mehr sagen. […] Es sind soviel Schalen abgestreift, daß der Kern friert. Wir brauchen, scheint es, dringend neue Schalen […] neue Anschauungen, neue Ahnungen, neue Flügel.120 116
Brief Paul Schubring an Bonus, 12.1.1895 [ebd., 06_001]. Brief Paul Schubring an Bonus, 25.9.1897 [ebd.]. 118 Brief Jaeger an Bonus, 13.11.1900 [ebd., 07_015]. 119 Brief Bonus an Martin Rade, 6.3.1901 [ebd., 03_003]. 120 Ebd. 117
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Für Rade stellte Harnacks Wesens-Schrift nur eine „Etappe“ dar: „Der Weg liegt nun hinter uns, jetzt mag man einmal zurückschauen, u.[nd] dann weiter ins Unbekannte.“121 Auch für ihn stand außer Zweifel, dass mit der Jahrhundert wende eine Neuformung der protestantischen Theologie anstand. Für Bonus war im Zuge der historischen Erfassung der Christentumsgeschichte ein Dekon struktionsprozess eingeleitet worden, an dessen Ende das Wesen der Religion entblößt dastand. Um wieder „Gottes Athem über unsre Schulter streichen zu spüren“, war das religiöse Bewusstsein gezwungen, nach neuen Hüllen zu su chen, die ihm das kirchliche Christentum in seiner überlieferten Form nicht mehr bieten konnte.122
2. Kierkegaard, Egidy, Schrempf und der Apostolikumstreit von 1892 Die krisenhafte Situation des kirchlichen Christentums in der modernen Bil dungswelt trat für Bonus bereits während der ab 1892 im Rahmen des Aposto likumstreites geführten Auseinandersetzungen augenfällig zutage. Für die mo dernistisch-theologische Aufladung des Kreises um die Christliche Welt hatten diese Streitigkeiten, die einerseits den Einfluss Harnacks als theologischer Stichwortgeber der Zeitschrift untermauerten, andererseits Rades Blatt über die kirchliche Öffentlichkeit hinaus entschieden als Organ der modernen Theologie erkennbar machten, Initialwirkung. Auf Bonus wirkten die Auseinandersetzun gen wie ein Lackmustest, bei dem die Notwendigkeit einer theologischen Neu orientierung im Protestantismus hervortrat. Betroffen davon war nicht nur der Umgang mit der Bekenntnisüberlieferung, sondern zudem die Frage nach der Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie in der Verkündigung und für das Verhältnis zwischen modernem Bewusstsein und christlichen Inhalten. Da sich die kirchlichen Behörden in den Auseinandersetzungen auf den Staat beriefen und der Streit schließlich als „Fall Harnack“ die preußische Universitätspolitik beschäftigte, erreichten die Auseinandersetzungen auch die bürgerliche Öffent lichkeit. Die theologischen Auseinandersetzungen von 1892 bildeten für Bonus den Anlass, an dem sich seine kritische Bewertung des konservativen Protestantis mus in eine Abwehrhaltung steigerte. Wie er 1911 rückblickend ausführte, hatte die Verflechtung von Kirche und Staat und das Übergewicht des Konservatis mus in Preußen dafür gesorgt, dass sich die deutsche Kultur nur noch „unter polizeilichen […] Verhältnissen“ entwickeln konnte.123 In seiner Wahrnehmung 121
Brief Rade an Bonus, 18.4.1901 [ebd.] Brief Bonus an Rade, 6.3.1901 [ebd.]. 123 Bonus: Das christliche Ideal und das deutsche Volk, in: Christentums, Jena 1911, 6–17, 8. 122
ders.:
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hatte das Vorgehen gegen Schrempf den Beginn einer Folge von kirchlichen „Fällen“ dargestellt, die mit den großen Lehrzuchtverfahren 1911/1913 gegen Carl Jatho und Gottfried Traub ihren Gipfel erreichte. An den Disziplinierungen von Pfarrern, die nicht streng den kirchlichen Bekenntnissen folgten, fand er den Beleg dafür, dass die etablierte Kirche eine weltanschauliche Beharrungs macht darstellte, die mit politischer Unterstützung den kulturellen Fortschritt verhinderte. Der Auslöser der Apostolikumstreitigkeiten von 1892 lag mit der Amtsent hebung des württembergischen Pfarrers Christoph Schrempf zunächst in einem lokal begrenzten Ereignis, das in der protestantischen Presse jedoch bald zu einem „Fall“ hochkochte, an dem sich die Diskussion um die Amtsfreiheit des einzelnen Pfarrers und die Glaubensgrundlagen eines modernen Christentums entzündete. Schrempf hatte anlässlich einer Taufe darauf verzichtet, das durch die Agende vorgeschriebene Apostolikum zu verlesen und statt dessen eine selbst gewählte Formulierung gebraucht.124 Das führte zu einem Konflikt mit der Gemeinde und schließlich zu seiner Entlassung.125 Schrempf selbst war da von überzeugt, dass seine Auffassungen keinen Abfall von der protestantischen Tradition bedeuten. Für ihn stellte die enge Bekenntnisverpflichtung einen un reformatorischen Gewissenszwang und eine Einengung der wissenschaftlichen Freiheit dar.126 Das Christentum der Gegenwart beruhte „auf einer Lehre von Christus, statt auf Christus selbst“, lautete Schrempfs Hauptvorwurf gegen den Bekenntnisstand seiner Kirche.127 Statt die individuelle Begegnung mit Jesus in 124 Vgl.
die Darstellung von M artin R ade: Die Amtsentsetzung des Pfarrers Schrempf, in: CW 6 (1892), 759–768, die auf dem von Schrempf herausgegebenen Schriftwechsel mit dem Stuttgarter Konsistorium beruht (Acten zu meiner Entlassung aus dem Württember gischen Kirchendienst, Göttingen 1892). Zu disziplinarischen „Fällen“ vor Schrempf vgl. Friedrich Wilhelm K antzenbach: Der erste Apostolikumstreit, in: ZKG 86 (1975), 86–89; H ans-M artin Barth: Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis. II. Reformations- und Neu zeit, in: TRE 3 (1978), 554–556. 125 Für eine genauere Übersicht über das Verfahrens vgl. die Darstellung bei H anna K asparick: Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis?, Bielefeld 1996, 41–43; zur Diskussion in der Christlichen Welt v. a. mit Blick auf Rade vgl. Christoph Schwöbel: Martin Rade, Gütersloh 1980, 56–67. Zu Schrempf vgl. H ans M artin Müller: Persönliches Glaubenszeugnis und das Bekenntnis der Kirche. Der ‚Fall Schrempf ‘, in: Friedrich Wilhelm Graf/ders. (Hg.): Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996, 223–238 und A. Rössler: Christoph Schrempf, Stuttgart 2010. 126 Christoph Schrempf: Acten zu meiner Entlassung aus dem Württembergischen Kir chendienst, Göttingen 1892, 47 f. 127 So stellte Schrempf seine Position in der Christlichen Welt als Reaktion auf einen an onymen Leserbrief dar. Schrempf forderte einen Frömmigkeitswandel, der „entschieden von aller und jeder Christologie zu Jesus übergehe“ (Aus der Gemeinde. Ein Notschrei einer durch Herrn Lic. th. Schrempf verwirrten Seele, in: CW 7 (1893), 295–298, Zitate 296 und
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das Zentrum der Glaubensentwicklung zu stellen, begegne der Kirchenchrist einer autoritär verstandenen Lehre. Schrempfs Position besaß pietistische An klänge und stellte eine religiöse, nicht aufklärerisch verstandene Theologie kritik dar, die in vielem mit den Gedanken seines Kronzeugen, des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, verwandt war.128 Die Christliche Welt hatte zunächst nur oberflächlich und ohne eigene Posi tionierung von dem Geschehen Notiz genommen.129 Erst als Schrempf seinen Schriftwechsel mit dem württembergischen Konsistorium veröffentlichte, wur de deutlich, dass der Konflikt ein Symptom für das ungeklärte Verhältnis von Tradition, religiösem Individualismus und historischer Theologie war.130 Nach Martin Rades Auffassung wurde durch die Auseinandersetzungen die Frage nach der „Berechtigung der modernen Theologen in der Kirche“ aufgewor fen.131 Auch Adolf Harnack trat öffentlich für die Freiheit der Theologie als Wissenschaft ein und zog sich damit erhebliche Kritik zu. Damit geriet die Christliche Welt als Ganze in die Schusslinien des protestantischen Konserva tismus, nach dessen Wahrnehmung die Zeitschrift den „Ansturm des vereinig ten Liberalismus“ gegen die protestantische Tradition anführte.132 Die Christli298, s. auch das Nachwort: Aus der Gemeinde. Ein zweites Wort, in: CW 7 (1893), 354–355 sowie M. R eischle: Die Anklage gegen Schrempf und die Theologen der Christlichen Welt, in: ebd., 369–375). Anlass des Leserbriefes war die Veröffentlichung von drei religiösen Vor trägen, die Schrempf in Stuttgart gehalten hatte (Drei religiöse Reden, Stuttgart 1893, vgl. den Bericht über einen der Vorträge: Die gegenwärtige sittliche Lage des Pfarrers, in: CW 7 (1893), 158–163). 128 Der Fall Schrempf trug wesentlich dazu bei, dass das religiöse Denken Kierkegaards in der deutschen Theologie Beachtung fand. Vgl. seinen umfänglichen Aufsatz: Sören K ierkegaards Stellung zu Bibel und Dogma, in: ZThK 1 (1891), 179–230. Vgl. zu Schrempfs Kierkegaard-Rezeption, dem er teilweise eigene Ansichten unterschob, Cora Bartels: K ierkegaard receptus I, Göttingen 2008, 32–45. 129 Ein knapper Hinweis zum kirchlichen Verfahren fand sich unter der Rubrik Verschie denes von dem Stuttgarter Pfarrer C. Sandberger: Aus Württemberg. Der Fall Schrempf, in: CW 6 (1892), 514; zudem berichtete die Chronik der Christlichen Welt. Am 4. August er schien ein kurzer Hinweis Rades auf die von Schrempf herausgegebenen Prozessakten unter der Rubrik: Bücher und Schriften (CW 6 (1892), 731). 130 M artin R ade: Die Amtsentsetzung des Pfarrers Schrempf, 763. Zur Haltung Rades vgl. Christoph Schwöbel: Martin Rade, 58–60. Rade veröffentlichte eine ausführliche Stel lungnahme als ersten Band der ‚Hefte zur Christliche Welt‘: Der rechte evangelische Glaube, Leipzig 1892. Als weitere Stellungnahmen vgl. H. Schultz, Gedanken zum Fall Schrempf, in: CW 6 (1892), 862–868; K. Köhler, Die Amtsentsetzung des Pfarrers Schrempfs vom kirchenrechtlichen Standpunkt aus betrachtet, ebd., 868–875. 131 Ebd., 765. 132 So R ades Darstellung in: Sturm auf das Apostolikum, in: CW 6 (1892), 914–916, 914; vom liberalen „Ansturm“ auf das Bekenntnis war die Rede in: Kirche Nachrichten. Wochen schau, in: AELKZ 25 (1892), 854. Hier wurde Harnack vorgeworfen, dass er „die Fundamen
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che Welt trat mit einer Erklärung hervor, in der sie die Bedeutung einer freien, wissenschaftlichen Theologie betonte. Dadurch wurde sie in der kirchlichen Öffentlichkeit nunmehr als profilierter kirchen- und theologiepolitischer Faktor wahrgenommen.133 Für Arthur Bonus gewann der Kreis um die Christliche Welt durch die Aus einandersetzung um Schrempf und Harnack ein klares Profil als Zirkel moder ner Theologen. Gleichzeitig begannen sich grundlegende Züge seiner Kritik an der Institution Kirche abzuzeichnen. Er selbst hatte sich zugunsten Harnacks in der liberalen Protestantischen Kirchenzeitung exponiert. Als Anlass dienten die am Reformationstag 1892 pompös begangenen Feierlichkeiten zum 75jährigen Bestehen des Wittenberger Seminars, an denen auch der Kaiser teilgenommen hatte und die in der konservativen Kirchenpresse genutzt wurden, um auf den Apostolikumstreit einzugehen. Dabei wurde berichtet, dass die anwesenden Pfarrer im Beisein des vor Ärger versteinerten Harnack als intuitiven Bekennt nisakt „wie von der Gewalt des heiligen Geistes getroffen, einstimmig laut das Apostolicum hergesagt“ hätten. Nun war einerseits der Ablauf des Gottes dienstes als Festanlass im Voraus minutiös geplant worden, andererseits Har nack bei den Feierlichkeiten gar nicht zugegen gewesen, so dass es offensicht lich war, dass hinter dem spontanen Bekenntnisakt eine freie Erfindung stand. Bonus spöttelte darüber, dass der konservative Berichterstatter wohl dem „leib te unseres Glaubens zerstören wolle“. Der preußische Oberkirchenrat sah sich im Herbst ge nötigt, an die Generalsuperintendenten eine Kundgebung zu richten, in der sie angewiesen wurden, auf die Bekenntnisorientierung der Pfarrer und der Kandidaten zu achten. Das kirchliche Leitungsorgan versuchte, sich vermittelnd zwischen die im Konflikt liegenden kirchlichen Richtungen zu stellen. Daher unterblieb eine Maßregelung Harnacks. Vgl. den Kommentar zum Rundschreiben von M artin R ade, Der Erlaß des preußischen Oberkirchen rats, in: CW 6 (1892), 1159–1161 sowie die briefliche Antwort: Der Erlaß des preußischen Oberkirchenrats. Zur Entgegnung, in: ebd., 1208–1209. 133 Die vorher angestrebte „Unparteilichkeit des Blattes“ war nach der Eisenacher Erklä rung nicht mehr zu bewahren (Zum Schluß des Jahrgangs, in: CW 6 (1892), 1209–1210). Vgl. H anna K asparick: Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis?, 50. Zur Debatte vgl. M artin R ade: Zur Verständigung, in: CW 6 (1892), 955–958; G. Fricke: Ein Wort zum Frieden, in: ebd., 1002–1007. Aus kirchenhistorischer Sicht berichtete Ferdinand K attenbusch in einer länge ren Artikelfolge: Aus der Geschichte des Apostolikums, in: ebd., 949–954.977–984.998– 1002.1022–1026. Auch die ersten Bänden der neu eröffnete Reihe ‚Hefte zur Christlichen Welt‘ enthielten überwiegend Stellungnahmen zum Apostolikum, vgl. M artin R ade: Der rechte evangelische Glaube, Leipzig 1892; Ferdinand K attenbusch: Zur Würdigung des Apo stolikums, Leipzig 1892; A dolf H arnack: Antwort auf die Streitschrift D. Cremers, Leipzig 1892; Wilhelm Herrmann: Worum handelt es sich in dem Streit um das Apostolikum?, Leip zig 1892; H ans H. Wendt: Die Norm des echten Christentums, Leipzig 1892; Julius K aftan: Die Verpflichtung auf das Bekenntnis in der evangelischen Kirche, Leipzig 1892; Ludwig Clasen: Wie dünket euch um Christus? Wes Sohn ist er?, Leipzig 1893. Vgl. die editorische Ankündigung der „Hefte zur Christlichen Welt“ durch Rade in: CW 6 (1892), 1089.
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haftigen – Harnack“ begegnet wäre und vermerkte, dass auf solche Weise „spontane Wirkungen des heiligen Geistes“ – darin der Jungfrauengeburt nicht unähnlich – erzeugt werden könnten.134 Das kam bei seinen Vorgesetzten im Seminar nicht gut an und festigte seinen noch vor der eigentlichen Pfarramts tätigkeit erworbenen Ruf, bei ihm handele es sich um „einen großen Verführer“.135 In Bonus’ Augen schien das kirchliche Vorgehen gegen Schrempf und Har nack auf eine wachsende Einengung des modernen Protestantismus hinzuwei sen, die sich auf das Übergewicht konservativer Theologen in den Kirchen behörden sowie die enge Anbindung der Kirche an den Staat zurückführen ließ. An seinen Wittenberger Seminarkollegen erfuhr Bonus, wie sehr sich der mo dern-theologische Hintergrund und das Bekenntnis zu Harnack als Gefährdung für die kirchliche Laufbahn auswirken konnten. Mehrfach berichtete er Martin Rade von „Chikanen“, die seinen Kommilitonen als Studenten Harnacks er wachsen waren. Die Pfarramtskandidaten wurden während der Einstellungs verfahren einer orthodoxen Gewissensprüfung unterzogen, die sie dazu zwang, die im Studium gewonnenen Erkenntnisse zu widerrufen, um sich die Anstel lungsfähigkeit und die Vermittlung auf eine Pfarrstelle zu sichern.136 Verärge rung herrschte unter den Seminaristen über eine Brandenburgische Synode, die vom Superintendenten zur „Protestversammlung mit e.[inem] Gebet um Be wahrung vor den ‚gelehrten und verkehrten Professoren‘“ umfunktioniert wor den war.137 Zudem äußerte er Befürchtungen, dass die enge Anlehnung der 134 Zitiert nach: Kirchliche Nachrichten. Spontane Wirkungen des heiligen Geistes beim Wittenberger Seminarfest, in: PKZ 39 (Nr. 47 v. 24.11.1892), 1110; vgl. auch: Kirchliche Nachrichten. Noch einmal: Die spontanen Wirkungen des heiligen Geistes beim Wittenber ger Seminarfest, in: ebd. (Nr. 51 v. 21.12.1892), 1296–1207. Vgl. auch Bonus’ Bericht: Zum Wittenberger Fest, in: CW 6 (1892), 964–967 und die Darstellung von Friedrich Loofs: Vom Wittenberger Festtage, ebd., 1059–1064. Der Herausgeber der PKZ, Julius Websky, hatte den letzten Artikel von Bonus überarbeitet und „noch überall geschärft“, teilte er Rade mit (Brief Bonus an Rade, 20.1.1893 [UB Marburg, NL Rade]; nach diesem Brief auch die Zuschreibung der Artikel an Bonus). 135 Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 4.2.1893 [UB Marburg, NL Rade]. Insgesamt hatte Bonus wohl keinen leichten Stand am Wittenberger Predigerseminar: Emil Quandt, der Rek tor des Seminars, hatte sich „gewissen ausgeprägten Individualitäten, wie z. B. Arthur Bonus […] stets ablehnend gegenüber verhalten“ (Otto Dibelius: Das Königliche Predigerseminar zu Wittenberg 1817–1917, Berlin 1918, 242). 136 Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 27.3.1893 [UB Marburg, NL Rade]. Bonus teilte Rade mit, dass ein Studienkollege für eine im Sinne Harnacks erstellte Examensarbeit die Zensur „Unevangelisch, unchristlich und daher ungenügend.“ erhalten hatte. Dabei verwies Bonus auf den „Fall Lüpke“ in der hannoverschen Landeskirche, in dem einem Kandidaten das Examen wegen scheinbar unorthodoxer Ansichten verweigert wurde, vgl.: Ein Glaubens gericht, in: CW 6 (1892), 1180–1183. 137 Brief Bonus an Rade, 6.2.1893 [ebd.].
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kirchlichen Strukturen an den Staat Repressalien gegen die modern gesinnten Pfarrer ermöglichen würde. Das Vorgehen gegen die apostolikumkritischen Theologen schien für ihn der Vorbote einer allgemeinen Beschneidung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Es zeigte zudem, dass sich die Kirchenlei tung als Behörde, nicht als religiöse Instanz verstand. Bonus kommentierte das gegenüber seinem Freund Paul Göhre: „Ich werde immer misstrauischer gegen das Staatskirchentum. Schrempf ist nicht das erste und wird nicht das letzte Opfer sein.“138 Für Preußen schienen sich diese Ängste zu bewahrheiten, nach dem auch Wilhelm II. und die Kultusbehörden auf den kirchlichen Konflikt um die Person Harnacks aufmerksam geworden waren. Ein strengerer Lehrzwang und die Stärkung der klerikalen und hierarchischen Tendenzen in der Landes kirche schienen bevorzustehen: „Wenn nur nicht der summus episcopus uns in die Bewegung hineinredet! Man spricht hier schon scherzhaft von violetten Talaren“, ließ Bonus Paul Göhre wissen.139 Für Bonus war in den „Fällen“ des Apostolikumstreites deutlich geworden, wie umstritten die Frage der Gewissensfreiheit in der Kirche geworden war. Der Christlichen Welt maß er die Aufgabe bei, das „Laviren“ zu beenden und sich in dem sich stetig ausweitenden „Broschürenstreit“ eindeutig für die Freiheit der theologischen Forschung einzusetzen.140 Das Vorbild des schwäbischen Pfarrers hatte dabei eine hohe identifikatorische Wirkung: Der Auftritt Schrempfs, den Bonus vor allem durch die Christliche Welt vermittelt wahrgenommen hatte, zeigte ihm die Notwendigkeit eines freieren Protestantismus, vor allem mit Blick auf die religiösen Bedürfnisse der Gebildeten. Darin, dass von Schrempf ein tiefgehender Dissens zwischen den kirchlichen Vorgaben und den Glau bensanschauungen der Gegenwart ans Licht befördert worden war, erblickte er die Zukunftsbedeutung der Auseinandersetzungen. Entsprechend drängte er Rade, sich deutlich in der Öffentlichkeit auf die Seite Schrempfs zu stellen.141 So hatte die Tägliche Rundschau erklärt, dass auch der „Idealismus“ der Christlichen Welt die Mehrheit der „schweigend Abgefallenen“ im Bürgertum nicht mehr in die evangelische Kirche zurückholen würde; zu groß erschien die Dis tanz gegenüber der „offiziellen Kirche“.142 An der ethischen Herausforderung 138 Briefkonzept Bonus an Göhre, undatiert (als Antwortskizze unter einen Brief Göhres vom 10.10.1892 verfasst) [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_001]. 139 Ebd. 140 Briefkonzept Bonus an Foerster (Redaktion der Christlichen Welt), undatiert [ebd., 03_002]. 141 Vgl. die Briefe Bonus an Rade, 2.5., 20.6. und 6.7.1893 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 142 Vgl. die Diskussion von Pfarrer H abermann (Zwinge am Harz): Eine Tragödie?, in: CW 7 (1893), 626–627 als Antwort auf einen Artikel von Friedrich Lange in: Tägliche Rund schau (Nr. 132 v. 14.6.1893). Dem Zusammenhang zufolge hatte Bonus in der Täglichen
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des Christentums führte hingegen aus Sicht der Christlichen Welt auch in der Gegenwart kein Weg vorbei, obwohl mitunter die „Bildung kleinster, geister füllter Lebenskreise“ als ausstrahlungsstarke Zentren zur kirchlichen Neubele bung und Pflanzzellen einer modern-bildungsbürgerlichen Frömmigkeit erwo gen wurde.143 Bonus brachte daher für Schrempfs Verhalten in der Christlichen Welt großes Verständnis auf, denn es offenbarte exemplarisch die gegenwärtige Kirchennot: „Wir müssen einem in solcher Beklemmung und Gewissensangst nach Luft ringenden Manne das Recht lassen, Aeußerungen zu thun, die unter andern Umständen rücksichtlos wären.“144 Schrempfs Auftreten besass in Bonus’ Augen eine „starke religiöse Wucht“, weil sie auf eine tiefgreifende Gärung innerhalb des Protestantismus hinwies, die auf eine inhaltliche Veränderung an der Bekenntnisüberlieferung hinauslaufen musste.145 Das herkömmliche Be kenntnis war unter den Bedingungen der Moderne kaum mehr als ein äußerer Rahmen, die wirklich existierende religiöse Bewegung im Bereich des Chris tentums im Zaume zu halten. Die religiösen Vorstellungen der Gegenwart such ten dagegen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Dass Schrempf einen Glau bensbegriff propagierte, der am religiösen Bewusstsein des Einzelnen aus gerichtet war, erschien Bonus als Schlüssel, mit dem sich der Inhalt des Christentums für die Gegenwart neu erschließen ließ. Schrempf – und neben ihm Sören Kierkegaard – gaben für Bonus den Anstoß, das Christentum nicht als verfasste, als Lehre entfaltete Religion, sondern als individuelles Geschehen zu denken.146 Rundschau zur Religiosität der Gebildeten und ihrer Rückgewinnung für den Protestantis mus aus Sicht der Christlichen Welt Stellung bezogen; ein entsprechender Artikel konnte nicht nachgewiesen werden (Brief Bonus an Rade, 6.7.1893 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]); vgl. dazu die scharfe Auseinandersetzung zwischen Bonus und Friedrich Lange zur Bewertung der Gebildeten, deren religiöses Interesse an einem modernen, subjektiven Christentum Bonus als hoch bewertet, während Lange die weitreichende Gleichgültigkeit betont (Brief Lange an Bonus, 16.6.1893 sowie ein undatiertes Anwortkonzept von Bonus [ebd., 07_005]). 143 Ebd., 627, möglicherweise im Rückgriff auf eine Formulierung Bonus’. 144 Bonus: Verschiedenes. Zur richtigen Beurteilung Schrempfs, in: CW 7 (1893), 236–237. 145 Ebd. 146 Gegenüber Martin Rade erwähnte er, dass ihn zeitweilig „Schrempf- u.[nd] Kierke gaardscher Einfluß“ stark bewegt hätten (Brief Bonus an Rade, Luckenwalde, 27.11.1893). Noch im Predigerseminar war ihm „ein prächtiges kleines Büchlein“ von Kierkegaard in die Hände gefallen, die kleine Predigtsammlung: Was wir von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel lernen können (Gotha 1891, hg. v. A lfred Puls), die er Rade zur Rezension in der Christlichen Welt empfahl (Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 27.3.1893 [beides: UB Marburg, NL Rade]). Schrempf hatte in Rades Zeitschrift seine Bewunderung für Kierkegaard in einer Artikelfolge zum Ausdruck gebracht, die Bonus kaum entgangen sein dürfte (Die christliche Liebe, in: CW 5 (1891), 611–615.635–637.663–665.684–687). Sei
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Aufschlussreich für das in diesen Erwägungen enthaltene religiöse und ge sellschaftliche Protestpotential, das sich über religiöse Streitfragen artikulierte und im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende an die Öffentlichkeit dräng te, ist ein Verweis auf die Bewegung um Moritz von Egidy, mit dessen Wirkung Bonus den Apostolikumstreit verglich.147 Die Bedeutung der Schriften und der Persönlichkeit dieses ehemaligen Oberstleutnants, der sich aufgrund religiöser Gewissensfragen von seiner militärischen Laufbahn verabschiedet und zum Reformautor gewandelt hatte, kann für die bürgerliche Reformbewegung kaum hoch genug eingeschätzt werden. Im Umfeld der Christlichen Welt wurden sei ne Äußerungen ähnlich wie Langbehns Rembrandt als Erzieher, Friedrich Lan ges Reines Deutschtum oder Schrempfs Kirchenkritik als Symptome eines an wachsenden kulturellen und religiösen Unbehagens vor der Jahrhundertwende gedeutet.148 Egidys Ruf nach einem überkonfessionellen und undogmatischen „einigen Christentum“, in dem sich religiöse und politische Motive miteinander verknüpften, hatte unter den bürgerlichen Mitgliedern der 1860er-Generation eine erhebliche Resonanz.149 Mehr noch als Langbehns Rembrandt als Erzieher lassen sich Egidys im Herbst 1890 veröffentlichte Ernste Gedanken als ein Ge nerationsbuch auffassen: Mit Skandalwert, breiter Pressediskussion, kirchli chen Synodalversammlungen und Egidys Entlassung aus dem Militärdienst waren innerhalb von Wochen 50000 Exemplare des Heftchens abgesetzt.150 Egi dys 1892 in seiner Zeitschrift Einiges Christentum an das „Vaterland“ gerichtete Anmahnung der „Notwendigkeit einer grundändernden Neugestaltung unseres ganzen Lebens“ hatte vor allem im protestantischen Bürgertum eine erhebliche ne Beschäftigung mit Kierkegaard mündete in eine Übersetzung seiner Werke ein, die im Verlag Eugen Diederichs erschien. Auf die als groß empfundene Nähe zwischen Kierkegaard und Schrempf wies in einem kurzen Artikel in der Christlichen Welt der Halberstädter Ober pfarrer Bärthold anhand einiger Zitate hin: Aus Kierkegaard zur Sache Schrempfs, in: CW 7 (1893), 293–295, 293; vgl. auch ders.: Ein Jünger Jesu (Sören Kierkegaard), in: CW 7 (1893), 318–321. 147 Bonus: Zur richtigen Beurteilung Schrempfs, in: CW 7 (1893), 236–237; vgl. Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 6.2.1893 [UB Marburg, NL Rade]. 148 Vgl. explizit R ichard Bürkner: Christentum und Deutschreligion, in: CW 7 (1893), 760–766.788–792, 792 149 Das gilt auch in biographischer Hinsicht. Johannes Müller-Elmau wies etwa in seiner in den 1930er Jahren verfaßten Autobiographie noch nachdrücklich auf den Impuls hin, den der Bekenntnischarakter von Egidys Auftreten für seine eigene Loslösung vom Pfarramt zum freiprotestantischen Publizisten und Briefseelsorger bedeutete (Johannes Müller: Erin nerungen, in: Grüne Blätter 39 (1936), 178–180). 150 Moritz von Egidy: Ernste Gedanken, Leipzig 1890. Von Langbehns als epochales Werk der wilhelminischen nationalen Kulturkritik verstandenem Buch Rembrandt als Er zieher wurden im gleichen Jahr 1890 29000 Exemplare abgesetzt, vgl. K ratzsch: Kunstwart, 34.
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Wirkung.151 Fast zeitgleich mit dem Apostolikumstreit rollte also eine zweite Welle öffentlich-religiöser Empörung durch Deutschland, auf der sich eine lockere Protestbewegung gegen die Orthodoxie formierte, welche die großen „Fälle“ des Apostolikumstreites und die Amtsenthebungsverfahren themati sierte und besonders die gesamtgesellschaftliche Dimension der aufbrechenden kirchlichen Richtungskämpfe intensiv wahrnahm.152 Gerade im freiprotestan tisch-liberalen Umfeld wurden Egidys Hinweise auf eine verbreitete „Sehn sucht, den religionslosen Vorstellungen [der Gegenwart] wieder entrissen zu werden“, als wichtiger Impuls aufgenommen.153 Liberale Fortschrittshoffnun gen und religiöser Zukunftsglaube verbanden sich mit den gesellschaftlichen Erwartungen an eine neue Zeit, gegen die die protestantische Orthodoxie als ein „Scheinchristentum“154 oder eine entwicklungshemmende „Fessel für die Her zen“ abgehoben wurde.155 Egidy beflügelte solche Erwartungen, indem er das Herannahen einer baldigen Kulturwende ankündigte: 151 Ders.: Aufruf zur Verbreitung des Gedankens ‚Einiges Christenthum‘, in: Einiges Christentum 1 (1892), 14–21, hier: 17 f. Unmittelbare kirchlich-protestantische Reaktionen hoben seine eingeschränkte Kenntnis der Fachdiskussion und der theologischen Entwicklun gen in ihrer Gesamtheit hervor, nahmen aber Egidys Kritik an der kirchlichen Sozialethik sehr wohl zur Kenntnis, vgl. G. R ietschel: Offener Brief an den Verfasser der Schrift „Erns te Gedanken“ (Herrn von Egidy), Leipzig 1890; Wilhelm Bornemann: Bittere Wahrheiten. Eine unerwartete Beleuchtung der „Ernsten Gedanken“ des Herrn Oberstlieutenant von Egi dy, Göttingen 1891. Spöttische Bemerkungen Adolf Stoeckers, der Egidys Publikationen auf einer Berliner Pastoralkonferenz als „dummes Zeug“ abtat, führten zu einer Duellaufforde rung, die Stoecker ablehnte (vgl. das Protokoll in der „Kreuzzeitung“: Neue Preußische Zei tung, Nr. 242, Abendausgabe vom 28. Mai 1891). 152 Die nachträglich an die Anwesenden versandte Teilnehmerliste einer von Egidy veran stalteten Pfingstveranstaltung in Berlin am 19./20. Mai 1891 zeigt, wie breit gefächert die Hintergründe der sich hier zusammenfindenden Interessentengruppe waren: neben freireli giösen Publizisten wie Bruno Wille fanden sich Theologiestudenten, Staatsbeamte und Jour nalisten ein; auch einige liberalprotestantische Persönlichkeiten zeigten Interesse an Egidys Vorträgen, etwa der Bremer Pfarrer Reinhold Emde, der Herausgeber des Protestantischen Kirchenzeitung Julius Websky oder der Berliner Pfarrer aus dem Umkreis der Christlichen Welt Paul Kirmß [BA Berlin, NL Moritz von Egidy, N 2060 / 231]; als Bericht über die Ver sammlung vgl.: Die von Egidy-Versammlung in Berlin nach Charakter, Verlauf und Resultat. Von einem Theilnehmer der Versammlung, Königsberg 1891. 153 Moritz von Egidy: Aufruf zur Verbreitung des Gedankens ‚Einiges Christenthum‘, in: Einiges Christenthum 1 (1892), 14–21, hier: 18. 154 So der Binauer Pfarrer Gottfried Schwarz: 60 Sätze gegen die Irrlehren der Christen heit, in: Einiges Christenthum 6 (1893), 15–26; als Flugblatt vertrieben führten diese Thesen zum Amtsenthebung von Schwarz in Baden. Schwarz betätigte sich weiter im Volkserzieher Wilhelm Schwaners und wirkte als radikaler Antiultramontanist im völkischen Lager. 155 Georg Längin: Moritz von Egidy’s Kirchliche Reformgedanken und seine theologi schen Gegner, Berlin 1891, 67; Längin war Mitglied im Protestantenverein.
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Das Geschlecht von heute ist berufen, die mit der Heilands-Erscheinung verbundenen Ver heißungen einzulösen; die Zeit ist erfüllet, das Reich Gottes kommen zu machen. Der Kul turmensch von heute ist, wenn auch noch nicht allenthalben für diese Vervollkommnung er zogen und vorbereitet, so doch ohne jeden Zweifel befähigt, dem Bewußtsein seiner höheren Bestimmung zugeführt zu werden.156
Dieses Zitat belegt, wieviel aktivistisches Fortschrittspathos sich in den Reli gionsdebatten des späten 19. Jahrhunderts ansammelte. In den Auseinander setzungen um Schrempf, Egidy und den Apostolikumstreit ging es nicht mehr nur um eine innerprotestantische Adjustierung an neue religiöse Bedürfnisse, sondern ihnen wurde eine erhebliche gesellschaftlich-reformerische Relevanz beigemessen. Für Bonus trat in ihnen eine religiöse Gestimmtheit in der bürger lichen Öffentlichkeit zutage, die den kirchlichen Protestantismus zu einer Ver änderung seiner theologischen Grundprinzipien zwang.
III. „Von Stöcker zu Naumann“: Die soziale Frage und der Transformationsbedarf des Christentums Ein weiterer Themenkreis, mit dem Arthur Bonus im Kreis um die Christliche Welt in Berührung kam und der prägende Wirkung auf ihn erlangte, war die Auseinandersetzung um die „soziale Frage“, die nach der Einschätzung zeitge nössischer Beobachter im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einem ent scheidenden gesellschaftlichen Krisenherd geworden war. Für Bonus drang hier eine brisante Problemstellung auf den Protestantismus ein, brach doch die grundsätzliche Frage auf, welche Gestaltungsfähigkeit das Christentum in sei ner überlieferten Form noch besaß und in wie weit es unter den Bedingungen einer sich rasant entfaltenden Industriegesellschaft noch als integrative Kraft dienen konnte.157 Mit dem vom Kaiser im Februar 1890 ausgerufenen „Neuen Kurs“ schien sich eine sozialpolitische Öffnung und der Weg zu deutlichen Reformschritten anzubahnen.158 Der durch das Kaiserwort initiierte Schwenk begünstigte ein 156 Moritz von Egidy: Aufruf zur Verbreitung des Gedankens ‚Einiges Christenthum‘, in: Einiges Christenthum 1 (1892), 14–21, 17 f. 157 Zum „Neuen Kurs“ und veränderten gesellschaftlichen wie politischen Konstellatio nen ab 1890 vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 2, 699–709; H ans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, 1005–1008.1086–1089. 158 Vgl. zum Kontext Rüdiger vom Bruch: Bürgerliche Sozialreform im Kaiserreich, in: ders. (Hg.): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutsch land vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, 61–179; zur protestantischen Sicht weise und ihren Herausforderungen vgl. grundlegend K laus E. Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, Berlin/New York 1973; Erkki I. Kouri: Der deutsche
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deutliches Anschwellen der sozialpolitischen Betätigung im Bürgertum, die auch den Protestantismus weiträumig erfasste und sich teilweise in einem fie berhaften Aktionismus entlud.159 Die „soziale Gestimmtheit“ der frühen 1890er Jahre reichte weit in die Gesellschaft des Kaiserreiches und insbesondere in das bildungsbürgerliche Milieu hinein.160 Grundsätzlich sah man in der Sozial reform eine unabdingbare Notwendigkeit, um durch ein Eingehen auf die For derungen der Arbeiterbewegung die nahende „Katastrophe“ einer Revolution zu verhindern, wie Wilhelm Rein in den Grenzboten warnte,161 oder, wie aus dem konservativen Protestantismus verlautete, um rechtzeitig die Konsequenz aus der Alternative von „Sozialrevolution oder Sozialreform“ zu ziehen, bevor das Kaiserreich dem Zusammenbruch entgegenging,162 oder auch, wie es anders nuanciert in der Christlichen Welt hieß, um ein Verständnis für die „akute Macht“ der Sozialdemokratie und ihre Anliegen zu gewinnen, bevor „die zwölf te Stunde“ anbrach.163 Die Geistlichen witterten „sozialpolitische Morgenluft“, als sich der Evange lische Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche mit einem Schreiben un terstützend hinter das kaiserliche Votum stellte und am 17. April 1890 eine Er klärung veröffentlichte, in der sie zu einer verstärkten sozialen Tätigkeit aufge fordert wurden. Durch diese sollte die gesellschaftliche „Verhetzung“ durch den Sozialismus begrenzt, aber auch auf die „Beseitigung der vorhandenen Kluft“ zwischen den sozialen Schichten hingearbeitet werden.164 Intensiv wurde nun am sozialen Auftrag des Protestantismus gearbeitet und die kirchliche Mitwir kung gegen die angstvoll beobachtete sozialdemokratische Agitation gefordert. Wie Bonus 1896 rückblickend in der Hilfe berichtete, erschien ihm der ab 1890 aufbrechende christlich-soziale Begeisterungssturm als eine Wende in der Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919. Zur Sozialpolitik im Bildungsbürgertum, Berlin/New York 1984; M anfred Schick: Kulturprotestantismus und soziale Frage, Tübin gen 1970. 159 Vgl. M anfred Schick: Kulturprotestantismus und soziale Frage, 77; Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, Husum 1980, 157 f. 160 Vgl. die eindrückliche Interpretation des Wendejahres 1890 bei K evin R epp: Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity, v. a. 19–29.51–57; zum „Sozialismus der Gebil deten“ vgl. die Darstellungen von Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, 157–177, grundlegend ders.: Bürgerliche Sozialreform im Kaiserreich, 99–104. 161 Wilhelm R ein: Die zukünftigen Parteien, in: Die Grenzboten 13 (1890), 2 f. 162 Julius Werner: Sozialrevolution oder Sozialreform?, Halle 1891, 8. 163 Paul Göhre: Wird die Sozialdemokratie siegen?, in: CW 5 (1891), 88–92, Zitate 89 und 92. Göhre besprach in diesem Aufsatz die pessimistische Voraussage des Breslauer Landge richtspräsidenten Leopold von Kunowski: Wird die Sozialdemokratie siegen?, Bielefeld 1891. 164 M anfred Schick: Kulturprotestantismus und soziale Frage, 77. Zu der Ansprache des preußischen EOK an die Geistlichen im Kontext anderer sozialpolitischer Stellungnahmen vgl. K laus E. Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, 81–84.
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Orientierung des Protestantismus, die ihn zudem in eine patriotische Stimmung versetzte.165 Wie zahlreiche seiner christlich-sozialen Amtskollegen erwartete er einen gesellschaftlichen Aufbruch, der die Nation als Ganze erfassen und der die notwendige Sozialreform und eine religiöse Erneuerung miteinander ver knüpfen würde. In Bonus’ Auseinandersetzung mit der christlich-sozialen Be wegung offenbarte sich eine politische Dynamik am Rande des Kulturprotes tantismus, der im Folgenden nachgegangen werden soll. Sie nahm zunächst im Bestreben um eine soziale Wirksamkeit des Protestantismus ihren Ausgangs punkt und fand nach einer Folge von Desillusionierungen und politischen Ori entierungsversuchen nach 1896 in der nationalsozialen Bewegung um Friedrich Naumann ein neues Betätigungsfeld. Bonus entfaltete seine sozialreformerischen Vorstellungen nicht systema tisch, sondern in kurzer, schlaglichtartiger Form in Zeitschriftenartikeln sowie in punktuellen, teilweise hochpolemischen Kommentaren zum aktuellen Zeit geschehen. Seine einschlägigen Beiträge in der Christlichen Welt und insbeson dere in der Hilfe lassen jedoch deutliche Eckpunkte einer zunehmenden reli giösen und politischen Zuspitzung erkennen, die sich an der sozialen Frage ent zündete und ihn schrittweise in eine auf Reform drängende Oppositionshaltung gegenüber dem konservativen Staatskirchentum und seinen gesellschaftlichen Trägern führte. Ließen diese Anliegen Bonus zunehmend in eine Randposition im kulturprotestantischen Umfeld rücken, bot ihm der Naumann-Kreis ein ideenpolitisches Auffangbecken.166 Diese Entwicklung lässt sich an Bonus’ Ver öffentlichungen, aber auch in der privaten Briefkorrespondenz mit Paul Göhre und Martin Rade verfolgen.
1. „Sozialismus des inneren Lebens“. Sozialprotestantische Aufbrüche zwischen Christlicher Welt und Naumann-Kreis a) Christlich-soziale Anfänge ab 1890 Es war damals diese Stimmung über uns ausgegossen – […] diese Stimmung, die plötzlich das Alltagsleben so unerhört interessant zu machen versprach: wir lebten unter fremden Völ kern; und in ganz naher Zeit sollte sich enthüllen, was für Kräfte, Schätze, Schicksale dort schlummerten. Die müden Leute, die mit der Flasche in der Hand zur Fabrik gingen, waren die verkleideten Hauptrollenspieler der Dramen der Zukunft. Wer sie recht kennen lernte, ihre Bedürfnisse, Wünsche, Nöten, Hoffnung, der wurde der Regisseur der Zukunft. […] 165
Bonus: Christlich-sozial, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 39 vom 27. September, 2–3, 2. Folkart Wittekind: Kulturprotestantismus und soziale Frage. Religiös-ethische Grundlagen und praktische Konsequenzen bei Heinrich Merz, Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch, in: Norbert Friedrich /Traugott Jähnichen (Hg.): Sozialer Protestantismus im Kaiserreich, 149–196. 166 Vgl.
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Vom Thron selbst waren wunderbare Worte erklungen. Mit der Entlassung Bismarcks schien die alte Heldenzeit nur deshalb abgethan, damit eine neue, überschwänglich große Zeit der inneren Reformation anbräche.167
Bonus schilderte in diesen Sätzen das Aufbruchsgefühl, das ihn mit der sozia len Erregung 1890 erfasste. Die nach den Februarerlassen verbreitete sozial reformerische Begeisterung beruhte auf dem Eindruck, ein neues, kirchliches Arbeitsgebiet und einen erweiterten Zugang zu bisher unbekannten sozialen Bevölkerungsschichten gewonnen zu haben. Die Erwartungen an eine sozial politische Wende der evangelischen Kirche waren groß: Der Kampf gegen das Arbeiterelend war eine Konsequenz, die sich wie von selbst aus der Beschäfti gung mit der biblischen Jesusgestalt ergab. Legte man den „schlichten Arbeiter roman seines Lebens“ der christlichen Frömmigkeit zugrunde, dann war der Kirche die soziale Wendung vorgeschrieben.168 Damit konnte sie eine „Forde rung des Volkslebens“ aufgreifen und ihre Bedeutung für Volk und Nation wie dergewinnen.169 Die christlich-soziale Bewegung der frühen 1890er Jahre barg das Versprechen, die auseinanderlaufenden politischen, religiösen und sozialen Interessen der Nation harmonisierend miteinander zu verbinden. Diese Erwartungen richteten sich zunächst auf den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, in dessen ambivalenter Gestalt die kirchliche Sozialarbeit eine wirksame Vorbildfigur fand.170 Stoecker trat gleichermaßen als politischer De magoge und als wortmächtiger Vertreter eines pietistischen Volkschristentums auf. Konservativ und mit antisemitischen Stereotypen geladen drängte mit Stoecker ein Flügel des christlichen Sozialismus in den politischen Raum, um den Weltanschauungskampf gegen die Mächte des Umsturzes und der Sozial demokratie zu eröffnen.171 Stoecker brachte die Entkirchlichung der städtisch- industriellen Massen zur Sprache und verlieh den unübersehbaren Defiziten der Sozialgesetzgebung Ausdruck, verband das aber mit einer kämpferischen und 167
Bonus: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24, 13. Ders.: Die andere Seite des Lebens, in: Zwischen den Zeilen, Heilbronn 1895, 113–119, 113. In dieser Formulierung spiegelt sich Friedrich Naumanns sozial gefärbtes Jesusbild wieder, wie dieser es etwa in Jesus als Volksmann, Göttingen 1894, ausgeführt hatte. Zur Ausein andersetzung mit der zeitgenössischen eschatologischen Deutung der Reich-Gottes-Predigt s. u. 169 Ders.: Von Stöcker zu Naumann, Heilbronn 1896, 28. 170 Bonus gehörte während seines Studiums zu den studentischen Verehrern Stoeckers und nahm an einem vierzehntäglichen Theologenkränzchen in Stoeckers Haus teil; vgl. dazu Bonus’ Berichte an den Studienfreund Fritz Benthien, Februar 1886 [LKA Eisenach, NL Bonus, 05_011]). Positiv vermerkt wurde die Nähe zur sozialprotestantischen Bewegung Stoeckers etwa von dem Kommilitonen Max Stein (vgl. die Briefe Stein an Bonus, Anger münde 9.3. bzw. 28.10.1890 [ebd., 08_008]). 171 Vgl. dazu die programmatischen Ausführungen in A dolf Stoecker: Reich Gottes, Kirche und Welt (III), in: DEKZ 4 (1890), 26–28. 168
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
straff antiliberalen Frontstellung. Als Gegner fixierte Stoecker einen bourgeois liberalen Kapitalismus als Macht der Auflösung und der wirtschaftlichen Aus beutung.172 Sein sozialpolitisches Programm war von der Verehrung für die Hohenzollernmonarchie durchdrungen, die er in ein volksnah-integratives So zialkönigtum umwandeln wollte, das von einem breiten Volkskonsens und kon servativ-christlichen Grundüberzeugungen getragen werden sollte. Sein auf Massenresonanz und Polarisierung ausgerichtetes Agieren brachte Stoecker in Widerspruch sowohl zum preußischen Hof als auch zu den Kirchenbehörden; sein politisches Ziel, die Arbeiterschaft der Sozialdemokratie zu entziehen, scheiterte; seine häufig unreflektierte und angriffige Bibelorthodoxie brachte ihn auf Kollisionskurs mit dem theologischen Liberalismus. Dennoch wirkte der Berliner „Volkstribun“ weit über seine engeren Kreise hinaus als christ lich-soziale Symbolfigur. Seine Anziehungskraft entsprang dem zupackenden Ruf nach volkskirchlicher Erneuerung; nicht nur der Einzelne, sondern das Volk als Ganzes sollte dem Evangelium wieder zugeführt werden. Sie resultier te zudem daraus, dass sich mit Stoecker die kirchliche Sozialpredigt nicht mehr innerlich-moralisierend aufstellte, sondern gezielt auf die neuen Formen von Massenpolitik, Parteibildung und Wahlkampf einließ und die christlich-missio narischen Anliegen wirksam in die Öffentlichkeit warf. Von Stoecker beeindruckt war bei Bonus „das praktische Interesse“ an der sozialen Frage geweckt worden.173 Seine christlich-sozialen Anfänge waren von Stoecker geprägt, dessen Ansatz er für unverzichtbar hielt. Als erster hatte die ser die notwendigen Konsequenzen aus den sozialen Spannungen gezogen und damit begonnen, das Volk für die Sache der Kirche zurückzugewinnen.174 Bonus war beeindruckt von der Idee einer religiös-sozialen Massenbewegung, 172 Zu
Stoecker vgl. Günther Brakelmann: Adolf Stoecker und die Sozialdemokratie. Gründung der Christlich-sozialen Arbeiterpartei, in: ders./M artin Greschat/Werner Jochmann (Hg.): Protestantismus und Politik, Hamburg 1982, 113–116; Uwe P uschner: Art. Stoe cker, Adolf, in: BBKL 10 (1995), 1507–1511; Günther Brakelmann: Art. Stoecker, Adolf, in: RGG4 10 (1998), 194–195; Grit Koch: Adolf Stoecker 1835–1909. Ein Leben zwischen Politik und Kirche, Erlangen/Jena 1993; zur kirchenpolitischen Wirksamkeit M artin Greschat: Die Entstehung der Berliner Stadtmission (1874–1877), in: JBBK 50 (1977), 45–78; mit interes santem Ansatz Michael Imhof: Einen besseren als Stöcker finden wir nicht: Diskursanaly tische Studien zur christlich-sozialen Agitation im deutschen Kaiserreich, Oldenburg 1996. Biographisch immer noch grundlegend: Walter Frank: Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Berlin 1928. 173 Vgl. seinen Brief an Martin Rade, Luckenwalde, 5.12.1893 [UB Marburg, NL Rade]. Die Wittenberger Seminaristen waren traditionell an der Arbeit der Inneren Mission betei ligt, vgl. dazu die Schilderung von Otto Dibelius, der nach 1903 selbst im Wittenberger Jünglingsverein mitwirkte (Das Königliche Predigerseminar zu Wittenberg 1817–1917, Ber lin 1918, 287–298). 174 Bonus: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24, 14.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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doch zeichnete sich rasch ab, dass der von Stoecker eingeschlagene Weg in seiner Verbindung von christlichem und politischem Konservatismus nicht zu einem Abbau der sozialen Konflikte führen würde. Während seiner Zeit im Wittenberger Predigerseminar widmete er sich der kirchlichen Sozialarbeit, indem er an der Leitung des dortigen evangelischen Jünglingsvereins mitwirkte. Bewegten sich diese zumeist im kirchlich-konser vativen Radius der Inneren Mission, änderte Bonus im sozialen Aufwind ab 1890 diese Prägung.175 Der Wittenberger Jünglingsverein erhielt als „Lehrlingsverein“ eine sozialpolitische Ausrichtung und versuchte, sich mit Stoßrichtung gegen die Sozialdemokratie zu einer Bildungsvereinigung umzuwandeln.176 Bonus ließ sich von der Vereinstätigkeit so sehr in Anspruch nehmen, dass seine Lizentia tenarbeit darunter litt. Unter seiner Mitwirkung wurde der Jünglingsverein zum Wittenberger „Stadtgespräch“, wie er nicht ohne Stolz an Rade schrieb.177 An die Seite der praktischen Gemeindetätigkeit trat eine vertiefende, theo retische Beschäftigung mit nationalökonomischen Fragen. Im Wittenberger Seminar gehörte Bonus einem „Sozialistenkränzchen“ an, das sich mit volks wirtschaftlichen Studien beschäftigte.178 Als Leser der Christlichen Welt lag es nahe, dass Bonus den Weg zum Evangelisch-sozialen Kongreß fand, in dessen Teilnehmerlisten er zwischen 1890 und 1894 verzeichnet war und an dessen erstem Schulungsprogramm für sozialpolitisch interessierte Studenten er 1893 teilnahm.179 Der Evangelisch-soziale Kongreß war im kirchlich-sozialen Auf 175 Ebd., 287 f. In der Christlichen Welt wurde über den pietistischen Charakter der Jüng lingsvereine geklagt, in denen im Vergleich zu sozialdemokratischen Jugendorganisationen Langweile vorherrschte. Dagegen wurde die Forderung aufgestellt, die „Jünglingsvereine soll ten ihren Mitgliedern zur Gewinnung einer eignen Weltanschauung helfen“ (vgl. die Diskus sion zwischen Rudolf Hermes: Der Evangelische Jünglingsverein, und Paul Wurster: Neue Wege in der Jünglingsarbeit?, in CW 11 (1897), 781–785 und 875–877, Zitat 784.). Als zeitge nössisches Handbuch, das die Loslösung von den Arbeitervereinen und ein eigenständiges Frömmigkeitsprofil nach amerikanischem Vorbild in den „Christlichen Vereinen junger Män ner“ anstrebte, vgl. K arl K rummacher: Die evangelischen Jünglingsvereine, Elberfeld 1895. 176 Vgl. die Darstellung bei Otto Dibelius: Das königliche Predigerseminar, 288–291. 177 Briefe Bonus an Rade, Wittenberg, 30.1.1893 und 4.2.1893 [UB Marburg, NL Rade]. 178 Vgl. den im Briefwechsel mit Paul Göhre erhaltenen Konzeptzettel, überschrieben mit: „An die Mitglieder des Sozialistenkränzchens“ [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011]. 179 Die Teilnehmerlisten sind im Archiv des Evangelisch-sozialen Kongresses im Pfarr amt der Versöhnungskirchengemeinde, Leipzig-Gohlis aufbewahrt. Ich bedanke mich bei Frau Gerlinde Katzfuß für ihre Recherche im Archiv (schriftliche Mitteilung vom 13. August 2010). Die Teilnahme am Kursus erwähnte Bonus in zwei Briefen aus Luckenwalde an Rade vom 23.11.1893 und vom 27.11.1893, in denen er sich allerdings nicht über die Kursinhalte äußerte ([Universitätsarchiv Marburg, NL Rade]). Vielmehr suchte Bonus bei Rade um Rat in Liebesnöten: Da er noch ohne feste Anstellung war, kam eine Heirat mit Beate Jeep, in die er sehr verliebt war, noch nicht in Frage. Beate Jeep hatte auch an dem Kursus teilgenommen.
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bruchsjahr 1890 gegründet worden und sollte die Basis für das kirchliche So zialhandeln verbreitern, doch erhielt er bald eine wissenschaftliche Prägung, die den Kongreß aus dem gesellschafts- und kirchenpolitischen Fahrwasser des konservativen Pastorensozialismus heraushob und ihn zu einem Sprachrohr der kulturprotestantischen Gesellschaftsideen werden ließ. Das war zum einen den engen Querverbindungen zu vergleichbaren bildungsbürgerlichen Institutionen wie dem „Verein für Socialpolitik“ zu verdanken, zum anderen dem hochquali fizierten, nationalökonomischen Kurswesen, durch das nachhaltiger Einfluss auf die Theologiestudenten und die Geistlichen ausgeübt wurde, die hier ein erweitertes praktisch-theologisches Instrumentarium erwarben.180 Zunehmend rückte der Kongress von seiner christlich-konservativen Rahmengebung ab. Wie Wilhelm Kulemann, zeitweilig Vorsitzender des „Freien Evangelischen Zentralausschusses“, in einem Rückblick von 1911 notierte, stand auf den jähr Außerdem ist auch sie als „Fräulein Bonus“ auf der Teilnehmerliste des Kongresses im glei chen Jahr verzeichnet. Zum Evangelisch-sozialen Kongreß und seiner Arbeit sowie den konservativen Abspal tungen vgl. Gottfried K retschmar, Der evangelisch-soziale Kongreß, Stuttgart 1972; H arry Liebersohn, Religion and Industrial Society. The Protestant Social Congress in Wilhelmine Germany, Philadelphia 1986; Volker Drehsen: Evangelischer Glaube, brüderliche Wohlfahrt und wahre Bildung. Der Evangelisch-soziale Kongreß als sozialethisches und praktisch-theo logisches Forum des Kulturprotestantismus im Wilhelminischen Kaiserreich (1890–1914), in: H ans M artin Müller (Hg.): Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 190–229; Wilhelm H. Neusner: Das soziale Experiment des Kaisers und der Kirche. Der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2, Leipzig 1994, 307–318. Bonus’ evangelisch-soziale Ausrichtung wurde von seinen Zeitgenossen wahrgenommen, so erhielt er von Wilhelm Schneemelcher, ab 1904 Generalsekretär des Evangelisch-sozialen Kongresses, die Aufforderung, sich doch wieder mehr für die gemeinsamen sozialen Interes sen einzubringen (Brief Schneemelcher an Bonus, 13.11.1904 [LKA Eisenach, NL Bonus, 08_002]). 180 Der Erfolg der evangelisch-sozialen Kurse war die konsequente Aufnahme aktueller volks- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien zurückzuführen. Der erste Kursus in Berlin 1893 wurde von 500 Teilnehmern besucht, von denen die Theologen mit 350 Anmeldungen die Mehrzahl bildeten, gefolgt von Juristen und Verwaltungsbeamten. Ein 1895 gemeinsam mit dem Verein für Sozialpolitik veranstalteter Kurs konnte fast 800 Per sonen anziehen. Vgl. die Berichte von Paul Göhre: Unser bevorstehender nationalökono mischer Kurs, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses 2 (1893) Nr. 7, 1–3; H. Kötzschke: Der erste evangelisch-soziale Kursus, in: Deutsche Wochenschrift 6 (1893), 545–546; M ax Weber: Der evangelisch-soziale Kursus in Berlin im Herbst dieses Jahres, in: CW 8 (1893), 766–768 sowie die Angaben zur Beteiligung bei Rüdiger vom Bruch: Wissen schaft, Politik und öffentliche Meinung, Husum 1980, 265; Erkki I. Kouri: Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919, Berlin/New York 1984, 124 f. Eine Über sicht über die verhandelten Themen findet sich bei Gottfried K retschmar: Der evangelisch- soziale Kongreß, 118 ff.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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lichen Tagungen des Kongresses vorrangig die soziale Frage als Kultur- und Politikproblem auf dem Programm, wie sie sich aus der Spannung zwischen den Forderungen des Evangeliums und den Wirkungen der Moderne ergab.181 Bonus begann, wie einige weitere jüngere Theologen aus dem Umfeld der Christlichen Welt, nach einem nicht konservativ besetzten christlichen Sozialis mus zu suchen. Einen ideenpolitischen Anhaltspunkt fand diese Suchbewegung im publizistischen Umfeld um das „Dioskurenpaar“ Friedrich Naumann und Paul Göhre. Diese später als die „jüngeren“ Christlich-Sozialen bezeichnete Theologengruppe formierte sich als ein lockerer Interessen- und Freundeskreis, der ab 1890 in den Vorarbeiten zur Gründung eines „Gesamtverbandes der Evangelischen Arbeitervereine“ erste Konturen annahm.182 Rückhalt fand die Gruppe zudem in der Christlichen Welt, die sich als publizistisches Forum an bot, sowie als „intime soziale Konferenz“ am Rande des Evangelisch-sozialen Kongresses, dessen Tagungen ein privates Treffen der Ideengemeinschaft au ßerhalb des offiziellen Programms ermöglichten.183 Auch das Frankfurter Pfarr haus Martin Rades bildete eine publizistische und intellektuelle Schaltzentrale, wo ein Umfeld des regen Ideenaustauschs entstand, in dem zwischen 1892 und 1895 zahlreiche Akademiker und junge Geistliche mit einer Atmosphäre des sozialen Aufbruchs in Berührung kamen.184 Rade hatte Naumann 1887 gebeten, den Themenbereich „Innere Mission“ in der Christlichen Welt zu übernehmen. 181
Wilhelm Kulemann: Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, 167. 182 M artin Wenck: Die Entwicklung der jüngeren Christlichsozialen, in: Patria 1 (1901), 34–67, 44. Vgl. auch ders.: Die Geschichte der Nationalsozialen, Berlin-Schöneberg 1905, 12 (ein erneuter Abdruck des Artikels). Biographische Beispiele für die „jüngeren“ Theologen bei Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 63–74 unter der Überschrift „Politische Pastoren“. Die Bezeichnung ging wohl auf Stoecker zurück, der Friedrich Naumann gegenüber zwi schen einer Gruppe der „Alten“ und den „Jungen“ unterschied, vgl. Dietrich von Oertzen: Von Wichern bis Posadowsky, Hamburg 1909, 122. Vgl. zu den „Jüngeren“ als sozialrefor merische Gruppe Inho Na: Sozialreform oder Revolution. Sozialpolitische Zukunftsvorstel lungen im Naumann-Kreis 1890–1903/04, Marburg 2003; M artin Wenck: Die Entwicklung der jüngeren Christlichsozialen. 183 Vgl. die Einladung, die Paul Göhre über Rade vermitteln ließ: Postkarte Rade an Bonus, Sasbachwalden/Schwarzwald 25.8.1894 [ebd., 03_002]. 184 Das Pfarrhaus der Frankfurter Paulskirchengemeinde war der Begegnungsort einer ganzen Reihe junger, sozialpolitisch ausgerichteter Theologen, die sich in den Reihen der Hilfe, des Evangelisch-sozialen Kongresses und der Christlichen Welt wiederfanden. Hier lernten sich Max Weber und Friedrich Naumann kennen, als Gäste kamen Paul Göhre, Hell mut von Gerlach, Christoph Schrempf, Adolf Jülicher, Gustav Krüger und Rudolf Sohm, Erich Foerster und Paul Jaeger waren als Redaktionsmitarbeiter der Christlichen Welt anwesend (vgl. die Erinnerungen Paul Jaegers: Frankfurt 1893, in: CW 51 (1937), 302–305 sowie seine Autobiographie, Am geheimen Webstuhl Gottes, Bd. 2, Stuttgart 1938, 30–63; zum Frankfur
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Dieser profilierte sich schrittweise gegenüber den konservativen Christlich- Sozialen und den älteren Vorstellungen Stoeckers durch eine stärker sozialrefor merische und -politische Ausrichtung sowie durch eine freiere Stellung gegen über der modernen Theologie als eine eigenständige Formation.185 Martin Rade fasste den aufbrechenden Gegensatz 1892 in der Christlichen Welt programma tisch als ein klares „Entweder-Oder“ für die evangelische Kirche auf, die sich entweder im Bündnis von „Thron und Altar“ auf die konservative Seite stellen oder eine sozialreformerische Öffnung mitvorbereiten konnte.186 Die zu Anfang der 1890er Jahre noch lose Gruppierung sah ihre Aufgabe nicht in der bloßen Abwehr der Arbeiterbewegung und in der missionierenden Rückführung des Sozialismus in den wilhelminischen Staat, sondern in der weltanschaulichen Auseinandersetzung mit den sozialdemokratischen Thesen, ohne dabei die Be rechtigung der von den Arbeitern vertretenen politischen Anliegen in Abrede zu stellen. Dem konservativen Sozialprotestantismus entstand ein „streitbarer […] Nachfolger“, wie Bonus meinte.187 Die Distanzierung gegenüber Stoecker brach an dessen beharrender politi scher Grundhaltung, der Beurteilung der Sozialdemokratie sowie seinem anti semitisch geprägten Antikapitalismus auf. Wie wenige andere verkörperte Friedrich Naumann diesen Ablösungsprozess, vor allem, nachdem er 1890 eine Anstellung als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission in Frankfurt angetreten hatte.188 Bereits hier sammelte Naumann Anhänger und Verehrer in einer beein druckten Personalgemeinde um sich.189. Für Naumann, der zunehmend eigen ständige Maximen für eine christliche Sozialpolitik zu formulieren und die Zentralstellung Stoeckers aufzuweichen begann, stellten die anwachsenden „Sozialdemokratenmassen“ einen ernstzunehmenden Bevölkerungsteil dar.190 ter Umfeld auch Anne C. Nagel: Martin Rade, Gütersloh 1996, 51–68). Über Göhre und Rade vermittelt nahm Bonus korrespondierend an der Aufbruchsstimmung dieses Kreises teil. 185 Theodor H euss: Friedrich Naumann, 76; vgl. Dieter Düding: Der Nationalsoziale Ver ein; M artin Wenck: Die Geschichte der Nationalsozialen. Von 1895 bis 1903, Berlin-Schöne berg 1905, 46.37. 186 M artin R ade: Nach fünf Jahren, in: CW 6 (1892), 2–6, 4. 187 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, Heilbronn 1896, 16. 188 Zu Naumann vgl. Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/ New York 2000; Peter Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983; Frank Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialismus, Bonn 2012, 317–424. Biographisch: Theodor Heuss: Friedrich Naumann, München 1937; zu Naumanns religiöser Entwicklung: H artmut K ramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wir kungsgeschichte von Friedrich Naumanns „Briefen über Religion“, Neukirchen-Vluyn 1997. 189 Theodor H euss: Naumann, 76. 190 Friedrich Naumann: Was thun wir gegen die glaubenslose Sozialdemokratie? (Leipzig 1889), in: Werke, Bd. 1: Religiöse Schriften, Köln 1964, 112–141.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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Im Gegensatz zu Stoecker forderte er eine respektvolle Auseinandersetzung mit der „Geistesmacht“ der Arbeiterbewegung, deren inhaltliche Berechtigung er nicht abstreiten wollte. Es waren nicht bloß „niedrige Begierde“, wie die konser vativ-kirchlichen Kreise behaupteten, sondern ethische Werte und ein aufwärts strebender Veränderungswillen sowie, vor allen Dingen, die konkrete mensch liche Not, die ihren Erfolg begründeten. Damit wandte er sich gegen die ab wehrende und häufig einseitige Haltung der Kirche, von der er forderte, die gesellschaftlichen Zukunftserwartungen der Arbeiterbewegung aufzugreifen. Zwar sei die als glaubenslos aufgefasste, materialistische Grundhaltung der So zialdemokratie aus dem christlichen Glauben heraus zu bekämpfen, die von ihr „vorgeschlagenen sozialpolitischen Veränderungen“ ließen sich jedoch durch aus mit dem Christentum verbinden.191 Die evangelische Kirche hatte sich vor behaltlos hinter die sozialen Forderungen der Arbeiter zu stellen, die in ihrem Streben nach „Harmonie und Verbrüderung“ dem Christentum entsprachen.192 Christliche Nächstenliebe und Sozialismus wurden für Naumann zu einem un trennbaren „Geschwisterpaar“.193 Auf dieser Linie lag seine 1893 auf dem vier ten Evangelisch-sozialen Kongreß in Stuttgart geäußerte und vielfach mit Ent rüstung entgegengenommene Bemerkung, dass die Sozialdemokratie „die erste große evangelische Häresie“ darstellte.194 Es ging also um eine grundlegende Erneuerung der kirchlichen Position gegenüber der Arbeiterbewegung, die Naumann in einen christlich begründeten, „wahren Sozialismus“ überführen wollte.195 Die revolutionären Züge der Arbeiterbewegung blieben dabei außen vor, vielmehr wurde ihnen eine gesetzliche und ethische Weiterentwicklung der Gesellschaft entgegen gestellt: „Unsere Losung ist: Nicht Umsturz, sondern Re paratur der jetzigen Verhältnisse!“196 Für Martin Rade war Naumanns christ lich-soziales Programm bahnbrechend, wenn er betonte, „daß dies der Geist ist, in dem die Christliche Welt an den sozialen Aufgaben mit arbeiten möchte, der Geist, von dem der Kongreß erfüllt sein muß, wenn er Gesellschaft und Kirche ein Stück vorwärts bringen soll.“197 191
Ebd., 128. Ders.: Das soziale Programm der evangelischen Kirche (Erlangen/Leipzig 1891), in: Werke, Bd. 1: Religiöse Schriften, Köln 1964, 180. 193 Theodor H euss: Friedrich Naumann, 86. 194 Bericht über die Verhandlungen des 4. Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1893, 36 f. 195 Vgl. Friedrich Naumann: Christlich-Sozial, in: ders.: Was heißt Christlich-Sozial?, Leipzig 1894, Bd. 1, 1–29; Inho Na: Sozialreform oder Revolution, 104–109. 196 Naumann: Arbeiter-Katechismus oder der wahre Sozialismus seinen arbeitenden Brü dern dargelegt (Calw 1889), in: Werke, Bd. 5: Schriften zur Tagespolitik, Köln 1964, 10. 197 M artin R ade: Vom vierten Evangelisch-sozialen Kongreß, in: CW 7 (1893), 565– 566.597–600.620–626, 624. 192
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Für Bonus war es zudem die Begegnung mit dem gleichaltrigen Theologen Paul Göhre, die ihn im Zugang zu dieser Ideenwelt bestärkte; zu Göhre ent wickelte sich eine enge, wenn auch nicht reibungsfreie Freundschaft, die über den Ersten Weltkrieg andauerte.198 Göhre hatte zwischen 1888 und 1890 als Hilfsredakteur der Christlichen Welt eng mit Martin Rade zusammengearbei tet.199 In diesem Umfeld lernte er die soziale Lage der Industriearbeiter kennen und erfuhr, wie sehr die soziale Not deren Religiosität prägte.200 Durch ein im Herbst 1890 unternommenes soziales Experiment erwarb sich Göhre einen ge wissen Bekanntheitsgrad. So zählte er in Rades Augen zu den umtriebigsten „Agents provocateurs der christlichen Liebe“:201 Göhre hatte drei Monate als Fabrikarbeiter verbracht, um genauere Kenntnisse über die Lebenswelten der Industriearbeiter zu sammeln, ihnen aber auch das Evangelium nahezubrin gen.202 Sein Buch illustrierte die weitreichende Distanz der Arbeiter zum Kir
198 Die aus dem Eisenacher Bonus-Nachlass sowie dem Nachlass von Paul Göhre im Ar chiv der Deutschen Sozialdemokratie (Bonn) vermutlich recht geschlossen rekonstruierbare Briefkorrespondenz zeigt eine intensive freundschaftliche Vernetzung beider Familien, die über Göhres Austritt aus dem Pfarramt 1900 hinweg hielt und etwa durch die beiderseitige Übernahme von Taufpatenschaften institutionalisiert wurde. Inhaltliche Differenzen nach der Jahrhundertwende, aber auch die zeitliche Belastung Göhres als Vortragsredner locker ten zeitweilig die Verbindung. Der Faden wurde während des Ersten Weltkriegs und in der Konstituierungsphase der Weimarer Republik wieder aufgenommen, in der Bonus und Göhre – letzterer ab 1919 als Staatssekretär im preußischen Staatsministerium – das in der gemeinsamen Phase als Naumannianer entwickelte Ideal eines „Staatssozialismus“ erneut aufgriffen. 199 Zu Göhre vgl. die Charakterisierung aus Bonus’ Feder, aus der die eigene Perspektive deutlich hindurchscheint: Paul Göhre, in: Die Gesellschaft 15 (1899), 12–24; ferner als auf die literarische Auseinandersetzung Göhres mit der Sozialdemokratie zugespitzte Arbeit Joachim Brenning: Christentum und Sozialdemokratie, Augsburg 1980 sowie den älteren Artikel von Kurt-Dietrich Mrossko: Der religiöse Sozialist Paul Göhre, in: Geist und Tat 19 (1964), 173–178. Als Übersicht vgl. M atthias Wolfes: Art. Göhre, Paul, in: BBKL 16 (1999), 562–575. Aufschlussreich sind die Nachrufe: Theodor Heuss: Paul Göhre, in: Die Hilfe 34 (1928), 281–283; M artin R ade: Paul Göhre, in: CW 42 (1928), 611–614; Georg Wünsch: Die Bedeutung Paul Göhres für die Religion des Proletariats, in: Evangelisch-Sozial 33 (1928), 117–128; Johannes Herz: Paul Göhre, in: Zeitwende 5 (1929), 182–185. 200 Vgl. den Erfahrungsbericht Paul Göhre: Die Gottesauffassung der verschiedenen Volksklassen, in: Die Umschau 3 (1899), 1–5. 201 So bezeichnete M artin R ade Paul Göhre und seine Gesinnungsgenossen in ihrem Ver such, durch enge Kontakte ein genaues Bild der Arbeitersituation zu entwickeln, um sie auf dieser Grundlage für ein soziales Christentum zurückzugewinnen: Vom vierten Evange lisch-sozialen Kongreß, in: CW 7 (1893), 565–566.597–600.620–626, 600. 202 Paul Göhre: Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche, Leipzig 1891. Die Aktivitäten Göhres ließen sich zunächst durch dessen Berichte in der Christlichen Welt verfolgen: Drei Monate Fabrikarbeiter und Wandergeselle, in: CW 4 (1890), 934–937.956–
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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chenchristentum;203 es zielte mit seinen „Kultur- und Sittenbildern“, die dras tisch die Arbeits- und Lebensumstände des Arbeiterstandes schilderten, zudem auf die Gebildeten, denen seiner Ansicht nach eine lebendige Fühlung mit ei nem Großteil der Bevölkerung abhanden gekommen war.204 Nicht nur die wirt schaftliche, sondern die religiöse Not der Fabrikarbeiter wurde als Problem ins Bewusstsein gerufen, das Göhre als Folge einer gesellschaftlichen Gleichgültig keit darstellte, die auch die Kirche betraf. Konkrete Verbesserungen an den Le bensumständen der Arbeiterschaft mussten erfolgten, bevor überhaupt an eine christliche Evangelisation zu denken war. Göhre, der im Mai 1900 aus Enttäu schung über das Naumann-Umfeld zur Sozialdemokratie wechseln sollte, wur de zu einem glühenden Vorkämpfer eines christlichen Sozialismus, der über eine reine Versorgung der Arbeiternot hinausgriff und das Elend der Industrie arbeiter an den gesellschaftlichen und politischen Wurzeln anging. Für viele Geistliche wirkte sein Buch als Initialzündung zur christlich-sozialen Betäti gung und zur Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie; seine Unterneh mung exponierte ihn aber auch in der eher konservativen Pfarrerschaft.205 Göh re wurde ein ungerechtfertigter Angriff auf die Kirche vorgeworfen.206 Zudem stieß der politisierende Stil der Reportage auf Ablehnung: Die Stöckersche Zeit schrift Das Volk warf Göhre beispielsweise vor, dass sich in den von ihm wie dergegebenen Gesprächen keineswegs die wirklichen Lebenserfahrungen der 960.978–983.1030–1035 sowie: Aus dem Liederbuch der Sozialdemokraten, ebd., 1096–1102. 1114–1117. Göhres Erfahrungsbericht wurde als authentisches Zeugnis einer aus der Sicht der bürgerlichen Akademiker fremden sozialen und religiösen Welt aufgenommen. Die Ent deckung einer fremden Sozialwelt klingt auch in dem eingangs zitierten Text von Arthur Bonus an. Für ihn traten hier ungefärbt die Erfahrungen des unverbildeten Volkes zu Tage, vgl. auch seine Rezensionen zu der von Paul Göhre herausgegebenen Arbeiter-Autobiogra phie: Carl Fischer: Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leipzig 1904, in: CW 19 (1904), 400; ebenso in: Allgemeine Zeitung (24.3.1904, Beilage), 590. 203 M artin Wenck: Friedrich Naumann, Berlin 1920, 46. 204 So Göhre in einem Brief an Friedrich Naumann, 1.1.1890, abgedruckt in: An die Freunde 91 (1.12.1928), 1039–1040, 1040; vgl. Georg Wünsch: Die Bedeutung Paul Göhres für die Religion des Proletariats, in: Evangelisch-Sozial 33 (1928), 117–128. 205 Vgl. M atthias Wolfes: Art. Göhre, Paul, in: BBKL 16 (1999), 562–575, 563. Göhres Selbststudium der Arbeiterexistenz wurde für sozial eingestellte Protestanten wie Gottfried Traub oder Elisabeth Gnauck-Kühne zum Vorbild, die seinem Beispiel folgend jeweils für einige Monate versuchten, ein Arbeiterleben nachzuempfinden. 206 Rade ermöglichte eine kontroverse Diskussion in der Christlichen Welt, indem er die vernichtende Stellungnahme des Greifswalder Theologieprofessors Hermann Cremer sowie eine Verteidigung Göhres brachte: Die Predigtaufgabe unsrer Kirche gegenüber der Sozial demokratie, in: CW 6 (1892), 1035–1040.1047–1049.1077–1081; M ax Weber: Zur Rechtferti gung Göhres (1), in: ebd., 1104–1109; M artin R ade: Zur Rechtfertigung Göhres (2), in: ebd., 1109–1111.
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Arbeiter widerspiegelten, sondern lediglich, wie weit Göhre sich selbst den Vor stellungen der Sozialdemokratie angenähert habe.207 Bonus fand sich von Göhre in seinen christlich-sozialen Ideen wie in seiner Einschätzung des kirchlichen Gesamtklimas bestätigt. Mit Göhre war die Auf bruchsstimmung verbunden, aus der kirchlichen Nische hinaus in den Alltag des sozialen Lebens der ungebildeten, industriellen Bevölkerungsschichten zu treten. Er fühlte sich mit Göhre in einer „Notlage innerer Opposition“ gegen über dem konservativen Pastorensozialismus sowie einem bürgerlichen, konse quenzfreien Christentum verbunden.208 Dabei stand nicht die dogmatische Richtigkeit der geäußerten Glaubensauffassungen im Vordergrund, sondern die individuelle und soziale Wirkung, die dem Christentum beigemessen wurde. „Etwas thun, nicht immer nur reden, das war eine Haupttriebfeder seines Aben teuers“, beurteilte Bonus Göhres reformpolitische Motivation, die auch auf ihn selbst ausstrahlte.209 Die Orientierung an Naumann und Göhre sowie an der Christlichen Welt blieb allerdings nicht unangefochten. Briefdebatten in Bonus’ Umfeld belegen, dass seine Anlehnung an die sozialen Positionen der Christlichen Welt zu einem 207
Davon berichtet Bonus ihm brieflich (undatiertes Briefkonzept an Göhre [LKA Eise nach, NL Bonus, 02_011]). 208 Bonus: Paul Göhre, 22. Göhre fasste nach seiner Loslösung vom Kirchendienst seine Ansicht, dass sich das „dogmatisch-mittelalterlich formulierte Christentum“ überholt habe, prägnant in einer Broschüre zusammen: Die Kirche im 19. Jahrhundert, Berlin 1902, 61. Ende 1905 trat er aus der Kirche aus. 209 Ebd., 19. Bonus hegte große Bewunderung für die Konsequenz, mit der Göhre seine Wendung zur Sozialreform als religiöse Mission betrachtete: „Dein freudiger Mut, deine Thatkraft, deine Rücksichtslosigkeit gegen weltliche Bedenken, und endlich das, daß du dich aufrichtig und mit großer Kraft und gute Erfolge bemühst, dich wirklich unter göttliches Urteil zu stellen […]: das alles ist es, was ich an dir schätzen gelernt habe.“ Allerdings zeigte er sich auch besorgt, ob Göhre sich nicht im Amt isolieren und Konflikten mit der Kirchen leitung entgegen sehen müsste (Briefkonzept Bonus an Göhre, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011]). Göhre wiederum nahm Bonusʼ soziales Interesse ernst, obgleich er ihn zurecht nicht als sozialprotestantischen Praktiker einschätzte; er hege doch „überwiegend ästhetische und philosophische Interessen“ (Brief Bonus an Rade, Luckenwalde, 23.11.1893 [ebd., 03_002]). Göhre erbat sich vom ihm z. B. Literaturhinweise zur Nationalökonomie für die Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses (Brief Göhres an Bonus, Berlin, 10.10.1892 [ebd., 02_011]). Eine Literaturübersicht über christlich-soziale Neuerscheinungen erschien im De zemberheft der Mitteilungen, ohne dabei auf Bonus Bezug zu nehmen. Ich bedanke mich bei Frau Birgit Spatz-Straube, Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin, für ihre freundlichen Recherchen in dem mir nicht zugänglichen Jahrgangsband der Zeitschrift (briefliche Mitteilung vom 28. September 2010). Die soziale Frage wurde auch mit Arthur Titius verhandelt, der Bonus von seinen Vorbereitungen über seine Berliner Vorlesung zu Marxismus und Evangelium berichtete (Brief Titius an Bonus, 25.3.1892 [ebd., 08_007]).
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trennenden Faktor wurden. Das betraf etwa die Haltung gegenüber der Sozial demokratie, die zu einem Entscheidungskriterium gegen die Zeitschrift werden konnte. Zudem wurde die von Stoecker propagierte Verbindung von Sozial konservatismus und Antisemitismus ein Diskussionsgegenstand. So beschied ihm ein Studienfreund, dass er die Christliche Welt aufgrund ihrer positiven Haltung zum Judentum nicht mehr weiter beziehen wolle, sondern sich statt dessen den Stoecker nahestehenden Organen Das Volk und dem Reichsboten zuwenden wollte.210 Die Möglichkeit, seine christlich-sozialen Vorstellungen in der Praxis zu er proben, erhielt Bonus im Frühsommer 1893, als er auf eine Stelle als Hilfsgeist licher in den Industrieort Luckenwalde berufen wurde. Bonus erhoffte sich hier einen durchschlagenden Erfolg und den Freiraum zu „praktischer Gemeindeor ganisation“.211 Bei seiner Kirchenbehörde hatte er sehr auf den Einsatz unter Fabrikarbeitern gedrängt.212 Bonus erhielt nun die Aufgabe, den überlasteten Luckenwalder Gemeindepfarrer in der seelsorgerischen Betreuung der ansässi gen Arbeiterfamilien zu unterstützten. Diese nahm er erneut in einer Einrich tung mit klarer evangelisch-sozialer Prägung wahr, nämlich dem Evangelischen Arbeiterverein.213 Unter dem Einfluss von Göhre und Naumann distanzierte er sich zunehmend von den konservativen christlich-sozialen, von Stoecker be stimmten Idealen. Gegenüber dem Vereinsvorsitzenden, dem Schlosser Georg Gericke, wirkte er als „Berater“ in inhaltlichen Fragen. Entgegen der zunächst scharfen Ablehnung gegen die Sozialdemokratie und der Stoeckerschen Prä gung des Arbeitervereins versuchte er, die christlich-sozial organisierte Arbei terschaft „zu Göhre und Naumann übergehen“ zu lassen.214 Wie wirkungsvoll 210 Brief M. Stein an Bonus, Angermünde 19./22.2.1890 [LKA Eisenach, NL Bonus, 08_008]; Brief Krösell an Bonus [ebd., 05_010.17]; Friedrich Krösell saß ab 1903 für die an tisemitische Deutschsoziale Partei im Reichstag. Auch der Kommilitone Adolf Ranft brachte seine Distanz gegenüber der Zeitschrift sowie dem politischen Liberalismus zum Ausdruck; Antisemitismus sei aufgrund der „Verjudung der Presse“ geboten (Brief Ranft an Bonus, Eisenberg 25.11.1890 [ebd., 05_006]). Bonus hatte weiterhin 1892 in der Vereinszeitung des Ostdeutschen Bundes der Jünglingsvereine Der Bundesbote die Haltung der Christlichen Welt gegen Stoeckers „Hetze“ verteidigt, was mit Entrüstung zur Kenntnis genommen wurde (Briefwechsel Bonus mit dem Bundesvorsitzenden Schmidt, 1892 [ebd., 05_007]; der Kon text ist zudem der Fall Harnack). 211 Brief Bonus an Harnack, Luckenwalde, 24.2.1895 [Staatsbibliothek Berlin, NL Harnack, Bl. 2] 212 Brief Bonus an Rade, Luckenwalde, 23.11.1893 [UB Marburg, NL Rade]. 213 Zu diesen Vereinen vgl. Paul Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, Leipzig 1896, 109 f.; K laus M. Hofmann: Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882–1914, Bielefeld 1988. 214 Vgl. Briefkonzept Bonus an Göhre, ohne Datum [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011], Brief Gericke an Bonus, 19. Februar 1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_002]. Auch die
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sich eine Verbindung von Protestantismus und Sozialdemokratie gestalten konnte, trat ihm etwa in einem Bericht von Käthe Kollwitz vor Augen, die ihm 1894 über Theodor von Wächter berichtete, den ersten der Sozialdemokratie beigetretenen evangelischen Theologen, der als Geistlicher die Konsequenz aus dem Proletarierelend gezogen hatte.215 Für Bonus war die soziale Frage untrennbar mit der religiösen Problematik der Gegenwart verknüpft. Ihn trieb die Suche nach einer umfassenden, religiös-sozialen Volksbewegung um, die als Integrationsfaktor die sozialen und weltanschaulichen Spannungen im Wilhelminismus überwinden helfen soll te.216 Dazu allerdings musste sich die theologische und organisatorische Er scheinungsform der evangelischen Kirche grundlegend verändern. Das führte zu heftiger Kritik an dem aus seiner Sicht staatstragenden und von Honoratioren geprägten Kirchentum, das auf dem Weg war, eine reine „Standeskirche der Vornehmen oder doch Besitzenden“ zu werden.217 Das Gegenbild war ein wir kungsmächtiges, soziales Volkskirchentum. Die sozialpolitische Öffnung der frühen 1890er Jahre empfand Bonus als verheißungsvollen Hinweis auf dessen Verwirklichung: „Und nun ist dies das Wundervolle und Zukunftsverheißende: daß es zur Zeit ein Gebiet giebt, auf dem die Vertretung der Kirche anfängt, sich wieder mit dem Volke zu verstehen. Es ist das soziale Gebiet.“218 Vor dem Hin tergrund der sozialen Frage schien eine christlich-politische Einheitsbewegung Form anzunehmen, die sich in einer Umgestaltung der evangelischen Kirche auswirken würde. Auf dem „sozialen Kampfplatz“ kamen Frömmigkeit und Fachtheologie wieder mit einem gesellschaftlichen Bedarf in Berührung und gingen ein in der Bevölkerung relevantes Thema an. Dadurch ging von der sozialen Frage eine „sehr viel zwingendere und konkretere Macht“ auf die Neu gestaltung der Theologie aus als von allen bisherigen Angriffen auf das Chris tentum.219 Die soziale Frage schien mit systemsprengender Wirkung auf den Protestan tismus einzudrängen und ihm die Gestalt einer Volksbewegung zurückzuge ben. So fragte Bonus im Rückblick auf die Hoffnungen der frühen 1890er Jahre: „Weshalb hätte dabei nicht eine Wiederentdeckung und Wiedergeburt des
Wiedergabe eines seelsorgerischen Gesprächs mit einem Arbeiter weist auf eine christlich- soziale Gemeindetätigkeit im Sinne Naumanns hin: Wie die ‚Hilfe‘ zu einer Bibelstunden vorbereitung geholfen hat, in: Die Hilfe 1, Nr. 6 vom 10. Februar (1895), 3. 215 Brief Kollwitz an Bonus, 1894 [LKA Eisenach, NL Bonus, 05_010.15]. 216 Bonus: Paul Göhre, 14. 217 Ebd. 218 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 76. 219 Ebd., 32.
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Christentums, eine neue Reformation herauskommen können? eben das ‚prak tische‘, das soziale: das Thatchristentum?“220 Wie sehr für Bonus der soziale Handlungsbedarf und die Umbildung der pro testantischen Theologie miteinander verbunden waren, lässt sich an einem Kommentar zu einer Äußerung Naumanns zeigen. Dieser hatte in der Christ lichen Welt auf die Dringlichkeit der gegenwärtigen Lage hingewiesen und beklagt, dass die Kirche zwischen Sozialdemokratie und Kapitalismus nichts anderes tat, als über dogmatische Fachfragen zu debattieren. Das sei so, „als verhandle man über den Anstrich der Feuerspritze, während schon das Haus brennt“.221 In Bonus’ Augen hatte Naumann hier ein falsches Bild verwendet. Es hätte besser gelautet, meinte er, dass die Spritzenmänner entdeckt hätten, dass die Feuerspritze nicht mehr funktionierte und man sie besser einer gründlichen Erneuerung unterzöge.222 b) Existentialisierung der christlichen Liebe: Christlich-soziale Konkretionen bei Bonus Ähnlich wie seine christlich-sozialen Gesinnungsgenossen hegte Bonus große Erwartungen, die Arbeiterschaft in eine weitgespannte religiös-soziale Bewe gung zu integrieren und gleichzeitig dem kirchlichen Protestantismus zu neuer Lebendigkeit zu verhelfen. Nur so könne das Christentum erneuert „aus dem Gewühl der sozialen Kämpfe“ hervorwachsen.223 Er votierte für eine schritt weise Durchdringung der Sozialdemokratie durch einzelne christlich-soziale Parteigänger aus der Arbeiterschaft, die als „Senfkorn“ innerhalb der Arbeiter partei auf deren Umformung in eine christliche Sozialbewegung hinwirken konnten. Dabei legte Bonus keineswegs die bürgerliche Mehrheitsmeinung ab, dass die „Umsturzbewegung“ der Sozialdemokratie in ihrer Form als Partei und 220 Ders.: Paul Göhre, 15. Auch von Paul Göhre werden seine christlichen-sozialen Ein stellungen als „Christenthum der That“ charakterisiert: Arthur Bonus, in: Die Zeit 14 (Nr. 179 vom 5. März 1898), 152–153, 152. Göhre drückte damit eine hohe Übereinstimmung mit Arthur Bonusʼ religiösen Vorstellung aus. Für ihn war ein parteiliches, nach Weltgestaltung und sozialem Fortschritt drängendes Tatchristentum der Inbegriff des modernen Christen tums überhaupt. Vgl. dazu Paul Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, 188. Die Gegen überstellung von einem inwendigen „Seligkeitschristentum“ und einem religiös-politischen „Thatchristentum“ findet sich auch bei Friedrich Naumann: Christlich-sozialer Geist, in: CW 7 (1893), 529–535 (auch abgedruckt in: Was heißt christlich-sozial?, Leipzig 1896, 42–53). 221 Friedrich Naumann: Verschiedenes. Zur Bekenntnisfrage, in: CW 7 (1893), 332–333, 332. Es handelt sich um eine Rezension zu Pfarrer Lorenz: Die Lösung der Bekenntnisfrage, Erfurt 1892. 222 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 79 f. 223 Ders.: Wie die ‚Hilfe‘ zu einer Bibelstundenvorbereitung geholfen hat, in: Die Hilfe 1, Nr. 6 vom 10. Februar (1895), 3.
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als Weltanschauung ein erhebliches gesellschaftliches Gefahrenpotential barg. Damit nicht „in den Massen der Materialismus weiter um sich greift“, waren rasche und tiefgreifende Gegenmaßnahmen erforderlich.224 Wie die „jüngeren“ Christlich-Sozialen war er der Ansicht, dass im Sinne der christlichen Sozialreform nicht eine einseitige Polemik, sondern eine sachliche Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und ihren Anliegen erforderlich war. Die christlich-soziale Bewegung war strikt von parteipolitischen Zwecken zu trennen, um nicht durch die „sozialdemokratische Mißtrauenssaat“ in Ver legenheit gebracht zu werden. Nach Bonus’ Eindruck vermuteten die Sozial demokraten hinter den christlich-sozialen Bestrebungen ein Täuschungsmanö ver der Geistlichkeit und warfen den Pfarrern vor, unter dem Deckmantel der Nächstenliebe eine politisch motivierte, konservativ orientierte Sozialmission zu verfolgen.225 Daher hielt er es für dringend notwendig, dass die Christlich- Sozialen im sozialen Streit eindeutig Farbe bekannten. Dabei blieb es problematisch, das spannungsreiche Verhältnis von religiösen und sozialen Motiven in einen harmonischen Einklang zu bringen. Hier war zunächst die Gewichtung zwischen sozialpolitischer Aktion und christlich-ka ritativem Handeln zu klären: Hatte die Erfüllung der sozialen und politischen Interessen der Arbeiter Priorität, um mit der Sozialdemokratie in den Austausch eintreten zu können, oder sollte die christlich-soziale Betätigung nicht haupt sächlich weltanschaulich und religiös ausgerichtet sein? Aufschlussreich ist hier eine brieflich fortgeführte Debatte zwischen Bonus und Julius Kaftan, der als konservativer Ritschlianer Mitglied im Evangelisch-sozialen Kongreß war. Für Bonus durften in den sozialen Kämpfen nicht „allerlei Versprechungen und Ver heißungen“ aufgestellt werden, vielmehr musste ein Hebelpunkt im Eingeständ nis der Not gesucht werden, um konkrete Abhilfe zu schaffen. Für Kaftan ging dieses aus der Beobachtung der sozialen Lage entspringende Engagement an der eigentlichen kirchlichen Aufgabenstellung vorbei. Seiner Ansicht nach blieb eine politische Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie die Aufgabe des Staates und der Parteien. Ohne deutlichen Verweis auf den christlichen Motiva tionsgrund war das kirchliche Sozialhandeln seiner Ansicht nach zwecklos; sein Auftrag bestand in der Seelsorge, in der Überwindung der materialistischen Weltsicht und dem sittlichen Ausbau des Wirtschaftssystems.226 Bonus sah in der christlichen Sozialreform eine Bewegung, welche die Ge sellschaft als Ganze erfassen und aus einem einheitlichen Glaubenserlebnis aus 224
Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 28. Ders.: Wie die ‚Hilfe‘ zu einer Bibelstundenvorbereitung geholfen hat, 3. 226 Brief Kaftan an Bonus, Berlin 22.3.1895 [LKA Eisenach, NL Bonus, 19_006]. Der Brief knüpfte an eine intensive Diskussion an, die Bonus mit Kaftan und Paul Rohrbach bei einem gemeinsamen Abend in Berlin geführt hatte. 225
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strömen musste.227 Seiner Ansicht nach war dem Protestantismus die „Welt mission“ aufgegeben, sich politisch und religiös an der Errichtung einer neuen Gesellschaft zu beteiligen.228 Aufgrund dieser utopisch auf eine Zukunft gerich teten Erwartungshaltung warnte er in seinem Brief an Kaftan davor, die Wucht des christlich-sozialen Gedankens durch „Spezialethiken“ oder rational-argu mentative Winkelzüge abzuschwächen. Allerdings waren beide darin verbun den, dass die Lösung der sozialen Frage letztlich die Seite der Persönlichkeit und die individuelle Lebensführung betraf. Auch bei Bonus blieb die im kultur protestantischen Spektrum hochgehaltene Überzeugung wirksam, dass der ent scheidende Beitrag des Protestantismus zur sozialen Frage in der Ermöglichung von individueller Freiheit und Sittlichkeit lag, ein Konsens, den Kaftan folgen dermaßen ausdrückte: die wahren Güter sind Charakterbildung, gegenseitiges Vertrauen, Familie, Volksgemein schaft, Erweiterung des geistigen Horizonts, Hineinleben in die großen Gottesgedanken in Natur u.[nd] Geschichte, schließlich der Friede des gottgereinigten Herzens, der mit der größ ten geistigen Lebendigkeit identisch ist.229
Insgesamt nahm Bonus im Kontext der kulturprotestantischen Positionen zur sozialen Frage eine Akzentverschiebung vor, indem er auf konkretes soziales Handeln und auf umfassende religiös-politische Wirksamkeit drängte. Er schloss sich einer Argumentationslinie an, die Friedrich Naumann maßgeblich bestimmt hatte, nämlich die Kirche im Ringen um die Umsetzung der christ lich-sozialen Ziele als eine „Partei“ zu betrachten, die zwar einer parteipoliti schen Festlegung entgehen, sich aber dennoch machtvoll in die gesellschafts politischen Herausforderungen einbringen sollte.230 Das Gegenteil zu einer sol chen sozialpolitischen Zuspitzung stellte für Bonus die ‚Innere Mission‘ dar, bei 227
Bonus: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188, 1187. Ders.: Wie die ‚Hilfe‘ zu einer Bibelstundenvorbereitung geholfen hat, 3. 229 Brief Kaftan an Bonus, Berlin 22.3.1895 [LKA Eisenach, NL Bonus, 19_006]. 230 Friedrich Naumann: Unsere Stellung zur Sozialdemokratie, in: CW 7 (1893), 904–910. 938–941. 958–963, 963 (auch erschienen in: Was heißt Christlich-Sozial?, Bd. 1, Leipzig 1894, 70–96). Es handelte sich hierbei um eine positive Besprechung der christlich-sozialen Studie des konservativ-lutherischen Pfarrers Eduard Schall: Die Sozialdemokratie in ihren Wahrheiten und Irrtümern (Berlin 1893), die im Kern die Unvereinbarkeit von Christentum und Sozialdemokratie betonte, jedoch gleichzeitig die soziale Frage der Kirche zum Anliegen machte. Naumann verwies zustimmend auf eine Passage aus Schalls Buch, in der er dem Parteiprogramm der Konservativen eine zu oberflächliche Behandlung der sozialen Frage und ein weitgehendes Eintreten für die Rechte der Besitzenden vorwarf: „Es will ein Pro gramm sein für die Herren, wenn auch teilweise für die kleinen Herren.“ (Unsere Stellung zur Sozialdemokratie, ebd., 910; vgl. Schall: Die Sozialdemokratie, 123 f.; vgl. zur Einschät zung im christlich-sozialen Umfeld M ax Weber: Was heißt Christlich-sozial?, in: CW 8 (1894), 472–477 und Paul Drews: Für und wider Naumann, ebd., 467–472). 228
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der sich die Sozialreform seiner Ansicht nach unter der Prämisse der christli chen Nächstenliebe zu Stückwerk und moralischen Forderungen zerfaserte. Das christlich-soziale Anliegen kam einem oberflächlichen Übertünchen der gra vierenden Missstände gleich, die eigentlich einer weitreichenden, politischen Bearbeitung bedurften. Auch hier folgte Bonus einer Einschätzung Friedrich Naumanns. Durch diesen, schrieb Bonus, hatte er „unter Christentum etwas anderes verstehen gelernt […] als einen geistig eng gebundenen, sentimentalen Almosenstandpunkt.“231 Was die christlich-soziale Arbeit im Sinne der ‚Inneren Mission‘ bewirkte, waren in Bonus’ Augen bloße „Kinkerlitzchen“, die an den sozialen Missständen nichts zu ändern vermochten, sondern lediglich der Ge wissensberuhigung dienten. In scharfem Ton wetterte er gegen bigotte „Wohl thätigkeiten, durch die man sich selbst wohl thut“.232 Seiner Ansicht nach durfte die christliche Nächstenliebe nicht als „organisierte Almosenthätigkeit großen Stils“ einer wirklichen Reform entgegenarbeiten, sondern musste sich stattdes sen energisch als religiöser Gegenwartsfaktor in die sozialen Kämpfe einbrin gen.233 Rade gegenüber äußerte er grundsätzliche Zweifel an der konservativ- patriarchalischen Ausrichtung der bisherigen kirchlichen Sozialarbeit. Seine Bedenken rührten daher, dass sich die karitativen Versuche zwar an den Symp tomen sozialer Not abarbeiteten, dass sie aber vor der Wurzel der Probleme halt machten. An Rade schrieb er: Daß man als Beweis der Lebendigkeit des Christentums immer nur die „I.[nnere] M.[ission]“, wie sie ist, anführt, das hat mich stets eigentümlich angemutet. Damit beweist man in der That doch nur, daß das Christentum noch Kraft zum Sterben giebt und daß es noch gut ist für Krankenbetten. Den Beweis der Kraft zum Leben geschweige zu positiver Arbeit giebt man so doch nicht.234
Bonus wurde ähnlich wie Naumann durch die Ablösung vom konservativen Sozialprotestantismus in eine grundsätzliche Oppositionshaltung gegenüber der kirchlich-theologischen Gegenwart geführt. So wie Naumann das Fehlen eines „starken fortreißenden Sturmwindes“ beklagte, der aus dem Protestantismus eine starke, soziale Kraft geformt hätte, nahm auch Bonus dessen gesellschaft liche Wirkungslosigkeit wahr, die auf eine erodierte religiöse Wirklichkeit ver 231 Bonus: Christlich-sozial, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 39 vom 27. September, 2–3, 2; dabei bezog er sich auf die Kritik Naumanns an der Diakonie Wicherns, die sich seiner Ansicht nach an einer Linderung der sozialen Notstände abarbeitete, die gesellschaftlichen Ursachen aber nicht anging, vgl. Naumann: Wichern und die zweite Periode der Innern Mission, in: CW 6 (1892), 879–883, 879. Auch die folgenden Wertungen lassen sich in Naumanns Artikel ähnlich wiederfinden. 232 Ders.: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188, 1186. 233 Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 28. 234 Brief Bonus an Rade, Luckenwalde, 2.5.1893 [UB Marburg, NL Rade].
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wies.235 Hier drückte sich eine weichliche und ungeklärte „Stimmung“ aus, die mehr noch als die Unausgegorenheiten im theologischen „System“ die theologi sche „Krisis unserer Kirche“ herbeiführte.236 Der sozialreformerische Geistli che sollte nicht als „Arzt“ eine oberflächliche Symptombehandlung an den ge sellschaftlichen Problemzonen vornehmen, sondern sich als „Führer“ mitten in die soziale Auseinandersetzung hineinbegeben.237 Nur wenn es dem Protestan tismus gelänge, sich gestaltend in die sozialen Bezüge der Gegenwart einzu knüpfen, konnte von ihm noch kulturelle und intellektuelle Strahlkraft erwartet werden. Die Geistlichen sollten nicht eine „absolut richtige Belehrung über letz te Wahrheiten“ oder eine Wiederholung der „Krankenpflegerweisheit der Kir che“ bieten, sondern pionierhaft in die sozialen und kulturellen Neuerungs bestrebungen eingreifen.238 Bonus wollte den Protestantismus aus seiner kirch lich-konservativen Verankerung lösen und ihn idealisierend aufs Neue als geistig-religiöses Reservoir der deutschen Kultur etablieren. Weiterhin bedeutete die soziale Frage für Bonus eine Herausforderung für das Individuum, indem sie das Problem der Sittlichkeit und Bildung der indivi duellen Persönlichkeit in der modernen Massengesellschaft aufwarf. Diese The menstellung verhandelte er in einer Artikelserie, die er 1896 in der Hilfe unter dem Titel „Sozialismus des inneren Lebens“ erscheinen ließ.239 Nach Bonus war nicht allein die wirtschaftliche Situation des Menschen für sein Wohlergehen verantwortlich, sondern auch die ihm zur Verfügung stehenden religiösen und intellektuellen Möglichkeiten. Auch für den Einzelnen musste es auf dem Wege der Religion möglich sein, „eine Welt auf den Kopf zu stellen zum Guten“.240 Bonus’ sozialethischer Ansatz zielte auf eine religiöse Wende in der „Oedland kultur“ der menschlichen Existenz, die dazu diente, die Entwicklungsansätze des Einzelnen zu stärken. Die unbebaute, ungepflegte Rohexistenz des Men schen sollte durch die Selbstkultivierung aus ihrem Naturzustand herausgeho ben werden.241 In diesem Sinne war die soziale Frage ein Erziehungsproblem, das die Frage nach der Entwicklungs- und Steigerungsfähigkeit der Persönlich 235
Naumann: Wichern und die zweite Periode der Innern Mission, 880. Bonus [Fritz Benthin]: Aus der religiösen Bildersprache, in: CW 11 (1897), 810–811, 811. 237 Unter dem Titel: Arzt oder Führer? veröffentlichte Bonus die oben zitierte Betrach tung zur „religiösen Bildsprache“ aus der Christlichen Welt, nachdem er sie erweitert und in der Zuspitzung gegen die theologische Tradition noch einmal erheblich geschärft hatte (in: Zwischen den Zeilen. Noch etwas für besinnliche Leute, Heilbronn 1901, 70–75). 238 Ebd., 73 f. 239 Bonus: Sozialismus des inneren Lebens, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 10 vom 8. März; Nr. 11 vom 15. März; Nr. 12 vom 22. März; Nr. 14 vom 5. April; Nr. 15 vom 12. April; Nr. 16 vom 19. April; Nr. 32 vom 9. August; Nr. 34 vom 23. August. 240 Bonus: Sozialismus des inneren Lebens, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 11 v. 15. März, 5. 241 Ders.: Sozialismus des inneren Lebens, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 10 vom 8. März, 5. 236
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keit aufwarf. Vordergründig ging es ihm darum, durch Erziehung zur Selbst beobachtung die „Gespenster“ des Alkoholismus, der Prostitution oder der Ver nachlässigung zu verjagen.242 Deutlich waren darin sozialdarwinistische An klänge eingeknüpft. So zielte Bonus’ sittliche Reflektion darauf, den Einzelnen zu befähigen, sich aus der Vermassung der Industriegesellschaft herauszuheben und eine „höhere Stufe“ zu erklimmen.243 c) Christliche Sozialreform als nationale Aufbruchsbewegung Wie sehr religiöse, soziale und politische Reformhoffnung ineinanderflossen, trat eindrücklich in einem „Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche“ her vor, das Bonus zur Jahreswende 1893/94 anonym in der Christlichen Welt pla zierte.244 Darin ließ Bonus in einer naturlyrisch-metaphorischen Schilderung den „Sturmwind“ über eine „arge Winterwelt“ hinwegbrausen, in der unschwer erkennbar die gesellschaftlichen Verkrustungen und das erstarrte kirchliche Le ben der Gegenwart unter der Herrschaft eines „Eiskönigs“ nachgezeichnet wa ren. Dieser „Sturmwind“ wurde als Befreier geschildert, der die winterlichen Eismauern zerbrach und den Frühling bringen sollte. Er verkörperte eine Ver bindung von Aufbruchsidealen und religiösen Gefühlen, er war „der wütende Gott des Strebens“ und brachte „Thatendrang und Leidenschaft und Glückver langen und Freiheitsfreude“. Wie das allegorisierende Bild des „Sturmwindes“ zeigt, das Bonus mehrfach zur Schilderung einer tiefgreifenden, religiösen Anspannung anwandte, waren die Erwartungen an einen gesellschaftlichen Aufbruch Anfang der 1890er Jahre eng mit einem nationalen und religiösen Zukunftsglauben verschränkt.245 Der „Sturmwind“ trug Züge eines nationalen Geistes, der die kulturelle Erstarrung 242 Das wird besonders in den Stücken „Heerlinge“ und „Der Enkel Fluch“ thematisiert, vgl.: ders.: Sozialismus des inneren Lebens, Die Hilfe 2 (1896) Nr. 14 vom 5. April, 5 und Nr. 15 vom 12. April, 5 f. 243 Ders.: Sozialismus des inneren Lebens, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 15 vom 12. April, 6. 244 X [Bonus]: Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche, in: CW 7 (1893), 1243–1245. Ein Brief Rades vom 15.12.1893 belegt die Zuschreibung des Artikels an Bonus [LKA Eise nach, NL Bonus, 03_002]. Rade empfahl Bonus, sein „Weihnachtsmärchen“ ohne Verfasser angabe erscheinen zu lassen, und warnte ihn, vorsichtig mit seinem allegorisierenden, kurz geschichtenhaften Schreibstil umzugehen, „zumal mit solchen Märchen. Sie werden zu viel mißverstanden und mißdeutet.“ In diesem Stück habe er erstmalig die Verbindung von Deutschtum und Christentum zum Thema gemacht, so im Rückblick ders.: Aus der schönen Litteratur I, in: ThR 1 (1897), 480–492. 245 Auch hier lag ein Anklang an Naumann vor, der in seinem Aufsatz zur Inneren Mis sion das Fehlen eines „starken fortreißenden Sturmwindes“ beklagt hatte, der aus dem Pro testantismus eine starke, gesellschaftliche Kraft formen würde, vgl. Naumann: Wichern und die zweite Periode der Innern Mission, in: CW 6 (1892), 879–883, 880.
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der Gegenwart lösen sollte: „Deine Väter hielten sich zu mir“, nicht jedoch die Zeitgenossen. In Bonus’ Szenario bezeichnete der „Sturmwind“ den Geist der Väter, während sich die Zeitgenossen ängstlich als „Schar der Eingesperrten“ gegen jede Veränderung verbarrikadiert hatten, „trübes Licht und eine dicke riechende Luft“ erzeugten und – als kirchenkritischer Seitenhieb – „weichliche, süßliche Lieder“ näselten. Der orthodoxe Protestantismus erschien als eine Be harrungskraft, die sich der Aufbruchsstimmung, aber auch den sozialen Not wendigkeiten widersetzte. Im Gegensatz zum Kirchentum nahm Bonus in der Reformbewegung der Gegenwart die Rückbesinnung auf den religiösen Wurzel grund der deutschen Kultur wahr, ein zeitgenössisches und tatkräftiges Chris tentum, in dem der Protestantismus seine Zukunftsbestimmung finden würde. Hier sah er „den Geist meines Volkes, den Geist meiner jungen erwachenden Zeit“ am Werke, hier realisierte sich der auf Fortschritt gerichtete, stürmische Nationalgeist, der sich anschickte, die Kräfte der Beharrung hinwegzufegen. Ein baldiges Tauwetter nach langem Kulturwinter lag für Bonus am Anfang der 1890er Jahre also durchaus im Bereich des Möglichen. In der sozialen Be wegung schien die nationale Blütezeit ihre ersten Vorboten gefunden zu haben. Allerdings blieben die von Bonus formulierten sozialen Reformanliegen eher unkonkret. In der Erwartung, die Sozialdemokratie harmonisch in eine kom mende, religiös geprägte Volksgemeinschaft einzubinden, griffen sie religi ös-oppositionelle und soziale Zukunftsvorstellungen auf, prägten aber keine klare, politische Haltung aus. In der Forderung nach einer Überwindung der ökonomischen Gegensätze und der Formung einer starken Arbeiterbewegung blieben Bonus’ Vorstellungen im Bereich der christlich-sozialen Anliegen. Das galt auch für die Tendenz, das Christentum mit dem politischen und sozialen Leben des Volkes zu verknüpfen. So betonte Naumann 1894 in der Christlichen Welt die „Wechselwirkungen“ von Religion, Volkswohlfahrt und sozialer Frage: „wer den Staat formen will“, so Naumann, „der fülle Geist in die Seele des Volks […], wenn sie arbeitet und ringt.“246 Ähnlich wie Bonus sah Naumann die „Wendepunkte der Volksgeschichte“ durch eine intensivierte religiöse Haltung geprägt. Naumann bekannte sich also etwa im gleichen Zeitraum wie Bonus zu einer parteiübergreifenden, christlich-sozialen Tätigkeit, die wie ein „Sauer teig“ alle Bereiche des Volks durchdringen sollte. Doch zeigte das „Weihnachtsmärchen“ bereits deutliche Spuren eines Weges, der über den Sozialprotestantismus hinausführte und kulturkritisch-lebens reformerische Elemente aufnahm. Neben der Forderung, ein erneuertes Tat christentum in das Volksleben einzubringen, und neben dem Bekenntnis zur 246 Naumann: Das Recht eines christlichen Sozialismus, in: CW 8 (1894), 435–441.477– 481, 436, vgl. Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 351 f.
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Nation betraf der von Bonus ersehnte Anbruch der Kulturerneuerung auch die individuelle Lebensführung. In seinen Zukunftserwartungen schwangen bil dungselitäre und deutlich sozialaristokratische Motive mit. Bonus verknüpfte die christliche Heilserwartung mit einem überhöhten Persönlichkeitsideal, für das er auf einen an Nietzsche anklingenden, individuellen Heroismus zurück griff, der auch in dem theologisch freisinnigen Kontext der Christlichen Welt eine provozierende Spitze besitzen musste: Der Geistesfrühling bricht mitten im kalten Winter an. Komm, hilf uns die Menschen zu Geistes-, zu Adelsmenschen, zu Uebermenschen machen! Komm, hilf uns! […] Wenn er doch hören wollte. Das wäre eine thatenschwangere deutsche Weihnacht!247
Angesichts der konservativen Grundstruktur der preußischen Landeskirche er staunt es wenig, dass Bonus’ Betätigung im christlich-sozialreformerischen Sinne nicht unwidersprochen blieb. Auch wenn er die Auseinandersetzung selbst mit den „ärgsten ‚Sozialdemokraten‘“ persönlich als förderlich erlebte, stellten sich bald Konflikte ein. Diese erwuchsen nicht allein aus seinem reformis tisch-theologischen Drängen, sondern wurden – wie Bonus berichtete – durch „politische“ und „hinterlistige“ Amtskollegen in seiner Luckenwalder Kirchen gemeinde geschürt: „Meiner hetzt in Berlin und in meiner Gemeinde gegen mich herum“, schrieb Bonus an Adolf Harnack und wies darauf hin, dass ein Gemein dewechsel bald angebracht wäre: Der „Boden wird mir von Tag zu Tag hei ßer“.248 Bonus’ aktivistische und oppositionelle Verkündigung ließ sich kaum mit den überwiegenden politischen Vorstellungen und dem Amtsverständnis seiner Pfarrerkollegen in Übereinstimmung bringen. Die sozialpolitische und religiös-reformerische Zuspitzung, die Bonus seinem Sozialchristentum bei mischte, musste seinen Stand in der Luckenwalder Kirchengemeinde erschwe ren.249 Seine literarischen Äußerungen in der Christlichen Welt und in der Hilfe verstärkten den Konflikt noch weiter.250 In der Konsequenz wich Bonus 1895 auf eine Landpfarrstelle in dem niederlausitzschen Dorf Groß Muckrow aus. 247 Bonus [X]: Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche, in: CW 7 (1893), 1243–1245, 1245. 248 Brief Bonus an Harnack, Luckenwalde, 27.1.1895 [Staatsbibliothek Berlin, NL Harnack, Bl. 1]. 249 Der Hintergrund des Konfliktes ließ sich nur aufgrund von Bonusʼ Briefkorrespon denz rekonstruieren. Der zu vermutende Niederschlag in der zu diesem Zeitpunkt durch das Brandenburgische Konsistorium geführten Personalakte fehlt. Ein disziplinarisches Vor gehen der Kirchenbehörde gegen Bonus setzte erst im Vorlauf seines Amtsrücktritts im Jahr 1903 ein [vgl. Bestand 14/1438, Disziplinarverfahren gegen Geistliche 1903–1927, LKA Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Berlin]. 250 Gegenüber Harnack führte er die Spannungen auch auf sein 1895 frisch erschienenes Buch Zwischen den Zeilen (Heilbronn 1895) zurück. Hinzu kam allerdings, dass er sich in dem kleinen Industriestädtchen nicht wohl fühlte. Bonus stellte eine gewisse Distanz zu den
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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2. Eine Vereinigung „deutscheren Glaubens“: Zur Politisierung in der Gründungsphase des Nationalsozialen Vereins a) Die Krise der evangelisch-sozialen Bewegung Die Phase einer staatlich favorisierten Sozialreform war nicht von bleibender Dauer, was unter anderem in der politischen Neuausrichtung des Kaisers be gründet lag: „Politische Pastoren sind ein Unding. Wer Christ ist, ist auch so zial“, dekretierte Wilhelm II. in einem im Februar 1896 veröffentlichten Tele gramm.251 Schon im Vorjahr 1895 war es im Reichstag und in der freikonserva tiven Presse zu scharfen Angriffen auf die „sozialen Pastoren“ gekommen. Der Stoecker’sche Sozialprotestantismus, Naumann und die Hilfe, aber auch der Evangelisch-soziale Kongreß wurden heftig attackiert und ihnen „Klassen kampfagitation“ vorgeworfen. Die Christlich-Sozialen im Naumann-Kreis wur den als „Sozialdemokratie im christlichen Gewande“ und als der „größte und gefährlichste Feind unseres Volks und Staats“ verunglimpft.252 Auf den konservativen Gegenwind hin zog der preußische Oberkirchenrat sein Votum von 1890 zurück, indem er am 16. Dezember 1895 in einem Erlass festlegte, dass sich die Pfarrer auf ihre seelsorgerische Arbeit konzentrieren und sich von politischen Äußerungen und Handlungen fernhalten sollten.253 Für die Lebensverhältnissen der Arbeiter fest, die er als Universitätsabsolvent mit literarischen Am bitionen nicht überwinden konnte (Brief Bonus an Rade, Luckenwalde, 23.11.1893 [UB Mar burg, NL Rade]). Zudem musste er feststellen, dass sich sein christlich-soziales Pathos nicht so einfach in den pfarramtlichen Alltag übertragen ließ. Es war ein hindernisreicher Weg, die religiös geprägten Reformideale in der Lebenswirklichkeit der ihm anvertrauten Industrie arbeiter zu verankern. Bei Rade beklagte er sich, er habe sich durch seine Erfolge im Witten berger Jünglingsverein „düpieren lassen“ (so im bereits zitierten Brief an Martin Rade, 5.12.1893 [UB Marburg, NL Rade]). Angesichts der pastoralen Aufgaben im Arbeitermilieu erlebte Bonus die Luckenwalder Gemeinde als „eine meiner Art fremde Stelle“. Bonus mein te, dass er sein soziales Interesse besser „vor den Gebildeten und vielleicht schriftstellerisch vertreten“ könne. Hinzu kam auch, dass die Luckenwalder Stelle sehr schlecht dotiert war, so dass er sich gezwungen sah, beim Konsistorium um „außerordentliche Unterstützung“ nach zusuchen (Brief Bonus an Rade, 27.11.1893 [UB Marburg, NL Rade]). Nicht ohne Enttäu schung strebte Bonus eine Stelle an, die ihm mehr Raum ließ, um sich seinen schriftstelleri schen Versuchen zu widmen als die Luckenwalder Gemeinde, „wo meine Zeit fast ganz auf praktische Thätigkeit ausgeht“ (Brief Bonus an Rade, 5.12.1893 [UB Marburg, NL Rade]). 251 Diese Äußerung des Kaisers fiel in einem Telegramm an seinen Erzieher Hinzpeter, das durch Indiskretion in der Berliner Zeitung Die Post veröffentlicht wurde, zitiert aus ietrich von Oertzen: Adolf Stoecker, Berlin 1910, Bd. 2, 162. D 252 Zitiert aus: Jörg Villain: Der Nationalsoziale Verein 1896 bis 1903, Jena 1985, 33; von Oertzen: Adolf Stoecker, 158. 253 Vgl. den „Erlaß des Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche betreffend die Beteiligung der Pfarrer an der sozialpolitischen Bewegung“, in: Ernst R. Huber /Wolfgang Huber (Hg.): Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 3, Berlin 1983, 729.
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
christlich-sozialen Pfarrer war das ein Schlag ins Gesicht. Martin Rade kom mentierte die Entwicklung mit einigem Entsetzen: Die Haltung des Kirchen rates beweise, dass die Gegenwart eine „Zeit politischer Charakterlosigkeit“ sei. Rade bedauerte, dass die Kirche so wenig Selbständigkeit gegenüber der Politik bewahrte und hielt dem Oberkirchenrat Opportunismus vor, da im Grunde sei tens der Geistlichkeit kein Anlass für ein solch scharfes Eingreifen gegeben worden war, denn für die beklagte politische „Agitation“ der Pfarrer existierten kaum Beispiele. Rade stellte eine deutliche Verschärfung im politischen Ton seit der Aufbruchsstimmung von 1890 fest: Unserm Kaiser ist die Freude vergangen, ein Arbeiterkaiser zu sein; seine Regierung hat alle Segel der sozialen Reform eingezogen; Unterdrückung der Sozialdemokratie und verwandter Umsturzbestrebungen durch Polizeimaßregeln und Prozesse ist die Losung. Hilft das nicht, steht die Armee bereit.254
Die Angriffe auf die evangelisch-soziale Bewegung hatten auch Bonus davon überzeugt, dass die konservative Politik den gesellschaftlichen Stillstand und das Ende der Reformbewegung mit sich bringen würde.255 Anfänglich hatte er noch mit öffentlicher Kritik am konservativen Schwenk gerechnet. Göhre ge genüber mutmaßte er, dass die Ablehnung durch die Konservativen nicht das Ende der christlich-sozialen Bewegung bedeuten müsse: „Vielleicht nutzt der konservative Bannspruch der Konsolidierung der Chr[istlich]=Sozialen!“256 Es kehrte jedoch bald Ernüchterung ein. Der erhoffte breitere Protest, der die Kir chenleitung zu einer offeneren Haltung in der Behandlung der sozialen Frage bewegen sollte, blieb aus. Göhre fühlte sich isoliert und vermutete ähnliches für den Dorfpfarrer Bonus: „Ihr aber seid jetzt auch ein einsamer Posten, da Ihr auf euch selber gestellt, aus eigner Kraft fechten müßt.“257 Auch Martin Rade äu ßerte gegenüber Bonus die Befürchtung, dass sich die christlich-sozialreforme rischen Aufbrüche unter dem Übergewicht der konservativen Kritik ins Nichts auflösen würden. Ihm war deutlich, dass sie sich in der Minderheitssituation befanden, diese aber durch verstärkte publizistische und agitatorische Präsenz wettmachen mussten: „Wir müssen thun, als ob wir 10000 wären statt 1000“, empfahl er Bonus.258 Von einer direkten Auseinandersetzung mit dem Ober kirchenrat riet er allerdings ab: „Es lohnt nicht, über die noch zu schreiben u.[nd] zu drucken.“259 254 M artin R ade: Der antisoziale Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, in: CW 10 (1896), 6–10, 6. 255 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, Heilbronn 1896, 23. 256 Briefkonzept Bonus an Göhre, 9.11.1895 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_010]. 257 Postkarte Göhre an Bonus, 20.4.1898 [ebd., 02_010]. 258 Brief Rade an Bonus, 11.2.1896 [ebd., 03_002]. 259 Ebd.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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Wie stark Bonus den Kontrast zwischen den nationalen und religiösen Refor merwartungen und dem nun von oben eingeschränkten Handlungsspielraum empfand, machte er in einem gebetsartigen Text deutlich, in dem sich auch die persönliche Enttäuschung aufschreiartig entlud: Du, der Du Dich offenbartest im stürmischen Streiten eines Himmelshelden um sein abtrün niges Volk, du deutscher Gott! Du Gott des Sturmwindes und der starken Bäume, Du brau sender Gott, Du Luthers Gott! Solltest Du Dich geändert haben seit Zeit? […] O Gott, hüte unsre junge, aufwachsende, streitbereite Schar! Wir dachten uns die Versuchungen des Am tes nicht so groß. Mache hart und fest unsern Glauben, dass wir nicht auch müde Leute wer den. Du mußt! Du mußt! Wir zwingen Dich; Du mußt mit uns sein.260
Bonus amalgamierte in diesem Text alttestamentliche und nationalistische Mo tive – den Sturmwind und das Waldmotiv einerseits, die Erwählungsvorstellung und das Motiv des Ringens mit Gott andererseits.261 Religiöse, nationale und soziale Aspekte waren hier eng aufeinander bezogen: Für Bonus bedeutete die Abkehr vom christlichen Sozialismus eine Entfernung vom kirchlichen Da seinszweck. Für die Christliche Welt verfasste er 1896 eine kurze, skizzenhafte Andacht zur sozialen Frage, in der er seine Verachtung gegenüber einem Protestantismus ausdrückte, der sich in sozialen Fragen auf eine unpolitische Binnensicht be schränkte. In dem andeutungsgeladenen Text konfrontierte er hinter groß städtischer Szenerie einen Ich-Erzähler mit „dem Geist“, der ihn zur Aufmerk samkeit gegenüber den sozialen Missständen in den Industrierevieren ermahn te. Dabei schilderte er plastisch die Unterschiede zwischen den städtischen Elendsvierteln und den Wohngebieten des Bürgertums, zwischen denen er kaum Berührungspunkte wahrnahm: „Das waren die beiden Städte, die Eine Stadt waren, die Stadt der stumpfen Essentürme und die der spitzen Villentürm chen, Bilder zweier Kulturen, die nebeneinander wohnen und sich nichts zu sagen haben.“ In dem Erzählstück sprach der „Geist“ den Erzähler auf die so zialen Konflikte an und erhielt die Antwort: „Herr, sagte ich, es ist mein Amt nicht. Ich darf mich nicht darum kümmern.“ – „Er stieß mit dem Fuße nach mir, spie aus und ging.“262 260 Bonus: Sylvesterrede des Oberpfarrers Altmann an seinen Vikar, in: CW 9 (1895), 1240–1242, 1242. 261 In dem wiederholten Ruf „Du musst“ lässt sich ein Hinweis auf die biblische Erzäh lung von Jakobs Ringen mit Gott bei der Überquerung des Flusses Jabbok wahrnehmen (Gen 32, v. a. Vers 27, „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.“). 262 Ders.: Es ist mein Amt nicht, in: CW 10 (1896), 184–185. Hier klang der Erlass des EOK durch, der es jedem Pfarrer untersagte, „außerhalb seines Amtsbereichs“ liegende öf fentliche Angelegenheiten wahrzunehmen; zur Genese und Wirkung des Erlasses vgl. K laus E. Pollmann: Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, 189–210.276–285.
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
Während Bonus die angemahnte Zurückhaltung in der sozialen Frage gleich sam zum Symptom der Geistesverlassenheit des Protestantismus erklärte und dabei auf Zustimmung in seinem Umfeld rechnen konnte, löste seine pointierte Forderung zur Sozialpolitik auch Entrüstung aus.263 Ihm ging es darum, das in der sozialen Bewegung enthaltene Protestpotential zu verstärken.264 Die Be schränkung der politischen Äußerungen der Geistlichen war für ihn ein Verstoß gegen die Grundlagen des Protestantismus, wie er mit Verweis auf Martin Luther zu begründen versuchte. Es gebe doch „kein Politikverbot Luthers“, wie er an Martin Rade schrieb.265 Luther galt ihm als Vorbild einer christlichen Politik, die sich nicht im äußerlichen Betonen ihrer christlichen Motivation er schöpfte, sondern in der die säkulare Betätigung, der „Beruf“, und die fromme Weltsicht, der Zustand, „innerlich Christ“ zu sein, ineinanderflossen. Gefährli cher als eine „Verweltlichung des Christentums“ war nach Bonus die Phrasen haftigkeit eines innerlich und unpolitisch verstandenen Protestantismus, den er scharf als Versuch der Ruhigstellung der Bevölkerungsmehrheit kritisierte. Luther war das Vorbild einer Weltwendung des Christentums, die für Bonus letztlich eine praktische Glaubensäußerung war. Der „Bannerträger des Sola fides“, Luther, habe stets ein starkes Interesse für die weltliche Arbeit gezeigt.266 263 Wie differenziert das Spektrum des Kulturprotestantismus auf die evangelisch-sozia len Anliegen reagierte, zeigt eine Zuschrift aus dem liberalen Umfeld des Protestantenver eins, die an Bonus’ Artikel monierte, „daß hier der Geist des Christentums einem Geistli chen, der sich der Socialpolitik enthält, seinen Hass und seine Verachtung ausdrückt“. Die Protestantische Kirchenzeitung warnte vor „Curpfuscherei auf dem socialpolitischen Gebie te“ und erklärte, dass die politische Betätigung nicht in das „Amt“ des Pfarrers gehörte (Es ist dein Amt nicht, in: PKZ 43 (1896), 192); vgl. zur Debatte, in der Rade Bonus verteidigte: M artin R ade: Verschiedenes. Es ist mein Amt nicht, sowie: Arbeiterinnenelend in Wien, in: CW 10 (1896), 260–261; ders.: Grundsätzliches und Persönliches, ebd., 261–262. Generell wurde auch im Protestantenverein vermehrt der Bedarf wahrgenommen, Nächstenliebe und sozialpolitisches Handeln zu verknüpfen, vgl. den im Anschluss an den 19. Protestantentag erschienenen Vortrag von Paul K irmss: Der christliche Socialismus der Gegenwart, Berlin 1896 sowie den Bericht in der Chronik der Christlichen Welt, Nr. 28 vom 9.7.1896; sowie als Versuch einer Einigung Ernst Lehmann: Der christliche Socialismus und das Sulze’sche Gemeindeideal, in: PKZ 43 (1896), 248–260. 264 Beim Schreiben seines Aufsatzes sei er nicht „der unfehlbaren Schriftexegese begeg net“, so betonte Bonus, sondern dem Geist, und dass „der Geist für mich aufgehört hat, in Thorwaldsenschem Ebenmaß und in klassischer Reife auf dem Altar zu stehen, [so] daß er für mich höchst ‚widerwärtige‘ und ungesellschaftliche Züge trägt und Allaun am Leibe hat“ (Briefkonzept Bonus, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]). 265 Briefkonzept Bonus an Rade, ohne Datum [ebd., 03_002] (die Erwähnung des Kaiser telegramms sowie die im Brief erwähnte Auseinandersetzung Martin Rades mit der Arme nierfrage im Osmanischen Reich (Zwei Briefe zur armenischen Sache, in: CW 31 (1896), 733–736) lässt auf eine Datierung im Herbst 1896 schließen. 266 Bonus: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188, 1187.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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Für Bonus gab es eine prophetische Verpflichtung des Protestantismus zur Politik und zur gesellschaftlichen Gestaltung, die jenseits einer rational erwä genden Ethik angesiedelt war. Nicht Kompromisse und Einzelentscheidungen, sondern ein einheitliches, religiös-soziales Handlungsprinzip war gefordert. In Gebetsform rief er zu einem praktischen, sozialpolitischen Christentum jenseits privatisierender Frömmigkeitsideale auf: O Jesus Christus, […]! Gieb uns Männer mit Deinem großen einfachen heiligen Geist, damit wir das einfache große heilige Leben des Glaubens wieder leben lernen, das allein prakti sche, weil allein wirksame, weil allein lebendige, weil allein Leben schaffende Christen tum.267
Weiterhin kritisierte er, dass sich die Geistlichen überwiegend auf die Seite des Konservatismus eingeschworen hatten, mit ihrer Predigt die offizielle Reich spropaganda und ein religiös verbrämtes Obrigkeitsdenken unterstützten und dadurch eine eigenständige, wirkungsstarke Stimme in den sozialen Kämpfen der Gegenwart nicht hatten entwickeln können, was zudem durch die Regle mentierungsversuche der Kirchenbehörde gedämpft worden war. Die kirchliche Schützenhilfe für den Konservatismus lehnte er rundweg ab: Die Politik auf der Kanzel ist bis heute noch zumeist Politik der 27. Januare und der Zins groschen- und Obrigkeitspredigten – man weiß, wie in diesen Predigten meist schlankweg konservative Politik getrieben worden ist und wird. […] Jesus war anders.268
Es darf nicht unterschätzt werden, wie sehr die Annäherung an den christ lich-sozialen Flügel um Naumann und Bonus’ exponierte politische Stellung nahmen Bekenntnischarakter hatten. Besonders Paul Göhre hatte erfahren müs sen, dass seine soziale Betätigung zum Konflikt führte und deutliche Maß regelung nach sich zog. Er berichtete Bonus davon, dass er aufgrund seiner Kontakte zur Sozialdemokratie aufmerksam durch den Oberkirchenrat beob achtet wurde.269 Auch war der Eindruck entstanden, unter strengere, disziplina rische Aufsicht gestellt zu werden. Schon im November 1895 schrieb Bonus an 267 Ebd. 268
Ders.: ‚Christlich-sozial‘ und ‚Politische Pastoren‘, in: CW 10 (1896), 542–545, 544 f. Es handelt sich um eine Besprechung zu Göhres im selben Jahr erschienenem Buch: Die evangelisch-soziale Bewegung. 269 An Bonus berichtete er in griechischen Buchstaben chiffriert: „Μιτ δερ Ρεγιερουνγ αβερ νοχ μηρ δεμ Κονσιστοριον στηε ιχ ιετζτ ιν καμφ ουνδ κονφλικτ. Aber dies vertraulich.“ (Postkarte Göhres an Bonus, 1.9.1897 [ebd., 02_011]). In einem Artikel im sozialdemokrati schen Vorwärts berichtete Göhre davon – allerdings erst wesentlich später –, dass für die in Frankfurt stationierten Soldaten ein Besuchsverbot für seine Gottesdienste bestand und sei ne Predigten über sechs Wochen hin durch einen Staatsanwalt begutachtet wurden, „um An klagestoff wegen Verkündigung sozialistischer Irrlehren zu sammeln“ (Vorwärts, Nr. 270 vom 9.6.1928; vgl. die Angaben bei Pollmann, 242).
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Göhre: „Daß wir übrigens sehr beobachtet werden, ist richtig“, allerdings kam ihm das strenge Interesse der Kirchenbehörde „überaus komisch“ vor.270 Auch Rade gegenüber machte er deutlich, dass er in seiner politisch-religiö sen Stimmung Vorsicht walten lassen musste: Es stand zu befürchten, für Nau mann und die christlich-sozialen Anliegen zum „Märtyrer“ zu werden, also aus dem Pfarramt gedrängt zu werden.271 Rade mahnte Bonus zu einem vorsichti gen Vorgehen: „Thun Sie für Naumann, was Sie können, aus Liebe u.[nd] Ge sinnung“, meinte er, und fügte warnend hinzu, dass Bonus sich nicht zu sehr ins öffentliche Licht stellten solle: „Für Ihren O[ber]k[irchen]r[at] ist Stöckers Soz[iali]sm.[us] z. B. schon gerad genug“.272 b) Der Nationalsoziale Verein Die sozialen Reformanliegen des Naumann-Kreises und das sich in seinem Um feld zunehmend verdichtende Protestpotential fanden im 1896 begründeten Nationalsozialen Verein ein Forum mit politischer Stoßrichtung.273 Im National sozialen Verein verbanden sich die Bestrebungen der jüngeren Christlich-Sozia len mit einem breiten Spektrum an bürgerlichen Reformideen und diversen Politikansätzen. Eher konservative Persönlichkeiten wie der Kirchenrechtler Rudolf Sohm, Gelehrte wie Max Weber, aber auch der Sozial- und Bodenrefor mer Adolf Damaschke fanden in der Vereinigung zusammen in der Hoffnung, eine umfassende christliche und nationale Bewegung zu begründen. Sie verband das Selbstbewusstsein, „die Propheten und die Vertreter der Gesamtinteressen 270
Briefkonzept Bonus an Göhre, 9.11.1895 [ebd., 02_011]. Dieser Brief enthält ein flam mendes Bekenntnis zu Göhre und der Sache der Christlich-Sozialen: „Nach dem was die letzten Tage brachten, […] drängt es mich doch, dir zu sagen, daß ich keinen Augenblick daran dachte oder denke, wills Gott, auch nie denken werde, mich einem etwa auch auf mich treffenden Bann je zu entziehen. Ich werde stets mich zu euch und eurer Sache bekennen […]. Die konservativen Machinationen machen mir nicht das Eintreten in Eurer Sache schwerer, sondern die unfreiwillige vorläufige Zurückhaltung.“ 271 Briefkonzept Bonus an Rade, undatiert [ebd., 03_002]. 272 Rade an Bonus, 11.2.1896 [ebd., 03_002]. 273 Zum Nationalsozialen Verein vgl. Düding: Der Nationalsoziale Verein; I nho Na: So zialreform oder Revolution; K laus E. Pollmann: Friedrich Naumann und der Evangelisch Soziale Kongreß, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000; dort auch: Kurt Nowak: Wege in die Politik. Friedrich Naumann und Adolf von Harnack, 27–48; M arcus Llanque: Friedrich Naumann und das Problem des nationalen Sozialliberalismus, in: R ichard Faber (Hg.): Liberalismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2000, 131–149; zum Umfeld Naumanns wichtig Ursula K rey: Der Naumann-Kreis im Kaiserreich. Liberales Milieu und protestantisches Bürgertum, in: Jahrbuch zur Liberalis mus-Forschung 7 (1995), 57–81; dies., Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektuellen, in: Gangolf Hübinger /Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart/München 2000, 71–92.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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der Nation“ darzustellen.274 Mit nationalem Pathos setzte man sich für den „Zu kunftstraum“ einer politischen Erneuerung unter monarchischer Führung im nationalen Machtstaat ein.275 Durch sein dichtes Kommunikationsnetzwerk wurde der Nationalsoziale Verein weit über seine nur kurze Bestehenszeit bis 1903 hinaus impulsgebend für bürgerliche Vorstellungen von politischer Reform; wirkungsvoll blieb die ideenpolitische Verklammerung von Sozialismus und Nationalismus.276 Von der kirchlichen Unentschlossenheit in sozialpolitischen Frage abgestoßen rief Friedrich Naumann in der Neujahrsnummer der Hilfe 1896 dazu auf, den Kurs eines politischen „Kompromiß zwischen Arbeit und Monar chie“ fortzusetzen. Die Zukunft sollte in einem „praktischen, nationalen Sozia lismus“ liegen, der Kaisertum und Proletariat miteinander verband.277 Schon früh hatten sich die jüngeren Christlich-Sozialen um Naumann auf die Suche nach einer geeigneten Organisationsform begeben, die ihren gesellschafts politischen Vorstellungen Durchschlagskraft geben sollte. Mit der Gründung der Wochenzeitung Die Hilfe entstand bereits Ende 1894 ein Sprachrohr, in dem sich zunehmend die Differenz zu den älteren Positionen Stoeckers erahnen ließ.278 Der Untertitel der neubegründeten Zeitung „Gotteshilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Selbsthilfe“ verdeutlichte, dass Naumann mit ihr ein weitgefasstes Deutungs- und Transformationsprogramm für im Grunde alle Lebensbereiche anstrebte. Die Wochenzeitung verhandelte ein breites Themenangebot, das von Kommentaren zur tagespolitischen Lage über Vorschläge zur Verwaltungsreform bis hin zu Buchberichten und Kunstrezensionen reichte. Aufgrund dieser inhaltlichen Brei te ist die Hilfe als ein „Ideenlabor in Deutschland“ bezeichnet worden.279 Wie Naumanns Konzeption des Blattes zeigt, war sie als protestantische Zeitschrift 274 Protokoll über die Vertreter-Versammlung aller National-Socialen in Erfurt vom 23. bis 25. November 1896, Berlin 1896, 44. Naumann hatte Bonus zu den Vorbereitungen einge laden, vgl. die „Einladung zu einer vertraulichen Besprechung des engeren Kreises der jün geren Christlich-Sozialen, Erfurt 10.–11.2.1896 (Druckblatt, unterzeichnet von Naumann, Frankfurt 28.1.1896 [ebd., 05_017]). 275 Naumann: Gegenwartspolitik, in: Die Hilfe 3 (Nr. 25 v. 1897), 2–3. B. Otto: Der Zu kunftsstaat, in: Die Hilfe 4 (Nr. 23 v. 1898), 1–2; mit Blick auf den nationalen Machtausbau vgl. auch Naumann: Deutschland und England, in: Die Hilfe 7 (Nr. 8 v. 17. Februar 1901), 3–4, 3. 276 Zum Nationalsozialen Verein als Teil der Gebildetenreformbewegung vgl. K ratzsch: Kunstwart, 31. 277 Naumann, Was wir wollen, in: Die Hilfe 2 (Nr. 1 v. 5. Januar 1896), 1–2. 278 Zur Distanznahme gegenüber Stoecker und der daraus erwachsenden Spaltung des ESK vgl. K laus E. Pollmann: Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß. 279 P hilippe A lexandre: ‚Die Hilfe‘ 1894–1944. Revue libérale et laboratoire d’idées, in: ders./R einer M arcowitz (Hg.): La revue „Die Hilfe“ 1894–1944, un laboratoire d’idées en Allemagne, Bern 2011, 3–27, 19. Die Vielfalt des „Ideenlaboratoriums“ Hilfe samt der Paral lelblätter Die Zeit und Patria wird in diesem Band nur unscharf erkennbar, da sowohl die lebensreformerischen als auch die religiös-protestantischen Bezüge eher am Rande themati
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
geplant, die ähnlich wie die Christliche Welt über eine theologische Binnenper spektive hinausweisen sollte. Neben dem christlich-sozialen Schwerpunkt ver schaffte sie ausdrücklich der modernen Theologie der „Gruppe Harnack“ Gehör: Evangelischer Standpunkt. Biblisches Bekenntnis, aber Gleichberechtigung der Gruppe Har nack in christlich-sozialer Hinsicht. Keine Kirchenpolitik und Kirchenparteien. Keine bloße Theologensache. Offene Aussprache über die schwierigen Probleme. Das Volk darf wissen, daß es verschiedene kirchliche Richtungen gibt.280
Die Hilfe schafft damit ein Angebot, das sie zum zentralen Kommunikations medium der gesellschaftlichen, religiösen und politischen Vorstellungen der Naumann-Gemeinde werden ließ, um das sich ein fester Zirkel von Mitarbeitern und Lesern bildete, der das Blatt auch finanziell trug.281 Die Zeitschrift struktu rierte die um Naumann gruppierte Interessengemeinschaft, die als „Freunde der Hilfe“ nicht nur eine überregionale Lesergemeinschaft bildete, sondern sich auch in lokalen Vereinigungen traf.282 Ähnlich wie für den Rade-Kreis – und mit weitgehender personeller Überschneidung – bot der Evangelisch-soziale Kongreß eine Gelegenheit, sich ohne öffentliches Aufsehen auszutauschen.283 Naumanns Persönlichkeit war für diesen Kreis „das Programm“ und die intel lektuelle Führungsfigur.284 Auch für Bonus, der zu den Hilfe-Mitarbeitern der ersten Stunde gehört, konnte das Blatt eine Führungsinstanz zu religiöser und sozialpolitischer Reform darstellen.285 Für Naumann schrieb er kurze, einfach gehaltene Andachtstexte, äußerte er sich punktuell aber auch zu sozialpoliti siert werden. Anregend zu Zeitschrift und Umfeld in den dreißiger Jahren: Eric Kurlander: Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich, New Haven 2009. 280 Theodor H euss: Naumann, 121; Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialis mus, 328. 281 Vgl. zur gemeinschaftsstiftenden Bedeutung der nationalsozialen Presseorgane bereits die 1934 veröffentlichte Arbeit von Carl Schneider: Die Publizistik der national-sozialen Bewegung 1895–1903, Berlin 1934. Die Gründung der Zeitung war nur mit der finanziellen Förderung von Naumann nahestehenden Intellektuellen möglich, u. a. von Hans Delbrück, Adolf Harnack und Max Weber, der eine Bürgschaft übernahm. 282 Vgl. M artin Wenck: Die Geschichte der Nationalsozialen, 19 ff. und 39; Dieter Düding: Der Nationalsoziale Verein, 41 f.; Wilhelm Kulemann: Politische Erinnerungen, 188. 283 Vgl. z. B. die Einladungen in: Die Hilfe 1 (Nr. 20 v. 19. Mai 1895), 7 sowie ebd. (Nr. 21 v. 26. Mai 1895), 8; Düding: Der Nationalsoziale Verein, 41. Zur Zusammensetzung des Nau mann-Kreises vgl. die Analysen von Ursula K rey: Der Naumann-Kreis. Charisma und poli tische Emanzipation, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, 115–149; dies.: Demokratie durch Opposition. Der Naumann-Kreis und die Intellektu ellen, in: Hübinger /Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat, Stuttgart 2000, 71–92 sowie Inho Na: Sozialreform oder Revolution, 62 f. 284 M artin Wenck: Die Entwicklung der jüngeren Christlichsozialen, in: Patria 1 (1901), 34–67, 52. Vgl. Düding, Der Nationalsoziale Verein, 43 285 Ebd., vgl. I. Na, Sozialreform oder Revolution, 52.
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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schen Konfliktfragen.286 In diesem Umfeld war die Grundlage für die Bildung eines Vereins geschaffen, welcher die Arbeiter nationalisieren und die Gebilde ten mit der Arbeiterschaft solidarisieren sollte.287 Man sprach, so Naumanns zuversichtliche Einschätzung, über einen „neuen Nationalverein“.288 Dessen Beginn war die von Naumann einberufene Gründungsversammlung im Kaisersaal in Erfurt am 23. November 1896. Bemerkenswert zur politisch- sozialen Orientierung war die Selbsteinschätzung Naumanns, die er in der von ihm initiierten Tageszeitung Die Zeit – einem kurzlebigen Parallelorgan zur Hilfe – veröffentlichte. „Denn lange genug haben sie empfunden, was es heißt politisch heimatlos zu sein“ – im Nationalsoziale Verein sammelten sich Erwar tungshaltungen, die sich mit keiner sonstigen politische Partei oder Formation verbinden ließen.289 Damit stellte die Vereinigung ein gesellschaftspolitisches „Experimentierfeld“ für seine Mitglieder her, die weit überwiegend aus einem bildungsbürgerlichen, akademischen Umfeld stammten und sich um die Ziel vorstellung einer neugearteten Politik sammelten.290 Die programmatische Selbstfindung des Naumanns-Kreises war daher eine „Gratwanderung zwischen den unterschiedlichsten religiös-individuell und na tional gefassten Einzelorientierungen eines bürgerlich gefärbten Sozialis mus“.291 Paul Göhre sprach seinem Umfeld 1895 eine unabhängige, „ausgespro chenermaßen […] radikal-sozialpolitische Haltung“ zu, die sich in der Kritik am Materialismus der Sozialdemokratie sowie in der Opposition gegen den herr schenden Konservatismus äußerte.292 Ihm zufolge kündigte sich die „Partei der 286 Bonus
wurde von Naumann ausdrücklich um besinnliche „Plaudereien“ als Gegen stück zu den eher „gelehrten“ Beiträgen in der Zeitung gebeten (Brief Weinhausen (für die Redaktion der Hilfe) an Bonus, 31.1.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_008]). 287 Wenck: Geschichte der Nationalsozialen, 40; Naumann: Unsere Organisation, in: Die Hilfe 1 (Nr. 45 v. 10. November 1895), 2–3. 288 Vgl. das „Protokoll der Versammlung der jüngeren Christlich-Sozialen (Naumann- Kreis) in Erfurt am 10./11.2.1896“, zitiert aus: Kouri: Der deutsche Protestantismus, 215–219, Zitat 218; vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 60; Peter Theiner: Sozialer Li beralismus und deutsche Weltpolitik, 55; Düding: Der Nationalsoziale Verein, 42 f., Anm. 99. 289 Naumann: Die Begrüßungsversammlung in Erfurt, in: Zeit 1 (24.11.1896), Beiblatt, vgl. Na: Sozialreform oder Revolution, 50. 290 Düding: Der Nationalsoziale Verein, 45 f. und 197. Eine genaue Auswertung der Beru fe der Erfurter Delegierten bietet Ursula K rey: Demokratie durch Opposition. Der Naumann- Kreis und die Intellektuellen, 76–79. Danach waren 24 % von 484 in Erfurt versammelten Naumannianern Hochschuldozenten und (Geistes-)Wissenschaftler, 15 % Pfarrer, 12 % gin gen journalistischen Berufen nach, 11 % waren höhere Beamte, 7 % hatten eine militärische Laufbahn eingeschlagen, 7 % waren Lehrer. 291 Frank Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialismus, 434. 292 Paul Göhre: Die Krisis der evangelisch-sozialen Bewegung, in: CW 9 (1895), 1100– 1104, 1102.
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
Zukunft“ an, wie er im September 1896 emphatisch in der Hilfe ausrief, die auf der Grundlage „strengster Nationalität und unbezweifelt extremer Arbeiter freundlichkeit“ stehen würde.293 Auch Bonus hoffte, wie er in der Entstehungs phase des Vereins schrieb, auf die Begründung einer „christlich-sozialen Zu kunftspartei“, die als Sammlungsbewegung von der Sozialdemokratie bis zum Konservatismus reichen würde. Naumann erschien ihm aufgrund seines sozia len Interesses und seiner rhetorischen Schlagfertigkeit als die richtige Füh rungsgestalt für ein solches Anliegen.294 Die konfliktreiche Anfangsphase des Nationalsozialen Vereins mündete in ein Parteiprogramm ein, das als eine „Synthese von Sozialismus und Nationa lismus“ bezeichnet werden kann.295 Die Grundlinien steckte Naumann 1897 im National-Sozialen Katechismus ab, einem eigenartigen, im katechetischen Fra ge-Antwort-Modus gehaltenen Programmtext: 1. Warum nennt ihr euch nationalsozial? Weil wir glauben, daß das Nationale und das Sozia le zusammengehören. 2. Was ist das Nationale? Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf der Erdkugel auszudehnen. 3. Was ist das Soziale? Es ist der Trieb der arbeiten den Menge, ihren Einfluß innerhalb des Volkes auszudehnen. 4. Wie hängt beides zusam men? Die Ausdehnung des deutschen Einflusses auf der Erdkugel ist unmöglich ohne Na tionalsinn der Masse.296
Diese Eingangsthesen unterstreichen die nationale und imperialistische Aus richtung des Nationalsozialen Vereins, die eine deutliche Erweiterung der christlich-sozialen Anfänge bedeutete. In ihrer thesenartigen Kürze lassen sie aber verkennen, wie ungeklärt die inhaltliche Ausrichtung der Parteigründung blieb. Das Weltmachtstreben verdeckte dabei die soziale Dimension nicht und war eng mit Demokratisierungsforderungen für die deutsche Gesellschaft ver bunden, wie der National-Soziale Katechismus zum Ausdruck brachte: Wir stehen auf nationalem Boden, indem wir die wirtschaftliche und politische Machtent faltung der deutschen Nation nach außen für die Voraussetzung aller größeren sozialen Re formen im Innern halten […]. Wir wünschen darum eine Politik der Macht nach außen und der Reform nach innen.297
Naumann ließ keinen Zweifel daran, dass er Flottenbau und Kolonialerwerb auf dem Weg zu einer führenden Industrie- und Weltmacht als notwendige Mittel der Außenpolitik betrachtete. Die programmatischen Äußerungen Naumanns 293
Ders.: Partei der Zukunft, in: Die Hilfe 2 (Nr. 38 v. 20. September 1896), 1. Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 30 f. 295 Vgl. ausführlich zur Programmdebatte Düding: Der Nationalsoziale Verein, 63–108; Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik, 53–105. 296 Naumann: National-Sozialer Katechismus. Erklärung der Grundlinien des National- Sozialen Vereins, Berlin 1897, 5 (§ 1). 297 Ebd., 4 (§ 1). 294
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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griffen nicht nur den im Wilhelminismus verbreiteten Gedanken einer Machtund Weltpolitik auf, sondern bezogen sich auf die sehr sensibel beobachteten Wandlungen der deutschen Gesellschaft zu einer Industrienation. Das Anliegen, einer neuartigen Politik zum Durchbruch zu verhelfen, wurde aufmerksam wahrgenommen. Dabei wurde in der Gründungsphase noch dar über debattiert, welches Gewicht den protestantischen Wurzeln in der neuen Bewegung eingeräumt werden würde. Naumann selbst betonte – unter Einfluss von Rudolf Sohm und anderen – die Trennung zwischen christlichem Ethos und politischen Sachfragen. Schon vor dem Nationalsozialen Verein hatte er etwa in der Christlichen Welt ausgeführt, dass „im Neuen Testament keine Gesetze für das Jahr 1900 geschrieben stehn“, man also mit Jesus nur begrenzt Tagespolitik entwerfen konnte.298 So überwogen die Stimmen, die für eine klare Trennung zwischen christlichen und politischen Anliegen sprachen.299 Adolf Harnack vo tierte etwa für eine Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Be reich, da er eine Zwitterbildung „zwischen einem christlichen Verein und einer politischen Partei“ in den Spuren Stoeckers nicht für wirkungsvoll hielt. Seiner Ansicht nach sollte die politische Pragmatik überwiegen.300 Paul Göhre plädier te ähnlich für eine Differenzierung, da das Christentum seiner Ansicht nach nicht ausreichte, um die Inhalte im politischen Tagesgeschäft festzusetzen.301 Bonus hingegen vertrat in der Hilfe die gegenteilige Position. Für ihn stellte gerade die Verbindung von Religion und Politik die Stärke des nationalsozialen Projektes dar. In der Entflechtung der weltlichen und der geistlichen Sphäre lag die Gefahr, das Christentum auf eine unmündige und überweltliche Selbst betrachtung zu beschränken. Allerdings musste sich die Vereinsgründung Nau manns eindeutig von ihrem kirchlich-konservativen Vorfahren Stoecker ab lösen, dessen Perspektive aus „allerlei Engigkeit und Winklichkeit“ bestand und überdies die Gefahr des Antisemitismus mit sich brachte.302 Das Programm der Nationalsozialen bezog sich schließlich recht unverbindlich auf ein überpar 298 Naumann: Das Recht eines christlichen Sozialismus, in: CW 8 (1894), 435–441.477– 481, 439. 299 Vgl. Düding: Der Nationalsoziale Verein, 39 f. sowie die Erinnerungen von M artin Wenck, „Ich verhehle es nicht, daß ich mich nur mit schwerem Herzen entschlossen habe, den religiösen Ausgangspunkt aufzugeben“ (Wandlungen und Wanderungen, 103 zitiert ebd., 40 Anm. 82.). 300 Prof. Harnack an F. Naumann, Berlin, den 4. November 1896, in: Die Zeit 1 (1896) Nr. 39 vom 14. November. Vgl. Kurt Nowak: Wege in die Politik, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, 27–48, 35 f. 301 Paul Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, 187; vgl. ders.: Partei der Zukunft, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 38 v. 20. September, 1. 302 Bonus: Christlich-sozial, in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 39 vom 27. September, 2–3, 2, ähnlich auch: ‚Christlich-sozial‘ und ‚Politische Pastoren‘, in: CW 10 (1896), 542–545; als
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teiliches Christentum als „Frage des geistigen Volkslebens“, dem eine direkte politische Aussagefähigkeit abgesprochen wurde.303 Gleichwohl wurde die Inte grationskraft eines zukünftigen, kritisch geläuterten Christentums betont, das als verbindende „Gesamtanschauung“ über die sozialen Spannungen der wilhel minischen Gesellschaft zu setzen war.304 Die Beweggründe, die es für jüngere, modern ausgerichtete Theologen attrak tiv machten, sich dem nationalsozialen Experiment anzuschließen, lassen sich durchaus als „missionarisch“ bezeichnen.305 Die sozialdemokratische Leipziger Volkszeitung mokierte sich über die freischwebenden Intellektuellen, die von den sich um Naumann verdichtenden Ideen und Erwartungshaltungen angezogen wurden. Um ihn sammelten sich die „rücksichtslosen Elemente des Gelehrten proletariats, Kandidaten der Theologie, die achtbare und sozialpolitisch be schränkte Gruppe der Hungerpastoren. […] Eine farbige Schar verschiedener Elemente, Deklassierte und unaufgeklärte Proletarier, Kleinbürger, Leute, die an dem bestehenden verzweifeln […].“306 Die Naumannbewegung verlieh ein be trächtliches Sendungsbewusstsein, sie autorisierte zum politisch-sozialen Han deln und konnte reformerischen Protest in den öffentlichen Raum hineintragen. Um Naumann als Gallionsfigur formierte sich ein divergierendes Interessenpo tential „in einer politischen Emanzipationsbewegung“, wie die Historikerin Ur sula Krey zusammenfasst.307 Die Erwartungen an eine politische Bewegung, die „religiös, national und sozialistisch zu werden versprach“, begeisterte zahlreiche junge Pfarrer und Theologen im Umkreis der Christlichen Welt für den National sozialen Verein.308 Aus Bonus’ engerem Umfeld war es etwa der literarisch akti ve Pfarrer Gustav Frenssen, der Naumanns nationalsoziale Wende mitvollzog: „Wir jungen Prediger hier sind fast alle national-sozial“, erinnerte er sich an die Warnung vor antisemitischen Anklängen verwies er auf die „Christlichsoziale Partei“ Öster reichs um den Wiener Bürgermeister Karl Lueger. 303 Naumann: Nationalsozialer Katechismus, 32. 304 Ebd., 34 f. Naumann unterschied zwischen dem Christentum und den eng mit dem konservativen Machtapparat verbunden Kirchen, die er als „veränderungsbedürftige […] Or ganisationen“ betrachtete. 305 Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 436. 306 Von Naumann abgedruckt in: Wochenschau. Naumann’sches, in: Die Hilfe 2 (Nr. 39 v. 27.9.1896), 1, vgl. Theiner: Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik, 60. 307 Ursula K rey: Der Naumann-Kreis. Charisma und politische Emanzipation, 124. 308 Paul Göhre: Göhres Austritt, in: Die Hilfe 5 (1899) Nr. 21 3–6 (Wiederabdruck von Göhres Rechtfertigung nach seinem Austritt aus dem Nationalsozialen Verein: Meine Tren nung von den Nationalsozialen, in: Die Zukunft 30 (1899), 281–295). Zur ungeheuren Bedeu tung Naumanns in dieser Theologengeneration vgl. auch die Lebenserinnerungen von Paul Jaeger, der 1893–1894 als Redaktionssekretär der Christlichen Welt bei Martin Rade in Frankfurt arbeitete und dort Naumann kennenlernte (Am geheimen Webstuhl Gottes, Bd. 2, Stuttgart 1938, 67–72 und 77–79).
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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Haltung seiner Altersgruppe im ländlichen Schleswig-Holstein.309 Für Paul Schubring, häufiger Hilfe-Autor zu kunsthistorischen Fragen, war Naumann ein Mittel gegen die berufliche „Resignation“.310 Paul Rohrbach, der wie Bonus bei Harnack studiert hatte, war der Ansicht, dass von Naumann „etwas Einzigartiges […] in Deutschland ausging.“311 Der Verein wurde als deutsche Reform- und Volksbewegung aufgefasst, die eine Ausweitung der bürgerlichen Beteiligungs möglichkeiten und die Stärkung der nationalen Macht miteinander verband.312 Wie weit der entstehende Verein tatsächlich als nationalreligiöse Aufbruchs bewegung, als Gegengründung zum erlahmten Parteiliberalismus sowie als bürgerliche Formation gegen den revolutionären Geist der Sozialdemokratie aufgefasst werden konnte, belegten die Reaktionen aus dem disparaten national reformerischen Lager.313 Aufgrund der relativen Uneindeutigkeit fand beinahe das „gesamte progressive Spektrum der politischen Öffentlichkeit des wilhel minischen Kaiserreichs“ Anknüpfungspunkte im nationalsozialen Programm, das den zu vertiefenden „Nationalsinn der Masse“, das Ringen um deutsche Weltgeltung und die Gewinnung der Arbeiterschaft für den Nationalstaat eng miteinander verband.314 So sah der völkisch orientierte Kieler Hochschulprofes sor Johannes Lehmann-Hohenberg in der Naumannbewegung den Versuch, gleichsam die Reformation zu ihrem Ende zu führen.315 Hier schien die Grund lage gefunden zu sein, von der aus „der eine Verein, der über allen Sondergrup 309
Gustav Frenssen: Grübeleien, Berlin 1920, 123, vgl. Andreas Crystall: Gustav Frenssen, Gütersloh 2002, 92 f.; Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 118– 125. 310 Brief Schubring an Bonus, Bari 24.2.1895/18.3.1895 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_001]. Im Sommer schrieb er aus Frankfurt an Bonus und berichtete, wie er versuchte, über Rade in engeren persönlichen Kontakt zu Naumann zu kommen (Brief Schubring an Bonus, undatiert [ebd.]) 311 Paul Rohrbach: Um des Teufels Handschrift, Hamburg 1953, 15. Zu Rohrbach im na tionalsozialen Kontext vgl. Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 241–316. 312 Vgl. H einrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 463. 313 Ebd., 463. So begrüßte man im Umfeld der Egidy-Bewegung den Nationalsozialen Verein als Parallelbewegung, vgl. die Einschätzung von Moritz von Egidy: Erfurt, in: Versöh nung 1 (1896), 222–229, 228: „Anregen, lebendig machen, das Ganze in Bewegung setzen“ seien die gemeinsamen Anliegen. 1898 wurde ein Wahlbündnis zwischen Nationalsozialen und Egidyanern erwogen. Auch für den Volkserzieher Wilhelm Schwaners bestanden enge gemeinsame Interessen, die im Streben nach „einer ehrlichen modernen Weltanschauung mit kultur-politischer Lebenspraxis“ lagen (F. Schönemann in der Rubrik: Büchertisch: Die Bun desschule, in: Die Hilfe 14 (1908), Nr. 30 v. 26. Juli, 491–492; vgl. den Bericht des Lehrers G. R einhardt, Ein Stimmungsbild vom vierten nationalsozialen Vertretertag, in: Volkserzie her 3 (1899), 347–348. 314 Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 360. 315 Johannes Lehmann-Hohenberg: Die Nationalsozialen und die Zukunft Deutschlands, in: Die Deutsche Volksstimme 1 (1896), 266–267, 267; zu Lehmann-Hohenberg s. Claudia-
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pen steht, der alle Einzelbestrebungen […] zusammenfaßt und dann auch zur praktischen Verwirklichung, zur politischen That schreitet“, realisiert werden konnte, wie Lehmann-Hohenberg meinte.316 Ein völkisches Pamphlet unter dem Titel Thing! trug die sozialreformerischen Anliegen des Vereins als Überwin dung des jüdischen Kapitalismus und als Kern eines die Sozialschichten über kuppelnden Neubeginns vor.317 Auch Bonus hegte große Erwartungen an den Naumann-Kreis als Rückgrat einer nationalen Erneuerung. Für ihn war Naumann eine der „erfreulichsten und genialsten Erscheinungen unserer Zeit“, an dessen Sache er sich mit höchs ter Aufmerksamkeit beteiligte.318 Dass auch Martin Rade den politischen Kurs der Nationalsozialen unterstützte, nahm er erfreut als Bestärkung zur Kennt nis.319 In Anlehnung an Paul Göhre, der in Frankfurt an der Oder eine Pfarrstel le versah und damit in die leicht erreichbare Nachbarschaft von Bonus’ Gemein de gerückt war, kam er intensiv mit der politischen Arbeit der Nationalsozialen in Berührung. In Frankfurt existierte eine aktive lokale Vereinigung der „Freun de der Hilfe“ , später des Nationalsozialen Vereins, an der sich beide beteiligten. Göhre bat Bonus um Vorträge für seinen in Frankfurt begründeten Arbeiterver ein.320 Bonus ließ sich seinerseits von Göhre über das Vorgehen im Arbeits kampf beraten321 und fragte um Unterstützung nach gegen den konservativ-ag rarischen „Bund der Landwirte“, der in seiner ländlich geprägten Gemeinde Groß Muckrow großen Einfluss hatte. Göhre sollte ihn mit politischen Informa tionen versorgen und ihm argumentative Schützenhilfe gegen die Wahlagitation
R egine Nerius: Johannes Lehmann-Hohenberg (1851–1925). Eine Studie zur völkischen Rechts- und Justizkritik im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt 2000. 316 Ders.: Bismarck’s Erbe. Los von Rom, gut deutsch allewege! Ein Weckruf an das deut sche Volk zur Vollendung deutscher Reformation, München 1899, 9. 317 Vgl. K. R euss: Thing! In öffentlicher Audienz beim deutschen Kaiser, Gera 1896; vgl. die kurze Besprechung Rades, der in der Schrift den Wert sah, die nationalsozialen Anliegen des deutschen Bürgertums vor den Kaiser getragen zu haben; ihren „christlichsozial-anti semitischen“ Standpunkt lehnte er ab, begrüßte aber die „warmherzige Vaterlandsfreude“ (CW 10 (1896), 22; vgl. Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 463). 318 Briefkonzept Bonus an Rade, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 319 Briefkonzept Bonus an Rade, Groß Muckrow 6.8.1896 [ebd., 24_007]. 320 Postkarte Göhre an Bonus, 10.2.1897 [ebd., 02_011]. 321 Dabei zeigte sich, dass Bonus oft eher idealistisch als informiert vorging. Göhre gab Bonus in einem Brief vom 26.11.1898 genaue Hinweise, wie er sich einem Arbeitgeber gegen über zu verhalten habe, der von seinen Angestellten hohe Überstunden erwartete. Er riet ihm von einem agitatorischen Vorgehen ab: Bonus müsse den „Charakter der Denunziation“ un bedingt vermeiden. Weiterhin sollte er zuvor überhaupt feststellen, ob die Arbeiter die Über stunden selbst mehrheitlich ablehnten; Göhre wies Bonus darauf hin, dass die Überstunden für die Arbeiter einen Zuverdienst bedeuten könnten [ebd., 02_011].
III. „Von Stöcker zu Naumann“
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des „Bundes der Landwirte“ leisten.322 Bonus unterstützte Göhre in seinem Vorhaben, sich im Sommer 1898 als Reichstagskandidat für den Nationalsozia len Verein im Frankfurter Wahlkreis aufstellen zu lassen.323 Auch gegenüber seinem konservativen Patronatsherrn Friedrich Karl von Falkenhausen machte Bonus deutlich, dass er „den Nationalsozialen (die ich auch unterstütze)“ nahe stand, „aber auch nur am nächsten“.324 Den Schritt in die konsequente Partei politik unternahm Bonus nicht, vielmehr blieb er im vorpolitischen Raum der Gesinnungserzeugung stehen: Ich lasse mir mit großem Vergnügen von m.[einem] Freunde Göhre eine sozialdemokratische Agitationsrede in die Ohren brüllen und gleich darauf i.[n] e.[iner] Gutsbesitzer-Gesellschaft eine agrarische. Nicht nur, weil es mitunter Spaß macht, sondern aus ehrlicher Anteilnahme. Gutes und Böses finde ich verhältnismäßig gleich verteilt in den Parteien.325
Gegen die Grundtendenz der Vereinsgründung sah Bonus in Naumann den „Thatbeleg“ dafür, dass eine nationale Politik auf religiöser Grundlage möglich war.326 Die von Naumann letztlich als gescheitert betrachtete Verknüpfung von Religion und nationaler Politik war für ihn das fehlende Element in der politi schen Landschaft des Kaiserreiches, das es nun umzusetzen galt. Was die Nau mannbewegung in Bonus’ Augen auszeichnete, war ihr unterschwellig religiö ser Charakter, der Christentum und Nation aufeinander bezog. In ihr kamen Personen „des deutscheren Glaubens“ zusammen.327 Das Stoeckersche Erbe der Verbindung von Religion und Politik war bei Bonus also noch lebendig, trotz seiner Abkehr von dessen christlich-konservativen Prämissen. In diesem Sinne sah er die an den Protestantismus gerichtete Zeitforderung darin, nun auch auf dem politischen Sektor „Geist und Kraft“ zu beweisen.328 Es galt, die Konse quenzen aus der Entwicklung Deutschlands zum machtvollen Industriestaat zu ziehen. In seiner Germanisierungsschrift Von Stoecker zu Naumann verwies er 322
Vgl. Briefkonzept von Bonus an Göhre, undatiert [ebd.]. einem Brief vom 7.1.1898 richtete Göhre von einer Agitationsreise durch Nord deutschland aus an Bonus die Bitte, sich in Frankfurt „discretissime“ umzuhören, wie seine Aussichten stünden, zum Kandidaten berufen zu werden [ebd.]. Göhre informierte Bonus ausführlich über den Alltag im Wahlkampf, vgl. z. B. seine Postkarte an Bonus vom 20.4.1898, in der er einen geplanten Besuch bei Bonus absagt. Neben einer siebenwöchigen Reise durch Hessen, Thüringen und Schleswig klagte er über die hohe Belastung durch „litterarische Verpflichtungen“ und „Papierarbeiten“ wie das Verfassen eines Wahlaufrufes [ebd.]. 324 Briefkonzept Bonus an Falkenhausen, 20.9.1902 [ebd., 12_004]. 325 Ebd. Sich selbst hielt Bonus rednerisch und von seiner Sachkenntnis her für das poli tische Tagesgeschäft für ungeeignet (in dem oben (Anm. 322) zitierten, undatierten Brief konzept an Göhre [ebd.]). 326 Bonus, Von Stöcker zu Naumann, 79. 327 Ebd., 19. 328 Ders.: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188, 1187. 323 In
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auf das Heraufziehen der Arbeitermassen als einer neuen Macht, die sich an schickte, zu einer politikentscheidenden Größe in der wilhelminischen Gesell schaft zu werden.329 In Christoph Schrempfs Zeitschrift Die Wahrheit warnte er 1897 vor einer dauerhaften Unterdrückung der Industriearbeiter, die über kurz oder lang auf einen Umsturz hinauslaufen würde, da sich im Heer der neuen, industriell geprägten Gesellschaftsschichten ein „Machtbewußtsein“ herausge bildet hatte, das auf konkrete politische Beteiligungsmöglichkeiten drängte.330 Für Bonus war es die Konsequenz der geistesgeschichtlichen Entwicklung seit der Reformationszeit, wenn nun Nation, bürgerliche Mitbestimmungsrechte und ein freier Protestantismus in einem machtvollen Staat vereint würden.331 Bis über den Ersten Weltkrieg hinaus bekannte sich Bonus als Bewunderer Naumanns, der von seinen christlich-sozialen Ursprüngen über den National sozialen Verein schließlich zu einem der prägenden Verfechter des Linkslibera lismus in der Freisinnigen Vereinigung wurde. Bonus verfolgte Naumanns Ent wicklungslinie, wenn auch, wie noch zu zeigen ist, mit zahlreichen ideologischen Seitenbewegungen. Was ihn unterschied, war der Faktor Religion. Auch Nau mann sah eine Umformung des dogmatisch verankerten Protestantismus als Notwendigkeit an und verwies – wie Bonus – in seinen Briefen über Religion auf die neuen weltanschaulichen Einflüsse und das zunehmende Unverständnis ge genüber der Traditionstheologie. Bonus bezog aber unmittelbarer als Naumann Religion, Nation und Politik aufeinander: Für ihn ergab sich aus dem christ lich-sozialen Aufbruch die Forderung an das Christentum, als nationalreligiöse Einheitsbewegung den Neubau des wilhelminischen Reiches zu unterstützen. Was ihn auch unterschied, war der Schritt in die aktive parteipolitische All tagsarbeit zwischen Wahlkampf und Parlament. Für Bonus galt es, die „Muffig keit“ des Konservatismus, der sich gegen jede fortschrittliche Regung in Politik, Kirche oder Wissenschaft stellte, zu überwinden.332 Die sich aus dem Parteien kampf ergebende Entharmonisierung der Gesellschaft war hingegen tunlichst zu vermeiden.
IV. „Eine neue Art Glaubenslehre“ Mit der modernen Theologie und der Christlich-Sozialen Bewegung hatte Bo nus im Kontext der Christlichen Welt zwei maßgebliche Themenkreise kennen gelernt, in denen versucht wurde, dem Protestantismus soziale Formkraft in der 329
Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 79. Ders.: Der Umsturz der Herren, in: Die Wahrheit 8 (1897), 129–135, 131. 331 Ebd. 332 Briefkonzept Bonus an Falkenhausen, 20.9.1902 [ebd., 12_004]. 330
IV. „Eine neue Art Glaubenslehre“
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Moderne zu verleihen. Naumann und Göhre, Harnack und Ritschl waren die Namen, mit denen sich dieses Anliegen verband. Während des Apostolikum streits hatte sich eine zunehmende Distanz des Protestantismus gegenüber dem Christentum und den Bedürfnissen der Gegenwart gezeigt. Diese Einflüsse ver dichteten sich in der Forderung nach einer neuen Glaubenslehre, die im Folgen den nachvollzogen werden soll. Neben Ernst Troeltsch wurde Bonus zu einem scharfen Kritiker der traditionellen protestantischen Dogmatik. In diesem Zu sammenhang – der Verbindung von religiösen und sozialen Anliegen – ent stand, wie zu zeigen ist, der Begriff der „Germanisierung des Christentums“.
1. Die Moderne Im Sommer 1897 hatte Martin Rade in der Christlichen Welt eine Preisaufgabe ausgeschrieben, die zur Klärung beitragen sollte, was der Begriff „modern“ als kulturelle Erscheinung bedeuten konnte. Bei den Theologen um Rade hatte sich ein Bewusstsein von der Gegenwart als einer Umbruchsphase gebildet, in der die intellektuellen Grundlagen der Theologie und der christlichen Weltbeschrei bung insgesamt unter Druck geraten waren. Die Moderne wurde keineswegs insgesamt abgelehnt, sondern in der Christlichen Welt im Querschnitt als gestalt bare und fortschrittsoffene Übergangszeit erfahren.333 Von der Preisarbeit wur de gefordert, eine „Charakteristik des modernen Menschen“ zu entwerfen, um Hinweise auf die religiösen Bedürfnisse der Gegenwart und besonders auf die Bedeutung des protestantischen Christentums zu finden.334 Die Anregung zu diesem Wettbewerb war im Frühjahr 1897 während einer Zusammenkunft der in Frankfurt ansässigen ‚Freunde der Christlichen Welt‘ entstanden, bei der man auf den theologischen Meinungsstreit der letzten Jahre zurückgeblickt hatte.335 333 Vgl. H ans M anfred Bock: Modernitätskrise und Fortschrittsoptimismus in der Christ lichen Welt um 1900, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900, Bern 2010, 73–94. 334 Vgl. die von R ade gezeichnete Ausschreibung des Wettbewerbs: Aufforderung, in: CW 11 (1897), S. 667–668; ders.: Vorwort, in: A rthur Bonus/A dolf Perino/M artin Schian (Hg.): Der moderne Mensch und das Christentum, Bd. 1, Leipzig 1898, 3–5; knappe Hinwei se bei R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 88. Als Jurymitglieder konnten Otto Baumgarten, Wilhelm Bousset und Friedrich Curtius gewonnen werden, einen Preis gab es neben der honorierten Publikation der eingereichten Aufsätze nicht. 335 Unmittelbarer Anlass war eine Thesenreihe über die „Möglichkeit des Christentums“ in der Moderne von Erich Foerster, dem ehemaligen Redaktionsassistenten Rades, die er bei einem der regelmäßigen Treffen vorgelegt hatte. Seine Thesen erschienen entfaltet als Buch: Die Möglichkeit des Christentums in der modernen Welt, Freiburg 1898 (das Buch wurde bei einem der nächsten Treffen am 4. April 1898 besprochen, vgl. die Vereinsnotizen in CW 13 (1898), 285). Im intimen Kreis hatte man sich über die Bedeutung der Theologie Ritschls
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Gewinner der Preisaufgabe wurde mit dem späteren Systematikprofessor Horst Stephan ein junger, noch unbekannter Theologe, der gerade seine akade mische Ausbildung abgeschlossen hatte.336 Auch Arthur Bonus, der sich zu die sem Zeitpunkt im Kreis der Christlichen Welt bereits einen Namen als Vordeu ter einer christlich-modernen Frömmigkeit gemacht hatte, hatte sich nach Auf forderung von Martin Rade an der Preisaufgabe beteiligt.337 Für ihn war es die Möglichkeit, „einiges für den mod.[ernen] M.[enschen] Charakteristisches“ zu sammenzufassen sowie sein „altes Desiderium“ einer theologischen Umorien tierung zu verdeutlichen.338 In ihrer Beurteilung der Gegenwart als Umbruchszeit, in der Kombination von Kulturkritik und Erneuerungsbewusstsein, der Ablehnung eines materialis tischen Weltbildes, der Hochschätzung der individuell-religiösen Persönlichkeit und ihrer hochgemuten Erwartung einer erneuerten religiösen Blütezeit besa ßen die eingereichten Beiträge vergleichbare Grundzüge. Für Horst Stephan war die Moderne von einer signifikanten Spannung zwischen der kalten, natur wissenschaftlich-rationalen Verstandeswelt und dem Aufbegehren des Subjekts gekennzeichnet. Dem Protestantismus kam die als erfüllbar verstandene eman zipatorische Aufgabe zu, die Persönlichkeit des Einzelnen aus dem „Seelenla byrinth“ der Gegenwart herauszuführen.339 Der Jurist Friedrich Curtius beklag te an der Gegenwartskultur das „Kranksein am Zweifel“ und die weitverbreite te Skepsis, die sich aus den Widersprüchen zwischen Naturwissenschaft und Religion, Kunst und Leben, Sittlichkeit und Politik ergab. Seine Beschreibung mündete in den Ruf ein: „Wir brauchen einen neuen Luther!“, dessen reforma ausgetauscht, die bei der jüngeren Theologengeneration der Christlichen Welt zunehmend in die Kritik geriet. 336 Sein Beitrag wurde in der Christlichen Welt unter der Überschrift: „Christlich oder Modern?“ veröffentlicht (in: CW 12 (1898), 7–13, vgl. R ade: Vorwort, 3; s. auch Stephans kurze Bemerkung in: Die Christliche Welt und die systematische Theologie, in: Vierzig Jah re „Christliche Welt“, Gotha 1927, 112–119, 115. Weitere aus der Preisaufgabe hervorgegan gene Aufsätze waren: Friedrich Curtius: Ueber den modernen Menschen, in: CW 12 (1898), 98–102; Phoebe: Zur Charakteristik des modernen Menschen, in: ebd., 145. Etwas verspätet erschien der ausführliche Beitrag des Marburger Gymnasialprofessors H ans Weichelt: Der moderne Mensch und das Christentum, Tübingen 1901, der insofern bemerkenswert ist, als dass er auf eine intensive Beschäftigung mit Bonus’ Arbeiten schließen lässt und diesen mit Nietzsche verband. Weitere Beiträge stammten von Adolf Perino und Martin Schian, vgl.: Der moderne Mensch und das Christentum. 337 Bonus schrieb an Harnack, er habe seinen Beitrag auf „Befehl Rades“ und nicht als „Konkurrenzschrift“ verfasst (PK Bonus an Harnack, 17. August 1898 [StB Berlin, NL Adolf Harnack, Bl. 6]). Seine Preisschrift wurde veröffentlicht als: Bonus: Ein Brief, in: Der moder ne Mensch und das Christentum, Leipzig 1898, 7–18. 338 Ebd. 339 Horst Stephan: Christlich oder Modern?, in: CW 12 (1898), 7–13, 11 f.
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torische Erneuerung auf eine vereinheitlichende Kultursynthese hinauslaufen musste.340 Bonus’ Beitrag stach jedoch hervor, weil er bei einer generellen An erkennung der Moderne als gegenwärtiger Fortschrittsphase die pessimistisch sten Voraussagen über die Entwicklungsmöglichkeiten der protestantischen Theologie enthielt. Wie viele seiner Zeitgenossen empfand Bonus eine tiefgreifende Verunsiche rung in den religiösen Überzeugungen und eine Auflösung der bisher geltenden theologischen und gesellschaftlichen Urteilsmaßstäbe. Für ihn war die Zeit für einen weitreichenden Umbau der christlichen Frömmigkeit gekommen. Die Ge genwart zeichnete sich als ein „suchendes Zeitalter“ im Übergang aus, das nach neuen kulturellen und innerlichen Werten verlangte. Die Moderne arbeitete für Bonus an der Destruktion traditioneller Normen, was zu einem „haltlosen Her umgreifen nach allem Neuen und Neuesten“, zu „Skeptizismus“ und zu „Nervo sität“ führte.341 Von ihr ließ sich als von einem „in eklatantem Sinne unfertigen Produkt“ sprechen. Für Bonus zeigte sich als Konsequenz der intellektuellen Unsicherheit ein elementares, allgegenwärtiges Verlangen nach neuen Welt anschauungsangeboten.342 Dazu gehörte die explosionsartige Vermehrung der „Propheten und Prophetlein“, die miteinander konkurrierende ethische oder weltanschauliche Modelle entwickelten. Die Pluralisierung sich ausschließen der weltanschaulicher Entwürfe war für Bonus die Signatur der Moderne: Was ist der moderne Mensch? Ein Chaos, von den mannigfaltigsten Kräften durchwogt, die alle versuchen, alleinherrschend zu werden, teils mit großem, teils mit kleinem, teils mit gar keinem Erfolg.343
Nach Bonusʼ Diagnose gelang es dem gegenwärtigen Protestantismus nicht, in der Vielfalt widersprechender weltanschaulicher Bezüge zu einer gültigen Be schreibung der Gegenwart zu kommen.344 Als Glaubenstheorie ging er von Grundlagen aus, die durch die Naturwissenschaft und die Entwicklungslehre überholt waren. Als Frömmigkeitsform war er auf innere, seelische Vorgänge 340
Friedrich Curtius: Ueber den modernen Menschen, in: CW 12 (1898), 98–102, 99 f. Bonus: Ein Brief, 10. Vgl. zu solchen Diagnosen der Jahrhundertwende M. Doerry: Übergangsmenschen, Weinheim 1896; Joachim R adkau: Das Zeitalter der Nervosität, Mün chen 1998. 342 Ebd., 14. 343 Ebd., 9. Vgl. auch die sehr ähnliche Passage bei H ans Weichelt: Der moderne Mensch und das Christentum, Tübingen/Leipzig 1901, 24. 344 Ebd.; vgl. Bonus: Die alte Turmuhr, in: CW 8 (1894), 1249–1252, 1252. In diesem Er zählstück beschrieb Bonus den aus seiner Sicht drängenden theologischen Reformstau: Eine alte Kirchturmuhr diente ihm als Beispiel für ein würdiges Relikt, das dem Puls der Zeit nicht mehr folgen konnte, aber auch nicht erneuert wurde, da es dafür an Entschlussfreudig keit und Ideenreichtum mangelte. Vgl. auch seinen Nachruf auf Nietzsche: Friedrich Nietz sche †, in: ebd., 14 (1900), 1045–1048. 341
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und die Vermittlung von Inhalten bezogen, wo in der Gegenwart das Erlebnis und die Praxis gefordert waren. In Bonus’ Schilderung der Moderne äußerte sich das Bewusstsein, vor einem völligen Neubau der theologischen und philosophischen Grundlagen der Welt beschreibung zu stehen. Es „gerät ja alles ins Wanken“ war der Kern seiner Gegenwartsanalyse als Krise, deren Auswege noch unklar waren.345 Ein ähnli cher Ausruf mit vergleichbarem Hintergrund wird auf den Theologen und Reli gionsphilosophen Ernst Troeltsch zurückgeführt. Walther Köhler schilderte in seiner Troeltsch-Biographie einen Eklat, den dieser auf der fünften Versamm lung der Freunde der Christlichen Welt im Herbst 1896 in Eisenach verursacht hatte. Adolf Harnack hatte einen Vortrag über „Die gegenwärtige Lage des Pro testantismus“ gehalten, da sprang Troeltsch mit Elan an das Rednerpult und charakterisierte in seinem Diskussionsbeitrag, in dem er sich scharf gegen die Ritschl-Schule richtete, die religiöse Gegenwart mit den Worten: „Meine Her ren, es wackelt alles“.346 Bonus hatte an der Eisenacher Versammlung der Freunde der Christlichen Welt als ein Vertreter einer auf die Moderne gerichteten theologischen Prinzi pienkritik mit Rades Unterstützung teilgenommen.347 Die Tagung war von Rade 345
Ebd., 10. Walther Köhler: Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, 1. Vgl. Die (fünfte) Versammlung von Freunden der Christlichen Welt in Eisenach am 5. und 6. Oktober (1896); Das Eisenacher Pronunciamento, in: Reichsbote Nr. 235 (10. Oktober 1896) sowie unter der Rubrik: Kleine Mittheilungen, in: AELKZ 1896 (1004); M artin R ade: Die Freunde der Christlichen Welt in Eisenach, in: CW (1896). 347 Das belegt ein rückblickender Brief an Harnack, in dem sich Bonus für dessen Aufsatz zur Theologie Ritschls bedankt (Brief Bonus an Harnack, 23. September 1897 [StB Berlin, NL Harnack, Korrespondenz Bonus, Bl. 4]; gemeint ist der Aufsatz Harnacks: Ritschl und seine Schule, in: CW 11 (1897), 869–873.891–897; vgl. Gustav Ecke: Die theologische Schu le Albrecht Ritschls, Bd. 1, Berlin 1897). Bonus teilte Harnack mit, dass er sich durch den Artikel „lebhaft an die nicht zum wenigsten durch Ihren Vortrag so schönen Tage in Eise nach“ erinnert fühlte. Das kann sich nur auf Harnacks Eisenacher Vortrag vom Vorjahr 1896 beziehen (sowohl der Brief als auch der Aufsatz waren vor der Tagung der Christlichen Welt im Herbst 1897 geschrieben). H arnack hatte seinen Vortrag, der ebenso Ritschls Einfluss auf den zeitgenössischen Protestantismus behandelte, als Nachschrift veröffentlicht: Zur gegen wärtigen Lage des Protestantismus, in: CW 10 (1896), 1034–1046). Dieser Vortrag wiederum belegt, dass Bonus protestantismuskritische Thesen in Eisenach zur Sprache kamen. Har nack erwähnte hier Bonus’ anonym erschienenes Buch Von Stöcker zu Naumann (dazu un ten), in dem er u. a. die Selbständigkeit der Religion als Erlebnis als Ausweg aus der religiö sen Krisis der Gegenwart empfahl: „Das Drängen, die Selbständigkeit der Religion dadurch zu bethätigen, daß die andern Geistesgebiete sich selbst überlassen werden, wie es die beste Schrift eines anonymen Autors ‚Von Stöcker zu Naumann‘ empfiehlt, ist undurchführbar“ (ebd., 1045). Als weiterer Beleg für die Anwesenheit von Bonus und seiner Frau lässt sich ein Bericht 346
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langfristig geplant worden und sollte auf seine Wahrnehmung reagieren, dass der gegenwärtige Protestantismus „aus den Fugen“ ginge. Schon im Vorjahr 1895 hatte er „eine große kirchl.[iche] Versammlung von den Freunden“ ange kündigt, auf der die theologischen Gegenwartsfragen das Konfliktthema wer den sollten.348 Vor diesem Hintergrund förderte er in seiner Zeitschrift nach Kräften Bonus’ publizistische Ambitionen, dessen „treffliche Klinge“ dazu ge eignet war, die Konflikte weiter zu befeuern.349 Bonus ließ in seine Deutung der Moderne wortgewaltig und sendungsbewusst ein religiöses Krisengefühl ein fließen, das von einigen Theologen im Kreis der Christlichen Welt geteilt wurde und das ganze Zeitschriftenprojekt beunruhigte. Die Christliche Welt vollzog, wie Johannes Rathje in seinen Erinnerungen diesen Umbruch charakterisierte, eine „scharfe Wende nach links“, durch die Raum für „neue revolutionäre Kräf te“ in der Theologie geschaffen wurde.350 Diese wurden mit den „Namen Bonus und vor allem Troeltsch“ verbunden.351 Tatsächlich teilten Troeltsch und Bonus in streckenweise erstaunlicher Parallelität die Beschreibung einer grundlegen den Krise des Christentums. Beide arbeiteten im Kern mit einer Säkularisie rungsthese, nach der das kirchliche Christentum einen dramatischen Bedeu tungsschwund erlitt. Die entstandenen Leerstellen würden durch ersatzreligiöse von Beate Bonus über die Tagung nennen: Beate Bonus-Jeep: Ein modernes Konzil (Tagung „Freunde der Christlichen Welt“, Eisenach, 5.10.1896), in: Die Zukunft 17 (1896), 470–473. Sie berichtete von Troeltschs Auftritt, der „auf dem Katheder […] ganz allein einen Aufruhr“ veranstaltet und „Himmel und Hölle“ in Bewegung versetzt habe, um darauf hinzuweisen, dass derzeit „Resignation“ die einzige Option darstellen würde, weil eine einheitliche, reli giöse Weltinterpretation nicht mehr möglich wäre. Weiterhin erzählte sie in Charakterbildern von den Vorträgen von Julius Kaftan, Adolf Harnack und Martin Rade sowie von den Rede beiträgen von Johannes Müller und Paul Göhre. Ihre Darstellung war weniger theologisch als atmosphärisch interessiert. Ihre Zusammenfassung mag aber als Quintessenz der Umbruchs erwartungen in Bonus’ Umfeld wahrgenommen werden: „Die ganze Strömung die dort zum Ausdruck kam, trägt das Antlitz der Jugend und die Gewalt der Jugend in sich“ (ebd., 473). Rade hatte Bonus gebeten, die theologischen Auseinandersetzungen in seinem Bericht in der Zukunft nicht ausdrücklich zu entfalten: diese sei kein Ort für theologische Streitigkeiten (Postkarte Rade an Bonus, 26.10.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]). Der Bericht sollte ursprünglich in der Münchner Allgemeinen Zeitung erscheinen (Postkarte Bonus an Rade, 5.9.1896 [NL Rade, UB Marburg]). 348 Brief Rade an Bonus, 15.11.1895 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 349 PK Rade an Bonus, 26.8.1896 [ebd.]. 350 R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 103; vgl. Christoph Schwöbel: Martin Rade, 120 f. 351 So stellte Horst Stephan die theologische Atmosphäre im Rückblick dar; er sprach von einem „Wetterleuchten“. Stephan, der zuvor in Leipzig studiert hatte, wurde 1898 genau in der Umbruchsphase Martin Rades Redaktionsassistent (Die Christliche Welt und die syste matische Theologie, in: Vierzig Jahre „Christliche Welt“, Gotha 1927, 112–119, 114; vgl. R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 104 ff.; K roeger: Gogarten, 79.
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„Surrogate“ aufgefangen werden, wenn sich der Protestantismus nicht zur Gän ze neu erfände.352 Bonus zeigte sich von Troeltsch beeindruckt, der wiederum dessen theologiekritischen Äußerungen inhaltlich folgen konnte, deren Haupt gedanken er für die „wesentlich richtigen“ hielt.353 Der antispekulativen Grund richtung und der scharfen Gegenüberstellung von „Wissenschaft u.[nd] Leben“ in Bonus’ Überlegungen stimmte Troeltsch im Grundsatz zu, wobei er die von Bonus gewählten, nichtwissenschaftlichen Ausdrucksformen und seinen asso ziativen Stil ablehnte.354 Troeltsch hatte mit nüchternem Urteil auf die „langsam fortschreitende Desorganisation des Protestantismus“ hingewiesen.355 Darunter verstand er die Unmöglichkeit, auf der Grundlage eines historistischen Theolo gieverständnisses ein einheitliches normatives System zu formulieren. Der kirchliche Supranaturalismus war an sein Ende gekommen. Troeltsch sprach von einer „langandauernden Krisis“ der protestantischen Theologie, die sich nur darin auflösen lasse, dass man die Eigenständigkeit der Religion gegenüber der Wissenschaft anerkenne, nämlich als ein „selbständiges Gebiet des menschli 352 Bei Bonus erstmalig: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 946–950. 353 Brief Troeltsch an Bonus, Heidelberg 1.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. 354 Brief Troeltsch an Bonus, Heidelberg 27.4.1908 [ebd.]. Der erhaltene kurze Briefwech sel zwischen Troeltsch und Bonus im April 1908 lässt auf eine langjährige Bekanntschaft und eine damit verbundene Konfliktbeziehung schließen, die sich allerdings nicht mehr sicher rekonstruieren lässt. Bonus hatte Troeltsch brieflich gefragt, ob dieser die Bonus von Martin Buber angetragene Ausarbeitung über Die Kirche in der Reihe Die Gesellschaft übernehmen wolle. Da Troeltsch an seinen Soziallehren der christlichen Kirchen arbeitete, schien er in Bonus’ Augen ein geeigneterer Autor für den von Buber erbetenen Band zu sein als er selbst. Troeltsch zeigte Interesse an dem Vorhaben, überließ aber schließlich Bonus das Projekt. Dem Briefwechsel zufolge hatte der Berliner Historiker Kurt Breysig gegenüber Bonus eine Indiskretion begangen und diesem ein Negativurteil Troeltschs über seine „theologische Schriftstellerei“ übermittelt. Troeltsch versuchte die peinliche Situation zu entschärfen, in dem er seine Haltung erklärte, auf die grundlegenden inhaltlichen Gemeinsamkeiten verwies und schließlich hinzufügte, dass Max Weber ebenso denken würde. Bonus wiederum hatte Troeltsch in einem ungenannten, länger zurückliegenden Artikel „öffentlich angerannt“ (Brief Troeltsch an Bonus, Heidelberg 1.4.1908 [ebd.]; weder in Bonus’ Korrespondenzen noch im Nachlass Kurt Breysig lässt sich der genannte Briefwechsel feststellen). Troeltsch hatte Bonus’ Programmschrift Religion als Schöpfung eine wohlwollend kritische Rezension zukommen lassen, aber eine Besprechung von Bonus’ Von Stöcker zu Naumann abgelehnt (Ernst Troeltsch: Rez. Religion als Schöpfung, in: ThLZ 29 (1903), 275–276). In beiden Fällen hatte er sich kritisch über Bonus’ nichtwissenschaftliche Schreibweise und seinen Hang zur „Übertreibung“ geäußert. Mit Bonus’ Angriff auf Troeltsch könnte dem Zusam menhang nach eine 1898 erschienene Karikatur eines bebrillten schwäbischen Professors gemeint sein, der eine Rezension ablehnt, weil sie ihm nicht fachgemäß sei (Bonus: Glaube und Theologie, in: CW 12 (1898), 737–738). 355 So im Tagungsbericht: Die (fünfte) Versammlung von Freunden der Christlichen Welt in Eisenach, in: Chronik der Christlichen Welt 6 (1896), 402–412, 408.
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chen Geisteslebens“.356 Bis dahin blieb nur der individuelle Glaubensvollzug als Ankerpunkt der Theologie: Wir zehren von dem Bischen persönlichen Christentum, das wir uns täglich neu erringen müssen, und thun genug, wenn wir dem Hungrigen unser Brot brechen.357
Für Troeltsch wies die derzeitige religiöse Lage auf eine „Zersetzung der kirch lichen Religion“ hin.358 Die theologischen Fachdiskussionen erschienen im Ver gleich zu den weltanschaulichen Umbrüchen wie „ein harmloses Konventikel vergnügen, ein Kinderzank im brennenden Hause“.359 Die Situation der Zeit stellte unüberhörbar die Frage, was das Christentum gegenüber den anderen Religionen und weltanschaulichen Entwürfen auszeichnete und was als religiö ser Wahrheitskern Geltung behalten könnte. Damit ging es, so Troeltsch, um den Versuch, die methodische „Isolirung des Christentums“ von der Weltbe trachtung der Moderne aufzuheben.360 Die Gegenwart hatte die Entscheidung zu bringen, ob die christliche „Gesammtanschauung von Gott, Welt und Mensch“ mit den Grundlinien eines modernen, naturwissenschaftlich-materia listischen Weltbildes vereinbar sei oder ob nicht „die Unvereinbarkeit beider uns zur Gewinnung einer anderen Weltanschauung, zur Hoffnung auf eine neue Religion forttreiben müsse“.361 Es war genau dieser Gegensatz, der Bonus in eine Glaubenskrise führte, wie er 1896 berichtete.362 Martin Rade gegenüber stellte Bonus nach der Jahrhundertwende heraus, wie umfassend ihm dieser Werteumbruch in allen Lebensbereichen entgegentrat. Sieh, ich stelle mit dir Sache so vor: die neue geistige Welt, die nun einem doch überall um uns her aufwächst – neue „Werte“, neue Vorstellungen, neue Anschauungen, neue Kombinationen, neue Bedürfnisse – ist über ihre allererste allnebelhafteste Ahnenzeit hinaus. Sie beginnt wie experimentierend überall ihre ersten Gestaltungen zu suchen.363 356 Vgl. die Berichte in: Kleine Mitteilungen, in: Chronik der Christlichen Welt 6 (1896), 1004 und: Die (fünfte) Versammlung von Freunden der Christlichen Welt in Eisenach, in: ebd., 402–412, 408. Die letztere Aussage traf nun genau das, was Harnack Bonus vorgewor fen hatte. 357 Ebd. 358 Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte, in: PrJ 90 (1897) [GS II, 238]; vgl. auch die in der Intention ähnlichen Darstellungen: Religion und Kirche, in: PrJ 81 (1895), 215–249; Zur theologischen Lage, in: CW 12 (1898), 627–631.650–657. 359 Ders.: Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen, in: ZThK (1893/94), 504 (GS II, 238). 360 Ders.: Zur theologischen Lage, in: CW 12 (1898), 627. 361 Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen, 503 und 505 (GS, 237 und 239). 362 Bonus: Der Kern der Wunderfrage, in: CW 10 (1896), 796–800, 796. 363 Brief Bonus an Rade, 6.3.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002].
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Die Entdeckung „neuer Werte“, einer „neuen Kultur“ oder umfassend utopisch des „neuen Menschen“ erlebte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine rasante Dynamik, die sich aus dem Gefühl speiste, dass sich die überkommenen Wirk lichkeits- und Weltdeutungsmuster überlebt hätten.364 Sich selbst rechnete Bonus zu den Pionieren dieser neuen Zeit. Mit Friedrich Naumann und Wilhelm Bölsche sah er sich auf dem Weg zu einer veränderten Lebenshaltung und kom menden Formen, die dem ästhetischen Bedürfnis der Moderne entgegenkom men sollten. Wie in der Literatur, in der Musik oder im von Friedrich Naumann vorhergesagten architektonischen „Glas- und Eisenstil“ waren auch für die Re ligion neue Formen zu suchen, um die Frömmigkeit mit den weltanschaulichen Inhalten der Moderne zu verbinden.365 Wo Naumann einen neuen Stil „für das neue Zeitalter“ auf dem sozialen und dem künstlerischen Gebiet vorhersagte, und wo Bölsche eine gewandelte, poetische Sicht auf die Naturwissenschaft zu entwerfen trachtete, tastete Bonus nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für die religiöse Sprache der Zukunft.366 An Naumann verehrte er den großen poli tisch-sozialen Entwurf. Bölsche, der mit seiner poetisch-betrachtenden Darstel lung Naturbeschreibung und Kunst ineinanderfließen ließ, traf sich mit Bonus’ Anliegen darin, dass er wissenschaftliche Einzelperspektiven unter dem Groß begriff der „Kultur“ zu bündeln versuchte.367 Anders als Troeltsch sah Bonus seine Wahrnehmung der Gegenwart zuneh mend scharf im Gegensatz zur Wissenschaft. Rade gegenüber wertete er diese als kleinteilige Facharbeit der „Berufsarbeiter“ ab, während er für sich die grö ßere „Freiheit des Blicks“ in Anspruch nahm.368 Es war für ihn erst eigentlich die religiöse Perspektive, die einen Überblick über die Zeitläufe vermitteln und die Vielheit der Einzelerscheinungen der Wirklichkeit zu einem Ganzen anord nen könnte. Der Religion und dem religiös-ästhetischen Erleben wurde eine Aufgabe zuteil, die Universität und traditionelle Theologie – und damit in Bo nus’ Augen auch die Kirche – nicht mehr leisten konnten, nämlich Sinn und Gemeinschaft zu stiften und die Neukultur der Moderne vorzubereiten. 364 Vgl. Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Reli gionsgeschichte der Moderne, Frankfurt 1997, 25–64.139–174; Nicola Lepp (Hg.): Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 1999 (Ausstellungskatalog); Bernd Wedemeyer-Kolwe: Der ‚neue Mensch‘ als säkularreligiöses Heilziel, in: Cornelia Nowak (Hg.): Expressionismus in Thüringen, Jena 1999, 178–185; sowie mit Blick auf die Reformpädagogik: Ulrich Herrmann (Hg.): „Neue Erziehung“, „Neue Menschen“. Erzie hung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim 1987. 365 Ebd. 366 Ebd. 367 Vgl. Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur, VIII; A ndreas Daum: Wissen schaftspopularisierung, 322. 368 Brief Bonus an Rade, 6.3.1901 [ebd.].
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2. „Subjektivismus“: Theologische Lösungsversuche über den modernen Protestantismus hinaus Im Frühjahr 1894, noch im Nachklang des Apostolikumstreites, veröffentlichte Bonus eine Artikelfolge im Dialogstil, in der er sich mit der Krise der wissen schaftlichen Schultheologie auseinandersetzte und ihr die Bedeutung der reli giösen Erfahrung und der religiösen Stimmung entgegensetzte. Für ihn lag die Zukunft der modernen Theologie in einer konsequenten Wende hin zum „Sub jektivismus“.369 Die theologische Wissenschaft, so seine Forderung, musste sich zu einer Darstellungsform innerer, seelischer Vorgänge vorarbeiten. Deutlich war hier der Eindruck des Falls Schrempf und vor allem der Einfluss Kierke gaards erkennbar. Mutiges „Subjektivwerden“ hatte Kierkegaard in seiner Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift von 1846 als Gegenbewegung zu den Lebenserleichterungen der Technik und der Wissenschaft zur Lebens aufgabe erklärt.370 Das Christentum bestand für Bonus nicht aus objektiven Wahrheiten, die me thodisch oder empirisch gesichert werden konnten, sondern beschrieb Grunder fahrungen und Überzeugungen des menschlichen Bewusstseins. Nicht die kirchliche Lehre und deren rationale Verantwortung, sondern das Individuum und sein religiöses Erleben galten als Wahrheitsgarant der religiösen Inhalte. Bonus betonte, „daß die Dinge deshalb wahr sind, weil und so weit sie sich an unserm Herzen und Gewissen in dem, was ich ‚religiöse Stimmung‘ nannte, bezeugt haben, nicht aber aus Verstandes- und Vernunftgründen, oder weil Kir 369 So
der Titel des ersten Stücks dieser als Gespräch gestalteten Artikel, in denen ein Ich-Erzähler sich mit einem kirchenskeptischen Gegenüber auseinandersetzt, das vom Rin gen mit einer persönlichen, religiösen Wende erzählt (Bonus: Subjektivismus, in: CW 8 (1894), 26–30.50–54). Martin Rade war sich der provokanten, im Kreis der Christlichen Welt vielleicht in der Grundintention, aber kaum in der Form nachvollziehbaren Richtung von Bonus’ Aufsätzen wohl bewusst. Unter den ersten Abschnitt setzte er in einer Fußnote die Bemerkung: „Nicht ohne Bedenken lasse ich diesen Aufsatz ausgehen. Eine Erholungslektü re ist er sicherlich nicht“. Die Artikelfolge war in der zweiten Jahreshälfte 1892 zeitgleich mit den bereits erwähnten Äußerungen zum Apostolikumstreit in der Protestantischen Kirchenzeitung entstanden. Bonusʼ religiöse Gewissensnöte scheinen die Entstehung der Artikel be gleitet zu haben, die erst zwei Jahre später nach zahlreichen Überarbeitungen in der Christlichen Welt erscheinen konnten. Noch aus dem Wittenberger Seminar schrieb Bonus an Rade: „Mit diesem Aufsatz ist es mir besonders ergangen. Er ist mir zu etwas Umfangreiche rem ausgewachsen. Und das ist es, was ich Ihnen zur Prüfung vorlege. Ich habe darin ver sucht, auch Nichttheologen verständlich zu werden. Vielleicht bin ich ab und zu dabei etwas breitgeworden“ (Brief Bonus an Rade, Wittenberg, 20.1.1893 [UB Marburg, NL Rade]). 370 Vgl. Sören K ierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, übers. von H. Gottsched, Jena 1910; Heiko Schulz: Rezeptionsgeschichtliche Nachschrift oder die Nachschrift in der deutschen Rezeption, in: ders.: Aneignung und Reflexion, Bd. 1, Berlin 2011, 187–232.
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che und Schrift sie lehren“.371 Damit zielte Bonus auf eine Entwissenschaftli chung der kirchlichen Theologie im Namen der „Erfahrung“ des Einzelnen.372 Die Auseinandersetzungen um das Apostolikum hatten ihm die Grenzen der kirchlichen Theologie in ihrer dogmatischen Form aufgezeigt. Sie war zur Be schäftigung einer Bildungselite geworden, welche sich auf die Entschlüsselung dogmatischer Gedankengänge und den Entwurf hochfliegender Moralkonzepte verstand.373 Paßt nicht auch auf uns das Wort des Herrn an die Pharisäer, die unerträgliche Lasten aufle gen und sich selbst mit keinem Finger rücken? Es gibt eben auch in der Religion die „oberen Zehntausend“: für die ist herrlich gesorgt. Vermöge der klassischen Bildung können sie sich in die schwierigsten Dogmen finden. Das Volk lassen wir damit verhungern. Es versteht unsre Predigt nicht mehr, ist also klar, daß es verführt, ungläubig geworden u[nd]s.[o]w.[eiter] ist! über uns ungetreue Haushalter!374
Die Zweckbestimmung der frommen Reflektion, nämlich Glaubensgewißheit zu erzeugen, wurde durch die Theologie als rationalistisches Konstrukt ver fehlt. Gewissheit schien Bonus nur erreichbar durch die Begegnung mit „Wahr heiten, zu deren Anerkennung wir […] gezwungen werden“, und zwar nicht durch Erlernen oder durch die Vorgabe der Tradition, sondern durch die existen tielle Auseinandersetzung mit der Welt und dem Selbst.375 Entsprechend ent warf er die Vision einer modernen Theologie, die er als Erfahrungswissenschaft und als religiöse Seelenkunde ausmalte: Ich muß gestehen, ich hatte ab und zu von einer neuen Art Glaubenslehre geträumt, mitunter war es mir sogar gewesen, als stünde ein klares Bild von ihr vor meiner Seele. […] Ich würde […] das Hauptgewicht darauf legen, zu zeigen, wie der Christ auf verschiednen Stufen und in verschiednen Stimmungen die Dinge beurteilen muß, welche Thatsachen der Geschichte und welche Fortschritte des innern Lebens ihn zu dieser Beurteilung zwingen. […] Hauptsächlich würde ich Gewicht darauf legen, klar heraus zu stellen, wie wir ganz allgemein die Dinge und Vorgänge um uns her uns zurechtlegen können und müssen, erstlich nach sinnlichen Wahr nehmungsregeln, die wir „Naturgesetze“ nennen – eine Anschauung, die für die tägliche Thätigkeit überaus nützlich und wertvoll ist – und andrerseits religiös überzeugt sind, daß alles, und zwar alles Einzelne unmittelbar, von Gott kommt.376
Bonus versuchte, das religiöse Dilemma der Gegenwart zu lösen durch eine Auftrennung der Weltwahrnehmung in eine realistisch-naturwissenschaftliche Sicht der Weltanschauung, die empirisch und nachvollziehbar funktioniert, und 371
Bonus: Subjektivismus, in: CW 8 (1894), 26–30.50–54, 29. Ders.: ‚Erfahrung‘, in: CW 8 (1894), 318–321. 373 Ders.: Glaubensgewißheit, in: CW 8 (1894), 269–272, 271; vgl. ders.: ‚Erfahrung‘, in: ebd., 318–321, 321 (das Christentum sei nur noch etwas für „Virtuosen der Religion“). 374 Briefkonzept Bonus an Erich Foerster, ohne Datum (1893) [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 375 Ders.: Glaubensgewißheit, in: CW 8 (1894), 269–272, 270. 376 Ders.: Subjektivismus, in: CW 8 (1894), 51 f. 372
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in die Welterfahrung des Religiösen, die Wertvorstellungen entwickelt und auf das Innere des Menschen zielt. Grundsätzlich war es also das Ziel von Bonus’ religiösen Überlegungen, dem Glauben einen neuen Wirklichkeitsgewinn zu geben. Hier war ein Ablöse prozess eingeleitet, der Bonus und andere um 1900 an den Rand der modernen Theologie, wie sie die Christliche Welt vertrat, drängte. Für Bonus war das Zeit schriftenprojekt der Christlichen Welt bisher nicht zu einer einheitlichen Stellung in diesen Fragen gelangt. Das Vorhaben einer theologisch-religiösen Neuorientierung in der Moderne blieb verschwommen. In dem Blatt trat das dadurch offen zu Tage, dass, wie Bonus meinte, „die allerverschiedensten Stim mungen sich in seinen Spalten tummeln. Von sentimentalstem Pietismus bis zu einem fast starren Dogmatismus wallt es da herüber und hinüber.“377 Für die Bemerkung, dass die Christliche Welt in ihrer derzeitigen Form noch zu „cha rakterlos“ sei, erhielt Bonus etwa die Zustimmung von Wilhelm Bousset.378 Bonus wollte in der Zeitschrift „mehr Ernst und Kraft“ im religiösen wie im sozialen Sinne sehen.379 Auch Paul Schubring äußerte sich in dieser Richtung gegenüber Bonus. Die Theologie der Zeitschrift verblieb zu sehr an der rationa listischen Oberfläche und drang nicht in seelische Tiefen ein.380 Als entschei dendes Hindernis auf dem Weg in eine wirkliche theologische Moderne nahm Bonus die bleibende Bedeutung der Ausformulierung der christlichen Glauben sinhalte in ein metaphysisches oder doch wenigstens philosophisch geordnetes System wahr. Dieser Kardinalfehler der theologischen Gegenwart haftete schon an dem für Bonus so prägenden Entwurf Albrecht Ritschls. Bis in die Gegen wart war die Theologie in seinen Augen ein Bau aus Begriffen ohne Gewähr entsprechender Wirklichkeiten geblieben – „ein Luftschloß!“381 Bonus hielt es daher für dringend geboten, die „intellektualistischen Eierschalen“ der durch rationalistische Traditionen und das Erbe der altprotestantischen Orthodoxie geprägten Theologie abzustreifen und zu einer erneuerten, an den Lebenswirk lichkeiten orientierten Christentumspraxis vorzudringen.382 Dazu galt es, das Religiöse als ein eigenständiges, von anderen Bereichen der Wissenschaft und der Weltbeschreibung nicht einholbares Gebiet der menschlichen Wirklichkeit zu befestigen und als eine Gemütsmacht aufzufassen, die in besonderer Weise menschliches Handeln und Denken bestimmte. 377
Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 20 f. Briefkonzept Bonus an Bousset sowie Boussets Antwort an Bonus, Postkarte 5.12.1897 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]. 379 Antwortkonzept Bonus zu Brief Jansen an Bonus, 27.2.1899 [ebd., 07_014]. 380 Brief Schubring an Bonus, 25.9.1897 [ebd., 06_001]. 381 Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 14. 382 Ebd., 19. 378
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
3. „Ein Wort zur Germanisierung des Christentums“. Religion als nationalkulturelle Aufbruchsbewegung Im Ausklang der christlich-sozialen Begeisterung und unter dem Eindruck des Nationalsozialen Vereins machte sich Bonus an den Versuch, seine Reformvor stellungen in gebündelter Form zusammenzufassen. Im Herbst 1896 ließ er im jungen Verlagshaus von Eugen Salzer, das auch seine religiösen Andachtsbände herausbrachte, anonym eine Streitschrift erscheinen, die als Abrechnung mit dem Zustand des wilhelminischen Protestantismus insgesamt zu verstehen war. Der schmale Band, der im Titel eine Linie Von Stöcker zu Naumann zog, ließ sich als Bestandteil eines Wandlungsprozesses lesen, in dessen Verlauf nicht allein das Gebäude der protestantischen Theologie, sondern die gesamte Le bensauffassung des kirchlichen Christentums als überholt abgestoßen und nach einem neuen Hoffnungsträger Ausschau gehalten wurde. Ein solcher schien sich in der Naumannbewegung vorzubereiten, die auf religiöser Grundlage – in Bonus’ Augen stand das im Fokus – nach einer sozialen Zukunftspolitik strebte, sich dem nationalen Machtausbau verschrieben hatte und als kultureller Fort schrittsmotor wirken konnte. Im Untertitel als ein „Wort zur Germanisierung des Christentums“ bezeichnet, stellte er seine Forderung nach einem umfassen den religiösen und kulturellen Neuansatz in einen unverdeckt nationalistischen Kontext. Ursprünglich hatte Bonus das Bändchen als Aufsatz für die Preußischen Jahrbücher konzipiert. Es lag auf einer Linie mit der besonders von Hans Del brück angeführten, wohlmeinenden Haltung gegenüber Friedrich Naumann und den antikonservativen, reformerischen Tendenzen im linken Flügel des Bürgertums. Delbrück lehnte die Veröffentlichung jedoch ab, da ihm Bonus’ Ausführungen erst den „Kern für eine zukünftige, breiter angelegte Behand lung des ganzen Problems“ darstellten.383 Der provokante Zuschnitt des Büchleins stand im Zusammenhang mit den literarischen Ambitionen von Bonus, die er zunehmend ausbauen wollte. Martin Rade hatte ihm zunächst von einer Veröffentlichung abgeraten und gewarnt, sich zu rasch und zu exponiert mit seinen mehrschichtigen religiösen und refor merischen Ansichten zu äußern. Rade fand die „verwegene Broschüre“ in ihrer polemischen Richtung gegen die akademische Theologie zu heikel und in ihrer teilweise sprunghaften Zusammenschau von kulturkritischen und religiösen 383 Brief Hans Delbrück an Bonus, Berlin, 4.7.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_006]. Die Ablehnung hatte keinen inhaltlichen Grund; im Gegenteil war sie mit einer Einladung an Bonus verbunden, sich mit ihm einmal „eingehender darüber zu unterhalten“. Eine auf den Brief folgende Postkarte Delbrücks vom 6.7.1898 enthält konkrete Absprachen über einen Besuch von Bonus in Berlin.
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Themen zu unausgewogen:384 Für den Herausgeber der Christlichen Welt gab es „andere Gegner, die als Amboß dienen können“ und mit denen die polemische Auseinandersetzung wirkungsvoller geführt werden könnte als dem protestan tischen Konservatismus, dessen Haltung ihm bloß noch „pathologisch“ er schien.385 Für Rade war der Übergang zu einem erneuerten Christentum in der Moderne grundsätzlicher anzugehen und deutlicher als theologisches Problem zu behandeln, als Bonus’ Schrift es vermochte. Dennoch unterstützte er Bonus’ publizistische Ausrichtung nicht nur in der Christlichen Welt, sondern ermutig te ihn generell zum weiteren Schreiben. „Ich steh fest zu Ihnen u.[nd] nicht ohne Erfolg,“ hieß es mit Blick auf Kritiker aus den eigenen Reihen; darüber hinaus empfahl er ihm, sich Kulturzeitschriften wie die Grenzboten oder die Zukunft zu erschließen.386 Was die problematische Verbindung von „Christentum und Deutschtum“ anging, erschien ihm Bonus als der profilierteste Denker der Ge genwart.387 Insgesamt jedenfalls bekundete Rade nach der Lektüre einiger Ma nuskriptpassagen ein großes Vertrauen zu Bonus’ anonymer Veröffentlichung: „Ihr Von St.[oecker] zu N.[aumann] wird gewiß gut. […] In der Hauptsache bin ich völlig einverstanden.“388 Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete die soziale Frage. Bonus lieferte hier keine theologische Begründung, wohl aber scharfe, politische und religiöse Zeiturteile. Die Kernthese einer „Germanisierung des Christentums“ lässt sich in knappen Strichen skizzenhaft nachzeichnen. Bonus folgte der von Harnack vorgegebenen Linie, dass der eigentliche Inhalt des Christentums nicht dogmatisch aufzufassen sei, sondern im schlichten Evangelium von der Gottes kindschaft beruhe. Der griechisch-hellenistische Dogmatismus und die römi sche Auffassung des Christentums als Rechtssystem seien abzulegen, um die Glaubenskraft des Christentums im Lichte der deutschen Reformation für die Gegenwart wiederzuentdecken. Das wachsende Nationalgefühl der Gegenwart machte eine deutsche Eigengestalt des Christentums notwendig. Weitreichender waren Bonus’ Überlegungen, mit denen er einen erneuerten Protestantismus als politisch-kulturellen Faktor zu entbinden suchte. Seine Schrift sollte die Wur zeln eines Krisengefühls freilegen, das aus dem gesellschaftlichen und intellek 384 Brief Rade an Bonus, Groß Tabarz, 6.9.1896 [ebd., 03_002]. Bereits im März hatte er Bonus mitgeteilt, dass er nicht „entwickelnd, abhandlungsmäßig“ genug schreibe (Brief Rade an Bonus, 20.3.1896 [ebd.]). 385 Brief Rade an Bonus, 8.8.1896 [ebd.]. 386 Briefe Rade an Bonus, 2.1.1896 und 20.3.1896 [ebd.]. Rade sagte die Vermittlung an die Zukunft über Naumann zu, die Christliche Welt habe hingegen keinen Anspruch auf ein pub lizistisches „Monopol“ des aufstrebenden Literaten Bonus. 387 Ebd. 388 Brief Rade an Bonus, 8.8.1896 [ebd.].
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tuellen Umbruch zur Moderne herrührte. Trotz des unverkennbaren Bemühens um ein modernes Christentum trat ihm im Umfeld der Christlichen Welt eine Glaubenstheorie entgegen, die er als intellektualistisch und wirklichkeitsfremd empfand.389 Die geistige und gesellschaftliche Formkraft der Religion, deren Bedeutung Bonus als hoch veranschlagte, ließ sich nach seiner Ansicht nur auf dem Untergrund einer gewandelten Frömmigkeit bewahren. In seiner Broschü re mischte Bonus teilweise sehr genaue Analysen zu theologischen und kultu rellen Sackgassen mit utopischen Gehalten. Als religiöses Fernziel beschrieb er den Durchbruch zu neuer Kultur und einem neuen Menschen, wodurch er aus dem kulturprotestantischen Umfeld in den Kosmos der Lebensreformbewegung hinüberreichte. Die bereits angedeutete subjektivistische Umformung des Christentums wur de in der Germanisierungs-Broschüre von 1896 weitergeführt: die religiöse und kirchenkritische Motivlage verband sich nun mit den bürgerlichen Reformanlie gen in nationalen Bahnen. Für Bonus deutete die „Signatur unserer Tage“ auf eine bevorstehende „Scheidung der Lager“ hin, bei der die konservativ-rück ständigen Sedimente in Kultur, Religion und Weltanschauung ausgefiltert wur den.390 Gegen die restaurative Stagnation und das Erlahmen des Fortschritts geistes seit den frühen 1890er Jahren war in der Gegenwart auf eine Erneuerung der Frömmigkeit zu dringen, die auch das soziale und politische Leben erfassen und damit einen nationalreformerischen Aufbruch initiieren würde.391 Einen Vorboten für diese erhoffte nationale Erregung auf religiösem Unter grund hatte Bonus in Friedrich Naumann gefunden. Hier wurde die Ablösung der „Jüngeren“ um Naumann aus der christlich-sozialen Bewegung noch ein mal vollzogen. Ihn bezeichnete er als den „Genius“ der deutschen Gegenwart: Naumann war es in Bonus’ Augen in einzigartiger Weise gelungen, aus Zeitge spür die von Stoecker verkörperte Engführung in ein orthodoxes Missionspro gramm zu sprengen und zugleich die „Ritschlsche Gruppe“ aus ihrer unpoliti schen Haltung herauszureißen. Naumann verkörperte die Verknüpfung von so zialem Interesse und christlichem Handlungsdrang, in dem für Bonus der notwendige Modernisierungsauftrag an den Protestantismus lag. Die Naumann bewegung war für ihn allerdings erst ein Vorbote für eine große, kulturpoliti sche Sammlungsbewegung auf Grundlage eines erneuerten Christentums, des sen Wirkung und Bedarf sich jedoch überall abzeichnete: Allerdings diese Zeichen sind zum großen Teil noch zerstreut ausgesät über alle Gebiete des nationalen Lebens. Weit in die rechten und rechtesten Gruppen der kirchlichen Parteien rei 389
Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 14. Ebd., 53. 391 Vgl. ebd., 26–28. 390
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chen sie hinein und von ganz links her, in Kreisen die für völlig unchristlich gelten, regen sich gleichbürtige Kräfte. Ich wüßte nur einen Mann, in dem sie einigermaßen gesammelt als bewußte geschlossene Kraft wirken, eben Friedrich Naumann.392
An dessen Antipoden, Adolf Stoecker, ließ sich für Bonus augenfällig das Ausein anderklaffen zwischen der kirchlichen Theologie und dem mit ihr verknüpften konservativen Denkstil und den tatsächlich vorhandenen religiösen und nationa len Bedürfnissen der Gegenwart aufzeigen. Insofern war die Germanisierungs schrift Quintessenz der Erfahrungen, die Bonus im christlich-sozialen Umfeld gesammelt hatte. In seinen Augen verkörperte Stoecker einen „Uebergangs typus“, der sich als „Realpolitiker“ und Parteiführer mit großer Wirkungskraft in die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen gestellt und dabei einem in der Bevölkerung wirklich vorhandenen, sozialen Anliegen Stimme verliehen hat te.393 In theologischen Fragen war er jedoch auf eine veraltete „wunderliche Dog menpolitik“ zurückgefallen. Das Beispiel Stoeckers verwies auf die paradoxe Haltung, die der gegenwärtige Protestantismus einnahm, der einerseits eine reli giöse Massenbewegung darstellen wollte und sich an den gesellschaftlichen Pro blemen der Moderne abarbeitete, zugleich aber einem Denkstil der Vergangenheit anhing.394 Für Bonus wurde Stoecker zum Symbol einer Mischung des Ungleich zeitigen, in der Mittelalterliches und Modernes, überkommener Dogmenglaube und ein energisches soziales Wirken unproduktiv aufeinanderstießen. Hier wurde der Zusammenhang zwischen Glauben und Leben, zwischen religiöser Daseins deutung und kultureller Praxis zerschnitten. Der Rückgriff auf das orthodoxe Lehrgebäude der Tradition machte die protestantische Frömmigkeit zur „asch grauen Theorie“, die man in ihrer abstrakten Form nicht brauche.395 Instinktiv und mit Zeitgefühl hatte erst Naumann die Verbindung von Reli gion, Nation und Reformbedarf erfasst. Durch ihn war, dem auf einen verstärk ten Nationalismus hinzeigenden politischen Gesamtklima der Gegenwart ent sprechend, nun auch auf religiösem Boden die „deutsche Frage“ gestellt und zwar als „Frage nach der Weltherrschaft“. Bonus war sich durchaus im Klaren, dass sein von einem kulturnationalistischen Sendungsbewusstsein durchtränk ter Gedankengang ihm den Vorwurf des Chauvinismus einbringen konnte.396 Betont stellte er daher sein Buch auf Gleise, die nach seinem Dafürhalten aus einem völkisch-nationalistischen und antisemitischen Gebiet hinauslenken soll ten. Die Hypostasierung der Nation in ihrem Ist-Zustand ohne Reformanzeige hielt er für einen unfruchtbaren ideologischen Fehlweg. Vielmehr sah Bonus 392
Ebd., 84. Ebd., 6. 394 Ebd., 29. 395 Ebd., 9. 396 Ebd., 54. 393
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seinen Beitrag als Anstoß zu einem Klärungsprozess, mit dem die langersehnte Fortsetzung der „Reformation“ auf den Weg gebracht wurde, die in einem kul tur-religiösen Einheitswerk enden würde.397 Für Bonus ging es darum, den Pro testantismus als „eine durch und durch akute, neue, glühende, weltumwandeln de Kraft“ wiederzugewinnen, die sich mit starkem Gegenwartsbezug in die politischen und sozialen Tagesaufgaben stürzen würde: Von nichts Geringerem als der „Neugeburt des christlich-protestantischen Geistes“ war hier die Re de.398 Als Vorbild galt die undogmatische und patriotische Frömmigkeit eines Ernst Moritz Arndt.399 Das Zusammenschieben von nationalem und religiösem Glauben stellte einen festen Bestandteil des Nationalismus dar. Doch Bonus’ Schrift reichte über die Vielzahl nationalistischer Appelle der 1890er Jahre hinaus; zudem war sie nicht nur als Abrechnung mit dem christlichen Konservatismus zu verstehen. Sie stellte einen Versuch dar, systematisch eine grundstürzende Änderung der wel tanschaulichen Grundlagen der Gegenwart vorzubereiten. Für Bonus war die Zeit abgelaufen, in der die konservativ-christliche Weltauffassung, die sich am geistigen Erbe der abendländischen Philosophie und der Antike orientiert hatte, länger als Grundlage der Wirklichkeitsbeschreibung dienen konnte. Mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus und den Theorien Darwins verwies er auf die zwei großen geistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die am schärfs ten am intellektuellen Gebäude des Traditionschristentums rüttelten, dessen Zusammenbruch eine radikale Umwandlung von Lebenseinstellungen, von Po litik und Ethik bedeutete. In der realistischen, praktischen Weltsicht des 19. Jahrhunderts sah Bonus „eine neu auftauchende Bildung, die neue Fragen stellt“ und die die christlich-philosophische Metaphysik überwand.400 Als wesentlichen Bestandteil der modernen Weltsicht benannte er den Dar win’schen Entwicklungsgedanken, dem er eine religiöse Richtung zu geben suchte. Für Bonus war Evolution nicht nur als materieller Entwicklungsprozess zu denken, der festgelegten Naturgesetzen folgte, sondern er spielte sich als in nere, psychologische Bewegung sowie als geschichtliche Entfaltung ab. Kultur kritik und Fortschrittshoffnungen gingen eine enge Verbindung ein, die seinem Glauben an eine nationale Sendung eine besondere Dynamik verlieh. 397
Ebd., 70. Ebd., 21.78. 399 Die „Wiedererweckung des Geistes“ Arndts als eine „Prophetengestalt unsres Jahr hunderts“ neben Lagarde und Thomas Carlyle wurde um die Jahreswende 1897/98 mehrfach zum Thema im Briefwechsel zwischen Bonus und Bousset (Postkarte Bousset an Bonus, 5.12.1897 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]; Briefkonzept Bonus an Bousset, undatiert [ebd., 13_008]). 400 Ebd., 19. 398
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Anders als seine Aufsätze, mit denen Bonus teilweise für erheblichen Wirbel sorgte, stieß das anonym veröffentlichte Büchlein nicht auf die erhoffte Reso nanz. Für Bonus war das Ganze eine herbe Enttäuschung. „Mein Buch ‚V.[on] St.[öcker] z.[u] N.[aumann]‘ ist ja tot. Nullis rezensentibus“, schrieb er an seinen Freund Göhre und teilte ihm auch die „statuierte Todesursache“ mit: wissen schaftliche Oberflächlichkeit.401 Tatsächlich hatten sowohl Ernst Troeltsch als auch Wilhelm Bousset die Broschüre gelesen und sich auch grundsätzlich zu stimmend über Bonus’ Gedankengang geäußert, aber eine Besprechung abge lehnt, weil das Buch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genüge.402 Bonus war darüber verärgert, weil er seine Schrift gezielt populär und nicht als „schweißtreibende Habilitationsarbeit“ verfasst hatte. Es war sein Anliegen, sich ähnlich wie Naumann und Göhre außerhalb der wissenschaftlichen Theo logie anzusiedeln und seine Frömmigkeitsideale in die gesellschaftlichen Aus einandersetzungen hineinzutragen.403 Die enge Verknüpfung von theologischen Gegenständen und weitreichenden Prognosen, die Bonus in seiner Darstellung vornahm und die er in eine nationale und weltbezogene Glaubensintensivierung überführen wollte, schien den kritischeren Weggefährten nicht hinzureichen. Zustimmung kam eher aus den Reihen der am kirchlichen Rand aktiven Pro testanten, wie sich am Blatt des Berliner Protestantenvereins, Der Protestant, zeigen lässt.404 Die „Aussichten einer Reformation in der religiösen Lage der Gegenwart“ wurden dort als günstig und das Heraufziehen einer „germani 401 Briefkonzept Bonus an Göhre, ohne Datum [ebd., 02_011]. Ähnlich schrieb er auch an Harnack, der Verleger Eugen Salzer sei mit seinem Buch „leider völlig hineingefallen: es ver kauft sich nicht“ (Brief Bonus an Harnack, Groß Muckrow, 23. September 1897 [Staatsbib liothek Berlin, NL Harnack]). Rade versuchte, das Ausbleiben von Besprechungen damit zu erklären, dass Bonus’ Schrift aus den üblichen theologischen Diskursen herausfiel: „Von die ser Schrift kann man vielleicht sagen, daß sie allzu geistreich ist […]. Der Herr Verleger hat sich in einem öffentlichen Prospekt beklagt, daß sie von befreundeter Seite gar nicht bespro chen werde. Ja wie soll man dieser allzubunten Fülle von Einfällen gerecht werden! Einfach zustimmen, einfach Beifall spenden kann da niemand, und doch wieder philisterhaft daran herum kritisiren ist auch schwer“ (M. R ade, Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196, 1196). 402 Brief Rades an Bonus, 26.10.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 403 So in dem oben zitierten Brief an Göhre (vgl. Anm. 401). Die Rezension des Langen burger Dekans und Hofpredigers Rudolf Günther verwies auf die Gründe, die es den Rezen senten schwer machten, sich mit Bonus’ Schrift auseinanderzusetzen. Es fehlte an einem klaren Argumentationsfaden; Bonus setzte theologische und frömmigkeitsgeschichtliche Erwägungen zu sprunghaft mit politischen Thesen ineinander. Bei dem Büchlein handelte es sich, so Günther, „um eine schwer zu rubrizierende Sammlung geistreicher Einfälle, deren geringer Erfolg den Verfasser ohne Zweifel belehrt hat, daß ein so innerlich veranlagter Schriftsteller besser thut, seine Hand von politischen und kirchenpolitischen Händeln zu las sen“ (R. Günther, Arthur Bonus’ Schriften, in: ZThK 11 (1901), 214–229, 229). 404 Bei dieser Zeitschrift handelte es sich um das Verbandsblatt der Berliner Mitglieder im Protestantenverein. Ab 1902 wurde es mit dem in Bremen verlegten Deutschen Protestanten-
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
schen Periode der Entwicklung“ als wahrscheinlich beurteilt.405 Wie Bonus sah man in Naumann den Vertreter eines „neuen, germanischen Christentums“ und einen „Reformator“.406 Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Arthur Bonus sich im Kreis um die Christliche Welt zunehmend auf eine Nischenposition zubewegte. Einer seits eng mit den theologischen Köpfen um Martin Rades Zeitschrift und der modernen Theologie verbunden, verstärkten sich bei ihm im Laufe der 1890er Jahre zusehends kirchen- und theologiekritische Einstellungen. Insbesondere während des Apostolikumstreits hatte sich bei ihm der Gegensatz zum Konser vatismus vertieft. Doch auch die moderne Theologie erschien ihm in den Prob lemlagen der Gegenwart nicht mehr auszureichen. Die Moderne erzeugte aus seiner Sicht einen neuen Weltanschauungsbedarf, der sich mit den Mitteln tra ditioneller theologischer Arbeit nicht mehr einholen ließ. Im Ruf nach mehr Subjektivität hoffte er auf einen Ankerpunkt, an dem sich Religion als Gesche hen im Seeleninneren des Einzelnen begründen ließ. Sich selbst nahm er dabei als einen auf Fortschritt hin orientierten Autor wahr, der auf einen ausdrücklich modernen Stil hindeutete. Bonus religiöse Positionen sind von seinen politisch-sozialen Motiven kaum abzutrennen. Mit der Intensität, in der er sich gegen den theologischen Konser vatismus ausrichtete, hoffte er auch auf eine gesellschaftliche Reform. Bonus suchte nach einer religiös-sozialen Bewegung, in der sich das Potential des Pro testantismus und des deutschen Nationalismus zusammenfügen ließen. Im Ho rizont der Gründung des Nationalsozialen Vereins und in der Naumann-Bewe gung schien sich ihm eine solche Reformvereinigung anzubahnen. In der Umklammerung von religiösen und nationalreformerischen Anliegen ging Bonus über das sprachliche Repertoire der christlich-sozialen Diskurse hinaus. Bonusʼ Beschwörungen des deutschen Sturmgottes und des nationalen Geistes verbanden biblische Motive mit einem drängenden Nationalismus, der auf die Schaffung der Volkseinheit und die Überwindung der sozialen Gegen sätze hinzielte. Die Wiederentdeckung des Christentums im nationalen Geiste bezeichnete er mit dem Schlagwort „Germanisierung des Christentums“. Da hinter verbargen sich keine Anleihen bei der völkischen Ideologie. Im Gegen teil, Bonus distanzierte sich ausdrücklich von einer solchen Interpretation sei ner Schrift. Gleichwohl lassen sich Schnittmengen nicht übersehen, die im inte gralistischen Nationsverständnis, in der Hypostasierung des Deutschen und im Ruf nach einer neuerlichen deutschen Reformation liegen. Für Bonus stand al blatt vereinigt und trug dann den Titel Protestantenblatt. Wochenschrift für den deutschen Protestantismus. 405 Ernst Bollnow: Von Stoecker zu Naumann, in: Der Protestant 2 (1898), 26–29.42–45. 406 Ebd., 44.
V. Im „Kampf um die Weltanschauung“
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lerdings die Begründung der Naumann-Bewegung als Durchbruch eines fort schrittlich-nationalen Protestantismus im Vordergrund. In ihr erschloss sich Bonus ein Weg, wie ein Rezensent meinte, der „aus der Theorie“ zur „prak tisch-weltüberwindenden Macht“ des Christentums zurückführen würde.407
V. Im „Kampf um die Weltanschauung“: Nationale Kulturreform und Religion im Kunstwart und im Eugen Diederichs Verlag Im Umfeld der Christlichen Welt erweiterte sich Bonus’ Interessenkreis bis zur Jahrhundertwende zusehends. Die Suche nach einer neuen Gesellschaft am lin ken Flügel der „Jüngeren“ im Kreis um Rade mit Friedrich Naumann, Erich Foerster, Friedrich Daab, Paul Jaeger und besonders Paul Göhre hatte ihn ver stärkt auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Wirksamkeit über die Kir che hinaus gewiesen. In der Enttäuschung über das unbeholfene, konservative Daherkommen des Kirchenprotestantismus, seine angebliche soziale Blindheit und seine antimoderne Formensprache rückte mit der deutschen, religiösen Kultur ein Paradigma auf, für das Bonus nun zunehmend in anderen Zeitschrif ten neben der Christlichen Welt stritt. Bonus schloss sich der „nationalopposi tionellen“ Kulturbewegung an, wie sie von der Zeitschrift Der Kunstwart re präsentiert wurde, die sich um die Etablierung eines „deutschen Stils“ in der Kunst bemühte, zugleich aber ein wichtiges Organ des nationalen, reformorien tierten Bürgertums darstellte.408 Im folgenden soll nach den Verbindungslinien zwischen Bonus’ religiösen Vorstellungen und den liberal-nationalen Kultur debatten im Kaiserreich gefragt werden.
407 Ebd.
zu diesem Begriff K ratzsch: Kunstwart. Verschiedene Bestrebungen, Bonus in eine „unsichtbare Partei“ der Gebildeten einzubinden, lassen sich in seinem Nachlass nach weisen. So versuchte der Egidyaner und Rassenideologie Heinrich Driesmans, den Bonus durch seine Mitarbeit an den Wartburgstimmen kannte, ihn für ein oppositionelles Kultur parlament zu gewinnen (vgl.: Wege zur Kultur, München 1910; vgl. ders.: Akademie der Arbeit und Kulturparlament, in: ders.: Das Orenda-Problem in der deutschen Arbeitgeber- Frage, Berlin-Schöneberg 1912, 57–62 (dort Zitat 61). Während Bonus hier ablehnte, stand er wohlwollend einer Anfrage Paul Natorps 1919 gegenüber, sich an einem Kulturparlament der Gebildeten zur Unterstützung des Neuaufbaus nach dem Ersten Weltkrieg zu beteiligen (Paul Natorp: Ein Weg zur Rettung, in: Kunstwart 32/3 (1919), 100–107; Bonus: Ein Bil dungsparlament?, in: Kunstwart 32/3 (1919), 225–227). Einen ersten Versuch bildungsbür gerlicher Reformpolitik stellte der Nationalsoziale Verein Naumanns dar. Auch Avenarius’ ‚Dürerbund‘, an dem Bonus sich intensiv beteiligte, verstand sich als ein reform- und kultur orientiertes Bündnis der Gebildeten. 408 Vgl.
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1. „Kulturarbeit“ Die Wagnerfestspiele 1912 waren der Ort eines in aller Diskretion vorbereiteten Treffens, bei dem eine kleine, aber illustre Gruppe religiöser, kulturbegeisterter Literaten zusammenkommen sollte. Eingefädelt hatte die Zusammenkunft der renommierte Literaturkritiker Hermann Bahr, der als Theoretiker der Moderne und als enthusiastischer Wagnerianer weithin bekannt war. Dieser hatte sich an Johannes Müller-Elmau gewandt, einen als religiösen Publizisten und Seelsor ger bekannten ehemaligen evangelischen Pfarrer, um geeignete Persönlichkei ten zusammenzubringen. Die Festspiele sollten ein „Deckmantel“ sein, um den Eindruck einer offiziellen Verbindung zu vermeiden; auch betonte Müller, dass der „neutrale Boden“ von Bayreuth einen Verpflichtungscharakter vermeide. Ein Kennenlernen sollte die „persönliche Fühlung“ zwischen den neureligiösen Publizisten ermöglichen, die sich als „Elemente der modernen geistigen Strö mung“ verstanden. Die Familie Wagner war in den Plan eingeweiht und hatte freien Zugang zu den Proben zum ‚Ring‘ gewährt. Auch zu dem ideologischen Doyen der völkischen Bewegung, Houston Stewart Chamberlain, hatte man Kontakt aufgenommen. Tatsächlich kam es zu einer Begegnung zwischen den Ehepaaren Bahr, Bonus und Müller sowie dem französischen reformierten Pfar rer Paul Sabatier, der für seine Franziskusbiographie bekannt war und als Ver treter einer bekenntnisübergreifenden Mystik galt.409 Arthur Bonus befürchtete „Reporterinteresse“ und außerdem den Dogmatismus der Bayreuther, Beden ken, die Müller auszuräumen suchte: Mehr als eine Frühstückseinladung und „Minutenlang sich das Haus anzuschauen“ sei nicht zu erwarten.410 Im Ganzen verlief das Treffen erfolglos, weil die Bayreuther Größen im Fest spielbetrieb, anders als erwartet, den Kreis von Literaten am Rande des Musik geschehens weitgehend ignorierten. Es illustriert aber zunächst, wie uneindeu tig und vielschichtig die verschiedenen Strömungen waren, die um die Jahrhun dertwende sich in der Suche nach einer modernen, deutschen Kultur zusammenfanden. Es unterstreicht zweitens, welch hoher Stellenwert dem Fak tor Religion im Bildungsbürgertum als Bedingung einer kulturellen Erneue rung beigelegt wurde. Und drittens verweist es auf die Schwierigkeit der Religi 409 Vgl. Johannes Müller: Erinnerungen, in: Grüne Blätter 40 (1938), 326; zum Ehepaar Bahr als Bayreuthverehrer: Anna Bahr-Mildenburg/Hermann Bahr: Bayreuth, Leipzig 1912; Winfried Schüler: Der Bayreuther Kreis, Münster 1971, 164 f. 410 Vgl. die Briefe von Müller an Bonus, 10. und 24.4.1912 [Eisenach, N Bonus VE 36] und vom 9.7.1912 [ebd., VE 53]; vgl. zum Ganzen H arald H aury: Von Riesa nach Schloß Elmau, Gütersloh 2005, 175 f. Die Verbindung zwischen Bonus und Müller war auch über die Ehefrauen vermittelt; Müllers erste Frau Marianne Fiedler war seit ihrer Studienzeit mit Be ate Bonus-Jeep und der gemeinsamen Kollegin Käthe Kollwitz befreundet, vgl. K roeger: Gogarten, 78; Müller: Erinnerungen, in: Grüne Blätter 1937, 159.
V. Im „Kampf um die Weltanschauung“
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onsintellektuellen der Jahrhundertwende, die vom Rand der Institution Kirche aus agierten und an den Universitäten keine Anerkennung fanden, ihren Ideen in der wilhelminischen Gesellschaft ein breiteres, soziales Fundament zu ge ben. Der Traum von einem „heimlich offenen Bund für das große Morgen“, den schon Paul de Lagarde geträumt hatte, um die „Geistesaristokraten“ für die Er neuerung Deutschland zu sammeln, wurde hier aufgegriffen.411 Auch für Bonus war eine solche Vernetzung eine wichtige Notwendigkeit, um den „Bau einer deutschen Kultur“ angehen zu können.412 Über seine Frau war Bonus mit der Berliner Moderne und ihrem Protest sturm gegen die Enge der deutschen Kunstwelt in Berührung gekommen. Beate Bonus-Jeep war seit Studienzeiten eine enge Freundin von Käthe Kollwitz, die sie in die „Berliner Secession“ eingeführt und mit der Malerei413 der Moderne in Berührung gebracht hatte.414 Die Übereinstimmung in künstlerischen Stilfragen stellte im bürgerlichen Leben der Jahrhundertwende keine Nebensächlichkeit dar. Der Kunst wurde im kollektiven Bewusstsein der Gebildeten gleichsam eine „Sonderrolle“ beigemes sen, den Stimmungshaushalt des Einzelnen mit der Kultur seiner Zeit zu verbin 411
Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, 136. In Kurzfassung verwies der Briefkopf des Eugen Diederichs Verlages auf Lagardes Satz, vgl. Erich Viehöfer: Der Verleger als Organi sator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frankfurt 1988, 14. 412 Bonus: Gustav Theodor Fechner, in: Kunstwart 14/2 (1901), 70–72; vgl. ders.: Gustav Theodor Fechner. Geb. am 19. April 1801, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 61–62. 413 Seine Einschätzung zur religiösen und sozialen Bedeutung dieses Künstlerinnen-Um feldes schilderte Bonus 1908 in der Christlichen Welt: Für ihn hatte in Käthe Kollwitz der „neue soziale Geist wirklich künstlerischen Ausdruck gefunden“; bei ihr ging es in Bonus’ Augen nicht um ästhetische Anschauung und um „Schönheit“, sondern darum, das „Erleben“ der Wirklichkeit zu schildern. Hedwig Weiß und Linda Kögel trugen diese Anliegen in die kirchlich-religiöse Kunst der Gegenwart hinein (Bonus [Georg Stolterfoth]: Literaturbriefe, in: CW 22 (1908), 302–306). 414 Vgl. die autobiographische Briefauswahl von Beate Bonus-Jeep: Sechzig Jahre Freund schaft mit Käthe Kollwitz, Berlin 1967; zu dem spannenden künstlerischen Umfeld s. den Ausstellungsband von Ulrike Wolff-Thomsen/Jörg Paczkowksi (Hg.): Käthe Kollwitz und ihre Kolleginnen in der Berliner Secession (1898–1913), Wertheim 2012 (Beate Bonus wird leider nicht erwähnt); zur „Secession“ und den sie umgebenden Stil- und Gesellschaftsdebat ten vgl. Peter Paret: Die Berliner Secession, Berlin 1981; J. Frecot/E. Roters (Hg.): Berlin um 1900, Berlin 1984. Ein weiteres Mitglied dieses Freundeskreises war Hedwig Weiß, die Tochter des Neutestamentlers Bernhard Weiß und Schwester des Exegeten Johannes Weiß, die Bonus bereits als Student am „Mittagstisch“ des Professors kennengelernt haben dürfte. Weiß, Kollwitz und Bonus-Jeep verband eine lebenslange Freundschaft. Zudem gehörte auch die zweite Ehefrau von Johannes Müller, Marianne Fiedler, diesem Kreis an (vgl. Harald H aury: Von Riesa nach Schloß Elmau, 76 f.). Zu Bonus’ Sicht auf Kollwitz künstlerisches Schaffen vgl. den von ihm eingeleiteten Bildband: Das Käthe-Kollwitz-Werk, Dresden 1925.
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
den.415 Bonus entdeckte eine neue Ästhetik, die sich gezielt als modern gab und mit den Konventionen des wilhelminischen Kunstbetriebs zu brechen suchte. Dabei wurde mit alternativen Ausdrucksformen experimentiert und eine Flucht aus der Bürgerlichkeit hin zu neuer Tiefe und ungekünstelter Wahrheit initiiert. Zwischen Realismus und Großstadt, den alten Meistern und einer neuen Volks tümlichkeit, wurde ein „Wesen der Reizsamkeit“ gepflegt, wie der Kulturhisto riker Karl Lamprecht 1905 einige Kennzeichen der Berliner Moderne zusam menstellte.416 Vor allem die Literatur wurde für Bonus ein Feld, auf dem sich ein gesellschaftlicher Umschwung abzuzeichnen begann. Das wirkte sich auf seine Veröffentlichungen aus: Neben religiöse Texte traten zunehmend Rezensionen aus der modernen Literatur und kunstkritische Stellungnahmen, die den gängi gen „Ateliergeschmack“ der Jahrhundertwende beklagten und nach einem neu en Bezug zur Wirklichkeit strebten, nach sozialer Wirkung, Naturerleben und geistiger Freiheit. Max Klinger und Arnold Böcklin waren die Namen, die er auf dem Gebiet der Malerei für führend hielt. Darin zeigt sich, dass die Sehnsucht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten Bonus nach einem innovativen, bewusst deutschen Stil fragen ließ, den er unmittelbar mit der Moderne in Verbindung brachte.417 Die Historienmalerei, den religiös angehauchten Ausdruck der Naza rener und einen französisch inspirierten Salonstil lehnte er entschieden ab: Wer [Peter von] Cornelius als spezifisch deutsch empfindet und [Wilhelm von] Kaulbachs öde Kitschmalerei gar als „kerndeutsch“ und „Realismus“ – o Himmel! Wenn ihm gar das „Graziöse“ als das „Vollkommene“ erscheint, […] – was soll man dazu sagen!418
Literarisch war es die Wendung zum Naturalismus, die ihn zwischen Natur schilderung und sozialpsychologischem Anspruch beeindruckte. Allen voran die Skandinavier Henrik Ibsen und Björnstjerne Björnson, von den Deutsch sprachigen gehörten Wilhelm Raabe, Gerhart Hauptmann und Gustav Frenssen in diese Richtung.419 Weiter schrieb Bonus über Lebensphilosophie, Naturmys 415
Georg Bollenbeck: ‚Gefühlte Moderne‘ und negativer Resonanzboden. Kein Sonder weg, aber eine deutsche Besonderheit, in: Sabine Becker /Helmuth K iesel (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin 2007, 39–60, 56. 416 K arl Lamprecht: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Bd. 1, Freiburg 1905, 242. 417 Bonus [unter dem Pseudonym Fritz Benthin]: Die Stilbarbaren, in: CW 11 (1897), 952– 956; ders.: Klingers Beethoven, in: PrJ 110 (1902), 143–149; als Grundsatzartikel zur Moder ne: ders.: Wo stehen wir? Zum Problem der modernen Kunst, in: PrJ 116 (1904), 504–529. 418 Briefkonzept Bonus an Rade, 1898 (bezugnehmend auf die beiden kunsttheoretischen unter dem Pseudonym Fritz Benthin veröffentlichten Aufsätze: Die Stilbarbaren, in: CW 11 (1897), 952–956; Pedanten und Philister, in: CW 12 (1898), 136–137 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]). 419 Bonus: Aus der schönen Literatur, in: ThR 1 (1898), 480–492; ders.: Rez. Gustav Frenssen, Jörn Uhl, in: CW 15 (1901); ders. [als Fritz Benthin]: Nordische Litteratur, in: CW 17 (1903), 1164–1169; ders.: Björnson, in: CW 18 (1904), 698–705.
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tik und Entwicklungslehre und verwies dabei auf Theodor Fechner, Maurice Maeterlinck oder Henri Bergson, während er den Monismus Ernst Haeckels oder seine literarische Verarbeitung, zum Beispiel durch den Friedrichshagener Bruno Wille, lächerlich fand.420 In Bonus’ Augen hatte die Kunst eine soziale Aufgabe. Sie sollte engagiert die vorhandene, seelisch nachempfundene Wirklichkeit und innere Wahrheiten wiedergeben. Keinesfalls war es ihr Inhalt, uninteressierte „Schönheit zu offen baren“ oder vorhandene Kenntnisse zu wiederholen.421 Das galt insbesondere für die religiöse Kunst, die er als belehrende Darstellung dogmatischer Inhalte oder als ästhetische Raumaustattung scharf als „christliche Pseudokunst“ oder – am Beispiel der religiösen Massenkunst in Konfirmandenscheinen oder An dachtsbildern – als Heuchelei ablehnte.422 Die Engigkeit der „Pedanten und Philister“ und der „Schulweisheit“ zugunsten von „Freiheit und Herrschaft“ zu überwinden, wurde das Ziel, das eine tiefgreifende Kulturreform auf religiösem wie allgemein geistigem Gebiet verlangte.423 Das alles stand nicht verbindungslos neben Bonus’ religiösen Vorstellungen, die er gegen das „Buchdogma“ als „schöpferisches Leben“ oder als „lebendiges Lebensgefühl“ umzuformen begann.424 Schon vor der Jahrhundertwende sah er, wie er 1904 formulierte, „das neue ästhetische Zeitalter“ heraufziehen, von dem ausgehend der Protestantismus gezwungen würde, sich inhaltlich und sprach lich neu zu bestimmen.425 Bonus’ Interesse für die Kunst und Literatur war kein auf sich bezogener Nebentrieb seiner Verkündigung, sondern ein fester Be standteil von einem „Ideal eines Kulturstaats“, den Bonus der wilhelminischen „Zwangskultur“ entgegensetzte: Zwangskultur ist Barbarei. […] Wenn der Staat dekretiert, daß nur noch Anton von Werner sche Maler an den Akademien angestellt werden, nur noch Begassche Figuren öffentlich ausgestellt werden, so fühlt man den Widersinn solcher ‚Kulturarbeit‘ […].426 420
Ders.: Mystisches, in: Kunstwart 15/1 (1901/1902), 90–93; ders.: Gustav Theodor Fech ner, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 61–62; ders.: Eine philosophische Recension, in: Die Zeit 1 (1901), 494–498; ders.: Vom Kampfe um die Weltanschauung, in: CW 16 (1902), 248–251. 421 So z. B. ders.: Tolstoj, in: Kunstwart 15/2 (1902), 1–10. 422 Ders.: Ein Kunstwerk?, in: CW 12 (1898), 448–449 (Rezension zu: Jeannot Emil von Grotthus: Der Segen der Sünde, Stuttgart 1898); ders.: Vom christlichen Vaudeville, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 31–32. 423 Ders.: Pedanten und Philister. Dieses Stück ist nicht für Unterprimaner und Leser des Reichsboten oder der Luthardtschen Kirchenzeitung, in: CW 12 (1898), 136–137. 424 Vgl. z. B. ders.: Schöpferisches Leben, in: CW 18 (1904), 657–659; ders.: Künstleri sche und religiöse Wahrheit, in: ebd., 18 (1904), 684–685. 425 Ders.: Modephasen, in: CW 18 (1904), 199–200, 199. 426 Ders.: Staat und Kulturstaat. Bei Gelegenheit der Simultanschulfrage, in: CW 18 (1904), 1094–1097, 1095.
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
Um des Kulturstaates willen hoffte Bonus, die moderne Bewegung, die er in der Kunst erlebte, auch auf den Protestantismus übertragen zu können. Damit ver stand er sich als Vertreter einer „Kulturarbeit“, durch die er das Anliegen der künstlerischen Reformbewegungen auf die Religion übertragen konnte.427 Bonus hielt das für kein rein individuelles Problem oder eine neue Sezessions bildung auf dem Gebiet des Kulturprotestantismus, sondern für eine „Staats sache“, bei der sich der Einfluss der konfessionellen Kreise auf Kultur und Fort schritt schädlich auswirkte.428 Die Krisis der Kirche lag für Bonus in ihrer geis tigen Enge und der Nähe zur konservativen staatlichen Obrigkeit begründet.429 Vor diesem Hintergrund erklärte es sich, warum er forderte, dass ins Christen tums ein „neuer Geist“ gegen die „Flutwelle der Reaktion“ fließen müsse.430 Das Ringen um eine deutsche „Kulturarbeit“ führte Bonus auf den Weg über das protestantische Umfeld im engeren Sinne hinaus und zu anderen Blättern neben der Christlichen Welt, die er allerdings bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchgängig mit „Literaturbriefen“ und „Ästhetischen Randglos sen“ bestückte. In Naumanns Hilfe trat er als versierter Nietzsche-Kenner auf, zu dem er sich auch in Schrempfs Wahrheit und ausführlich in den Preußischen Jahrbüchern äußerte.431 Das Verhältnis zu Nietzsche war nicht kritiklos: Er be wunderte ihn als großen Leidenden an der bürgerlichen Gegenwart, der in scharfen Analysen die Fehlannahmen der Moderne zersetzte und das Epigonen tum der humanistischen Bildungskultur bloßgelegt hatte. Wenig hielt er von Nietzsches Begeisterung für die Renaissance und die Kultur der Antike; positiv bezog er sich auf Nietzsches Forderung, das Christentum der Nächstenliebe durch einen neuen Mythos zu überholen. Neben Nietzsche stellte er Lagarde als den Künder einer zukünftigen, deutschen Frömmigkeit dar, sowie Tolstoi und Kierkegaard, die als Propheten eines kompromisslosen und kirchenkritischen Christentums um die Jahrhundertwende häufig gelesen wurden.432 Er bezog sich damit auf Meisterdenker einer Kulturkritik, die in der Abkehr vom kirch lichen Christentum für eine religiöse Intensivierung und ein vertieftes Seelen 427 Zum Begriff „Kulturarbeit“ vgl. neben dem obenstehenden Aufsatz aus der Christ lichen Welt auch: ders.: Arbeit an der deutschen Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 509–512, 511. 428 Ebd. 429 Ders. [Fritz Benthin]: Aus der religiösen Bildersprache, in: CW 11 (1897), 810–811. 430 Ders.: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, in: CW 16 (1899), 101–103, 102 f. 431 Ders.: Zum Nietzsche-Problem, in: Die Hilfe 5 (Nr. 40 v. 1. Oktober und Nr. 41 v. 8. Ok tober), 1899, Beiheft, 9 f.; ders.: Der Umsturz der Herren, in: Die Wahrheit 8 (1897), 129–135. 432 Ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571; ders.: Tolstoj, in: Kunstwart 15/2 (1902), 1–10; ders.: ‚Mutter Kirche‘, in: CW 18 (1904), 1002–1003; ders.: Eine Mystifi kation über Kierkegaard, in: CW 19 (1905), 458–462.
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leben standen und zudem als Vorboten einer neuen Daseinsweise von der Le bensreformbewegung in Anspruch genommen wurden.433 Zur Festigung seines Selbstbewusstseins als literarisch ambitionierter Pastor trugen gewiss die ersten Buchveröffentlichungen bei, die zunächst aus seinen Andachtstexten und kurzen Predigtsequenzen bestanden, in denen Bonus kon sequent an einem avantgardistischen Stil in Inhalt und Sprache arbeitete. Sie erschienen bei Eugen Salzer in Heilbronn, einem Jungverleger, der unter dem Motto „Für Zeit und Ewigkeit“ ein religiöses, an Naumann und dem Sozial protestantismus orientiertes Programm verfolgte und darin verschiedene Hilfe- Autoren brachte.434 Das Signet des Verlags stellte einen säenden Landmann dar – ganz ähnlich wie bei Eugen Diederichs, der seinem ersten Gesamtkatalog 1904 einen von Hans Thoma stammenden Säemann als Zeichen der kultivieren den Arbeit am deutschen Volksboden voranstellte.435 Die religiösen Besinnungs bücher im Salzer-Verlag – 1895 Zwischen den Zeilen, 1897 Deutscher Glaube, 1898 Der Gottsucher und eine zweite Sammlung Zwischen den Zeilen, schließ lich 1905 Der lange Tag – erlebten sämtlich mehrere Auflagen und wurden zu einem mäßigen Erfolg, von dem Bonus zwar nicht leben konnte, der ihm aber einen gewissen Bekanntheitsgrad einbrachte.436 Velhagen & Klasings Monatshefte verglichen seine Religionsauffassung mit „Sören Kierkegaard“ und kamen zu dem positiv gemeinten Schluss, das seine Bücher „keine Kost für zarte, mit Leckereien verwöhnte Seelen“ waren.437
433 Zur
Lebensreformbewegung vgl. materialreich K ai Buchholz (Hg.): Die Lebensre form, 2 Bde., Darmstadt 2001 (Ausstellungskatalog); Diethart K erbs/Jürgen R eulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998; Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhun dertwende, München 1987; Wolfgang K rabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebens reform, Göttingen 1974. 434 Martin Rade hatte Bonus empfohlen, sich dem Verlag anzuvertrauen; diverse Briefe von Rade an Bonus aus der zweiten Jahreshälfte 1894 zeugen davon [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. Zur Verlagsgeschichte vgl. die Festschrift von Uwe Jacobi: 100 Jahre Salzer, Heilbronn 1991. 435 Eugen Diederichs, Jena in Thüringen, Verlagskatalog, Jena 1904; vgl. M eike Werner: Moderne in der Provinz, Göttingen 2003, 70 f. Salzer verlegte neben seinen religiösen Titeln Volkskunde und Heimatliteratur. 436 Paul Jaeger erinnerte sich, dass Bonusʼ Bücher als Geschenke im Bekanntenkreis modernprotestantischer Theologen und Studenten beliebt waren (Am geheimen Webstuhl Gottes, Bd. 1, Stuttgart 1938, 87). 437 Zitiert bei Uwe Jacobi, 100 Jahre Salzer, 18. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Besprechung von Heinrich Hart, die Eugen Diederichs Bonus brieflich übermittelte (Brief Diederich an Bonus, 1.9.1901 [ebd., 06_004], vgl. LuW, 59); vgl. aber auch Rudolf Günther: Arthur Bonus’ Schriften, in: ZThK 11 (1901), 214–229, 216.
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Bonus ging es um nichts Geringeres als eine Neuwerdung mit religiösem orizont: um den „‚Kampf um die Weltanschauung‘ in den sogenannten oberen H Regionen“.438 Dafür eroberte er sich mit den reformbereiten Kulturzeitschriften der Jahrhundertwende ein erweitertes Publikationsgebiet, in dem er sowohl als Fachmann für die religiöse Bewegung der Gegenwart als auch als Literaturkriti ker geschätzt wurde. Paul Rohrbach etwa bemühte sich um Bonus’ Mitarbeit im „literarisch-ästhetischen“ Teil der nationalsozialen Zeit; Friedrich Naumann be tonte die Nähe zu seinen eigenen kunstpädagogisch-reformerischen Vorstellun gen.439 Die Anfrage Wilhelm Boussets, fortlaufend in der Theologischen Rundschau über moderne Literatur zu berichten, nahm Bonus gerne an, stand diese Zeitschrift im Kampf für eine religiös-kulturelle Erneuerung doch „obenan“.440 Gegenüber anderen Angeboten, etwa von der nationalen Deutschen Heimat oder der Deutschen Monatsschrift, blieb Bonus zunächst skeptisch.441 Auch der Türmer, der sich als protestantisch geprägte „Monatsschrift für Geist und Gemüt“ eigentlich angeboten hätte, fiel in seinem Umfeld durch, weil er ein unklares „Gemisch von ganz modernen und orthodoxen Anschauungen“ repräsentierte.442 Der ästhetische Wert des jeweiligen Zeitschriftenprogramms durfte in Bonus’ Augen nicht durch „plumpen Nationalismus“ getrübt werden; entscheidend war ein vorbehaltloses Bekenntnis zur Moderne.443 Bis 1918 beschränkte sich Bonus publizistisch auf intellektuelle Führungsblätter wie die Neue Rundschau, die na tionalsozialen Jahrbücher Patria oder den März, wobei es immer wieder zu Kon flikten mit den Schriftleitungen kam, deren redaktionelle Vorgaben Bonus gerne kritisierte oder Korrekturen und Einschränkungen ablehnte.444 Die Beurteilung erfolgte abhängig von der Zuverlässigkeit in Fragen des nationalen Stilempfin dens und der Politik. So hielt Bonus viel von Hans Delbrück als Zeitschriften 438
Brief Bonus an Frenssen, 22.8.1902 [Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Cb 21. Frenssen, Gustav 56:343]. 439 Brief Rohrbach an Bonus, Berlin 12.8.1901; Brief Naumann an Bonus, 4.9.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_009]. 440 So Bonus’ Bewertung der Theologischen Rundschau – an der Seite der Christlichen Welt – in: Religion, in: Kunstwart 14/1 (1901/02), 246–251, 251 (Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1901, ähnlich auch in den Folgejahren). 441 Brief Bousset an Bonus, 8.11.1897 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]; Brief Eugen Kalckschmidt und Georg Heinrich Meyer an Bonus [ebd., 07_004] (1901 entschloss sich Bo nus zur Mitarbeit an der Deutschen Heimat in Form mehrerer Aufsätze); Briefe Otto Höltzsch an Bonus, 31.10. und 4.11.1904 [ebd., 07_012]. 442 Brief Bousset an Bonus, 16.10.1898 [ebd., 13_008]. 443 Briefkonzept Bonus an Höltzsch (Redaktion Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart), 4.11.1904 [ebd., 07_012]. 444 Wie aus dem brieflichen Nachlass hervorgeht, lehnte Bonus trotz seiner beinah chro nischen Finanzknappheit regelmäßig auch lukrative Publikationsangebote ab, wenn ihm die Zeitschrift oder der Herausgeber weltanschaulich oder stilistisch nicht zusagten.
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herausgeber, dessen „Monatsübersichten“ in den Preußischen Jahrbüchern ihn aufgrund ihrer selbständigen Urteilskraft beeindruckten, wie er Martin Rade schrieb. Die Verbindung zu Delbrück und den Preußischen Jahrbüchern hatte Julius Kaftan vorbereitet; sie ergab sich zudem aus dem gemeinsamen Hinter grund im Evangelisch-sozialen Kongreß und dem Naumann-Umfeld.445 Von die ser Zeitschrift ging, so Bonus, eine „Pädagogik im großen Stil“ mit nationaler Wirkung aus.446 Den Lesern der Christlichen Welt empfahl er Delbrücks politi sche Kommentare als Einführung in das politische Denken.447 Die Preußischen Jahrbücher stellten einen wichtigen Publikationsort für Bonus’ kulturkritische Ideen dar, denen auch in Form von recht ausführlichen Rezensionen Gewicht beigemessen wurde.448 Maximilian Hardens Zukunft mochte er hingegen nicht, da aus ihr „immer ein bischen Koketterie und eine Dosis Fäulnis“ spreche.449 Ihr fehle es an „Sachlichkeit“ – worunter allerdings keineswegs eine neutrale Be schreibung, sondern ein straffes Werten aufgrund von modern-nationalisierten Geschmacks- und Gesinnungskriterien zu verstehen war. Eine solche stilsichere Urteilsfähigkeit fand Bonus allen voran im Kunstwart wieder, den er seinen kul turprotestantischen Lesern ab 1898 als einzig ernstzunehmende Kunst- und Kri tikzeitschrift der Gegenwart zur Lektüre anriet. Der Kunstwart war für Bonus nicht nur ein Mittel, sich als Leser mit Rezensionen und Literaturberichten fach gerecht in Kunstfragen zu orientieren, sondern das Forum, auf dem sich die fort schrittswilligen Gebildeten der Gegenwart trafen, um alles „Unechte“ abzulegen und den „Byzantinismus“ der wilhelminischen Kultur abzubauen.450 445
Briefe Kaftan an Bonus, 9.2. und 11.2.1896 [ebd., 13_006]: „Die Anknüpfung mit Del brück u. den Preuß.[ischen] Jahrb.[üchern] kann für Sie werthvoll werden.“ Kaftan hatte Bo nus’ Aufsatz: Shylock. Zur Judenfrage, an Delbrück weitergeleitet (erschienen in: Preußische Jahrbücher 83 (1896), 414–437). Der 1896 begonnene, regelmäßige Briefwechsel zwischen Bonus und Delbrück reicht bis 1919; neben herausgeberischen Fragen wurden vor allem ab 1912 politische Themen verhandelt [Staatsbibliothek Berlin, NL Delbrück]. 446 Brief Bonus an Rade, Dresden, 21.8.1904 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_003]. Bonus verehrte den liberalkonservativen Historiker Delbrück sehr. Als Heinrich Driesmans, der Herausgeber der kulturnationalistischen Deutschen Kultur, ihm im Rahmen seiner redaktio neller Planungsarbeiten eine Liste „Deutsche Kulturkämpfer“ zur Vervollständigung vor legte, ergänzte er den Namen Delbrück (Briefkonzept Bonus an Driesmans, undatiert [ebd., 21_001]). 447 Bonus: Zuschrift, in: CW 19 (1905), 36–37. 448 Vgl. die Darstellungen von M ax Christlieb: Rez. Religion als Schöpfung, in: PrJbb 110 (1902), 544–546 und A dolph M atthaei: Arthur Bonus. Zur religiösen Krisis, in: ebd. 147 (1912), 526–528. 449 Im oben zitierten Brief an Rade, Dresden, 21.8.1904 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_003]. 450 Bonus: Ästhetische Randglossen, in: CW 12 (1898), 973–978; ders.: Aus der schönen Literatur, II., in: ThR 1 (1898), 521–532. Der Kunstwart wurde mehrfach Gegenstand von
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Mit dem Kunstwart erschloss sich Bonus ein bürgerliches, literarisches Kom munikationsnetzwerk, das über die reine Zeitschrift hinausging. 1898 trat er hier erstmals mit Passagen aus seinem Buch Der Gottsucher hervor, die auf seine mit sozialen Appellen verbundenen religiösen Reformvorstellungen auf merksam machten.451 Bei dem Aufsatz „Thatenfrühling“ handelte es sich um einen überarbeiteten Teilabdruck des „Weihnachtsmärchens“, das er 1893 in der Christlichen Welt publiziert hatte, um seinen christlich-sozialen Erneuerungs hoffnungen im Sinne Naumanns Ausdruck zu verleihen. Im Herbst 1899 fand er erneut Erwähnung im Kunstwart, in dem er dem Publikum bereits als ein ver sierter Kritiker vorgestellt wurde, der den ästhetischen Kampf gegen die Kul turphilister anführte und den Autoren zuzurechnen sei, die sich um eine natür lichere Lebensweise verdient machten. In etwas verunglückter Metaphorik, aus der aber das Anliegen hervortrat, ihn als Überwinder langlebiger Traditionen darzustellen, urteilte ein Rezensent: „Ein rechter Hecht im Karpfenteich ist Bonus.“452 Sein Debut mit einem eigenständigen Beitrag hatte er 1900 mit ei nem Bekenntnis, wie „ein moderner Deutscher“ die Bibel lese, nämlich als Zeugnis der Entwicklungslehre auf dem Gebiet der Weltgeschichte, als deren Gipfelpunkt er die „That-Offenbarung“ der menschlichen Geisteskraft und der Persönlichkeit in der prophetischen Natur Jesu ausmachte.453 Ferdinand Avenarius, der Herausgeber des Kunstwart, begann mit ihm seit der Jahrhundertwende einen wichtigen intellektuellen Aktivposten unter seinen Autoren zu fördern. Bonus galt als ernstzunehmender und kenntnisreicher Lite raturkritiker, dem Avenarius zunächst den regelmäßigen Abdruck seiner Be sprechungen und bald auch eine feste Mitarbeiterschaft in Aussicht stellte.454 Auch Bonus’ religiöse Sachkenntnis stieß auf erhebliches Interesse. Entspre chend band Avenarius ihn in die seit der Jahrhundertwende regelmäßig zu Weihnachten erscheinenden Literaturberichte des Kunstwarts als Fachbericht Bonus’ Briefkorrespondenz, wo die Kulturzeitschrift insgesamt als repräsentatives Sprach rohr einer entschiedenen, bürgerlichen Moderne galt. Für Erich Foerster war der Kunstwart „gut, solide, tapfer, aber recht eintönig“ [Foerster an Bonus, 31.10.1899 [07_014]; bei Wilhelm Bousset galt er als stilbildendes Organ der deutschen Gegenwartskunst, Bonus zufolge war er „gediegen, manches sogar vorzüglich, vieles akademisch, leere Rederei ist aber auch darun ter“ (undatierte Briefkonzepte Bonus an Bousset [ebd., 13_007/008]). 451 Ders.: Thatenfrühling, in: Kunstwart 11/2 (1898), 60–61 (unter der Kategorie „Lose Blätter“); vgl. ders.: [X], Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche, in: CW 7 (1893), 1243–1245. 452 Pl.: Rundschau. Arthur Bonus, in: Kunstwart 13/1 (1900), 107–108, 107 f. 453 Bonus: Lose Blätter. Eine neue Weltanschauung, in: Kunstwart 13/1 (1899/1900), 273– 275. 454 Briefe Avenarius an Bonus, Dezember 1900 und 18.2.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_002].
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erstatter über zeitgenössische religiöse Literatur ein.455 Bonus gehörte zu den Autoren, deren Stimme zu religiösen und künstlerischen Fragen sowie zur Aus legung des Märchens und der Volksliteratur nach der Jahrhundertwende den Kurs der Zeitschrift prägend mitgestalteten und der als Fachberater für „Germa nistisches“ auf Avenarius einwirkte.456 Von 1900 an zählte er zu den regelmäßi gen Beiträgern, der sich zu Fragen der Kirchenpolitik und der freien Religiosität ebenso äußerte, wie zum Verhältnis von Kunst und Religion, zur Ausdruckskul tur oder zur „Kunst der religiösen Rede“.457 Für Avenarius stellte er die „erste religiöse Kraft der Gegenwart“ dar; immer wieder drängte er ihn, als fester Mitarbeiter, selbst mit eigenem Ressort, für den Kunstwart zu schreiben; zwi schen 1916 und 1919 wurde er zum festen Redaktionsmitarbeiter. Streckenweise wurde Bonus geradezu hofiert und seine Mitarbeit zum unabdingbaren Bau stein im kulturreformerischen Profil der Zeitschrift erklärt: „Je mehr es den Anschein hat, daß der Kw. wirklich ein allgemein gelesenes Blatt wird, je mehr möcht’ ich den Leuten nur das Beste bieten“.458 Zwischen beiden herrschte, so Avenarius, eine „praestabilisierte Harmonie“.459 Ein solches Zeugnis eröffnete dem an seiner kirchlichen Existenz zweifelnden Noch-Pfarrer den Zugang zu einer gebildeten Zeitschriftenwelt, in der religiöse Reform, Lebensstil und na tionale Ideale eng aufeinander bezogen waren.
2. Der Kunstwart Der Kunstwart war am 5. Oktober 1887 zum ersten Mal mit dem Untertitel „Rundschau über alle Gebiete des Schönen“ als eine Halbmonatsschrift erschie nen, die rasch zu einem stil- und sprachprägenden Organ im wilhelminischen Deutschland werden sollte.460 Avenarius gelang es, die Zeitschrift zu einer Platt 455
Briefe Avenarius an Bonus, 13. und 27.10.1900 [ebd., 07_002]. K ratzsch: Kunstwart, 192; vgl. als Beispiel ein ausführliches Briefkonzept von Bonus an Avenarius, Groß Muckrow 20.12.1900 (Schluß Januar 1901) [ebd., 07_002], in dem Bonus Avenarius über die Relevanz der deutschen Sagen- und Märchenüberlieferung infor mierte. 457 Bonus: Von der Kunst der religiösen Rede, in: Kunstwart 17/2 (1904), 328. Dauerprä senz entfaltete er zwischen 1915 und 1920, wo sich so gut wie keine Kunstwart-Ausgabe finden lässt, in der Bonus nicht wenigstens unter Pseudonym geschrieben hätte. 458 Vgl. Briefe Avenarius an Bonus, 12.8. und 10.10.1901 [ebd., 07_002]; 18.1.1905 und 24.2.1905: Bonus soll als Literaturkritiker fest eingebunden werden [ebd., 05_015]; 17.7.1908: Bonus als Fachrezensent für nordische Literatur [ebd., 07_003]; 5., 17. und 18.1.1918: als Mitredakteur ist Bonus „unabkömmlich“ und soll fest in den Redaktionsstab aufgenommen werden [ebd., 11_006]. 459 Brief Avenarius an Bonus, Dezember 1900 [ebd., 07_002]. 460 Vgl. K ratzsch: Kunstwart; M. Dimpfl: Die Zeitschriften; vom Bruch: Kunstwart und 456 Vgl.
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form der Gebildetenreformbewegung auszubauen, die einer reformerischen Kulturkritik Stimme verlieh und gegen die Verwerfungen der wilhelminischen Klassengesellschaft einen ethischen Idealismus predigte. Als Zielvision ver folgte er ein Kulturideal, das orientiert an Friedrich Naumann einen nationalen Sozialismus anstrebte, dabei aber aristokratisch vom Führungsanspruch der Gebildeten ausging.461 Damit wurde er zum Sprachrohr der reformwilligen Mit telschichten mit Bildungshintergrund: Lehrer und Pfarrer, Universitätsprofes soren und Juristen gehörten zu seinen Lesern. Durch ein breites Angebot an Bildmappen, Kunstdrucken, Buchberatern und Kaufempfehlungen, die sich über zeitgenössische literarische Werke bis hin zu Konfirmandenscheinen er streckten, festigte die Zeitschrift eine erkennbare „Kunstwartästhetik“, die Ge schmacksurteile prägen sollte und sich im reformerischen Selbstbild und schließlich auch in den Hauseinrichtungen seiner Leser niederschlug.462 Der Kunstwart hatte 1896 in seinen Titel ein leicht abgewandeltes Zitat von Richard Wagner aufgenommen: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun!“ Dieser Satz enthielt den programmatischen Anspruch einer natio nalen Kulturreform, gegen Materialismus, kapitalistische Veräußerlichung und künstlerische Imitation einen eigenständigen, deutschen Stil zu setzen. Hier lag eine enge Verwandtschaft zu Bonus’ Vorstellungen vor. „Seelengehalt“, „An schaulichkeit“ und der Ruf zum „Gestalten“ wurden der „Dekadenz“ und dem „Sensationellen“ entgegengestellt.463 Das Streben nach Echtheit und „Aus druckskultur“ wurde als „Arbeit fürs Ganze“ verstanden, um eine kraftvolle Alternative zu ausländischen Stilrichtungen zu schaffen und der modernen Richtungslosigkeit mit urdeutscher Kraft zu begegnen.464 Diese kulturkriti schen Ansichten verdankten sich dem Grundgefühl, dass die rasche Industriali sierung und Modernisierung Deutschlands eine Gefahr für die nationale Kultur Dürerbund; Georg Jäger: Georg D. W. Callwey, ‚Kunstwart‘ und Dürerbund, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2001, 633–634. 461 Zu dieser Charakterisierung vgl. insbesondere K ratzsch: Kunstwart. 462 Leopold Weber: Zur poetischen Anschaulichkeit, in: Kunstwart 18/2 (1905), 397–408, 397. Theodor Heuss berichtete in seinen Erinnerungen von der ungeheuren Wirkung, die der Kunstwart auf seine Lesergemeinde ausübte: „Man sah es in jener Zeit an den Pfarrer- und Lehrerwohnungen, den Einrichtungen von Postsekretären und Amtsrichtern, ob hier ein Be zieher des ‚Kunstwarts‘ hause. Das hat es vergleichbar vorher und nachher in Deutschland nicht mehr gegeben“ (Theodor Heuss: Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963, 22). 463 Ferdinand Avenarius: Anschaulichkeit und seelischer Gehalt, in: Kunstwart 17/1 (1904), 279; Schmücken? Gestalten!, in: ebd., 24/2 (1911), 2; A dolf Bartels: Dekadenz, in: ebd., 10 (1897), 115. 464 So der Untertitel der als ästhetisches Grundsatzprogramm verstehbaren Dürerbund- Flugschrift 67 Über Ausdruckskultur, München 1910; vgl. Rüdiger vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund, in: K erbs/ R eulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, Wuppertal 1998, 429–438, 432.
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bedeute. Bei grundsätzlicher Akzeptanz des Modernisierungsprozesses und einem verbreiteten Selbstverständnis als Liberale zielte man darauf, die ver meintlich verlorene sittliche und soziale Harmonie der deutschen Kultur der Vergangenheit wiederherzustellen. Ausgehend von der bewussten ästhetischen Ausgestaltung des individuellen Lebensraumes wollte der Kunstwart eine ge sellschaftliche Reform durchsetzen und darin „Lebenswerte“ schaffen.465 Trotz seiner konsequenten Kritik am Wilhelminismus war der Kunstwart weit davon entfernt, in einen verachteten Kulturpessimismus einzustimmen, vielmehr ziel te die Zeitschrift darauf, die Ermüdungserscheinungen einer als überdehnt emp fundenen „Zivilisation“ durch ein emphatisches Verständnis der „Kultur“ mit modernen Zügen zu überwinden.466 Bonus versuchte 1901, diese Linie an Fried rich Naumann aufzuzeigen, der die Gegenwart als „ein Zeitalter des Suchens“ eingeläutet habe. Naumann habe auf einen neuen Stil gewiesen, der unter Ab legung von Historismus, „Dekoration“ und Unwahrhaftigkeit im nationalen So zialismus, im „Neuwerten“ auf religiösem Gebiet und in der künstlerischen Würdigung der Funktionalität von Stahlbau und Fabrikationshallen als Vorbote einer deutschen Moderne zu begreifen sei.467 Es ging hier um mehr als um Kunst- und Stilfragen, nämlich um das Schaffen einer Anschauungsgemein schaft: Naumann bedankte sich für Bonus’ Aufsatz, der vorbildlich die erstreb te Brücke von der Ästhetik zu „Ethik und Sozialpolitik“ geschlagen habe; der Kunstwart stelle genau das Publikum dar, an welches sich die gemeinsamen politischen Ziele richteten.468 Avenarius war hier zunächst zurückhaltender, sein Blatt sei der „ästhetischen Kultur allein gewidmet“, doch ließ sich auch bei ihm ein umfassender sozialer Gestaltungsanspruch nicht verkennen: „ich will beeinflussen, ich will wirken“ lautete sein herausgeberisches Credo.469 Dazu, so Avenarius, sei „etwas wie ein Familienband“, also ein gemeinsames, inhaltli ches Zusammengehörigkeitsgefühl notwendig.470 Dieses fand seinen organisa torischen Niederschlag 1902 im „Dürerbund“, der bis zum Vorabend des Ersten 465
Avenarius: Alt und Neu, in: Kunstwart 15 (1901), 1–4, 4. Stern hat in seinem Klassiker zur rechten Bewegung in der Weimarer Republik den Kulturpessimismus als politische Gefahr (1963) im Umfeld von Kunstwart und Dürer- Bund beschrieben. Auch wenn damit die Verlusterfahrungen und der Vergangenheitsbezug der hier verhandelten Kulturbilder eingefangen wurden, marginalisierte diese Beschreibung den spezifischen Neuerungswillen und den emphatischen Bezug zur Moderne, der im Natio nalismus des Kunstwarts und seiner Autoren grundlegend war. Vgl. vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund, 431. 467 Bonus: Friedrich Naumann und die Kunst, in: Kunstwart 14/2 (1901), 341–345. 468 Brief Naumann an Bonus, 1.8.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_008]. 469 Briefe Avenarius an Bonus, 12.6.1901 (als Antwort auf das Angebot von Bonus, Nau manns Demokratie und Kaisertum im Kunstwart zu rezensieren) [ebd., 07_002]. 470 Brief Avenarius an Bonus, 13.10.1900 [ebd.]. 466 Fritz
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Weltkrieges auf etwa 8000 Einzelmitglieder anwuchs und mit zahlreichen Orts vereinen und angeschlossenen Verbänden ein reichsweites Netzwerk bildete, dem insgesamt etwa 300.000 Personen angehörten.471 Bonus war an dieser Ver einigung von Anfang an beteiligt.472 Die Zeitschrift fungierte als Organ einer von Avenarius so bezeichneten „Kunstpolitik“; er verstand sich als „Volkserzieher“, der dem „denkungewohn ten Volke“ seine politischen und ästhetischen Mängel und Fehlsichten abgewöh nen wollte.473 In diese Kerbe schlug auch Bonus, der die erzieherische Kunstwart-Programmatik ausführlich mit Avenarius diskutierte. Für ihn ging es um eine weitreichende „Kunstpädagogik“: Eine „lebendig quellende Kunst“, kräfti ge Anschauungen und ungekünstelte religiöse Gefühle sollten Orientierung in der Moderne schaffen und die zementierende, akademische Ausrichtung an der Vergangenheit überwinden.474 Der Bezugspunkt war das „wirkliche Volk“, des sen politisches, soziales und ästhetisches Stilempfinden durch die Kunstwart arbeit vertieft werden sollte. Aus Avenarius’ Sicht musste die Kunst „gestalten, was einer fühlt“, sie war zudem Ausdrucksform des Nationalcharakters und damit unmittelbar politisch, was auch den Kampf gegen „Schundbilder“ und die stilistischen „Mumien“ historistischer Neo-Stile begründete.475 Das Programm kam einer „Kriegerklärung gegen l’art pour l’art“ gleich, schrieb der Kunstwart-Mitarbeiter Paul Schultze-Naumburg, ein Baureformer und Kunsttheoreti ker, an Bonus.476 Es mag an seiner Verbindung zu Käthe Kollwitz gelegen ha ben, dass Bonus zudem die soziale Wirkung der Kunst als Volksbildung vertrat; als Erweckung eines nationalen Stilempfindens in der Moderne lässt sie sich zudem auf Naumann zurückführen.477 K ratzsch, Kunstwart, 336. Avenarius: Der Dürerbund begründet, in: Kunstwart 15/1 (1902), 509–512, dort 510 auf der Liste des „Gesamtvorstandes“, der hier als Gruppe der „Sachverständigen“ in Fragen der Literatur und des Geschmacks vorgestellt wurde; vgl. auch die Mitgliederliste des Gesamtvorstandes des Dürerbundes 1912 bei K ratzsch: Kunstwart, 463–466. Aus dem wei teren, protestantischen Umfeld gehörten dem Vorstand auch an: Adolf Damaschke, Eugen Diederichs, Emil Fuchs, Paul Natorp, Friedrich Naumann, Friedrich Niebergall, Leonhard Ragaz, Erich Schlaikjer, Paul Schubring, Heinrich Sohnrey, Heinrich und Wilhelm Steinhau sen. 473 Briefe Avenarius an Bonus, 29.10. und 10.12.1902 [ebd., 12_004]. 474 Briefkonzept Bonus an Avenarius [ebd.]. 475 Briefe Avenarius an Bonus, 28.5. und 2.12.1902 [ebd.]. 476 Brief Schultze-Naumburg an Bonus, 28.2.1902 [ebd.]. 477 Vgl. dazu v. a. die Briefe von Karl Schmoll von Eisenwerth an Bonus, Stuttgart 5.11. und 23.12.1910, in denen dieser seinen Glauben an die Kunst als aristokratische Ausdrucks form des Guten und Schönen gegenüber der Herrschaft „der Industrieparvenü und der na menlosen Masse“ gegenüber Bonus verteidigt, der die demokratisch-erzieherischen Aufga ben der Kunst betonte [ebd., 03_007]. 471 Vgl.
472 Vgl.
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Der Kunstwart verstand sich als Sammlungsort der „Nationaloppositionel len“, die sich den Oberflächlichkeiten der Konsumwelt und dem militaristischen Gepräge der offiziellen Reichspräsentation widersetzten und sich um eine patri otische Vertiefung Deutschlands in einen machtvollen Kulturstaat mühten.478 Ferdinand Avenarius beschrieb 1908, wie er sich die Wirkung seiner Zeitschrift vorstellte.479 Es ging ihm darum, die Kräfte des Volkstums zu wecken und die deutsche „Wesenseigenart“ herauszuschälen. Dazu galt es, an das „Deutscheste unter den Deutschen“ anzuknüpfen, nämlich an Walter von der Vogelweide, Luther und Goethe.480 Energisch wandte er sich gegen einen aus dem Ausland kopierten, nicht innerlich empfundenen „Außenkram“ in Kultur und Politik.481 Eine volkspädagogische Zielgebung kam darin zum Ausdruck, dass Avenarius zur seelischen und leiblichen Selbsterziehung aufrief, um in bewusster Anknüp fung an die inneren Kräfte des Volkstums Persönlichkeiten wachsen zu lassen, die den politischen Alltag Deutschlands mit Kraft und Idealen erfüllten.482 Das Volkserziehungsideal des Kunstwarts stand in scharfer Abgrenzung zur natio nalistischen „Vereinsmeierei“ etwa des Alldeutschen Verbandes, dem Chauvi nismus und leeres, hyperpatriotisches Gehabe vorgeworfen wurde. Das war in Bonus’ Sinn, der – wie er Avenarius anvertraute – einen „glühenden und heili gen Haß“ gegenüber einem offen völkischen Nationalismus hegte. Den unter den Zeitschriftenmitarbeitern etwa von Adolf Bartels vertretenen „alldeut schen“ Standpunkt hielt er für entschieden zu „eng“.483 Vielmehr wollte man als kulturelle Reformbewegung über den Parteien wirken und als Stab der „ethi schen Idealisten“ die Nation innerlich erneuern.484 Der Kunstwart war keine religiöse Zeitschrift, sondern verstand sich als über konfessionelles Gebildetenforum. Dennoch wurde einer freien, ungebundenen Religion im Streben nach kulturellem Wachstum eine grundlegende Rolle bei gemessen.485 Religiöse Fragen wurden sehr genau von einem protestantisch- gebildeten Standpunkt aus als Teilaspekt der modernen Geistesentwicklung verfolgt. Unter der Überschrift der „religiösen Kultur“ wurde Religion als grundlegende menschliche Daseinsform verstanden und wie die „Mystik“ oder 478
Zu diesem Begriff vgl. K ratzsch: Kunstwart, 288–306. Avenarius: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 1–6. 480 Ebd., 1. 481 Ebd., 3. 482 Ebd., 5. 483 Briefkonzept Bonus an Avenarius, Groß Muckrow 20.12.1900 (Schluß Januar 1901) [ebd., 07_002]. 484 Avenarius: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 2; vgl. K ratzsch: Kunstwart, 289; vom Bruch: Kunstwart und Dürerbund, 431. 485 Der Fall Jatho und die Ausdruckskultur, in: Kunstwart 24/3 (1910/11), 26–29, 26. 479
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die „Seele“ dem Bereich der Schaffenskräfte des Individuums zugeordnet.486 Die „Heuchelei“ des Staatskirchentums, klerikale Führungsansprüche und die formalistische Herrschaft der Orthodoxie wurden entschieden abgelehnt.487 Als Hauptfeind gleichermaßen der Religion wie der Kunst markierte Bonus den Intellektualismus sowie die unwahrhaftige Formelhaftigkeit der modernen reli giösen Sprache, gegen die er im Kunstwart zu Felde zog, um dem unmittelbaren Gotteserlebnis die Bahn zu brechen. Wie Avenarius Bonus mitteilte, sah er im Kreis um die Christliche Welt und die Hilfe eine sich mit den eigenen Zielen überschneidende „Gemeinde von frei en Köpfen“, die als gesellschaftliche Minorität um „Kulturfreiheit“ kämpfte.488 Auf dieser Grundlage warb er Bonus für die jährlich vor Weihnachten erschei nenden „Literarischen Ratgeber“ des Kunstwarts an. Mit diesen Buchkatalogen stand Bonus ein religionspolitisches Instrument ersten Ranges zur Verfügung. Die Literaturratgeber sollten die stilbildende Leserlenkung im Sinne der Zeit schrift unterstützen. Den Leitlinien zufolge dienten die Ratgeber der Dokumen tation und Verstärkung solcher Tendenzen in allen Kulturbereichen – Musik, Literatur, Malerei, aber auch Naturwissenschaft und Völkerkunde – die als wertvoll zu erachten waren. Nicht das Neueste, sondern „was die strengste Kri tik […] als das beste empfiehlt“, sollte im Urteil berufener Fachmenschen dar gestellt werden.489 Bonus nutzte diese Vorgaben und die diskursive Steuerfunk tion der Zeitschrift, indem er in seinen Berichten zur religiösen Literatur die kirchenkritische Linie – Nietzsche, Kierkegaard, Tolstoi, Lagarde, Schrempf – akzentuierte, die Ausrichtung an den Modernen und der Christlichen Welt – Ritschl, Harnack, Wellhausen – betonte und die frömmere protestantische Ge brauchsliteratur als „ästhetisch minderwertig“ ausschloss, während die Namen des konservativen Protestantismus völlig fehlten.490 Avenarius ließ sich davon 486 Bonus [unter dem Pseudonym G. Stolterfoth]: Rundschau. Zur religiösen Kultur, in: Kunstwart 21/1 (1907/08), 393–394; ders. [erneut unter dem Pseudonym G. Stolterfoth]: Von der Seele, in: Kunstwart 25 (1911/12), 272–273; ders.: Von der Mystik, in: ebd., 27/1 (1913/14), 178–184. 487 Das kam besonders während der Auseinandersetzungen um den Kölner Pfarrer Carl Jatho zum Ausdruck; vgl. Bonus: Geheimreligion der Gebildeten, in: Kunstwart 24/4 (1910/11), 365; K ratzsch: ebd., 190–195. 488 Brief Avenarius an Bonus, Dezember 1900 [ebd., 07_002]. 489 So Avenarius in seiner Einleitung: Literarischer Ratgeber des Kunstwarts für 1901, in: Kunstwart 14/1 (1900/1901), 184–187, 184. 490 Bonus spannte zur Unterstützung mehrere Professoren aus dem Umfeld der Christlichen Welt ein, so Hermann Gunkel, Heinrich Weinel und Wilhelm Bousset. Von der Neuaus gabe 1902 an versuchte er, die aufwendige Arbeit an gleichgesinnte Kollegen weiterzuleiten, etwa an Paul Jaeger oder Friedrich Daab; vgl. die Korrespondenz mit Avenarius [ebd., 05_015]. Bonus übernahm die Literaturreferate zur „Religion“ bis 1904; 1905 übergab er an Karl König, der den Bonus’schen Bericht in seiner Struktur weitgehend übernahm (Brief
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überzeugen, dass die weihnachtlichen Buchkataloge als Darstellung der moder nen Theologie und der freien philosophisch-religiösen Strömungen à la Eucken ohne Einbeziehung der „Positiven“ auskommen mussten.491 Der Kunstwart als bildungsbürgerliches Leitmedium stellte sich damit auf die Seite der modernen Theologie mit Offenheit gegenüber der vagierenden Frömmigkeit, unterstützt von Avenarius, der darin die für das Blatt maßgebliche „eigene Ueberzeugung“ wiedergegeben sah.492 Wie im Patriotismus und in der Kunst sollte auch im Christentum alles Gekünstelte, Phrasenhafte, Unechte in tief empfundene, zeit gemäße Anschauungen überführt werden, wozu die wissenschaftlichen Er kenntnisse der modernen Theologie ein Mittel waren. Bonus nutzte seine enge Verbindung zu Avenarius, um nachdrücklich auf die von ihm favorisierten religiösen Gegenwartsströmungen hinzuweisen und diese als miteinander verbundene intellektuelle Bewegung darzustellen, die auf eine gewandelte Frömmigkeit hindeutete. So stellte er in einem Rezensionsartikel die Verkündigung von Johannes Müller und Karl König als Produkte einer mo dernen Religiosität vor. Darin versuchte er den Kunstwart-Lesern zu zeigen, dass in der Gegenwart die „wirklichen psychischen Regungen“ im religiösen Erleben anstelle der kirchlichen Vorstellungen zum Tragen kommen und die Arbeit an einer „gesunden Volkskultur“ gefördert würde.493 Zudem sorgte Bonus dafür, dass der Kunstwart ausführlich Gustav Frenssen als Vertreter ei ner stilistisch und religiös gesunden Heimatlichkeit bekannt machte. Über Avenarius ermöglichte er einen umfänglichen Vorabdruck von dessen 1901 er schienenem Erfolgsroman Jörn Uhl, mit dem man einen „neuen wirklichen Dichter“ hervorhob. Durch mehrere Rezensionen wurde Bonus geradezu zum Förderer des Frenssen’schen Romanwerkes im bildungsbürgerlichen Umfeld, aber auch seiner Dorfpredigten.494 Bonus stellte sich also im Kunstwart als Ver König an Bonus, 21.7.1904 [ebd., 12_011]). 1916 gab Bonus, inzwischen redaktionell in den Kunstwart eingebunden, das Religions-Referat an Friedrich Gogarten weiter (Brief Bonus an Gogarten, 30.3.1916 [UB Göttingen, NL Gogarten (53)]; vgl. Friedrich Gogarten: Die neue religiöse Bewegung, in: Wolfgang Schumann (Hg.): Literarischer Ratgeber des Dürerbun des, München 1919, 381–386). 491 Brief Avenarius an Bonus, Dresden 10.10.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_002]. 492 Bonus: Religion, in: Kunstwart 18/1 (1904/05), 255–279, 255 (in der redaktionellen Einleitung von Avenarius). Der Bericht hatte bei den „Positiven“ Kritik hervorgerufen, weil er zu eng an der Christlichen Welt ausgerichtet war (Brief Avenarius an Bonus, 10.10.1901 [ebd., 07_002]). Nach Avenarius entsprach diese Ausrichtung genau „den Ansichten derjeni gen Mitarbeiter am Kunstwart, die in diesen Dingen überhaupt ein Urteil zu haben glauben“ (Religion, in: Kunstwart 17/1 (1903/04), 300–316, 300). 493 Ders. [als G. Stolterfoth]: Rundschau. Zur religiösen Kultur, in: Kunstwart 21/1 (1907/08), 393–394. Bonus rezenisierte: Johannes Müller: Hemmungen des Lebens, Mün chen 1907; K arl König: Zwischen Kopf und Seele, Jena 1906. 494 Brief Avenarius an Bonus, 8.12.1901 [ebd., 07_002]: „Ich kenne ihn [Frenssen] noch
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treter einer modern-religiösen Bewegung im Protestantismus dar, die ein freies Christentum vertrat.495 Rückschrittlich-konservative Entwicklungen wurden scharf getadelt, auch kurzlebige Öffnungen wie der katholische Modernismus freudig begrüßt.496 Die im Kunstwart geförderte antiklerikale Haltung sollte nicht im Sinne von „Kirchenfeindschaft und Kulturekel“ missverstanden wer den, die Bonus den „Modernsten“ als oberflächliche Überzeugung nachsagte.497 Viel mehr verwies er – wie manche seiner im Kunstwart schreibenden Theolo genkollegen – auf die kulturbauende Kraft einer fortschrittlichen, freien Volks kirche und einer Frömmigkeit, die aus den Seelentiefen des Individuums gebo ren war.498 Mystische Anklänge und Bezüge zur Entwicklungslehre färbten seine Verkündigung ebenso wie die betonte Verbindung zur Kunst als Feld des seelischen Ausdrucks. Mit seiner Verbindung von Volkstum und Religion gehörte er zudem zu den Kunstwart-Autoren, die ein religiöses Leben in „heimatlicher und volkstümli cher Gestalt“ fördern wollten.499 Bonus verschränkte die Suche nach deutschem Stil, nationalem Kulturbewusstsein und neuer Frömmigkeit mit den im Kunstwart verankerten Abgrenzungsdiskursen um eine antiurbane Dorf- und Hei matästhetik. In diese Richtung gingen seine Hinweise auf Gustav Frenssen wie auch seine germanistischen Beiträge, die die Wurzeln des religiösen Volks charakters in den Tiefen der Volkskultur sowie den Literaturen Skandinaviens und Altislands vermuteten.500 Damit schuf er einen gedanklichen Vorbau zu den gar nicht. Wenn’s aber so ein Kerl ist, wie Sie ihn schildern, so können Sie ihm postwendend Genugthuung verschaffen. Nämlich dann will ich ihm gleich im nächsten Hefte die Losen Blätter widmen […].“ Vgl. Lose Blätter, in: Kunstwart 15/1 (1901/02), 331–344, Zitat 331 so wie Bonus: Religion, in: ebd., 14/1 (1900/01), 246–252; Rez. G. Frenssen, Dorfpredigten, in: CW 14 (1900), 164–165; ders.: Rez. Die drei Getreuen, in: ebd., 12 (1898), 1192–1195. 495 Vgl. die Literaturberichte: Bonus: Religion, in: Kunstwart 14/1 (1900/01), 246–252; ders.: Wo unterrichtet man sich über die modern-religiöse Bewegung?, in: Kunstwart 22/3 (1908/09), 284–287. 496 Bonus: Ein Nachwort zum Enzyklikastreit, in: Kunstwart 24/1 (1910/11), 34–35. 497 Bonus: Tolstoj, in: Kunstwart 15/2 (1902), 1–10, 6. 498 Volkskirchliche Ideen im liberalen Sinne wurden von Heinrich Weinel und Emil Fuchs vertreten, besonders während des Ersten Weltkriegs. 499 So der Hinweis auf die 1909 begründete Zeitschrift Die Dorfkirche, in: Kunstwart 23 (1910), 283. 500 Sein Ruf nach einer ‚Germanisierung des Christentums‘ fand ausführliche Erwäh nung mit Verweis auf seinen Deutschen Glauben bereits in: Pl.: Rundschau. Arthur Bonus, in: Kunstwart 13/1 (1900), 107–108. Zur Konstruktion des religiösen Volkscharakters aus der Vergangenheit vgl. z. B. Bonus: Wie die Erzählung entstand, in: Kunstwart 18/2 (1905), 235– 242; Das Rätsel, in: ebd.., 18/2 (1905), 437–450; Lose Blätter. Rätsel, in: ebd., 18/2 (1905), 468–473; Altisländisch und neudeutsch, in: ebd., 19/1 (1905/06), 577–581; Altgermanische Prosa, in: ebd., 20/2 (1907), 177–189.
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stilistischen Bemühungen, Deutschtum und Geschmack zu verbinden, die etwa von Paul Schultze-Naumburg über mehrere Jahrgänge in seinen „Kulturarbei ten“ verfolgt wurden. Eine sich zunehmend radikalnationalistisch zuspitzende Behandlung der Kul turfrage trat im Kunstwart besonders mit dem völkischen und scharf antisemi tisch ausgerichteten Literaturkritiker Adolf Bartels auf. Dessen Sichtweise blieb im Kunstwart präsent, bis Avenarius sich 1905 von ihm trennte. Gemeinsam mit Friedrich Lienhard gehörte Bartels zu den Programmatikern der Volks- und Hei matliteraturbewegung, die sich mit der Zeitschrift Deutsche Heimat zwischen 1900 und 1904 ein einschlägiges Organ geschaffen hatte, an dem sich Bonus 1901 mit einer Aufsatzreihe über „Religion deutsch“ beteiligte.501 Lagarde und Langbehn, Großstadtfeindschaft und die Nöte der industriellen Zivilisation wa ren die Stichworte, mit denen das „sogenannte ‚Eigene‘“ zur Kategorie der völ kischen Kunstkritik erhoben und gegen Überfremdung verteidigt wurde.502 Besonders Lienhards Programm, den deutschen Geist in ein künstlerisch-re ligiöses „Hochland“ zu führen, besass Anknüpfungspunkte an Bonus’ Vorstel lungen. Lienhard zufolge war verdeckt unter den Schichten der Zivilisation ein Streben nach „Seele und Gehalt“ sowie nach „Persönlichkeit“ vorhanden, das er in „Einklang mit deutscher Volksart“ bringen wollte. Statt Spezialistentum zu fördern, wollte diese nationalästhetische Bewegung zu „harmonischem Wach sen und Reifen“ des Einzelnen wie der Nation beitragen.503 „Los von Berlin“ wurde in diesem Umfeld als eine Parole geprägt, unter der neue künsterische Provinzen jenseits der modernen Metropole und des Hauptstadtstils erschlossen werden sollten; das „Berliner Milieu“ galt als zu überkünstelt und großstädtisch verfärbt, um Zugänge zum Puls einer nationalen Kunstsprache zu ermögli chen.504 Die Verbindung von Heimat und Dörflichkeit als Thema der Kunst er hielten bei Bartels und in der Heimatkunstbewegung eine völkische, antisemiti sche Signatur, die sich in dieser Schärfe bei Bonus nicht fand.505 „Geschmack“ 501 Bonus: Religion deutsch, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 381–383; Island und die Re ligion, in: ebd., 445–448; Arbeit an der deutschen Religion, in: ebd., 509–512; Von den neuen Religionsstiftern und von der ‚Orthodoxie‘, in: ebd.; 573–581; Nation und Partei, in: ebd., 599–601; Vom Glauben und von der Gläubigkeit, in: ebd., 669–676; Religion, Kultur, Natur religion, in: ebd., 765–774. 502 Vgl. Peter Ulrich H ein: Völkische Kunstkritik, in: HzVB, 613–633, 616. 503 Friedrich Lienhard: Hochland. Einleitende Bemerkungen, in: Heimat 1/1 (1900), 1–10; ähnlich: A dolf Bartels: Heimatkunst, in: ebd., 10–19. 504 Brief Eugen Kalckschmidt an Bonus, 7.2.1902 [ebd., 12_004]; Lienhard: Die Vorherr schaft Berlins, in: Heimat 1/2 (1900), 69–73. Vgl. K laus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970, 117. 505 Vgl. M argot Goeller: Hüter der Kultur. Bildungsbürgerlichkeit in den Zeitschriften „Deutsche Rundschau“ und „Neue Rundschau“ (1890–1914), Frankfurt 2011, 115 f.
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statt „Vornehmheit“ und ein auf dem „Naturboden“ gewachsener deutscher Stil waren hingegen durchaus Kriterien, die Bonus mit der völkischen Kunstbewe gung verbanden.506 Ein ästhetisches „Einfühlen“ in den Geist der angeblich un verfälschten, ländlichen Bauernkultur und der mittelalterlichen Vergangenheit sollten Mittel sein, ein deutsches Stilempfinden zu erproben.507 „Wir sind senti mental, weichlich, verkünstelt geworden, mitunter bis zum Läppischen!“, de klamierte Lienhard, um mit kulturkritischem Schwung die Erzeugung eines nationalen Geschmacks zu fordern.508 Auf diesem Untergrund ließ sich die Brü cke vom Kunstwart zur Dorfkirchenbewegung um Heinrich Sohnrey schlagen, der Bonus zur Mitarbeit an seiner Kleinen Dorfzeitung als publizistischem Org an der heimatlich-nationalen Wohlfahrtspflege auf dem Landes einlud, ohne damit aber eine langfristige Mitarbeit zu begründen.509 Bonus kam es entgegen, dass im Kunstwart ausdrücklich nach einem deut schen Stil für die Moderne gesucht wurde. Die deutschen Kulturarbeiten in Kunst und Religion sollten keine Regression in ein früheres Kulturstadium mit sich bringen, sondern die ästhetischen und weltanschaulichen Grundlagen für ein zeitgenössisches Deutschtum vorbereiten. Deutschgesinnung und Moderni tät wurden nicht als Gegensätze betrachtet: Es ist gar kein Zweifel, daß ein wahrhaftes ‚Modern sein‘ mit nationaler Wurzelhaftigkeit, mit kerniger Volkshaftigkeit durchaus nicht im Widerspruch zu stehen braucht.510
Entsprechend gab sich die von Bonus verfochtene Richtung hin auf Fortent wicklung des Christentums national, hielt aber zugleich den Anspruch aufrecht, Kultur und Frömmigkeit am Puls der Moderne zu erneuern. Die religionsge schichtlichen Erkenntnisse der modernen Theologie blieben wegweisend, ob wohl Bonus neben der Christlichen Welt den Kunstwart als einen weiteren pub lizistischen Ort nutzte, an dem er seine skeptischen Diagnosen zur religiösen Lage seit der Jahrhundertwende entfaltete.511 So referierte Bonus im Kunstwart über die mediale Inszenierung um den Babel-Bibel-Streit oder die Debatten um 506 Bonus [Fritz Benthin]: Die Stilbarbaren, in: CW 11 (1897), 952–956; Briefkonzept Bonus an Avenarius, 23.1.1902 [ebd.]. 507 Briefkonzept Bonus an Avenarius, Groß Muckrow 20.12.1900 [ebd., 07_002]. 508 Lienhard: Zwischen Demokratie und Hurrapatriotismus, in: Heimat 1 (1900), 252– 259. 509 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Sohnrey und Bonus v. a. im Juli 1897 über eine Beteiligung an der Kleinen Dorfzeitung [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]; zur Rezeption des Heimat-Programms im Kunstwart: Bartels: Warum wir uns über die Heimatkunst freu en, in: Kunstwart 13/1 (1900/1901), 220–223. 510 Ueber Deutschgesinntheit und Modernität, in: Kunstwart 7/1 (1893/94) 123–124, 123. 511 Bonus: Zur religiösen Krisis, in: Kunstwart 25 (1911/12), 347–348; ders.: Zur religiö sen Krisis, in: Kunstwart 26/3 (1912/13), 209–210.
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die „Christmythe“, die ungeklärte Fragen in der christlichen Lehre und im Um gang mit der Bibel aufzeigten und die Differenz zwischen den Glaubenseinstel lungen der Gebildeten und der offiziellen Verkündigung verdeutlichten.512 Die se Auseinandersetzungen belegten die Notwendigkeit, das konfessionell gebun dene Christentum zugunsten freierer religiöser Anschauungen abzulegen. Einen scharfen Bruch mit dem Christentum vertrat er nicht, vielmehr forderte er seine Fortschreibung im Rahmen der allgemeinen Kulturentwicklung. Es dürfte im Sinne der meisten seiner gebildeten Leser im Kunstwart gewesen sein, wenn Bonus die Religion als schaffenskräftige Lebensanschauung um schrieb, die das Individuum transzendierte und ihm zugleich einen festen, irdi schen Platz zuwies: Es hat aber die Religion den Sinn des Lebens zu enthüllen, der die Gottheit selbst ist, die als die befehlende Lebensmacht einen jeden an seinen Platz gestellt hat und in einem jeden lebt und schafft.513
Bonus gelang es, das nationaloppositionelle Publikum des Kunstwarts, der auf eine deutsche Kunst- und Formensprache für die Moderne aus war, für das An liegen einer erneuerten Religiosität zu öffnen. Das Programm, dem wilhelmini schen Bürgergeschmack eine engagierte, als wirklich, tief und aus dem Volks empfinden geformte Auffassungsweise entgegenzustellen, wurde von Bonus um eine religiöse Komponente erweitert. Der Kunstwart wurde damit zu einem wichtigen Sprachrohr für die religiöse Bewegung am Rande der kulturprotes tantischen Kreise.
3. Der Verlag Eugen Diederichs Für die Bedeutungsstiftung aus der nationalen Vergangenheit und die Neubele bung der „religiösen Kultur“ war im wilhelminischen Deutschland noch ein weiterer Publikationsort zuständig, nämlich der 1896 begründete und zunächst in Leipzig und – mit nur ideellem, aus der Bewunderung für die Renaissance gewecktem Bezug – Florenz ansässige Verlag Eugen Diederichs. 1904 zog die ses Unternehmen nach Jena um, wo es seine eigentliche Wirkungsstätte fand.514 Ab 1902 gehörte Bonus zu den Verlagsautoren. Die kulturelle Regeneration Deutschlands im Geist der Moderne, die Bünde lung der reformerischen Stimmenvielfalt und ihre Verknüpfung zu einer Kol 512
ders.:
456.
513 514
Ders.: Vom Ertrag des Babel-Bibel-Streits, in: Kunstwart 22/4 (1908/09), 205–208; Die ‚Christusmythe‘. Ein Wort zur Verständigung, in: Kunstwart 24/1 (1910/11), 452– Ders.: Tolstoj, in: Kunstwart 15/2 (1902), 1–10, 5. Werner: Moderne in der Provinz, 64–66; Diederichs: Lebensaufbau, 247.
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lektividentität aus dem Schaffen der Vergangenheit waren die hochgesteckten Ziele, an denen Diederichs seine Verlagsarbeit ausrichtete. Sein Verlag sollte ein Sammelplatz für die Intellektuellen, Reformer und Künstler werden, um sie in ihren jeweiligen Nischen in ihrer kulturellen Potenz zu verstärken, wie es 1912 in einem Verlagsprospekt hieß: Der Verlag Eugen Diederichs will dem Kulturwillen unserer Zeit Ausdruck geben, seine Tätigkeit hat darum zweierlei Möglichkeiten: Erstens der Sammelpunkt von Persönlichkei ten zu sein, die an der Gestaltung unseres Lebens arbeiten und nach neuen Formen suchen und zweitens, ältere Literatur wieder leicht zugänglich zu machen und dadurch zu erneuter Wirkung zu bringen.515
Diederichs schuf in seinem Verlag ein „transformatives Kontrast- und Kraftpro gramm“ zum wilhelminischen, von Berlin und Potsdam repräsentierten Macht staat, den er von der geistigen Provinz aus neu konstellieren wollte.516 Kaum ein Literaturprojekt hat in der Forschung eine vergleichbare Aufmerk samkeit auf sich gezogen wie der Jenenser Verlag aufgrund seiner Verbindung von Weltanschauung und herausgeberischem Handeln. Hatte Diederichs 1896 die Gründung eines Verlags für „Moderne Bestrebungen auf dem Gebiet der Literatur, Sozialwissenschaft, Naturwissenschaft und Theosophie“ angekün digt, wuchs seine Unternehmung bald zu einem literarischen Spiegelbild des reformwilligen, wilhelminischen Bürgertums an, in dem diverse literarische, kulturelle, politische und religiöse Initiativen ihren Platz fanden. Hinter dieser Themenvielfalt verbarg sich kein einheitliches, auf eine einzige Formel redu zierbares Ziel. Wie Bonus in einer Rezension des ersten Verlagskatalogs 1904 betonte, wurden hier eher Vorschläge verschiedenster Provenienz nebeneinan der gestellt, die trotz ihrer inhaltlichen Heterogenität durch ihren Grundcharak ter zusammengehalten wurden und den Aufbruch einer Kulturbewegung zu markieren schienen.517 Wie Eugen Diederichs verdeutlichte, wollte er „sauerteig artig“ durch „neue Ideen […] den Weg zu einer neuen deutschen Kultur“ eb nen.518 Wenn sich ein Verlagsziel benennen ließ, dann dieses, den „geistigen Überbau“ für eine Kulturwende zu schaffen.519 515
Die Neuerscheinungen des Verlages Eugen Diederichs im Jahre 1912, Verlagskatalog, Jena 1912, 3. 516 Werner: Moderne in der Provinz, 69. 517 Bonus [Pseudonym Grm (für: Groß Muckrow)]: Ein Verlagskatalog, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (Nr. 283 v. 10.12.1904), 470; vgl. Eugen Diederichs Verlag in Thürin gen. Verlagskatalog, Jena 1904. Dass der Katalog eines bis dahin noch unbekannten Verlags eine Rezension in einer überregionalen Tageszeitung erhalten konnte, ist ein indirekter Beleg dafür, dass Diederichs einen Zeitgeschmack traf. 518 Eugen Diederichs, Jena in Thüringen. Jena 1904, Umschlaginnenseite. 519 Eugen Diederichs: Wo stehen wir?, in: Die Kulturbewegung Deutschlands im Jahre 1913, Verlagskatalog, Jena 1913, 1–6, 1 f.
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Diederichs hatte Bonus vor der Jahrhundertwende über seine Kunstwart- Artikel kennengelernt. Vor diesem Lektürehintergrund fasste Diederichs ihn als eine „temperamentvolle Persönlichkeit“ auf, die er als Religionsschriftstel ler an seinen jungen und noch recht unbekannten Verlag binden wollte. Wie Diederichs gegenüber Beate Bonus bekannte, hatte er bisher „keine stärkere Persönlichkeit in christlicher Weltanschauung“ erleben können, was von dem gezielt nach religiösen Neuerungen und Trends suchenden Verleger durchaus als Auszeichnung zu verstehen war.520 Diederichs, der sich selbst als „rechter Heide“ vorstellte, sah in dem Pfarrer einen Vertreter der modernen Theologie, der mit Energie gegen das institutionalisierte Kirchentum rebellierte. Daher umwarb er Bonus als einen Religionsintellektuellen, der sich vorbildlich in sei ne gegenwartskritische und mehrperspektivische „Verlagsrichtung“ eingliedern würde.521 Ein persönliches Kennenlernen fand 1902 statt, als Familie Diederichs Bonus in Groß Muckrow am Himmelfahrtstag nach der Predigt besuchte.522 Wie Bonus verspürte Diederichs ein kulturkritisches Leiden an der geistigen Auszehrung durch die rationalistische Moderne, die er durch eine neue Geistig keit überwinden wollte. Während im Kunstwart-Kreis Religiosität als ein wich tiger Bestandteil der ästhetischen Ausstattung des individuellen Lebens, aber nur als ein Segment der Persönlichkeit betrachtet wurde, sah Diederichs zeit weilig in der Religion eine Lebensmacht, die ihm geeignet erschien, den Sinn krisen der Gegenwart zu begegnen und das Fundament einer neuen Kultur menschheit zu bilden. In der staatlich sanktionierten Institution Kirche machte er das Haupthindernis deutscher Neukultur aus, das er selbstbewusst zu über winden gedachte. Diederichs wollte „Wege zu deutscher Kultur“ finden, wie ein Verlagskatalog hieß. Ein Baustein dazu war die Errichtung einer oppositionellen und institu tionsfreien Bildungsreligiosität, mit der er den veräußerlichten Konfessions protestantismus aufsprengen wollte. Dabei maß er einer religiösen Lebens- und Selbstreform eine Unterstützerfunktion bei der Entfaltung der Moderne bei. Er wollte mit seinen Druckerzeugnissen „lebendige Religion“ vermitteln,523 den „Neuidealismus“ vorbereiten524 und die kommende „religiöse Kultur“ mitschaf fen.525 Was darunter zu verstehen war, ließ er 1904 von einem Protestantenvereins520
Briefe Diederichs an Bonus, 6.12.1899 und an Beate Bonus, 15.3.1900 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_004]. 521 Briefe Diederichs an Bonus, 21.6.1900 und 9.10.1901 [ebd., 06_004]. 522 Vgl. die Briefe Diederichs an Bonus, 2.5.1902 und 14.5.1902 [ebd., 06_004]. 523 So die Überschrift der religiösen Abteilung in: Wege zu deutscher Kultur, Verlagskata log, Jena 1908, 5–28. 524 Diederichs: Wo stehen wir?, 3. 525 K arl König: Zur religiösen Kultur, in: Eugen Diederichs Jena in Thüringen. Verlags
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Mitglied, dem Pfarrer Karl König darstellen: Durch Religion sollte „das Gefühl des Aufgepappten“ überwunden und durch Echtheit und Unnmittelbarkeit, die Domäne „des Seelischen oder organisch Gewachsenen“, ersetzt werden.526 Gegen die Einseitigkeiten der Wissenschaftskultur wurde ein pathetischer Lebens- und Kulturbegriff aktiviert. So wie in der Romantik durch die religiöse Stimmung ein Kulturgewinn zu verzeichnen war, hoffte er auch für die Gegenwart auf eine reli giöse Bewegung, die sich schöpferisch auf den Menschen auswirke: Denn zur Zeit eines stark entwickelten religiösen Lebens werden auch die schöpferischen Kräfte im Menschen wach und verstärken bei dem an sich selbst arbeitenden Menschen die Möglichkeit, den Boden zu einer völligen Entfaltung seines Wesens zu finden.527
Ohne sich nur auf eine religiöse Richtung einschränken zu lassen, setzte sich der Verleger für eine zu einem großen Teil aus dem Protestantismus stammende religiöse Literatur ein, die sich auf das Wachstum der Persönlichkeit, das Erleb nis und die Entfaltung des „schöpferischen Menschen“ richtete.528 Gegenüber dem als rückständig und fortschrittsfeindlich empfundenen Kirchentum wollte er kulturellen Aufbruch durch ein neues religiöses Empfinden bereichert wis sen, denn dieses, so ließ sein Katalog 1908 verlauten, übte eine umfassende Steigerungswirkung aus: Es gibt jeder Lebensarbeit eine höhere Wertbetonung, der Wissenschaft neue Inspiration und tiefere Erlebnisgrundlagen, steigert die Tendenz der Kunst, leiht der sozialen Bewegung neue und machtvolle Impulse und erhebt die Natur zu lebendiger Einheit.529
Die Distanz gegenüber der Landeskirche machte Diederichs zu einem Haupt verleger der neuen Frömmigkeit um die Jahrhundertwende. Gezielt initiierte er sein Programm als notwendige Fortsetzung zur christlichen Tradition, deren intellektualistische Bezüge zur „Verstandeskultur“ er ablehnte. An Arthur Bo nus schrieb er 1903, dass er Religion nicht als Lehre, sondern als Lebenspraxis verstanden wissen wollte: „Es kommt mir weniger darauf an zu wissen, was Religion ist, als Religion zu leben, darum hoffe ich, werden in Zukunft nicht bloß allein die Theologen über Religion reden.“530 Bei ihm erschienen zahlrei che neureligiöse Entwürfe, so Maurice Maeterlincks lebensphilosophische, von katalog, Jena 1904, 52–54. Königs Vorname wurde im Prospekt falsch abgedruckt, ein Ent schuldigungsschreiben von Diederichs (Jena 24.11.1904) findet sich im NL Bonus [12_011]; dort auch zur Diskussion des Textes zwischen Bonus und König. 526 Ebd., 52. 527 So ein Verlagsprospekt vom 12. Februar 1902, zitiert bei H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 267. 528 So in einer Verlagsanzeige, 1902, zitiert aus: LuW, 61 f. 529 Katalog 1908, vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 269. 530 Brief Diederichs an Bonus, 23.2.1903 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_004].
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Bonus als mystisch empfundene Dichtungen, Julius Harts Zukunftsland, oder sein erster finanzieller Erfolg, Wilhelm Bölsches Liebesleben in der Natur.531 Die „Vertiefung des Gefühls für den Weltzusammenhang“, das Entwicklungs gesetz und die „Bekämpfung starrer kirchlicher Formen“ bildeten 1902 die Eck punkte seiner religiösen Verlagstätigkeit. Zudem fand die Frömmigkeit der mit telalterlichen Mystiker Erwähnung, die mit Herman Büttners Meister-Eckhart- Ausgabe als Baustein zur Erfindung einer genuin deutschen Mystiktradition ihr nationalideologisches Flaggschiff erhielt. Trotzdem waren viele seiner religiösen Autoren evangelische Pfarrer, deren Unzufriedenheit mit dem Staatskirchentum, der Entleerung der christlichen Formen und dem mangelnden sozialreformerischen Impetus des protestan tischen Konservatismus er kanalisierte.532 Max Maurenbrecher, Christoph Schrempf, Albert Kalthoff und Gottfried Traub waren bekannte Theologen, die ihren religiösen Protest gegen ein „bourgeoises Salonchristentum“ im Die derichs-Verlag veröffentlichten.533 Seine verlegerische Tätigkeit sollte „in der öffentlichen Meinung einen Ruck“ auslösen und als Fundament dienen, ein kon servatives Kirchentum zu überwinden.534 Als wichtiger galt aber die persönli che Verbindung zwischen den neuprotestantischen Reformautoren, die Die derichs herzustellen beabsichtigte. Diederichs sah sich als Motor einer religiö sen Formation, die er als „Kreis“, gegebenenfalls zunächst auch „schriftlich“, also durch Briefaustausch, miteinander in Verbindung bringen wollte.535 „Ge meinsam“ sollte der Versuch unternommen werden, „das Religiöse aus dem modernen Leben heraus aufzubauen“; gegen „kirchliche Bürokratie und Syno dentum“ sollte sich um Diederichs als verlegerische Führungspersönlichkeit eine „Gruppe“ der Reformer zusammenschließen.536 Daran, dass diese religiöse Neuerstehung nach eigenem Verständnis „mo dern“, aber zugleich auch „deutsch“ war, ließ er keinen Zweifel. Solche auf den ersten Blick nationalen Töne gehörten durchgängig zum Profil, stellten jedoch nicht das Ganze der Verlagsrichtung dar. Wie Avenarius unterschied auch Die derichs sein nationales Kulturideal streng von einem lärmenden „Hurrahpatrio tismus“; fördern wollte er ein „soziales Deutschtum“.537 Er zielte auf eine kultu 531
Bonus: Mystisches, in: Kunstwart 15/1 (1901/1902), 90–93. Auftakt lieferte Fritz Bredow: Offner Brief an die mecklenburgische Landes kirche, Leipzig 1902, eine Protestschrift gegen die konfessionell lutherische Landeskirchen behörde Mecklenburgs. 533 Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 256. 534 Brief Diederichs an König, 19.11.1907 [LuW, 150 f.]. 535 Brief Diederichs an König, 23.12.1907 [LuW, 152]. 536 Ebd. sowie 19.11.1907. 537 So bereits 1900 in einer Anzeige im Börsenblatt zu der Broschüre Patriotismus und Regierung, zitiert bei Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 353. 532 Den
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relle Regenerationsleistung, zu der er die ideellen Ressourcen der deutschen Vergangenheit wiedererwecken, zugleich aber auch den intellektuellen Aus tausch mit den geistigen Größen des Auslands aufnehmen wollte. Diederichs verlegte „Lebensbücher“, mit denen er die Wiedergeburt der deutschen Kultur befördern wollte.538 Ähnlich wie im Kunstwart konnte Arthur Bonus sich in diesem Umfeld als religiöser Visionär ersten Ranges platzieren. Die in seinem Verlag versammel ten Autoren stellten für Diederichs „eine Art ‚Kirche‘“ dar, teilte er Bonus mit, in der dieser den „Grundstein“ bildete.539 Deutlich handelte es sich hier um ein Gegenkonstrukt zu den Konfessionskirchen, die mitunter empfindlich auf die „Diederichs Leute“ reagierten, wie der Reichsbote die in dem Verlag versam melten religiösen Autoren betitelte und damit andeutete, dass die hier publizie renden Schriftsteller eine gemeinsame Richtung erkennen ließen und sich um den Verlag scharten, „um Schlachten zu gewinnen“.540 Bonus hatte sich 1900 in der Christlichen Welt über die Friedrichshagener Religionsansätze ausgelassen und Julius Harts Zukunftsland kritisch rezen siert.541 Ein Jahr später spöttelte er am gleichen Ort über „die Herren Verleger in neuen Religionen“ und über gemachte, nur literarisch empfundene Religiosi tät.542 Wirkliche Frömmigkeit, so Bonusʼ Ansicht, ging aus dem Leben und der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit hervor. Bonusʼ erste Veröffentlichung in seinem Verlag stand ganz unter dem Zeichen der Ablösung vom kirchlichen Protestantismus. Im April 1900 entfaltete er gegenüber Diederichs Pläne, bei ihm einen Essay unter dem Titel „Sind wir noch Christen?“ zu bringen. In „An lehnung an den gleichnamigen Titel eines Stücks von David Fr[iedrich] Strauß“ plante er, den Gegensatz zwischen der christlichen Verkündigung und der ge genwärtig tatsächlich vorhandenen, individualisierten Religiosität aufzurol len.543 Das zielte, wie er Diederichs mitteilte, auf die gegenwärtigen „Auseinan 538
Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 244. Brief Diederichs an Bonus, 6.11.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. „Auf mich hat Arthur Bonus einen großen Einfluß ausgeübt, und mein Verhältnis zur Religion geht fast ganz in seine Bahn, indem ich Religion als Entwicklungsgefühl des Ichs definiere“, ließ Die derichs in seinem Lebensaufbau, einem autobiographischen Versuch aus den Jahren 1920/21, verlauten (LuW, 59, Selbstzeugnisse, 117 f.). 540 Brief Diederichs an Max Christlieb, 5.7.1904 (zitiert bei H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 283). 541 Bonus: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436– 442.460–466.492–497.517–521. 542 Ders.: An die Herren Verleger in neuen Religionen, in: CW 15 (1901), 730–731; vgl. dazu R ade: Moderne Religionsstifter, in: ebd., 938–941. 543 Brief Bonus an Eugen Diederichs, 30.4.1900, in: Ulf Diederichs: Eugen Diederichs, Düsseldorf 1967, 115–117, 116 f. 539
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dersetzungen zur Weltanschauung“ , in denen Bonus das traditionelle Christen tum hinter sich lassen wollte. Diederichs hatte die Gegenüberstellung „traditionelle Gedanken oder Gott in uns“ aufgebracht, die ganz auf der Linie von Bonus’ Ideen stand. Vor dem Hintergrund der Entwicklungslehre stellte er gegen eine Glaubensneuerfindung heraus, dass jede Religion nur als „Enkelin langer Traditionen“ Bestand haben konnte; gleichwohl stimmte er Diederichs zu, dass Frömmigkeit nur „in einer selbständigen Persönlichkeit lebendig“ wer den könne.544 1902 erschien der Essay unter dem Titel Religion als Schöpfung, in dem Bonus das Evangelium, von seinem kirchlichen Verständnis gelöst, als individuelle Heilslehre interpretierte, die auf den Durchbruch zu einem neuen, kraftvollen Menschentum hinzielte.545 In Diederichs’ breitgefächertem, reformerischem Verlagsprogramm rückte Bonus bald zu einem maßgeblichen Interpreten moderner Religiosität auf. Ge gen Theologenhochmut und die geistige „Erstarrung“ des Zeitgeists hatte er in Bonus einen religiösen Ratgeber gefunden.546 Mit ihm ließ sich an einer „Laien religion“ arbeiten, welche die Strukturen des Dogmenchristentums sprengte und für neue, subjektive Einsichten öffnete. Diederichs war, wie er in der Rück schau mitteilte, vom tiefen „Ernst seines religiösen Ringens“ beeindruckt, kam aber nicht umhin, aus Sicht des Verlegers kritisch die Beobachtung zu machen, dass Bonus sich „seine spärliche Produktion […] abquälen“ musste.547 Aus Sicht des Buchhändlers war es sicher von Nachteil, dass Bonus sich eher schrittweise und ohne öffentlichen, pressewirksamen Skandal aus dem Amt zurückgezogen hatte. „Schade, daß Sie ganz ohne ‚Fall‘ aus der theologischen Carriere heraus gegangen sind“, schrieb Diederichs 1911, als er mit Arthur Drews und Carl Jatho zwei ganz andere, publizistische Kaliber zu betreuen hatte; „das Interesse des Publikums wäre gleich ein ganz andres.“548 Bonus blieb „ein elitärer Autor mit geringem Absatz“, den der Verleger dennoch für richtungsweisend hielt und mit großem Werbeaufwand unterstützte.549
544 Ebd. 545
Bonus: Religion als Schöpfung, Leipzig 1902. Brief Diederichs an Bonus, 31. Oktober 1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_004]. 547 Diederichs: Lebensaufbau, 196. 548 Brief Diederichs an Bonus, 3. November 1911 [ebd., 06_005]. Ganz ähnlich hatte Die derichs sich schon nach Bonusʼ Unfall geäußert: „Aus meinem Verlegerherzen heraus hätte ich mir eigentlich einen anderen Abschied aus Groß Muckrow gewünscht. Sie hätten nämlich noch ein Buch schreiben müssen, das so gegen die Theologie gegangen wäre, daß man Sie mit Gewalt hinausbugsierte. Das hätte einen schönen Absatz für Ihre Bücher gegeben und Ihnen auch eine andere Bahn erleichtert“ (Brief Diederichs an Bonus, 23. Februar 1903 [ebd., 06_004]). 549 H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 284. 546
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Ähnlich wie im Kunstwart trat Bonus auch gegenüber Diederichs als mei nungsstarker Förderer künstlerischer und religiöser Neuerscheinungen auf. Mit dem Bremer liberalen Pfarrer Karl König führte er dem Diederichs-Umfeld ei nen religiös Gleichgesinnten zu, der sich wiederum von Bonus beraten und för dern ließ. „Sie sind einer der ganz Seltenen unter uns, denen der ‚Theologe‘ den Menschen nicht denaturiert hat“, bescheinigte er Bonus.550 Der Bremer Pfarrer war ein rühriges Mitglied des Protestantenvereins, für den er zahlreiche Vor tragsreisen unternahm; er gehörte also nicht zu den Freunden der Christlichen Welt, beteuerte gegenüber Bonus aber, dass er darauf abzielte, den „Graben zwi schen den liberalen Richtungen“ aufzufüllen.551 Neben dem Diederichs-Verlag gehörte König zu den Pfeilern der kultur nationalistisch-protestantischen Wartburgstimmen, in denen er auch unter dem Decknamen Sincerus vor allem kirchenpolitische Kritiken erscheinen ließ. Wie Bonus wandte er sich zunehmend vom Liberalismus als zu rationalistischem Denkstil ab.552 Beide teilten das Anliegen, in der Frömmigkeit nach innerem Seelenbezug und Natürlichkeit gegen theologische Schulmäßigkeit zu suchen. Wie dieser suchte er, gegen Alltagserfahrungen und kulturelle Ermüdungs erscheinungen neue Potentiale in den menschlichen Bewusstseinstiefen zu er schließen. Die Persönlichkeit und die Seele als unhinterfragbarer geistiger Innenraum wurden ihm die Orte, an denen der moderne Mensch seine Auferstehung erleben sollte. Diederichs bewarb Königs Bücher als geistiges Re generationsmittel: „Nur wo ein Kraftzentrum im geistigen, persönlichen Leben vorhanden ist, da kann sich etwas bilden und entwickeln, das das Leben wert macht.“553 Für Bonus war diese innere, seelische Entwicklung zur Persönlichkeit ein zentrales Thema und eine Bildungsfrage, die er in Hinsicht auf das deutsche Schulsystem entfaltete. 1904 erschien bei Diederichs seine Streitschrift Vom Kulturwert der deutschen Schule, in der er einen freien, auf Erfahrung gerich teten, lebenspraktischen Bildungsbegriff entwarf, den er scharf mit dem alt 550 Brief König an Bonus, 30.10.1902 [ebd., 12_004]; vgl. sein Bekenntnis zu Bonus: Deutsche Kulturkämpfer. Arthur Bonus, in: Deutsche Kultur 1 (1906/07), 282–286. König und Bonus formten ein kleines Zitationskartell, indem sie gegenseitig ihre Veröffentlichun gen bewarben und besprachen. Bonus sorgte auch für die Aufnahme von König unter die Kunstwart-Autoren (laut Brief Avenarius an Bonus, 6.6.1908 [ebd., 07_003]). 551 Der „armselige pfäffische Hochmutsdünkel“ greife im Bremer Liberalismus um sich (Brief König an Bonus, Bremen 6.4.1904 [ebd., 12_011]); mit Gogarten wurde er schließlich zu einem entschiedenen Gegner der Liberalen (Karte König an Bonus, Bremen-Horn 28.12.1915 [ebd., 21_003]). 552 Brief König an Bonus, Bremen 8.4.1904 [ebd., 12_011]. 553 Zum Aufbau neuen religiösen Lebens, Jena 1910, 15; dabei zitiert Diederichs aus einer Rezension in Naumanns Hilfe; vgl. Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 255.
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sprachlichen Gymnasium kontrastierte.554 Seiner Ansicht nach fand die den Einzelnen weiterführende charakterliche Bildung außerhalb der Schulen statt, die zwar begriffliche Bildung vermitteln könnten, aber damit „widerkünstle risch“ und „widerreligiös“ das innere Wachstum des Menschen erschwerten.555 Mit diesem Urteil verband er teilweise drastische Forderungen für die inhaltli che Ausrichtung einer modernen Schulbildung. Bonus polemisierte gegen den altsprachlichen Unterricht und griff den Religionsunterricht an, der seiner An sicht nach der Vermittlung einer gekünstelten, ethisch fragwürdigen Haltung diente.556 Scharf attackierte er einen kirchlich geprägten Bibelunterricht, der die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Moderne verhindere und die sittlichen Ansprüche einer vergangenen Epoche vermittle. Nicht der „Er werb früherer Geschlechter“, sondern die zeitgenössischen religiösen und sittli chen Überzeugungen mussten ihren Platz im Curriculum finden.557 Insbesonde re das Alte Testament musste seiner Ansicht nach aus dem Lehrplan weichen, weil es höchstens als historische Urkunde im Geschichtsunterricht, nicht aber als religiöser Stoff für die Gegenwart dienen könne. Das war ein antisemitischer Zungenschlag, der die Fremdheit der jüdischen Überlieferung betonen sollte. Gleichzeitig richtete er sich aber gegen ein konservatives Bildungsverständnis und gegen die protestantische Orthodoxie, die seiner Ansicht nach den Anforde 554 Aus Bonusʼ schul- und bildungsreformischen Schriften, die hier nur erwähnt werden können, vgl. Zu den Bildungsproblemen, in: CW 14 (1900), 755–759; ders.: Staat und Kultur staat. Bei Gelegenheit der Simultanschulfrage, in: CW 18 (1904), 1094–1097; ders.: Vom Kulturwert der deutschen Schule, Jena 1904; ders.: Das Werden einer Orthodoxie, in: Der Säemann 1 (1905), 73–82. Die Bezüge zwischen Religions- und Reformpädagogik um die Jahrhundertwende anhand von Bonus’ Werk zu erhellen, wäre eine lohnende Aufgabe. Be sonders im modernen Protestantismus fand in der Auseinandersetzung mit reformpädagogi schen Ansätzen eine weitreichende inhaltliche und methodische Neubestimmung religiöser Unterweisungen in Schule und Gemeinden statt, vgl. mit Literaturhinweisen und guter Be nennung einiger Kernaspekte Otto Baumgarten: Neue Bahnen. Der Unterricht in der christ lichen Religion im Geist der Moderne, Tübingen 1903. Zu religiösen Perspektiven in der Reformpädagogik vgl. Meike Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Reli giösen in der Reformpädagogik, Weinheim 2005; Robert Schelander: Religionstheorie und Reformbewegung. Eine Untersuchung zur liberalen Religionspädagogik, Würzburg 1993. 555 Bonus: Rembrandt und die Bildung, in: März 3/1 (1909), 147–149; vgl. ders.: Vom Äusserlichsten und vom Innerlichsten: eine pädagogische Ketzerei, in: Der Säemann 1 (1905), 330–335 [zuerst abgedruckt in: Der Tag 1905, Nr. 369]. 556 Vgl. die von ihm angeregte Debatte: ders.: Zu den Bildungsproblemen, in: CW 14 (1900), 755–759; Gymnasiallehrer R ichard Schwemer: Bildungsprobleme, ebd., 630–634. 656–660; Oberlehrer Heinrich Anz: Ferienbrief eines Schulmeisters an Herrn Bonus, ebd., 828. Die Debatte wurde 1901 bei der Eisenacher Tagung der Freunde der Christlichen Welt aufgegriffen. 557 Ders.: Etwas über religiöse Erziehung. Zur Germanisirung des Christentums 4, in: CW 13 (1899), 125–127
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rungen der Moderne nicht genügten. Im Kunstwart und im Diederichs-Verlag fand Bonus hingegen den breiten Ansatz einer auf Kunst, Natur und seelischen Ausdruck angelegten Reformpädagogik vor, die zudem zu nationaler Form und Sprache erziehen wollte. Die „Schöpfung eines eignen, naturhaften deutschen Stils“ wurde für ihn zu einem Erziehungsauftrag für Kirche, Schule und das Spektrum der nationalen Zeitschriften.558 Bonus suchte in der nationalen bürgerlichen Opposition und ihren Zeitschrif ten nach einem Rahmen, sein Ideal einer religiösen und sozialen Kulturbewe gung zu entfalten. 1904 fand er dafür den Begriff des „Kulturstaats“. Ein sol cher Staat würde nicht als „Maschine“ arbeiten, sondern vom „Organismus“ des Volkes getragen werden. Zudem, erklärte Bonus, würde er „durch seine Institu tionen und Machtmittel nicht nur die materiellen, sondern mehr noch die kultu rellen Güter des Volkes zu fördern suchen“.559 Kultur, Religion und Volk wur den also im Ideal eines geschlossenen, einheitlichen National- und Kulturstaats zunehmend ineinandergeschoben. Nationalsoziale Ideale und die Suche nach Kulturreform verbanden sich zu einer drängenden, zunehmend oppositionellen Dynamik, die Bonus über das modernprotestantische Umfeld im engeren Sinne hinausführte. Bonus stand dort nicht alleine: Kunstwart und Diederichs-Verlag ebenso wie die Christliche Welt boten den Stimmen eines Oppositionschristen tums breiten Raum.
4. Der Weg aus dem Pfarramt Je mehr sich Bonus nach der Jahrhundertwende als Publizist profilierte und sich innerlich von seiner Pfarrtätigkeit befreite, desto deutlicher sah er den Ausstieg aus dem Amt als Möglichkeit vor Augen. Darüber tauschte er sich mit dem Hei matschriftsteller Gustav Frenssen aus, der selbst auf dem Wege war, das Pfarr haus zugunsten der Schriftstellerei aufzugeben. Bonus sah nicht ohne Neid auf einige Kollegen – „Göhre, Naumann, Rade; gute Freunde“ –, denen es gelungen war, „den schwarzen Rock aus[zu]ziehen und ein Standbein außerhalb des Pfar ramtes“ zu finden.560 Dazu fehlten Bonus die Entscheidungskraft und die finan ziellen Mittel;561 doch waren es auch grundsätzliche Überlegungen, die ihm den 558
Ders. [Fritz Benthin]: Die Stilbarbaren, in: CW 11 (1897), 952–956, 955. Ders.: Staat und Kulturstaat. Bei Gelegenheit der Simultanschulfrage, in: CW 18 (1904), 1094–1097. 560 Brief Bonus an Frenssen, 25.1.1899 [Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Cb 21. Frenssen, Gustav 56:343]. 561 Briefkonzept Bonus an Frenssen, 23.2.02 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_004]: „Kön nen Sie mir nicht einen langsamen Ausweg aus dem Amte empfehlen? Da ich prinzipielle Bedenken gegen das Amt, so wie ich es auffasse, nicht aufbringen kann, und Subsistenzmit 559
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Abschied erschwerten, denn immerhin war es den erwähnten Vorbildern gelun gen, sich trotz der Lösung vom Kirchendienst eine kräftige Stimme in religiösen Fragen zu bewahren. Frenssens Rat war wenig hilfreich; er empfahl Bonus ei nen volkstümlicheren Schreibstil. „Lieber! was war das für ein Vorwurf, daß ich nicht für den gemeinen Mann schreibe!“, so lautete Bonus’ Reaktion:562 Ein solches popularisierend-romanhaftes Schreiben erfüllte nicht die Absichten, die Bonus mit seiner literarischen Arbeit verfolgte; außerdem, ließ er Frenssen ge genüber durchblicken, verhalf ihm der Pfarrerstitel zu einem höheren Ansehen bei seiner anvisierten Leserschaft. Im Frühjahr 1902 versuchte Arthur Bonus in der Christlichen Welt zu erläu tern, welche „ehrenvolle[n] Motive“ einen „Austritt aus dem Kirchendienst“ rechtfertigen könnten. Dass sich bei Pfarrern „in den religiösen Organisationen der Kirchen“ ein Gefühl der Gebundenheit und „Enge“ einstellen konnte, war ihm nur zu deutlich. Wem es um das wirkliche religiöse Erlebnis ging, konnte darum jedoch nur innerhalb der Kirche kämpfen. Bonus richtete den Appell an den „Theologe[n], dem die Kirche zu eng geworden“ sei, sich unter „Seelen beteiligung“ und „mit Dransetzung seiner Existenz“ über die „Kleinlichkeiten […] seines Berufes“ hinwegzuheben.563 Das war nichts Geringeres als ein Auf ruf zum religiösen Partisanentum als einer Gewissenspflicht. Die eigene Rolle als „Oppositionspfarrer“, der im neureligiösen Widerstand mit seiner Kirche ringt, wurde hier zum Haltungsvorbild für an ihrer Frömmigkeit verzweifelnde Theologen erklärt. Für ihn kam es nicht in Frage, „Fahnenflucht“ zu begehen oder sich den „Märtyrermantel“ umzulegen.564 Eugen Diederichs hatte Verständnis für diese Haltung, aus der Bonus’ per sönliches Ringen mit seinen Aufgaben als Noch-Pfarrer sprach, und konnte sie als Gewissenskonflikt deuten. Er wies Bonus auf die Amtskollegen hin, die aus inneren Gründen das Pfarramt niederlegt hatten: Was nun den Theologen anbetrifft, dem die Kirche zu eng geworden ist, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich in den letzten Jahren eine Reihe junger Theologen kennen gelernt habe, die ihre Laufbahn aus Gewissensbedenken aufgaben, da sie fühlten, daß ihre Anschauungen sich nicht mit der des kirchlichen Regiments vertrugen.565 tel andererseits nicht habe, so habe ich kein Recht, mein Schicksal aufs Wasser zu werfen oder meinerseits zu provozieren, daß andere es thun. Und von selbst thun sies nicht. Anderer seits fühle ich mich der seelischen Anstrengung schlecht gewachsen. Nun da ist nichts zu machen. Lassen wir uns treiben.“ 562 Brief Bonus an Frenssen, 22.8.1902 [Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Cb 21. Frenssen, Gustav 56:343]. 563 Bonus: Ein Theologe, dem die Kirche zu eng geworden ist?, in : CW 16 (1902), 372– 373, 372. 564 Ebd., 373. 565 Brief Diederichs an Bonus, 5.3.1902 [ebd., 06_004].
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Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
Es war ein durchaus als tragisch zu bezeichnender Unglücksfall, der Bonus den Weg aus dem Pfarramt ermöglichte.566 Im Januar 1903 ereignete sich ein Woh nungsbrand, bei dem Bonus schwer verletzt und dadurch für mehrere Monate arbeitsunfähig wurde.567 Es stellte sich zudem ein Nervenleiden ein; die „Eme ritierung“ aus dem Pfarramt war die Konsequenz, sie erfolgte zum Februar 1904.568 566
Uwe Stenglein-Hektor überspitzt, wenn er als Movens für Bonus literarisch-religiöse Produktion ein Bekehrungserlebnis vermutet. Er führt diese Bekehrung auf den Brandunfall zurück, mit dem Bonus sein Ausscheiden aus dem Pfarrdienst begründete. Für Sten glein-Hektor sind die ekstatisch-körperlichen Schilderungen des Kampfes und Ringens mit Gott eine „‚realistische‘ Schilderung einer körperlichen Verletzung mit ihren schmerzhaften Folgen und dem Bekenntnis im Krankenbett“ (Religion im Bürgerleben, Münster 1997, 127). Der Brandunfall ist auf den 13. Januar 1903 zu datieren, wie etwa ein Brief an Rade belegt, in dem Bonus seinen Unfall schildert (Brief Bonus an Rade, 18.1.1903 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_003]). Stenglein-Hektor bezieht sich auf Bonus’ Darstellung des Bekehrungs kampfes im Ringen mit dem „deutschen Gott“: „Du selber kläglich! schrie ich von Schmerz und Wut doppelt bis zum Wahnsinn gehetzt […]“ (Deutscher Glauben, 83 ff.). Wichtig an Stenglein-Hektors Analyse ist der Hinweis auf das ekstatisch-intensive Religionsverständnis von Bonus und das damit verknüpfte Selbstbild als Offenbarer einer glaubensvollen Innen seite der Seele. 567 Bonus hatte in der Nachweihnachtszeit, morgens am 13. Januar 1903, seinen Kindern vor dem Schulweg die Kerzen am Weihnachtsbaum noch einmal angezündet und damit einen gefährlichen Hausbrand ausgelöst. Wie er seiner Frau in einem Brief an Martin Rade eine Woche nach dem Unfall diktierte, litt er unter „wahnsinnigen Schmerzen“ durch die Ver brennungen, die sein Gesicht in Mitleidenschaft gezogen und beide Hände schwer verletzt hatten. „Die Heilung“, so der Brief an Rade, „wird sehr lange in Anspruch nehmen“ (Brief Bonus an Rade, 18.1.1903 [ebd., 03_003]). Vgl. den Briefwechsel zwischen Rade und Har nack, die sich über Bonus Schicksal austauschten: „Von Bonus bekam ich h.[eute] einige Zeilen seiner Hand. Er liegt nun die 4. Woche. Die Linke ist noch ganz roh u.[nd] hautlos, von der Mitte des Unterarms wie Stein, doch nicht ganz ohne Gefühl“ (Brief Rade an Harnack, Marburg, 5.2.1903 [Jantsch Nr. 329, 507–509]). 568 Am 26. Januar 1904 genehmigte das Brandenburgische Konsistorium seinen Antrag auf Emeritierung aus dem Pfarrdienst bei Weiterzahlung des Ruhegehalts (Brief Königliches Konsistorium der Provinz Brandenburg an Bonus, 26.2.1904 [ebd., 06_003]). Der Abschied aus dem Pfarramt erfolgte als Frühpensionierung aus gesundheitlichen Gründen. Er wurde von einem kirchlichen Disziplinarverfahren begleitet. Den Hintergrund bildete eine Be schwerde aus seiner Kirchengemeinde Groß Muckrow, die ihm neben kleineren, denunziato rischen Vorwürfen Pflichtverletzungen aufgrund seiner „schriftstellerischen Privattätigkeit“ sowie Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung nachsagte. Bonus wurde von den Vorwürfen vollständig entlastet (vgl. die Korrespondenz zum Verfahren [ebd.]). Die Vorgänge um Bonus’ Dienstentlassung belegen einmal mehr die enge Zusammenar beit des Netzwerkes um Martin Rade. Rade selbst organisierte 1903 zu Bonus’ Unterstützung eine Geldsammlung, zu der auch Harnack beitrug (Brief Rade an Harnack, Marburg, 5.2.1903 [Jantsch Nr. 329, 507–509] sowie die folgende Korrespondenz). Als Fürsprecher von Bonus trat vor allem Erich Foerster auf, der ihn intensiv in verwaltungsrechtlichen Fragen beriet (Briefe Foerster an Bonus, Dezember/Januar 1903/04 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_008]).
V. Im „Kampf um die Weltanschauung“
199
Bonus hatte den Pfarrdienst verlassen. Nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Pfarrdienst übersiedelte er zunächst nach Dresden, wo die Kunstwart-Redaktion ihren Sitz hatte. 1906 wechselte die Familie in das toskanische San Domenico de Fiesole bei Florenz, wo Bonus sich gleichsam zu Füssen Ar nold Böcklins den Wesenstiefen der deutschen Kultur zu nähern suchte.569 Ohne tiefe Enttäuschung über die gegenwärtige Situation des Protestantismus war Bonus diesen Schritt nicht gegangen, sondern hatte das Fazit gezogen: „[…] ein gewöhnlicher, gemeiner Pfarrer hat sein Amt zu verlassen, wenn er nicht kirchlich-gläubig ‚im Geiste seines Oberkonsistoriums‘ ist!“570 Bonus’ Umorientierung von der Christlichen Welt zum nationaloppositionel len Spektrum von Kunstwart und Diederichs-Verlag lässt sich als konsequente Entwicklung nachzeichnen. Nun konnte er seine religiösen Anliegen im Kon trast zur kirchlichen Tradition zur Sprache bringen, ohne den protestantisch- gebildeten Hintergrund völlig aufzugeben. Weiterhin konnte er sich nun in einer publizistischen Umgebung bewegen, die für religiöse Fragestellungen aufge schlossen war, zugleich aber seine nationalkulturellen und modernen Anliegen teilte. Seelenkunst und die Vertiefung der deutschen Kultur, das Streben nach einer neuen Bildung waren Motive, die die nationale Reformbewegung teilte, die aber auch im Kulturprotestantismus auf Verständnis stießen: Es ging dar um, eine „wahre Kultur“ zu erzeugen, die vornehm, schöpferisch und über wissenschaftlich die wilhelminische Bürgerkultur transzendierte.571 Obwohl er Nach dem Unfall versuchte Paul Göhre, zu vermitteln und empfahl Bonus an Diederichs als „litterarischen Berater“ (Brief Diederichs an Bonus, 23.2.1903 [ebd., 06_004]). Diederichs schlug ihm vor, sich eine Stelle als freireligiöser Prediger zu suchen Brief (Diederichs an Bonus, 28.8.1903 [ebd.]). Solche Überlegungen hatten Göhre und Rade bereit 1901 mit Bonus ausgetauscht: Er solle „Pastor der christlichen Freigemeinde“ werden, „die nach Göhres Hin auskomplimentierung aus dem Pastorenstand das Einzige ist, was das Christentum innerhalb der sozialistischen Arbeiterschaft noch hat“ (Brief Rade an Bonus, 2.1.1901). Auch eine Aus landspfarrstelle in Italien stand zur Diskussion (Briewechsel mit Eugen Lessing, Herbst 1903 [ebd., 12_010]). Rade hatte ihm außerdem 1902 noch einmal eine Stelle als Redaktionsmitar beiter bei der Christlichen Welt angeboten (Briefe Foersters und Rades an Bonus, 17.11. und 20.11.1902 [ebd., 12_012]). 569 Der vom Symbolismus geprägte Maler Böcklin selbst war 1901 gestorben; Bonus ver kehrte als Bewunderer im Hause des Sohnes Carlo Böcklin (zu Böcklin als Künstler s. Bonus: Künstlerische und religiöse Wahrheit, in: CW 18 (1904), 684–685). Wie weit sein pädagogisch reformerisches Interesse reichte, mag das folgende, nur auf den ersten Blick skurrile Projekt illustrieren: Als kunsterzieherische Gemeinschaftsarbeit zwischen den Familien Bonus und Böcklin sowie unter Mitwirkung Friedrich Michael Schieles, der die Religion in Geschichte und Gegenwart redaktionell betreute, entstand in Italien eine Sammlung von Kasperl-Ge schichten (Carlo Böcklin/Beate Bonus-Jeep: Kasperl-Bilder-Bücher, Halle 1911, 4 Bände; vgl.: Kasperle-Figuren zu Bonus-Böcklin, in: Kunstwart 25/5 (1911/12), 386). 570 Bonus: Verschiedenes. Der Pfarrer Mörike, in: CW 19 (1905), 189. 571 Ders.: Fachsimpeln, in: Kunstwart 18/1 (1904/05), 511–512.
200
Zweites Kapitel: „Germanisierung des Christentums“
zunächst, „um einen Abstand zu Kirche und Theologie zu gewinnen“, eine kur ze „Ausfahrt“ zu scheinbar untheologischen Themen unternahm – Island und den Sagen der germanischen Vorzeit –, lenkte ihn sein Interesse stets zurück zu den „religiösen Problemen“: Wie er Adolf Harnack schrieb, hatte ihn die Frage nach dem Christentum unter den Bedingungen der Moderne nie „wirklich ver lassen“.572
572 Brief Bonus an Harnack, 2.5.1908 [StaBi Berlin, NL Harnack, 8; als Briefkonzept auch: LKA Eisenach, NL Bonus, 13_001]. Ähnlich schrieb er seinem Freund Friedrich Daab nach Abschluss des Island-Buches 1908, dass er nun „nach mehrjähriger Islandreise zurück gekehrt [sei] und […] endlich zu theologischen Dingen“ schreibe (Briefkonzept Bonus an Daab, wohl 1908 [ebd., 13_004]).
Drittes Kapitel
Deutscher Glaube Während in den vorherigen Kapiteln die Vernetzung von Arthur Bonus in die Religions- und Kulturdiskurse bis zur Jahrhundertwende verfolgt wurde, soll in den folgenden Abschnitten der Versuch unternommen werden, Bonus’ religiö ses Denken systematisch zu entfalten. Dabei werden die beiden komplemen tären Stränge einer individuellen sowie einer nationalen Weiterführung des Christentums voneinander getrennt verfolgt. Dabei ist vor allem im Blick zu behalten, inwieweit sich Bonus’ Vorstellungen im Kontakt mit der Theologie seiner Zeit entwickelten.
I. Bonus als „Nichttheologe“ „Ich habe für mich selbst, glaube ich, die ‚prophetische Rede‘ in Anspruch ge nommen“, charakterisierte Arthur Bonus seinen Denkstil gegenüber seinem Lehrer Adolf Harnack.1 Damit ließ er selbstbewusst durchblicken, dass er durch seine Schriften uneinholbare religiöse Wahrheiten freizulegen beabsichtigte. Bonus lässt sich damit den „Religions-Virtuosen des Jugendstil-Jahrzehnts“ zu ordnen.2 Allerdings wollte er sich nicht als esoterischer Kulturdeuter oder ab seitiger Religionsideologe verstanden wissen. Gegenüber allzu kritischen Le sern seiner Werke betonte er, dass es sich bei seinen Analysen zur religiösen Lage der Gegenwart nicht um eine Sondermeinung, sondern um ausgewogene „Prognosen“ handele, die jedem aufmerksamen Beobachter offen stünden.3 Doch er wollte etwas ganz anderes bieten als Fachtheologie. Noch als Pfarrer entwickelte sich bei ihm ein Bewusstsein, die akademische Theologie hinter sich gelassen und sich dem „Glauben“ als der existentiellen Seite des Gottesver 1 Briefkonzept Bonus, betitelt „Lieber Herr Professor“ [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. Der Brief lässt sich nur als Antwort auf zwei Postkarten und einen Brief Harnacks vom Mai 1908 verstehen, in denen Harnack sich vom religiösen Schreibstil Bonus’ abgrenzt. 2 So die Bezeichnung von Peter Sloterdijk: Der mystische Imperativ. Bemerkungen zum Formenwandel des Religiösen in der Neuzeit, in: ders. (Hg.): Mystische Zeugnisse aller Zei ten und Völker, München 1994, 14–23, 15. 3 Bonus: Vom neuen Mythos, 106 f.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
hältnisses zugewandt zu haben. Bonus trat gegenüber seinen Zeitgenossen als „Nichttheologe“ auf, der trotzdem theologisch geprägt war und dessen Verkün digung in den Problemstellungen des Protestantismus der Jahrhundertwende verankert blieb, wie im Folgenden gezeigt werden soll.4 Bonus war es durchaus bewusst, dass er seine Verkündigung in vielen Ele menten der Fachtheologie liberaler Färbung zu verdanken hatte. Für die als For derung der Moderne umkleidete Behauptung, dass man gleichsam ein „Pauper tätszeugnis in Bezug auf seine Kenntnis der christlichen Religionswissenschaft beibringen“ müsse, um als ernsthafter Intellektueller zu gelten, hatte Bonus wenig übrig.5 Grundsätzlich maß er der Theologie als Wissenschaft, und hier besonders den historischen Fächern, große Bedeutung bei.6 Zudem waren die religiösen Grundlagen der Gegenwart theologiefrei kaum zu erhellen. Hier zeigte sich deutlich die Verbindung zu den historisch-religionsgeschichtlichen Wurzeln des modernen Protestantismus Ritschlscher Prägung, der sich zur Be arbeitung der religiösen Bedürfnislandschaft der Gegenwart nur eine enge Ver bindung von theologischer Argumentation und historischer Herleitung vorstel len konnte. Obwohl die Religion für Bonus eine eigenständige menschliche Wahrnehmungsform darstellte, die weder mit den übrigen Wissenschaftsgebie ten verrechnet noch naturwissenschaftlich ausgeblendet werden durfte, betonte er die engen Wechselwirkungen zwischen Religion und Kultur, ohne deren Be rücksichtigung „die sozialen Verhältnisse“ in Vergangenheit und Gegenwart nicht verstanden werden konnten. Ohne auf ihren religiösen Hintergrund einzu gehen, ließen sich die „sozialen Motive und ihre Wirkungen“ nicht erklären.7 4 So mit leichtem Spott im Brief Rades an Bonus, 18.4.01 [ebd., 03_003]; vgl. ähnlich die Einschätzungen von Waldemar Fellmann: Abschied von Arthur Bonus, in: CW 55 (1941), 219–222, 220 („Selten hat es einen untheologischeren Theologen gegeben als ihn“); oder K ayser, Büchertisch. Arthur Bonus, Religion als Schöpfung, in: Die Zeit 2 (1902), 797 (Bonus als „von der Theologie befreiter Theologe“). Zur theologischen Färbung von Bonus’ Denken vgl. beispielhaft die aus völlig verschiedener Perspektive urteilenden Rezensionen von Fritz Philippi, einem von der Dorf- und Heimatliteratur beeinflussten Pfarrer und Mitglied der „Freunde der Christlichen Welt“ (Artur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, in: CW 26 (1912), 840–844), von dem eher kritisch-distanzierten Lehrer R einhard Liebe (Von der Kirche. Eine Auseinandersetzung mit der neuesten Schrift von Arthur Bonus, in: Christ liche Freiheit 26 (1910), 244–248), sowie von dem kulturpessimistischen Bonner Privatdozen ten für Philosophie Emil H ammacher: Hauptfragen der modernen Kultur, Leipzig 1914, 243. 5 Bonus: Im Kampf um eine Weltanschauung, in: CW 14 (1900), 436–442.460–466.492– 497.517–521, 493. 6 Vgl. z. B. ders.: Zwischen den Zeilen II, 43–49; ders.: Vom Glauben und von der Gläu bigkeit, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669–676, 674 f.; ders.: Religion als Schöpfung, Jena 1902, 14–15. 7 Prägnant etwa in: ders.: Das christliche Ideal und das deutsche Volk, in: Germanisie rung des Christentums, Jena 1911, 8–9; vgl. ders.: Die Kirche, Frankfurt 1909, 80.
I. Bonus als „Nichttheologe“
203
Vielmehr stellten die religiösen Überzeugungen einen wesentlichen menschli chen „Trieb“ dar, der ebenso stark auf das Handeln wirkte wie soziale Faktoren und politische Überzeugungen und der daher für die Frage nach einer Kultur erneuerung in der Gegenwart nicht vernachlässigt werden durfte.8 In der Hoch schätzung der Religion zur Beleuchtung der Moderne schlug sich die von zahl reichen Vertretern der modernen Theologie aufrecht erhaltene Überzeugung nieder, dass Religion die hauptsächliche „Triebfeder moralischen Handelns“ und somit die Wurzel wahrhaftiger Kultur sei.9 Seine theologische Verwurzelung trug ihm auch Kritik ein. In der Deutschen Heimat wurde ihm aufgrund seiner religiösen Artikelserie angelastet, sich in den innerprotestantischen Spannungen zu eindeutig als Vertreter der Modernen zu erkennen zu geben. Das stand der Selbstwahrnehmung des Rezensenten ent gegen, der „Herzenstakt und -bildung“ verlangte, nicht aber die theologische Diskussionsfreudigkeit, die Bonus seiner Ansicht nach vom „zänkischen Theo logenblatt ‚Christl.[iche] Welt‘“ übernommen hatte.10 Bonus habe sich eher als Beispiel des „theologischen Vernunftmannes“ und als „räsonnierender […] Ver teidiger“ der modern-theologischen Richtung – speziell Adolf Harnacks – er wiesen und durch seine Parteinahme die partikularistischen Strömungen in der Kirche vermehrt.11 Für die von der Heimat erstrebte Wirkung der Religion als ein vereinheitlichendes, innerliches und ästhetisches Band der Liebe, das die Nation durchwirken sollte, erwies sich Arthur Bonus offenbar nicht als der er wünschte Vertreter.12 Das theologische Reflektieren stellte freilich auch für Bonus nur das Vorfeld der eigentlich religiösen Arbeit dar. Ihm ging es in den Debatten um den Glau ben in der Moderne um das authentische und ergreifende Erlebnis, dem gegen über die wissenschaftliche Theologie eine rationalistische Schwundstufe dar stellte. Bonus verstand sich als religiöser Zeit- und Kulturdeuter, der in einer Situation des religiösen Umbruchs versuchte, die Frömmigkeit selbst als einen seelischen Vorgang freizulegen und sie in die Weltsicht und -erfahrung der Mo derne zu übertragen. Dazu durfte die christliche Frömmigkeit allerdings nicht als „Menge wundersamer Theorien und Phantasmen“ aufgefasst werden, son dern war als zutiefst innerliche Regung und als ureigener Seelengrund der menschlichen Persönlichkeit zu begreifen.13 8 ders.: Das christliche Ideal und das deutsche Volk, 9. 9 Vgl. dazu mit zahlreichen Belegen Graf: Rettung der
Persönlichkeit, 120–125. Auch ein Glaubensbekenntnis. Offener Brief an Arthur Bonus, in: Deutsche Heimat 5/1 (1902), 321–325. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Bonus: Zwischen den Zeilen II, 124–128. 10
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
Aus positiv-protestantischer Sicht machte man Bonus den Vorwurf, dass in seiner Verkündigung das Christentum nichts anderes sei als „subjektivistischer Individualismus“.14 Diese Einschätzung ist durchaus zutreffend, auch wenn sie in der polemischen Absicht geäußert wurde, vor Bonus als einem „falschen Pro pheten“ der Moderne zu warnen, dessen theologische Prinzipienschärfe auf grund seiner Nietzschelektüre verwirrt worden war. In seinem Anspruch, bei der Erkundung des glaubenden Ichs auf einen unableitbaren, religiösen Kern des menschlichen Wesens zu stoßen, war Bonus jedoch kein religiöser Exzent riker. Vielmehr ging seine Verkündigung von Grundannahmen aus, die den Rahmen der liberalen Theologie nicht völlig sprengten. Für Ernst Troeltsch blieb Bonus wenigstens insofern im religiösen und intellektuellen Kontext des liberalen Protestantismus, dass seine Ideen auf eine Fortentwicklung des Chris tentums hinzielten. Aus seiner Sicht ließ sich Bonus als Ritschlianer der dritten Generation betrachten, der von Wilhelm Herrmann die Begriffe der Autonomie und Persönlichkeit gelernt hatte und von Julius Kaftan die Opposition gegen den Monismus, beides allerdings mit einer starken antirationalistischen Stoß richtung versah.15 Bonus’ Schriften lassen sich also als eine Theologiekritik le sen, die den Kontakt mit den theologischen Zeitfragen nicht verloren hatte, son dern in das Unbehagen an der modernen Kultur und der herrschenden Form des Christentums auch zeitgenössische Theologie einfließen ließ. Wenn in den folgenden Abschnitten einige Eckpunkte von Bonus’ Verkündi gung skizziert werden, so ist zunächst auf die besondere literarische Gestalt auf merksam zu machen, in der er seine religiösen Entdeckungen überwiegend ver trat. Bonus wählte selten die Form einer strukturierten akademischen Abhand lung, sondern wandte sich in Zeitschriftenbeiträgen, Artikeln und religiösen Betrachtungen an ein Publikum, zu dem Fachtheologen, Kollegen im Pfarramt, aber auch gebildete, religiös sensible und informierte Laien gehörten. Er schrieb im Stil „kurzer erbaulicher Betrachtungen“, die sich an „besinnliche Leute“ rich teten.16 Seine eher knappen und aphoristischen Texte waren als erzählte Theolo gie gemeint und mischten narrative Elemente mit farbigen, anspielungsreichen Kommentaren. Bonus wählte immer wieder die Form der „Andacht“ als religiö sem Kurztext. In der Christlichen Welt standen solche Texte als Leitartikel über jeder Ausgabe und sollten religiöse Existenz und theologische Reflektion mitei nander verbinden.17 Seine ersten selbständigen Veröffentlichungen sammelten 14
Blau: Moderne Propheten, in: Die Reformation 2 (1903), 59–63, 62. E. Troeltsch: Rez. Arthur Bonus. Religion als Schöpfung, in: ThLZ 28 (1902), 275– 276, 275. 16 So der Untertitel seiner ersten selbständigen Veröffentlichung, des Andachtsbands: Zwischen den Zeilen, Heilbronn 1895. 17 Vgl. R. Schmidt-Rost: Die Christliche Welt, in: H ans M artin Müller (Hg.): Kulturpro 15
I. Bonus als „Nichttheologe“
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mit lockerer thematischer Verbindung diese Reflektionstexte und erzielten nicht geringe Erfolge, besonders in der jüngeren Theologengeneration.18 Die Analyse von Bonus’ religiösen Vorstellungen erzeugt gewisse Schwierig keiten, die sich teilweise aus seinem übersteigerten Schreibstil, teilweise aus dem provokativen Duktus ergeben, mit dem er sich von der Fachtheologie abset zen wollte. So beklagte er sich gegenüber seinem Freund Paul Göhre, dass seine Texte noch viel zu sehr „unter Theologie“ litten.19 Bonus’ Schreibstil überdehn te bewusst die überkommenen akademischen Sprachspiele und Konventionen, verfolgte dabei aber das Ziel, das von ihm behauptete religiöse Erlebnis dem kulturbegierigen Bildungsbürgertum der Jahrhundertwende zu verdeutlichen. Seine Veröffentlichungen präsentierten eine protestantische „Oppositionstheo logie“ gegen die kirchlichen Institutionen, die zu einer neuen Beschreibung der Frömmigkeit aufbrechen wollte, um die echte, unmittelbar lebendige Religion zu fördern.20 Sie reihten sich nicht einfach in die Flut der frommen Gebrauchs lyrik ein, die für die kirchliche Publizistik in vielen Fällen charakteristisch war. Gleichwohl wollten auch sie zur moralischen Vergewisserung und individuellen Erbauung dienen und stachen durch einen zunehmend provozierend expressi ven Ton hervor, der die aus der Tradition stammende theologische oder religiöse Sprache entweder mied oder karikierte. Bonus ließ sich um die Jahrhundert wende neben Naumann und Lagarde als ein Beispiel für schriftstellerische Son derfälle anführen, die es zu einer an Nietzsche zu bemessenden „Meisterschaft in der Sprache“ gebracht hätten.21 Dieser Stil fiel manchen Lesern störend auf. testantismus, Gütersloh 1992, 245–257, 248 f.; vgl. auch ders.: Verkündigung in evangeli schen Zeitschriften, Frankfurt 1982. 18 Vgl. dazu die Erinnerungen von Paul Jaeger: Am geheimen Webstuhl Gottes, Stuttgart 1937. 19 Brief Bonus an Göhre, 9.2.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011]. 20 Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 254. 21 H ans Weichelt: Der moderne Mensch und das Christentum, Tübingen/Leipzig 1901, 10. Obwohl Bonus immer wieder die gleichen Gegenstände behandelte, legte er sich nicht auf eine durchgängige Begrifflichkeit fest. Wie sein Studienkollege Paul Rohrbach feststellte, hatte Bonus mit seinem schillernden, zu Paradoxen neigenden Stil „Stücke von einer wun derbaren Kraft des Ausdrucks“ geschaffen, die jedoch auch die Gefahr mit sich brachten, „durch gesuchte Gewaltsamkeit“ manieriert zu wirken. Für Rohrbach gaben sie Zeugnis ab von einem „dunklen, sich selber erst halbverständlichen Empfinden“, das eine religiöse Wen de eher ahnte, als sie in klare Begriffe zu fassen (Rez. Arthur Bonus: Deutscher Glaube; Der Gottsucher; Erich Schlaikjer: Der Schönheitswanderer, in: PJbb 91 (1898), 551–555, 553). Ähnlich bescheinigte Ernst Troeltsch Bonus, dass er einem mitunter undurchschaubaren „Secessionsstil“ anhing (Rez. Arthur Bonus. Religion als Schöpfung, in: ThLZ 28 (1902), 275–276, 276). Troeltsch traf damit recht genau, in welche künstlerische Richtung Bonus sich eingeordnet wissen wollte. Der bereits zitierte lutherische Rezensent Blau war der Ansicht, Bonus’ Texte durchzogen „eine Fülle von recht subjektiven Einfällen und Beobachtungen,
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
Er zeigte, wie eine Besprechung darlegte, dass auch ein „geborener Sprach künstler […] bisweilen in einen schlechten Stil verfallen“ könne.22 Bonus wollte die Gottesvorstellungen der Gegenwart von den überkomme nen, aus der antiken Philosophie und der Scholastik abgeleiteten Begrifflich keiten lösen, die seiner Ansicht nach wie eine „kolossale und schon halb verwes te Leiche über der Religion im Christentum“ lagen, wie er wohl nicht ohne Ge nugtuung polemisierte.23 Er war der Ansicht, dass im Zuge der Moderne eine dramatische Entleerung des kirchlichen Gedankengebäudes stattgefunden hat te, das im Ganzen ins Floskelhafte abgeglitten war. Als Ankerpunkt der reli giösen Erneuerung empfahl er, den Glauben als unmittelbaren Ausdruck des religiösen Gemüts wiederzuentdecken, das sich der Welt gegenüber sah und Gott in sich erlebte.24 Aus seiner Sicht begehrte der religiöse Mensch der Mo derne keine philosophischen Gedankenkonstruktionen, sondern sicht- und faß bare Inhalte.25 Der Kieler Theologieprofessor Arthur Titius, ein Berliner Stu dienfreund, der mit Bonus das Interesse an einer Neuformulierung des Protes tantismus teilte, war der Meinung, dass sich an seinem Werk der „Strich, der zwischen dem Alten und dem Neuen gemacht“ werden musste, ablesen ließ.26 Harnack gegenüber zeigte Bonus sich skeptisch, wie weit sich eine lebendige religiöse Ansicht überhaupt in die geschlossene Form einer Theologie gießen ließ.27 Wenn in den nächsten Abschnitten dennoch ein Versuch unternommen wird, Eck punkte seiner religiösen Vorstellungen in einer systematisierenden Zusammen schau wiederzugeben, lassen sich dafür Anhaltspunkte in seinem Werk selbst be nennen. Bonus versuchte mehrmals, seine religiöse Ideenwelt überblicksartig zu sammenzufassen. Auf Empfehlung Martin Rades schrieb er die 1899 in der Christlichen Welt erschienene Aufsatzreihe „Zur Germanisierung des Christen tums“, die als entwickelnde Darstellung seiner „Grundgedanken“ gemeint war.28 Einen weiteren Versuch, den Kreis seiner Vorstellungen abzuschreiten, unternahm von kühnen Kombinationen und Prophezeiungen“, die auf ein „sprunghaftes Raisonnement mit dunklen Andeutungen“ hinausliefen, das sich teilweise nur schwer entziffern ließe (Noch einmal über Christenthum und die moderne Welt, in: AELKZ 31 (1898), 445–448, 446). 22 R einhard Liebe: Von der Kirche. Eine Auseinandersetzung mit der neuesten Schrift von Arthur Bonus, in: Christliche Freiheit 26 (1910), 244–248, 245. 23 Bonus: Von den neuen Religionsstiftern und von der ‚Orthodoxie‘, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 573–581, 577. 24 Ders.: Die Kirche, Frankfurt 1909, 56; ders.: Vom neuen Mythos, Jena 1911, 1; vgl. den oben zitierten Brief an Harnack. 25 Vgl. die Charakterisierung bei K ratzsch: Kunstwart, 192 f. 26 Brief Titius an Bonus, Kiel, 26.5.1902 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_004]. 27 So im eingangs zitierten Brief an Harnack. 28 Vgl. die herausgeberische Notiz Rades als Fußnote zu: Bonus: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums I, in: CW 13 (1899), 57–59, 57.
I. Bonus als „Nichttheologe“
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er 1901 mit einer ausführlichen Artikelserie in der Zeitschrift Deutsche Heimat, einem von Heinrich Sohnrey, Adolf Bartels und anfangs Friedrich Lienhard der Belebung von deutscher „Kunst und Volkstum“ gewidmeten Literaturblatt.29 Und schließlich waren die zwischen 1911 und 1912 im Diederichs-Verlag veröffentlich ten Bände Zur religiösen Krisis zum größeren Teil eine überarbeitete thematische Zusammenstellung bereits früher publizierter Texte, die es möglich machten, die geistige Entfaltung seiner religiösen Konstruktion nachzuvollziehen.30 Legt man Bonus’ Aufsatzserie zur „Germanisierung des Christentums“ zu grunde, dann erschienen ihm zwei Grundprinzipien für die Vergegenwärtigung der Religion leitend. Die religiöse Entwicklung richte sich auf die „Individuali sierung und Nationalisierung“ des Christentums.31 Beide Aspekte stehen in Bo nusʼ Texten als eng aufeinander bezogene Argumentationsstränge nebeneinan der und sollen daher auch der Darstellung als Leitfaden dienen. Theologiek ritik, von der Entwicklungslehre gespeiste Zukunftserwartungen und nationale Hoff nungen waren in Bonusʼ Germanisierungsthese eng ineinandergeschoben. Doch schien sich diese packende, missverständliche Begriffsfindung nicht völlig zu eignen, um das Reformprojekt zu umschreiben, das Bonus vorschwebte. Wie er 1911 im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Zur Germanisierung des Christentums hervorhob, handelte es sich hier um ein Schlagwort, das nun einmal seinen Arbeiten „anhaftet“, sie aber nicht ausreichend zusammenfasste.32 Für ihn stellte der Aufruf zu einem ins Nationale übersetzten Christentum eine Konsequenz aus dem Umbruch zur Moderne dar. Beide Seiten werden im Fol genden einander gegenübergestellt. 29 Brief Bonus an Rade, 27.6.1901 [ebd., 03_003]. Anerkennende Reaktionen kamen von Arthur Titius, dem Studienfreund (Brief Titius an Bonus, Kiel, 26.5.1902 [ebd., 12_004], von Heinrich Driesmans, der Bonus gleichzeitig für die Egidy-Zeitschrift Ernstes Wollen gewin nen wollte (Brief Driesmans an Bonus, 3.6.1901 [ebd., 08_001]), sowie von Rade (Brief Rade an Bonus, 18.4.01 [ebd., 03_003]). Zur Zeitschrift und ihrem Umfeld zwischen Heimatkunst und völkischem Literaturbetrieb K ay Dohnke: Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung, in: K erbs/R eulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 481–493, 486. 30 Als Überblick und Sammlung seines schriftstellerischen Werks wurden die Bände in der Christlichen Welt vorgestellt, vgl. Fritz Philippi: Artur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, in: CW 26 (1912), 840–844; vgl. auch die Selbstanzeige: Zur religiösen Krisis, in: Kunstwart 25/1 (1912), 347–348, 348. 31 Bonus: Individualisierung und Nationalisierung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150; ähnlich strukturierte bereits der Bericht von Otto Baumgarten: Die Christliche Welt, 259; vgl. auch Frank Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozia lismus, 67–72. 32 Ders.: Zur Germanisierung, Jena 1911, 2; vgl. seine Erläuterung (ebd., 12): „Es ist gleichgültig, ob man formuliert: Modernisierung des Christentums oder Germanisierung. Eine modernere Gestalt des Christentums kann für uns nur eine deutschere Gestalt sein, eine deutschere Gestalt des Christentums wird von selbst eine modernere sein.“
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
II. Individualisierung 1. „Glauben ist Schaffen“: Theologiekritik und die religiöse Überwindung der Verstandeskultur Von Zeit zu Zeit wird Glauben und Weisesein der oberen Zehntausend im Reiche Gottes wie im Reiche der Welt so gesetzt und gesetzlich, so pedantisch und philiströs, so lebensleer und gespensterhaft formulös, so ethisch kultivirt dünkelhaft und fraglos, daß frisches Leben nur noch schrecken und stören, ja ernsthaft gefährlich werden kann. Das sind die Zeiten, wo alte Werte reißen und ehrwürdige Dogmen zerschellen, wo die Geistigarmen selig sind und das Himmelreich zu den Sündern geht, weil die Geladnen im Wartesaal häuslich wurden. Frische noch unverbrauchte Kräfte für die frische Entwicklung: Verachtete, Neuaufsteiger, Proleta rier, gleichviel ob von den Hecken oder Zäunen her, Gott rüstet nicht umsonst.33
Die zitierte Passage, in der Arthur Bonus ein jesuanisches Gerichtsgleichnis auf die religiöse Situation der Gegenwart umdeutete, zeigt, wie deutlich er sich be reits vor der Jahrhundertwende von der bisherigen Entwicklung von Theologie und Kirche distanzierte.34 Die Gegenwart war eine Zeit des religiösen Um bruchs. Für ihn hatte die überkommene Kirchenlehre mit dem Heraufziehen der Moderne ihre Bedeutung verloren und erzwang eine neue Sicht auf das Chris tentum. Von der überkommenen protestantischen Glaubenstradition war nur noch eine leere Hülle übrig geblieben, die in ihrer überlieferten Form auf die „innersten Lebensprobleme“ der Gegenwart keine Antwort geben konnte.35 An der Stelle der christlichen Erlösungssehnsucht, die nach Seelenheil und Gnade nerwerb im Jenseits gestrebt habe, stünde nun der weltbezogene Ruf nach „Le ben, ‚Sichausleben‘, Selbstleben, Ichsein“.36 Die Konsequenz war eine „Umfüh lung“ des christlichen Lehrgebäudes in eine Erfahrungstheologie, in deren Mit telpunkt Bonus das Wachstum der Seele und der menschlichen Persönlichkeit rückte.37 Es war eine gewandelte, der Moderne geschuldete Stimmung der Wirklichkeit und dem alltäglichen Leben gegenüber, die eine Umgestaltung dringend erforderlich machte.38 33
Ders.: Tischreden Jesu, in: CW 11 (1897), 841–844, 843. bezieht sich unverkennbar auf das Jesusgleichnis von der „königlichen Hoch zeit“ (Mt 22,1–10 bzw. Lk 14,15–24), in dem vom Gericht an den Unberufenen die Rede ist. In der theologischen Tradition wurde das Gleichnis überwiegend im Sinne der Enterbungs these als Warnung an das Judentum verstanden, dessen Rolle als Gottesvolk von der neube rufenen christlichen Kirche übernommen worden sei. 35 Ders.: Vom neuen Mythos, 52. 36 Ebd., 53; 60; vgl. ders.: Zwischen den Zeilen, Heilbronn 1895, 127 f. 37 Ebd., 52 f. 38 Ders. [unter dem Pseudonym Fritz Benthin]: Aus der religiösen Bildersprache, in: CW 11 (1897), 810–811, 811. 34 Bonus
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In Bonus’ Ausführungen ging es um nichts Geringeres als um die Grundla gen des religiösen Erkennens und seine Ermöglichung unter den Bedingungen einer sich rasant entfaltenden Moderne. In der Rolle des Außenseiters – der er von seiner Herkunft und Ausbildung her eigentlich nicht war – griff er in einer engen Verbindung von Antiklerikalismus und Antiintellektualismus das akade misch geprägte Bildungs- und Wertesystem des 19. Jahrhunderts an. Bonus’ Äußerungen lassen sich als scharfe Wissenschaftspolemik lesen, die von einfa chen Gegensatzpaaren ausgingen: Theologie gegen Glaube, Wissenschaft gegen Leben. Für Bonus war Religion individuelle Schaffenskraft, dagegen rechnete er Theologie und Kirche zu den Residuen einer bürgerlichen, veralteten und dadurch erstarrenden Kultur. Kulturkritisch stellte er die Persönlichkeitsmächte gegen den Ich-Verlust in der Massenkultur. Diese Äußerungen sind zurecht als Hinweis auf eine tiefgreifende „Rationalitätskrise“ im Protestantismus der Jahr hundertwende bezeichnet worden.39 In ihnen spiegelte sich ein Prinzipienstreit wider, bei dem es um die Bedeutung der historischen Methoden und die Ver bindlichkeit der Bibel als Schrift ging. Zudem bezogen sie sich auf die Frage nach der Religion als „Kulturfaktor“, die nach der Jahrhundertwende im Kul turprotestantismus aufbrach.40 In seinen Antworten rückte Bonus, wie im fol genden dargestellt werden soll, über den methodischen und inhaltlichen Kon sens der kulturprotestantischen Theologie hinaus. Pointiert formuliert, schuf er eine lebensphilosophisch geprägte Anti-Theologie: Er suspendierte die Zustän digkeit der Theologie für religiöse Grundsatzfragen. Die zeitgenössische Entwicklung von Theologie und Kirche stellte für Bonus eine Abdämmung der Wucht dar, die ursprünglich vom Evangelium ausgegan gen war. Wie er aufzuzeigen suchte, war das eine Folge der intellektualistischen Umformung des religiösen Erlebens in eine dogmatische Lehre. Damit erweist er sich als ein Vorbote der „antihistoristischen Revolution“ der Weimarer Jahre, die Grundzweifel an der historischen Erschließbarkeit geistiger Prozesse äußer te und statt dessen die Wertung und das Einzelne in den Vordergrund stellte. Die christliche Verkündigung war nach seiner Ansicht „Sprache, Dialekt, Jar gon“ geworden und hatte mit dem religiösen Innenleben nichts mehr zu tun.41 Während Frömmigkeit, wie er 1901 in einem gleichnamigen Aufsatz hervorhob, aus der auf Erfahrung und innerem Wachstum gegründeten „Suche nach Mäch tigkeit und Gewalt der Seele“ hervorging, wurden den Heutigen in der kirchli chen Predigt nur „weiche Gefühle bis zu den Thränen“ geboten.42 An die Stelle des inneren Ereignisses Religion war ein weltabgekehrter Erlösungsglaube ge 39
Stenglein-Hektor: Religion im Bürgerleben, 118 f. Graf: Rettung der Persönlichkeit, 122 f. 41 Bonus: Zwischen den Zeilen I, 117. 42 Ders.: Zwischen den Zeilen II, 131–134. 40
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treten. Das Christentum war zur „Fremdreligion“ geworden, fasste Bonus zu sammen, weil es sich von den Empfindungen, der Sprache und dem Weltver ständnis der Gegenwart abgelöst hatte.43 Als hauptsächlichen Kritikpunkt an der christlichen Verkündigung wies Bonus immer wieder darauf hin, dass diese als rationale Weltsicht gelehrt wür de, aber ihren Wirklichkeitsbezug eingebüßt hätte. Die Theologie habe aus Gott einen „Homunkulus“ gemacht, der sich durch Verstandeskategorien erschlie ßen, aber nicht eigenständig als Wirklichkeit erfahren ließ.44 Bonus gab seine antitheologische Position in teilweise hochpolemischen Formulierungen wieder. In der Theologie begegne man einer abstrakten Gedankenfigur, dem theoreti sierten „Gott der deutschen Gelehrtenrepublik“ oder einem „Gedankenmonst rum“, das sich der Einzelne mit „aller Kraft der fiebernden Phantasie“ einbilden müsse.45 Die im kirchlichen Christentum vertretene Weltsicht sei dadurch zum moralischen Regelwerk verkommen und hänge am „toten Buchstaben“, wo durch sich die Menschen vom eigentlichen Glaubensziel der inneren Gewissheit ausgeschlossen hätten.46 Die Theologie erschien ihm als ein „Gesetz“, das der Einzelne oft unverstanden hinnehmen müsse.47 Eine unverstellte Frömmigkeit müsse hingegen ein gesteigertes Lebensgefühl vermitteln, das „dem Ungelehr ten ebenso zugänglich [sei] wie dem Gelehrten“.48 Es war nicht nur theologische Stilkritik, die Bonus zu solchen pauschalen und kontrastgesättigten Verurteilungen brachte. Wenn er der Theologie als Wissen schaft einen Scheidebrief ausstellte, reagierte er auf die Beobachtung, dass das Christentum als Folge einer verfehlten Auffassung vom Religiösen einen bleiben den Realitätsverlust erlitten hatte. Bonus formulierte eine krude Säkularisie rungsthese, die die sozialkulturellen Veränderungsprozesse des späten 19. Jahr hunderts und den Geltungsverlust des kirchlichen Protestantismus durchaus wahrnahm. Für diese Entwicklung machte er die Theologie als akademische Dis ziplin verantwortlich, die von den Pfarrern als kastenartiger Gruppe betrieben wurde. Als „berufsmäßige Vertretung der Religion“ und als für religiöse Fragen zuständige „Behörde“ traute Bonus es der Theologenschaft nicht mehr zu, zu kunftsgerichtete Impulse für einen modernen Ausbau des Christentums zu set 43
Ders.: Religion als Schöpfung, 11. Ders.: Das christliche Ideal und das deutsche Volk, in: Germanisierung des Christen tums, 6–17, 4; hier nimmt Bonus Formulierungen auf, die er zum ersten Mal 1896 veröffent licht hatte: Glauben ist Schaffen, in: CW 10 (1896), 10–12. 45 Ders.: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums I, in: CW 13 (1899), 57–59, 58; ders.: Der Gottsucher, Heilbronn 1898, 19–22. 46 Ders.: Religion als Schöpfung, 9.14 f.; ders.: Zwischen den Zeilen I, 77–80; ders.: Der Gottsucher, 1898, 30–44.59–64. 47 Ders.: Religion als Schöpfung, 9. 48 Ders.: Der lange Tag, 125. 44
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zen.49 Somit unterschied er scharf zwischen dem Glauben als innerem Geschehen, das aus den biographischen Erlebnissen und der Welterfahrung des Individuums entsprang und dem man sich psychologisch als Seelenkunde nähern konnte, und der zur Theologie ausformulierten Religionslehre. Glaube und Theologie, so lau tete die Diagnose, waren zu Gegensätzen auseinandergedriftet, da sich die akade mische Theologie auf die Binnenkultur eines engen begrifflichen Regelwerks zurückgezogen hatte.50 Die Folge war eine religiöse Entleerung und ein schwe bendes Bedürfnis nach Sinngebung und tiefen Überzeugungen, das ins Leere lief oder versuchsweise durch „Religionssurrogate“ aufgefangen wurde, in denen Kunst, wissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische Spekulation die ge wachsene Religion ersetzen sollten.51 Doch auch diese intellektuellen Ersatz versuche verdeckten den existentiellen Wirklichkeitsgehalt der Religion.52 In einem aufschlussreichen Brief an Rade stellte Bonus die grundlegende Differenz zwischen der religiösen Erfahrung als Wirklichkeit und der wissen schaftlichen Theologie als einer blossen Verständigungsform dar: Ich habe vollständig mit „der“ Weltanschauung gebrochen, bei der die „Wahrheit“ in einer ruhigen Abwägung aller möglichen Seiten einer Sache besteht, in einer korrekten Photogra phie einer betreffenden Wirklichkeit, mit dem Unterschied, daß man sie in die Tasche steckt statt in ein Album legen kann, was man freilich mit der entsprechenden Wirklichkeit nicht kann. Solche Photographien, seis verkleinerte, seis auch vergrößerte, sind ja unermeßlich wertvoll, sie sinds aber nie an sich, sondern nur wie Hacke und Spaten für den Garten. Ich bin – glaube ich – vollständig gegen den Verdacht gesichert, wissenschaftliche Arbeit zu unterschätzen. Wenn ich […] bei Freund Titius im Synoptikerkolleg sitze oder wenn ich meinen Holtzmann lese, oder wenn ich selbst eine Lizentiatenarbeit schreibe, will ich mich redlich mühen, den Urzusammenhang des Wortes richtig zu stellen und mit Mikroskop und Photographieapparat die Fäden des Gewebes und ihre Struktur auszubreiten. (Aber ich werde das nie die Wahrheit nennen im Gegensatz zu einer Arbeit, die im Kampfe den Sinnbruchteil der Stelle, die augenblicklich in Frage steht, energisch […] bis ins Gemüth reicht.) Wirklichkeit ist Flut und Sturm und Drängen und Ruhe. Und Wahrheit ist der Schlag, der an der rechten Stelle sitzt.53
49 Ders.: Religion als Schöpfung, Jena 1902, 5 f.; als harrsche Kritik am Landeskirchen tum vgl. ders.: Religiöses Beamtentum, in: Kunstwart 26/1 (1912/13), 342–343. 50 Ders.: Glaube und Theologie, in: CW 12 (1898), 737–738. Es kann hier nur vermutet werden, dass der in diesem Artikel enthaltene scharfe Spott gegenüber der akademischen Theologie eine Reaktion auf Bonus’ ausbleibenden Erfolg im universitären Umfeld darstell te. Hier wurde er als christlich-religiöser Schriftsteller wahrgenommen, dem die notwendige gedankliche Klarheit fehlte. 51 Ders.: Ein Brief, in: Der moderne Mensch und das Christentum, Leipzig 1898, 7–18, 14; vgl. ders.: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 946–950; ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 448. 52 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 117. 53 Briefkonzept Bonus an Rade [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. Da der Brief Reak
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Von diesem Wirklichkeitsverständnis ausgehend stellte Bonus Glauben als eine ursprüngliche und wirkungsmächtige Ausdrucksform des Individuums dar, die sich mit den Mitteln der Wissenschaft und der Logik nicht einholen ließ. Das unterstrich er in seiner kleinen, 1902 erschienenen Broschüre Religion als Schöpfung, dem ersten seiner im Eugen-Diederichs-Verlag veröffentlichten Bü cher, das sich als Rebellion eines modernen Religiösen gegen die kirchliche Theologie lesen ließ. Glauben wurde hier als Ereignis aufgefasst und mit Gefüh len verglichen, die als etwas Überwältigendes, „Heiliges“ den Seelenkern des Menschen betrafen.54 Doch lassen sich für diesen Gedankengang schon in frü heren Schriften Belege finden. Im Gegensatz zu Theologie und Wissenschaft, in denen es um rationale Verständigung ging – Bonus nannte das abwertend „Weltanschauung“ –, entsprang die wirkliche Religion als seelenhafte Erkennt nis der Welt dem Lebensvorgang selbst.55 Unter wissenschaftlicher Welter kenntnis, so meinte Bonus, verstand man im landläufigen Sinne den Anspruch, „möglichst allgemeingiltige, internationale, interkonfessionelle, interindividu elle Sätze“ aufzustellen, die dadurch „Wahrheit“ beanspruchen konnten.56 Für den Glauben hingegen hatte die erkenntnistheoretische Frage nach einer allge meingültigen Wahrheit gar keine Bedeutung, denn hier lag das Gewicht auf der „individuellen Farbe“ und „ihrer Entstehung aus dem persönlichen Ich“.57 Dem „Materialismus des Wissens“ stellte er die innere, religiöse Erfahrung als das Gebiet einer subjektiven Welterschließung gegenüber, deren Ankerpunkte das individuelle „Selbstbewußtsein“ und die „Persönlichkeit“ waren.58 Aus diesem Grunde war der Bereich des Glaubens nicht „innerhalb gewisser Grenzen“ der tionen auf den umstrittenen Artikel: Es ist mein Amt nicht (CW 10 (1896), 184–185) vom Frühling 1896 erwähnt, dürfte er kurz nach der Veröffentlichung verfasst worden sein. Der Studienfreund A rthur Titius hatte wie Bonus in Berlin bei Bernhard Weiss und Juli us Kaftan studiert und 1895 den ersten Band einer Theologie des Neuen Testaments heraus gebracht: Jesu Lehre vom Reiche Gottes, Freiburg 1895. Bei „dem Holtzmann“ handelte es sich um Heinrich Julius Holtzmann: Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 1885. 54 Bonus: Religion als Schöpfung, 48. 55 Ders.: Vom Kampfe um die Weltanschauung, in: CW 16 (1902), 248–251, 249; vgl. ders.: Literaturbriefe. Ueber Religion und Weltanschauung, in: CW 23 (1909), 620–622; ders.: Weltanschauung, in: Kunstwart 23/4 (1909/10), 273–276. Vgl. auch zur Religion als einer aus dem „glühenden Herzen“ entspringenden Welterfassung, die den Menschen zwin gend erfasst, den Abschnitt: Gehorsam, in: Zwischen den Zeilen I, 77–80. 56 Ders.: Gotteserkenntnis. Zur Germanisirung des Christentums 2, in: CW 13 (1899), 81–85, 82; vgl. auch die scharfe Abweisung gegenüber Versuchen, theologische Aussagen mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft in Einklang zu bringen, die Bonus für „apologeti sche Sophisterei“ hielt: Theologie und Religionswissenschaft, in: DLZ 17 (1896), 993–1000. 57 Ebd., 83. 58 Diese prägnante Formulierung zitiere ich aus dem späteren Text: Religion als Wille,
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Vernunft, der Moral oder der Logik anzusiedeln, wie Bonus mit einer Spitze gegen den Marburger Neukantianismus bemerkte.59 In Wahrheit, betonte Bonus, entstünde Religion als eigenständige Daseins äußerung des Einzelnen aus der „Verbindung zwischen der Seele und ihren Er kenntnissen“.60 In dieser Feststellung lag eine Akzentverschiebung gegenüber dem bei den Zeitgenossen überwiegenden Religionsverständnis vor. Bonus skizzierte Religion als eine menschliche Erkenntnisweise, die von der Erfah rung des Individuums ausging und alle partikularen Wissensbereiche überkup pelte. Deutlich trat die von der Welterschließung des Menschen ausgehende Neubestimmung des Glaubens als Seelenprovinz in seinem bereits erwähnten Buch zur Religion als Schöpfung zu tage. Schärfer noch akzentuierte er seinen Widerspruch gegen die christliche Überlieferung bereits 1896 in einem mit „Glauben ist Schaffen“ überschriebenen Aufsatz in seinem theologischen Haus blatt, der Christlichen Welt.61 „Die Gottheit will geschaffen, nicht für wahr ge halten werden“, formulierte er hier seine zunächst paradox anmutende Ansicht, die sich als Affront gegen das christliche Offenbarungsverständnis gab, vor al lem jedoch darauf zielte, den Glauben als Erfahrungstatsache und nicht auf grund theologischer Ableitung zu begründen.62 Außerhalb des menschlichen Bewusstseins war jegliche Vorstellung einer Gottheit bedeutungslos, war der Gang seiner Argumentation. Sie erschloss sich in einer stufenartigen Bewegung von Innen nach Außen, bei der der Einzelne zunehmend ein klares Bild von der Welt und von sich selbst gewann.63 Jena 1915, 116; sachlich durchzieht der Gedanke Bonus’ Religionstheorie von ihren Anfän gen an. 59 Der Neukantianismus erlebte im Umfeld der Marburger Fakultät bei Wilhelm Herr mann und Rade seine theologische, bei Paul Natorp und Hermann Cohen seine philosophi sche Ausprägung, vgl. Bonus’ Rezension zu Paul Natorps gleichnamigem Buch: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 946–950; ders.: Der lange Tag, Heil bronn 1905, 43. Bonus lehnte die pädagogisch-ethische Wendung, die Natorp in seinem Buch für den Religionsbetrieb forderte, mit Schärfe ab (s. im Kontext auch die Besprechung von Paul Chapuis: Verschiedenes: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 715–716). 60 Ders.: Religion als Schöpfung, 11. 61 Ders.: Glauben ist Schaffen, in: CW 10 (1896), 10–12. Noch einmal wurde der gedank liche Faden der Erschaffung Gottes 1904 in der Christlichen Welt aufgegriffen, um die sub jektiv erfahrene religiöse Wahrheit und die in Bonus’ Augen nicht existente objektive „Na turwahrheit“ voneinander zu trennen: Schöpferisches Leben, in: CW 18 (1904), 657–659; Künstlerische und religiöse Wahrheit, in: ebd., 684–685; Paradoxie des religiösen Urteils, in: ebd., 969–971. Vgl. als Überarbeitung von bereits veröffentlichten Artikeln: Von der Fremd religion. Glauben ist Schaffen (1895), in: Germanisierung des Christentums, Jena 1911, 5. 62 Ebd. 63 Ders.: Die Treppe der Luisetta, in: CW 9 (1895), 714–715.
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Ganz ähnlich konnte Arthur Bonus auch von der „Schöpfung der Seele“ spre chen, die ihre je eigene Ausprägung erst in der Begegnung mit der biographi schen Wirklichkeit des Einzelnen – dem „Leben“ – erhielt.64 Vom christlichen Wunderglauben und den biblischen Heilstatsachen war hier keine Rede mehr. Der Mensch wurde zum Träger des göttlichen Handelns, dass sich ausschließ lich als innere Regung in seinem Bewusstsein beschreiben ließ. Die „Gottheit“, hielt Bonus diesen Gedanken apodiktisch fest, „schafft in uns und nur in uns“.65 Der von ihm vorgedeutete Zug zur Individualisierung der Religion bedeutete, dass das Bewusstsein zu der menschlichen Geistesregion werden musste, an der sich die Wahrheit des religiösen Geschehens finden und bemessen lassen würde: Die Wirklichkeit der Religion ist das Ich. […] das Ich, das im realen schöpferischen Kampf der Wollungen und Gefühle, der versucherischen niederen und der offenbarenden höheren Instinkte und Kräfte zu wachsen sucht; das Ich, das nicht spiegelt und spiegelficht, sondern wertet und überwindet; und das alles nicht irgendwo in Büchern und Liedern, sondern im ganz gewöhnlichen Leben und Lebenskampf.66
Nach Bonus war es das eigentliche Wesen der Religion, das Ich aus dem Wider spiel der instinkthaft-natürlichen Kräfte herauszuheben und gestärkt aus dem Drama des Daseinskampfes hervorgehen zu lassen. Sie war Teil des „Lebens prozesses“, in dem sich das Individuum als eigenständiges Ich bewähren musste.67 Die Ablösung des religiösen Erkennens von der Metaphysik und der Wissen schaft war keine Neuerrungenschaft der Verkündigung von Arthur Bonus. Aus seiner theologischen Umgebung lässt sich Wilhelm Herrmann nennen, der aus drücklich den Verkehr der Seele des Einzelnen mit Gott zu einem Grundstein seiner systematisch-theologischen Überlegungen gemacht hatte.68 Für Herr mann wie für Bonus war das innere Erlebnis und die damit verbundene Er schließung der Welt der Ort der Religion. Durch die Religion als inneres Erleben gewann der Mensch eine „Vorstellung von einem eigenen Selbst“ und erschloss sich so den „Zusammenhang der Welt, die wir für uns allein erleben“: „In die sem individuellen Erleben hat die Religion ihre Stelle, hier gewinnt sie auch die Wahrheit, die ihr zukommt.“69 Um diese „Art und Kraft der Religion scharf zu erfassen“, verwies Herrmann ausdrücklich auf Bonus’ Schriften: 64
Ders.: Die Schöpfung der Seele, in: CW 8 (1894), 1089–1090. Ders.: Religion als Schöpfung, 53. 66 Ebd., 50 f. 67 Ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 446. 68 Vgl. zu diesem Peter Fischer-A ppelt: Wilhelm Herrmann, in: M artin Greschat (Hg.): Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1978, Bd. 1, 181–197; Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, Tübingen 1997, 781–783 69 Wilhelm H errmann: Die Lage und Aufgabe der evangelischen Dogmatik in der Gegen wart, in: ZThK 17 (1907), 1–33.172–201.315–351. 65
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Ich möchte bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, welche Hilfe uns in dieser Beziehung die tiefdringende Arbeit von A. Bonus leisten kann […]. Auch wenn man ihm in seinen phi losophischen Voraussetzungen und in seiner Beurteilung der kirchlichen Lage nicht immer zustimmen kann, wird man von der scharfen Charakteristik der eigentümlichen Art des reli giösen Denkens so wie selten lernen können.70
Bonus rückte die Rede von der Seele als schöpferischem Glaubenskern des Menschen jedoch gezielt von den theologischen Traditionsmodellen ab und nä herte sich darin den neureligiös-lebensreformerischen Diskursen an. Rudolf Eucken, der Philosoph der idealistisch-neureligiösen Bewegung um die Jahr hundertwende, begründete den Wahrheitsgehalt der Religion darin, dass nur sie eine unmittelbare, unabgeleitete Welterfassung ermögliche.71 Von „Kultur der Seele“, „Seelenkunst“ und dem inneren „Ausdruck“ war im Kunstwart die Rede; bei dem Diederichs-Autor Karl König wurde das religiöse Empfunden Zwischen Kopf und Seele verortet. Hier ging es darum, die Eigenständigkeit des Ichs gegenüber dem Weltgetriebe zu bewahren. In der religiösen Individualisie rung wurde nach einer institutionsfreien Frömmigkeit gesucht, welche die Selbstentfaltung des Subjekts in der Moderne gegen Rationalismus und Ver massung zum Gegenstand hatte. Damit ist ein Themenkreis bei Bonus benannt, der im bürgerlich-reformeri schen Spektrum anschlussfähig war. Dass die „offizielle“ Religion mit ihren Verhaltensregeln und normativen Glaubenssätzen einer gleichsam „unterirdi schen“ Religiosität im Judentum gegenüberstehe, die ihren eigentlichen Gehalt ausmache, war ein Gedanke, den Martin Buber in seiner frühen, reformreli giösen Phase entfaltete und den er mit Bonus teilte.72 Wie Bonus sah er in der Aussprache des Gemüts den Kern des religiösen Bewusstseins. Auch auf eine engere Parallele aus der Soziologie der Jahrhundertwende lässt sich hinweisen, die widerspiegelt, dass Bonus’ Vorstellung von der Religion als 70 Ders.: Neu gestellte Aufgaben der evangelischen Theologie, in: ZThK 22 (1912), 132– 139.193–202; vgl. Stenglein-Hektor: Religion im Bürgerleben, Münster 1997, 125. Herr mann bezog sich auf „die überaus gehaltvollen Schriften“: Zur Germanisierung des Christen tums und: Vom neuen Mythos, Jena 1911. Gegenüber Rade machte Herrmann die Ankündi gung, dass er „einen Aufsatz über den Neuen Mythos von Bonus schreiben“ wolle, was er leider nicht realisierte (Brief Herrmann an Martin Rade 1912 [UB Marburg, Nachlass Rade]). Nach Stenglein-Hektor äußerte sich Herrmann öfter anerkennend zu Aufsätzen von Bonus (ebd., 123, Anm. 131). 71 Vgl. Rudolf Eucken: Der Wahrheitsgehalt der Religion, Leipzig 1901, 273; vgl. Carl Bonhoff: Rez. Der Wahrheitsgehalt der Religion, in: PrM (1901), 74–81; vgl. Zum Problem der Wahrheit der Religion, in: CW (1901), Nr. 26. 72 Vgl. M artin Buber: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt 1911, 25; vgl. Brief Buber an Bonus, 2. November 1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_008]; vgl. zu Bubers religions philophischer Entwicklung Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu Ich und Du, Königsstein 1979.
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Schöpfung einer inneren Wirklichkeit nicht die singuläre Verirrung eines ge scheiterten protestantischen Theologen war. Aus lebensphilosophischer Sicht arbeitete der Kulturphilosoph Georg Simmel seit der Jahrhundertwende an ei nem Religionsbegriff, der diese als eigenständige Lebenssphäre auffassen woll te, die sich nicht aus anderen Bereichen ableiten oder durch eine wissenschaftli che Welterklärung ersetzen ließ. Für Simmel war Religion eine Schöpfungsleis tung des Bewusstseins, das ein ästhetisches, wertendes Universum neben die erfahrene Welt stellte. „Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal“, schrieb Simmel in seiner 1906 erschienenen religionsphilosophischen Schrift Die Religion. Wie jede geistige und soziale Funktion des Menschen entstand für Simmel auch die Religion auf dem „Schöpferweg seiner Seele“, die wertend und beziehungssetzend die Wirklichkeit noch einmal hervorbringen musste.73 Dass Arthur Bonus ein ernsthaftes religiöses Anliegen verfolgte und dieses mit Ge org Simmel teilte, verkannte auch Adolf Harnack trotz seiner freundlich-distan zierender Seitenbemerkungen nicht. Als Simmel sich im Frühling 1905 zu einer Italienreise aufmachte, empfahl Harnack ihm sehr, den Kontakt zu Bonus in Florenz zu suchen. Die gemeinsame Suche nach einer Bestimmung der Fröm migkeit als menschliche Welterfassung schien doch nahezulegen, dass, wie Simmel brieflich Bonus mitteilte, „eine Begegnung zwischen uns nicht un fruchtbar sein würde“ – sie lässt sich leider nicht rekonstruieren.74 Sie deutet aber an, dass die voluntaristische Zuspitzung und Übertragung in ein lebensphi losophisches Sprachsystem, die Bonus vornahm, ein breiter angelegtes religiö ses Bedürfnis wiederspiegelte. Ein scharfer Kritiker der modernen Theologie wie Franz Overbeck hielt diese Thesen allerdings für vollständigen „Unsinn“.75
2. „Arbeiten und nicht verzweifeln“: Der religiöse Weg der Persönlichkeit Die Geschichte der Menschheit ist das Leben Gottes, die des Christentums ist sein Atmen. Durch Christus atmete der lebendige Gott auf Erden, zog an, was reif zu persönlichem inne ren Leben war, in das Reich, in das Walten seiner Persönlichkeit hinein. Das sind Christen: Menschen, in denen die Kraft der Persönlichkeit wirksam ist, durch die der lebendige Vater gott atmet: anziehend und zurückstoßend zugleich.76 73
Georg Simmel: Die Religion (1906/²1912), in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt 1995, 39–118, 112 f. Die Ähnlichkeit zwischen Simmel und Bonus’ Bändchen Die Kirche wurde auch von Paul Göhre hervorgehoben (Brief Göhre an Bonus, 16.8.1909 [ebd., 13_003)]. 74 Brief Simmels an Bonus, Florenz 20.9.1909 [ebd., 13_004]. 75 Franz Overbeck: Werke und Nachlaß. Kirchenlexicon Texte. Ausgewählte Artikel J–Z, Stuttgart 1995, 302 (Eintrag: Religion und Kunst (Allgemeines)). 76 Bonus: Zwischen den Zeilen I, 63.
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Das Selbst und sein Weg zu „persönlichem Leben“ bildeten die Pole, zwischen denen Arthur Bonus die Religion als eine innere Bewegung ansiedelte. Darin fand er die Kernaussage eines unverstellten Christentums, wie das oben zitierte Textstück nahelegt, das Bonus mit „Evangelium der Kraft“ überschrieben hatte. Sein Ziel war die Entwicklung eines „inneren Selbstgefühls“, wie Bonus es an einer anderen Stelle ausdrückte.77 Dazu musste der Mensch in die Tiefenschich ten seines Wesens vordringen und alle Kulturvorgaben von sich ablegen. Auf diesem Weg nach Innen, meinte Bonus, stieg der Einzelne in die höchst anstren gende, den ganzen Menschen umfassende Lebensarbeit der Religion ein.78 Am Begriff der Persönlichkeitsreligion wird einerseits die kulturkritische Stoßrichtung seiner Gedanken deutlich, andererseits gewann von hier aus seine vom Vitalismus durchzogene Ideenwelt an Kontur. Denn nur der schöpferische Mensch als Persönlichkeit konnte sich, so seine Ansicht, aus dem Getriebe der Massengesellschaft hervorheben. Bonus schloss sich an eine Begriffsfindung an, die in den religionstheoretischen wie kulturkritischen Debatten der Jahrhun dertwende Konjunktur hatte.79 Zuerst hatte er 1894 in einem kurzen religiösen Aufsatz in der Christlichen Welt den Gedanken formuliert, dass „Seligkeit“ gleichsam aus dem Streben hervorgehe, zur eigenständigen Persönlichkeit zu werden.80 Für Bonus lag im Persönlichkeitsbegriff der eigentliche, ursprüngli che Gegenstand des Evangeliums: Nichts anderes habe Jesus verkündigt, war seine Überzeugung, als „‚Persönlichkeit‘, ‚Charakter‘, oder wie wollen wir es nennen? ‚Seele‘ nennt es die Bibel. Bilder für noch nicht Vorhandenes, noch erst sich Schaffendes – Sehnsuchtnamen.“81 Jesus habe gepredigt, dass der Mensch als Zeichen seiner Freiheit ein seelisches Kraftzentrum entwickeln müsse, „eine Art geistige Wirbelsäule“.82 Im Kern, so versicherte er, war es der christlichen 77 Ders.: Etwas über religiöse Erziehung. Zur Germanisirung des Christentums 4, in: CW 13 (1899), 125–127. 78 Ders.: Vom Glauben, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669–676, 674. Augenfällig trat dieses aktivistische, auf das Wachsen und Gestalten der Persönlichkeit bezogene Glaubens verständnis beispielsweise auch in einer Auslegung zu Joh 14,27 hervor. Der Friede, mit dem Christus die Jünger aussendet, „war nicht“, interpretierte Bonus, „wie die Welt ihn giebt, die spricht: Hier strecke dich ein wenig, ruhe ein wenig aus; sondern es war der Friede, der das Herz ruhig und unruhig zugleich macht, der eine Kraft in ihm wird, die den, der sie ergriff, hinaustreibt zu unaufhörlicher Anstrengung und Arbeit.“ Ders.: Zwischen den Zeilen I, 71. 79 M ichael Murrmann-K ahl: Die entzauberte Heilsgeschichte, Gütersloh 1992, 485. 80 Bonus: Von den Nebeln, die die Sonne suchten, in: CW 8 (1894), 1082. Aus der reichen Zahl an weiteren Belegen vgl. ders.: Gotteserkenntnis. Zur Germanisirung des Christentums 2, in: CW 13 (1899), 81–85; ders.: Zwischen den Zeilen I, 58–64; ders.: Religion als Schöp fung, 13 f.; ders.: Der lange Tag, 124 f. 81 Ders.: Religion als Schöpfung, 54. 82 Ebd.
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Frömmigkeit darum zu tun, die Seele aus allen Verbiegungen und kulturellen Zwängen zu befreien.83 Den Antrieb zur Religion lieferte nach Bonus die Erlösungssehnsucht des Menschen, der nach Zukunft und seelischem Selbstgewinn, nach „Wesen“ und „Sein“ strebe.84 Es war für Bonus Erlösung, wenn dem Einzelnen der Durch bruch zum „glühenden Unterstrom des Lebens“ gelang, im Gegensatz zur Welt abkehr, die er in der christlichen Verkündigung fand. Der erlöste Mensch würde sich kraftvoll von den Beschränkungen, die ihm in der Zivilisation auferlegt waren, im Inneren lösen.85 Damit beschrieb er Frömmigkeit als Kontrast zur Kultur, zur Moral und zu den etablierten Bildungsgütern, durch den sich beim Einzelnen ein Bewusstsein der Freiheit und der Selbstgewissheit einstellte. Re ligion war für Bonus der entscheidende Entwicklungstrieb zum „Übersich selbsthinauskommen“ des Menschen.86 Das Durchdringen zu Seelenhaftigkeit und wahrem Sein behinderte freilich das Korsett der zivilisatorischen Regeln, die Lebensangst und das Unvermögen wirklicher Gemeinschaftsbildung. Bonus bezeichnete das mit dem biblischen Begriff „Gesetz“. Die Äußerungen der modernen Verstandeskultur umlagerten gleichsam als Isolierschicht die menschliche Seele und verhinderten ihr Vor dringen zu wahrer, innerer Selbständigkeit.87 Um diese zu erreichen, musste der Einzelne aus den Banden der Allgemeinheit ausbrechen, wie er in einer soziala ristokratischen Wendung ausführte.88 Zivilisation und fromme Sitte standen der wahren „Persönlichkeitsreligion“ im Wege.89 Bonus beschrieb den Glaubens vorgang als eine existentielle Bearbeitung der Welt, die zur Stärkung und Erhe bung des Ichs diente: Es handelt sich darum, das seelische Material bis zum äußersten Grad von Helligkeit, von – wenn man so sagen darf – Selbstheit, von Lauterkeit durchzuarbeiten. […] Es handelt sich […] um ein lebendiges Lebensgefühl, in der Berufsarbeit und dem täglichen Schicksal ent springend, den Menschen erlösend, weil über Zeit und Raum unbedingt erhebend.90
Auch wenn der Mensch die Sehnsucht nach Befreiung in sich verspürte – „un verstandenes Sehnen der Seele, wie bist du stark!“, rief Bonus 1898 in seiner Der Gottsucher überschriebenen Sammlung aus –, fiel er in seinen gebundenen 83
Ders.: Der lange Tag, 126. Ders.: Der Gottsucher, 15 f. (unter dem Titel „Schöpfung Gottes“). 85 Ders.: Zwischen den Zeilen II, 109. Vgl. auch ders.: Religion als Schöpfung, 19: Der religiöse Mensch gewinne eine „ruhige beglückende Kraftfülle“. 86 Ders.: Vom neuen Mythos, 46. 87 Ders.: Deutscher Glaube, 3; ders.: Der lange Tag, 65; ders.: Religion als Schöpfung, 13. 88 Ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571, 563. 89 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 61. 90 Ders.: Der lange Tag, 124 f. 84
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Ursprungszustand zurück und suchte Zuflucht im „Verstand“.91 Die Seele muss te folglich geweckt und auf die „treibende Macht“ der Unendlichkeiten ver wiesen werden, um nach wirklicher Gotteserfahrung zu rufen und sich nicht in religiösen Surrogaten zu verfangen.92 Bonus wollte die Verknüpfung von Sünde, Rechtfertigung und Buße lösen, die er in der protestantischen Predigt allenthalben wahrnahm.93 Für ihn war die Begegnung mit dem, was die christliche Überlieferung als „Sünde“ bezeichne te, Vorbedingung für die freie Gottesbegegnung. Zur Befreiung der Seele war es unerlässlich, dass die Menschen „ihr Leben ganz leben lernen“ und dabei auch die Niederungen des Daseins erfuhren.94 Zu ihrer Befreiung bedurfte es nicht der Versöhnung eines zornigen Gottes oder des Kreuzes, vielmehr mussten sie durch ein existentielles Erlebnis gezwungen werden, ihr wahres Wesen zu er kennen. Nicht in den ummauerten Bezirken der institutionalisierten Religion, sondern „bei den Ungedrillten, bei Sündern und Zöllnern“ war die eigentliche Dynamik des Glaubens aufzufinden: Ich sage dir, […] studiere das Leben, Wirken und Walten der ungekünstelten, unerzwunge nen, ungedrillten, der wahren Kräfte Gottes in Menschenherzen und in dir, damit du Gewiß heit erlangest wie ich, und – sei nicht ungläubig, sondern gläubig.95
Hier schlug sich sein emphatischer Lebensbegriff nieder: Unter „Leben“ ver stand Bonus nicht einfach das biologische Existieren, sondern ein zielgerichte tes, sinnhaftes und organisches Gesamt, das natürliche und geistige, historische und evolutive Prozesse gleichermaßen verband. In diesem Geschehen stellte Bonus den Glauben als Forderung nach einer ununterbrochenen Entwicklungs arbeit am Selbst dar, bei der die Seele ihre Hemmnisse überwand und schließ lich als schöpferische und kraftvolle Persönlichkeit aus dem Lebensstrom her vorging. Obwohl Bonus auf kirchlicher Seite nur ein unentschiedenes „Murmeln von der Persönlichkeit“ wahrnehmen konnte, besaß der Begriff auch in der evange lischen Theologie der Jahrhundertwende Relevanz.96 Tatsächlich war er wesent lich präsenter, als Bonus’ Äußerungen Glauben machten. Bereits 1879 hatte der Ritschlianer Wilhelm Herrmann seiner Hochschätzung dieses Konzeptes Nach druck verliehen: „Das Wort, welches dem Menschen das Welträthsel löst, kann 91
Ders.: Der Gottsucher, 15. Ders.: Ein Brief, in: Der moderne Mensch und das Christentum, 14.16 f. 93 Ders.: Rez. Die Rabenaasstrophe, in: CW 13 (1899), 42–44. 94 Ders.: Die Reise ins Negativ, in: CW 12 (1898), 578–581; vgl. ders.: Die Treppe der Luisetta, in: ebd., 9 (1895), 714–715. 95 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 75. 96 Ders.: Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535, 1529. 92
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nicht anders lauten als: Persönlichkeit“.97 Im Ruf nach einer „Rettung der Per sönlichkeit“ schlug sich die wachsende Verunsicherung angesichts der Moderne nieder.98 Die „Persönlichkeit“, verstanden als eigenständig gebildete Individua lität, galt es unter den Bedingungen der Massengesellschaft gegen ökonomische Zwänge und Beliebigkeit abzusichern.99 In den kulturprotestantischen Zeit schriften erwuchs verstärkt ein Interesse an der Biographie großer Persönlich keiten, die anschauliche Zugangsmöglichkeiten zur Wirkung und individuellen Prägung durch die Religion bieten sollte. Wiederholt wurde ausgelotet, dass der Mensch seine Eigenart und Selbstheit erst durch die Religion gewann.100 Das Persönlichkeitsideal stelle einen Widerspruch gegen Intellektualismus und „Verstandeskultur“ dar, hieß es beispielsweise in der Christlichen Welt.101 Durchaus kritisch wurde angemerkt, dass sich unter diesem Begriff auch aller lei Beliebigkeiten versammeln konnten, wenn das Individuum nur auf Grund lage des „gefühlsmäßigen Erlebens“ verstanden und der „Mensch als Kunst werk“ gedeutet wurde.102 Es war Johannes Müller, der stellvertretend für die Vertreter des Persönlich keitsideals in der Christlichen Welt die Stimme erhob.103 Er verwies auf das Diskursfeld einer modernen Religiosität am Rand des Kulturprotestantismus, 97 Wilhelm H errmann: Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlich keit, Halle 1879, 204. 98 Graf: Rettung der Persönlichkeit. 99 Die Persönlichkeit als Bildungsaufgabe war mehrfach Diskussionsgegenstand des Evangelisch-sozialen Kongresses, vgl. etwa die Vorträge von A dolf H arnack: Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bildungsstrebens, in: Verhandlungen des Evange lisch-sozialen Kongresses in Dortmund im Mai 1902, Göttingen 1902, 12 ff., oder die Dis kussion zwischen Ernst Troeltsch und Julius Kaftan, Verhandlungen des Evangelisch-sozia len Kongresses in Breslau, Mai 1904, Göttingen 1904, 40 ff. 100 Vgl. Dietrich Rössler: Religion und soziale Verantwortung im Kulturprotestantis mus. Die subjektive Religion und die Lebenspraxis der Christen, in: Müller (Hg.): Kulturpro testantismus, Gütersloh 1992, 183–189, 184 mit Verweisen auf die schriftstellerische Tätig keit Otto Baumgartens als Biograph, der die Lebenswege von mehreren bedeutenden Persön lichkeiten als Zeugnis für die Ausgestaltung von religiöser Individualität durchleuchtet hatte. 101 Georg Koch: Zur Beurteilung der modernen Persönlichkeitskultur, in: CW 22 (1908), 399–400.554–562.578–581.602–608. Der Aufsatz sollte Leitsätze für eine Debatte unter den Freunden der Christlichen Welt in Darmstadt anbieten. 102 Ebd. 103 Johannes Müller: Einige Bemerkungen zu dem Aufsatz über moderne Persönlich keitskultur, in: CW 22 (1908), 656–660. Müller benannte namentlich die Autoren, die sich mit dem Persönlichkeitsbegriff beschäftigten: Vergleichbare Ansichten wie er selbst vertra ten die „Mitarbeiter am ‚Suchen der Zeit‘ [Friedrich Daab und Arthur Bonus], [Friedrich] Lienhard, [Heinrich] Driesmans, [Houston St.] Chamberlain, Karl König, [Lothar von] Kunowski, [Bruno] Wille, die Mitarbeiter des Kunstwarts, [Friedrich] Naumann, [Gottfried] Traub und andere“.
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dem auch Bonus angehörte. Müller, Bonus, Friedrich Daab, Karl König, Fried rich Naumann oder Gottfried Traub versuchten jeweils, das Ich als Ort authen tischen Erlebens und als eigentlichen Sitz der Menschlichkeit festzuhalten, das es vor den Negativfolgen der Zivilisation zu bewahren und zu Eigenständigkeit auszubilden galt. Gemeinsam war diesen Schriftstellern, dass sie ein individua listisches und untheologisches Glaubensverständnis zu vermitteln suchten. Mit dem Ruf nach einer vollen Entfaltung der eigenen Individualität wollten sie sich nicht völlig dem christlichen Bezugsrahmen entziehen, sondern stellten die per sönliche Selbstvervollkommung als Kulturaufgabe dar. Die Entwicklung der Persönlichkeit, die mehr als die „Materie“ wiege, gehöre zu den entscheidenden sozialen und kulturellen Aufgaben des freien Protestantismus, betonte Friedrich Naumann.104 Den Menschen als etwas „Eigenes, Selbständiges, Ursprüngli ches“ wahrzunehmen, ihn von der „Umwelt“ abzugrenzen und in „ein vollkom men harmonisches Verhältnis zum eigenen Innenleben“ zu versetzen, wurde auch im Protestantenblatt als Zukunftsaufgabe des freien Protestantismus ein gefordert.105 Es war verfehlt, „bloß äußerliche Zivilisation“ als Bildung- und Entwicklungsziel zu verfolgen oder gar in „Egoismus“ zu verfallen, vielmehr musste die „Entwickelung des Seelenlebens“ zum Kernanliegen weiterer Fort schrittsarbeit erklärt werden, ohne dabei die ausgleichende Wirkung der „so zialen Triebe“ zu übersehen. Die Denkfigur der „Harmonie“ des Einzelnen in seiner gesellschaftlichen wie kulturellen Einbettung war hier prägend.106 Immer wieder beklagten sie die Uneinheitlichkeit der Moderne, die den einzelnen Menschen in unterschiedliche Lebenssphären aufzuteilen schien. Charakteris tisch findet sich diese Diagnose etwa in einem Aufsatz des modernen Pfarrers Friedrich Daab: Es fehlt die Einheit im ganzen und im einzelnen. Wir haben nicht, sondern wir suchen. […] Wir begehren danach. Wir warten darauf. Wir wollen es in uns und für uns schaffen. Die Diagnose des unruhigen, heftigen Herzschlags lautet: Sehnsucht nach Persönlichkeit.107
Die Ich-Werdung des modernen Menschen wurde als Bildungsaufgabe be schrieben, bei der Natürlichkeit eine wichtige Bedingung darstellte. Eine wirk liche Persönlichkeit sei „nichts Gemachtes, sondern nur ein Gewordenes“.108 104
Naumann: Die Stellung des freien Protestantismus zur Sozialpolitik, in: PrBl 41 (1908), 1082–1086.1106–1110. 105 H einrich Geffcken: Was fordert die moderne Gemeinde von ihrem Pfarrer?, in: PrBl 40 (1907), 1179–1186.1201–1208.1232–1237, hier 1182. 106 Ebd., 1184. 107 Friedrich Daab: Die Sehnsucht nach Persönlichkeit, in: Das Suchen der Zeit 1 (1903), 4–33, 6. 108 Ders.: Jesus von Nazareth, wie wir ihn heute sehen, Düsseldorf 1907, 9 f.
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Im Diederichs-Verlag, aber auch an anderen Publikationsorten konnten solche religiösen Persönlichkeitsratgeber erscheinen. Johannes Müller hatte sich mit den Grünen Blättern und ab 1904 dem Begegnungsort Schloss Mainberg ein eigenes Zentrum der Ich-Findung eingerichtet, das Trost und Orientierung ver sprach. Friedrich Daab war im Spektrum der modernen Theologie angesiedelt, veröffentlichte außer bei Diederichs unter anderem auch bei Mohr in Tübingen, bei Langewiesche in Düsseldorf oder in der Christlichen Welt und schuf sich schließlich mit den Jahrbüchern Das Suchen der Zeit ein einschlägiges Publika tionsorgan. Die Diederichs-Autoren Albert Kalthoff und Karl König schließlich gehörten dem Bremer Protestantenverein an und waren dem kulturprotestanti schen Publikum durch diverse Publikationsorgane wie das Protestantenblatt bekannt. Diese Religionsschriftsteller analysierten das religiöse „Erleben“ und den Widerstreit „zwischen Kopf und Seele“ als konträre menschliche Wahrneh mungsbezirke.109 Karl König etwa sah ähnlich wie Bonus im „Kopfregiment“ den Hemmstein einer freien Persönlichkeitsentwicklung, der das sonnen haft-schöpferische Element im Menschen zu erdrücken drohte.110 Der religiöse Mensch würde hingegen „seelische Selbsteinheit“ finden, während dem blossen Verstandesmenschen „seelische Selbstzerstreuung“ und „Selbstzerfahrenheit“ drohten.111 Das religiöse Wachstum des Ichs führe hin zu einem „Leben aus der göttlichen Wurzeleinheit alles Seins“.112 Wenn hier einerseits im Sinne einer neuen Innerlichkeit die Gestade des Bewusstseins ausgeleuchtet wurden, blieb die Argumentationsrichtung andererseits trotzdem auf reformerische Kultur ziele gerichtet. Die Selbstreform der Persönlichkeit sollte auf eine Gesellschafts reform durch Kulturarbeit hinwirken. Albert Kalthoff, der ab 1906 kurzzeitig als Pfarrer dem Monistenbund vorstand, zählte eine vertiefte „Kultur der Seele“ zu seinen religiös-weltanschaulichen „Zukunftsidealen“, die er als Bestandteil einer kommenden, sozialen Gesellschaftsreform verhandelte.113 Die Förderung der Persönlichkeit war demnach eine kollektive Aufgabe: „Aus dem Pöbel den Men schen, eine starke eigene und freie Persönlichkeit zu bilden, das ist der größte Dienst, den wir unserem Volke leisten können.“114 Auch darin gab es Berüh rungspunkte mit Arthur Bonus, dass sie in der Persönlichkeit einen kulturellen 109 Ders.: Gott und die Seele, Tübingen 1906 (untertitelt als „Wort vom religiösen Erle ben“); K arl König: Zwischen Kopf und Seele, Jena 1906. 110 K arl König: Zwischen Kopf und Seele, Jena 1906, 2 f. 111 Ders.: Religion und Lebensfreude, in: PrBl 43 (1910), 329–332.355–359.383–387, 329. 112 Ebd. 113 So die Zusammenfassung in einem Werbeprospekt für den Predigtband: A lbert K alt hoff: Vom inneren Leben, Jena 1908, vgl. H eidler: Der Verlag Eugen Diederichs, 285 sowie den Sammelband mit Texten von K althoff und Friedrich Steudel: Zukunftsideale, Jena 1907. 114 A lbert K althoff: Zarathustra-Predigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung Friedrich Nietzsches, Leipzig 1904, 92.
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Fortschrittsantrieb erblickten. Für Friedrich Daab etwa stellte die Persönlich keitssehnsucht die hauptsächliche „Triebkraft der Weltevolution“ dar.115 Ähnlich sah es Karl König, verstand die religiöse Arbeit an der Persönlichkeit als Bau stein zu einem „enthusiastischen Entwicklungsglauben“, der sich auf „das Kom mende“ richtete. Wer sich selbst zu einem persönlichen Ich habe ausbauen kön nen, habe den „Archimedischen Punkt“ gef unden, „von dem aus er Welt, Leben, Kultur bewegen, fördern, neuschaffen kann.“116 Besonders im Werk von Thomas Carlyle ließen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass die entscheidende Bedeutung für den historischen Fortschritt den großen Einzelpersönlichkeiten der Geschichte zukam.117 Für Carlyle war die Welt kein mechanistisches Gebilde, sondern von lebendigem Gottesgeist durch drungen. Für ihn waren es die „Helden“, die die Zeit gestalteten, weil sie von innerer, religiöser Wahrhaftigkeit getrieben zum „Leitstern“ für die Vielen wer den konnten.118 Darin lag ein Identifikationsmuster, mit dem sich die Führungs rolle der Gebildeten begründen ließ, wie etwa Otto Baumgarten ausführte. Ein sozialaristokratisches Rollenverständnis und ein bildungsbürgerliches Unbeha gen am Rationalismus konnten an Carlyle anknüpfen, der die Bedeutung der „Helden“ für die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft hervorgehoben und zur Bewunderung für das gestaltende Individuum aufgerufen hatte.119 Das „Mysterium der Persönlichkeit“, so fasste Wilhelm Bousset mit vergleichbarer Argumentationsrichtung in der Christlichen Welt zusammen, stand als „treiben de Grundkraft“ hinter der geschichtlichen Entwicklung.120 Für Bousset, wie für manche seiner theologischen Zeitgenossen, ließ sich Carlyle als ein „Prophet des neunzehnten Jahrhunderts“ feiern, der mit seiner Hochschätzung des Goethe- Zeitalters der deutschen Kultur eine Glanzzeit für die Entwicklung der germa 115
Friedrich Daab: Die Sehnsucht nach Persönlichkeit, in: Das Suchen der Zeit 1 (1903), 4–33, 8. 116 K arl König: Religion und Lebensfreude, 359. 117 Zur theologischen Carlyle-Rezeption mit Blick auf Jesus als Religionsgründer und ge niale Einzelgestalt im Kontext der liberalen Theologie vgl. Heinrich K ahlert: Der Held und seine Gemeinde, Frankfurt 1984. 118 Als Hauptwerk aus Rezeptionsperspektive können seine sechs Vorlesungen: Über Hel den, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte, Berlin 1893 (erste Über setzung 1853) gelten, die 1841 zuerst auf Englisch erschienen waren. 119 Vgl. Otto Baumgarten: Carlyle und Goethe, Tübingen 1906; ders.: Art. Carlyle, in: RGG1 1 (1909), 1578–1586. Baumgarten hob die Arbeit des Evangelisch-sozialen Kongresses als Verwirklichung Carlyle’scher Gedanken hervor, in dem die soziale Führungsrolle der Gebil deten institutionalisiert war. Zu Baumgarten vgl. H asko von Bassi: Otto Baumgarten. Ein „moderner Theologe“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt 1988, 295– 297; Wolfgang Steck (Hg.): Otto Baumgarten. Studien zu Werk und Leben, Neumünster 1986. 120 Wilhelm Bousset: Thomas Carlyle. Ein Prophet des neunzehnten Jahrhunderts, in: CW 11 (1897), 249–253.267–271.296–299.324–327, 299.
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nischen Völker voraussagte, und in seiner Ausmalung des heroischen Einzelnen kulturelle Selbstbilder der Gebildeten um die Jahrhundertwende bekräftigte.121 Die Einzelpersönlichkeit aus den Massen herauszuheben war Entwicklungs ziel und religiöse Aufgabe zugleich. Darüberhinaus waren diese Vorstellungen eng mit lebensreformerischen Zielsetzungen verbunden. Dies bekundete ein als Wandschmuck vertriebener Kunstdruck, den Bonus gemeinsam mit seiner Frau Beate Jeep gestaltet hatte und über sein lebensreformerisch-kulturprotestanti sches Netzwerk bewerben ließ. Dabei griff er die von Thomas Carlyle stammen de Losung „Arbeiten und nicht verzweifeln“ auf.122 Der modern gestaltete Steindruck zeigte „zwei sehnige Arme, die einen Pflug kräftig führen; schwarze Gewitterwolken, in der Pflugrichtung von Sonnenstrahlen durchbrochen;“ in den Gewitterwolken war in markigen Lettern der Satz Carlyles eingetragen.123 Die heroisierende Tendenz in Bonus’ Religionsverständnis kam in diesem Wandschmuck deutlich zum Tragen. Sie zielte auf Selbstüberwindung, Ausbau des Ichs und ein ungebrochenes Entwicklungsstreben. Ein Aufwärts schien durch menschliches Schaffen und Willenskraft erreichbar zu sein und die k ulturellen Gewitterwolken zu vertreiben, verhieß das Druckblatt. Dass sich Bonus’ religiöse Vorstellungen mit kulturkritischen und sozialen Bewusstseins lagen überschnitten, wird daran deutlich, dass sein Kunstblatt auch zum Sym bol für den von Adolf Damaschke begründeten „Deutschen Bund der Boden reformer“ wurde.124 Die von Bonus ersehnte „Persönlichkeitsreligion“ harmo nierte mit dem Streben der Bodenreformer nach einer Neukultur, die einerseits durch Sozialreform und Umverteilung der Besitzverhältnisse, aber auch aus den Wurzeln des Volkstums und der bäuerlichen Kolonialisationsarbeit im Inneren herbeigeführt werden sollte.125 Mit dem Carlyle-Satz wurde der charaktervolle Einzelne ins Zentrum gestellt, der sich mutig der Erneuerungsarbeit widmete. 121 Ebd. Das galt auch für andere Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule wie William Wrede oder Hermann Gunkel, vgl. H. Gunkel: Wilhelm Bousset, Tübingen 1920, 10 sowie im Rückblick auf die gemeinsame Studienzeit mit Bousset Ernst Troeltsch: Die ‚klei ne Göttinger Fakultät‘ von 1890, in: CW 34 (1920), 281–283, 282: „Und überdies waren wir jung, schwärmten, dichteten, wanderten, lasen Romantiker, Fichte, Carlyle.“ 122 Vgl. die Anzeige von M artin R ade: Verschiedenes. Arbeiten und nicht verzweifeln!, in: CW 12 (1898), 620 und die kurze, lobende Vorstellung des Blattes durch Eduard Platzhoff unter dem gleichen Titel in: CW 14 (1900), 1238. Zur Verwendung der Formulierung durch Bonus vgl. z. B. Arbeiten und nicht verzweifeln, in: CW 10 (1896), 787–788 und seinen anonym erschienenen Aufsatz: Sylvesterrede des Oberpfarrers Altmann an seinen Vikar, in: CW 9 (1895), 1240–1242. 123 So die Skizzierung in Rades Anzeige. 124 A dolf Damaschke: Zeitenwende, Leipzig 1925, 183. Als Abbildung im Organ der Bo denreformbewegung s. z. B.: Deutsche Volksstimme 14 (1903), 652. 125 Oben habe ich auf die Verknüpfung von seelischem Entwicklungsstreben und kultu reller Erneuerung hingewiesen, die Bonus in seinen Andachten über „Sozialismus des inne
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3. „In Fesseln und Banden“: Glauben als Willenskraft Ohne Zweifel war Bonus’ Suche nach neuer Frömmigkeit mit starken kultur kritischen Zügen gesättigt, die einen zeitdiagnostischen Zusammenhang mit seiner religiösen Suchbewegung herstellten. Für ihn war die Gegenwart eine Umbruchsphase, die den Anfang einer ersehnten Kulturwende herbeibringen, aber auch scheitern konnte. Von seinen kulturprotestantischen Zeitgenossen wurde es mitunter als überzogen empfunden, wie sehr Bonus mit den Rationa lisierungsprozessen der Moderne ins Gericht ging.126 Dramatisiert ließ er in sei ner 1897 erschienenen Textsammlung Deutscher Glaube in einem „Diarium der Hölle“ den Aufstieg von Technik und Wissenschaft als Komplott einer imagi nierten Unterwelt erscheinen, welche die menschlichen Lebensabläufe zu me chanisieren und die Religion in den Bereich der „aschgrauen Metaphysik“ zu verbannen drohe.127 Bonus malte als abstoßendes Symptom der Moderne das „gewaltige Maschinengespenst“ aus, das den Angriff auf die Persönlichkeit und die religiöse Welterfahrung durch „Wissenschaft“ und „Naturgesetz“ verkör perte.128 Der Materialismus und die städtische Industriekultur degradierten den Einzelnen zum auf Funktionalität getrimmten „Verstandestier“ und zum „Sin nenregister“, dem ein eigenständiges Einwirken auf sein Umfeld unmöglich wurde. Die Persönlichkeitsreligion war ein Weg, um den Mechanismen der Massenzivilisation zu entgehen.129 Bonus beklagte die Zivilisationszwänge des 19. Jahrhunderts, deren materia listische und intellektualistische Einseitigkeit zu überwinden war, um aus ihnen das religiöse Ich herauszulösen. Der krisenhafte Horizont, unter dem sich diese Kulturdiagnosen ansiedelten, wurde von Bonus in einer vom Sozialdarwinis mus inspirierten Sprache abgeschritten. Seine Äußerungen waren aufgeladen mit einer Metaphorik, die das religiöse Geschehen als kämpferisches „Ringen“ um „Macht“ und „Stärke der Seele“ erscheinen ließ. Seine teilweise präzisen ren Lebens“ für die nationalsoziale Zeitung Die Hilfe zum Ausdruck gebracht hatte (vgl. die gleichnamige Serie in: Die Hilfe 2 (1896), Nr. 10 vom 8. März; Nr. 11 vom 15. März; Nr. 12 vom 22. März; Nr. 14 vom 5. April; Nr. 15 vom 12. April; Nr. 16 vom 19. April; Nr. 32 vom 9. August; Nr. 34 vom 23. August). Der Wandschmuck „Arbeiten und nicht verzweifeln“ stellt gleichsam eine Illustration dieser Artikelreihe an anderem Ort dar. 126 Julius Kaftan warf Bonus mit Blick auf dessen Band zum Deutschen Glauben recht unverblümt vor, dass seine Darstellung ins „unverfälscht Abstruse“ auslaufe und lehnte eine Rezension ab: „Kurz, Sie hätten diese manierierte Phantastik nicht drucken lassen dürfen“ (Brief Kaftan an Bonus, Berlin, 29.11.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_006]). 127 Bonus: Deutscher Glaube, 75. 128 Ebd., 60 f.; 65 f. 129 Ebd., 3; 39 f. Vgl. ders.: Zwischen den Zeilen I, 78 f.; ders.: Pedanten und Philister, in: CW 12 (1898), 136–137; ders.: Religion als Schöpfung, 13 f.
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Diagnosen zur Lage des kirchlichen Protestantismus um die Jahrhundertwende waren mit Äußerungen durchsetzt, die das gesellschaftliche Zusammenleben als dramatischen Akt der Selbstbehauptung schilderten und in einen biologisti schen Bogen einfügten. Mit dem wissenschaftlichen Naturbegriff und der kon ventionellen Moral benannte er zwei Mächte, die für ihn unter der Überschrift des „Gesetzes“ die hauptsächlichen Gefahren für die Freiheit der Menschen seele darstellten. Bereits in seinem 1895 erschienenen Andachtsbuch Zwischen den Zeilen mahnte er, dass die unpersönlichen Mächte der Wissenschaft und der Moral den Einzelnen „in Fesseln und Banden geschlagen“ hätten.130 Nach der Jahrhundertwende konstatierte er, dass die aktuelle „Lage kritisch und gefähr lich“ für die Freiheit und Selbständigkeit der Persönlichkeit geworden sei.131 Unter den Vorzeichen von Industrie und urbaner Vermassung waren Mensch und aufstrebende Kultur einer entfremdenden Moral und dem veräußerlichen den „Naturgesetz“ ausgeliefert. Ohne eine religiöse Gegenbewegung, so seine Prognose, würde „Knechtschaft für den Menschengeist heraufziehen“.132 Mit dem „Gesetz“ griff Bonus auf einen Zentralbegriff der Theologie Luthers zurück, der in seiner Auslegung der biblischen Botschaft zwischen Gesetz und Evangelium unterschied. Unter Evangelium war dabei die befreiende Erlö sungsbotschaft Jesu zu verstehen, während unter dem Gesetz der Anspruch Gottes an den Einzelnen gefasst wurde. Bonus verlagerte den Gesetzesbegriff aus seinem lutherischen Kontext in die religiösen Abgrenzungsdebatten der Gegenwart. Die Persönlichkeit sei zwischen „Naturgesetz und Sittengesetz, -gesetz, -gesetz“ gefangen, schrieb er 1898 mit einer überzeichnenden Formu lierung in Der Gottsucher.133 Die Uminterpretation des theologischen Gesetzesbegriffs als Prinzip der Ent fremdung lässt sich an seiner Auseinandersetzung mit dem Monismus und der philosophisch-theologischen Ethik skizzieren. Die Ablehnung des Monismus als gesetzlicher Wirklichkeitsauffassung trat etwa in seiner Verteidigung gegenüber den Angriffen Ernst Haeckels zu Tage, der in zahlreichen populären Schriften die christlichen Gottesvorstellungen als ein von der Entwicklungslehre überholtes Postulat betrachtet und als „gasförmi ges Wirbeltier“ verspottet hatte. Den „Klopffechter“ Haeckel, der die biblisch- anthropomorphen Gottesbilder und den christlichen Unsterblichkeitsglauben aus naturwissenschaftlicher Sicht als unmögliche Konstrukte zu entlarven ge dachte, wies Bonus darauf hin, dass sich dieser in seiner Polemik bloß gegen die mythologische Entfaltung einer existentiellen Grunderfahrung des Menschen 130
Ders.: Zwischen den Zeilen I, 77–80. Ders.: Religion als Schöpfung, 13. 132 Ebd. 133 Ders.: Der Gottsucher, 42. 131
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gerichtet und damit am Kern des religiösen Denkens und Erlebens vorbeigezielt habe. Die Religion sei aus der Auseinandersetzung des Menschen mit Welt und Natur entstanden: Der Mensch wählte für seine aus erhabnem Trotz gegen den Naturzusammenhang herausge borne religiös-sittliche Ueberzeugung das Wort ‚Glauben‘. Er nannte die unendliche Macht, die sich ihm in Gemüt und Gewissen tröstend und mahnend bezeugt, ‚Gott‘. […] Er suchte die ganze höhere Wirklichkeit, die er im ‚Glauben‘ ergreift, deutlich zu machen mit dem Wort und der Vorstellung: jenseitige, obere, höhere, zukünftige Welt.134
Religion, so beschied Bonus dem Monismus, sei eine Sache der Erfahrung und der Weltdeutung. Obwohl er der Entwicklungstheorie Darwins viel abgewinnen konnte, lehnte er einen Monismus mit weltanschaulichem Anspruch energisch ab. Die Verschränkung von Natur, Entwicklungsgesetz und Religion brachte nicht mehr ein als einen „Kaffeehausbuddhismus“, der den grundsätzlichen Un terschied zwischen Religion und Weltanschauung verwischte.135 Ihm fehlte an der monistischen Verbrämung naturwissenschaftlicher Weltbilder in Religion die für den Glauben notwendige Bereitschaft, gegenüber dem Naturgeschehen zu einer „Wertung“ zu kommen und diesem gegenüber als Persönlichkeit einen „Willen“ zu entwickeln.136 Zu dem Versuch des Friedrichshagener Dichters Julius Hart, eine von der Entwicklungslehre ausgehende „neue Weltanschauung“ zu entwerfen, äußerte er sich skeptisch. Eine „erlösende Weltanschauung der Versöhnung Alles mit Allem“ sei an sich durch ihre mystische „Stimmung“ „sehr wertvoll“, doch blie be sie im Vorhof des Religiösen stecken.137 Ihr ermangelte es grundlegend an der erlebnishaften Begegnung mit dem „wirklichen Leben“, die nur die aus dem Leben geborene Persönlichkeitsreligion ermöglichen würde. Bonus hob gegen Julius Hart die Bedeutung eines praktischen Glaubens hervor, dessen ästhe tisch-„schauende“ Einstellung er ablehnte: Eine praktische Religion […] führt ihre Anhänger eben nicht aus der Wirklichkeit des Wol lens und Wertens hinaus auf den hohen Berg des reinen Schauens; sondern sie greift in den Herzpunkt alles Werdens und Geschehens, in das Getriebe der Leidenschaften und aller rea 134
Ders.: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, in: CW 9 (1895), 752–756, 753. 135 Ders.: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436–442. 460–466.492–497.517–521, 497 (eine ausführliche Rezension der beiden frühen Diederichs- Bände von Julius H art: Zukunftsland. Im Kampf um eine neue Weltanschauung. Bd. 1: Der neue Gott; Bd. 2: Die neue Welterkenntnis, Jena 1899); vgl. Vom Kampfe um die Weltan schauung, in: CW 16 (1902), 248–251 (Besprechung von Bruno Wille: Offenbarungen des Wacholderbaums, Leipzig 1901). 136 Ders.: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436–442. 460–466.492–497.517–521, 462. 137 Ebd., 438.
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len Kräfte des Gemütes ein. Teilend und zusammenfassend auch ihrerseits, aber nicht als blasse Logik, sondern wie ein Kriegsmann und Herrscher.138
Die Betonung des menschlichen Willens und seiner Herrschaftlichkeit war es auch, die ihn zur Abgrenzung gegenüber der Ethik als philosophisch erschlos senem Sittlichkeitsgesetz und der Moral als einem religiös normierten Verhal tenskodex führten. Gegen das liberale Religionsverständnis als höchster Sitt lichkeit wandte er ein, dass sie allgemeine Lebenssätze ausgehend von einer Theorie vom Jenseits und von Gott als höchstem Gut aufstellte, statt die Le benserfahrung des Einzelnen zugrunde zu legen.139 Die liberale Vernunftreli gion hatte an die Stelle der ursprünglichen, mitreißend-existentiellen Gottes erfahrung „die hilflose Gestalt des modernen Gottes“ gesetzt, der als „Ver söhnungsgott zwischen Wissen und Glauben“ kaum noch Gegenwartswert beanspruchen konnte.140 Von dieser Theologie ausgehend wurde eine Ethik entwickelt, die als blutleere Forderung eines erdachten Gottes keine Lebens relevanz mehr besaß. Sie war ein Verfallsprodukt, das eine verloren gegangene Unmittelbarkeit wiederherstellen sollte. Die modernen Theologen hatten, so Bonus, mit der Ethik einen Ersatz für das wirkliche religiöse Erleben geschaf fen, das ihnen nicht mehr offenstand: Glauben war ihre Kraft. Sie stand ihnen zu hoch, da schufen sie eine Leiter, eine Ethik. Voll kommenheit war ihr Ziel, es war ihnen zu weit, da schufen sie den Affen der Vollkommen heit, eine Ethik. Geist war ihre Luft, sie war ihren Lungen zu rein, da schufen sie eine Atmo sphäre, eine Ethik.141
Die ethische Fixierung der Theologie stellte für Bonus keineswegs den ur sprünglichen Zustand der christlichen Verkündigung dar. Mehrfach zeigte er an den Glaubensheroen der Kirchengeschichte auf, dass ein unverstelltes und handlungskräftiges religiöses Erleben auf dem Boden des Christentums durch aus vorgekommen war. Jesus, Luther, Kant und Goethe stellte er als Kronzeu gen eines Individualchristentums und als geistige „Riesen“ den ängstlich-zwer gischen „Menschlein“ der akademisch-zunftgemäßen Theologie gegenüber.142 138
Ebd., 492. Die Abgrenzung gegenüber den aus der liberalen Theologie stammenden Sittlichkeits vorstellungen zeigt sich markant z. B. in dem frühen Aufsatz gegen: Schwalb, in: CW 5 (1891), 746–750 oder im Zusammenhang der christlich-sozialen Frage in: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188. Die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Moral und der Religion formuliert er scharf gegenüber der Bewegung für ethische Kultur: Von der modernen Bildung, in: CW 11 (1897), 965–968 (Rezension des Sammelbandes von Paul von Gizycki: Vom Baume der Erkenntnis, Berlin 1896). 140 Ders.: Der Gottsucher, 42 f. 141 Ders.: Deutscher Glaube, 56. 142 Ders.: Der Gottsucher, 59–64. 139
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Für Bonus hatte insbesondere Luther, ähnlich wie in der Gegenwart Tolstoi oder Nietzsche, den Einzelnen im Gegenüber zu Welt und Geschichte zum religiösen Kernthema gemacht.143 Für ihn war der Reformator zum Vorreiter einer reli giösen Befreiung von kirchlicher Bevormundung, mönchischer Askese und scholastischer Abstraktion geworden, dessen religiöse Entdeckung eine indivi duelle und weltgestaltende Frömmigkeit war.144 Luther hatte das „Element des Wagnisses“ für die christliche Frömmigkeit zurückerobert und mit dem re formatorischen Glaubensverständnis die Tüchtigkeit der Seele gegenüber den „Sichtbarkeiten“ der Welt betont.145 Die glaubensstarke Persönlichkeit war nun nicht wieder in das Gesetz einer Ethik einzuspannen, sondern gewann ihre sitt liche Kraft aus ihrem heroischen Selbstgefühl und aus der glaubenden Zu kunftsspannung, auf die sie hinlebte. Der Mensch der Gegenwart, der sich noch unter dem „Cylinderhut einer steif spießbürgerlichen […] Ethik“ befand, musste zu seinem instinkthaften Selbst vordringen.146 Erst so konnte man den religiös begabten „Kulturmenschen“ aus der „Masse der Berufsmenschen“ herauslösen. In ihm lag die Zukunft, nur er war befähigt, „jenes unendliche Meer rauschen zu hören, auf dem die Nußschale unserer Kultur schwimmt“.147 Vor diesem Hintergrund belächelte Bonus die Versuche der „Gesellschaft für ethische Kultur“ um Wilhelm Foerster und Georg von Gizycki, eine von der Religion unabhängige Vernunftethik zu entwickeln. Denn eine „reine Ethik“ könne es ebenso wenig geben wie eine „reine Religion“, die ohne Beziehung zum menschlichen Willen stand. Die „ethische Kultur“ bewertete er als Fort schreibung des rationalisierten, christlichen Sittengesetzes unter Verzicht auf seine theologische Anbindung. Das Ganze sei nur ein „Produkt der langen, lan gen Fehlentwicklung des Christenthums“ hin zu einer religionsfreien Vernunft lehre.148 Die Pflichtethik, die er den „Schwärmern für ethische Kultur“ nach sagte, verdecke die schaffende Kraft der Persönlichkeit, so Bonus.149 Schärfer brachte er in seinen späteren im Diederichs-Verlag erschienenen Texten zum Ausdruck, dass die bürgerliche Moral in seinen Augen schlicht eine Hemmung für den Lebensdrang des Menschen bedeute.150 Bonus lehnte die „stupide Biedermeierei“ ab, die aus dem unmittelbaren Gotterleben der Jesus 143
Ders.: Die Kirche, 85 f. Ders.: Stilbarbaren. Eine unfreiwillige Fortsetzung, in: CW 11 (1897), 1113–1118, 1115. 145 Ders.: Der lange Tag, 75. 146 Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 40. 147 Ders.: Religiöse Spannungen, 224.226. 148 Ders.: Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141, 133. 149 Ders.: Vom neuen Mythos, 88 f. 150 Ebd., 63. 144
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bewegung, die für ihn den „großartigsten Entwurf einer moralinfreien Ge sinnung“ vorgelebt hatte, eine bürgerliche Alltagsmoral gemacht hatte.151 Hier zeigten sich die Früchte seiner Nietzsche-Lektüre. Dieser hatte – für Bonus in diesem Punkt ein exemplarischer „Lutheraner“152 – in seiner Zarathustra-Figur die Kraft des „auf eigene Gefahr Lebens“ herausgeschält, das sich nicht auf kulturelle Muster, sondern auf den Willen und die eigenen Instinkte berief.153 Die Menschen standen als „freie Wähler“ ihrem Los gegenüber und gewannen durch die Religion die Entschlossenheit, sich ihrem Schicksal überwindend ent gegenzuwerfen.154 Eine wirklich sittliche Entscheidung, meinte Bonus, wurde nicht aus übergeordneten Prinzipien abgeleitet, sondern in der konkreten Le benssituation des Einzelnen getroffen. Damit stellte sich Bonus durchaus an den Rand der modernen Theologie. Harnack etwa war die unter der „greulichen Formel ‚Moralin‘“ gefasste Kritik am idealistischen Sittlichkeitsbegriff nicht nur subjektiv zuwider, sondern er schien ihm auch objektiv höchst gefährlich.155 Für ihn wie für die Mehrheit der protestantischen Theologen war die christliche Gottesidee als Vorstellung eines höchsten Gutes eine unabdingbare Voraussetzung für ein verbindliches und konsensfähiges ethisches Nachdenken. An Bonus fehlte ihm der Verweis auf die Ethik Jesu als Kraft der Nächstenliebe und als Antrieb für moralisches Han deln.156 Deutlich ablehnend waren auch die inhaltlichen Bemerkungen, die Julius Kaftan ihm zukommen ließ. Kaftan störte die Verknüpfung des absolut gesetz ten menschlichen Willens mit der Entwicklungslehre. Das von Bonus gesetzte Entwicklungsziel des heroisch-faustischen Zukunftsmenschen, der sich seine Sittlichkeit selbst gab, schien ihm eher eine Schreckensvision darzustellen. Als Reaktion auf Religion als Schöpfung schrieb er 1902 an Bonus: Mein Einwand ist, daß der Übermensch Nietzsches als Gespenst in Ihrem Kopf herumspa ziert. Da thue ich nicht mit in keiner Form […] Um Himmels willen, lassen Sie diesen Unfug und verderben Sie nicht durch solche Schaumschlägerei, was Sie der Welt zu sagen haben.157 151
Ders.: Religion als Schöpfung, 21. Ders.: Die Kirche, 86. 153 Ders.: Der lange Tag, 75. 154 Ders.: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1048. 155 Postkarte Harnack an Bonus, 25.5.1902 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_004]. H arnack reagiert hier empfindlich auf Bonusʼ ersten Diederichs-Band: Religion als Schöpfung. 156 Vgl. als repräsentative Beiträge mit eher diskursivem Charakter Wilhelm H errmann, Religion und Sittlichkeit, in: A dolf Deissmann (Hg.): Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion, München 1905, 183–202; M artin R ade: Religion und Moral, Gießen 1898; ders.: Religion und Moral, in: Heinrich Geffcken (Hg.): Die Religion im Leben der Gegenwart, Leipzig 1910, 35–59. 157 Brief Kaftan an Bonus, 13.8.1902 [ebd., 12_004]. 152
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4. „Erhöhung des ganzen Menschen“. Zur Interpretation der Entwicklungslehre Für Bonus lag im Entwicklungsgedanken ein wichtiger Anstoß für eine Neube gründung der Religion in der Gegenwart vor. Während der Darwinismus in der zeitgenössische Theologie höchst umstritten war und überwiegend als Gegen satz, mitunter als Bedrohung christlicher Frömmigkeit bewertet wurde, legte er eine Interpretation vor, mit der die Entwicklungslehre zu einem Kernbestand der religiösen Weltsicht wurde.158 In deutlichem Abstand zu seinem protestanti schen Umfeld konnte er von einer „biologischen Bedeutung“ der religiösen Ge dankenwelt sprechen, die auf die Entwicklung des Einzelnen zur Persönlichkeit hinzielte.159 Wenn mit dem Darwinismus alle Prozesse in der Natur und in der Geschichte als Daseinskampf um „Vordringen, Kraft, Herrschaft“ beschrieben werden konnten, blieb der Religion die Aufgabe, diesem Ringen um Vorwärts bewegung Richtung zu verleihen, wie Bonus sein sozialdarwinistisches Credo zusammenfasste.160 Ohne der Entwicklungstheorie in ihren Sachaussagen zu widersprechen, kritisierte Bonus, dass der Darwinismus keine Aussage über das „worum? wodurch? wozu? wie? worüber?“ der von ihm postulierten Ent wicklungsgänge treffen konnte.161 Es war die Aufgabe der Religion als Zentral bestandteil des menschlichen Bewusstseins, dem Handeln Richtung und Ent wicklungsfähigkeit zu verleihen. Bonus baute diese in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre begonnenen Über legungen zunehmend aus. Er definierte die Religion als den eigentlich wirk samen Antrieb der Menschheitsentwicklung, weil nur sie Bilder des Anderen, des Jenseits oder des Kommenden entwickelte. In religiösen Zukunftsbildern vom Reich Gottes, der neuen Schöpfung oder dem Ablegen des alten Adams bestand von Grund auf ein „Trieb zur Entwicklung, zum Übersichselbsthinaus 158
Das zeigte sich auch daran, dass für Bonus nicht der Darwinismus die „gefährlichste Krisis der Religion“ darstellte, sondern die religiöse Veräußerlichung im kirchlichen Protes tantismus, die das Wachsen „niederer […] Religiosität“ begünstigte (Bonus [Grm]: Glossen zur Frage Religion und Naturwissenschaft, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München), 12.4.1904, Nr. 83, 57–58; eine Rezension zu A rthur Titius: Religion und Naturwissenschaft, Tübingen 1903). Zur theologischen Rezeption der Lehren Darwins vgl. Tilman M. Schröder: Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2008; zum populären Darwinismus A lfred K elly: The Descent of Darwin. The Popularization of Dar winism in Germany, 1860–1914, Chapel Hill 1981; Andreas Daum: Wissenschaftspopulari sierung im 19. Jahrhundert, München 2002. 159 Ders.: Die Kirche, 69 f. 160 Ders.: Von Stöcker zu Naumann, 55. Zum Sozialdarwinismus vgl. Peter E. Becker: Wege ins Dritte Reich, Bd. 2, Stuttgart 1990. 161 Ebd., 54.
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kommen“.162 Das Evangelium forderte den Einzelnen zu nichts anderem als zur „Reich-Gottes-Arbeit“ auf, die Bonus allerdings als das Drama der Weltent wicklung deutete und kaum noch im kirchlichen Sinne verstand. Es war „Selig keit“, die das Gottesreich brachte, aber nicht als himmlischer Ruhezustand in der Gegenwart Gottes, sondern als Arbeit am Selbst und an der Kultur. Bonus nutzte den Begriff des Gottesreiches als Symbol für das menschliche Fort schrittsstreben.163 Es richtete sich auf einen „Standpunkt jenseits der Welt“ und auf eine Größe, die „am Ziele der Weltgeschichte“ stand und durchdrang damit die Kultur- und Alltagswelt, der sie neue Ziele und Aufgaben stellte.164 Das Got tesreich – so Bonus – durchlief als kulturschöpfende Potenz von Anfang an die Welt als ein Zukunftsbewusstsein, das den Menschen dazu trieb, sich zu erwei tern und nach Höherem zu streben. Es zielte auf die „Erhöhung des ganzen Menschen“, der schrittweise seinen inneren Wesenskern entfaltete.165 Anders als bei seinen moderntheologischen Zunftkollegen rückte bei Bonus das Reich Gottes ganz in den menschlichen Handlungsbereich. Der Mensch wurde in sei nen Augen zum Mitarbeiter am göttlichen Schöpfungswerk, in dem in ihm selbst das Gottesreich aufging: Wir werden nie mehr wahrscheinlich dazu kommen zu sagen: das Reich Gottes kommt mor gen, aber wir werden noch sagen lernen: es steigt in unsren Seelen aufwärts und einige wer den es fühlen sich bin in den Hals schlagen, also daß es ihnen die Stimme zu versetzen droht durch Gewalt seiner stillen und ernsten Wirklichkeit.166
Hier verknüpfte Bonus auf eine sehr eigenständige Weise sein Bild der christli chen Frömmigkeit mit dem Entwicklungsgedanken.167 Die religiösen Zukunfts hoffnungen wurden enteschatologisiert und zur treibenden Kraft der geschicht lichen Entwicklung erklärt, die Bonus als evolutionäre Steigerung der Gattung Mensch verstand. Aus der Religion entsprang für ihn das Entwicklungsideal, mit dem der inneren, geistigen Fort- und Höherentwicklung im Geschichts ablauf Kraft und Richtung gegeben wurde. Es verwundert nicht, dass Bonus vor diesem Hintergrund als Prophet einer neuen „Diesseitsreligion“ wahrgenommen wurde. Die Anklänge an die Mystik, nach denen Gott als Schöpfung des menschlichen Innersten erstand, der Vitalis 162
Ders.: Vom neuen Mythos, 46. Ders.: Zwischen den Zeilen I, 144 f. 164 Ders.: Schwalb, in: CW 5 (1891), 746–750, 748; ders.: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1047; ders.: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 946–950. 165 Ders.: Stilbarbaren. Eine unfreiwillige Fortsetzung, in: CW 11 (1897), 1113–1118, 1115. 166 Ders.: Religion als Schöpfung, 62. 167 Den eigenständigen Zugang zum Entwicklungsgedanken betont v. a. K roeger: Gogar ten, 71. 163
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mus, nach dem Religion Stärke im Lebensgeschehen war, schließlich die Hero isierung des Christentums ließen Bonus’ Religionsverkündigung als wilhelmi nisch-fortschrittsoptimistisches Säkularisat mit ideologischen Zügen erschei nen.168 Auf Bonus selbst machte das Abschneiden der Transzendenz den Eindruck einer „fürchterlichen Albernheit“, die in ähnliche Paradoxien führen würde wie die Vorstellung einer „religionslosen Religion“.169 Für ihn blieb das Jenseits der religiöse Ausdruck für die Möglichkeit des Andersseins, mit dem die Spanne zwischen dem Bestehenden der Gegenwart – in Kultur, Moral und menschlichem Denken – und dem Neuland einer verwandelten Zukunft be zeichnet wurde.170 Aus seiner Sicht lag genau hier die seelsorgerische Seite seiner Verkündi gung: Die Religion musste dem Menschen helfen, den Graben zwischen dem Bestehenden und seinen Zukunftsmöglichkeiten zu überspringen. Für die In nen- und Kulturentwicklung des Menschen gäbe es „keine stärkere An- und Aufreizung als diese Vorstellung von der Möglichkeit eines Andersseins“.171 Bonus hoffte seit Beginn des neuen Jahrhunderts darauf, dass sich auf diesem Wege einmal „sehr freie, sehr starke, zuchtvolle gesegnete Menschen“ schaffen lassen würden, „und wir werden sehr voll Gott und sehr selig sein“.172
5. Das „Christentum der Zukunft“. Die heroische Umwertung der Jesusüberlieferung Trotz der antitheologischen Richtung seiner Schriften maß Arthur Bonus den christlichen Gedanken eine bleibende Kraft für die Gegenwart bei. Was glei chermaßen seine Gegner auf den Plan rief und seinen Bewunderern den Zugang zu seinen Schriften erleichterte, war die Neuinterpretation der biblischen Über 168 Vgl. hierzu die ausführliche Debatte im internen Zirkular der Freunde der Christlichen Welt: Aus Briefen, in: An die Freunde (Nr. 28 v. 1.5.1909), 281–287; Constantin von Zastrow: Diesseitsreligion. Eine Diskussionsrede wider Wobbermin und Bonus, in: An die Freun de (Nr. 31 v. 12. April 1910), 332–337; Georg Wobbermin: Diesseits und Jenseits in der Reli gion. Eine Entgegnung, in: CW 27 (1913), 554–558.578–583; Zastrow: Diesseits und Jenseits. Ein Beitrag zu Jathos Diesseitsreligion, in: CW 27 (1913), 458–466; R ade: Nachwort des Herausgebers, ebd., 466–467. 169 Vgl. bereits die frühen Texte: Bonus: Die Treppe der Luisetta, in: CW 9 (1895), 714– 715 und seine Auseinandersetzung mit den neuidealistischen Bildungskonzepten Paul Natorps in: Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, in: CW 9 (1895), 946–950. Das Zitat aus: ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 448 sowie aus ders.: Die Kirche, 77. 170 Ders.: Vom neuen Mythos, 67 f.; ähnlich bereits in: Der Katholizismus und der Aber glaube. Rezension eines ungedruckten Buches, in: Neue Rundschau (1907), 834–841. 171 Ebd., 68 f. 172 Ders.: Religion als Schöpfung, 63.
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lieferung, die er als historisches und psychologisches Dokument verstand. Wie er im Kunstwart erläuterte, war sie nur noch als ein „kulturgeschichtliches Denkmal“ anzuerkennen.173 Ihr Wert war darin zu suchen, dass sie einen ge schlossenen, poetischen Ausschnitt authentischer religiöser Erfahrung wieder gab, die allerdings fortgeschrieben werden musste. In Bonus’ Jesusinterpretation lässt sich die Erschütterung wiedererkennen, die von der kritischen Leben-Jesu-Forschung und insbesondere von der Religionsge schichtlichen Schule verursacht worden war. Die neutestamentliche Forschung des späten 19. Jahrhunderts hatte versucht, mittels historischer Kritik durch die kirchliche Christusüberlieferung hindurch zur religiösen Persönlichkeit Jesu vorzustoßen. Dabei sollten die Glaubensvorstellungen und das religiöse Selbst bewusstsein Jesu für die Gegenwart erschlossen werden. Revolutionär wirkten sich die Forschungsergebnisse der Religionsgeschichtlichen Schule aus, die zu einer neuen Bewertung der Reich-Gottes-Predigt Jesu führten. Die von der Reli gionsgeschichtlichen Schule inspirierten Jesusbilder wirkten im Umkreis der li beralen Theologie durchaus als Bruch, denn sie verlagerten die Fragerichtung von einer Jesusdeutung als ethischer Maßstab oder als Heilandsgestalt, deren Bedeutung durch Wunder, Kreuz und Auferstehung begründet war, auf die kon kreten religiösen Hoffnungen, die mit seinem Wirken verbunden waren. Die Je suspredigt ließ sich nicht mehr als sittliche Handlungsvorgabe verstehen, sondern war von der Erwartung eines von außen kommenden, eschatologischen Gottes handelns durchzogen. Der Göttinger Neutestamentler Johannes Weiß hatte 1892 in seinem Buch über Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes das Gottesreich als eine „schlechthin überweltliche Größe“ bezeichnet, die „in ausschließendem Gegen satz“ zu allem Irdischen stehe.174 Wilhelm Bousset vermutete im „Gottvaterglau ben“ Jesu einen „völligen Bruch“ mit der Kultur des spätantiken Judentum.175 173 Ders.: Die Bibel als kulturgeschichtliches Denkmal, in: Kunstwart 25 (1911/12), 32–34. 121–123; auch Thema in ders.: Eine neue Weltanschauung, in: ebd. 13/1 (1899/1900), 273– 275. 174 Johannes Weiss: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892, 49; vgl. in der Fragestellung ähnlich William Wrede: Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1894), in: ders.: Vorträge und Studien, Tübingen 1907, 84–126. Eine Übersicht zur Forschungslage der Jahr hundertwende findet sich bei Johann H. Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997, 82–97; vgl. Roland Barth: Liberale Jesus bilder des 19. Jahrhunderts versus dogmatische Christologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-K ahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus: Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2009, 111–139; H arald H aury: War Jesus Jude? Das Bild der jüdischen Religionsgeschichte im deutschen liberalen Protestantis mus um 1900, in: H ans-Joachim Gehrke (Hg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001, 209–226; A lbert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede, Tübingen 1906. 175 Wilhelm Bousset: Jesu Predigt im Gegensatz zum Judentum, Göttingen 1892, 41 und 85.
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Bonus war diesen Forschungsansätzen am Ende seines Studiums begegnet; zeitweilig hatte er selbst erwogen, in einer Licentiatenarbeit dem Reich-Gottes- Begriff im Neuen Testament nachzugehen. Die exegetische Forschung hatte in seinen Augen das Problem aufgerissen, wie die historische Persönlichkeit Jesu, die zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik geworden war, noch den „Mittel punkt des Glaubens“ ausmachen könne.176 Bei allen idiosynkratischen Zügen reflektierte Bonus’ Jesusbild die histo risch-theologischen Debatten der Jahrhundertwende; sie wiesen zudem ein von der Entwicklungslehre bestimmtes Verständnis der Religionsgeschichte auf. Mit Jesus war in Arthur Bonus’ Augen der Anfangspunkt einer religiösen Ent wicklungsstufe gesetzt, auf der zum ersten Mal die wirkliche, freie Religion ohne ihre ritualhaften oder rationalistischen Schalen aufschien. Das war eine krasse Übertragung von evolutionistischen Vorstellungen auf die Religions geschichte. Wie in der naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorie „Leitmu scheln und Könige“ ausgesondert wurden, die sich in einer bestimmten Ent wicklungsperiode von der Masse ablösen und „im Kampfe ums Dasein die größte Kraft“ entfalten, so stellte Jesus den Repräsentanten einer höheren Ent wicklungsstufe des religiösen Bewusstseins dar.177 Sein Leben war „die Offen barung der für die Folgezeit ausschlaggebenden Kraft“, nämlich der macht vollen und freien Persönlichkeit.178 Von Anfang an betonte er, dass Christus den „Gipfelpunkt“ der gesamten religiös-sittlichen Entwicklung bis zur Gegenwart markiere.179 1893 erklärte er in einem Brief gegenüber Erich Foerster offen, dass er in Je sus nichts weiter als einen Menschen erblickte: „ja und ohne Umschweife: Christus ist ein Mensch; daß wir in ihm Gott sehen, ist unsere Glaubensüber zeugung.“180 Dennoch waren ihm besondere Qualitäten beizumessen, die ihn nicht nur als religiösen Erneuerer bedeutsam machten. Die Einmaligkeit Jesu erneut erschlossen zu haben, war das besondere Verdienst der modernen Theo 176 Vgl. dazu Bonus’ Artikelfolge zur Leben-Jesu-Forschung: Glossen zur Frage der Le ben Jesu-Forschung, in: Allgemeine Zeitung 105 (Nr. 277 v. 4.12.1903) Beilage; Glossen zu Kalthoffs ‚Christusproblem‘, in: ebd., (Nr. 282 v. 11.12.1903) Beilage. Ähnlich wie Bonus hatte Heinrich Weinel zur Jahrhundertwende bilanziert, dass das dogmatische Jesusbild durch die historisch-kritische Forschung zusammengebrochen war, vgl. Jesus im neunzehn ten Jahrhundert, Tübingen 1903, 3 f. 177 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 59. 178 Ebd. 179 Ders.: Schwalb, in: CW 5 (1891), 746–750, 748. 180 Briefkonzept Bonus an Erich Foerster, ohne Datum [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. Der Brief dürfte auf den Sommer 1893 zu datieren sein, da er die Skizze für einen Andachtstext enthält, den er gekürzt veröffentlichte als: Gott in Christus, in: CW 7 (1893), 970–971 (Ausgabe vom 5. Oktober).
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logie, der er die Aufgabe zuwies, „die kritische Zersetzung des überkommenen Christusbildes“ auf den Weg zu bringen.181 Durch ihre Forschungstätigkeit konnte die Gegenwart die „echten Motive“ in den Evangelien aufdecken.182 Auf diesem Wege ließ sich in Bonus’ Sicht zu der religiösen Persönlichkeit Jesus als dem, „der er sein wollte und den wir brauchen, den religiösen Genius, den Er löser, den ‚Christus‘ d.[as] h.[eißt] den König des Reiches der inneren Kräfte“ vorstoßen.183 Entschieden lehnte er eine Nachzeichnung Jesu als bloßen mild tätigen Wundertäter ab. Für Bonus war Jesus nicht der „Liebe-Seelen-Freund“ der rationalistischen Evangeliendeutung, sondern eine Kämpfergestalt mit Herrschernatur, dessen Gegenwart zur Umkehr zwang.184 In der Christlichen Welt führte er 1894 aus, „dass wir durch Christus An schauungsunterricht erhalten haben in dem großen Satze: ‚Gott ist unser Va ter‘“.185 Für ihn war Jesus ein „Bruder“, wie er einen Abschnitt in seinem 1901 erschienenen zweiten Andachtsband Zwischen den Zeilen überschrieb, in dem er sein Jesusbild entfaltete. Demnach ging es der ursprünglichen Jesusbotschaft um die lebendige Gottesbeziehung des Einzelnen.186 Jesus wirke als ein An trieb, dessen Predigt, Lebensweg und Handeln im Ganzen auf die Wirklichkeit Gottes verwies: Die kraftvolle Liebe, die ihr Werk so ungezwungen, so natürlich, so aus der Fülle des Her zens that, dieses unerschütterliche Vertrauen, das alles, was ihm geschieht, so unbefangen und einfach aus der Hand der Ewigkeit nimmt, diese furchtlose Wahrhaftigkeit, die sich kei nem Menschen verpflichtet fühlt, diese lautere Reinheit – das ist göttliches Licht, das von drüben hereinscheint. Gott selber steht hinter dem Bilde.187
Jesus habe exemplarisch vorgelebt, wie sich ein freies und unverstelltes Gottes verhältnis gestalte. Sein Werk stellte eine Reinigung von den Zwängen einer veräußerlichten Religiosität dar und brachte seinen Anhängern die Erlösung „von hunderttausend Dogmen“.188 Jesus stand für ihn als „Lehrer“ für eine un mittelbare Gottesbeziehung, die durch sein Vorbild jedem ermöglicht würde, der ihm nachfolgt.189 Entsprechend deutete Bonus die Evangeliengeschichten als Bericht über die Entfaltung und Wirkung der Persönlichkeitskräfte Jesu.
181
Ders.: Religion als Schöpfung, 14 f.
182 Ebd. 183
Ebd., 20. Ders.: Zwischen den Zeilen I, 58. 185 Ebd. 186 Ders.: Zwischen den Zeilen II, 76. 187 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 113 f. 188 Ders.: Zwischen den Zeilen II, 46. 189 Ders.: Christus ein Lehrer?, in: CW 8 (1894), 121–124. 184
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Den Kern der Jesusbotschaft machte Bonus in der Lösung der menschlichen Persönlichkeit von ihren weltlichen Bindungen aus. Dabei suchte er sie zunächst vor dem Hintergrund der historischen Situation Palästinas unter der römischen Besetzung und als Gegenbewegung zum antiken Judentum zu verstehen, wie er 1902 in Religion als Schöpfung erläuterte. Zur Voraussetzung hatte sie die pro phetische Überlieferung Israels und die im Judentum lebendigen, auf Israel als Nation gerichteten Heilserwartungen. Diese hatten nach Bonus dem „glauben vollen Volk“ des antiken Judentums einen „riesenhaften Machthunger“, aber auch „Tapferkeit“ und „unbändigen Stolz“ ermöglicht. Die nationalreligiösen Hoffnungen der Propheten und des Exils hatten die Erwartung genährt, dass Israel den Weg aus der Sklaverei finden und in Bälde über die „Herrenvölker“ des Alten Orients gesetzt würde.190 Die Jesusbotschaft verlagerte diesen Zu kunftsglauben nun auf ein außerhalb der Welt liegendes Gottesreich und war von einer völligen eschatologischen Ausrichtung durchdrungen. Die Predigt Jesu entstand in einer Zeit, so Bonus, in der eine eigenständige kulturelle oder politische Entfaltung für Israel nicht zur Debatte stand. Ihm blieb nach Bonus nur die völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Notwendigkeiten „der Volks gemeinschaft oder der Welt“ übrig.191 Die Verachtung gegenüber der übermäch tigen römischen Fremdherrschaft konnte ihren Ausdruck in einer radikalen Weltablehnung und -überwindung finden. Es war die Bergpredigt, die für Bonus diese heroische Weltverachtung in einmaliger Weise realisierte. In ihr wurde eine „völlige Gleichgültigkeit gegen ein auf Erden mögliches soziales Leben“ zur Sprache gebracht, mit der die „Selbstwegwerfungsfähigkeit“ des Einzelnen ins Unermessliche gesteigert wurde. Die Bergpredigt war aus der Situation der völligen Machtlosigkeit geboren und brachte zugleich einen übermenschlichen Stolz gegen die politische Ordnungsgewalt zum Ausdruck. Bonus bezeichnete die Haltung, die in der Jesuspredigt deutlich wurde, als in Reinform religiös, weil sie sich mit Ausschließlichkeit auf das Überweltliche ausrichtete. In ihr manifestierte sich ein religiös begründeter „gigantischer Weltherrschaftstraum“, der allerdings die jüdische Heilserwartung aus den tatsächlichen politischen Be dingungen in den überweltlichen Bereich des Reiches Gottes und in das Seele ninnere des Menschen heraushob. Jesus hatte nach Bonus’ Rekonstruktion in der Bedrängnis ein neues Herrschaftsfeld des Menschen „auf dem engsten Raum“ beschrieben. Im menschlichen Geist nämlich habe er das Reich Gottes entdeckt, „in das man sich zurückziehen kann, von dem aus man die Welt be herrschen kann“, und zwar durch ihre stolze und vornehme „Ignorierung“.192 190
Ebd., 19 f.
191 Ebd.
192 Ebd.
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Die „Weltuntergangsstimmung“ der Bergpredigt bildete den Ankerpunkt von Bonus’ Jesusverständnis: Jesus und seine Anhänger hatten sich durch ihr eschatologisches Endzeitgefühl aus allen sozialen und familiären Bindungen gelöst. Die auf das Kommen des Gottesreiches gerichtete Stimmung verlieh Je sus und den ersten Christen ihre „Rücksichtslosigkeit“ und einen „Grad von Moralinfreiheit“, vor dem „alle sittlichen, sozialen, altreligiösen Urteile und Vorurteile restlos schwanden“.193 Dem Bewusstsein, dem Untergang einer Kul turwelt und einer überwundenen Religionsform entgegenzusehen, entsprang auch das messianische Sonderbewusstsein Jesu, „die Menschheit in eine andere Welt hinüberzuführen“.194 Bonus zeichnete Jesus als einen geistigen Führer nach, der seine Anhänger in einer als veräußerlicht und krisenhaft empfunde nen Welt um sich sammelte und ihnen ein neues Selbstwertgefühl gab. An ihm schien vorbildlich die Selbstermächtigung des Einzelnen als freie Persönlich keit entgegen einer von Werteverfall und Normen gezeichneten Umgebung ab lesbar zu werden. Unter der heroischen Weltabkehr, die Bonus in der Jesus predigt feststellte, war also kein Auszugsprogramm für christliche Asketen zu verstehen. Er verstand die Jesusnachfolge als Anleitung zu einer höchst inner weltlichen „Selbstbehauptung […] edler Art“, wie er in der Deutschen Heimat formulierte.195 Dass hier zudem eine Abwertung des Judentums als veräußer lichte Gesetzesreligion stattfand, die im Zeitalter Jesu den Zenit ihrer Geistes entwicklung längst überschritten habe, ist unübersehbar. Bonus stellte sein Jesusbild in einen diametralen Gegensatz zum traditionel len, kirchlichen Christentum. In Jesus konnte er weder einen Stifter der institu tionellen Großform Kirche noch den Urheber einer religiösen Lehre noch einen ethischen Ratgeber erkennen. Vielmehr zielte seine Predigt auf eine umfassen de Lebenswende, deren hohen Anspruch Bonus bereits in den Evangelien ge mildert sah und die ihm durch die Lehrbildung noch weiter verschleiert er schien. Bonus zog deutliche Kontrastlinien zwischen dem religiösen Erlebnis Jesu und dem, was davon in der kirchlichen Theologie aufgegriffen wurde. Je sus hatte in Bonus’ Augen keine zeitlose Moral gepredigt, sondern sich in end zeitlichem Horizont zu unerhörter „Morallosigkeit“ aufgeschwungen.196 Die angebliche protestantisch-staatstragende Betonung von Kultur und Sittlichkeit stellte er in einen klaren Gegensatz zu dem religiösen Individualismus des von drängender Naherwartung durchzogenen Wanderpredigers: „– was haben wir noch mit ihm gemein?“, fragte Bonus rhetorisch.197 Nur in der Rettung der 193
Ebd., 24 f. Ebd., 25. 195 Ders.: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 771 f. 196 Ders.: Religion als Schöpfung, Leipzig 1902, 16 f. 197 Ebd., 20. 194
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menschlichen Persönlichkeitskraft konnte für ihn ein verbindendes religiöses Element liegen: Es ist nicht wahr, daß Jesus ein Tugendmuster sein wollte, womöglich ein ethisches Paradig ma für Volksschulen. Es ist nicht wahr, daß er Neues über Gott lehren wollte, das man glau ben müsse; es ist nicht wahr, daß er sich für irgend welche alte oder neue soziale Einrichtun gen interessierte. Es ist nicht einmal wahr, daß er die Menschen ‚gut‘ machen wollte. Er wollte nichts als sie ‚retten‘. Aus dem Tode zum Leben.198
Anders als der kirchliche Christus wurde der historische Jesus für Bonus zum Paradigma einer individuellen, persönlichen Religiosität, die Seelenstärke und Kulturdistanz vermittelte. Daraus zog er die Konsequenz, dass Jesus in der Ge genwart nicht länger als Schulstoff oder moralisches „Vorbild“ gepredigt wer den sollte. Vielmehr war mit ihm die Rückkehr zu einem wirklichen „Christen tum“ zu suchen, das „nicht Nachahmung, nicht Lehre und Lernen, nicht dies und das, sondern das wieder Religion ist, wieder Erlösung, ein volles Leben, […] das Ausgießung des Geistes ist“.199 Für Bonus stand hinter dem Leben und der Predigt des historischen Jesus die Manifestation der menschlichen Seelenkraft, die den Einzelnen aus den Ver pflichtungen der Massenkultur lösen und ihm dadurch Herrschaftlichkeit zu sprechen konnte. Die Wirkung des Evangeliums war die innere Befreiung zur Gottessohnschaft aus allen Zivilisationszwängen; hier lag für Bonus das Erlö sende am „christlichen Erlebnis“.200 Jesu Lebensgeschichte war als „Offenba rung der Persönlichkeitskraft“ zu lesen, die im Wesensinneren des Menschen ihren Sitz hatte.201 Wie aber sollte der Mensch diese von Jesus offenbarte Per sönlichkeitskraft in sich auffinden? Für Bonus war das eine Frage der „Nach folge“, die er der antitheologischen Gesamtrichtung seiner Darlegungen nach konsequent im Bereich des Erlebens verortete.202 Die kirchliche Betonung der Predigt schien nach Bonus nur dazu zu verleiten, im Vorhof des eigentlichen Geschehens stehen zu bleiben. Hier näherte er sich der Beschreibung eines Er weckungserlebnisses unter umgekehrten Vorzeichen an. Nachfolge geschah un ter Schicksalszwang als ein seelisches Nachspüren des jesuanischen Lebens laufes, an dessen Gipfel die „Konfrontierung mit Gott selbst“ stand.203 Bei seinen Überlegungen rückte es zunehmend in den Hintergrund, ob die von ihm gezeichnete Jesusfigur einer historischen Überprüfung standhalten würde. Für den wirklich Religiösen sei die historische Jesusforschung im Grun 198
Ebd., 18 f. Ebd., 20 f. 200 Ders.: Der lange Tag, 74. 201 Ders.: Zwischen den Zeilen I, 58 f. 202 Ders.: Religion als Schöpfung, Leipzig 1902, 20 f. 203 Ders.: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 771 f. 199
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de unerheblich, erklärte Bonus 1913 in Gottfried Traubs Christlicher Freiheit. Aus religiöser Sicht musste es um die individuelle Begegnung mit der Wirkung der Jesusfigur gehen, die ihm unter historischen Gesichtspunkten kaum möglich erschien. Im Gegenteil: Dass das „Leben jenes Nazarethaners im Dunkel“ lag, eröffnete den gedanklichen Raum, das christliche Kerygma nun ohne historio graphische Einschränkungen auf sich wirken zu lassen. „So erst sind wir völlig frei.“204 Diesen ahistorischen Zugang hatte Bonus im Anschluss an die von Arthur Drews ausgelösten Streitigkeiten um die angebliche „Christmythe“ entwickelt. Drews, der wie Bonus zu den bekannten neureligiösen Autoren des Die derichs-Universums gehörte, hatte 1910 in einem aufsehenerregenden Buch auf radikale Weise den von der liberalen Theologie hochgehaltenen Rückbezug auf den historischen Jesus negiert. Die Jesusfigur und die urchristliche Gemeinde entzogen sich seiner Ansicht nach völlig dem historiographischen Zugriff, da die Geschichtswissenschaft über keine aussagekräftigen Quellen verfügte, um zu einer gültigen Rekonstruktion zu gelangen. Nach Drews’ Darstellung war Paulus der Begründer des Christentums, dem es gelungen war, ein „Erzeugnis des religiösen ‚Massengeistes‘“ in die messianische Bewegung der jungen Kir che zu kanalisieren. Jesus habe nur als „Idee, als fromme Dichtung“ in der Ver kündigung der Gemeindeglieder gelebt.205 Naturgemäß löste diese Grundsatz kritik, die Zweifel an der Existenz der christlichen Zentralgestalt äußerte und damit den Sinn jeglicher kirchlichen Verkündigung in Frage stellte, zahlreiche Reaktionen auf Seite der Theologie aus, etwa in den unter öffentlicher Beteili gung geführten „Berliner Religionsgesprächen“, die Diederichs geschickt für die eigene Vermarktung ausnutzte.206 Bonus allerdings war von Drews’ reli gionshistorischem Konstrukt wenig angetan. Dem gemeinsamen Verleger Die derichs hatte er sein „Entsetzen vor allen Büchern über die Christusmythe“ 204
Ders.: ‚Jesus von Nazareth‘ oder ‚Christ geboren‘?, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 843–845, 844. Als Beispiel für eine ähnlich gelagerte Neuinterpretation von Jesus mit dem Ziel, ein Verständnis für die Moderne zu gewinnen, lässt sich aus Bonus’ moderntheologi schem Umfeld verweisen auf Friedrich Daab: Jesus von Nazareth, wie wir ihn heute sehen, Düsseldorf 1907: Wie Bonus folgte Daab dem „Anliegen, die Person Jesu aus dem Banne dogmatischer Theorien zu befreien“ (43). In der Persönlichkeit Jesu scheine die „Unmittel barkeit des Lebens“ auf, mit welcher sich der Buchstabenglauben der „Parteimänner, Theo logen und Machthaber“ sowie „die landläufige Moral“ überwinden lasse (86 f.). 205 A rthur Drews: Die Christmythe, Jena 1910, 226. 206 Vgl. H einrich Weinel: Ist das „liberale“ Jesusbild widerlegt? Eine Antwort an seine „positiven“ und an seine radikalen Gegner mit besonderer Rücksicht auf Arthur Drews, Tübingen 1910; Deutscher Monistenbund (Hg.): Hat Jesus gelebt? Reden gehalten auf dem Berliner Religionsgespräch des Deutschen Monistenbundes am 31. Januar und 1. Februar 1910, Berlin/Leipzig 1910.
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kundgetan und deutlich gemacht, „daß das modern religiöse Empfinden andere Nahrung haben will“.207 Dennoch hinterließ die Debatte auf Bonus ihren Ein druck, die für ihn aufzeigte, wie stark sich die moderne Theologie, aber auch ihre freireligiöse Gegnerschaft auf einen historistisch-rationalen Zugang zur Religion eingeengt hatten. Für ihn stellte die Auseinandersetzung eine „Verwir rung“ dar, bei der einmal mehr der Religionsbegriff mit wissenschaftlicher Lo gik beschränkt würde.208 Die ganze Debatte sollte, wie Diederichs offenbarte, die liberale Theologie zwingen, „eine andere Position zu suchen“ und sich von ihren dogmatischen und an die Historie gebundenen Spielregeln zu lösen.209 Bonus hielt die Frage nach dem historischen Jesus für nebensächlich für die Entwicklung des religiösen Lebens in der Gegenwart.210 Wie er in der Christlichen Freiheit darlegte, sah er im Christentum einen Widerspruch gegen die historische Rückbindung an eine einzelne, schriftliche Offenbarungsquelle und – wie er meinte – einen „Gegenschlag“ gegen ein geschichtliches Religionsver ständnis.211 Das Jesusevangelium brachte Leben und Geist, wie er gegen ein institutionalisiertes, lehrhaftes Christentumsverständnis als einer Religion des Gesetzes ausführte. Daher blieb es weiterhin die Aufgabe der Gegenwartsfröm migkeit, sich erlebend der Persönlichkeit Jesu auszusetzen.212 Worum es für Bonus ging, war das existentielle Nachleben dessen, was Jesus selbst an Reli gion erfahren hatte: Steige in die Tiefe, die er als die Quelle des Lebens offenbart hat, und ob er gelebt hat oder nicht, du wirst seinen Geist dort finden. Er durchdrang den Alltagswillen; er stieg in einen Willen hinab, den wir alle unter unserem Alltagswillen fühlen, in dem wir alle eins sind, […] aus dem die Schöpfung quillt, aus dem wir alle schöpfen, soweit wir Gutes wollen […]. Er offenbarte das Reich der formenden Hände.213 207 Brief
Diederichs an Bonus, 6. Juni 1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. Die derichs äußerte in seinen Schreiben Verständnis für die von Bonus erhobenen Vorwürfe, die er jeweils benannte. Bonus’ Kritik an den Drews’schen Thesen hinderte Diederichs nicht, ihn zur Beteiligung an einem seiner religionspolitischen Buchprojekte zu werben. Es ging um den nicht realisierten Plan eines „Kampfbuches“ unter dem Titel „Der Christus“, in dem er die „vorwärtsdrängenden religiösen Kräfte“ versammeln wollte: Bonus, Traub, Ragaz, Nau mann, Alfred Weber, Karl König und Drews (Brief Diederichs an Bonus, 31.12.1912 [ebd.]). 208 Bonus: Literaturbriefe, in: CW 23 (1909), 746–749, 748. 209 Brief Diederichs an Bonus, 27. Februar 1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. 210 Ebd., Bonus zitierend. 211 Ders.: Von der Mystik und von der geschichtlichen Bindung, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 472–475.494–497, 473. 212 Diesen Gedanken entfaltete er einige Jahre zuvor in der Christlichen Welt in Ausein andersetzung mit Drews und Albert Kalthoff: ders.: Literaturbriefe, 23. Zum Problem der Christusmythe, in: CW 23 (1909), 746–749. 213 Ders.: ‚Jesus von Nazareth‘ oder ‚Christ geboren‘?, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 843–845, 845.
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Auf welche Weise Arthur Bonus nun die christliche Botschaft insgesamt in eine heroische Glaubenslehre umgeformt wissen wollte, lässt sich im Folgenden an zwei Ausschnitten verdeutlichen. Zunächst sind die Verschiebungen in der Kreuzestheologie anzudeuten: Bonus schien es nicht mehr möglich, die Erlö sung im Schatten des Kreuzes zu suchen und der traditionellen Auffassung zu folgen, nach der Gott sich durch das Opfer Christi mit der gefallenen Welt ver söhnt und ihre Sünde auf sich genommen hatte. Geltung konnte der Kreuzestod nur noch als mitreißender Baustein im individuellen Lebenszeugnis Jesu bean spruchen, dessen starke innere Haltung und dessen unerschüttertes Gott- und Selbstvertrauen als letzte Konsequenz in Tod und Weltverachtung kulminier ten. Die christliche Betonung des Mitleids, der Sünde und der Erlösungsbedürf tigkeit des Menschen war zu überwinden. Eine auf dieses tathafte Glaubensver ständnis zugeschnittene Darstellung der biblischen Passionsgeschichten lieferte Bonus 1895 in seinem Sammelband Zwischen den Zeilen. Unter dem Titel „Mit leid“ rechnete er hier mit der christlichen Deutung des Kreuzes ab. Die Leidens geschichte Jesu gab ihm nicht den Anlass zu Demut oder Mitleid, sondern fordere zu Kampf und Mut auf.214 Nach Bonus offenbarte sich am Kreuz das heroische Selbstbewusstsein Jesu, der sich trotzig in sein Schicksal fügte, unge brochen Gott entgegenblickte und schließlich „das Herrscherwort“ aussprach: „Dein Wille geschehe!“215 Damit wurde die Passion zur Darstellung eines menschlichen Heldenmutes, den Bonus für nachahmenswert hielt: Mir ist, als müßte ich die Kniee beugen vor einem Heldentum, das über mein Verstehen geht. Ich finde keine Worte des Mitleids, ich finde nur die Stimme der Bewunderung. Mich treibt, was ich sah, nicht zur Entsagung, sondern zum ernsten Eingreifen. Der auf Golgatha starb, bewegte auch seine Jünger nicht zum Resignieren und Sterben, sondern zur Arbeit ohne Sterbensfurcht.216
Als zweites lässt sich die heroisierende Umdeutung der christlichen Überliefe rung an seiner Ablehnung der Nächstenliebe nachvollziehen. 1899 hatte er in seinen Germanisierungs-Aufsätzen in der Christlichen Welt anklingen lassen, dass er für die Zukunft nach „kräftigerer religiöser Kost“ suchen wollte, als ihm in der Kirche angeboten wurde.217 Ähnlich sprach er sich während der Vorarbei ten zu Religion als Schöpfung in Briefen an Martin Rade und Paul Göhre gegen das übliche Verständnis der Nächstenliebe als christliches Hauptgebot aus. Die Nächstenliebe sei ein Gebot, bei dem man sich nur noch langweilen könne, 214
Bonus: Zwischen den Zeilen I, 138. Ebd., 140. 216 Ebd. 217 Ders.: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, in: CW 13 (1899), 101–103. 215
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schrieb er schließlich 1902 in Religion als Schöpfung.218 Das christliche Liebes gebot sei zu einem allgemein anerkannten sittlichen Lebensratschlag verkom men, zu einer bürgerlichen Tugendregel, die sich von dem individualistisch- heroischen Appell der Jesuspredigt zutiefst unterschied. „[…] diese 1. Lektion des Christentums ‚sitzt‘“, ließ er Göhre wissen, und sei bereits so zerredet, dass sie kein christliches Eigengut mehr darstelle.219 „Pusten wir den Staub ab“, schrieb er an Martin Rade. Was die Gegenwart benötigte, wäre nicht mehr der sittliche Aufruf, sondern die Stärkung der Persönlichkeit und der Selbstliebe als eine „2. Lektion“ des Christentums.220 An dem Briefgespräch mit Göhre lässt sich erkennen, dass Bonus’ Versuch einer Heroisierung der Jesuspredigt nicht unabhängig von seinen Bemühungen um eine neue politische Wirkungskraft der Religion entstand. In den wechsel seitigen Briefen schien immer wieder die Enttäuschung über die gescheiterten sozialprotestantischen Hoffnungen der frühen 1890er Jahre und die Suche nach einer neuen, einigend wirkenden Religionsbewegung durch.221 Die Aufgabe war – so fasste Göhre die gemeinsamen Überlegungen zusammen –, „allgemeine ökonomische, politische, gesellschaftliche, geistige Bedingungen“ zu schaffen, unter denen „in Freiheit gewachsene Edelchristen sich ausleben können“.222 Dazu musste sich allerdings das Christentum einer Umformung in seinen Kern vorstellungen unterziehen und die Rede von Mitleid und Nächstenliebe ablegen. Bonus umschrieb das so: Die Seite, von der aus das Christentum der Zukunft kommen wird, ist gerade die andere, die, nach der es Königslehre ist, die Sache der Königssöhne, die die voller Zucht und Herrschaft lichkeit, Stolz und Vornehmheit die Erde sich unterthan machen wollen, dabei andererseits jedem Schicksal gewachsen, unverzagt – ewig.223
Göhre konnte dem von Bonus skizzierten „Herrenchristentum“ einiges abge winnen.224 Für ihn war der Begriff der Nächstenliebe nur noch in einem ver tieften Sinn zu gebrauchen, und zwar als Verweis auf ein dem sozialistischen Solidaritätsideal verwandtes Bewusstsein.225 Als zur Sozialdemokratie kon vertierter Nationalsozialer blieb Göhre allerdings skeptisch, ob Bonus’ Ziel, „Edelchristen zu erziehen“ und auf dem religiösen Wege eine stolze Zukunfts 218
Ders.: Religion als Schöpfung, 36. Brief Bonus an Göhre, 9.2.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011]. 220 Brief an Rade, 6./8.3.1901 (unter Bezugnahme auf den Brief an Göhre) [ebd., 03_003]. 221 Brief Bonus an Göhre, 9.2.1901 [ebd., 02_011]. 222 Ebd. 223 Ebd. 224 Unter diesem Begriff fasste Paul Göhre Bonusʼ Intention in dem hier diskutierten Kontext treffend zusammen (Brief Göhre an Bonus, Berlin 21.2.1901 [ebd., 02_011]). 225 Ebd. 219
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menschheit anzubahnen, sich ausschließlich als Religions- und Kulturreform verwirklichen lassen konnte.226 Die erhoffte große Wende war für ihn eine Fra ge des Klassenkampfes und der täglichen politischen Arbeit, während Bonus auf eine religiöse Selbstaktivierung setzte und daher die Seelenkraft der Per sönlichkeit zu stärken suchte.227 Die hier deutlich werdende Verknüpfung von Persönlichkeitspathos und he roisiertem Jesusbild lässt Bonus als einen Vertreter der „Barbarentheologien“ seit der Jahrhundertwende erscheinen, die sich vom Rationalitätsprinzip der Aufklärung und vom christlichen Ethos abwandten.228 Die christliche Kreuzes theologie wurde aufgehoben und durch das wilhelminische Ideal der „Selbst behauptung“ ersetzt. Bonus säkularisierte die christliche Jesusgestalt und setzte an seine Stelle ein Persönlichkeitsideal, das einerseits die Grenzen und Konven tionen der modernen Welt überwinden helfen sollte, das sich andererseits aber im Sinne einer darwinistischen Höher-hinauf-Logik verstehen ließ.
6. Der „neue Mythos“ Man sollte nicht mehr Christentum verkünden und fordern, sondern das starke Leben, das man dann nach seinem besten Verständnis näher bezeichnen könnte als ein Leben der Weltüberwindung und Gotteinigkeit oder wie man es sonst empfindet. Der rechte Christ müßte gerade damit einverstanden sein […]. Christus hat nicht „das Christentum“ bringen wollen, sondern das Leben.229
Mit diesen 1911 im Kunstwart erschienenen Sätzen brachte Arthur Bonus auf den Punkt, dass für ihn das kirchliche Christentum keine Zukunft mehr hatte. Für ihn war die Zeit gekommen, die Religionsauffassung des innerlich-macht vollen Individuums wiederzubeleben, die ursprünglich bereits durch Christus in die Welt gebracht worden war. Darin lag für Bonus die Antwort auf die „reli 226
Brief Göhre an Bonus, Berlin 21.2.1901 [ebd.].
227 Ebd.
228 Unter diesem Begriff fasst Justus H. Ulbricht die verschiedenen Entwürfe eines v ölkisch bis Nietzscheanisch inspirierten Christentums von Bonus über Maurenbrecher bis Kalthoff zusammen (Barbarentheologie. Zur Abschaffung des Mitleids im Diskurs neuer Religionen seit 1900, in: K nut Berner (Hg.): Neuere Verflechtungen von Macht, Religion und Moral, Münster 2006, 34–52). 229 Bonus: Rundschau. Haben wir noch ein Recht, uns ‚Christen‘ zu nennen?, in: Kunst wart 24/1 (1911), 35–36. Dass der Name „Christentum“ für die kommende Religion eigentlich unerheblich sei, hatte Bonus schon kurz nach der Jahrhundertwende verkündet: „Christen tum oder nicht Christentum – für die Namensgebung wollen wir die Enkel sorgen lassen. Diese Frage führt von der Arbeit an der Sache ab“ (Religion deutsch, in: Deutsche Heimat 4/1 (1901), 381–383, 382; sowie in leichter Überarbeitung: Germanisierung des Christentums, Jena 1911, 105).
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giöse Krisis“ der Gegenwart, die in ihrer Tiefenstruktur eine Folge der unerhör ten „Selbstzersetzung des Christentums“ in seiner kirchlich tradierten Form war. An der Abkehr vom Christentum, die sich in Religionskritik, Gleichgültig keit und der Suche nach neuem religiösen Inhalt manifestierte, wurde die Inhalt losigkeit des „alten Mythos“ der Kirche überdeutlich. Für Bonus war das ein bedeutsamer, unumkehrbarer kultureller Entwicklungsschritt, wie das „Abwer fen der alten Haut“ und trotz aller krisenhafter Begleiterscheinungen ein „Zei chen starken Lebens“.230 Den „schlafenden Mythos aus dem Kissen zu heben“ war das erklärte Programm des protestantischen Theologen Bonus, das er mit zunehmender Deutlichkeit in seinen Schriften verfolgte und dem er insbesonde re die 1911 und 1912 im Diederichs-Verlag erschienenen drei Bände „zur reli giösen Krisis“ widmete.231 Wenn Bonus aus den religiösen Spannungen der Gegenwart das „Sterben des alten Gottes“ herauslas, brach er ohne Zweifel die Konsenslinien der klassi schen Theologie auf, von der er wiederum erwartete, dass sie in naher Zukunft der Lächerlichkeit preisgegeben würde.232 Auf Bonus’ religiösem Koordinaten system war eine tiefgreifende Verwandlung der religiösen Landschaft vorauszu sehen. Doch es wäre irreführend, wenn man unter dem nach Bonus’ Meinung im Erwachen begriffenen „neuen Mythos“ eine neu zu begründende Zukunfts religion verstehen wollte. Für Bonus war sie, wie Ernst Troeltsch treffend be merkt hatte, nur als „Fortentwicklung des Christentums“ denkbar. Wie weit die Verwandtschaft des neuen Mythos mit einem modern verstandenen Christen tum wirklich reichte, lässt sich schlaglichtartig am Briefwechsel mit Julius Kaf tan beleuchten, der kritisch auf die Veröffentlichung der Diederichs-Bände re agierte. „Sie schrieben einmal“, wurde Bonus von Kaftan erinnert, „Sie nennten den neuen Mythos, was bei mir das neue Dogma hieße.“233 Damit band Kaftan Bonus’ provozierende Thesen an seine eigenen Überlegungen zurück, mit de nen er 1889 in der Frühphase der Christlichen Welt für Aufsehen gesorgt hatte. Mit dem Ruf nach einem „neuen Dogma“ hatte Kaftan damals die Notwendig keit einer Anpassung der christlichen Lehrentwicklung an die Stimmung der Gegenwart zum Ausdruck bringen wollen.234 Nun rief er Bonus ins Gedächtnis, 230 Ders.: Von den neuen Religionsstiftern und von der ‚Orthodoxie‘, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 573–581. 231 Ders.: Vom neuen Mythos, 2. 232 Ebd., 108. 233 Brief Kaftan an Bonus, Steglitz bei Berlin, 5./6.1.1912 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_001]. 234 Julius K aftan: Brauchen wir ein neues Dogma?, in: CW 3 (1889), 779–780.803–809 .819–816.835–841.859–864.899–905.926–931.947–950 (die Aufsätze wurden im Folgejahr in drei Auflagen als Broschüre nachgedruckt: Brauchen wir ein neues Dogma?, Bielefeld 1890); ders.: Glaube und Dogmatik, in: ZThK 1 (1891), 479–549. Die Aufsätze waren als Reaktion
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was das Christentum als Gewissensreligion für die Gegenwart bedeute. Es ging in ihm um Gotteskindschaft und um die Wirksamkeit des Geistes, um die sitt liche „Freiheit“ des Einzelnen und um das „Leben“, das „aus ewigen Quellen fließt“; mithin um eine Frömmigkeit, die ihren Ausgangspunkt in der menschli chen Persönlichkeit und ihrem Innenleben nahm.235 Darin verbarg sich, meinte Kaftan, nichts anderes, als das, worauf Bonus abzielte.236 Was er nicht teilte, war die Aufgabe des Gottesbegriffs an den allgemeinen Entwicklungsgedan ken. Letztlich bestand die Gefahr, wies er Bonus zurecht, dass er Gott verleug ne: Die menschliche Hoffnung auf Zukunft und Erlösung sowie das Jenseits senke er zur Einbildung herab. Das Buch laufe Gefahr, als „naturalistischer Ku chen à la Jatho“ verstanden zu werden. Das Ganze würde vermutlich aufgrund seiner „Kulturseligkeit“ bald in Vergessenheit geraten.237 Arthur Bonus wollte nicht mehr als ein „Umrißbild“ seiner religiösen Zu kunftsprognosen zeichnen.238 Dazu wies er auf ein in der Gegenwart neu erwa chendes „Selbstgefühl“ hin, das er an der Goetheischen Figur des Faust illust rierte. An diesem ließ sich ein veränderter, heroischer Umgang mit dem Selbst, mit Schuld, Bekehrung und Reue aufzeigen. Das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen im Drama Goethes war für Bonus ein Vorbild für ein Lebensgefühl, das vom Ich und vom Willen ausging: Faust kannte „Mitgefühl“ und „die Reue“, aber diese erweckten bei ihm nicht wie im kirchlichen Christentum die „Bekeh rung zu ruhigem und gottseligen Leben“, sondern spornten ihn an, „Herr zu werden“ über seine Vergangenheit.239 Für Bonus lagen hier die Grundstruktu ren eines veränderten Lebensgefühls, das des „faustischen Menschen“, offen zu Tage.240 Daraus ließen sich Züge des „neuen Mythos“ ableiten: Er würde dem Menschen Stolz und Selbstachtung verleihen und seine Selbsterhebung über das Alltägliche fördern, ein „Gefühl vorbehaltloser Weltlichkeit“ in Spannung mit der „intensivsten Innerlichkeit“ vorbereiten und ihn schließlich zur „Herr schaft“ über die Welt geleiten.241 Der „neue Mythos“ würde dem Menschen kei ne Moral vorgeben, sondern ihn dazu befreien, aus dem Innersten heraus auto auf die Schrift des Protestantenvereinlers Otto Dreyer entstanden: Undogmatisches Chris tentum, Braunschweig 1888 (41890). 235 Brief Kaftan an Bonus, Steglitz bei Berlin, 5./6.1.1912 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_001]. 236 Ebd. 237 Ebd. Bonus hatte das Buch in der Tat im Hinblick auf Jatho verfasst, dazu s. u. 238 Ders.: Vom neuen Mythos, 26. 239 Ebd., 52 f. 240 Vgl. H erfried Münkler: Der Pakt mit dem Teufel. Doktor Johann Georg Faust, in: ders.: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, 109–140. 241 Bonus: Vom neuen Mythos, 75–79.
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nom zu handeln.242 Er würde schließlich die Abgrenzungen zunächst zwischen den einzelnen Konfessionen und in der Verlängerung zwischen den unter schiedlichen Religionen sprengen.243 Damit würde verwirklicht, was Bonus als die ursprüngliche biblische Botschaft verstand: Im „neuen Mythos“ stünden die Menschen da als „der Gottessohn, der König, seine Freunde, die Freien, die Mitarbeiter Gottes“.244 Der „neue Mythos“ bedeutete also eine Auflösung der christlichen Lehren zugunsten einer heroischen Weltsicht, die Bonus aber an die christliche Traditi on rückbinden wollte. Er sah ihn in einer Entwicklungslinie mit der Reformati on und dem modernen Protestantismus. In ihm war die Zerrissenheit der Ge genwartskultur in eine erneute Einheitlichkeit des Denkens, Handelns und reli giösen Hoffens zu überführen und dabei die kirchliche Tradition zu überwinden, denn, wie Bonus apodiktisch feststellte: „Mythos wird nur durch Mythos ver trieben.“245 Für ihn stellte die inhaltlich entleerte Theologie die Sprachfassung sinkender Kultur und vergangener Werte dar. Die in der christlichen Sündenleh re betonte „Schwäche“, „Gefühligkeit“ oder „feiges […] Sichducken“ trugen seiner Ansicht nach dazu bei, dass der moderne Mensch das Christentum ver achtete und als Produkt einer schwindenden Kulturepoche wahrnahm.246 Die christliche Vorstellung von der Sündenerlösung im Jenseits und die paulinische Theologie des Sühneopfers und der menschlichen Zerknirschung im Angesicht der Schuld gehörten seiner Ansicht nach einer vergangenen Epoche an. Der Mensch der Gegenwart wollte sich in Bonus’ Augen auf die eigene Kraft aus richten.247 Das Selbst und die Seelentiefen des Ichs wurden gleichsam zum Er lösungsort des „neuen Mythos“, mit dem für Bonus die Zeit der Konfessionskir chen an ihr Ende gelangt war. Für Bonus war der Mythos die einzige Ausdrucksform, in der sich authenti sches religiöses Empfinden angemessen mitteilen ließ.248 Im Rückgriff auf Johann Jakob Bachofen und vor allem Friedrich Nietzsche spitzte er das zeitge nössische Verständnis des Mythenbegriffes im Sinne seines individualistischen Glaubensverständnisses zu.249 Im Mythos kam als wertende, subjektive Aus 242
Ebd., 91. Ebd., 86–88. 244 Ebd., 75. 245 Ebd., 67. 246 Ebd., 76. 247 Ebd., 74 f. 248 Vgl. z. B. Ders.: Deutsche Weihnacht, München und Leipzig 1909. Bonus beschäftigte sich auch mit dem Verhältnis der Kunst zur Religion, die wie der Mythos Seelenausdruck war, aber nicht in die gleichen existentiellen Tiefen hinabreichte; vgl. Kunst und Religion, in: Das Suchen der Zeit 5 (1909), 73–98. 249 Als weiteren Stichwortgeber ist auf Carlyle hinzuweisen, dessen „Kleiderphilosophie“ 243
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sprache die „Gemütskraft“ des Einzelnen sowie der jeweiligen Kultur zum Aus druck.250 Mit Nietzsche und Bachofen ließ sich im Mythos gegenüber philologi schen Zugangsweisen eine symbolische Ausdrucksform sehen, der sich ein ei gener Wahrheitsgehalt beimessen ließ. Nach Bachofen brachte er das urtümliche „Lebensgesetz“ einer Kultur zur Sprache und ließ dadurch Einblicke in unver dorbene Frühzeiten eines Volkes zu.251 Auch bei Nietzsche lief der Mythos-Be griff auf eine gegenwartskritische Funktion hinaus, weil er an einzelnen Stellen seines Werkes eine Wiederbelebung der heroisch-mythischen Lebensentwürfe der Vergangenheit zur kulturellen Neubegründung anempfahl. Mit Nietzsches 1872 erschienenem Frühwerk, der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, ließ sich das Unbehagen an der Kultur der Moderne auf den Verlust eines großen, bindenden „Fundaments“ zurückführen. Der von ihm tragisch-rausch haft verstandene Mythos fasste das vorrationale Empfinden, die menschliche „Naturkraft“ zusammen und dokumentiere das „zusammengezogene Weltbild“ einer gesunden Kultur. Für alle Kulturerscheinungen bis hin zum Staat bot der Mythos den „festen und heiligen Ursitz“.252 Hier lag ein Programm vor, das he roische Unmittelbarkeit gegen die Verflachung der Kultur empfahl und einen Geist heraufbeschwor, der kraftvoll, naturnah, kulturschaffend und instinkt sicher war. Auch für Bonus ging vom mythischen Erleben eine kulturelle Form kraft aus, welche die „große Götzendämmerung des wissenschaftlichen Zeit alters“ herbeiführen würde.253 Dieses kulturkritische Mythos-Verständnis – nach Eugen Diederichs’ Me moiren ein Kampfbegriff der Jahrhundertwende – entsprang der Sehnsucht nach einem einheitlichen Weltverständnis. Vielfach wird die Konjunktur des Mythos daher als Programm einer ästhetischen und antimodernen Wiederver in Bonus’ Vorstellung eines zu erneuernden Mythos eingeflossen sein dürfte. Carlyles ging in seinem Werk Sator Resartus (1833/34) davon aus, dass alle großen Ideale nicht unmittel bar, sondern in der Umhüllung von jeweils kulturabhängigen „Kleidern“ zu erkennen sind. Diese „Kleider“ veralten mit der Zeit und bedürfen im Zuge der historischen und kulturellen Entwicklung der Erneuerung. Vgl. dazu – und zur Interpretation durch Otto Baumgarten – H asko von Bassi: Otto Baumgarten, 295 f. 250 Ders.: Der lange Tag, Heilbronn 1905, 8–17; ders.: Vom neuen Mythos, 1 und 79; vgl. auch den Aufsatz: ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 447. 251 Johann J. Bachofen: Das Mutterrecht und Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, Berlin 1948, Bd. 1, S, 13; zur Bedeutung Bachofens vgl. Peter Davies: Myth, Matriarchy and Modernity. Johann Jakob Bachofen in German Culture, Berlin 2010; Jan Rohls: Protestanti sche Theologie der Neuzeit, Bd. 1, 653. 252 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: K arl Schlechta (Hg.): Friedrich Nietzsche, Bd. 1, 7–134, 125 f. 253 Bonus: Vom neuen Mythos, 67.
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zauberung verstanden.254 Das allerdings wird nur zum Teil der mehrschichtigen Aufladung des Begriffs bei Bonus gerecht. Der kommende „neue Mythos“ soll te Selbstaussprache des modernen Weltverständnisses sein und ein wirkmächti ges Einheitsband für die Gegenwartskultur werden, das die konfessionellen Grenzen überwand und dem Empfinden des ganzen Volkes Rechnung trug. Da mit war zugleich der nationale Horizont des Mythosbegriffs markiert: „Der neue Mythos muß wieder das ganze Volk umfassen“.255
7. Nietzsche und Lagarde Der Name Nietzsche kommt bei Bonus auffallend selten vor. Es ist, als habe er seit 20 Jahren so sehr in Nietzschesche Luft hineingeatmet, daß er gar nicht merkt, wie nietzschisch eigent lich alles das ist, was er sagt.256
Ähnlich wie in Max Maurenbrechers eben zitierter Bemerkung fiel es zahl reichen Zeitgenossen auf, dass in Bonus’ religiösen Überlegungen vieles nach Nietzsche klang. Seine Schriften durchwehte ein „Nietzschehafter Zug“, der sich nicht nur auf den Stil seiner Darstellung auswirkte, sondern auch inhalt liche Spuren hinterließ.257 Das wurde nicht nur positiv verbucht; Georg Lasson ließ in der Theologischen Wochenschrift wissen, dass Bonus am „Delirium Zarathustras“ leide.258 Die scharfe Ablehnung des kirchlichen Christentums als weicher Mitleidskultur, die dem Untergang geweiht war, die vom Entwicklungs gedanken genährte Hoffnung auf die Ankunft des Übermenschen, die individu alistische Ablehnung der Moral „jenseits von Gut und Böse“, die Entdeckung des menschlichen Willens als Triebkraft, das Nebeneinander von Wissen schaftsfeindlichkeit und Lebenspathos, schließlich selbst das Auskosten des Daseins auch in den Niederungen des Leids und der Sünde, in der sich für den Starken noch heroischer Gewinn erblicken ließ – all das waren Gedankengänge, die Nietzsche an verschiedenen Stellen seines Werkes vorformuliert hatte. Mit ihnen hatte er den Geschmack einer Intellektuellengeneration getroffen, die sich 254 Vgl.
Moritz Bassler (Hg.): Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900, Strasbourg 1998. 255 Bonus: Vom neuen Mythos, 140. 256 M ax M aurenbrecher: Arthur Bonus, in: Neue Rundschau 25 (1913), 279–282, S 280; im Vergleich zu Lagarde gering schätzt den Einfluss Nietzsches ein: K ratzsch: Kunstwart, 192 257 Bruno Goldschmit: Arthur Bonus, in: Christliche Freiheit 30 (1914), 56–57, 57. 258 Georg Lasson: Rez. Religion als Schöpfung, in: Kirchliche Wochenschrift, Nr. 34 v. 22.8.1903 [UA Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. Lassons Bewertung ließ keine Zweifel an seiner Bewertung von Bonus’ Theorien übrig: „Die Gemeinde kann einem leid thun, der ein Mann von dieser Geistesverfassung das Evangelium predigt.“
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von den Gewissheiten des Christentums zunehmend abzukehren begann.259 Entsprechend groß war der Nachhall, den sie in Arthur Bonusʼ Suche nach neu em Glauben fanden. Nietzsche ließ sich um die Jahrhundertwende als eine der großen, propheti schen Einzelpersönlichkeiten lesen, die Wege zu einer veränderten religiösen Kultur zu weisen schienen.260 Hans Weichelt, ein Gymnasialprofessor aus dem Kreis um die Christliche Welt, gab die erhitzte Stimmung wieder, die das „De but des ‚Sohnes Zarathustra‘ in der großen Öffentlichkeit“ am Anfang der 1890er Jahre ausgelöst hatte. Für ihn waren es die Sehnsucht nach neuer Tiefe, Zweifel am Christentum, „das Verlangen des Irreligiösen nach einer neuen Re ligion, des Erkenntnismenschen nach einer neuen Mystik, der Blasierten nach einer neuen Trunkenheit“, die sich von Nietzsche Inspiration und Wegweisung erhofften. An ihm ließ sich ein verstärkter Individualismus in der Massengesell schaft abbilden. Nietzsche schien die Figur eines gebildeten „Aristokraten“ zu verkörpern, der „hochmütig auf die Viel-zu-vielen herabsieht“.261 An Nietzsche hatte die Generation der Jahrhundertwende ihr Lebensgefühl geprägt und war sich ihrer „Schöpferkräfte“ bewusst geworden, stellte Eugen Diederichs rück blickend in seinem Verlagskatalog Stirb und Werde 1929 fest.262 Für Diederichs lag in Nietzsche der Grund für Bonus’ Austritt aus dem Pfarramt und für seinen religiösen Neuansatz.263 Nicht zuletzt der biblische Gestus, in dem Nietzsche sich etwa im Zarathustra selbst zum Offenbarer einer höheren Menschheit stilisierte, trug dazu bei, in 259
Aus der Flut an Belegen sei einmal mehr Eugen Diederichs hervorgehoben: Stirb und Werde. Ein Arbeitsbericht über 30 jährige Verlagstätigkeit auf religiösem Gebiete (1899– 1929), Jena 1929, 50. 260 Zur Nietzsche-Rezeption vgl. grundlegend Steven Aschheim: Nietzsche und die Deut schen. Karriere eines Kults, Stuttgart 2000; Thomas Mittmann: Vom „Günstling“ zum „Ur feind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Würzburg 2006 sowie Stefan Breuer: Nietzsche-Translationen. Typen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechten, in: Andreas Schirmer (Hg.): Widersprü che. Zur frühen Nietzsche-Rezeption, Weimar 2000, 271–290; Ulrich Linse: Nietzsches Le bensphilosophie und die Lebensreform, in: K ay Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform, Darmstadt 2001, Bd. 1, 165–168; Joëlle Philippi: Das Nietzsche-Bild in der deutschen Zeit schriftenpresse der Jahrhundertwende, Saarbrücken 1970; R ichard Hinton Thomas: Nietz sche in German Politics and Society 1890–1918, Manchester 1983; Zu Nietzsche selbst: azzino Montinari: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin 1991. M 261 H ans Weichelt (Hg.): Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Leipzig 1910, 206 f. 262 Stirb und Werde, Jena 1929, 50. 263 Ebd., 51. Tom K leffmann vermutet bei Bonus, aber auch bei Albert Kalthoff eine „Le benswende“, die durch die Beschäftigung mit Nietzsche ausgelöst war: Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersu chungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003, 337.
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ihm den Führer zu einer ästhetisch erneuerten Lebensform zu erkennen. Nietz sche konnte seine Schriften, die fast alle in Nähe und Distanz das Christentum umkreisten und ansetzten, es aus dem Erbe der Antike zu überholen, als „frohe Botschaft“ deuten.264 Seine Interpretation der Gegenwart als Krise und der Ruf nach Überwindung der Moderne machten ihn in der Rezeption zum Stichwort geber für selbsternannte „Apostel der Zukunft“, die zwischen Sozialkritik, Le bensreform und völkischer Bewegung die deutsche Kultur zu formen und zu neuern suchten.265 Sie sahen sich durch seine Rationalitätskritik berechtigt, den Humanismus und den bürgerlichen Schulbetrieb zugunsten neuer Bildung ab zulegen, fanden in seinem Vitalismus eine umfassende, dem Darwinismus ver wandte Weltinterpretation vor und bezogen sich auf Nietzsches Ruf nach einer Belebung des Mythos und eines individuellen, heroischen Lebensstils.266 Die bisweilen als an das Fundament der abendländischen Kultur angelegte „Ham merschläge“ bezeichneten kultur-, kirchen- und religionskritischen Großaus sagen des Meisters ließen sich unschwer mit der Sehnsucht des fin-de-siècle nach ästhetischem Aufbruch und neuem Dasein in Verbindung bringen. Wenn sie im Einzelnen auch sehr unterschiedlich aussahen, richteten sich die bil dungsbürgerlichen Entwürfe einer Lebensreform im Gefolge Nietzsches mehr heitlich auf die Vision eines neuen Menschenbildes und arbeiteten sich am Christentum als Widerpart einer erhofften Zukunftsreligion ab: „Ob einmal über Verse aus Zarathustra in Kirchen gepredigt werden wird?“, hieß es nach der Jahrhundertwende in der Zeitschrift Die Umschau in Erwartung von „Nietz sches Religion“.267 Arthur Bonus selbst war skeptisch, ob sich jemals eine religiös-kulturelle Er neuerung in den Spuren Nietzsches auf dem Boden des Kirchentums durchfüh ren lassen würde, wie er mit einem Verweis auf Nietzsche selbst zugab: „Nietz sche klagt einmal, man könne erforschen und beweisen, was man wolle, von den Kanzeln werde weiter gepredigt wie vorher.“268 Ebenso wenig war er über sei nen Ruf als theologischer Nietzscheaner erfreut. Als ein Unbekannter – vermut lich als Reaktion auf das Reformbuch Religion als Schöpfung – unter der Über 264
M azzino Montinari: Friedrich Nietzsche, 129. Kurt Eisner: Psychopathia spiritualis, Leipzig 1892 (im Untertitel: Friedrich Nietz sche und die Apostel der Zukunft). Eisners zuerst in der Gesellschaft als Artikelfolge erschie nenes Buch bietet eine scharfsinnige Nietzschekritik und distanziert sich vom vor der Jahr hundertwende aufkommenden Nietzsche-Kult. 266 Steven Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, 222. 267 H. v. Liebig: Nietzsches Religion in: Die Umschau über die Fortschritte in Wissen schaft und Technik 4 (Nr. 42 v. 13. Oktober 1900); vgl. Ascheim: Nietzsche und die Deut schen, 232. 268 Bonus: Man kämpft gegen Windmühlenflügel, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 548– 549, 548. 265
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schrift „Nietzsche und Bonus“ einen Vergleichsartikel schreiben wollte, zeigte Bonus sich erschrocken: „Ich zittre noch heute, daß ers thut“, teilte er seinem Schriftstellerkollegen Gustav Frenssen mit.269 Dennoch begleitete ihn die Aus einandersetzung mit Nietzsche seit Studienzeiten; immer wieder wiesen seine Veröffentlichungen Passagen auf, in denen sich die Anklänge an Nietzsche kaum überhören ließen. Was also war „nietzschisch“ an Bonus’ Werk? Diese Frage ist im folgenden mit einem Blick in die beginnende protestantische Re zeption des Philosophen zu beantworten. Im Umfeld des freien Protestantismus regten sich schon vor der Jahrhundert wende Stimmen, die das Christentum mit Nietzsche aus seinen Verkrustungen lösen wollten. Während sich die Zunfttheologie mit dem Philosophen zunächst schwertat, bezeugen die zahlreichen Anläufe in den modern-theologischen und reformerischen Zeitschriften, dass Nietzsche auf dem unruhigen modernisti schen Flügel des Protestantismus bald eine hohe Attraktivität gewann.270 Wo die traditionell-christlichen Bilderwelten mit Plausibilitätsverlusten zu kämpfen hatten, gab Nietzsche Anstöße zu einem erneuerten religiösen Weltgefühl. Mit ihm schien sich die Enge des „Morphiumchristentums“ sprengen und eine neue protestantische Weltöffnung herbeiführen zu lassen.271 Seine Wendung zur Diesseitigkeit und zum Leben sowie der energische Ruf nach persönlicher und kultureller Erneuerung machten sein Werk attraktiv.272 Nietzsche wurde als eine eigentlich religiöse Person entdeckt, deren existentielles Ringen um ein unverstelltes Ich als vorbildlich für eine moderne und wahrhaft christliche Le benshaltung vorgestellt wurde. Bereits 1896 brachte die Christliche Welt eine Reihe von Andachten, die sich auf Kernbegriffe aus dem Werk Nietzsches bezo gen.273 Darin wurde der Philosoph vor allem als Urheber eines neu verstandenen 269
Brief Bonus an Frenssen, 15.12.1901 [Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Cb 21. Frenssen, Gustav 56:343, 4]. 270 Vgl. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, 227 f.; zu Bonus unscharf und überwie gend von Aschheim abhängig Thomas Mittmann: Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Ju den, 134 f. Die liberalen und modern-protestantischen Zeitschriften sowie etliche Klein schriften eröffneten die protestantische Nietzsche-Rezeption, die zunächst von Pfarrern und Gymnasiallehrern angeführt wurde, bevor sich die Universitätstheologie öffnete, vgl. als detailreichste Arbeit zur theologischen Bearbeitung Nietzsches Tom K leffmann: Nietzsches Begriff des Lebens, 338 f.; sowie Daniel Mourkojannis: Ethik der Lebenskunst. Zur Nietz sche-Rezeption in der evangelischen Theologie, Münster 2000; Peter Köster: Nietzsche-Kri tik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 615–685. 271 H ans Weichelt: Der moderne Mensch und das Christentum, Tübingen 1901, 4.6 f. 272 Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, 220. 273 Ernst Rolffs: Der Wille zur Macht, in: CW 10 (1896), 49–51; Jenseits von Gut und Böse, ebd., 73–75; Macht über das Gemeine, ebd., 97–99; Die Macht der Geduld, ebd., 121– 123; Die Macht der Liebe, ebd., 145–147. Neuerscheinungen zum Thema Nietzsche wurden
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Persönlichkeitsbegriffes geschildert. Wenn Nietzsche von Macht sprach und den Menschen zur Formulierung einer eigenen Sittlichkeit „jenseits von Gut und Böse“ aufrief, wurde das als Beitrag zur Stärkung der Persönlichkeit und zur Behauptung des Ichs gegenüber den „blinden Kräften, die in starrer Gesetz mäßigkeit die Schöpfung durchwalten“, wahrgenommen.274 Mit Nietzsche, ver sicherte der Noch-Pfarrer Albert Kalthoff 1900 im Protestantenblatt, ließen sich die Kulturprobleme der Gegenwart lösen, die um die Wende ins neue Jahr hundert als bedrängend empfunden wurden. Wenn sich der Philosoph als wü tender Christentumsfeind äußerte, musste man ihm aus religiöser Sicht für sei ne scharfen, klärenden Anfragen an das Kirchenwesen der Jahrhundertwende dankbar sein.275 Wie Kalthoff 1904 in seinen Zarathustra-Predigten ausführte, zeichnete sich in Nietzsches Werk die „Prophetie einer neuen Kultur“ ab.276 Er selbst sei durch Nietzsche „innerlich erst Mensch geworden“.277 Nietzsches has serfüllte Kritik an der Verquickung von Christentum, Kirche und Kultur sollte zum Leitfaden für die schrittweise Entschlackung und existentielle Reinigung der protestantischen Theologie werden. Kalthoffs nietzscheanische Umwertung des Christentums richtete sich vorrangig gegen die liberale Theologie und den toten „Gott der Theologen“, die ihn lehrhaft „sezieren, zerstückeln, zersägen“ würden.278 Aber auch dem Protestantenvereinler August Pfannkuche zufolge lieferte Nietzsche „eine Fülle positiv-fruchtbarer Anregungen zur Herausarbei tung des reinen Christentums Christi.“279 In Nietzsche vermutete man einen heimlichen homo religiosus, der an der Moderne und der formalistischen Pre digt der Gegenwart irre geworden war. recht konsequent verfolgt, s. z. B. H ans Weichelt: Nietzscheliteratur, in CW 18 (1904), 782– 787, vgl. die Notizen R ades, Verschiedenes. Kleine Mitteilungen; ebd., 790, in der Rade auf weitere Nietzsche-Texte aus dem Umkreis seiner Zeitschrift verweist. 274 Ebd. 275 A lbert K althoff: Nietzsche und die Kulturprobleme unserer Zeit, in: PrB 34 (1900), 290 f.; 297–300. In erweiterter Form erschien dieser Aufsatz bei Schwetschke in Berlin, 1900. Das Zitat über Kalthoff aus: Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, 224. 276 K althoff: Zarathustra-Predigten. Reden über die sittliche Lebensauffassung Friedrich Nietzsches, Leipzig 1904 (Kapitelüberschrift). 277 Brief Kalthoff an Elisabeth Förster-Nietzsche, 30.1.1905, zitiert nach: Thomas M ittmann: ‚Gott ist tot – es lebe die Religion‘. Friedrich Nietzsches Philosophie im Kontext reli giöser Vergemeinschaftung in Deutschland vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, in: Michael Geyer /Lucian Hölscher (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesell schaft, Göttingen 2006, 253–276, 254. 278 K althoff: Zarathustra-Predigten, 167. 279 August Pfannkuche: Nietzsche – Prophet oder Philosoph?, in: PrB 37 (1903), 106–109, vgl. ähnlich Eduard Grimm: Wie wurde Friedrich Nietzsche ein Feind des Christentums und was können wir von ihm lernen?, in: PrM 4 (1900), 253–280; ders.: Das Problem Friedrich Nietz sches, Berlin 1899; Friedrich Rittelmeyer: Friedrich Nietzsche und die Religion, Ulm 1904.
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In Nietzsche ließ sich selbst ein „Erzieher zum Christentum“ sehen, wie einer der wirkungsvollsten Beiträge zu einer Nietzscheanischen Frömmigkeit über schrieben war. Er stammte von dem Sigmaringer Superintendenten Hans Gall witz, der ihn 1896 in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. Dieser Auf satz, der für Arthur Bonus erhebliche Bedeutung hatte, zeigte einige charakte ristische Merkmale der protestantisch-reformerischen Nietzsche-Lektüre.280 Gallwitz sah in Nietzsche den Hoffnungsträger für die innere Erneuerung des Christentums schlechthin. Die Nietzscheanische Philosophie sollte den Leitfa den bilden, an dem sich ein Verständnis für das originale Christentum der Be wegung um Jesus wiedergewinnen lassen sollte. Das von Nietzsche beförderte Lebensgefühl wurde als Möglichkeit wahrgenommen, jene Haltung dem Ich und der Welt gegenüber in der Moderne zurückzugewinnen, die in der christli chen Tradition „Glauben“ hieß. Nietzsche und Jesus waren für Gallwitz darin vergleichbar, dass sie die „Tüchtigkeit“ des Menschen und die „Kraft der Per sönlichkeit“ in einem kulturellen Umbruch gepredigt hätten.281 Nietzsche wur de hier zum Vorboten einer kultur- und religionskritischen Christentumsexe gese, die vom protestantisch-bildungsbürgerlichen Persönlichkeitsideal gespeist wurde. Er half, die Lage des Protestantismus als Kulturproblem bewusst zu machen und einer Verjüngung entgegenzuführen. Die religiös-kulturelle Erneu erung war auf die Überwindung eines „entnervten“ Kulturzustandes ausgerich tet, der eine „gesteigerte Lebensenergie“ nötig machte.282 Es kann allerdings keine Rede davon sein, dass sich die kulturprotestanti schen Theologen die Hoffnung auf eine „Selbstvergötterung“ im Übermen schen zu eigen machten.283 Bonus’ Lehrer Julius Kaftan etwa ließ eine Mi schung aus Faszination und Distanz erkennen, die nicht ohne weiteres auf den Nietzschekult der Jahrhundertwende einschwenkte. Kaftan, der sich als ein wichtiger Vermittler Nietzsches in die liberalprotestantische Universitätstheolo gie betrachten lässt und unter anderem in der Christlichen Welt mehrfach über ihn referierte, hatte den Philosophen persönlich kennenlernen können.284 Für 280 H ans Gallwitz: Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christentum, in: PrJ 83 (1896), 324–347; vgl. Bonus’ Rezension zu Gallwitzʼ Nietzschebiographie: Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141. Diese Besprechung gibt die Grundrichtung von Bonusʼ Nietzschebild am geschlossensten wieder. Gallwitz war Mitglied der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ und für diese Vereinigung seit 1905 als Wanderredner zu den Themen „Nietzsche und das Christentum“ und „Kampf um die Welt anschauung“ sowie zu theologischen Spezialfragen im Einsatz; vgl.: Vorträge, in: An die Freunde Nr. 9 (15. Januar 1905), 75. 281 Ebd., 328. 282 Ebd., 327. 283 H ans Weichelt: Der moderne Mensch, 4.6 f. 284 Kaftan war zwischen 1874 und 1884 Professor in Basel und hatte Nietzsche dort ken
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ihn war Nietzsche bei aller Kenntnisbreite kein diszipliniert fachlich arbeiten der Philosoph und noch weniger ein weltanschaulicher Systembauer, sondern ein Dichter, der intuitiv die Gebrechen der Gegenwartskultur erfasste, den aber auch „religiöse Sehnsucht“ prägte.285 Kaftan versuchte, fasziniert von der sprachlichen Kraft Nietzsches, dessen Gedankengänge als Krankheitsfolgen zu entschärfen. Er betonte, dass Nietzsche mit seiner „Herrenmoral“ ein seelisches Problem sehr scharf erkannt hatte, unter dem der Gegenwartsmensch litt. Aus seinem „überquellenden Verlangen nach Leben und Macht“ sprach das Fehlen von einem „eigentümlichen Lebensinhalt“ in der Moderne.286 „Persönliches Le ben“ war die Zielrichtung, die er mit dem Christentum gemeinsam hatte. Die von Nietzsche behauptete „Herrenmoral“ lehnte er als rohe, auf „physischer Kraft“ bauende Überzeugung ab, weil sie den Kampf aller gegen jeden verabso lutiere und deshalb die Höhe des moralischen Denkens des Christentums nicht erreichte. Während Nietzsche bloßes „Diesseits“ verkündigte, war für Kaftan erst Gott als absolutes Prinzip der Garant für eine ethische Lebensausrichtung. Diese Rezeptionslinien finden sich auch im Nietzschebild von Arthur Bonus versammelt, in dem die Suche nach einer Neubestimmung der Religion und die Kritik an den zivilisatorischen Ermüdungserscheinungen der wilhelminischen Ära auf eine schillernde Weise miteinander verbunden waren. Bonus stilisierte Nietzsche, der sich selbst – wie Bonus hervorhob – als der „Gekreuzigte“ be zeichnet hatte, zum großen Leidenden an Kultur und Christentum. Damit trug Bonus zum Geniekult um den Philosophen bei, doch sah er in Nietzsche eher den visionsreichen Vordeuter einer neuen Kulturepoche, dessen Hinweise erst nebelhafte Lichter auf ein zukünftiges Leben warfen, als den energischen Füh rer in eine neue Welt. Für ihn hatte Nietzsche in endgültiger Weise auf die „bleichsüchtigen Ideale“ des Christentums aufmerksam gemacht. Wie kein anderer hatte er die Gegenwart als Verfallsperiode gebrandmarkt und auf den bevorstehenden Umbruch hingewiesen, durch den die erschlafften Ideale des nengelernt. Eine weitere, auf beide nachwirkende Begegnung fand im August 1888 in Sils statt, wo Kaftan von Berlin aus mit seiner Frau die Sommerfrische verbrachte. Nietzsche nahm sich viel Zeit für Kaftan. Beinahe täglich fand man zu Gesprächen zusammen, durch die die persönliche Sympathie gefestigt wurde, ohne allerdings die sachlichen Gegensätze überwinden zu können. Nietzsche machte sich unmittelbar nach Kaftans Besuch an die Ar beit am Antichristen, in dem er seine Ablehnung des Christentums darstellte. Vgl. Werner Ross: Der ängstliche Adler, Stuttgart 1979, 730 f.; Hermann-Peter Eberlein: Flamme bin ich sicherlich!, Köln 1999, 267–270. Kurze Erwähnung findet der Besuch auch bei Julius K aftan: Diesseits von Gut und Böse, in: CW 10 (1896), 320–326; vgl. seine Vorträge: Das Christen tum und Nietzsches Herrenmoral, Berlin 1897. 285 Julius K aftan: Diesseits von Gut und Böse, in: CW 10 (1896), 320–326, 322. Kaftans Artikel begleiteten die Andachtsserie von Ernst Rolffs. 286 Ebd., 325.
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19. Jahrhunderts hinweggefegt würden. In den Augen Nietzsches betrachtet zeigte sich die Kultur der Gegenwart rundweg als „kleinlich, unerfreulich, fade, spießbürgerlich, zu großen Blicken, allen tiefen Auffassungen ungeeignet“, da sie es in den Fesseln des Christentums bisher nicht vermocht hatte, „die Men schen innerlich frei, groß, stark zu machen“.287 Nach der weichen Christlichkeit und dem ausgehöhlten, epigonenhaften Bildungshumanismus, der seine Ideale aus einer verblassten und herbeigelesenen Antike bezog, war mit Nietzsche ein Neubeginn zu erwarten: Er war derjenige unter den Denkern der Gegenwart, der „mit größter Klarheit zugleich und Bitterkeit den Verfall der Renaissance und die völlige Unfähigkeit der germanischen Völker für diese Kultur durch schaut und durchfühlt“ hatte.288 Für Bonus umfasste die Persönlichkeit Nietzsches in einmaliger Weise den unaufgelösten Grundzwiespalt der modernen Kultur zwischen den religiösen Beharrungskräften und dem Durchbruch zu neuem Denken.289 Sein Charakter gab die „Spannung in den Bedürfnissen“ der Gegenwart wieder.290 Nietzsche hatte versucht, „von zum Teil geradezu entgegengesetzten Standpunkten aus die Kultur der Zeit zu überrennen“ und ließ sich daher als Spiegelbild der Gegen wart betrachten.291 Für Bonus blieb Nietzsches Werk unabgeschlossen und im Fluss. Es war diese „Lebensstimmung“ zwischen Aufbruch und vernichtender Kulturkritik, von der nach Arthur Bonus’ Meinung Nietzsches eigentliche Be deutung ausging.292 Nietzsche hatte Zukunftsbilder gezeichnet, in denen Bonus seine eigenen Er wartungen an den Entwicklungsgang des Christentums wiederfand: Gegen die christliche Jenseitigkeit war von Nietzsche emphatisch das aufsteigende und vorwärtsstrebende „Leben“ als Kampfbegriff gegen eine veräußerlichte Bil dungskultur und der „Wille zur Macht“ als Entwicklungsmotiv entdeckt wor den. Wenn Bonus die das Naturgesetz überwindende Herrschaftlichkeit des freien Menschengeistes betonte, sah er sich in Nietzsches Zarathustra und sei ner Forderung nach neuer Unmittelbarkeit, nach Schaffenskraft und Überwin dung bestätigt. Für ihn war Nietzsche der Künder einer neuen Sittlichkeit: Er hatte, so Bonus, das „Instinktive im Menschen“ und seinen Willen zum Aus gangspunkt seiner Philosophie gemacht. Die radikale Entwertung des Christen 287
Bonus: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1047. Ders.: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436– 442.460–466.492–497.517–521, 437. 289 Ders.: Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141, 136. 290 Ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571, 571. 291 Ders.: Zum Nietzsche-Problem, in: Die Hilfe 5 (1899), Beibl. zu Nr. 40, 9 f. u. Nr. 41, 9 f. 292 Ders.: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1046. 288
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tums und der bürgerlichen Moralvorstellungen durch Nietzsche korrespondierte mit seiner Überzeugung, dass „neue Werte“ durch den Willen des Einzelnen geschaffen werden könnten. Damit ließ sich auch die hohe Bedeutung der Ein zelpersönlichkeit im Leben wie in der Geschichte begründen. Das Instinkthafte und der Zug zur Macht wurde besonders bei den „Geächteten“ der Weltge schichte – etwa Napoleon – und der „blonden Bestie“ sichtbar; hier waren „plas tische Typen“, die erkennbar machten, wie sich das „geistig Mächtige“ unabhän gig von jeglicher zivilisatorischen Verformung auswirkte.293 In Bonus’ Augen war es eine missverständliche Verkürzung, wenn Nietzsche überwiegend als „Gottes Mörder“ gelesen wurde. Im Gegenteil: Bonus erblickte in dem Philosophen den „Retter des Christenthums“ für die Gegenwart, mit dem eine neue Entwicklungsstufe des Glaubens eröffnet wurde. In ihm hatte das Verlangen nach einer kräftigeren, männlicheren Frömmigkeit, als sie in der kirchlichen Verkündigung zu finden war, ihren wortmächtigsten Fürsprecher gefunden.294 Die „religiöse Zukunftshoffnung“ Nietzsches bildete den Schlüs sel zu seiner Religionskritik, die letztlich nichts weiter als sein unerfülltes Rin gen mit der Religion und dem Christentum darstelle. Hier gab es einen Berüh rungspunkt mit Bonusʼ Lehrer Julius Kaftan, der Nietzsches „Wahnsinn“ als eine Folge unerfüllter Religiosität gedeutet hatte. Bonus hielt Kaftans Darstel lung für „ein kleines Kunstwerk“, wollte Nietzsche aber nicht als philosophi schen Systembauer gedeutet wissen. Für ihn kam es „auf die neuen Werte und auf den Willen zur Macht“ an, die Nietzsches spontane, künstlerische oder un reflektierte Äußerungen zusammenbanden, wie Bonus meinte.295 Für Nietzsche hatte die Historisierung der Religionsgeschichte, die Mitleidsemphase und das biedermännische Streben nach Sittlichkeit das Ende des Christentums einge läutet. Doch konnte man bei ihm auch vom Unmittelbaren, Rauschhaften und großen Empfindungen lesen. Solche Passagen ließen vermuten, dass aus der Nietzschelektüre mehr geistlicher Gewinn zu ziehen war als aus der christlichen Predigt, wie Bonus 1897 andeutete: Ich gestehe aber – und spreche damit aus, was Mehrere als mich bewegt – daß unsre Seele sich weiter, größer und gottverwandter, gottnäher fühlt, wenn wir selbst in dem Wütendsten der Atheisten, im Nietzsche lesen, als wenn wir die neologischen Verteidigungen des Christentums herunterwürgen, mit denen der Teufel unsern Glauben in den Sand setzt. Eine Seite im Nietz sche ist uns mehr Gottesbeweis als hundert Seiten schwächlicher Christentumsbeweise.296 293 Ders.: Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141, 139 f. 294 Ders.: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, ChrW 13 (1899), 101–103. 295 Ders.: Eine Überraschung in Sachen Nietzsche, in: Der Tag Nr. 90 (1907); eine Rezen sion zu Julius K aftan: Aus der Werkstatt des Übermenschen, Heilbronn 1906. 296 Ders.: Ein Adventsgebet auf Weihnacht, in: CW 11 (1897), 1186–1188, 1188. Der Ver
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Nietzsche wurde ihm geradezu zum Reformator, der – mit Luther vergleichbar – zu einer Erneuerung der christlichen Frömmigkeit aufgebrochen war.297 Damit, versicherte Bonus, stellte Nietzsche „die verehrungswürdigste Gestalt aus der neueren Kriegsgeschichte des Geistes“ dar: Er gehörte an die Seite der bedeu tenden „Religiosi unseres Jahrhunderts“ – zusammen mit Carlyle, Kierkegaard und Lagarde –, die an der kirchlichen Wirklichkeit „religionsmüde“ geworden waren, und zwar „aus Religion“.298 Wie war es zu verstehen, dass Nietzsche als erklärter Christentumsgegner, der sich selbst, wie Bonus mehrfach ausführte, als „Antichrist“ bezeichnet hatte und im übrigen nicht an scharfer Polemik gegen Luther gespart hatte, nun zum Urheber eines erneuerten Protestantismus werden sollte? Für Bonus war Nietz sche an den Aporien des zeitgenössischen Christentums gescheitert. An ihm, so erläuterte Bonus, wurde die ganze Zerrissenheit und Tragik des modernen Menschen sichtbar. Als Moderner konnte Nietzsche zur Theologie nur noch im Widerspruch stehen; der von ihr immer neu formulierte personale oder wenigs tens jenseitig-übersinnliche Gottesgedanke sei für ihn wie für viele Zeitgenos sen obsolet geworden. Die auf das Jenseits bezogenen Vorstellungen der klassi schen Theologie seien „in Grund und Boden hineindiskreditiert“.299 Wer wie Nietzsche die Freiheit vom Ballast der sinkenden Geisteskultur des Abendlan des erringen wollte, hatte nach Bonus keine andere Wahl, als sich gegen den Gottesgedanken der zeitgenössischen Theologie zu richten.300 Diesen religiösen Charakter Nietzsches hielt Bonus für den entscheidenden Grund, sich mit dem Philosophen zu beschäftigen; von ihm ging die eigentliche „Herausforderung“ an die Weltsicht der Modernen aus, wie er 1900 in einem Nachruf auf Nietzsche den Lesern der Christlichen Welt einschärfte.301 Doch war Bonus auch der Ansicht, dass Nietzsche für die von ihm aufgedeckten Kulturprobleme noch keine Lösungswege vorgewiesen hatte. Sein Werk hatte nur unsichere und offene Wertvorstellungen anzubieten.302 Bonus schien es zu sprunghaft und voll von Pauschalverurteilungen und „Idiosynkratien“.303 Seine Philosophie stellte einen Versuch dar, der noch keine Resultate gebracht hatte, weis auf die „neologischen Verteidiger“ des Christentums bezog sich auf den theologischen Liberalismus, dazu s. u. 297 Ders.: Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141, 134. 298 Ebd., 133.140. 299 Ebd., 135. 300 Ebd., 132. 301 Ders.: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1046. 302 Ders.: Zum Nietzsche-Problem, in: Die Hilfe 5 (1899), Beibl. zu Nr. 40, 9 f. u. Nr. 41, 9 f. 303 Ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571, 571.
II. Individualisierung
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aber bedeutende Fragen stellte.304 Nietzsches „Weltbejahung“ war gebrochen durch sein „Nein“ zur gegenwärtigen Kultur und rief dazu auf, die entstandenen Lücken aufzufüllen.305 Gerade an diesen offenen Stellen lag die Kraft, die von Nietzsches Ideen für die Gestaltung der Zukunft ausgehen konnte. Als Reso nanz des Nietzscheanischen Aristokratismus gab Bonus allerdings zu, dass die „Philister“ der Gegenwartskultur seine Widersprüchlichkeit zu übersehen ge neigt waren.306 Für Bonus barg die um die Jahrhundertwende wachsende Nietzsche-Begeis terung die Gefahr in sich, den mit dem Werk Nietzsches eröffneten Freiraum durch eine Vergötzung des Philosophen zu negieren. Ausführlich setzte er sich seit 1898 in einem Artikel in den Preußischen Jahrbüchern mit diesem Problem auseinander. Den Anlass dazu lieferten ein Gedichtband sowie eine memoiren hafte Biographie, die Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche heraus gegeben und in Bonus Augen zu betulich kommentiert hatte.307 Unter dem Deck namen „Franz Brand“ griff er die stilisierende Herausgeberpolitik Förster-Nietz sches im Weimarer Nietzsche-Archiv an, das sich – meinte Bonus – zunehmend zu einer „Nietzschefirma“ auszuwachsen schien.308 Als eigentliches Ziel sollte seine Polemik jedoch die „Nietzschegemeinde“ treffen, seine „Nachahmer“ und „Anbeter“, die nach Bonusʼ Meinung völlig übertrieben jede neuveröffentlichte Äußerung des Philosophen als Entdeckung feierten, ohne auf ihren inhaltlichen oder ästhetischen Wert zu achten. Bonus reizte das zu einer Persiflage: Er ahm te die Kindheits- und Jugendgedichte Nietzsches nach, um den Beweis zu erbrin gen, „wie viel man wohl an einem Tage in dieser Art zusammendichten könnte, farbentrunken und immer bis beinahe an einen Sinn herangetaumelt“.309 Wenn 304
Ders.: Zum Nietzsche-Problem, in: Die Hilfe 5 (1899), Beibl. zu Nr. 40, 9 f. u. Nr. 41, 9 f.
305 Ebd.
306 Ders.: Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: PrJ 93 (1898), 132–141, 136. 307 Gemeint war die zwischen 1895 und 1897 in zwei Bänden erschienene Biographie: Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches, 2 Bde., Leipzig 1895/97 so wie die von ihr verantwortete Gedichtsammlung: Gedichte und Sprüche von Friedrich Nietz sche, Leipzig 1898. 308 Ders. [Franz Brand]: Unter den Geistern der sieben Embryonen Zarathustras (Gedich te u. Sprüche Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1868), in: PrJ 92 (1898), 385–396. 309 Bonus gab vor, als der „einzige Wisser des Zarathustrageheimnisses“ über angebliche „Schätze“ zu verfügen, die er zwischen 1864 und 1871 – während angeblicher gemeinsamer Studienjahre in Leipzig – vom Meister persönlich erhalten haben wollte. Diese angeblichen Funde sollten der Nietzsche-Forschung „neue Wege […] weisen“ (ebd., 385 f.). Die persiflierende Umarbeitung der Gedichte Nietzsches löste heftige Reaktionen aus, etwa von dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Journalisten Bruno Schönlank: Ein ‚Fund‘, in: Leipziger Volkszeitung 5 (1. Beilage zu Nr. 120 v. 27.5.1898); vgl. den nachfolgenden, erläuternden Artikel, in dem Bonus seine Vorgehensweise rechtfertigte: Die
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Bonus hier die früheren Texte des Philosophen als Jugendpoesie bespöttelte, wollte er nicht sein Gesamtwerk treffen, sondern die geradezu schwärmerische Verehrung zurechtrücken, die Nietzsche entgegengebracht wurde. Dem „subli men Aristokratismus“, den die Beschäftigung mit Nietzsche lehre, kam die kul tushafte und wellenartige Begeisterung kaum entgegen, die mit „Geträtsch“ und Massenware Nietzsches inhaltliche Bedeutung übertöne.310 Inhaltsreicher und deutlicher das religions- und kulturkritische Potential im Werk Nietzsches verknüpfend waren zwei längere Beiträge, die Bonus 1899 in der Christlichen Welt und in der Hilfe veröffentlichte. Letztere hatte ein einge hendes Referat von Erich Schlaikjer über Ursachen und Wirkungen des „Nietz sche-Kultus“ gebracht und ihn auf die große „Sehnsucht nach einem politischen Ideal“ zurückgeführt, mit dem die junge Generation einen „nationalen ästheti schen Aufschwung großen Stils“ erwartete, der mit den Hoffnungen vieler Na tionalsozialer übereinkam.311 In der Nietzschebegeisterung äußerte sich der kul turkritische Ruf nach neuen Idealen gegen die bloß „praktischen Tendenzen“ der müden Gegenwart, aber auch erregter „Kitzel“, an dem sich „dekadente Naturen“ erwärmen konnten.312 Bei Bonus trafen diese Analysen auf Zustim mung: Nietzsche erschien ihm als Repräsentant der gegenwärtigen Kultur in ihrer Zerrissenheit. Doch er war auch ein „Sonderling“, dessen Zerfahrenheit und teilweise dunkle Ablehnung der deutschen Kultur nur begrenzt für die Ge genwart nutzbar waren.313 Für die Christliche Welt lieferte Bonus einen Vergleich Nietzsches mit einem zweiten, in seinen Augen in die Zukunft weisenden „Propheten“ des neunzehn ten Jahrhunderts, Paul de Lagarde. Auch hier warnte Bonus davor, dem Reli Geister der sieben Embryonen Zarathustras in: PrJ 93 (1898), 94–101, 98; vgl. auch die verär gerten Äußerungen von M aximilian H arden (Notizbuch, in: Zukunft 23 (1898), 453–454), der den „schnöden, witzlosen Bierulk“ ablehnte (vgl. R ichard F. K rummel: Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. 1, 510). 310 So kommentierte Bonus die mit harten, auch juristischen Bandagen geführten Streitig keiten zwischen Förster-Nietzsche und Franz Bernoulli: Rundschau. Zur Nietzsche-Tragi komödie, in: Kunstwart 21/4 (1907/08), 163–164, 164. Bonus störte sich daran, dass der Phi losoph als Anreger zu ästhetischem Erschaudern und als Modeerscheinung gelesen wurde, während die möglicherweise folgenreiche Auseinandersetzung mit Nietzsches kritischer Kulturphilosophie ausblieb. Ähnlich scharf richtete er sich gegen die Tolstoi-Verehrung im Bildungsbürgertum, die ihn als Modephilosophen lasen, aber mit seinen Idealen nicht Ernst machten; vgl. Tolstoj, in: Kunstwart 15/2 (1902), 1–10. 311 Erich Schlaikjer: Zur Psychologie des Nietzsche-Kultus, in: Die Hilfe 5 (Nr. 13 v. 26. März 1899) Beiblatt. Dabei handelte es sich um eine Besprechung des Buches Ferdinand Tönnies: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik, Leipzig 1897. 312 Ebd. 313 Bonus: Zum Nietzsche-Problem, in: Die Hilfe 5 (1899), Beibl. zu Nr. 40, 9 f. u. Nr. 41, 9 f.; vgl. ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571, 562 f.
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gionskritiker eine unkritische Verehrung als „Götzen“ der Moderne zukommen zu lassen. Was Nietzsche wie Lagarde auszeichnete, waren ihre eigenständigen, durch ein besonderes Gespür aus der Masse herausgehobenen Persönlichkeiten und ihre feine „Sensibilität“, durch die sie die Kultur der Gegenwart in ihren Widersprüchen klarer wahrnahmen. Als Einzelgänger, die auf die „fixe Idee“ einer besonderen Berufung verfallen waren, wirkte sich ihre gesteigerte Emp findlichkeit „krankhaft“ bis zum „Wahnsinn“ aus.314 Nietzsche wurde – wie auch Lagarde – im leidvollen und einsamen Kampf gegen die Alltagskultur zum „Heros“, der über das Gewöhnliche hinausblickte und die „Wahrheit“ einer kommenden Lebensform aussprach. Während Bonus Nietzsche als Kulturkritiker wahrnahm, dessen Werk sein Leiden an der Gegenwart zum Ausdruck brachte und deshalb nur Fragment bleiben konnte, sah er bei Paul de Lagarde einen kernigen, deutschen Ansatz zu neuer Kultur.315 Immer wieder streute er in seinem Werk Hinweise auf den Theologen und Orientalisten ein, ohne – wie bei Nietzsche – zu einer geschlos senen Auseinandersetzung zu kommen. Seit 1897 rückte Lagardes Name in Bonus’ gedanklichem Umfeld in den Vordergrund. Bei Wilhelm Bousset warb er für diese „deutsche Prophetengestalt“, auf die er im Zusammenhang mit sei nem Deutschen Glauben gestoßen war.316 Von Martin Rade wurde eigentlich Ernst Troeltsch als führender Lagarde-Fachmann wahrgenommen, doch konnte Bonus seine entsprechenden Beiträge durchsetzen.317 Obwohl Lagarde nicht in der gleichen Weise zu einem umschwärmten Modephilosophen wurde, gehörte sein Werk zu den Ansätzen, von denen um die Jahrhundertwende Aufschlüsse über die Zukunft des Deutschtums erwartet wurden.318 „Ein zweiter Lagarde für die Gegenwart thäte uns allen gut“, verkündete der Kunstwart 1901 als Kommentar zu einigen ausgewählten Textpassagen, die als Kostproben des kul turkritischen Geistes Lagarde abgedruckt wurden. Lagarde rückte als visio närer Kultur- und Bildungsskeptiker in den Fokus des bürgerlichen Interesses, der scharf zwischen der „Persönlichkeit“ und bloß zivilisatorisch angelerntem „totem Wissen“ unterschieden hatte.319 314
Ders.: Nietzsche und Lagarde, in: CW 13 (1899), 562–571, 563. Vgl. zu Lagarde und seiner Rezeption Ina U. Paul: Paul Anton de Lagarde, in: HzVB, 45–93, 57–62; Fritz Stern: Kulturpessimismus; Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet, Mün chen 2007; Johannes G. Pankau: Wege zurück: Zur Entwicklungsgeschichte restaurativen Denkens im Kaiserreich, Frankfurt 1983; knappe Angaben auch bei Wolfgang Tilgner: Volksnosmostheologie und Schöpfungsglauben, Göttingen 1966, 71–75. 316 Briefkonzepte Bonus an Bousset, 1898 [LKA Eisenach, NL Bonus, 013_008]. 317 Briefe Rade an Bonus, 28.2.1898 und 4.2.1899 [ebd., 03_002]. 318 Vgl. Sieg: Deutschlands Prophet, 211 f.; Corona H epp: Avantgarde, München 1992, 60. 319 Lose Blätter. Aus den Schriften von Paul de Lagarde, in: Kunstwart 15/1 (1901/02), 16–24, Zitate 17. 315
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Lagarde wurde posthum als ein Führer zu den Ursprüngen der deutschen Kultur rezipiert, mit dem man zu den schöpferischen Kräften des Volkstums vordringen konnte, die sich der Entzauberung der modernen Welt entgegenstell ten. So verwies der im Protestantenverein aktive Pfarrer Paul Graue auf Lagar de als einen Entdecker der machtvollen Persönlichkeit und einer neuen Eigent lichkeit. Graue zitierte Lagardes 1878 erschienene Deutsche Schriften, in denen dieser über das „Gemachte“ und die Schemenhaftigkeit der modernen Kultur herzog und bezog sie auf die Situation des gegenwärtigen Protestantismus: „Wir müßten schlechte Protestanten, schlechte Jünger Jesu sein, wenn wir diese Stimmung nicht nachempfinden könnten.“320 Wie Nietzsche verachtete Lagarde das traditionelle Kirchenchristentum einschließlich der Reformation, die er für eine sentimentale, inhaltsleere Halbheit hielt.321 Seine Deutschen Schriften durchzog dennoch eine tiefe Religiosität, zugleich aber ein heftiger Antisemitis mus und die Suche nach einem größeren Deutschland. Lagarde wetterte gegen den Materialismus der Gründerzeit, als dessen Ursache er eine moral- und glau benslose Gesellschaft identifizierte, er beklagte ein undeutsches, am Griechen tum orientiertes Schulsystem und generell die innere Zerrissenheit Deutsch lands. Als Ausweg empfahl er eine völlige Umorientierung in Politik und Gesellschaft, als deren Fluchtpunkt er eine integrative, konfessionsfreie Natio nalreligion ankündigte.322 In seinen Deutschen Schriften stellte er dem neuen Nationalismus des Kaiserreichs den Volksbegriff Johann Gottlieb Fichtes und der Romantik gegenüber, nach dem die Nationen als Gottesschöpfungen mit je eigenen Aufgaben anzusehen wären, und entwickelte daran eine „national-deut sche Religion“, in der Staat, Kirche und Nationalbewusstsein ineinander aufge hen würden.323 Seine ressentimentgeladene, antimoderne Weltsicht bezeichnete Wolfgang Mommsen zurecht als synkretistisch.324 Der Göttinger Orientalist wies in der Dauerpolemik seiner Deutschen Schriften auf die „Verstocktheit“ der Juden hin, die die Evangeliumsbotschaft nicht anzunehmen bereit waren
320 Paul Graue: Unabhängiges Christentum, Berlin 1906, 4 f. Das Lagarde-Zitat wird hier im Sinne eines religiösen Aufbruchs gedeutet. Zur kulturpolitisch-oppositionellen Deutung vgl.: Lose Blätter. Aus den Schriften von Paul de Lagarde, in: Kunstwart 15/1 (1901), 16–24; Otto Veeck: Paul de Lagarde’s Anschauungen über Religion und Kirchenwesen, in: PrM 2 (1899), 225–236.286–296. 321 Vgl. zu Lagardes Auseinandersetzung mit dem Protestantismus Robert H anhart: Paul Anton de Lagarde und seine Kritik an der Theologie, in: Bernd Moeller (Hg.): Theologie in Göttingen, Göttingen 1987, 271–305. 322 I na U. Paul: Paul Anton de Lagarde, in: HzVB, 62–68. 323 Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, Göttingen 31892, 97. 324 Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde, Frankfurt 1994, 97; vgl. Paul: Paul Anton de Lagarde, 47.
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und einen Fremdkörper in der neugeeinten Nation bildeten.325 Lagarde, der schon früh den „glaubensfernen Liberalismus“ verachtet hatte, feindete die Juden als Schrittmacher der sozialen und politischen Fehlentwicklungen im Bis marckreich an und entwarf die Vision einer einheitsstiftenden nationalen Reli gion, die die von ihm verachtete liberale Bürgerwelt des Kaiserreichs überwin den helfen sollte. Auf Bonus’ Werk ungeheuer einflussreich wirkte sich Lagardes Vorstellung aus, dass das im deutschen Sinne bereinigte Christentum den noch gar nicht verwirklichten Gedanken der „Gotteskindschaft“ in sein Zentrum stellen wür de.326 Die Überwindung der Konfessionen, eine scharfe Abwertung des Libera lismus, „Königsherrlichkeit“ und eine unmittelbare Gottesbeziehung waren die Inhalte dieses aus Antiklerikalismus und Kulturkritik geschaffenen nationalen Glaubens.327 Bonus knüpfte an Paul de Lagardes Vorstellungen einer nationalen, konfessi onsfreien und vom Kirchentum losgelösten deutschen „Zukunftsreligion“ an und übernahm des weiteren seine scharfe Kritik am Bismarckreich, an der pro testantischen „Buchreligion“ und an der religiösen Indifferenz des Liberalis mus. Lagardes Ruf nach einem „Evangelium“ in „einer deutschen Ausgabe, die kein Buch“ sein sollte, hallte in Bonus’ Suche nach einer religiösen Grundle gung einer vertieften und machtvollen Nation wieder.328 Auch seine Vorstellung des Germanentums als durch die Geschichte nur verdeckte, aber durch Be wusstmachung wiederbelebbare deutsche Vergangenheit hatte hier ihr Vorbild. In seiner Artikelserie zur „Germanisierung des Christentums“ bezog Bonus sich auf Lagarde, um das Bedürfnis nach einer elementareren, religiösen Stim mung um die Jahrhundertwende zu charakterisieren.329 Wenn dieser in der Ge genwart einen wachsenden Kreis an Verehrern um sich sammelte, lag das in Bonus’ Augen an der tapferen, kulturbezogenen, ethikfreien Religiosität, die Lagarde verkündigt hatte. Überdies stellte er in der Christlichen Welt Lagardes Gedichte vor, die in seinen Augen zu wenig Beachtung fanden. Für Bonus wa ren sie Zeugnis einer antikirchlichen, suchenden Religiosität. Besonderen Ein druck machte auf ihn der Vers: „O Fluch den Männern, die Gott weiß warum, /
325 Ulrich Sieg: Antisemitismus und Antiliberalismus im deutschen Kaiserreich, in: Ewald Grothe/ders. (Hg.): Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014, 93–112. 326 Ebd., 232 f.; vgl. Paul: Paul Anton de Lagarde, 67. 327 Ebd., 76. 328 Lagarde: Deutsche Schriften, 75. 329 Bonus: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, in: CW 13 (1899), 101–103, 102.
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die Kirch erschlugen“, den er für ein paradigmatisches Beispiel für Lagardes religiösen Freiheitsdrang hielt.330 Häufiger verwies er auf Lagarde als einen der „großen Führer zu rechtem Deutschtum“, wobei er sich auf dessen Ansicht bezog, dass Deutschland eine geistige Größe sei.331 Die Nation wurde von Lagarde überwiegend nicht als sprachlicher, geographischer oder rassentheoretisch begründeter Begriff vertre ten, sondern als Willens- und Empfindungsgemeinschaft dargestellt. Lagarde stellte das Volk als durch Glauben und gemeinsame Ziele bestimmte, verbor gene Einheit gleicher Personen dar, die sich durch die Geschichte zog. Dieser metaphysische Deutschtumsbegriff bestimmte auch den Nationalismus von Arthur Bonus, für den wie für Lagarde das Deutschtum eine noch zu realisie rende Größe war. Fritz Stern hat auf die vielseitigen Rezeptionsweisen hingewiesen, in denen selten das Gesamtwerk Lagardes übernommen wurde. So beriefen sich manche Leser auf einen „weichen“ Lagarde als einen patriotischen Reformer, der Idea lismus und Nation paarte, um durch die Ablehnung alles Undeutschen und Fremden die schöpferischen Urkräfte des Volkes zu erwecken.332 Dagegen nahm nach der Jahrhundertwende der Verweis auf einen „harten“ Lagarde zu, dessen antiegalitäre und antisemitische Vorstellungen zusammen mit dem Ruf nach einem Großdeutschland an Bedeutung gewannen und ihn zu einem völ kischen Wegbereiter werden ließen.333 Bonus zählte zu den Bewunderern des „weichen“ Lagarde. Er berief sich auf seine Leidenschaft für die Nationalkultur und auf seine heftige Kritik an Materialismus und liberalem Denken. Seine brutalen, antisemitischen Äußerungen, die das Vokabular späterer Vernich tungsgedanken vorwegnahmen, klammerte Bonus aus, ebenso wie seine poli tischen Vorstellungen von einem ständisch gegliederten, deutschen Groß reich.334 Lagarde war für ihn der Prophet einer kommenden, nationalen Reli gion, während Nietzsche der Auflöser des gegenwärtigen Kulturchristentums war.
330 Bonus: ‚Mutter Kirche‘, in: CW 18 (1904), 1002–1003. Franz Overbeck zufolge hatte Bonus schlichtweg das „Komoediantenhafte“ bei Lagarde nicht verstanden (Werke und Nachlaß. Kirchenlexicon Texte. Ausgewählte Artikel J–Z, Stuttgart 1995, 101). 331 Ders.: Lagarde, in: Die Hilfe 31 (Nr. 5 v. 1.3.1925), 116–117; vgl. vgl. Lagarde: Deut sche Schriften, 167. 332 Fritz Stern: Kulturpessimismus, 113, vgl. zu dieser Einteilung auch Paul: Paul Anton de Lagarde, 48 f. Stern zählte zu den Bewunderern des „weichen“ Lagardes u. a. Franz Over beck, Paul Natorp, Ernst Troeltsch und Friedrich Naumann. 333 Stern: Kulturpessimismus, 113. 334 Vgl. Paul: Paul Anton de Lagarde, 68–74.
III. Nationalisierung
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III. Nationalisierung Nachdem im vorhergehenden Abschnitt Arthur Bonus’ religiöse Weltsicht unter dem Stichwort der Individualisierung verfolgt wurde, soll im Folgenden die na tionalreligiöse Zuspitzung seines Rufs nach ‚deutschem Glauben‘ im Zentrum stehen. Die Nationalisierung der Religion stellte gleichsam die Kehrseite seiner gedanklichen Konstruktion dar, die er ausgehend vom glaubensstarken Einzel nen und seinem inneren Erleben aufgebaut hatte. Der Suche nach den Grundla gen der modernen Persönlichkeit entsprach es, einen wirkungsvollen Ausdruck in der Sphäre der Kultur, des Soziallebens und der Weltgestaltung zu finden. Wie Bonus meinte, war „dem allgemeinen Wort ‚modern‘ […] in dem Wort ‚national‘ ein kräftiger Konkurrent erwachsen.“335 Eng mit der Suche nach einem deutschen Glauben verbunden war die Kon struktion einer germanisch-deutschen Vergangenheit, die aus diesem Grund auch im Folgenden verhandelt wird. Auch wenn Bonus’ Vorstellungen „Kontu ren einer regressiven Utopie“ erkennen lassen, waren sie konsequent auf den Orientierungspunkt einer kulturellen Regeneration des Kaiserreichs in der Mo derne ausgerichtet.336 Sie enthielten weitreichende soziale und politische Wert vorstellungen, die er mit dem Verweis auf das Volk zu legitimieren suchte. Da rin entwickelten sie kein Rückzugsprogramm aus den sozialen Konflikten der wilhelminischen Gesellschaft, sondern verstanden sich als Gestaltungsentwurf zur Architektur einer „anderen Moderne“ .337 Bonus formulierte ein religiös und historisch begründetes Modell von „Volksgemeinschaft“, das in hoher Wei se politisch aufgeladen war.
1. „Deutsch sein […] bis in den Seelengrund“ – Religion als Vertiefung der Nationalkultur Mit seinem Ruf nach einer „Germanisierung des Christentums“ erklärte Arthur Bonus Volk und Volkscharakter zum Wirkungsbereich der Religion: Mit der „Germanisierung des Christentums“ sollte das religiöse Fundament für den Neuaufbau der deutschen Kultur gelegt werden. Den Ausgangspunkt bildete Bonus’ Diagnose eines erwachenden Nationalbewusstseins um 1900, von der 335
Bonus: Ein Brief, in: Der moderne Mensch und das Christentum, 13. Zernack: Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, HzVB, 482– 511, 485. 337 Zu diesem Begriff vgl. Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationsk ritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999; mit Blick auf die Lebens reformbewegung als Anbahnungen von „alternative modernities“ K evin R epp: Reformers, critics, and the paths of German modernity. 336 So Julia
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aus Bonus die grundlegende Neuordnung der Religiosität einforderte. Auf allen Gebieten der Kultur fanden eine „neue nationale Kraft, neue Stimmung, neuer Geist“ ihren Ausdruck und begannen, sich auch auf die Religion auszuwir ken.338 Bonus sah einen kulturellen Umbruch am Werke, der die Frage aufwarf, welchen Beitrag die Religion zu leisten in der Lage war, um die angebliche germanische Substanz der deutschen Kultur für die Gegenwart zu erwecken. Seine mit Eindringlichkeit vorgetragenen Ideen einer „deutschen Religion“ po sitionierte er in einem scharfen Gegensatz zum kirchlichen Protestantismus, dem er eine unzweifelhaft völkisch inspirierte Ideenwelt entgegenstellte. Gleichzeitig blieb für ihn das Christentum der entwicklungsgeschichtliche Rah men für die religiöse Zukunft Deutschlands. Das Gebiet der Religion konnte nicht unangetastet bleiben von der allenthalben wahrnehmbaren „Erstarkung des Volksgeistes“, sondern bedurfte einer Umformung in den Bahnen einer ‚germanischen Frömmigkeit‘, wie Bonus mit pathetischer Wucht einforderte.339 In der wilhelminischen, bildungsbürgerlich geprägten Öffentlichkeit wurden solche Vorstellungen breit rezipiert und als Hinweis auf eine Veränderung des religiösen Stils im Protestantismus gelesen, der mit großen Erwartungen verse hen wurde. Die Wendung von der konfessionellen Theologie hin zu einer speku lationsbereiten Geschichtstheologie schien zu offenbaren, meinte ein zeitgenös sischer Rezensent, dass sich in der jüngeren Theologengeneration ein „neuer Geist“ und ein intensiviertes Nationalbewusstsein ankündigte. Während Arthur Bonus seinerseits glaubte, sich einem gesteigerten Nationalismus stellen zu müssen, wurden seine Schriften als Produkte einer religiösen Wendung zu Volkstum und deutscher Kultur im Protestantismus gedeutet: „Jeder, dem es um Ernst und Kraft des Gemütes, dem es um eine deutsche Weltanschauung zu thun ist, sollte seine Bücher lesen.“340 Als Zielvorstellung benannte Bonus eine entkonfessionalisierte deutsche Frömmigkeit, die nicht nur die kirchlichen Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken überwinden würde, sondern auch die durch die industrielle Re volution und die gebildete Religionskritik nicht mehr in den kirchlichen Protes tantismus integrierten Bevölkerungsgruppen vereinigen würde.341 In einem 338
Bonus: Von Stöcker zu Naumann, 84. Ders.: Das christliche Ideal und das deutsche Volk, in: Germanisierung des Christen tums, Jena 1911, 6–17, 16 340 So die anonyme Rezension: ‚Deutscher Glaube‘ von Arthur Bonus, in: Deutsche Hei mat 4/2 (1901), 3–11, 4. 341 Es ging ihm dabei nicht um eine Rückführung der Reformation in ein wie auch immer geartetes Unionschristentum, sondern um eine im „neuen Mythos“ geeinte nationale, nicht institutionelle Geistes- und Religionsgemeinschaft, die alle Deutschen umfasste. Die religiö se Vielfalt Deutschlands sei hingegen als „Bodenschatz“ zu betrachten, führte er 1915 im 339
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„germanisierten Christentum“ sollten die konfessionellen und gesellschaftli chen Zerklüftungen im Deutschen Reich in einem einheitlichen, christlichnationalen Geist überbrückt werden. Seine religiöse Konstruktion verstand er als Fortsetzung der Reformation Luthers, den er in nationalprotestantischem Duktus als ersten Repräsentanten und Vorreiter eines verdeutschten Christen tums darstellte. So hieß es 1897 in seinem Buch Deutscher Glaube: Und ich träumte ihn so gern, den Traum von der Wiedervereinigung der feindlichen Brüder im deutschen Christentum. Er ist wohl auf lange hinaus noch ein Traum. Soll er Wirklichkeit werden, so sehe ich nicht, wie es anders geschehen kann, als so, daß wir das Werk Luthers, das nicht dies und das ist, sondern der erste Versuch einer entschlossenen Germanisierung des Christentums, bewußt und entschieden fortsetzen.342
Hier zeichnete sich eine gedankliche Linie ab, die Bonus später als brennendes „Kulturproblem“ weiterverfolgte und die der Christentumskritik unter den völ kischen Nationalisten insgesamt Auftrieb gab. Für Bonus bedeutete die konfes sionelle und soziale Spaltung eine Zerstückelung der deutschen Kultur, der ent gegen er eine einheitliche Religion als Grundlage einer Glaubens- und Erlebens gemeinschaft und gemeinsamer Kulturziele konstruierte. Die „deutsche Kirche“ wurde zu einem Synonym für eine kulturstiftende, nationale Tatgemeinschaft; von ihr erhoffte Bonus den „Geistesfrühling“, der die Nation zu neuer Blüte führen würde.343 Erste Überlegungen, die das Verhältnis von Christentum, Deutschtum und Kultur beleuchteten, hatte Bonus bereits 1894 in der Christlichen Welt ange stellt. Darin reagierte er auf die „unter uns immer mehr erstarkende nationale Stimmung“, die sich in einem vermehrten Interesse am „Germanischen“ und an der deutschen Vergangenheit niederschlug, sich dabei aber zunehmend vom Christentum als einer als jüdisch und antik aufgefassten Fremdreligion abwand te.344 Bonus beschrieb die Strömungen deutscher Neukultur und das Erstarken einer völkischen Deutschtumsemphase und verwies skeptisch auf die dort ge handelten, ahistorischen Vergangenheitsbilder, die den deutschen Volkscharak ter in die vormittelalterliche Zeit verlängerten. Dabei bezog er sich auf das er Kunstwart aus: Bonus/Emil Fuchs: Die deutsche Kirche. Zu Pfingsten, in: Kunstwart 28/3 (1915), 122–128; ders.: Zwischen den Konfessionen, in: Der Tag, 12.4.1910. 342 Ders.: Deutscher Glaube, 4. 343 Ders.: Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche, in: CW 7 (1893), 1243–1245 (aus führlicher zu diesem Aufsatz im Kontext s. o.). 344 Ders.: Verschiedenes. Zweifelhafte Lektüre für Jugend und Volk, in: CW 8 (1894), 627–629, 628 f. Die Rezension war bereits 1892 entstanden und stellte möglicherweise eine Reaktion auf die völkisch-religiöse Pionierarbeit über „Reines Deutschtum“ von Friedrich Lange dar, die allerdings keine explizite Erwähnung fand (vgl. die Bemerkungen in ders.: Aus der schönen Literatur, in: ThR 1 (1898), 480–492, 490).
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wachende Interesse am „Norden“ und den skandinavischen Literaturen, das Bonus durchaus teilte.345 Dass die Ausschlachtung dieser neuen Begeisterung für das Nordisch-germanische überwiegend durch Antisemiten oder neureli giöse „Odhinsverehrer“ erfolgte, hielt er jedoch für ein Verhängnis. In einem Rundumschlag benannte er die literarische Wiederentdeckung einer vermeint lichen deutschen Vergangenheit in der heroisierenden Vorzeitdichtung Felix Dahns ebenso wie die musikalisch-ästhetische „Vermengung“ von germani schen Überlieferungen und Schopenhauerschem Pessimismus durch Richard Wagner. Diese Anknüpfungsversuche an einen konstruierten germanischen Ursprung hielt er für einen Anachronismus, durch den die geistes- und reli gionsgeschichtliche Entwicklung bis zur deutschen Gegenwart ausgeblendet würde. Wer, wie Bonus meinte, an der deutschen Kultur „weiter bauen“ wolle, käme an einem „Umweg über Palästina“ und über das Christentum nicht vor bei.346 Entschieden trat er der Verbindung von neureligiösen, antisemitischen und völkisch-deutschgläubigen Ideen entgegen, die er in scharfem Gegensatz zum Christentum zeichnete: Uebertreibe ich? Oder sagen die Namen Richard Wagner und Felix Dahn nicht genug? Muß man erst auf die Fanfaren einer fortgeschrittnen national-antisemitischen Gruppe aufmerk sam machen, die laut genug unsern Christenglauben als einen fremden jüdischen Tropfen im deutschen Blute schmähen? Die sich für Wiederherstellung eines ‚deutschen Glaubens‘ erei fern und nicht merken, daß ihnen statt der Vorstellungswelt ihrer Ahnen, die vorchristlich ist und nie genügen könnte, der greisenhafte, lebentötende, sicherlich alles andre eher als deut sche Buddhismus, die geistige cholera asiatica, eingeimpft wird?347
Bonus’ Überlegungen zum Verhältnis von Deutschtum und Religion gingen also zunächst von der Überzeugung aus, dass das Christentum eine grundlegen de kulturstiftende Bedeutung für die Gegenwart besass. Ihm schien es gefähr lich, etwa „in religiös unreifen oder national überreizten Gemütern“ die Idee einpflanzen zu wollen, dass es eine religiöse Zukunft jenseits der vom Christen
345 Zur Entwicklung der rassistischen Aufladung des „Nordens“ aus der wilhelminischen Skandinavienmode vgl. H ans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971; Zernack: Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich. 346 Ebd., 629. Zu Bonusʼ Rezeption der deutschen und isländischen Sagenstoffe s. u. 347 Bonus: Verschiedenes. Zweifelhafte Lektüre für Jugend und Volk, in: CW 8 (1894), 627–629, 628 f. Überblickt man das Feld völkisch-religiöser Organe zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Artikel veröffentlicht wurde, kann die Abweisung nur dem Deutschbund Fried rich Langes und den Antisemitenparteien gelten. Die scharfe Ablehnung des Buddhismus stellt in Bonusʼ Werk eher eine Ausnahme dar. In den zwanziger Jahren gelangte Bonus zu einer positiven Bewertung fernöstlicher Religionen, die er allerdings weiterhin als Gegensatz zur „deutschen Frömmigkeit“ betrachtete, vgl. z. B.: Was hat der Buddhismus noch zu ge ben?, in: Kunstwart 35/1 (1921/22), 6–11; Indisches, in: CW 38 (1924), 383–385.
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tum mitbestimmten kulturellen Entwicklung geben könne.348 In den Einflussbe reich „deutschgläubiger“ Neuerer aller Art wollte er mit seinen Theorien nicht gehören, wie seine konsequente Ablehnung neureligiös-völkischer Entwürfe sichtbar machte. Die „fidele Sorte von Radikalen“ der deutschvölkischen Bewe gung bedeutete für ihn eine „ästhetische Qual“, weil sie dem Christentum mit intellektualistischen Argumenten zu Leibe rückte, ihm aber nichts als „einen religiös aufgedonnerten Patriotismus“ entgegenzusetzen hätte.349 Die völki schen Versuche, eine ursprüngliche germanische Religion wiederzuerwecken, stellten für ihn nichts weiter dar als die literarischen Ergüsse von „Amateurre ligionsstifterchen“ oder eine „archaistische Spielerei für Sonderlinge“.350 De mentgegen betonte Bonus konsequent den christlichen Deutungsrahmen seiner nationalistischen Reformvorstellungen: „Wir stellen unser Christentum nicht unter den Scheffel.“351 Gleichwohl bedeutete dieses Bekenntnis zum Christentum nicht, dass sich Bonus’ religiöse Vorstellungen als nationalisierte Fortschreibung des bisherigen Kirchentums betrachten ließen. In seinem evolutiven Geschichtsbild war weder Raum für eine Neuerfindung einer deutschen Religion noch für das kirchliche Christentum, das einen überholten Kulturzustand zu festigen schien. Vielmehr lag auch hier seine Beobachtung eines tiefen Grabens zwischen der modernen Weltsicht und der kirchlichen Theologie und Predigt zugrunde: Für unsere Laien – sagen wir einmal kurz: für unser Volk – giebt es keine Religion im schlichten ungeschraubten Sinn des Wortes, keine Erlösung. Das Christentum ist für unser Volk ein Gesetz. […] Dieses Gesetz annehmen und an seiner Erfüllung sich abplagen, das ist alles, was die Laien leisten können. Weiter können sie nach der Lage der Sache wirklich nicht kommen. Auch noch Erlösung darauf erleben, das ist in der That unmöglich.352
Die kirchliche Theologie, so seine Kritik, hatte sich von den weltanschaulichen Prinzipien der Gegenwart abgelöst und musste wie eine „Fremdsprache“ erlernt werden. Denn die kirchliche Predigt war den Weg in die Moderne nicht mitge gangen, wodurch für den Zeitgeschmack aus den kräftigen religiösen Inhalten, die in der genuinen Jesusbotschaft zu finden waren, eine Ansammlung von „fremdartigen Wunderlichkeiten“ geworden war.353 Den religiösen Gehalt des 348 Ebd.
349 Ders.: Vom Glauben und von der Gläubigkeit, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669– 676, 675 f. 350 Ders.: An die Herren Verleger in neuen Religionen, CW 15 (1901), 730–731, 731; ders.: Wider unsre Urgermanen. Zur Germanisirung des Christentums 7, in: CW 13 (1899), 195– 197, 196. 351 Ders.: Deutscher Glaube, 4. 352 Ders.: Religion als Schöpfung, 9. 353 Ders.: Der neue Geist. Zur Germanisierung des Christentums 6, in: CW 13 (1899), 171–173, 172.
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Evangeliums als reiner Religion für die Gegenwart zu sichern, war das Anlie gen der von ihm eingeforderten „Verdeutschung der Frömmigkeit“.354 Die kirch liche Verkündigung brachte nicht mehr – so die häufig wiederholte Quintessenz seiner antitheologischen Sätze – das „Volksgemüt“ und das Weltgefühl der Mo derne zum Ausdruck. Sie stellte in seinen Augen vielmehr ein Gefüge von Lehr sätzen und überholten Gebräuchen dar, die als intellektualistische „Kruste“ über der darunter verborgen pulsierenden „Volksreligion“ lagen.355 Als Ideal markierte er vor der Jahrhundertwende zunächst ein aus dem Protestantismus entspringendes, konfessionsloses Christentum, um dessen sozialpraktische und integrative Potentiale zu erneuern. Dazu ging er den Abstand zwischen der Theologie und der Volksfrömmigkeit als religiöses Vermittlungsproblem an. Um sich in der Gegenwart noch mit den Inhalten des Christentums auseinander setzen zu können, war eine „Übersetzung“ der religiösen Vorstellungen in das moderne Denken notwendig.356 Bonus konnte nicht in Abrede stellen, dass in Theologie und Religionspädagogik bereits Bestrebungen vorhanden waren, die sich um eine Aktualisierung der protestantischen Tradition bemühten. Die von ihm angestrebte Modernisierungsleistung richtete sich aber nicht nur auf eine Adaption der Theologie an den Geist der Gegenwart, sondern sollte darüber hinausgreifend den Weg von der allgemeinen „Humanitätsfrömmigkeit“ zu ei nem „deutschen Volksglauben“ ebnen.357 Die von Bonus geforderte Verdeutschung betraf zunächst Jesus als die christ liche Kerngestalt. „Palästina ist weit!“, erklärte er 1897 mit Blick auf die Fremd heitserfahrungen, die er beim Lesen der Evangelien machte; dabei äußerte er die Hoffnung, dass es möglich sein müsse, einen „näheren Christus“ als den biblischen zu zeichnen.358 Unter Ablösung der kirchlichen Überlieferung müsse das religiöse Erlebnis, das den Kern der Jesusbotschaft forme, „in deutsches Blut übergehen, in gesundes deutsches Fühlen und Empfinden“.359 Bonus for derte damit nicht die Abschaffung des Christentums. Vielmehr stand im Kern seiner Überlegungen die Vorstellung, dass sich ein Christusbild gewinnen las sen müsse, das auch „der moderne Deutsche“ als sein „höchstes Ideal“ auffas 354 Ebd.
355 Ders.: Der Heliand, in: CW 9 (1895), 329–331.344–346, 330; ders: Germanisierung des Christentums, 16 f. 356 Ders.: Deutscher Glaube, 192; ders.: Etwas über religiöse Erziehung. Zur Germanisi rung des Christentums 4, in: CW 13 (1899), 125–127. 357 Ders.: Individualisierung und Nationalisierung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 148 f. 358 Ders.: Deutscher Glaube, 192. 359 Ebd., die Anklänge an Friedrich Naumanns 1899 erschienenen Reisebericht Asia sind unverkennbar.
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sen könne.360 1895 stellte er in der Christlichen Welt als exemplarische Um zeichnung der Christusgestalt im deutschen Nationalgeist die mittelalterliche Heliand-Dichtung vor. Hier hatte er die „helle kraftvolle Tonart“ gefunden, in der sich der Kern des Evangeliums äußerte, wenn er unverbogen und „aus treu em und tapferem deutschen Herzen erfaßt“ würde.361 Das altsächsische Epos zeichnete nach Bonus das biblische Christusbild in vorbildlicher Weise selb ständig nach und schien auf die Anwendung dogmatischer Schablonen zu ver zichten. Es vermittelte ihm den Eindruck, dass die Jesusgeschichte hier „hei matlich“ und nicht einem fremden religiösen Regelwerk folgend nachempfun den worden war, wodurch ein anderes Jesusbild als das der christlichen Tradition entstanden war.362 Über die „Umfühlung“ der Jesusgeschichte in eine deutsche Landschaftlichkeit hinaus zeigte die Heliand-Dichtung in Bonus’ Au gen noch auf eine andere Weise, wie eine Verdeutschung des Christentums aus sehen könne. In ihr trat ein heroisches Ich-Gefühl zum Vorschein, das zeigte, wie starke Ideale und Persönlichkeitsbewusstsein dem Einzelnen Lebenskraft und -richtung vermitteln würden. Jesus war hier als Weltüberwinder gezeich net, der seinen Jüngern voranschritt und dabei scharf gegen sittliche Schwä chen, Entscheidungslosigkeit und weltlichen Kleinmut urteilte. Der von Bonus aus dem Heliand herausgelesene Jesus stellte sich als Führerpersönlichkeit dar, die mit den Gepflogenheiten der ihn umgebenden Gesellschaft brach, sich aus einer alternden Kulturepoche löste und sich selbstbestimmt auf etwas Neues ausrichtete. Das christliche Symbolspiel um Versöhnung, Sündhaftigkeit und Kreuzestod war weitestgehend aufgelöst und auf den in seinem Gottesbewusst sein zu freiem, ungezwungenem Handeln ermächtigten Menschen Jesus kon zentriert. Den gemarterten Leidensmenschen hatte ein Schwertträger ersetzt, der, wie Bonus 1897 unter dem Titel „Sturmgesang“ berichtete, als „Landes wart“ und „Volkskönig“ unter den Seinen herrschte.363 Dieser heldenhafte „Be seliger Krist“ war es, mit dem Bonus gedachte, sein „freiheits- und freude scheuendes Volk“ zu rechristianisieren.364 1911 fasste er noch einmal mit An klängen an den Heliand-Christus zusammen, wo er den Gegensatz zwischen deutschem und kirchlichem Christusideal wahrnahm: 360 Ders.: Der neue Geist. Zur Germanisierung des Christentums 6, in: CW 13 (1899), 171–173, 171. 361 Ders.: Der Heliand, in: CW 9 (1895), 329–331.344–346. Nach einer kurzen Einführung bietet Bonus seinen Lesern eine Nacherzählung der Jesusgeschichte des Heliands an. 362 Ebd., 329. 363 Ders.: Deutscher Glaube, 212–217, 214 f. 364 Ebd., 217; hier erklärte Bonus recht eindeutig, dass er gedachte, mit einem Heliand- Christentum die „schwächliche Enkelgeburt“ des wilhelminischen Protestantismus zu über winden.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
Der deutsche Christus ist weder das Lämmlein noch der Mann mit dem Heiligenscheine, noch der Weltrichter; er ist der Freie und der Königliche.365
Das heroische Persönlichkeitschristentum, das Bonus etwa in der Christlichen Welt unter der Überschrift der „Subjektivierung“ gegen den Kirchenglauben eingeführt hatte, erhielt hier seine nationale Ausrichtung. Die deutsche Fröm migkeit, so Bonus, wollte Christus als „Geistgeber“, sie wollte schöpferisch sein und sich zu seelischer Macht und Gewalt heranziehen.366 Bonus hielt diese Transformation des Christentums in einen nationalen Glau ben nicht für eine Überschreitung grundlegender theologischer Prinzipien. Vielmehr bemühte er sich ausführlich um eine religionsphilosophische und exe getische Begründung seiner Vorstellungen, bei der er auf die religionsgeschicht lichen Theorien Harnacks und des Berliner Theologen und Religionsphiloso phen Otto Pfleiderer zurückgriff.367 Zudem rekurrierte er auf ein Modell der geschichtlichen Menschheitsentwicklung, das der Kulturhistoriker Kurt Brey sig ausgeführt hatte. Demnach ging jedes Volk von einer „Urzeit“ aus, von der es je nach Anlage zivilisatorisch fortschreite.368 Bonus zeichnete ein großan gelegtes, evolutives Panorama der Religionsgeschichte, nach dem die religiöse Erkenntnis in einer Fortschrittsbewegung immer höhere Entwicklungsstufen erreichte. Demzufolge zeigte bereits das biblische Gottesbild die Spuren einer stufenweisen Anpassung der allgemeinen „Weltreligion“ an die jeweiligen Volkscharaktere.369 Gegenüber den ältesten biblischen Überlieferungen, die Hinweise auf Naturreligionen und Geisterglauben enthielten, kam dem mono theistischen Durchbruch Israels die Bedeutung einer höheren, evolutiven Stufe auf dem Weg der Religionsgeschichte zu, weil hier Gott als transzendente Zu 365
Ebd., 16. Ders.: Der neue Geist. Zur Germanisirung des Christentums 6, in: CW 13 (1899), 171–173, 172 f. 367 Vgl. Otto P fleiderer: Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, v. a. Bd. 2: Die Geschichte der Religion, Leipzig 1878, vgl. Jan Rohlfs, Protestantische Theologie der Neu zeit, 705–711; Friedrich Wilhelm Graf: Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987, 182–192. Pfleiderer, der während Bonus’ Studien zeiten zu den international bekannten Theologieprofessoren an der Berliner Fakultät gehörte, fand in dessen Schriften keine explizite Erwähnung. Die Bezüge zu Pfleiderers religionsphilo sophischem Werk, das wie Bonus auf die Forderung eines deutschen Christentums hinaus lief, lassen sich jedoch kaum übersehen. Zu Harnack s. o. 368 Zur Rezeption von Breysig vgl. Bonus [Georg Stolterfoth]: Literaturbriefe, 9. Breysigs Entstehung des Gottesgedankens, in: CW 21 (1907), 564–568, zu Breysig als Historiker: Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig, in: H ans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. 5, Göttingen 1972, 581–602. Zur Kontextualisierung solcher Bilder der Religionsge schichte s. H ans G. K ippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997. 369 Bonus: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums 1, in: CW 13 (1899), 57–59, 57. 366
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kunftsmacht entdeckt wurde. Die ursprünglich israelitische Gottesvorstellung wurde nun jeweils ihrer kulturellen Umgebung angepasst. Sie erhielt in der frü hen christlichen Gemeinde ein „jüdisch-pharisäisches Gepräge“, kam durch Paulus mit dem „hellenischen Philosophengott“ in Berührung, entwickelte sich im Lauf der Missionsgeschichte zum „römischen Rechtsgaranten“, zum „orien talischen Despoten“ oder zum „deutschen Volkskönig“.370 In diesen einzelnen Schritten fanden jeweils, so Bonus, volkstümliche Anpassungen des Gottesge dankens statt.371 Der religiöse Kerngedanke des Christentums wurde auf jeder Kulturstufe neu formuliert und angepasst, so dass die „Umnationalisirung des Christentums“ gleichsam zum Hauptmotiv der Religionsgeschichte wurde, das für die Gegenwart fortgeschrieben werden musste:372 Schon Paulus mußte die ganze Rücksichtnahme Jesu auf das Gesetz streichen und andre Stücke in den Vordergrund schieben, mußte die Hellenisirung beginnen […]. Wie viel drin gender und umfassender muß nicht für uns unter so andrer Volksart so viel spätrer Zeit, so viel weitrer Entwicklung die Pflicht der Umnationalisirung sein!373
Wenn Religion – im Rahmen von Bonus’ Konstruktion – Ausdruck des jeweili gen Nationalgeistes war, dann musste sie auch an die Weltauffassung der Ge genwart angepaßt werden: Für uns gilt deshalb auf religiösem Gebiet als die Eine alleinige Hauptparole: Germanisirung des Christentums, Uebersetzung der ethischen Urreligion, Allgemeinreligion, ‚Weltreligion‘ in deutsche Eigenart, deutschen Volksglauben.374
Das Umgießen der christlichen Frömmigkeit in die religiöse Aussprache des Volksgemüts und die Ausscheidung der durch die Theologie zementierten Fremdeinflüsse im Christentum waren durch die Germanisierung zu leisten. Unübersehbar ist die synkretistische Tendenz, mit der er das Christentum in eine vitalistische Lehre umformte, die sich in Sätzen wie dem folgenden nieder schlug: „Der deutsche Gott ist die Fülle aller wuchtigen Kraft, ein durchgehen der und zermalmender Gott, ein Gott auf Leben und Tod.“375 In provozierend Nietzscheanischem Duktus ließ er in seiner Adaption des Christentums an den deutschen „Volkscharakter“ patriotische Versatzstücke, nationalprotestantische Verweise und den lebensreformerischen „neuen Menschen“ zusammenklingen: 370
Ebd., 58.
371 Ebd. 372
Ders.: Deutscher Glaube. Zur Germanisierung des Christentums 8, in: CW 13 (1899), 219–22, 221. 373 Ebd. 374 Ders.: Individualisirung und Nationalisirung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 149. 375 Ebd., 173.
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Der deutsche Christ sieht aus wie Luther und Ernst Moritz Arndt, er fürchtet sich auch vor dem lautesten Uebermenschen nicht. Uebervoll von trotziger Kraft und Uebermensch fühlt er sich selbst und deshalb liebt und fürchtet er den Gott, von dem er seine Kraft sich gegeben weiß. Er schaut ihm grade und aufrecht ins Antlitz.376
Während das christliche Lebensideal durch seine Ausrichtung an Theologie und Bekenntnis auf Demut und Unterwerfung hin ausgebaut worden sei, festigte das deutsche Volk in der Gegenwart zunehmend sein nationales Selbstbewusstsein und seine Eigenart. Die „deutsche Frage“ sei die nach der machtvollen Beherr schung der natürlichen Welt durch die starke, innerliche Persönlichkeit – das Christentum dagegen würde in der Gegenwart als erkaltetes System von Lehr sätzen unterrichtet. Es war durchaus eine bemerkenswerte Zusammenziehung von Kulturkritik, Motiven der modernen Theologie und nationaler Emphase, die in Bonus’ Vor stellungen zusammentraf. Dass er sich mit seiner Ideenwelt in enger Verwandt schaft zu den „Reindeutschen“ der völkischen Bewegung befand, sah er nicht als Hindernis an;377 allerdings legte er Wert darauf, dass seine Ansichten etwas anderes darstellten als die „winkelpatriotische, phrasenhafte Art deutsch zu sein“, die er bei den völkischen „Deutschtümeleien“ wahrnahm.378 Bonus stellte seine Ansichten als deutsches Entwicklungsprogramm dar, mit dem er die natio nale Zukunft gestalten wollte; das entsprach allerdings genau den völkischen Zielsetzungen. Insofern verstand er seine religiösen Vorstellungen als Beitrag zu einer kulturellen Modernisierung, die er vor einem welthistorischen Tableau zu entfalten suchte.379 Mit seiner Behauptung, „als Deutsche leiden wir noch sehr stark an unsrer undeutschen wolkenkuckucksheimelnden Vergangenheit“, brach er zur Entfaltung eines Nationalismus auf, der der Entgrenzung des patri otischen Diskurses dienen sollte, um ihn zu einem praktischen Kulturfaktor zu machen.380 Dafür nahm er eine Reihe von Gewährsmännern in Anspruch, aus der auf bezeichnende Weise die Kombination von religiösen und kulturkriti schen Gedankenreihen ablesbar war. Mit Lagarde, Nietzsche, Carlyle einerseits, Luther, Naumann und Ritschl andererseits knüpfte er an zwei Reihen von Vor denkern an, die sich als Kronzeugen eines neuen, patriotischen Denkens und als Anführer zu einem deutsch-religiösen Durchbruch in die Moderne benennen 376
Ders.: Der neue Geist. Zur Germanisierung des Christentums 6, in: CW 13 (1899), 171–173, 173. 377 Ders.: Wider unsre Urgermanen. Zur Germanisirung des Christentums 7, in: CW 13 (1899), 195–197, 196. 378 Ders.: Deutscher Glaube. Zur Germanisirung des Christentums 8, in: CW 13 (1899), 219–222, 220. 379 Ebd. 380 Ebd., 221.
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ließen.381 Von ihnen übernahm er die Hochschätzung des Persönlichkeitsgedan kens, die Vorstellung, dass Religion als bestimmender Kulturfaktor wirken konnte, sowie die Sensiblisierung für den Zusammenhang von sozialer Wirk lichkeit und politischer Macht. Vor diesem Hintergrund verstand er die Vertiefung des Deutschtums als „Kulturarbeit“, durch die ein eigenständiger nationaler Stil, ein nationaler Cha rakter und eine deutsche Religion geschaffen würde.382 In seinen 1901 in der Deutschen Heimat erschienenen Aufsätzen führte er unter dem Titel „Arbeit an der deutschen Religion“ aus, was er sich unter diesem kulturell-religiösen Stre ben vorstellte. Bonus suchte unter der Überschrift der deutschen Religion nach Geschlossenheit im Fühlen und im Denken, die bis an die tiefsten Bewusstsein sebenen reichte: Wir wollen eine deutsche Religion. Das bedeutet, daß wir nicht nur in unserm Handeln und in unserm täglichen Gefühlsbedarf deutsch sein wollen, sondern bis in den Seelengrund. Wir wollen einheitliche Menschen sein, weil wir mächtige Menschen sein wollen; das können wir nicht als Vordergrundsdeutsche, deren Fühlen, wenn es in die eigenen Tiefen steigen will, fremde Sprache reden muß. Die Religion ist das Gebiet des innersten Selbst des Menschen. Da am wenigstens darf er ein Fremder sein.383
Die „deutsche Religion“ war für Bonus folglich ein Weg für den Einzelnen, zu einem vertieften, machtvollen Selbstverständnis als Volksteil zu gelangen. Sie bedeutete nichts Geringeres, als das „Selbst“ als den Sitz der Persönlichkeit für seine reformnationalistische Ideenwelt in Besitz zu nehmen. Solche Vorstellungen fanden in der bildungsbürgerlich geprägten wilhelmini schen Öffentlichkeit einen Resonanzboden auch jenseits völkisch-religiöser Zir kel.384 Der Kunstwart-Herausgeber Ferdinand Avenarius stimmte Bonus’ Vor stellungen beispielsweise zu, wenn er eine religiöse Reform zum Bestandteil der von ihm propagierten „nationalen Arbeit“ erklärte. Auch Avenarius hielt das Christentum in seiner überlieferten Form für einen orientalischen Fremdkörper, dessen Grundelemente einer Germanisierung bedurften, um erneut als Kultur faktor wirken zu können: „Wenn sie nur ‚verdeutscht‘ werden könnten, nicht bloß übertragen, sondern zunächst erarbeitet und dann verarbeitet durch unsre Art!“385 Um als ethische Substanz im deutschen Nationalstaat dienen und dem neuerwachten Kulturwillen Ausdruck verleihen zu können, waren auch nach 381 Ders.: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, in: CW 13 (1899), 101–103, 103. 382 Ebd., 954; vgl. die Ausführungen oben zu Kunstwart und Diederichs-Verlag. 383 Ders.: Religion deutsch, in: Deutsche Heimat 4/1 (1901), 381–383, 382. 384 Vgl. zur Rezeption die Bemerkungen bei Rainer Lächele: Protestantismus und völki sche Bewegung, 160–162. 385 Ferdinand Avenarius: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 1–6, 1.
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Avenarius die religiösen Grundaussagen in die „Heimat des Heute […], nicht aber den Süden des biblischen Judenstaates“ zu transformieren.386 Eine ähn liche Feststellung veröffentlichte Karl König im Protestantenblatt. Die „wie dererworbene nationale Geschlossenheit“ lasse die Deutschen nun neben der politischen Einheit „die kulturelle wieder suchen und ersehnen.“387 Der „Drang nach nationaler Selbstbesinnung und Selbstklärung“ richte sich insbesondere auf die Religion. Hier sei „das Problem erwacht, ob Deutschtum und Christen tum sich wirklich zur organischen Einheit verbunden haben“.388 Aus der „Feu ersäule“ eines protestantisch fundierten Reichsglaubens sollte in Königs Augen die deutsche Kulturreligion der Zukunft erwachsen. Bonusʼ Haltung gegenüber der völkischen Religionsbewegung blieb gleich wohl ambivalent. Dies lässt sich an einem prägnanten Einzelfall belegen. Der völkisch-religiöse Publizist Ernst Wachler hatte den in seiner Deutschen Zeitschrift 1900 erschienenen Aufsatz „Über die Zukunft des deutschen Glaubens“ Bonus zur Bewertung zukommen lassen.389 Wachler, einer der „einflussreichs ten und wirkungsmächtigsten Wegbereiter“ einer neuheidnisch-völkischen Religiosität, legte Bonus hier „den Prototyp aller späteren ‚neuheidischen‘ Pro phetien“ vor, ein rassistisches und national euphorisiertes Manifest, das von an tiklerikalen Stereotypen, Rückgriffen auf den Germanenmythos und volkstum sideologischen Ideen strotzte.390 Wie in vielen völkischen Entwürfen erschien bei ihm das Christentum als artfremde, den Germanen aufgezwungene Lehre, die den Niedergang des Germanentums herbeigeführt hatte. Wachler lehnte das Christentum in scharfen, antisemitischen Tönen als degenerierten Bestandteil des Judentums ab und machte die Kirche für den geistigen und körperlichen Verfall einer ursprünglichen germanischen Hochkultur verantwortlich. In der Reformation erblickte er ein Aufbäumen der geknechteten germanischen „Geis 386
Ders.: Vom Feste der Ruhe, in: Kunstwart 27/1 (1913/14), 481–483, 481. K arl König: Luther als Prophet der Deutschen, in: PrBl 41 (1908), 1033–1041. 388 Ebd. 389 Ernst Wachler: Über die Zukunft des deutschen Glaubens. Ein philosophischer Ver such, in: Deutsche Zeitschrift 9 (1900), 549–557. Das von Bonus kommentierte Exemplar des Artikels findet sich in der von Herbert von Hintzenstern angelegten Sammelmappe „Werk und Bedeutung von Arthur Bonus“ [LKA Eisenach, NL Bonus]. Vgl. zu Wachler und seinem Programm Uwe Puschner: Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater, in: HzVB, 762–796, sowie aus völkischem Kontext Friedrich Andersen (der Flensburger Pfarrer): Zu dem Vorschlag von Dr. Ernst Wachler ‚Ueber die religiöse Einigung der Deutschen‘, in: Allgemeiner Beobachter 3 (1913), 197–198; Curt Hotzel: Ernst Wachler. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte unserer Zeit, Kassel 1921 390 Zu Wachler vgl. P uschner: Die völkische Bewegung, 225–231, das Zitat 225 f.; ders.: Deutsche Reformbühne und völkische Kultstätte. Ernst Wachler und das Harzer Bergtheater, in: HzVB, 762–796. 387
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teskraft“ gegen die kirchliche Fremdherrschaft, doch konnte sich der lutherisch -deutsche Glaube an Diesseitigkeit und Lebensbejahung nicht zur Vollendung durchsetzen.391 Das „Deutschthum“ als religiös-kulturelle Qualität von den nur noch auf staatliche Zwangsmacht gestützten Konfessionskirchen zu befreien und dadurch die Auflösung des Christentums anzubahnen, war das Ziel seines geschichts- und religionspolitischen „Versuchs“.392 Dafür, so Wachlers Ansicht, war mit der Verstärkung des Nationalbewusstseins um die Jahrhundertwende die Zeit gekommen: Die Möglichkeit taucht auf, jenes große Verhängnis der deutschen Geschichte wett zu ma chen: die Ueberwältigung und Vergiftung des Germanentums durch die römisch-kirchliche Kultur, die Vernichtung unseres Altertums und unserer Ueberlieferung, die Ablenkung un serer Eigenart. Das Mittel dazu kann nur bestehen in der Wiedergeburt unseres ursprüngli chen Volksgeistes.393
Für Wachler war der moderne Protestantismus die Vorstufe der von ihm ange dachten Freilegung des Nationalgeistes. Aus ihm, so Wachler, konnte ein „ge meinsamer Volksglaube“ entspringen.394 Darin berief er sich ausgerechnet auf Friedrich Naumann, der in Wachlers Augen die Entbindung des deutschen Geis tes aus den kirchlichen Fesseln vorgedacht und eine glaubensvolle, nationale und soziale Bewegung ausgelöst hatte, was Bonus zustimmend vermerkte. Die ser „unserm Volke naturgemäße Glaube“ war für die Gegenwart aus den Tiefen der Geschichte zu heben. Die Pfade dazu lieferten das wachsende, vom Darwi nismus durchdrungene Naturbewusstsein der Gegenwart – hatten die Germa nen doch seiner Ansicht nach „das stille Walten der Natur verehrt“ – sowie die germanistische Brauchtums- und Mythenforschung.395 Bonus’ Randbemerkungen zeigten, dass er Wachlers Diagnose eines erwa chenden deutschen Nationalgeistes in Vielem teilte, besonders in der Vision ei ner sozial wirksamen, konfessionsfreien Zukunftsreligion. Für völligen Unsinn hielt er jedoch die Vorstellung, sich von der religionsgeschichtlichen Entwick lung des Christentums abzukehren und eine konstruierte Religiosität an seine Stelle zu setzen.396 Seinem evolutiven Geschichtsbild zufolge musste die deut sche Religion als Synthese aus der idealen Religion Jesu und der germanischen 391 Ernst Wachler: Über die Zukunft des deutschen Glaubens (zitiert aus dem Separat druck, Berlin 1901), 9. 392 Ebd. (im Titel). 393 Ebd., 9 394 Ebd., 17. 395 Ebd., 553 (hier wieder aus dem Exemplar im NL Bonus zitiert). Wachler gründete auf dieser gedanklichen Grundlage 1903 das Harzer Bergtheater auf dem „Hexentanzplatz“ von Thale als neuheidnische Thing- und Kultstätte. 396 Ebd., 552.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
Natur erwachsen. „Der germanische Geist“, so behauptete er gegen die völki sche Christentumskritik, habe „sein religiöses Kapital restlos im Christentum angelegt“.397 Dafür konnte er in der Gestalt Martin Luthers und der Reformation ein Vorbild benennen, in dem sich Volkstum und Religion auf harmonische Weise verbunden hatten. Für die Gegenwart stand allerdings die Fortsetzung der Übersetzungsleistung noch aus, die die Reformation geleistet hatte.398
2. Der „Deutsche Glaube“ von 1897 als antikonservative Programmschrift Wie in keinem anderen seiner Werke verdichtete sich die Germanisierungsthe matik in Arthur Bonus’ 1897 unter dem Titel Deutscher Glaube erschienener Textsammlung, in der er seine theologie- und kulturkritischen Gedankengänge unter einem erweiterten Spannungsbogen anordnete und sie mit deutlicher Zu spitzung gegen den bestehenden Kirchenbetrieb in Stellung brachte. „Deutsche Frömmigkeit“ wurde in diesem Buch zu einem religiösen Kampfbegriff erho ben, mit dem Bonus eine intensivierte, sozial wirksame und undogmatische Frömmigkeit für das Kaiserreich einforderte. Im Inhalt und in der Gestaltung stellte der Deutsche Glaube ein radikales Oppositionsbuch dar. Darin ging es nicht um eine völkisch-religiöse „Rehabilitierung des Heliandschristentums“, wie Bonus gegenüber einem Rezensenten betonte, sondern um einen integra tiv-sozialen und nationalen Glauben, den er als Idealbild den Krisen des Kaiser reichs entgegenstellte.399 Der Bezugspunkt seiner Überlegungen war das Volk, das Bonus als überzeitlich und kulturell begründete Gemeinschaft konstruierte. Das Deutsche Reich kam bei ihm nicht als territoriales oder verfassungsrechtli ches Gebilde, sondern als politisches und kulturelles Instrument des Volkswil lens und der Volksgeschichte in den Blick. Den Hintergrund bildete die Ausein andersetzung mit dem kirchlichen Konservatismus und der sozialen Frage, vor dem Bonus grundlegend Position zur Moderne bezog.400 Als deren Merkmale 397
Ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 447. Ders.: Deutscher Glaube, 192: „O übersetzt, übersetzt mir die Bibel nicht nur, über setzt mir die Frömmigkeit ins Deutsche!“ 399 Briefkonzept Bonus an „Herrn G.A.W. Rezensent in N 18 der Allgem. Deutschen Uni versitätszeitung“, undatiert, als Reaktion auf Besprechung des Deutschen Glaubens [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]. 400 Die Spannung zwischen moderner Ästhetik und der Suche nach Alternativen zu den mit der Moderne aufbrechenden gesellschaftlichen Problemfeldern fing sein Band auf der äußerlich-sichtbaren Ebene der Buchgestaltung ein. Das in Leinen gebundene Buch war auf dem äußeren Umschlag mit einer Zeichnung von Beate Bonus-Jeep versehen, die einen auf strebenden, streng blickenden Jüngling zeigte, aus dessen Händen sich Eichenäste in den Himmel streckten. Den Hintergrund bildete eine ländliche Umgebung, die von einem Dorf 398
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galten Vermassung, Industriekultur und weltanschauliche Uneindeutigkeit, zu gleich aber ein neuer Realismus und das Streben nach Persönlichkeit. Damit knüpfte das Buch eng an die kulturkritisch-religiöse Linie an, die er bereits in seinen Zeitschriftenbeiträgen zur sozialen Frage und verstärkt im Vorjahr 1896 mit seiner Streitschrift Von Stoecker zu Naumann aufgenommen hatte. Er blieb mit der im linken kulturprotestantischen Flügel verbreiteten sozialreligiösen Aufbruchsstimmung, wie sie etwa bei den Naumannianern sichtbar wurde, in Berührung. Zudem trat jedoch eine wachsende Unzufriedenheit mit dem libera len Protestantismus der „neologischen Christen“ hervor, der nun auch unter das Verdikt fiel, sich aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herausgezo gen zu haben und statt „Glauben“ nur noch eine erschlaffte, theoretische Welt sicht zu vertreten: „Wo gebt ihr noch Kraft zum Leben und zum Kampf?“ – der Liberalismus war von dieser ursprünglich an das konservative Kirchentum ad ressierten Kritik nicht mehr ausgenommen.401 Die Bezüge zum modernen Pro testantismus, die von Bonus massiv empfundenen Erosionsprozesse am protes tantischen Kirchentum, schließlich die nationalistische Aufladung seiner religiö sen Beobachtungen traten im Deutschen Glauben deutlich an die Oberfläche. Welche Stoßrichtung über die Weckung eines einheitlichen, religiös überhöh ten Nationalbewusstseins hinaus mit der deutsch-christlichen Zukunftsreligion verbunden waren, wird deutlich, wenn man sie mit seinen 1897 geäußerten kul turkritischen Einlassungen in Beziehung bringt. Der Deutscher Glaube war z unächst dazu angelegt, einen erneuerten, durch ein verändertes religiöses Be wusstsein unterfütterten und an die Nation gebundenen Idealismus zu wecken. Bonus’ Ruf nach einer intensivierten Frömmigkeit auf nationalen Bahnen war von der Krisenwahrnehmung beflügelt, dass die Gegenwart durch einen materi alistischen Zug beherrscht würde, unter dem sich die Einzelpersönlichkeit durch Zweckdenken und Vermassung auflöste. An Stelle der „Tugenden“ und Willens kräfte des Einzelnen – hier schien der bürgerlich-protestantische Sittlichkeits begriff durch Bonus’ Überlegungen hindurch – gewannen die unpersönlichen Lebensmächte an Gewicht: kirchturm überragt wurde. Darunter befand sich eine Zierleiste, auf der das wiederholte Mo tiv eines Drachentöters erkennbar war. Die Titelzeichnung griff damit Motive auf, die im Bereich der Lebensreformbewegung, etwa bei Fidus, wiederholt Verwendung fanden. Sie verband den Anspruch an Natürlichkeit, Naturverhaftetsein und traditionsgebundener Ein fachheit mit zukünftigen Hoffnungen auf eine neue Ethik und die Ankunft des „neuen Men schen“, der, wie das Motiv wohl andeutete, in der ländlichen Verwurzelung zu neuer Blüte finden würde. Stilistisch ließen sich Vergleiche zu den Titeln lebensreformerischer Zeit schriften anstellen, die Landschaftlichkeit und den menschlichen Körper in sprechender Weise miteinander verbanden, vgl. etwa die Abbildungen bei K ay Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform, Bd. 2, 27 f. 401 A. Bonus: Deutscher Glaube, 215.
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Die Zeit kommt schon, daß die Tugenden und Ideale, nicht mehr als treibende Kräfte wirk sam, so kraftlos geworden sind, daß wir sie getrost als Ausnahmen, perverse Anomalien hinstellen können.402
Während Bonus die Kraftlosigkeit der Gegenwart als Zeit ohne Ideale beklagte, hatte er in der Naturwissenschaft, dem materialistischen Weltbild und im Mo nismus die Gegner gefunden, die seiner Ansicht nach für die Formung einer gesichtslosen Moderne verantwortlich zu machen waren. In einer ins Groteske gehenden Weise baute Bonus diesen Vorwurf im Mittelteil seines Buches aus, dem bereits erwähnten „Diarium der Hölle“, in dem er die Figur des „Oberteu fels“ als Kulturwidersacher und intellektuellen Verführer auftreten ließ, um an ihm die gesellschaftlichen Verwerfungen durch Industrialisierung und Vermas sung personifizierend darzustellen. Bonus verdammte scharf das verwissen schaftlichte, säkularisierte Denken, das Leben und Welt in einen unpersön lichen und gesetzmäßigen „Maschinenbetrieb“ verkehrt hätte.403 Als „gespens tisch“ brandmarkte er das naturalistische Weltbild der Gegenwart, das er für „uninteressiert und gleichmäßig“ hielt.404 Seine Anklage richtete sich gegen die Verdinglichung und Eingrenzung der Lebenswirklichkeit, zusammengefasst im Naturgesetz, das er als transzendenzfrei ablehnte.405 Das „Diarium“, in dem Bonus erzählerisch ausmalte, wie ein höllischer Thronrat den Plan fasste, die Welt von allen geistigen Kräften zu entleeren, ließ sich als Anklageschrift gegen eine fortschreitende Entzauberung der modernen Lebenswelt lesen. Wie ein cantus firmus waren diese kulturkritisch-weltanschaulichen Bezüge unter den Deutschen Glauben gelegt. Auf diesem Fundament reihte Bonus nun eine Folge einzelner, kurzer Textstücke auf, bruchstückhafte, ekstatische Be kenntnisse eines Visionärs, Jugendreminiszenzen, lehrhafte Passagen und kur ze Reflektionsstücke. Daraus ergab sich ein Zwiegespräch zwischen einem Ich-Erzähler und dem deutschen „Volksgott“, der im inneren Widerstreit zwi schen dem „Christengott“ und der feindlichen Geisterwelt um den „Oberteufel“ lag. Die Figur des deutschen „Volksgottes“, die Bonus mit dem germanischen Gott „Wotan“ identifizierte und die er bereits in der Auseinandersetzung um die soziale Frage als kirchenkritische Instanz hatte auftreten lassen, diente als Ve hikel für seine nationalkulturellen und antiklerikalen Bemerkungen.406 Bonus hatte, wie ein Rezensent treffend bemerkte, den Germanengott als „Allegorie“ 402 Ebd., 403 Ebd.
68.
404 Ebd. 405 Ebd. 406
Ebd., 23. Neben der Gegenüberstellung von deutschem „Volksgott“ und „Christengott“ gebrauchte Bonus auch die Begriffe „die alten Götter“, „Wotan“ und „Volksgeist“; vgl.: Deut scher Glaube, 50–53.
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eingeführt, um mit ihm einen erfühlten Unterstrom im nationalen Bewusstsein der Deutschen als kollektiver kultureller Einheit einzufangen.407 „Wotan“ trat bei Bonus als Volksgeist und als Naturgewalt auf, die sich seinem Ich-Erzähler in Naturschilderung als Sturm entgegenwarf, in Wald und Feld oder in den Sa genstoffen der Vergangenheit begegnete. Er diente als Personifizierung der in neren Wesensmerkmale der Deutschen. Als „deutscher Volksgott“ durchzog er die romantisch-idealisierend gedachte Nationalgeschichte noch im christlichen Mittelalter, während er in der rationalistisch-realistisch denkenden Gegenwart auf das Refugium der Märchen und der Volkssage beschränkt worden war. Die Moderne begegnete Bonus’ kulturkritischer Oppositionsfigur zufolge dem deut schen „Sturm- und Strebegott“ nur noch als kollektive Erinnerung in den raunenden Gestalten der Volkssage, etwa dem „Ruprecht“ oder dem „Schimmel reiter“.408 Was ihn auszeichnete und aufgrund von Bonusʼ Darstellung gleich zeitig als nationaler Charakterzug verstanden werden musste, war „Thatenmut und Sturm und Drang, Vorwärtsstreben und die wilde Sehnsucht, die Zukunft nicht nur zu sehen und zu träumen, sondern auch zu schaffen, opfermutig“.409 Dagegen hatten sich die Teufel der Unkultur, die Gespenster des Materialismus und der überholten Philosophien verbündet, um die Moderne zu beherrschen und den idealistischen Glauben an den Christengott und die Persönlichkeits religion zu brechen. Den erzählerischen Hintergrund für diese kulturkritische Allegorie bildeten zahlreiche Landschaftsschilderungen, mit denen die Erlebnisse des Ich-Erzäh lers in eine dörfliche, bäuerliche Umgebung eingebettet wurden. Dieser Kunst griff sicherte Bonus zeitweilig die Einordnung in die Dorf- und Heimatliteratur der Jahrhundertwende.410 Ohne explizit zum Gegenstand der Darstellung zu werden, schien dabei die soziale Thematik immer wieder in kurzen Absätzen durch, in denen das Verhältnis der Generationen untereinander, die Lasten durch Alkohol oder schlechte Wirtschaft oder die Lebenssituation der Grund besitzer und Pächter im ländlichen Raum Ostelbiens angedeutet wurden.411 Während das Dorf in seiner Traditionsgebundenheit als Ort eines „gesunden“, 407
Vgl. die Rezension von Rudolf Günther: Arthur Bonus’ Schriften, in: ZThK 11 (1901), 214–229. 408 Ebd., 28–31.43–46. 409 Ebd., 45. 410 Vgl. die oben angesprochene Einladung von Heinrich Sohnrey zur Mitarbeit an der Kleinen Dorfzeitung, 1.7.1897 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]; zur ähnlichen Wahrneh mung durch Heinrich Steinhausen s. u. 411 In dem Abschnitt „Träume“ hatte Bonus eine Artikelserie aus der Hilfe einfließen las sen, in der er dem Geflecht von Geldnot, Abhängigkeit, Stolz und Verwandtschaftsbeziehun gen im dörflichen Kontext nachgegangen war (Deutscher Glaube, 91–176, vgl. Sozialismus des inneren Lebens, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 10 vom 8. März; Nr. 11 vom 15. März; Nr. 12
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
unverfälschten Deutschtums geschildert wurde, wies Bonus am Zerfall der ländlichen Gemeinschaft auf die Folgen des einbrechenden Materialismus, mo ralischer Versuchungen und der modernen, spekulativen Wirtschaftsformen hin. Der „Egoismus“ war für Bonus das Symptom einer Zeit der fallenden Wer te.412 Das dörfliche Leben stellte dagegen das Vorbild einer gefestigten, aufein ander bezogenen Gemeinschaft dar, deren Existenz nur dann gesichert war, wenn sie das Zusammenleben als „gemeinsame Sache“ betrachtete: „eine Ge meinde müssen wir werden, wenn unsere Arbeit Früchte bringen soll.“413 Ihr Auftrag war es, das „Ödland“ der gegenwärtigen Lebensumstände zu kultivie ren.414 Im Zentrum der ländlichen Gemeinschaft stand die Dorfkirche als reli giöses „Bild des Lebens, der Lebenskraft, der Zukunft“; sie diente als Symbol für Gemeinschaftlichkeit und Kontinuität im Zusammenleben.415 Im Weichbild der von ihm geschilderten, umbrechenden Agrargesellschaft verankerte Bonus nun seine Auseinandersetzung um den Deutschen Glauben. In einer als „Götterdämmerung auf dem Dorfe“ überschrieben Passage ließ er den Ich-Erzähler in einer Sturmszene einen dramatischen Wettstreit erleben, in dem die Dämonen versuchten, den „Christengott“ zu verdrängen und den „Volksgott“ auf ihre Seite zu ziehen. Dabei schien die Geisterwelt die Oberhand zu gewinnen.416 In mehreren Einzelszenen schilderte Bonus, wie der „deutsche Volksgott“ ursprünglich für das Christentum gewonnen worden war und war um er sich in der Gegenwart der materialistischen, entkirchlichten Geisterwelt zugewandt hatte. Für den „Volksgott“ hatte das Christentum am Anfang einen kräftigenden Neuaufbruch bedeutet und die Erfüllung der nationalkulturellen Hoffnungen Deutschlands dargestellt.417 Der deutsche „Volksgeist“ hatte das Christentum offen empfangen und sich bis zur Reformation mit ihm eng ver bunden; doch statt die „Seligkeit der Helden“ zu bringen, waren mit ihm die „Maden“ und der „Völkerschimmel“ als Zeichen des Verfalls gekommen, wie Bonus drastisch ausführte.418 Durch den christlichen „Helden am Kreuz“ waren vom 22. März; Nr. 14 vom 5. April; Nr. 15 vom 12. April; Nr. 16 vom 19. April; Nr. 32 vom 9. August; Nr. 34 vom 23. August). 412 Ebd., 80. 413 Ebd., 162.97, vgl. auch die Kurzgeschichte „Dammbruch“, an der Bonus das Motto „einer für alle, alle für einen!“ anhand der von der dörflichen Gemeinde abgewendeten Ge fahr eines Deichbruchs erläutert (ebd., 163–164). 414 Ebd., 97. 415 Ebd., 13. 416 Ebd., 78. 417 Ebd., 87–89.215. 418 Ebd., 216 f. Obwohl diese Begriffe in das semantische Inventar des völkischen Antise mitismus gehörten, verwies Bonus’ in sozialhygienische Terminologie gekleidete Devianz anzeige auf die Fehlstellungen des Materialismus und der Massengesellschaft und nicht auf
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ursprünglich die Erlösung aus Schwäche und Verzagtheit gebracht und „leben dige Seelen“ gerufen worden, doch in der Gegenwart ließ sich der „Volksgott“ davon nicht mehr bewegen.419 Im Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dem „Volksgott“ wurde der Konflikt zwischen den hohen Erwartungen an ein hero isch-kraftvolles Christentum und dem gegenwärtigem Verfall deutlich: Kannst du es leugnen, daß was du einst ahntest, in unserm Gott in Erfüllung ging? Und ist es nicht des Sehenden Kraft, sich zu beugen und zu dienen, wenn der Herbeigesehene, Herbei gesehnte kommt? So dachte ich auch einst, rief er. Es war der größte Irrtum meines alten Lebens. Ich habe einen Weichling großgezogen in eurem Gott. Es ist höchste Zeit, daß ich der Verfaulung steure, an der mein Volk hinkrankt und zu verwesen droht! Habe ich nicht gethan, was in meinen Kräften stand, für ihn, als ich ihn noch für den Uebergott hielt, den ersehnten starken Gott, den Erfüller jeder ehrlichen Kraft? War ich nicht sein getreuster Gefolgsmann, als er, der Heliand-König, in unserm Volke Krieger warb? Habe ich nicht viele christliche Schwerthiebe ausgeteilt im Sarazenenkampf? Es waren Irren, das weiß ich, es waren Jugendflegeleien, aber es war Kraft dahinter, und ein ehrlicher, treuer guter Wille. Hab ich nicht ehrlich die Dummheit eingestanden? Habe ich nicht fünfundneun zig Thesen männlicher Sinnesänderung in Wittenberg angeschlagen an die Kirche? 420
Der „Volksgott“, der zunächst wie der neutestamentliche Johannes als Rufer auf den herbeigesehnten Erlöser wartete, wandte sich in Bonus’ Darstellung von dem tatsächlich erschienenen „Weichling“ in seiner kirchlichen Gestalt ab. In einer als „Götterdämmerung“ überschriebenen Passage schilderte Bonus in al legorischem Gewand das von ihm mehrfach in unterschiedlichen Formen vor getragene religiöse Verfallsszenario eines zunehmenden Auseinanderdriftens von kirchlichem Christentum und der seiner Ansicht nach für die Gegenwart benötigten Weltsicht. Während Nationalgeist, Kultur und Religion in der Refor mationszeit eine Einheit gebildet hatten, schien das Christentum in der Gegen wart ein Verfallssymptom darzustellen. Auf der Suche nach einer deutschen Frömmigkeit verschärfte Bonus die we sentlichen Positionen seiner Kirchen- und Theologiekritik. Zum einen durchzog seinen Deutschen Glauben die Ablehnung des Intellektualismus als Gegensatz zu einer erfahrungsbezogenen Religiosität. Sein verdeutschtes Christentum war eine Forderung, die sich aus dem Kampf um das „Land der Wirklichkeit“ er gab.421 Weil sich die traditionelle Religion aus dem sozialen Leben verabschie det hatte, war das Gebiet des Natürlichen und der Wirklichkeit dem rationalisti einen rassistischen Zusammenhang. Die Rede war vom „Urgespenst“ der Objektivität, von dem Menschen wie „Maden“ in „Stumpfsinn“ und „Unglauben“ gehalten wurden (ebd., 224– 227). 419 Ebd., 219 f. 420 Ebd., 84 f. 421 Ebd., 75.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
schen Geist der Moderne ausgeliefert.422 Das „kranke, blutleere Geschwärme“ der Theologie hatte sich in der Höhenluft des „Weltlosgelösten“ eingerichtet und damit die Wirklichkeit verlassen. Sie hatte die Verbindung zu Kultur und Fröm migkeit gekappt und war dadurch auf dem Wege, Gott selbst zum „Gespenst“ zu machen.423 Zum zweiten stand seine Schrift noch ganz unter dem Eindruck der sozialen Frage, durch die aus Bonusʼ Sicht die Kraftlosigkeit des kirchlichen Protestan tismus bewiesen war. Er vermisste die aus religiösem Geist geborene „kühne That“, die helfen würde, die gesellschaftlichen Friktionen zu überwinden.424 Der verfasste Protestantismus habe sich unter der rigiden Führung der Kirchen behörden zum „Paragraphenknecht“ gewandelt, lautete die bittere Anklage; seine unentschiedenen Versuche, das soziale Elend mildtätig zu lindern, mach ten ihn zum „Bettelsuppenlieferanten“;425 die Gottesdienste seien „leer […] von Männern“ und der Ton der Predigten rührselig.426 Wie in Von Stoecker zu Naumann und seinen sozialprotestantisch motivierten Aufsätzen äußerte Bonus seine Enttäuschung darüber, dass aus dem Protestantismus keine umfassende soziale Bewegung erwachsen war, vielmehr habe er sich auf seine theologische Lehrhaftigkeit zurückgezogen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit seinen Widersachern – der Sozialdemokratie ebenso wie der Gleichgültig keit des Bildungsbürgertums – gescheut: Ein krankes Salbadern ohne ureigne Wucht, ohne Feuer, ohne Zukunftsinn, ja ohne Ideale ist euer Kampf geworden. Eine feige Flucht hinter die Altäre, ein bleiches Entsetzen vor freiem Ringkampf mit streitbaren Mächten.427
Bonus empörte sich über die „Verwaschlappung“ des Protestantismus, der in seinen Augen zur wirkungslosen Glaubenstheorie verkommen war; und er fand einen durchaus scharfen Ton, um die innere Behäbigkeit des Landeskirchen tums zu geißeln.428 Zum dritten kam hier die Distanz zwischen der kirchlichen Religionsaus übung, der Gegenwart und dem „Volksgeist“ zum Ausdruck. Bonus konstruier te einen nationalen Kulturcharakter, der eine kollektive Mentalität voraussetzte. Diese ließ sich geschichtlich verlängern und im Mittelalter oder den Sagen der Frühzeit wiederfinden; sie äußerte sich im Unbewussten als ein das Individuum übersteigender Charakterzug; und sie geriet nun mit den Prinzipien der Moder 422
Ebd., 63 f., 75. Ebd., 75. 424 Ebd., 85. 425 Ebd. 426 Ebd., 216 f. 427 Ebd., 85 f. 428 Ebd. 423
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ne in Konflikt. Vernunft, Wissenschaft, Welthandel und ein globalisierter Impe rialismus liefen als übernationale und transkulturelle Kräfte über Volksgrenzen hinweg; sie wurden daher von Bonus als gefährdende „Völkerverweser“ ge brandmarkt und zu Gegnern seiner nationalkulturell-religiösen Vorstellungen erklärt.429 Der im imaginierten Dorf auffindbare und von seiner „Wotan“-Ge stalt verkörperte Volkscharakter gab sich landverwurzelt und gemeinschaftsge bunden; er war zudem von den Kräften der Persönlichkeit durchwirkt, also ent scheidungsfroh, handlungskräftig; hier siedelte Bonus „Leben“ an, dort herrsch te die Gespensterwelt mit ihrer lebensfernen Vernunft. An diesem Gegensatz krankte die kirchliche Religion. Dem „Volksgeist“ gegenüber war die christli che Dogmenlehre in seinen Augen zur „Fremdherrschaft“ geworden, denn ob wohl sie als Institution machtvoll und traditionsreich verankert war, hatte sie an gesellschaftlichem Einfluss verloren und sich mit seinen Bedürfnissen und Vor stellungen nicht in Beziehung gesetzt. Wenn Bonus hier einen Säkularisie rungsprozess beklagte, dann führte er ihn auf die Theologisierung und Klerika lisierung des Protestantismus zurück, dessen Botschaft ungehört verhallte, weil er sich aus den gesellschaftlichen Problemlagen zurückgezogen hatte: Der Christengott ist ein Kirchengott. Die Kirchen sind seine Burgen. Alle sieben Tage ist große Volksmusterung und er hält eine Ansprache an seine ‚Getreuen‘. Dann ziehen sie wieder ins Blachfeld des Alltagslebens. Eine Weile lang schimpfen sie noch, eine Weile lang lachen sie noch über das, was der Fremdherrscher, der Frohnherr, ihnen sagte, dann ist es vergessen.430
Das theologische Umfeld reagierte auf diesen Gedankengang sehr unterschied lich. Wo die Suche nach einer handlungsgerichteten, sozialen Frömmigkeit be tont wurde, stieß Bonus’ plakative, von einfachen Gegenüberstellungen durch zogene Argumentation auf Gehör. Weniger aus dem akademischen Umfeld als aus den Reihen der Praktiker kamen teilweise begeisterte Zuschriften, die den Deutschen Glauben als wegweisenden Entwurf zur Erneuerung des Protestan tismus empfanden. So verstand eine Volksschullehrerin Bonus’ Buch als versitt lichenden Aufruf zur Scheidung der Geister und zur Arbeit an der Veredelung der Nation: Möchten Ihre ernsten Worte dazu beitragen, daß wieder mehr und besser im deutschen Volke gekämpft wird, daß sich der Einzelne nicht scheut, den großen Kampf mit seinem Teufel aufzunehmen. Ich hoffe und glaube, daß eine solche Erneuerung des geistigen Lebens im edelsten Sinne, wie sie von Ihnen gemahnt wird, nicht ausbleiben wird, wenn erst die Erfah rung die Hinfälligkeit so mancher Götzen erwiesen hat. Freilich, wie lange kann es noch dauern, bis dieses eintritt! Umsomehr ist es Pflicht eines Jeden, an seinem Teile mitzuhelfen, daß die deutsche Treue und Selbständigkeit nicht aufhört.431 429
Ebd., 216 f. Ebd., 53. 431 Brief Hille an Bonus, 9.1.1898 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_008]. 430
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Der Pfarrer und dem Kunstwart-Umkreis zugehörige Schriftsteller Heinrich Steinhausen nahm eine grundlegende Schnittmenge mit den eigenen Kulturvor stellungen in der Verbindung von Dorfideal und antiurbaner Zivilisationskritik wahr, die Bonus bewusst als „Stimmungsbild aus dem Dorfe“ angelegt hatte.432 Das Buch sei in einem „frischen u. markigen Stil“ geschrieben.433 Insofern es aber um die „Aufrichtung eines erneuten Christenthums“ ging, bestand nach Steinhausens Ansicht die Gefahr, dass Bonus die „dogmat.[ische] Konfusion“ in der Gegenwart vergrößern würde.434 Was dem konservativen Lutheraner Stein hausen völlig zuwider lief, war der sozialreligiöse Unterbau von Bonus’ Germa nisierungsprogramm: Das ganze praktische Christenthum, was man will z.[ur] Heilung des socialen und nun d.[er] nationalen Schäden, das germanische Christenthum bedeutet für mich eine Abschwächung des Evangeliums, ja d.[er] Gedanken, die ganze Nation, d.[ie] Menge […] mit christl.[ichen] Gedan ken zu durchdringen u.[nd] dadurch glücklicher, freier zu machen, eine Schwärmerei.435
Auch der Berliner Neutestamentler Bernhard Weiss stand dem Buch verständ nislos gegenüber und kritisierte den manieristischen Stil ebenso wie die theolo gische Ausrichtung: „Warum brauchen Sie Ihre schönen Gaben nicht, um so manche, die in dem Wirbel unsrer Tage vergebens nach Licht und Leitung ru fen, dasselbe zu bringen?“436 Eine eingehende und für die ältere Generation der Christlichen Welt charak teristische Einschätzung formulierte Julius Kaftan, der Bonus’ germanisierende Vorstellungen mit Deutlichkeit zurückwies. Den „Gedanken von der Verdeut schung des Christenthums“ hielt Kaftan für einen theologischen Irrweg, oder doch wenigstens für einen begrifflichen Fehlläufer, für den er nur „ein katego risches aus dem Innersten kommendes Nein“ übrig hatte.437 Dem Ruf, dem Pro 432 Briefkonzept Bonus an Heinrich Steinhausen, undatiert; vgl. auch die Einleitung zu einem MS von Bonus, datiert 26.2.1896: „Götterdämmerung im Dorf“ [beides ebd., 13_006]. 433 Brief Heinrich Steinhausen an Bonus, 12.8.1897 [ebd., 13_007]. 434 Ebd. 435 Ebd. 436 Briefkarte Weiss an Bonus, 6.6.1897 [ebd., 13_007]. 437 Brief Kaftan an Bonus, 29.11.1896 [ebd., 13_006]. Kaftan bezog in einem ausführli chen Schreiben Position zu dem Buch, nicht zuletzt als Hilfestellung verstanden, da er aus drücklich mit seiner „schriftstellerischen Thätigkeit sympathisiere“, wie er Bonus schrieb. Der Verleger Salzer hatte Kaftan um eine Rezension des Bandes gebeten, die er aufgrund der ihn störenden nationalistischen Thematik ablehnte. Dem Diederichs-Band Religion als Schöpfung, der weniger die nationale als die religiöse Fragestellung behandelte, widmete Kaftan entsprechend eine eingehende Diskussion in der Deutschen Literaturzeitung, nicht aber in einer Fachzeitschrift (DLZ (1903), 1152–1153 [UA Jena, NL Diederichs, Rezensions mappen Arthur Bonus]). Eine ähnliche Position hatte Kaftan zu Bonus’ Behandlung der Judenmission eingenommen; auch hier betonte er die „Internationalität des Evangeliums“
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testantismus zu einer religiösen und sozialen Neubelebung zu verhelfen, konnte sich Kaftan allerdings anschließen: Es ist gewiß viel Wahres in dem, was Sie unter diesem Namen zusammenfassen: das Chris tenthum muß aus der Kirche ins Volk, ins Volksleben hinein, u.[nd] wir brauchen männlichen starken, kraftvollen Glauben, keine süßlichen Verwaschenheiten.438
Wo Bonus einen „deutschen Gott“ ausmalte, erschien ihm das jedoch als „Ver götzung“ nationaler Eigenschaften, und mehr noch, als überflüssige Eintragung von „altem Spuk“ in eine aufgeklärte, zeitgenössische Lebenswirklichkeit. Die christlich-ethische Universalreligion würde durch eine Germanisierung zu ei nem beschränkten Nationalkult: Die Wahrheit ist für alle, ist allgemein. Wir werden entweder ein Christenthum haben nach der alten Regel: hier ist nicht Jude noch Grieche: oder wir werden es überhaupt nicht haben. Die volksmäßige Bestimmtheit darf doch nur der Typus des Allgemeinen sein, neben dem ich mir andre gleichberechtigte Typen denken kann, wenn ich auch meinen Typus vorziehe, weil es eben der meine ist. Ein „deutscher Gott“ ist ein Götze u.[nd] nichts weiter.439
Auch wenn er in dem Buch „viel Schönes und kraftvoll Gesagtes“ finden konn te, setze sich Bonus mit der Verabsolutierung des deutschen Volksgeistes der Gefahr aus, in geistige Provinzialität abzugleiten. Für Kaftan fiel Bonus von der Weitläufigkeit der Wissenschaft und der liberalen Theologie zu einer eindimen sionalen Gefühlsschau zurück, die nicht mehr diskurshaft, sondern auf mit der Vernunft nicht mehr erreichbare Bewusstseinsschichten gerichtet war. So präzise Kaftan in seinen Bewertungen auf die zahlreichen Überzeichnun gen in Bonus’ Theorien reagierte, so wenig ging er auf deren eigentliche Stoß richtung ein, die weit über die theologische Themenstellung hinausreichte. Hin ter dem Streben nach Deutschem Glauben verbarg sich die Hoffnung auf eine dem Christentum entspringende Erweckungsbewegung, die den Geist der Mo derne mit einem neuen, religiösen Sinn als einigendes Band durchdrang. Die sozialen und weltanschaulichen Hürden, die den Einzelnen als „Verstandes mensch“ fesselten, waren abzubauen und durch neue Ideale zu ersetzen; damit wäre auch die deutsche Kultur von ihren Schranken befreit.440 Bonus erhoffte sich einen Glauben, der sich als „wirksame Thatkraft“ in den gesellschaftlichen (Brief Kaftan an Bonus, 9.2.1896 [ebd.]). Kaftan griff das Germanisierungsproblem 1901 erneut brieflich auf, dann allerdings mit einer deutlich positiveren Bewertung. Grundsätzlich stellte ein nationalistisch ausgelegtes Christentum für ihn aber eine einseitige und daher unzulässige Verfälschung der übernationalen, an die gesamte Menschheit gerichteten Bot schaft des Evangeliums dar (Brief Kaftan an Bonus, 12.10.1901 [ebd., 08_001]). 438 Ebd. 439 Ebd. 440 Bonus: Deutscher Glaube, 39.
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Konflikten niederschlug.441 Die erwartete deutsche Frömmigkeit stellte sich Bonus als eine Vermählung zwischen Nationalcharakter und Christentum vor, bei der sich die akademischen und kirchlich-klerikalen Strukturen des Landes kirchentums auflösen würden: „Der Christengott ist ein Kirchengott. Daß er ein Volksgott würde!“442 Trotz der regressiven, antimodernen Züge, mit denen Bonus im Dorf ein Ab bild der Nation als enger Gemeinschaft zeichnete und zugunsten religiöser Ideale zur Abwehr des Materialismus schritt, war sein Deutscher Glaube in scharfer Oppositionsstellung auf die sozialen und kulturellen Konflikte der wilhelminischen Gesellschaft gerichtet. In der Auseinandersetzung mit dem Konservatismus enthielt er eine politische Zuspitzung, ohne sich allerdings über eine Gesinnungsäußerung hinauszuwagen. Die soziale Frage lieferte Anhalts punkte für politische Widersprüche. Die Kirche vertrat einseitige Interessen, wenn sie „Zeter und Mordio für Thron, Altar, Sitte, Ruhe, Ordnung, Frieden, Liebe“ schrie, gleichzeitig aber die offene gesellschaftliche Auseinandersetzung verhinderte.443 Die polizeilichen und gesetzlichen Maßnahmen gegen die So zialdemokratie und den Ruf nach dem Obrigkeitsstaat hielt er für ein klägliches Versagen.444 Die deutsche Frömmigkeit hatte nicht das Ziel „zur Stütze mor scher Häuser“ zu werden.445 Das Subjekt, dem seine spekulative Nationaltheologie galt, war das Volk als organische Einheit von Individuum und Allgemeinheit. Im Volk als historisch gewachsenem Allgemeinsubjekt fielen die Ebenen von Politik, Religion und Kultur ineinander. Indem es als überzeitliche sittliche Gemeinschaft zum Hand lungsziel bestimmt wurde, wurde die Differenzierung zwischen Staat und Ge sellschaft aufgehoben. Die nationalen „Tugenden und Ideale“ wiederzuerwe cken erklärte Bonus zur ethischen Verbindlichkeit. Damit verlieh er dem Volk eine religiöse Qualität.
3. Volksreligion und Volksgemüt „Woher wissen Sie denn, was deutsch ist, u.[nd] wie deutsches Christenthum beschaffen sein muß?“446 Mit dieser Grundsatzfrage verwies Julius Kaftan Bonus 1901 auf ein Kernproblem seiner Germanisierungsthese, nämlich dass der so zentrale Begriff des „Deutschtums“ auf keiner einheitlichen Definition 441
Ebd., 88. Ebd., 53. 443 Ebd., 80. 444 Ebd., 207. 445 Ebd., 85. 446 Brief Kaftan an Bonus, 12.10.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 08_001]. 442
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aufbauen konnte. Im nationalistischen Diskurs der Jahrhundertwende fungierte das „Deutsche“ als eine Verhältnisbestimmung, die aus Kategorien wie Spra che, Geschichte, kulturellen Traditionen, zunehmend auch rassetheoretischen Überlegungen zusammengesetzt wurde. Dabei verblieb der Begriff des „Deut schen“ notwendigerweise unterbestimmt als emotionale Kategorie, an die sich dadurch unterschiedliche Interessenlagen anheften ließen. Auch bei Bonus hat te der Begriff des „Deutschen“ eine hohe Verbindlichkeit, ohne dabei inhaltlich eindeutig abgrenzbar zu sein; seinen Inhalt galt es gleichsam instinktiv zu er spüren: Ich meine, es handelt sich in allen solchen Fällen, wo wir von deutschen Dingen sprechen: deutscher Kunst, deutscher Wissenschaft, deutscher Schule, deutschem Leben, deutschen Menschen um bestimmte Modifikationen – schwer ausdrückbare, leichter fühlbare – von Dingen, die es auch sonst giebt und die man gerade deshalb durch das Eigenschaftswort deutsch heraus hebt. Wie sollte es in Bezug auf die Religion anders stehen!447
Ähnlich unklar auf gefühlsmäßige, kulturelle und historische Gegebenheiten bezogen nahmen sich die Beschreibungen zum nationalen Bewusstsein aus, die im Umfeld der nationalen Kulturreformer verhandelt wurden. Für Friedrich Lienhard bestand ein enger Zusammenhang zwischen „Volkskörper“, „Volks geist“ und „deutscher Volksart“, die er durch offene Begriffe wie „Seele“, „Ge halt“ oder „Persönlichkeit“ zu beschreiben suchte.448 Dem Kunstwart-Heraus geber Avenarius zufolge schwebte „das papierdünne beschriebene Blatt Be wußtsein“ auf den unbewussten „Tiefen“ der nationalen Vergangenheit und wurde von diesen nachhaltig beeinflusst. Zwischen der Nationalgeschichte und dem Heute bestand demnach ein unauflöslicher und prägender Zusammenhang: „Alles bei den Vorfahren Gewesene ist ja in den Folgen noch, von allem tragen wir noch etwas in uns […]: es lebt noch.“449 „Das Nationale“, so der Kunstwart- Herausgeber, ist „das Vererbte“, folglich eine Zusammenziehung verschiedener, aus der Vergangenheit erworbener Eigenschaften.450 Daraus ergab sich eine überindividuelle „Wesenseigenart“, die das Fühlen und Denken der Angehöri gen eines Volkes bestimmte. In jedem Einzelnen waren im Unterbewussten die Kräfte „der Rasse und des Völkischen“ am Werke, die seinen Emotionshaushalt steuerten. Das „Völkische“ ließ sich vom Einzelnen nicht trennen, sondern stand mit ihm „unlöslich […] verbunden zu der Einheit ‚Ich‘“.451 Eine weitere, populä re Version dieser Theorien lieferte der 1898 erschienene Sammelband Das deutsche Volkstum. Auch diesem Entwurf zufolge besaß jede Nation einen eigenen 447
Bonus: Arbeit an der deutschen Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 509–512, 511. Lienhard: Hochland. Einleitende Bemerkungen, in: Deutsche Heimat 1/1 (1900), 1–10. 449 Avenarius: Vom Feste der Ruhe, in: Kunstwart 27/1 (1913/14), 481–483, 481. 450 Ders.: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 1–6, 1. 451 Ders.: ‚Nationaler Standpunkt‘ und Literatur, in: Kunstwart 15/2 (1902), 83–85, 84. 448
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Volkscharakter, der sich mentalitätsformend auf das Individuum auswirkte. Er stellte eine „Zusammengesetztheit vieler einzelner Eigenschaften, Fähigkeiten, Neigungen“ dar: eine Kombination aus „Leben und Geschichte“.452 Für die ein zelnen Angehörigen einer Nation ließ sich demnach von einer „psychischen We sensgleichheit“ sprechen, die durch Abstammung, Gebräuche und Sprache her gestellt wurde und sich auf den Charakter und schließlich die Religiosität des Einzelnen auswirkte.453 Allenthalben wurden die religiöse Gefühlsinnigkeit, ein Hang zu „Innerlichkeit“ und deutschem „Trotz“ als vorherrschende Wesens züge der Deutschen behauptet. „Rasse“ – als die übernationale, abstammungs mäßige Grundlage einer Menschengruppe verstanden – und das „Völkische“ – als die konkrete, nationale Ausprägung – determinierten nach diesen Vorstel lungen die charakterliche Entfaltung des Einzelnen mit und wirkten sich daher auch auf seine religiösen Anlagen aus. Die Einheit von Volkstum, Geist und Natur im Individuum wurde als Voraussetzung der eigentlichen Kultur im Ge gensatz zur abgewerteten, als nur materialistisch und geistlos beschriebenen Zivilisation betrachtet. Denn zur Kultur gehörte die organische Einbindung von Eigen- und Fremdeinflüssen in den Volkscharakter, die sich „verdauen, einflei schen, eingeisten“ lassen mussten.454 Aus diesen Annahmen ließ sich eine spezifisch kulturgestaltende Veranla gung des Germanentums begründen. Für Ferdinand Avenarius etwa war es aus gemachte Sache, dass „kein Volk in der Welt, […] alles in allem genommen, reicher an starken Begabungen wäre, als wir“.455 Auch Bonus folgte er der um die Jahrhundertwende verbreiteten Vorstellung einer kulturellen und religiösen Sonderbegabung des Germanentums, das er zum werdenden Kulturvolk der Moderne schlechthin stilisierte. Den Anlass dazu gab ihm eine Buchveröffent lichung von Julius Hart, wie Bonus ein vielversprechender Literat des Die derichs-Verlages, der unter dem Titel Zukunftsland versucht hatte, die Vorboten einer kommenden, deutschen Weltanschauung zu entdecken.456 Hart hatte in seinem Entwurf die Geschichte des Abendlandes reduktionistisch auf zwei 452
H ans Meyer (Hg.): Das Deutsche Volkstum, Leipzig 1898, im Vorwort. 9. Meyer stellte dem eine knappe Beschreibung der „anthropologischen Rassen merkmale“ der Deutschen voraus, die er auf eine gemeinsame, überwiegend germanische Abstammung zurückführte. 454 Avenarius: Wohin? Zum Thema Kultur und Zivilisation, in: Kunstwart 27/1 (1913), 1–4, 2. 455 Ders.: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 1–6, 6. 456 Bonus: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436–442. 460–466.492–497.517–521. Der Text findet sich erweitert unter der Überschrift: „Ästhetische und religiöse Weltanschauung“ wieder in: Zur Germanisierung, Jena 1911, 70–101; vgl. Julius H art: Zukunftsland, Bd. 1: Der neue Gott; Bd. 2: Die neue Welterkenntnis, Jena 1899 (Untertitel: Im Kampf um eine neue Weltanschauung). 453 Ebd.,
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grundlegende weltanschauliche Gegensätze zurückgeführt, indem er eine geis tige Zweiteilung der Kulturvölker zwischen dekadent-anschauender Haltung und germanischem Schaffenseifer entwarf. Bonus griff Harts Theorien 1899 in der Christlichen Welt auf. Die germanischen „Nordarier“, so Bonus, verlangten nach einer praktischen und auf die Wirklichkeit bezogenen Religion der Welt gestaltung und des Entwicklungsdrangs. In dieser Richtung, machte er deutlich, lag die Höhenluft der Zukunft, die sich in der deutschen Reformation Luthers schon einmal abgezeichnet hatte.457 Wie war nun der Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und der Kollektiv größe Volk zu denken? Angesicht der ausdrücklichen Betonung der individuel len Seite des Religiösen, das im Erleben der Persönlichkeit zu verankern war, bekam diese Frage Relevanz. Sie wurde um die Jahrhundertwende wissen schaftlich beispielsweise im Rahmen der „Völkerpsychologie“ erörtert, wie sie etwa einflussreich von dem Leipziger Professor Wilhelm Wundt vertreten wur de. Dabei ging es um den Versuch, den Einfluss von Sprache, Religion, Sitte auf die geistige Entwicklung des Menschen zu einem Gesamtbild zu vereinigen.458 Bei Bonus geriet „Volk“ zu einem appellativen Gemeinschaftsbegriff. Die Religion erklärte er zur tragenden Wesensäußerung eines Volkes schlechthin: Was ist Religion anderes als der zusammengefasste selbstbewusst gewordene, innere, geisti ge oder Gemütsgehalt eines Volkes? Sozusagen sein Geistleib, seine Persönlichkeit, seine Individualität.459
Bonus schrieb als Nachhall romantischer Völkerlehren jeder Nation einen genu inen, je unterschiedlichen Charakter und ein eigenständiges „Lebensgefühl“ zu, die im Laufe der Geschichte durch die „Erlebnisse des Volkes“ geprägt wur den.460 In einer sich organisch in Nationalindividualitäten gliedernden Mensch heit war es die „geistige Geschichte“ einer Nation, auf die sich ihre Eigenarten 457 Ebd., 496. Der Arier-Begriff fand bei Bonus nur in diesem Zusammenhang Verwen dung, in dem er – wie auch Julius Hart – nicht an biologisch-rassistische Vorstellungen, son dern an den sprach- und völkerkundlichen Gebrauch des 19. Jahrhunderts anknüpfte; vgl. dazu K laus von See: Der Arier-Mythos, in: Nikolaus Buschmann (Hg.): Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt 2003, 56–96; Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, München 2007; G.L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt 2006. Brieflich äußerte Bonus über zu Harts Entwurf: „Ich will dabei nicht verhehlen, daß ich das Hartsche Buch zwar in der Idee und im allgemeinen Ent wurf für gut, in der Ausführung aber für völlig verfehlt halte“ (undatiertes Briefmanuskript ohne Adressatenangabe [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_015]). 458 Vgl. zu Wundt und seiner Konzeption Jochen Fahrenberg: Wundts Programm und Methodik der Völkerpsychologie, in: Gerd Jüttemann (Hg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit, Lengerich 2013, 55–67. 459 Bonus: Zur Germanisierung, 11. 460 Ebd., 12–14.
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und Besonderheiten zurückführen ließen.461 An ihr bildete sich das „Volksge müt“, das in der Kultur, der Kunst und besonders der Religion seinen Ausdruck fand.462 Unverkennbar übertrug er Grundgedanken seiner Individualreligion auf die als Kollektiv gedachte Größe „Volk“, das – wie der Einzelne auch – eine „charaktervolle Volksindividualität“ ausbilden musste, um im darwinistisch- evolutiv gedachten Getriebe der Weltgeschichte einen Platz zu behaupten.463 In diesem – aus der Geschichtsphilosophie Herders und Fichtes ableitbaren, aber auch mit der religiösen Deutschtumsemphase seines Vorbildes Paul de Lagarde verwandten – Gedanken behauptete Bonus, dass der Volkscharakter nicht von Natur aus festliege, sondern „anerlebt“ sei, indem er sich aus den tradierten historischen Erfahrungen und kulturellen Errungenschaften ergebe.464 Dem Volkstum wurde in Bonus’ Denken die Qualität einer umfassenden Kollektiv persönlichkeit beigemessen, die über geteilte Erinnerungen, Erlebnisse, mithin über eine verbindende „Geschichte“ verfügte, aus der sich der Charakter und auch die Religiosität einer Nation herleitete.465 Für Bonus war der „Volkscharakter“ weniger eine Frage der biologischen Ge nealogie oder der Rasse, sondern stellte ein geschichtliches Kondensat aus be stimmten Eigenschaften und historischen Ereignissen dar. Die Nation, so die Zielrichtung seines Gedankengangs, entstand als Schicksalsgemeinschaft, die sich bestimmend auf den Emotionshaushalt und das Denken des Einzelnen aus wirke: Wir sind, wie wir sind. Unser Wollen, unser Fühlen ist im Zusammenhang des ganzen Volks lebens erwachsen. Unsre Fragen, unsre Not, unsre Auffassung von ihr, das alles haben wir nicht erdacht, das ward mit uns.466
Bereits in seiner in der Christlichen Welt 1899 erschienenen Artikelserie „Zur Germanisirung des Christentums“ war diese geschichtsspekulative Theorie zur geistigen Nationsbildung angelegt. In seinen Ausführungen versuchte Bonus 461
Ebd., 13.
462 Ebd.
463 Ebd., 12 f.; vgl. die Ausführungen in ders.: Individualisirung und Nationalisirung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 147. 464 Ebd., 13. Es liegt nahe, Bonus’ Vorstellung vom „Volksgeist“ bzw. „Volksgott“ mit dem romantischen Nationenverständnis und dem spätaufklärerischen Nationalismus zu ver binden, wie sie etwa bei Herder vorliegen. Eine solche Verbindungslinie wird bei Bonus al lerdings erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Verweisen auf Fichte gezogen; dazu s. u. Zum älteren Nationalismus vgl. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt 1998; Hedda Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen, 1848–1880, Frankfurt 2001. 465 Ebd., 16 ff.; 21 f. 466 Ders.: Religion deutsch, in: Deutsche Heimat 4/1 (1901), 381–383, 382; vgl. auch etwas überarbeitet in: Germanisierung des Christentums, 105.
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den weiten Bogen zwischen dem Glaubenserleben des Individuums und dem Volk als religiösem Wirkraum zu spannen. „Die Welt- und Kulturgeschichte ist die präexistente Vorgeschichte unseres Charakters“, war hier der Spitzensatz, mit dem er den Bezug zwischen dem überpersönlichen Wirken der Historie und dem in der Gegenwart lebenden Ich herzustellen gedachte.467 Das Verhältnis des Einzelnen zum Volk gab Bonus mehrfach in organizisti schen Bildern wieder. Wie Glieder einer Kette reihten sich die Einzelpersön lichkeiten in den Zeitläufen auf, oder, deutlicher noch von einem zellulären Aufbau der Gesellschaft als körperhafte Einheit aus gedacht, in Stufenschritten vom Einzelnen zur Familie, von der Familie zum Gesamt der Nation. Wie sehr einerseits das Individuum in seiner Gedankenwelt geistig-religiös verselbstän digt wurde, blieb es in Bonusʼ Konstruktion andererseits durch die angeblichen geistigen Kollektivkräfte des Volkstums als eine „geistige Gesamtperson“ an den Unterstrom der Nationalgeschichte rückgebunden.468 Unter der Annahme dieser Wechselbeziehung war es für Bonus gar nicht anders möglich, als dass die religiösen Äußerungen des Einzelnen die „Volksfarbe“ trügen.469 Eine ab strakte religiöse Erkenntnis im Sinne einer „Weltreligion“ stellte für Bonus da her ein reines Denkprodukt dar, das nur dann Bedeutung erlangte, wenn es sich im Glauben und in der Kultur der einzelnen Nationen verwirklichte.470
4. „Island“ und „Deutsche Mystik“: Verortungen der Religion zwischen Diederichs-Universum und nationaler Kulturbewegung Im Umfeld von Kunstwart und Diederichs-Verlag wurde die Hinwendung zur Vergangenheit und zum Volkstum als ein nationales Erziehungsprogramm ver standen. So hielt Ferdinand Avenarius „das Wegweisen […] zu den Schöpfern, das Wegweisen zu den Urquellen des Deutschtums“, für eine hochwichtige Bildungsaufgabe für die Gegenwart.471 Auch Bonus erschien es notwendig, sich aufgrund der zeitgenössischen sozialen und weltanschaulichen Gegensätze auf die Grundzüge eines erst wiederzuentdeckenden germanischen Wesens zurück zubeziehen. Diesem sollte man sich im Strom der Volksdichtungen, also der 467
Ebd., 53. Ders.: Individualisirung und Nationalisirung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 147. 469 Ebd., 148. 470 Ders.: Gotteserkenntnis. Zur Germanisirung des Christentums 2, in: CW 13 (1899), 81–83, 82. Bereits 1895 hatte er in der Christlichen Welt ausgeführt, dass die Religion und die besondere Art eines Volkes durch „Schicksale“ und an „Sorgen und Mühen geschichtlicher Art“ gebildet würden (Die Treppe der Luisetta, in: CW 9 (1895), 714–715, 714 f.). 471 Avenarius: ‚Nationaler Standpunkt‘ und Literatur, in: Kunstwart 15/2 (1902), 83–85, 85. 468
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Märchen, Sagen und volkstümlichen Lieder bis hin zu den als den „rein germa nisch“ apostrophierten Überlieferungen Altislands nähern. In diesen hatte sich aus seiner Sicht unter vielen Schichten eine unverfälschte Geistigkeit aus den Tiefen des Vormittelalters erhalten. Theologischer und enger auf eine deutsche Christentumsinterpretation hin ausgerichtet war zudem sein Bild der deutschen Mystik, die Bonus als eine genuin germanisch-deutsche Frömmigkeitsform ent deckte. Damit gehörte er zu den Autoren, die im Umfeld von Kunstwart und Diederichs-Verlag maßgeblich am deutschen „Mythos vom Norden“ mitschrie ben und das Bild einer germanisch-deutschen Kultur um die Jahrhundertwende publizistisch prägten.472 a) „Ein Atmen und Hauchen“: Märchen und die deutsche Volksliteratur Die Charakterzüge einer Nation, so Bonus, ließen sich nirgendwo so gegen ständlich und greifbar nachvollziehen wie in der Volksliteratur, den Sagen und Märchen der Vorzeit. In ihnen könne man „ein Atmen und Hauchen“ der Ver gangenheit spüren, das die Sehnsucht nach einem lebendigen Volkstum wecken und damit zur inneren Festigung der Gegenwart beitragen würde.473 Bonus’ Überlegungen zum Umgang mit volkstümlichen Überlieferungen und Sagenstoffen besaßen erhebliche Relevanz für ihre Entdeckung als nationa lem Kulturschatz. Darin schloss er an die in der Romantik beginnende Erzähl forschung an, die in der germanischen Vorzeit ein goldenes Zeitalter entdeckt hatte. Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigten sich Germanisten, Philologen und Kulturhistoriker mit der Suche nach Vorbildern einer volkhaften Identität der Deutschen in der Vergangenheit, die in der Volkskunde eine eigenständige Dis ziplin herausbildeten.474 Dass sich in den Volkssagen und Märchenüberlieferun gen ursprüngliche „Natur- und Seelenkräfte“ des Volkstums aufdecken ließen, war auch eine Überzeugung, die bis in die völkische Märchenforschung hinein 472 Vgl.
Zernack: Der ‚Mythos vom Norden‘ und die Krise der Moderne: skandinavische Literatur im Programm des Eugen Diederichs Verlags, in: Ulbricht/Werner (Hg.): Roman tik, Revolution und Reform, 208–223; vgl. Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen in bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreichs, Frankfurt 2004; K laus von See: Deut sche Germanen-Ideologie; Wolf-Daniel H artwich: Deutsche Mythologie. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion, Berlin 2000; grundlegend zur literarischen Rezeption R ainer K ipper: Der Germanenmythos. 473 Bonus: Etwas vom Volkslied, in: CW 15 (1901), 49–51, 50; ders.: Aus der schönen Lite ratur, in: ThR 1 (1898), 480–492. 474 Vgl. K ai Detlev Sievers: Völkische Märcheninterpretation. Zu Kurd Niedlichs Mythenund Märchendeutungen, in: Christoph Schmitt (Hg.): Homo narrans. Studien zur populären Erzählkultur. Festschrift für Siegfried Neumann zum 65. Geburtstag, Münster 1999, 91–110; Wolfgang Jacobeit (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994.
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reichte.475 Bonus’ Mythenforschung ließ sich nicht einfach in den völkischen Komplex einberechnen. Sie machte wirkungsvolle Vorgaben für die nationale Kulturbewegung, wurde aber auch in der wissenschaftlichen Debatte nach der Jahrhundertwende registriert. So verwies der Sagenforscher Adolf Thimme in den germanistisch-kulturgeschichtlichen Handbüchern zur Volkskunde 1909 in einer Abhandlung über Das Märchen auf seine Märchen- und Sagenrezepti on.476 Bonus habe die Spuren nationaler Einfärbung in der Volksüberlieferung verdeutlicht, so Thimme, aus der sich das „Bild eines Kulturzustandes“ und Kenntnis über eine bestimme „Periode der deutschen Geschichte“ ablesen lie ßen. Thimme bezog sich auf Bonus’ 1905 in den Preußischen Jahrbüchern er schienene Untersuchung zur „Biologie des Märchens“, in der dieser die Volks stoffe auf mythische Urschichten der Menschheitsentwicklung zurückgeführt hatte.477 Auch der Alttestamentler Hermann Gunkel verwies in seinem Kom mentar zum biblischen Genesis-Buch auf Bonus’ Aufsatz. Der zur Religionsge schichtlichen Schule gehörende Exeget, der in seinen Forschungen zum Ersten Buch Mose die Form- und Gattungsgeschichte methodisch maßgeblich mitent faltet hatte, hielt Bonus’ Zugang zu früheren Überlieferungsstufen durch Sagen und Märchen für berechtigt.478 Ähnlich wie für Bonus ging es für Gunkel in den biblischen Überlieferungen nicht um abstrakte theologische Lehren oder Be griffe, sondern um die „lebendige religiöse Erfahrung“, deren Wirkungen sich in den Texten niedergeschlagen hatten.479 Die ursprünglich mythisch-religiöse 475 P hilipp Stauff: Märchendeutungen. Sinn und Deutung der deutschen Volksmärchen, Leipzig 1913; zu ihm vgl. Gregor Hufenreuter: Philipp Stauff. Ideologe, Agitator und Orga nisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs, Frankfurt 2011; Felix Wiedemann: Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007, 145. 476 A dolf Thimme: Das Märchen, Leipzig 1909. 477 Bonus: Zur Biologie des Märchens, in: PrJb 119 (1905), 240–296. 478 Wichtig für das in der liberalprotestantischen Exegese maßgebliche Verständnis des Mythos als erzählerische Umformung des religiösen Welterlebens waren die formgeschicht lichen Arbeiten des Alttestamentlers Hermann Gunkel, der zwischen Märchen, Sage und Mythos unterschied. Den Mythos verstand er im Gegensatz zur Sage, die von Menschen und Helden berichtet, als „Göttergeschichte“ (Genesis, Göttingen 31910, XIV). Märchen und Sagen stellten für ihn „abgeblaßte Mythen“ dar, denen die unmittelbare Gotteserfahrung abhanden gekommen waren: Als die „Gestalten der Götter vergessen worden“ waren, sei das Märchen durch die Weitertradierung der ursprünglich religiösen, jetzt als Erzählstoff weiter gegebenen Inhalte entstanden (Das Märchen im Alten Testament, Tübingen 1917, 7). Auch Bonus ging davon aus, dass sich in den Volksüberlieferungen der Sage und des Märchens ursprünglich religiöse Gehalte verbargen. Im erlebnishaft-individuellen „Mythos“ lag nach Bonus’ Verständnis letzten Endes eine vermittelnde Bearbeitung der Religion vor, die ihren Ausdruck in der „Kultur“ finden sollte. 479 Vgl. unter Aufnahme einer dort zitierten Formulierung von Wilhelm Bousset Gerd Lüdemann: Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen
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Sage als dichterische Form der Weltauffassung sei durch „Vergeistlichung“ „purifiziert und moralisiert“ worden; d. h. die Ursprünglichkeit der Sagenüber lieferung durch theologische Anwendungs- und Applizierungspraxis verdeckt worden.480 Nach Bonusʼ vor allem an Nietzsche geprägtem Verständnis flossen im Mythos Naturwahrnehmung und religiöse Weltinterpretation zusammen. Der Mythos dichtete Wirklichkeit in poetische Sprache und Bilder um. In den Mär chen und Sagen hätten sich diese Volksweisheiten in abgeschliffener Form er halten und eine nationale Färbung angenommen. So empfahl er 1896 den Lesern der Christlichen Welt in einem Beitrag über „Märchen in der Kirche“, die Mär chenüberlieferung als Wegweiser zu den eigentlichen, unverstellten Quellen des Volksglaubens zu gebrauchen. In den Märchen liege eine aus dem Volk stam mende Textgattung vor, die ohne pädagogisierende Neigung aus seinem Leben berichte, so seine Begründung.481 Bonus verstand die Märchen romantisierend als eine ursprüngliche und aus der Vergangenheit überlieferte Erzählform, in der sich ungekünstelt die Empfindungen, das Denken und die Erlebnisse der Volksseele niederschlagen hatten. Er stellte sie als einen Spiegel vor, aus dem den Leser gleichsam das kollektive Volksgemüt anblickte. Dadurch boten sie sich als Ausgangspunkt an, um einen Einblick in die deutsche Frömmigkeit zu erhalten. In ihnen ließ sich Aufschluss darüber finden, was wirklich als Glaube Wirksamkeit erlangen konnte: Nur die Anschauungen, die wirklich in Fleisch und Blut übergegangen sind, die aber auch sicher, finden wir im Märchen wieder. Die Märchen enthalten die ersten Anfänge einer wirk lichen Verdeutschung des Christentums. Sie sind das beste Kriterium dafür, an welchem Punkte wir in der ‚Bekehrung‘ unsers Volkes stehn. Die Märchen zeigen uns im phantasie vollen Spiegel die Fragen des deutschen Volksgemüts, seine Art, seine Richtung.482
In der Volksliteratur trat für Bonus im Gewand der mythischen Aussprache ungeschönt der nationale Charakter hervor. Hier gelangte eine Lebensauffas des Kulturprotestantismus, in: Müller (Hg.): Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 78– 108, 88 f. 480 H ermann Gunkel: Genesis, Göttingen 31910, LXXII. Zu Gunkel vgl. Konrad H ammann: Hermann Gunkel. Eine Biographie, Tübingen 2014; R. Wonneberger: Art. Gunkel, Hermann, in: TRE 14 (1985), 297–300. 481 Bonus: Märchen in der Kirche, in: CW 10 (1896), 819–824, 822; vgl. dazu: Märchen in der Kirche, in: ebd., 703–704 sowie die Gegenrede von J. Petran: Märchen in der Kirche?, in: ebd., 795–796, der die Märchen für den kirchlichen Gebrauch für ungeeignet hielt, weil ihr „Zweck ist die Kurzweil, die Unterhaltung, nicht religiöse oder sittliche Belehrung“ sei (795). Martin Rade stellte dem Artikel Petrans eine redaktionelle Notiz zur Seite, in der er auf die scharfe Kritik in den Spalten der konfessionellen Blätter wie der AELKZ und dem Reichs boten verwies. 482 Ebd., 822.
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sung an die Oberfläche, die nicht durch Bildungsgut verändert war, sondern noch Reinheit und Ursprünglichkeit besaß. Dies ließ sie geeignet erscheinen, um den Weg von der „Theologenkirche“ zur „deutschen Volkskirche“ anzuzei gen: Aus diesem Grund empfahl er seinen Pfarrerkollegen, neben den Bibel texten die Märchen als Predigtgrundlage zu nutzen.483 Bonus’ Wendung zur Volksliteratur als gleichsam archäologische Arbeit an der deutschen Frömmigkeit wies in enger Parallele zu seiner Entdeckung der Dorfheimat zivilisationskritische Züge auf. Mit dem altdeutschen Sagenstoff schien die Rückkehr zu einem Urzustand möglich, in dem Bonus ein wichtiges Kriterium für die Zukunftsgestaltung erblickte; hier ließen sich die Wesenszüge der ersehnten Volksseele unter den Ablagerungen der Zivilisation und des bür gerlichen Bildungsgutes herausschälen. Bonus regte die Beschäftigung mit der Volksüberlieferung als ein therapeutisches Mittel an, an dem sich die Persön lichkeit an die Quellen des eigenen, von der Nation bestimmten Wesens heran tasten und alle kulturellen Verbiegungen ablegen konnte. Er empfahl das alte Volkslied als Bildungsprogramm, an dem der Einzelne die „Fragen seines Vol kes erfühlen, ertasten, ermerken, erleben lerne“.484 Ihm kam die Bedeutung ei ner Sonde zu, die helfen sollte, zwischen dem Eigentlichen und dem Gemachten in der Gegenwartskultur zu unterscheiden und einen Zugang zu den Tiefen schichten des eigenen Gemüts und des religiösen Sehnens zu eröffnen. Wer die authentische Volksüberlieferung auf sich wirken ließ, meinte Bonus, würde „ein Scheidegefühl dafür bekommen, was in unsern Zweifeln und Fragen Kunst- und Atelierzweifel ist, und was aus der Tiefe unsrer Seele ruft“.485 Wie lebendig der deutsche Volkscharakter unter den Schichten der Überliefe rung und Verformung geblieben war, suchte Bonus 1909 in einer Sammlung von religiösen Volksstücken und -liedern vor allem aus dem Mittelalter zu bele gen, die er zu dem Thema Weihnachten zusammengestellt hatte. Damit griff er ein emotional hochbesetztes Kirchen- und Familienfest auf, an dem lokales Brauchtum und religiöses Ritual mit Vorstellungen von Heimatlichkeit und Volksidentität zusammenfanden.486 Den herausgegebenen Dichtungen stellte er eine Einführung voran, in der er mit einigen grundlegenden Gedanken eine re ligiöse Volkskunde entrollte, die den Nationalcharakter an der Überlieferung rekonstruieren sollte. Für ihn bildeten Frömmigkeit, sinnhaftes Erzählen und 483 Ebd. 484
Ders.: Etwas vom Volkslied, in: CW 15 (1901), 49–51, 50 (in leichter Überarbeitung noch einmal veröffentlicht als: Etwas vom Volkslied, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 140–145). 485 Ebd. 486 Vgl. zur tief verankerten Wahrnehmung als „deutsches“ Weihnachten und national umgeprägtes Kulturgut Dagmar Günther: Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkon struktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreiches, Tübingen 2004.
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Welterleben den Ausgangspunkt der Volksliteratur, die damit einen Einblick in die Arbeit des „Mythos“ auf einer früheren Entwicklungsstufe ermöglichte. Den Zeitgenossen gegenüber schien es ihm notwendig, ausdrücklich für die Be schäftigung mit der genuinen Volksdichtung zu werben. In ihr, so seine Über zeugung, sei viel „Primitives“ bewahrt geblieben, auf das sich der Gebildete der Gegenwart nur schwer einlassen kann. Gerade darin lag für Bonus der Wert der alten Überlieferungen: Der zeitgenössische Leser konnte in ihnen sozusagen den Mythos bei seiner Entstehung beobachten, der Lebensdeutung und fromme Sage fest miteinander verband, ohne seine Aussagen wissenschaftlich absichern zu wollen.487 Gerade die „Intimität und Heimatlichkeit“, mit der hier die christ liche Überlieferung umgeformt und in den Volkston übertragen wurde, hielt er in den gegenwärtigen Kulturfragen für weiterführend.488 Hinter dem märchen haft-legendarischen Ton des volkstümlichen Dichtens klang für Bonus eine Stimme, die er als „ernst, streng und voll Bedeutung“ empfand.489 Hier blickte dem Leser das „echte Gesicht“ des deutschen Volkes entgegen. Die nationale Aufladung angeblicher Volkstraditionen war keine Erfindung von Arthur Bonus. Verstärkt wurde seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach einer Linienziehung zwischen Frühmittelalter und Gegenwart unter einem gemeinsamen Fluchtpunkt gesucht und in einer verbindenden „germanischen“ Identität gefunden. Als Gegenwelt zur kalten Rationalität und Seelenlosigkeit der Moderne wurde im Volkstum der Ort natürlicher, gewachsener Gemein schaft entdeckt. Großstadt und Händlergeist gegen Bauerntum und Biederkeit – aus Gegensatzpaaren ließ sich die deutsche Mittelalterlandschaft als ein über schaubarer Raum von den Kräften der Vermassung und der Industrialisierung abgrenzen. Auch bildungsbürgerliche Zeitschriften wie Kunstwart oder Türmer bezogen sich auf ein Bild deutscher Kultur, dass sich an der Vergangenheit ori entierte. Schließlich gehörte Eugen Diederichs in diesen Kreis, der in seinem Verlagsprogramm mit Reihen wie Deutsche Volkheit arbeitete.490 487 Bonus: Deutsche Weihnacht, München und Leipzig 1909, im Vorwort XX. In den Kontext dieser Traditionserfindung gehörte auch eine Sammlung von Rätseln ver schiedener Kulturen, die Bonus 1908 im Kunstwartverlag Callwey herausgab, nachdem er sie mit mehreren Zeitschriftenartikeln eingeleitet hatte: Bonus: Rätsel, Bd. 1: Sammlung von Rätseln und verwandten Dichtungsformen aus verschiedene Literaturen, Bd. 2: Zur Biologie der Rätsel, München 1908; vgl. dazu: Das Rätsel, in: Kunstwart 18/2 (1905), 437–450; ders.: Lose Blätter. Rätsel, in: ebd., 18/2 (1905), 468–473; ders.: Das Rätsel, in: Deutsche Monats schrift für das gesamte Leben der Gegenwart 8 (1905), 209–223. 488 Ebd., X. 489 Ebd., XIV f. 490 Vgl. Esther Leroy: Konstruktionen des Germanen; K laus von See: Deutsche Germa nen-Ideologie; Rainer K ipper: Der Germanenmythos. Vgl. auch Birgit M arschall: Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II., Heidelberg 1991.
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b) Island und die „Stimmung der Saga“ Das bei Bonus, aber auch im Kunstwart und bei Diederichs anzutreffende Kon strukt einer germanisch-deutschen Vergangenheit widersetzte sich einer regres siven, neuromantischen Interpretation der Volksüberlieferungen. Es war rela tional auf die Gegenwart hin gedacht und von der Suche nach Werten für die Moderne bestimmt. Eine besondere Bedeutung verlieh Bonus in diesem Zusam menhang der altisländischen wie der skandinavischen Literatur, die er ohne weitere Umstände in sein Bild der germanisch-deutschen Kulturentwicklung einkreuzte. Island, dem mythischen Ort, den er nie selbst besucht hatte, der aber in seinem Bewusstsein und seiner historischen Vorstellungskraft plastische Form bekam, widmete er ein schwärmerisches Bekenntnis: „Ich liebe es“, offen barte er seinen Lesern, und: Island erfülle ihn mit „fast religiösem Glückge fühl“.491 1931 verkündete er in der Rückschau, dass die „Stimmung der Saga“ ihm zu seiner individualistischen Frömmigkeit verholfen habe.492 Schon als Jugendlicher hatte er sich mit ihnen einen Zugang zu germanischer Kultur und Volksart erschlossen und hier mit romantischem Schauern eine Lebensweise entdeckt, die in scharfem Kontrast zur Geziertheit der Gegenwart stand. Die isländische Literatur war ihm ein Fingerzeig auf eine vergangene Kulturblüte, die er zumindest für gleichwertig mit den Hochkulturen der Antike hielt. 1894 hatte er in der Christlichen Welt verdeutlicht, dass seiner Ansicht nach „der nor dischen Göttersage mindestens ein Platz neben der griechischen gebürt [!].“493 Das zielte auf die Absicht, den nordischen Texten einen kanonischen Platz im Bildungskanon der Gegenwart einzuräumen. Zudem lag mit Island ein symbo lischer Raum vor, an dem ihm der kulturelle Veränderungsbedarf der Gegen wart handfest aufschien. Der wilhelminischen Melange aus untertänigem Bür gergeist, Scheinmoral und Protestantismus, die er so verabscheute und die jeden Individualismus zu ersticken drohte, konnte er mit den Isländern der Saga-Zeit ein selbstbestimmtes, furchtloses und glaubensvolles Volk entgegenstellen. Hier traf sich Bonus mit der nordischen Mode der Jahrhundertwende, die auf der Suche nach der unverfälschten Vorgeschichte und den „Wurzeln“ des deut schen Volkes in Island einen germanischen Ursprungsort entdeckt zu haben glaubte. Das genuine Germanentum schien hier urtümlicher als bei Wagner und authentischer als in den Darstellungen antiken Historiker mit eigener Stimme zu Worte zu kommen. In der Edda und den isländischen Sagas glaubte man, auf 491
Bonus: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 447. Ders.: Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur, in: Rig 6 (1931), 74– 83, 76. 493 Ders.: Verschiedenes. Zweifelhafte Lektüre für Jugend und Volk, in: CW 8 (1894), 627–629, 628. 492
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eine ganz eigenständige Dichtung zu stoßen. Ferdinand Avenarius hob im Kunstwart die Reinheit und Echtheit Islands im Gegensatz zur Kultur der Mo derne hervor: Die Berührung mit der altisländischen Literatur, so seine Ansicht, wirke in phrasenhafter Zeit „wie ein erfrischender Wellenschlag“ oder wie ein „Trunk klaren Wassers“.494 Ähnlich entzündeten sich die Erneuerungshoffnun gen von Friedrich Lienhard an der skandinavischen Kunst, von der her ihn der „Salzhauch des frischen Nordmeers“ anwehte.495 Der Norden wurde in der Re zeption zu einer hell erscheinenden und als ländlich konnotierten Region, die im Gegensatz zur deutschen Industrielandschaft stand. Nicht nur ein kultureller Gesundbrunnen, sondern ein Hinweis auf die ursprüngliche Größe germani scher Kultur wurde mit Island verbunden. Unter dem Namen „Thule“ wurde nach einer frühen Kulturblüte des „Nordens“ gesucht, die mit den antiken Hochkulturen Griechenlands und Roms vergleichbar war. Als Eugen Die derichs, von Bonus inspiriert, sich ab 1911 an die Konzeption der auch wissen schaftlich renommierten Reihe Thule machte, erhellte der Herausgeber des Ein leitungsbandes, der Germanist Felix Niedner, die an das Island der Saga-Zeit gerichteten Erwartungen, indem er vom „Nordischen Hellas“ sprach, dass „zum heiligen Boden für alle Völker germanischer Abstammung“ werden sollte.496 Bonus galt dabei als Experte, wie die Einladung Niedners zur Mitwirkung an der Thule-Reihe belegt.497 Arthur Bonus hatte Diederichs schon kurz nach der Jahrhundertwende für dieses Thema interessiert. Dieser folgte Bonus darin, wie er 1904 schrieb, dass er mit seinem Verlag endlich auch „in die nordische Sagenwelt hinein“ müsse.498 494 Avenarius: Aus der ältesten germanischen Prosa. Vorbemerkung, in: Kunstwart 19 (1906), 587. 495 Lienhard: Litteratur-Jugend von heute. Eine Fastenpredigt, Leipzig 1901, 15. 496 Felix Niedner: Islands Kultur zur Wikingerzeit, Jena 1913, 10.6. Zur Entstehung und Rezeption dieser wirkungsreichen Diederichs-Reihe vgl. Zernack: Der ‚Mythos vom Nor den‘ und die Krise der Moderne; Kurt Schier: Die Literaturen des Nordens, in: Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister, 411–449; Ulf Diederichs: Achtzig Jahre Samm lung Thule, in: Aus dem Antiquariat 11 (1991), 417–426; K laus von See: Deutsche Germa nen-Ideologie. Zu den Rezeptionsproblemen der mittelalterlichen skandinavischen Texte vgl. die hier angegebene Literatur. Bonus war sich bewusst, dass die Isländersagas im Hoch mittelalter niedergeschrieben worden waren und breite christliche sowie schriftkulturelle Einflüsse aufgenommen hatten. Gleichwohl war er von einem ursprünglich mündlichen Überlieferungskern überzeugt, den er mit Diederichs „kulturell“ für die „Zeit der Völker wanderung“ reklamierte. Wie in der Saga-Rezeption nach der Jahrhundertwende generell blendete er die breite isländische Übersetzungstradition von historischen und theologischen Werken aus dem Lateinischen völlig aus (vgl. v. a. Schier: 428). 497 Brief Niedner an Bonus, 23.5.1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_010]. Ein Thule- Band wurde trotz mehrerer Anläufe nicht realisiert. 498 Brief Diederichs an Bonus [LuW, 120].
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Wie Bonus war er davon überzeugt, dass es möglich wäre, auf diesem Wege zum „Germanentum in Reinkultur“ vorzustoßen.499 Ihm schwebte vor, „eine ganze nordische Bibliothek“ aus Übersetzungen altisländischer Texte in seinem Verlag erscheinen zu lassen.500 Die Beschäftigung mit der skandinavischen Überliefe rung hatte, so Diederichs, „eine kulturelle Aufgabe zu erfüllen: uns zur Besin nung auf unser Eigenstes zu bringen, und zu dem Mut, uns dazu zu bekennen.“501 Natürlich unterlagen der Island-Mode auch neuromantische Züge, in denen sich eskapistische Tendenzen der Wiederverzauberung der als erkaltet und tech nisiert empfundenen Gegenwart niederschlugen. So versuchte Diederichs, in dem von ihm initiierten Serra-Kreis mit jugendbewegten Akzenten eine volks tümlich-ungezwungene Gemeinschaftlichkeit im Jenaer Umfeld zu verwirkli chen. Tanz und Naturerleben, Trachtentragen und Wanderfahrten gehörten zum Repertoire, aus dem das Volkstum in der Gegenwart neu erstehen sollte. Jähr lich wurden Sonnwendfeiern veranstaltet, zu deren Ausgestaltung er sich 1906 an Bonus wandte. Dieser schlug ihm einen nordischen „Hymnus“ zur „Erdwei he“ vor.502 Wie Bonus lehnte Diederichs das Vorurteil ab, der „Norden“ könne im Gegensatz zur Antike nur Unklares und Unverständliches erzeugen: mit den Literaturen Islands und Skandinaviens ließe sich das Gegenteil beweisen.503 Diederichs fasste in einem an Bonus gemahnenden Werbetext für die Samm lung Thule das Kulturideal zusammen, welches das mittelalterliche Island zu einem nordischen Gegenpol der von Nietzsche und Jacob Burckhardt schwär merisch verehrten Renaissance machte. Damit betonte er die Eigenständigkeit der im Vergleich mit den „westlichen“ Kulturen und dem Mittelmeerraum „jün geren“ Germanenvölker und verlieh ihnen eine glanzvolle Vorzeit: Die Isländer des Mittelalters haben für die Geschichte des Germanentums die Bedeutung, dass sie den gleichen höheren Menschentypus verwirklicht haben wie die Griechen des Al 499 Vgl. Ulf Diederichs: Achtzig Jahre Sammlung Thule, 425, Anm. 9; vgl. Kurt Schier: Die Literaturen des Nordens, 420. 500 Brief Diederichs an Bonus, 1.9.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. 501 Verlagsankündigung der Reihe Thule. Altnordische Dichtung und Prosa, 1912, in: LuW, 207 f. Der Verlagsprospekt hatte weite Passagen von Arthur Bonus übernommen, vgl. Zernack: Der ‚Mythos vom Norden‘, 41.; vgl. auch Schier: Die Literaturen des Nordens, 420. Niedner blieb weiterhin in die Planung der Reihe eingebunden. 502 Vgl. Briefkonzept Bonus an Diederichs, 15.6.1906, Antwort Diederichs, Jena 16.6.1906 [ebd., 06_005]. Einen solchen Hymnus veröffentlichte Bonus: Sonnwendfeier (Aus der Edda), in: Kunstwart 21/4 (1908), 80–84. Es lässt sich vermuten, dass es sich um den für Diederichs erstellten Text handelte. Zur Interpretation des Serra-Kreises als neuromantische Unterneh mung vgl. Mosse: Ein Volk – ein Reich – ein Führer, 63 f. 503 Bonus: Eine altnordische Bauerngeschichte. Die Geschichte von Björn und Thurid, in: Deutsche Rundschau 128 (1906), 66; ders.: Altisländisch und Neudeutsch, in: Kunstwart 19 (1906), 580.
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tertums und die Italiener der Renaissance auf den Höhen ihrer Kulturen. Es handelt sich auch bei ihnen um den innerlich freien und stolzen Menschen Nietzsches. Nietzsche selbst hat diesen Menschen im vorsokratischen Hellenentum, Jacob Burckhardt hat ihn in den Zeitge nossen der Mediceer entdeckt.504
Allerdings hatte die Beschäftigung mit Island ebenso starke aktualistische Mo tive, wie sie aus dem Interesse an der Vergangenheit geboren war. Sie sollte in die Gegenwart wirken und zum tatkräftigen Neubau der deutschen Kultur ver helfen, um, wie Bonus es formulierte, in „Anlehnung nach rückwärts“ ein geis tiges Potential im Deutschtum „erklingen“ zu lassen, das aus seiner germani schen Vergangenheit herrührte. Kräfte zu wecken, die im Volkstum verborgen lagen, diese in die Zukunft zu überführen und den stolzen, germanischen „Menschentypus“ zu erneuern, war das Ziel der Island-Rezeption und darin unmittelbar der Volksüberlieferung vergleichbar.505 In Bonus’ Augen stellte sie den „Ausgangspunkt für eine bodenständige Lebensauffassung“ dar.506 Dass er sich dabei mit völkischen Vorstellungen einer germanischen Rasse auseinandersetzte, belegen Bonus’ Ausführungen im Kunstwart. Hier betonte er die Verwandtschaft mit den mittelalterlichen Isländern, die er für ein „Volk der reinsten unvermischten germanischen Rasse“ hielt, was er aber nicht auf eine biologistische Abstammungsvorstellung, sondern auf gemeinsame kultu relle Anschauungen zurückführte.507 Bereits 1901 hatte er sich gegen die Arbei ten des völkischen Rassentheoretikers Heinrich Driesmans gewandt, die er als eine materialistische Verflachung seiner idealistischen Auffassung der Natio nalkultur ablehnte. Driesmans sah in der Rassenfrage die „Grundlage für die gesamte Kulturgeschichte“, während Bonus hier skeptisch blieb.508 Driesmans’ Hypothesen wiesen in seinen Augen zwar die Lust an großen Kombinationen auf, könnten diese aber nur mit „ganz kleinen Beweischen“ belegen.509 Gegen 504 Eugen Diederichs: Thule. Altnordische Dichtung und Prosa, in: Die Kulturbewegung Deutschlands im Jahr 1913, Jena 1913, 12. 505 Bonus: Altisländisch und neudeutsch, in: Kunstwart 19/1 (1905/06), 577–581, 577 f.; dazu passt die briefliche Äußerung Diederichs’ an den schwedischen Soziologen Gustav Fredrik Steffen: „[…] wir Germanen wollten als letztes Ziel unserer Entwicklung den Hel den, den Qualitätsmenschen“. Damit verband er weitreichende gesellschaftspolitische Kon sequenzen; Diederichs zielte auf die Entstehung einer Geistesaristokratie, die „schöpferische und organisatorische Menschen“ anführen und der „die nationalen Kräfte als Unterlage“ dienen sollten (Brief Diederichs an Steffen, 24. Februar 1912 [LuW, 207]). 506 Ders.: Isländerbuch, München 1907, Bd. 1, VII f. 507 Ders.: Altisländisch und neudeutsch, in: Kunstwart 19/1 (1905/06), 577–581, 577, 579; vgl. ders.: Was ist uns die Edda?, in: Kunstwart 25/2 (1911/12), 295–296, 295. 508 So die Zusammenfassung im Diederichs-Katalog 1904, 60, vgl. H einrich Driesmans: Kulturgeschichte der Rasseninstinkte: Das Keltentum in der europäischen Blutmischung, Leipzig 1900. 509 Bonus: Moderne Bestrebungen im Buchverlag, in: Patria 1 (1901), 154–179, 170 f.
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über den völkischen Ansätzen beklagte er, dass seine Kriterien, die eine ge meinsame historische, kulturelle und geistige Grundlage zum Maßstab der Volkszugehörigkeit machten, bei den zeitgenössischen Rassentheoretikern überwiegend ohne Bedeutung blieben.510 Aufgrund dieser geistigen Verbindung war es den altnordischen Überlieferungen möglich, das „tiefere Selbstgefühl“ der Gegenwartsdeutschen zu erwecken und damit „dem neu sich entwickelnden Volkskörper“ zugute zu kommen.511 Bonus wählte für diesen Zusammenhang die biologistische Metapher eines Baumes, dessen Wurzeln in die Vergangen heit ragen und dessen Säfte Wachstumskraft in die Zukunft leiten.512 Bonus bezog sich allerdings auch nicht allein auf das alte Island, sondern machte in seiner Begeisterung für den Typus des „Nordischen“ von modernen skandinavischen Autoren Gebrauch. Bei den Norwegern Henrik Ibsen und Björnstjerne Björnson setzte sich für ihn ein eigentlich germanisches Denken fort, das aus den Sagas in die Gegenwart hineinreichte.513 In der Kunst der mo dernen Erzähler Norwegens, führte er aus, trat ihm ein realistischer Stil entge gen, den er nicht auf die Anregungen des französischen Romans, sondern auf die Ausstrahlungskraft des altisländischen Schrifttums zurückführte.514 Allen voran Ibsen stilisierte er zum Ideal einer solchen nordisch-realistischen Welt sicht. An ihm bewegte Bonus die raue Naturschilderung und der realistische Blick auf die sozialen Bedingungen der Gegenwart. Vor allem aber hatten ihn Ibsens tragische Charaktere beeindruckt, die von allen gesellschaftlichen Kon onus hatte Driesmans Buch von Rade zur Rezension für die Christliche Welt erhalten, of B fenbar aber an anderem Ort besprochen [vgl. undatiertes Briefkonzept ohne Empfängeranga be, LKA Eisenach, NL Bonus, 07_015]. Driesmans reagierte verärgert auf Bonus’ Bespre chung, die seine Rassentheorien als unwissenschaftliches „Aus-Risico-Denken“ verworfen hatte. Driesmans’ Rechtfertigung verdeutlicht den Abstand zwischen Bonus’ historischem Nations begriff und den völkischen Konstruktionen einer keltogermanischen Rassenge schichte: „Nur – wer ein solches Thema behandelt, für das alle historischen Überlieferungen fehlen, was bleibt einem solchen denn übrig, als eine wissenschaftlich geschulte Phantasie im Grossen und Ganzen spielen zu lassen und sie durch psychologisches Material zu unterstüt zen, so gut es eben gehen will? Mit dem letzteren darf man nicht eben wählerisch sein, denn man hat keine grosse Wahl. Über den Vollzug der keltogermanischen Blutmischung sind keine Akten geführt worden; will man ihr auf die Spur kommen, dann muss man ein wenig ‚Merlin‘ spielen und mit Geistohren zu hören versuchen, wie das Blut fliesst, man muss sein wissenschaftliches Denken ein wenig durch instinktives Fühlen unterstützen“ [Brief Dries mans an Bonus, 23.12.1900 [ebd.]). 510 Ders.: Altisländisch und neudeutsch, in: Kunstwart 19/1 (1905/06), 577–581, 577.579. 511 Ders.: Was ist uns die Edda?, in: Kunstwart 25/2 (1911/12), 295–296, 296. 512 Ders.: Altisländisch und neudeutsch, in: Kunstwart 19/1 (1905/06), 577–581, 577, 579. 513 Zu Björnson vgl. ders.: Björnson, in: CW 16 (1904), 698–705; zu Ibsen ders.: Henrik Ibsen und die Isländergeschichte, in: PrJ 126/3 (1906), 424–448. 514 Ders.: Isländerbuch, 33 f., vgl. Zernack , Der ‚Mythos vom Norden‘, 215.
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ventionen gelöst ihr Lebensziel verfolgten. Deren stolze, selbstmotivierte Hal tung fand er in den mittelalterlichen isländischen Texten wieder und erklärte sie zu einem durchgängigen Charakterzug der germanischen Völker.515 Es ging Arthur Bonus nicht darum, die Weltsicht der Islandsagas als germa nisierte Religion wiederzuerwecken und ungebrochen in die Gegenwart zu übertragen. Island blieb für ihn ein Idealbild, dessen Übertragung auf die Ge genwart ein Absinken auf eine frühere Kulturstufe bedeuten würde, wie er 1901 in der Deutschen Heimat nachdrücklich betonte. Dafür machte er historische Gründe geltend: Die abendländische Verbindung mit dem Christentum, das of fen oder unausgesprochen alle Kulturzweige durchdringe, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Eine christentumsfreie, germanische Neuerfindung der Religion schien ihm daher unmöglich. Daher lehnte er die Rekonstruktionsver suche der völkischen „Islandfahrer“ als gemachte Religion ab. An die Stelle des gegenwärtigen Erlebens träte das „fade Surrogat“ einer historisch erschlosse nen Weltsicht. Was dabei entstand, kam seiner Ansicht nach „gemalter, dekora tiver Religion“ gleich; denn der von ihm abgelehnte Intellektualismus des His torismus und der Antike würde damit nur durch ein nordisches Philologentum ersetzt.516 Dennoch erblickte er in Island einen Initialort, von dem aus die Germanisie rung des zeitgenössischen Christentums ihren Anfang nehmen konnte. Die reli giösen Gefühle und die nationalen Bedürfnisse der Gegenwart sollten am nor dischen Sagenschatz gleichsam geklärt und neu geordnet werden; das religiöse Erlebnis selbst konnte er nicht ersetzen: Wer die Religion als nationale Religion aufwecken will, soll es aufsuchen – Islands altes Sa genland. Nur eine Bedingung: Er muß die Religion, welche lebt mitbringen. Das lehrt Island ihn nicht.517
Der religiöse Wert der Isländersagas lag in ihrem „Stimmungshintergrund“, den er für den modernen Deutschen für vorbildlich hielt. Sie wirkten als Kontrast mittel, mit dessen Hilfe die Gebrechen der Gegenwart umso klarer herauszu heben waren. Für Bonus übte der Norden eine hohe identifikatorische Wirkung aus, indem er einerseits das Individualitätsbewusstsein beim Leser stärkte, die sem andererseits aber auch Orientierung im weltanschaulichen Konkurrenz kampf bot. Die altnordische Literatur eröffnete einen Verwandlungsprozess, bei dem sich die innerliche Zugehörigkeit zum Deutschtum anhand der alten Über lieferung für die Gegenwart schärfen würde. Wer mit den Sagas in Berührung gekommen war, würde lernen, 515
Ebd., 122. Ders.: Island und die Religion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 445–448, 447. 517 Ebd. 516
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die geistige Welt, die da erwachsen ist, leichthin als stärker deutsch, echter deutsch, härter deutsch zu empfinden, als das, was er um sich herum für deutsch ausgeben hört. Die innere Welt wird dadurch für ihn eine verborgene Glut bekommen, eine tiefe Leuchtkraft, eine sehr starke Gewalt über seine Seele.518
Eine neue Stufe dieses Island-Ideals läutete Bonus mit seinem ab 1907 erschei nenden Isländerbuch ein, einer „Sammlung altgermanischer Bauern- und Kö nigsgeschichten“, mit der er systematisch auf eine breitere Popularisierung der altnordischen Literaturen hinarbeitete.519 Seine Veröffentlichung bildete den Bestandteil einer nordischen Welle, die parallel zu seinem Buch durch den Kunstwart – dort von dem Nordisten Andreas Heusler ausgelöst520 – und andere Periodika rollte. Bonus verstärkte diese noch gezielt in die modernistische, bil dungsbürgerliche Zeitschriftenwelt hinein.521 Dabei ging es ihm um die Über windung der „romantisch-sentimental-pathetischen Stimmung“, die sich der Gegenwart bemächtigt habe, unter anderem auch in einem übersteigerten Patri otismus.522 Die Vorstellungen vom Deutschtum waren aus dem „Bann der Phra se zu reißen“.523 Auf der Suche nach neuen Kulturinhalten und kräftigem Indi 518
Ebd., 445. Ders.: Isländerbuch, Bd. 1 und 2: Sammlung altgermanischer Bauern- und Königsge schichten, Bd. 3: Einführungs- und Ergänzungsband. Bedeutung des altisländischen Prosa schrifttums, München 1907–1920; vgl. Julia Zernack: Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten, Berlin 1994, 11 f.; 34, 215. 520 A ndreas H eusler: Aus der ältesten germanischen Erzählprosa: Wie Snorri sein Vater erbe übernahm – Wie der Gode Arnkel überfallen wurde – Aus der Geschichte vom Hühner thorir, in: Kunstwart 19/2 (1906), 587–600; ders.: Weiteres aus der ältesten germanischen Erzählprosa: Die Geschichte von Thorstein Stangennarbe – Die kleine Geschichte von Gud mund und den Rauchtälern – Die kleine Geschichte von Gudmund und der Brautwerbung, in: ebd., 20/1 (1907), 197–210. Heusler hatte einige Übersetzungen zu Bonus’ Isländerbuch bei getragen; vgl. Zernack: Geschichten aus Thule, Berlin 1994, 216; Kurt Schier: Die Literatu ren des Nordens, 419, der auch Friedrich von der Leyen erwähnt. 521 Bonus: Eine altnordische Bauerngeschichte. Die Geschichte von Björn und Thurid, in: Deutsche Rundschau 128 (1906), 66–78; ders.: Auch einer der das Gruseln lernte. Eine Ge schichte aus dem elften Jahrhundert. Niedergeschrieben um das Jahr 1275, in: Jugend 11 (1906), 110; ders.: Der häßliche Fuß. Aus dem Altisländischen des Snorri Sturluson (um 1225 n. Chr.), in: Jugend 11 (1906), 874; ders.: Die Macht der öffentlichen Meinung. Eine Ge schichte aus der Zeit Haralds des Harten (1047–1066), in: Jugend 11 (1906), 674; ders.: Selma Lagerlöf und die Saga, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart 9 (1905/06), 380–391.10 (1906), 359–376; ders.: Aus der Geschichte des Skalden Egil Skallag rimssohn, in: Die Zukunft 56 (1906), 334–339; ders.: Die Njalssaga. Eine Novelle aus dem Jahre 1260, in: Aus fremden Zungen. Zeitschrift für die moderne Erzählungsliteratur des Auslandes 16 (1906), 768–772; ders.: Etwas über Island, in: PrJ 124 (1906), 433–450; ders.: Eine Bekehrungsgeschichte aus alter Zeit, in: CW 20 (1906), 433–437.467–473. 522 Ders.: Was ist uns die Edda?, in: Kunstwart 25/2 (1911/12), 295–296. 523 Ders.: Isländerbuch, Bd. 1, VI. 519
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vidualismus bot sich der als unverfälscht und „germanisch“ empfundene Nor den als Vorbild an. Für Bonus traten in der altisländischen Saga-Überlieferung „die ältesten und am meisten unerkannten Rasseeigentümlichkeiten unsres Volkes“ literarisch in Erscheinung.524 Sie zeigten ihm ein Menschenbild, das seinem von Nietzsche geprägten heroischen Persönlichkeitsideal entsprach und die Basis des „neuen Mythos“ werden sollte. Denn die Sagas mit ihren Helden, freien, landsässigen Bauern und angeblichen Einzelgängergestalten deckten wie keine andere Text gattung „das urtümliche germanische Element unserer Religion“ auf, das Bonus als ein zukunftszugewandtes, heroisches Lebensgefühl bestimmt hatte.525 In seiner Saga-Rezeption berichtete er vom heroischen Individuum, das sich aus eigener Kraft über unausweichliche und bedrückende soziale Verhältnisse hin wegsetzen konnte. Im „großmännischen“ Sagamenschen porträtierte er den le bensmächtigen Einzelnen, der, ohne die widrigen Lebensumstände ändern zu können, dennoch einen eigenständigen Weg ging. Bonus kam hier dem zeittypi schen Bedürfnis nach einer autonomen Persönlichkeit entgegen. Einer solchen sollte es gelingen, sich aus eigenem Willensantrieb durch Selbstsetzung zu ent falten und durch Innenkraft und Eigenbewusstsein den Kräften der Vermas sung und der Industriekultur zu widersetzen. 1931 fasste er zusammen, auf wel ches Menschenbild er in der altisländischen Literatur gestoßen war. Hier begeg neten ihm Männer […], fast jenseits von Gut und Böse, aber gewaltig, herrisch und heroisch, opferbereit ohne Phrase – in alledem sittlicher berührend als die Tugendbolde, an deren Gestalten man im Dunstkreis des genuinen Christentums gewöhnt ist.526
In den isländischen „Bauern- und Königsgeschichten“ schien also die freie und selbstbestimmte Lebenshaltung vorausgedeutet zu sein, die seine Kirchen- und Christentumskritik für den „neuen Mythos“ der Tat- und Persönlichkeitsreli gion anstrebte. Das Isländerbuch war mit einem zeitdiagnostischen Interesse verknüpft. Die Saga-Sammlung betrachtete er als einen „Fühler […], um festzu stellen, wie weit unsre Zeit reif für diese Geschichten“ sei.527 Damit schrieb er ihnen Appellcharakter im Kaiserreich zu, um gegen den wilhelminischen Un tertanengeist ein Lebensgefühl von „Heroismus“ und „innerer Freiheit“ gesell schaftlich zu verwirklichen.528 524
Ders.: Was ist uns die Edda?, in: Kunstwart 25/2 (1911/12), 295–296. Ders.: Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur, in: Rig 6 (1931), 74– 83, 79. 526 Ebd., 81. 527 Ders.: Isländerbuch, Bd. 1, XII. 528 Ders.: Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur, in: Rig 6 (1931), 74– 83, 76. Für Eugen Diederichs stellte sich die Realität Islands als Enttäuschung dar, wie er 525
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c) Meister Eckhart und die „Deutsche Mystik“ Arthur Bonus wurde aufs Engste mit den Bestrebungen einer „neuen Mystik“ in Verbindung gebracht. Die Religion in Geschichte und Gegenwart nannte ihn neben Rudolf Eucken, Johannes Müller und Albert Kalthoff als einen exempla rischen Repräsentanten dieser modernreligiösen Suchbewegung nach neuer Innerlichkeit, nach Vergeistigung des täglichen Lebens und sensibilisiertem Gottahnen, zumal in der Natur.529 Auch sein Verlegerfreund Eugen Diederichs legte offen, dass ihm Bonus in besonderer Weise Wege zu neuer Religiosität durch sein Verhältnis zur Mystik aufgeschlossen habe: „Von Arthur Bonus habe ich die neue Mystik schätzen gelernt.“ In seinem Verlagsprogramm erschien er 1917 als Vertreter einer spezifisch Deutschen Frömmigkeit, die ihn auf eine Tra ditionslinie deutscher Mystiker zwischen Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Johannes Tauler, aber auch mit Fichte und Lagarde plazierte. Walter Lehmann, der Herausgeber des Bandes, bewertete Bonus’ Werk als „Meilenstein des lan gen, langen Weges“ der „Gestaltung einer deutschen Religion“, die nach Leh mann aus den Quellen der Mystik entsprungen war.530 Bonus ließ keinen Zweifel daran, dass er bei den mittelalterlichen Mystikern, allen voran dem Erfurter Dominikaner Meister Eckhart, eine noch für die Ge genwart gültige religiöse Einsicht gefunden hatte. Der mittelalterliche Mönchs philosoph wurde zu einer Leitfigur, mit der sich seine religiöse Zukunftsidee gleichsam historisch rückbinden ließ, denn er wurde zu einem Symbol für die geistige Geschichte des deutschen Volkscharakters erhoben, deren Wirkungen noch das religiöse Sehnen der Gegenwart bestimmten. Eckharts Religionsphilo sophie, die er aus ihren kirchlichen Bezügen löste und zum Vorbild der religiö sen Individualisierung erhob, hatte, so Bonus, in beeindruckender Weise den göttlichen Seelenkern des Menschen enthüllt. Von dieser Erkenntnis ausgehend Bonus berichtete. Statt auf heldenhafte Freie zu treffen, begegnete er armen Bauern, die er für „im allgemeinen körperlich degeneriert“ hielt. Island blieb für ihn als Idee einer antiken Kultur interessant, wie „Forum und Palatin“ in Rom (Brief Diederichs an Bonus, 3.9.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]). 529 H einrich Weinel: Art. Mystik VI. Neue Mystik, in: RGG2 4 (1930), 355–360, 355 und 359, wo Bonus neben Müller, Carl Jatho und Albert Kalthoff als Randerscheinung der neuen Mystik aufgeführt wird. Vgl. Walther Hoffmann: Art.: Mystik III. Neue Mystik, in: RGG1 4 (1913), 608–611; s. auch den Literaturbericht von Otto Herpel: Die Neumystik, in: CW 421– 424.492–494 (dort 422 eine kurze Notiz zu Bonus als den Lesern der Christlichen Welt neben Johannes Müller und Heinrich Lhotzky als „genugsam“ bekannt, sowie 493 seine Erwäh nung als Beiträger zu dem von Walter Lehmann herausgegebenen Sammelband: Deutsche Frömmigkeit. Stimmen deutscher Gottesfreunde, Jena 1917). S. auch Heinrich Schwarz: Über neuere Mystik in Auseinandersetzung mit Bonus, Joh. Müller, Eucken, Steiner, Güters loh 1922, 41–49. Vgl. außerdem die Literatur zur Religion im Diederichs-Verlag. 530 Walter Lehmann: Deutsche Frömmigkeit, 311.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
erklärte er „Mystik“ und „Religion“ zu synonymen Begriffen: Das „Erleben selbst suchen und sich ihm innig überlassen“ war der Anspruch der Mystik, den er für die Religion insgesamt für gültig erklärte.531 Für Bonus stellte die Mystik ein konstruktives Element in den religiösen und philosophischen Reformdebatten der Jahrhundertwende dar. In ihr suchte er nicht nach einem ästhetischen Rückzugsort gegen die Unbilden der modernen Zivilisation. Gegen die diversen, subjektiven Ansichten der neureligiösen Such bewegungen lag mit ihr ein Traditionsmoment vor, das die moderne Religiosität mit der Vergangenheit verband. Für den „neuen Mythos“ sah er in der mittelal terlichen Mystik einen Inspirationsquell, mit dem sich eine überkonfessionelle und undogmatische Religiosität schaffen lassen würde, die sich gleichermaßen auf die Geschichte des Christentums als auch auf die nationale Identität bezog. In seinen 1912 erschienenen Vorgedanken auf den „neuen Mythos“ hin knüpfte er an Meister Eckhart an: Er [der „neue Mythos“] würde seine historische Anknüpfung im mittelalterlichen Fromm sein, besonders in der Eckehardt’schen Mystik zu suchen haben. Er würde dort zugleich auch den mit Kraft bereits eingeschlagenen Weg finden, historische Kontinuität mit innerlicher Überwindung der Fremdform zu verbinden, deren völliges Abblättern er dann der Entwick lung überlassen könnte.532
Es war also keine Fehlinterpretation, wenn man wie Diederichs in Arthur Bonus einen Wegweiser zu den Quellen der Mystik entdecken wollte. Auf ihrer Grundla ge den Weg zu neuer, deutscher Religion vorzubereiten, gehörte zu den erklärten Zielen, die Diederichsin seinem Verlagsprogramm zu fördern beabsichtigte. In der Mystik erblickte er wie Bonus eine freie, individuelle und ungebundene Glaubens form. Mit ihr wandte er sich gegen das „Mittlertum der Kirche“ und gegen die missionarische Umformung der christlichen Botschaft durch Paulus, die sie zu einer „Religion zweiter Hand“ absinken ließ.533 Dagegen suchte er nach einer kraftvolleren und ursprünglicheren religiösen Nahrung, die er durch Bindung an genuin deutsche, vor- und nichtchristliche Symbolwelten zu finden hoffte. Die Mystik schien ihm innere Welten zu eröffnen und ein weltanschauliches Integra tionsprogramm bieten zu können. An Albert Kalthoff schrieb er 1903, „daß wir jetzt unbedingt durch die Mystik hindurchgehen müssen, schon um die Welt als Ganzes zu empfinden“.534 Gegen die Lehrhaftigkeit und Ethisierung des christli chen Religionssystems, auch in liberaler Form, setzte er die Mystik als pantheisti sche Anschauungsform. In ihr war die Religion der Modernen zu suchen: 531 Von der Mystik und von der geschichtlichen Bindung, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 472–475.494–497, 497. 532 Bonus: Religiöse Spannungen, 164. 533 Verlagsankündigung der Ausgabe von Meister Eckharts Schriften (LuW, 84 f.). 534 Brief Diederichs an Kalthoff, 25.6.1903 [LuW, 83].
III. Nationalisierung
309
Die moderne religiöse Bewegung […] knüpft weder an biblischem Christentum noch einer rationalistischen Kritik desselben an […], sondern an dem Pantheismus unserer alten Mysti ker, der die Welt gleichsam als den sichtbaren Ausdruck Gottes empfindet.535
Diederichs forcierte seit 1903 in seinem Verlag die Neuausgabe deutscher Mys tiker des Mittelalters.536 Dadurch hoffte er, eine starke Wirkung auf das reli giöse Leben seiner Zeit auszuüben und die „eine deutsche Religion der tiefsten Innerlichkeit“ vorzubereiten, die für die Zukunft wegweisend war.537 Die Ver knüpfung von Mystik und deutscher Frömmigkeit ging besonders von der Meis ter-Eckhart-Ausgabe von Herman Büttner aus, einem autodidaktischen Mys tik-Forscher. Dieser erklärte Meister Eckhart zum „größten religiösen Genius der Deutschen“, der eine ähnlich tiefgreifende Wirkung auf die deutsche Kultur ausgeübt habe wie Dante auf Italien.538 Bei ihm wurde eine „Tradition spezifisch deutschen Seelenglaubens“ erfunden, die antitheologisch und antiklerikal auf gestellt wurde.539 Indem Büttner Eckhart zum „Ketzer“ erklärte, stellte er seine theologisch-philosophischen Gedankengänge als außerkirchliches Glaubens gebäude dar, das von den Amtskirchen nur Verfolgung zu erwarten hatte. Eckhart wurde zum mittelalterlichen Vorreiter einer Religiosität, die in ihrer Abkehr von der Institution und in ihrer privatisierten, ungebunden Reflektions weise zum Abbild der im Diederichs-Verlag erstrebten modernen Frömmigkeit wurde.540 Vor diesem Hintergrund konnte Diederichs, wie Friedrich Wilhelm Graf hervorhebt, den „Meister“ Eckhart als „ersten modernen deutschen Men schen“ betrachten.541 In vielem ließ sich mit diesen Gedankengängen an die religiösen Vorstellun gen von Arthur Bonus anknüpfen. Allerdings versuchte er, den Mystik-Begriff scharf von einem kontemplativen Verständnis als ästhetische Anschauung oder als reines Innenleben abzusetzen. Die „ästhetische Betrachtung“ der Welt allein sei ohne Bezugnahme im Werturteil unzureichend, wie er gegen Julius Hart erklärt hatte.542 Im Kunstwart betonte er 1913, dass Mystik aus der Bezugnahme 535 Werbeanzeige „Religiöse Kultur“, in: Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Na tur, Bd. 3, Jena 1902, Rückumschlag; vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 273. 536 Vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 277, dort das Zitat aus einem Brief an W. Haeser, 11.2.1904. 537 Wege zu deutscher Kultur, 19. 538 Vgl. zu Büttners Mystik-Deutung Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 259–262. 539 Ebd., 259. 540 Ebd., 260. 541 Ebd., 260; Stirb und Werde, 29. 542 Bonus: Im Kampf um eine Weltanschauung. Julius Hart, in: CW 14 (1900), 436–442. 460–466.492–497.517–521. Vgl. Walther Hoffmann: Neue Mystik, in: RGG1 4 (1913), 608– 611.
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Drittes Kapitel: Deutscher Glaube
auf die Gegenwart entstehe. Hier grenzte er sein Religionsverständnis der inne ren, seelischen Konstruktion der Wirklichkeit von der „Gefahr geistiger Ver weichlichung“ ab, die sich aus einem Mystikverständnis als Quietismus, Tat losigkeit oder bloßem geistigen Genuß ergebe. Das religiöse Erleben sei un trennbar mit einer Entscheidung gegenüber dem eigenen Dasein verknüpft.543 Ebenso verweigerte er sich der Ablehnung des Christentums als geschichtlich gewachsener Religion und der Abwertung gegenüber Luther und der Reforma tion, die zumal in Büttners Eckhart-Verständnis zum Ausdruck kam. Mit Bezug auf die Mystik ließ er diese als Entwicklungspotenz des Protestantismus er scheinen. Für ihn stellte Luther den Höhepunkt der Religionsentwicklung des Mittelalters dar.544 Die Reformation war ein Ausdruck des germanischen Ge samtgeistes. In ihr, so Bonus, lag die „wohl deutscheste Religionsauffassung, die uns überhaupt und jedenfalls seit Luther geworden ist“.545
543
Ders.: Von der Mystik, in: Kunstwart 27/1 (1913/14), 178–184, 178 f. Ders.: Der Katholizismus und der Aberglaube. Rezension eines ungedruckten Buches, in: Neue Rundschau (1907), 834–841. 545 Ders.: Von der Mystik, in: Kunstwart 27/1 (1913/14), 178–184, 183 f. 544
Viertes Kapitel
„Sind wir noch Christen?“ Deutsches Christentum und die ‚Moderne Theologie‘ I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘ Als Arthur Bonus 1899 in der Christlichen Welt seine Gedankenreihe zur „Ger manisierung des Christentums“ erläuterte, stellte er sie ausdrücklich als eine Konsequenz dar, die er aus der modernen Theologie gezogen hatte. Es waren die „großen ‚Modernen‘“ der Theologie, von denen er gelernt habe, dass das Chris tentum nicht als abstrakte Lehre und vom Offenbarungsbegriff her zu denken war, sondern sich jeweils in der konkreten geschichtlichen und kulturellen Situ ation realisierte.1 Ähnlich führte er sich bei dem kulturnationalistischen Publi kum der Deutschen Heimat in einer 1901 erschienenen Aufsatzreihe als ein Verteidiger der modernen Theologie ein.2 Diese erfüllte in Bonus’ Augen eine in der religiösen Umbruchssituation der Gegenwart notwendige und klärende Funktion. Sie legte durch ihren historisch-kritischen Zugriff besonders in der Leben-Jesu-Forschung den tiefen Graben zwischen dem zeitgenössischen Christentum und den Vorstellungen der biblischen Überlieferung frei und er schütterte das traditionelle Gebäude der kirchlichen Vorstellungen, Bekenntnis se und Gewissheiten. Doch damit half sie, den religiösen Kern des ursprüngli chen Christentums für die Gegenwart wiederzuentdecken. Solche Aussagen bezogen sich auf das um 1900 in der Christlichen Welt vor allem von den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule forcierte Theo logieverständnis als einer konsequent historischen Wissenschaft.3 Deswegen
1 Bonus: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums 1, in: CW 13 (1899), 57–59, 57; vgl. auch ders.: Deutscher Glaube. Zur Germanisierung des Christentums 8, in: ebd., 219–222, 221. 2 Ders.: Vom Glauben und von der Gläubigkeit, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669–676. 3 Vgl. zum Theologieverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Kontext der Christlichen Welt Gerd Lüdemann: Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschicht lichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: Müller (Hg.): Kulturprotestantis mus, Gütersloh 1992, 78–108, 98–101; zu den Paradigmen der liberalen Theologiekonzeption s. auch: Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, 56–71
312
Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
apostrophierten ihre Gegner sie als eine „unkirchliche Theologie“.4 Doch zielte Bonus darüber hinaus: Für ihn war die historische Kritik ein Durchgangssta dium, das auf eine Neubestimmung des Religionsbegriffs als Schaffen und Erleben hinauslaufen musste. Die moderne Theologie sollte das „Wesen“ der Religion vom Ballast der Überlieferung trennen und den unlebendigen Dogma tismus überwinden; sie war zudem das Mittel, um das Christentum in zeitge nössischen, deutschen Formen zu erneuern. Um die Aufgabe der modernen Theologie als Kultivierungsarbeit zum Aufbau der Nation zu beschreiben, griff Bonus zu medizinischen und agrarischen Formulierungen. In scharfer Abgren zung zur positionellen Theologie beschrieb er die Zukunftsaufgabe des theolo gischen Arbeitens folgendermaßen: Die Zersetzung der Fremdkörper im Leibe unserer Religion, das ist die Vorarbeit, die uns unsere Theologie zu leisten hat. Sie sieht negativ aus, ist aber so positiv, so lebenfördernd, lebenbauend wie die Wegschneidung von Geschwüren oder jene Zersetzung der Ackerkru me, die der Landmann mit allen möglichen Mitteln zu befördern sucht, daß ihm Brot darauf wachse, Lebensbrot.5
Solch zugespitzte Aussagen stießen bei anderen Vertretern des modernen Pro testantismus naturgemäß auf Ablehnung. Adolf Harnack etwa legte bei Martin Rade Verwahrung gegen das Streben nach religiöser Neugestaltung ein, das er bei Bonus und vergleichbaren Theologen im Umfeld der Christlichen Welt er lebte und mit Besorgnis wahrnahm. Für ihn waren das „Protuberanzen“ unab geklärter Geister, die mit ihrem „Neu-Rousseauismus“ aus dem Gefüge von Theologie und Aufklärung ausbrechen wollten und ein Religionsverständnis einforderten, das den Rahmen des evangelischen Christentums sprengte.6 Es lief seinem Verständnis von theologischer Arbeit diametral zuwider, wenn sich einzelne jüngere Pfarrer in einer „elementaren vorsindfluthlichen Stimmung“ „als Titane“ inszenierten und sich damit im Grunde nicht mehr als Ausleger einer Tradition, sondern als Offenbarer einer neuen, unmittelbaren religiösen Wirklichkeit verstanden.7 Insgesamt begegnete Harnack der religiösen Schrift stellerei seines Schülers mit deutlicher Kritik, aber auch nicht völlig ohne Wohl wollen. Der Briefwechsel belegt, dass er Bonus’ Veröffentlichungen überwie 4 Das Schlagwort wurde gezielt seitens religionsgeschichtlicher Forscher aufgegriffen, etwa beschrieb der Kirchenhistoriker Gustav K rüger seine historische Arbeitsweise als: Die unkirchliche Theologie, in: CW 14 (1900), 804–807; vgl. Friedrich Traub: Kirchliche und unkirchliche Theologie, in: ZThK 13 (1903), 39–76; vgl. auch Gerd Lüdemann: Das Wissen schaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule, 102 f. 5 Bonus: Vom Glauben und von der Gläubigkeit, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 669– 676, 670. 6 Brief Harnackan Rade, Berlin, 6.11.1899 [J. Jantsch, Nr. 251, 432–435]. 7 Ebd.; im Original hervorgehoben.
I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘
313
gend zur Kenntnis genommen hatte.8 Obwohl er einem ahistorisch-spekulativen Zugang zur Theologie skeptisch gegenüberstand und ihm, wie er Bonus mitteil te, religionsphilosophische Arbeiten „Belamy“ waren, las er die Mehrzahl sei ner Veröffentlichungen mit Interesse, ohne die in ihnen zu Tage tretenden theo logischen Differenzen zu verwischen.9 Als Reaktion auf den 1905 erschienenen Meditationsband Der lange Tag schrieb er an Bonus, er empfände „in fast Al lem, was Sie schreiben, ein Gemeinsames […], und da freue ich mich des gleich gesinnten Kameraden und daß man nicht einsam in dieser Welt ist“.10 Trotzdem zögerte er nicht, Bonus wiederholt einen „Mahnbrief“ auszustellen, in dem er dessen übersteigerten Stil bemängelte und ihm die Uneinheitlichkeit seiner Ge dankengänge vorwarf.11 Harnack empfahl ihm strengere Formgebung und in haltliche Klarheit, da seine Schreibweise „ins Barocke“ abgleite.12 Zum Deutschen Glauben meinte er, dass dieser zu sehr nach dem Stil der literarischen Modernen röche; er verwarf Bonus’ Werk aber auch nicht vollständig, da es sich als Ansporn gegen geistige Trägheit und kirchliche Überheblichkeit lesen ließ.13 Auch wenn er in seinen Büchern viel „Ausgezeichnetes u.[nd] Erhebendes“ ge funden hatte, dachte Bonus ihm „viel zu viel in Contrasten“ und schien ihm „(sei’s auch letztlich nur dialektisch) bis zu Mord u.[nd] Todtschlag zu operie ren“, wie er 1902 am Beispiel von Religion als Schöpfung bemerkte.14 Allerdings hatten die Differenzen nicht nur einen stilistischen Ursprung. Im Briefwechsel trat zunehmend ein grundsätzliches Unverständnis gegenüber Bonus’ schriftstellerischer Arbeit hervor, mit welcher dieser ausdrücklich die „revolutionären“ Kräfte in Theologie und Landeskirche unterstützen wollte.15 8 Harnack kommentierte folgende Bonus-Schriften: Von Stöcker zu Naumann, Der lange Tag, Deutscher Glaube, Isländerbuch, Religion als Schöpfung, Die Kirche. 9 Postkarte Harnack an Bonus, 11.5.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. Harnack brachte damit zum Ausdruck, dass für ihn nicht-historische Arbeiten nicht die gleiche Aus sagekraft besaßen (hier lässt sich auf die Harnack-Biographie von Zahn-Harnack verweisen, nach der Harnack in seiner Bibliothek systematische Literatur bei den Romanen angesiedelt hatte). 10 Brief Harnack an Bonus, 20.12.1904 [ebd., 13_001]. 11 Brief Bonus an Harnack, 23.9.1897 [Staatsbibliothek Berlin, NL Adolf Harnack]. 12 Brief Harnack an Bonus, 1.12.1896 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_006]. 13 In einer Danksagung zu Bonus’ neustem Buch merkte Harnack an, dass dieses „stilum recentissimorum, qui dicuntur ‚moderni‘, sciptorum redolet“. Bonus’ Einfallsreichtum „in toto regit libello – spiritus ille, quem, quamquasse ego simpliciora quaeque praefero, tamen haud contemno, immo quasi stimulum inertium et pigrorum et flagellum arrogantium et e cclesiastico – superborum veneror“ (Postkarte Harnack an Bonus, 2.12.1897 [ebd., 13_007]). Warum Harnack diese Postkarte auf lateinisch verfasste, geht aus dem Inhalt nicht hervor. 14 Postkarte Harnackan Bonus, 25.5.1902 [ebd., 12_004]. 15 Brief Bonus an Harnack, 2.5.1908 [Staatsbibliothek Berlin, NL Adolf Harnack]; Post karte Harnack an Bonus, 11.5.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003].
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Hier schieden sich die Geister. Der Historiker Harnack konnte die von Bonus eindringlich erhobene Forderung nach einer Weiterentwicklung des Protestan tismus durch eine völlige Auflösung der historischen Bekenntnistradition nicht akzeptieren. Wo Bonus die Auflösung der Kirche hin zu erlebter, empfundener Religion proklamierte, warnte Harnack vor dem Zerfall der historischen Insti tution der Landeskirche und der individualistischen Zerfaserung des christli chen Wertesystems. Ohne ein solches würde das sittliche Fundament der mo dernen Kultur ins Rutschen geraten. Weil die Verbindung mit einem konkreten geschichtlichen Kontext fehlte, schien ihm Bonus’ überhistorische und sich zu nehmend in eine antirationalistische Haltung steigernde Suche nach dem religi ösen Erlebnis methodisch nicht einlösbar zu sein; zudem hielt er die Kritik an der theologischen Ethik und am Sittlichkeitsbegriff für völlig überzogen. „Un ser äußerst sparsam gebauter Culturbau“, so Harnack, konnte auf sichere Insti tutionen und die „Biedermännerei“ des protestantisch-kirchlichen Wertesys tems nicht völlig verzichten.16 Nur das „Genie“ bewirkte wirklichen Fortschritt, „den Anderen“, so Harnack, „wünsche ich in überstürzter Ordnung […] die Au torität und schließlich selbst die Convention zu erhalten“.17 Auch die Erwartun gen, die in der Öffentlichkeit an den Kaiser-Berater und Verfasser des Wesens des Christentums gerichtet wurden, schienen ihm zu hoch gegriffen: Er sei „zum Reformator gründlich verdorben – eine bittere Enttäuschung für die, wel che, warum weiß ich nicht, von mir diese Funktion erwarten.“18 Obwohl auch Harnack es für notwendig hielt, den Protestantismus mit der Geistesentwick lung der Moderne mitziehen zu lassen, verstand er sich im Gegensatz zu Bonus in Frömmigkeitsfragen als „Praktiker“, der religiöse Veränderungen und Zu kunftsbewegungen nur schrittweise und aufgrund der gegebenen politischen und kirchlichen Situation vorauszusagen wagte.19 Man kann in der Weite des Überblicks, in der Strenge und Gesundheit des Urteils und in der Sehnsucht nach Verbesserung völlig einer Meinung sein, u[nd] doch in der Art des Wirkens und in der Entschließung in Bezug auf die zu wählenden Mittel völlig auseinandergehen. So ist es zwischen uns.20
16
Brief Harnack an Bonus, 17.5.1908 [ebd.].
17 Ebd.
18 Ebd. Harnack kündigte an, erst dann „zum rücksichtslosen Parteikämpfer zu werden, wenn ein wehrhafter Prophet seine grüne Fahne entrollt“. Unter den derzeitigen Formationen einer vagierenden Religionssuche oder freiprotestantischen Neuerern wie Bonus konnte er also keinen bleibenden religiösen Ansatz erkennen, der die Gestaltungsfähigkeit des Protes tantismus überholte. 19 Postkarte Harnack an Bonus, 11.5.1908 [ebd.]. 20 Ebd.
I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘
315
Grundsätzlich schätzte er „den λόγος höher ein“ als Bonus, der sich mit dem Mythos- und dem Lebensbegriff gegen einen rein vernunftmäßigen Zugang zum religiösen Geschehen wandte.21 Bonus erschien ihm als ein „nachdenkli cher, frommer Anarchist“, der religiöse Literatur „für die modernen Mönche“ schrieb „– nicht Bettelmönche, sondern Mönchsaristokraten“.22 Er schloss aber nicht aus, dass sich in Bonus’ Veröffentlichungen das „Nothwendige und Neue“ ankündigen könnte.23 Eine ähnlich ambivalent-kritische Sichtweise fand sich bei Harnacks Berliner Kollegen Julius Kaftan. Wie Harnack nahm Kaftan zu beinahe allen Bonus- Veröffentlichungen brieflich Stellung. Auch bei ihm fand sich eine teilweise scharfe Kritik an Bonus’ antiakademischem modernistischem Schreibstil. Ob wohl er Bonus’ Begabung als Kultur- und Literaturkritiker hoch einschätzte, hielt er die „manirierte Phantastik“ seiner Andachtstexte für völlig überzogen.24 Dementgegen empfahl er eine „schlichte einfache Gedankenführung und Wort gebung“ einzuüben.25 Anders als Harnack war Kaftan bereit, sich auch klein schrittig mit Bonus’ religiösen Prognosen auseinanderzusetzen. Wie bereits gezeigt, ließ er sich dabei eingehend auf seine Nietzsche-Interpretation und die Germanisierungsthematik ein. Wie Kaftan in einer Rezension zu Religion als Schöpfung anerkannte, waren Bonus’ Texte als prophetisch-dichterische Ent würfe zu verstehen, die Wege zurück zu „wirklicher Religion“ aufzeigen woll ten.26 Darin lag, versicherte er Bonus brieflich, eine „verwandte Art des Den kens und Empfindens“.27 Das konnte allerdings über grundlegende Trennungs linien nicht hinwegtäuschen. Kaftan war nicht bereit, ein sich als deutsch 21
Brief Harnack an Bonus, Berlin 1.5.1905 [ebd., 13_001]. Brief Harnack an Bonus, Berlin 20.12.1904 [ebd.]. 23 Ebd. Diese Perspektive griff Harnack in der 1909/10 erschienenen vierten Neuauflage seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte auf, dem er eine Arthur Bonus gewidmete „Schluß betrachtung“ nachstellte (Bd. 3: Die Entwickelung des kirchlichen Dogmas II, Tübingen 1910, 903–908, vgl. Brief Harnack an Bonus, 15.5.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_009]). In Auseinandersetzung mit Bonus’ 1909 erschienenem Band Die Kirche bezog sich Harnack hier auf die moderne Bildungsreligiosität, die vielfach zu einer „Entkirchlichung des Protes tantismus“ geführt hatte (A. a. O., 903). Um als Volkskirche bestehen zu können, musste sich der Protestantismus der Wissenschaftsentwicklung öffnen, „um mit allen hellen Erkenntnis sen im Bunde“ bleiben und seine „Rückständigkeit“ abstreifen zu können: „Bonus und Ge nossen haben ganz Recht: bleiben die evangelischen Kirche so rückständig, wie sie sind, so wird es den besten unmöglich, mit reinem Gewissen in ihnen zu verharren, und es wird noch die ‚Secte‘ in ihrer Vielgestalt an ihre Stelle treten“ (ebd., 907). 24 Brief Kaftan an Bonus, 29.11.1896 [ebd., 13_006]. 25 Ebd. 26 Julius K aftan: Rez. Religion als Schöpfung, in: DLZ (1903), 1152–1153 [UA Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen Bonus]. 27 Brief Kaftan an Bonus, 26.12.1897 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_007]. 22
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
gebärdendes „Kampfchristenthum und Weltüberwindungschristenthum“ zu akzeptieren, das er als einseitige Überbetonung vereinzelter religiöser Motive und Empfindungen und als mythisierende Geschichtskonstruktion missbillig te.28 Kaftan verband damit eine prinzipielle Problemanzeige am theologischen Denkstil von „modernen Reformern“ wie Bonus, die sich durch ihre lebens philosophische Rationalitätskritik um eine gültige Beschreibung der religiösen Wirklichkeit brachten.29 Wo Bonus subjektive Stimmungsbilder und modern kulturelle Tendenzen abzubilden versuchte, lief er Gefahr, die „universellen Aufgaben“ der Theologie zu vernachlässigen: Wollen wir uns doch praktisch jeder in seiner Art kräftig, meinetwegen einseitig ausleben, aber wenn wir als Theoretiker der Religion neue Wege und Formen suchen, dann müssen wir von etwas höherer Warte weiteste Umschau suchen.30
Kaftan ging es nicht nur um eine Verteidigung der akademischen Theologie, die auch unter Berücksichtigung des geschichtlichen Arbeitens mehr bedeutete als „armselige theol.[ogische] Historik“. Vielmehr versuchte er ähnlich wie Har nack, Bonus’ Religionsprognosen an ihren konkreten historischen Ort, nämlich die Kirche der Reformation, zurückzubinden. Es war eine Fehldiagnose, hinter der christlichen Bekenntnistradition mit ihrer Rede von Sünde und Gnade, Auf erstehung und Erlösung nur ein abstraktes Lehrgebäude zu vermuten; gegen Bonus’ Abwertung des landeskirchlichen Protestantismus musste auch für Kir che und Theologie der Gegenwart gelten: „Religion liegt zu Grunde.“31 Kaftan warf Bonus vor, durch die Betonung der unmittelbaren Frömmigkeit im Schaf fen und Erleben die Substanz des Christentums zu verlieren; wenn objektive Inhalte und das Korrektiv der biblischen Offenbarung fehlten, rücke das eigene Seelenleben an die Stelle der wirklichen Gotteserfahrung. Das war eine deutli che Kritik an der theologischen Methodik, die Kaftan zudem mit Bonus’ Selb stinszenierung als modernem Religionsstifter in Verbindung brachte. Wenn Bonus sich von der theologischen Kärrnerarbeit auf das „Wettergekräusel in der litterarischen, papiernen Welt“ zurückzog, stoße er nicht nur seine christlichen Leser vor den Kopf, sondern ignoriere das tatsächliche „Sichregen in der Tiefe der wirklichen religiösen Welt“.32 Wie für Harnack blieb auch für Kaftan die historisch fassbare Kirche der Reformation der Boden, auf dem es zu einer reli giösen Erneuerung kommen konnte. Bewegten sich die Reformversuche auf dieser Grundlage, dann sah er in Bonus einen Mitstreiter: 28
Brief Kaftan an Bonus, 12.10.1901 [ebd., 08_001].
29 Ebd.
30 Ebd. 31 Ebd.
32 Ebd.
I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘
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Also wirken in der aufsteigenden Linie der deutschen Reformation Luthers auf dem einmal für alle Zeit gelegten Grund, den uns das neue Testament bezeugt. Wenn wir aber etwas wirken, so wird es der neue Mythus oder das neue Dogma sein. Zuverlässig! Verlieren wir doch diesen Zielpunkt nicht aus dem Auge. Alles muß in der Geschichte des Geistes einen Niederschlag haben, feste Pflöcke in den Boden hauen, sonst verpufft es u.[nd] wirkt nicht auf die vielen, denen es zu gute kommen muß!33
Es lohnt sich, den Brechungslinien nachzugehen, die sich in Harnacks und Kaf tans Reaktionen abzeichneten, um den Ort von Bonus’ Theologie – und damit auch die Vorstellungen gleichgesinnter Religionsverkünder – im Kontext der modernen Theologie in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg genauer zu bestimmen. So reagierte Harnack auf die Tendenzen zur Verweltanschauli chung und zur teilweise diffusen Verformung der Theologie, die sich in ver schiedenen Formen am Rande des freien Protestantismus und auch im Umkreis der Christlichen Welt manifestierten. Auch für Martin Rade hatten sich um die Jahrhundertwende Wandlungen im christlichen Denken, der Frömmigkeit und in den gesellschaftlichen Erwartungen abgezeichnet, die besonders von der jün geren Theologengeneration ausgingen. Unter ihnen gab es in seinen Augen zahlreiche religiöse „Anarchisten“, die nicht bereit waren, sich in die etablierten theologischen Denkschulen einzupassen und die in der Zerrissenheit der reli giösen Gesprächslage nach festeren Grundlagen suchten.34 Damit beschrieb er einerseits einen Generationenkonflikt in der Christlichen Welt sowie anderer seits einen Schulgegensatz zwischen den engeren Anhängern Albrecht Ritschls und denjenigen, die eine breitere Öffnung der Theologie für die Strömungen der Moderne anstrebten. Doch ließ sich nicht leugnen, dass sich unter den „Jünge ren“ ein ideologisch aufgeladenes Bedürfnis nach neuer Bindung, unmittelbarer Frömmigkeit und Kulturreform artikulierte.35 An der Diskussion um Arthur Bonus lassen sich diese mitunter synkretistischen Neuformulierungsversuche und ihre Rückwirkungen in den Kulturprotestantismus schlaglichtartig ver deutlichen. Bonus gehörte zu den „hart Umstrittenen“ im Umfeld der modernen Theolo gie und wurde aufgrund seines paradoxen, teilweise übersteigert pathetischen Schreibstils sowie wegen der provokanten Inhalte seiner Beiträge kritisiert.36 Obwohl seinen Thesen teilweise mit Ablehnung begegnet wurde, blieb er ein beständiger Randsiedler im Freundeskreis der Christlichen Welt und anderer 33 Ebd.
34 R ade: Zur Lage, in: An die Freunde Nr. 31 (12. April 1910), 325–329, 326; Rade verglich in diesem Artikel die aufgeregte Gesprächslage im Frühjahr 1910 mit den Diskussionen, die sich ein Jahrzehnt früher im Freundeskreis der Christlichen Welt abspielten. 35 Ebd. 36 R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 88.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
freiprotestantischer und bürgerlich-reformerischer Organe.37 Wie Martin Rade bemerkte, wirkten Bonus’ Aufsätze polarisierend, sie wurden sowohl von „be geisterten Freunden“ als auch „intimen Gegnern“ gelesen.38 Bereits 1896 hatte Rade aufgrund von Bonus’ sozialprotestantischem Abrechnungsartikel „Es ist mein Amt nicht“ harsche Kritik aus den eigenen Reihen einstecken müssen und dabei auf den prinzipiell offenen Charakter seiner Zeitschrift hingewiesen: „Ich mute unsern Lesern zu, dass sie auch Anstöße ertragen und überwinden.“39 Auch danach sah er sich gezwungen, seinen Autor gegen Forderungen, ihn aus der Zeitschrift zu verbannen, zu verteidigen.40 Zahlreiche Briefzuschriften an Rade belegten, dass Bonus’ Texte häufig gelesen wurden, aber keineswegs im mer auf Zustimmung stießen. „Du hast viel Abgönner, aber auch viele Freunde“, ließ er Bonus wissen, besonders unter den von Nietzsche beeinflussten Vertre tern der modernen Theologie, für die er „der einzig mögliche Prediger“ sei. Rade empfahl ihm allerdings, diesen Zug zugunsten einer fachlich-theologi schen Argumentationsweise abzulegen.41 Statt raunender Geschichtsspekula tion hänge er einem „antiken Klarheits- und Heiterkeitsbedürfnis“ an.42 Gegen das Ansinnen, Bonus aus der Christlichen Welt zu verbannen, betonte er aller dings, dass seine Fragestellung in die Gegenwartslage passe und er sie selbst unterstützte.43 Aus dem Leserkreis kamen allerdings Bedenken. So schrieb der Pfarrer Ernst Rolffs an Rade, dass sich die Christliche Welt durch Bonus’ Mit arbeit als kirchliches Gemeindeblatt isolieren würde: […] ich teile darin, glaube ich, den Wunsch vieler Leser der Chr.[istlichen] W.[elt], daß ich nicht möchte, er käme wieder so häufig zu Wort […]. Ich fürchte, das Wohlwollen, das die Chr.[istliche] W.[elt] bei vielen Gliedern der kirchlichen Rechten genoß, ist durch ihn nicht gefördert. Er hat ein eigentümliches Talent, zum Widerspruch zu neigen.44 37 Noch
1927 stellte Emil Fuchs in einem Artikel zum Verlagsjubiläum des Die derichs-Verlags die enge Verbindung zwischen der Christlichen Welt, der Jenaer Verlagswelt mit ihrem kulturreformerischen Anspruch und Bonus her, die seiner Wahrnehmung nach einer gemeinsamen geistigen Atmosphäre entstammte (Eugen Diederichs, in: CW 41 (1927), 805–807). 38 Redaktionelle Fußnote Rades unter: Bonus: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums 1, in: CW (13 (1899), 57–59, 57. 39 R ade: Verschiedenes. Grundsätzliches und Persönliches, in: CW 10 (1896), 261–262, 262 sowie unter der gleichen Rubrik: Es ist mein Amt nicht, ebd., 260–262. Rade ging hier auf Proteste gegen den einige Wochen zuvor anonym erschienen Artikel unter dem genann ten Titel ein (ebd., 184–185). 40 Ders.: Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196, 1194. 41 Brief Rade an Bonus, 23.6.1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002] 42 Brief Rade an Bonus, 1.12.1897 [ebd.], als Kommentar zu Bonus, Deutscher Glauben. 43 Briefe Rade an Bonus, 6.9. und 26.3.1898 [ebd.]. 44 Brief Pfarrer Ernst Rolffs an Rade, Oederquart bei Freiburg an der Elbe 19.12.1896 [ebd., 13_006]. Für Rolffs war diese Kritik nicht gleichbedeutend mit einer völligen Ableh
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Die im Bonus-Nachlass erhaltenen Leserzuschriften dokumentieren, wie ge gensätzlich die Reaktionen aus dem Kreis um die Christliche Welt waren. Eini ge Leser versuchten seine Äußerungen als jugendlichen Übermut zu verstehen, der sich durch einige väterliche Hinweise der Redaktion eingrenzen lassen wür de. Vielfach wurde das „Wohlgefallen an bedeutungs- und geheimnisvoller Un klarheit“ als Verständnishürde aufgefasst und sein widersprüchlicher und alle gorisierender Stil als Quelle theologischer Fehlurteile gebrandmarkt: „Die da geistreich sein wollen, fallen in Versuchung und Stricke“.45 Häufiger äußerten Leser die Befürchtung, dass das von ihnen geschätzte Blatt durch seine Beiträge im kirchlichen Umfeld diskreditiert würde.46 Immer wieder war es die Germa nisierungsthematik, an der sich die Geister schieden. Aus zahlreichen Beschwer den an Martin Rade lässt sich dazu der Brief des Berliner Pfarrers Sitzmann zitieren, der Bonus’ Vorstellung eines „Volksgottes“ rundweg ablehnte: Oder glauben Sie nicht, Herr D.[oktor], daß auch wissenschaftlich wirklich gebildete u.[nd] der neueren Theologie begeistert zujauchzende Männer Anstoß nehmen müssen, wenn sie lesen, „daß wir unsere deutschen Götter zu schnell verabschiedet u.[nd] damit am Christen gott einen Raub (!) begangen haben“? Sonderbar mutet es mir an, wenn Bonus erklärt, daß er seinen Christengott „mehr“ (!) liebt, als den Gott seines „Volkes“ (!) etc. etc.47
Rade war sehr darum bemüht, seinen Lesern deutlich zu machen, aus welchen Gründen er die Bonus’sche Suche nach einer neuen Frömmigkeit als notwen digen Teilaspekt der modernen Theologie betrachtete. Dass „die Lust am Nor disch-Phantastischen, Nebelhaften, der Hang zu verzwickter Dialektik“ nicht jedermanns Sache sei, gab Rade zu, ergänzte aber auch, dass manche satirische Passage als ernst gemeinte und darum überzeichnende Kritik missverstanden worden wäre.48 Für Rade war Bonus ein Avantgarde-Theologe, der vergleichbar mit den künstlerischen Neuerungsversuchen in Malerei und Literatur nach unge wohnten Ausdrucksformen suchte. Er gehöre „in Empfindung und Ausdruck durchaus zu den Modernen“.49 Damit ordnete Rade Bonus dem bürgerlichen Re nung von Bonus’ Werken, wie seine Besprechung Werken belegt: Predigt- und Erbauungsli teratur, in: ThR 3 (1900), 28–39 (dazu s. u.). 45 Brief Jüngst an Bonus, 9.10.1897 [ebd., 13_007] sowie mit Zitaten R ade: Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196, 1194. 46 Brief Pfarrer Sitzmann an Rade, Berlin 11.12.1896 [ebd., 13_006]. 47 Ebd. Der Brief entstammt einer größeren Sendung Rades an Bonus, in der er ihm ver schiedene briefliche Reaktionen auf den Deutschen Glaube weiterleitete. Zuvor hatte Rade Bonus als religiösen Autor der Christlichen Welt verteidigt (R ade: Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196). 48 Kurzbesprechung von R ade: Für den Weihnachtstisch. Zwischen den Zeilen, in: CW 12 (1898), 1172 (zu: Zwischen den Zeilen II); ders.: Verschiedenes. Ist Satire erlaubt?, in: ebd., 188. 49 R ade: Bonus, in: CW 10 (1896), 1194–1196, 1196. Ähnlich hatte Troeltsch Bonus einen
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formlager zu und empfahl ihn solchen Lesern, die „Nietzsche treiben, Wagner lieben oder für Friedrich Langes Deutschreligion etwas übrig haben, für die Le ser des Pan, der Jugend und des Simplizissimus“.50 Dass diese kulturkritischen Stimmen in der Christlichen Welt ihren Platz bekamen, gehörte zur redaktionel len Zielsetzung, sich mit den „Gebildeten aller Stände“ auf der Diskussionshöhe der Zeit auseinanderzusetzen. Rade verband damit die Hoffnung, die religiösen Strömungen der Gegenwart deutlicher in die modern-theologische Arbeit ein beziehen zu können. Gegen die „Verweichlichung“ des Kirchentums boten ihm Arthur Bonus’ Schriften die notwendige „Herz- und Gewissenstärkung“, um in den weltanschaulichen Kampflinien der Gegenwart Stellung zu beziehen.51 Sie enthielten außerdem ein antikonservatives Zukunftsprogramm, das er zum rech ten Mittel erklärte, um sich zu einer vertieften Nationalkultur aufzuraffen. In dieser Absicht empfahl Rade seinen Lesern Bonus’ Buch Deutscher Glaube: Es ist ein Gewissensweckruf in einer Zeit, wo Aengstlichkeit und Unfreiheit im Namen des Christentums und der Kirche gehegt und gezüchtet werden, sich auf das bessere Erbe deut scher Art zu besinnen: wenn wir das nicht thun, werden wir es zu verantworten haben am jüngsten Tage.52
Die redaktionelle und persönliche Unterstützung Rades bedeutete allerdings nicht, dass dieser sich mit Bonus’ Thesen vollständig identifizierte. Einerseits erschienen sie ihm als „zeitgemäß“.53 Andererseits lehnte er den Anti-Intellek tualismus und die entschiedene Kritik an der historischen Ausrichtung der mo dernen Theologie ähnlich wie Harnack und Kaftan ab: Ich will nur heute so viel sagen: besser Du mühst Dich mit dem Herrn Christus als Du lässest ihn links liegen. Sobald Du für die lebende Religion eintrittst gegen die tote, schlägt mein Herz „Secessionsstil“ nachgesagt, Troeltsch: Rez. Arthur Bonus. Religion als Schöpfung, in: ThLZ 28 (1902), 275–276, 276. Zu Bonus’ Stil als Schriftsteller s. o. 50 Ebd. Pan und Jugend waren die führenden Organe der Art Nouveau und des aufbre chenden ‚Jugendstils‘ in Deutschland um die Jahrhundertwende und verkörperten die litera rische Moderne. In der Jugend publizierte Bonus Auszüge aus seinen Isländer-Sagas sowie nach 1918 einige politische Kommentare (vgl. z. B. [Till], Unabhängigkeit, in: Jugend 25/2 (1919), 935; [Merks], Die Revolution, in: ebd., 1123). Der Simplizissimus war die führende bürgerliche Satirezeitschrift im Kaiserreich. 51 Ebd. Er selbst schätzte an Bonus dessen „kraftvolle, Gewissen weckende, Willen stäh lende Art“, hatte R ade seine Leser im Vorjahr wissen lassen (Für den Weihnachtstisch. Zwi schen den Zeilen, in: CW 12 (1898), 1172). 52 Ebd. Martin Rade soll 1901 seinen Studenten Passagen aus dem Deutschen Glauben vorgelesen haben, berichtete ein Christian Schwantke brieflich an Bonus (Berlin, 9. Oktober 1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_005]. Er selbst teilte Bonus mit, dass er seinen Konfir manden den „Heliand“-Artikel vorgetragen hatte (PK Rade an Bonus, Weichendorf 19.11.1898 [ebd., 03_002]; gemeint war wohl: Der Heliand, in: CW 9 (1895), 329–331.344–346). 53 Brief Rade an Bonus, 6.9.1898 [ebd., 03_002].
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ganz mit Dir; aber ich meinte doch immer, Du sähest in der, die von dem Herrn Christus her ihr Leben hat, die Religion, die lebt. Wenn Du damit aufhörtest u. eine Bonus’sche Religion hättest, wird mirs um Dich u. Deine Religion leid sein. Trotzdem wir Befreiung von der His torie nötig haben wie das tägliche Brot, haben wir die Religion, die lebt, eben thatsächlich nur, indem wir uns mit der Historie herumschlagen. Und wenn Du aufhören solltest, das zu thun, ja auch nur das Bedürfnis dazu zu haben, würde Dein inneres Arbeiten, Dein Schriftstellern für mich persönlich den Wert verlieren, den es heute hat. Wir mögen die Tradition bekämpfen wie unsern ärgsten Feind, aber im Kampf mit ihr allein strömt uns die Kraft zu, die wir brau chen. Auch Dir. Anders wirst auch Du zu einem Religionsstifter für Herrn Eugen Diederichs. Das fürchte ich nun nicht. Dazu bist Du zu gesund. Aber ich wünsche auch nicht, daß Du Stimmungen u. Reflexionen pflegst, die Dir einen Schein nach dieser Richtung hin geben.54
Die von Bonus propagierte Verbindung einer vereinfachten christlichen Fröm migkeit mit einem nationalreligiösen Kulturideal besaß besonders unter den Lesern der Christlichen Welt Befürworter, die als eine uneinheitliche und posi tionell zunächst nicht streng abgegrenzte Gruppe der „Jüngeren“ in Erschei nung traten. Wo dieser Generationsbegriff Verwendung fand, umschrieb er eine lockere Formation, die sozialpolitisch motiviert war, sich von Ritschl abgrenzte und häufig auf die Religionsgeschichtliche Schule bezog. Hier wurde besonders Bonus’ Anspruch aufgegriffen, die religiöse Zukunft des Christentums durch subjektiven Ausdruck und religiöse Erfahrungen sicherzustellen und es ent schiedener politisch-sozial im Naumann-Sinne zu profilieren. Für den Theolo giestudenten Ernst Teichmann war Bonus ein moderner Mustertheologe, „der selbst so denkt und fühlt wie wir“, weil er die „Gefahren, die sich dem religiösen Leben des modernen Menschen entgegenstellen“, genau erfasst habe.55 Die Abwendung vom intellektualistischen und metaphysischen Oberbau der Theologie wurde zunächst in Bezug zur Theologie Albrecht Ritschl gesetzt. So fand Bonus einen festen Platz in der Darstellung der Ritschl-Schule des den „Freunden der Christlichen Welt“ zugehörenden Systematikers Johannes Wend land, der ihn als „den Genialen Interpreten weniger der Ritschlschen Theologie, als vielmehr Ritschlscher Religiosität“ zu verstehen gedachte, die sich durch eine handlungskräftige, sittliche Weltorientierung auszeichnete. Wendland empfand den heroischen Weltbezug und die Abweisung des Rationalismus durch Bonus als markante Spuren Ritschlscher Theologie; ein theologisches Schülerverhältnis, das Bonus auch selbst offengelegt hatte: Sein erzürntes Herfahren über den […] an allem Unheil schuldigen Intellektualismus ist ein Erbteil Ritschlscher Theologie. […] Eine […] durch […] Kampf gestählte kraftvolle Religio sität Ritschlscher Färbung ist das, was ihn in tiefster Seele bewegt.56 54
Brief Rade an Bonus, 22.12.1901 [ebd., 03_003]. Ernst Teichmann: Rez.: Zwischen den Zeilen, in: CW 8 (1894), 1201 (Für den Weih nachtstisch). Vgl. auch die Kurzvorstellung in: Vom Büchertisch, in: Die Hilfe 2 (Nr. 51 1896), 7. 56 Johannes Wendland: Albrecht Ritschl und seine Schüler, Berlin 1899, 12. Bonus’ 55
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In der Christlichen Welt wurde neben Ritschl auch Martin Luther als Kronzeuge für das Bonus’sche Glaubensverständnis angeführt. In einer recht umfang reichen Besprechung von Religion als Schöpfung bemühte sich der Hamburger Pfarrer Arnold Köster um den Nachweis, dass es sich bei Bonus um „‚Luther sches Christentum‘ im Vollsinne des Wortes“ handelte.57 Bonus sei Luther in der Abweisung von Wissenschaft und „Scholastik“ gefolgt und habe die „per sönliche Heilsgewißheit“ als christliches Hauptstück neu entfaltet.58 Damit habe er den Kern des reformatorischen Religionsbegriffs zur Geltung gebracht, nach dem sich das „Wesen der Religion“ erst in ihrem Bezug zur Welt, der täglichen Berufsarbeit und den Lebensbezügen des Einzelnen voll enthülle. Mit der Re formation wie auch der Theologie Ritschls hatte Bonus in den Augen seines Rezensenten den Anspruch gemein, auf religiösem Wege „die Welt zu erfüllen, zu beherrschen, umzubilden und zu verklären“.59 Insgesamt deutete er Bonus als Produkt der zeitgenössischen liberaltheologischen Fragestellungen; für Kös ter bot er nicht zu Unrecht eine eigentümliche Kombination zwischen weltaufgeschlossener Lutherisch-Ritschlscher Religiosität und darauf gegründeter Gesamtauffassung von den Grenzen der Wissenschaft einerseits und modern-eschatologischer Deutung der Predigt Jesu andererseits.60
Bonus wurde also von seinen jüngeren Kollegen – bisweilen unter Ausblendung seiner nationalreligiösen Vorstellungen – als „Gewissenswecker“ für die Ge genwartstheologie rezipiert, dessen Wert darin lag, dass er ihren Blick auf die „Unabhängigkeit und Selbständigkeit des religiösen Innenlebens“ gerichtet hat te.61 Mit seinem radikalen Subjektivismus gab er einem Bedürfnis Stimme, das von der akademischen Theologie nicht mehr erfüllt zu werden schien und gegen Historismus, Versachlichung und kirchliche Institutionalisierung Sturm lief.62 Für Max Christlieb markierte Bonus gar eine neue theologische Epoche, in der „die wirkliche und wirkende Religion“ entdeckt wurde.63 Entsprechend hob er Ritschl-Schülerschaft fand in einer Rezension von Wendlands Buch zustimmende Erwäh nung, vgl. J.W.: Rez. Albrecht Ritschl und seine Schüler, in: PrM 4 (1900), 82–85, 84. 57 A rnold Köster: Religion als Schöpfung, in: CW 16 (1902), 1106–1119, 1112. 58 Ebd., 1116. 59 Ebd. 60 Ebd., 1119. Köster verstand sich als Ritschl-Schüler, vgl. seinen Vortrag: Worin besteht die bleibende Bedeutung Ritschls für die protestantische Theologie, Leipzig 1904. 61 Fritz P hilippi: Artur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, in: CW 26 (1912), 840–844 (vgl. ders.: Rez. Bonus, Die Kirche, in: CW 24 (1910), 1015), verweist S. 842 auf Wilhelm Herrmann, der Bonus Schriften als Anleitung ins religiöse – nicht theologische – Denken empfohlen hatte. 62 Ebd. 63 M ax Christlieb: Rez. Arthur Bonus, Religion als Schöpfung, in: PrJ 110 (1902), 544– 546, 544 (unter der Rubrik „Theologie“).
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an Bonus dessen „religiöse Leidenschaft“ hervor und bestimmte mit ihm „das Wesen der Religion“ über den Lebensbegriff als Erlebnis.64 Der antiintellektua listische Zug, die Religion jenseits von Theologie oder Wissenschaft im mensch lichen Individuum zu verankern, traf hier auf Anklang. Die Germanisierungsthese wurde im Kreis der Christlichen Welt um 1900 als Bestandteil einer religiösen Reformdiskussion problematisiert und eng mit sei nen theologiekritischen Überlegungen verbunden. Dass sie für zahlreiche Leser seiner Zeitschrift dennoch ein regelrechtes Ärgernis geworden war, wurde Martin Rade neben den brieflichen Zuschriften seiner Abonnenten durch einen Fragebogen belegt, den er mit der Ausgabe vom 24. November 1898 verschickte hatte.65 Die Antworten zeigten, dass zum einen eine Mehrheit der Einsender an Bonus Anstoß genommen hatte, zum anderen aber belegten sie, wie sehr insge samt Uneinigkeit über den theologischen Kurs der Zeitschrift herrschte. Rade reagierte darauf, indem er Bonus um einen Überblicksartikel über sein Denken bat, aus dem die 1899 erschienene Folge „Zur Germanisierung des Christen tums“ hervorging.66 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Bonus im Rahmen der Ta gung der „Freunde der Christlichen Welt“ am 6. und 7. Oktober 1899 in Eise nach die Möglichkeit eingeräumt wurde, sein Denken in Thesenform vorzustel len.67 Dieser Schritt barg durchaus seine Risiken, denn er platzierte mit Bonus einen umstrittenen Autor in eine Gesprächslage, in der sich ohnehin schon Ge gensätze und Fraktionen unter den moderntheologischen Lesern der Christlichen Welt aufgebaut hatten. So wurde die Kritik geäußert, die Zeitschrift würde zum „Sprechsaal“ für allerlei religiöse Ansichten; teilweise wurde scharf gegen die Religionsgeschichtliche Schule polemisiert; seit längerem stand die Frage nach der Bedeutung der Bekenntnistradition auf dem Plan.68 Als weiterer Red 64 Ebd. 65
R ade: Zu unserm heute beigelegten Fragebogen, in: CW 12 (1898), 1124. Die Abonnen tenbefragung stand im Zusammenhang mit der hauptamtlichen Übernahme der Redaktion durch Rade im Frühsommer 1898. Rade wollte den Einfluss seines Blattes unter den theolo gisch interessierten Laien erweitern und deswegen erfragen, „wie weit wir von Nichttheolo gen gelesen werden“. Vgl. die ausführliche Darstellung der Reaktionen auf Bonus’ Beiträge sowie die Begründung seiner Theologie im Kontext der Christlichen Welt bei Otto Baum garten: Die Christliche Welt, in: ZPrTh 21 (1899), 245–276, 258–265. 66 Vgl. die herausgeberische Notiz Rades als Fußnote zu: Bonus: Vom deutschen Gott. Zur Germanisirung des Christentums I, in: CW 13 (1899), 57–59, 57. Die Fragebögen und die Antworten liegen im Nachlass Rade nicht mehr vor. 67 Schon im September 1898 schrieb Rade an Bonus, dass eine Diskussion über die „Ger manisierung“ längst hätte erfolgen sollen; er sei „sehr darauf aus, Ihr Programm zu unter stützen“ (Brief Rade an Bonus, 6.9.1898 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]). 68 R ade: Sprechsaal, in: CW 14 (1900), 1233–1235.
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ner war der Marburger Systematiker Wilhelm Herrmann angefragt worden, der sich als akademisches Gegengewicht neben Bonus sicher geeignet hätte; wie dieser war Herrmann an Fragen der Persönlichkeit, der Seele und des religiösen Bewusstseins interessiert und stand Bonus wohlwollend gegenüber.69 Tatsäch lich trat der Göttinger Systematiker Hermann Schultz, ein Ritschlianer, mit ei nem Vortrag über „das Bekenntnis in der evangelischen Kirche“ auf, wodurch die Themenstellung weiter zugespitzt wurde.70 Denn im Hintergrund hatte sich die Bekenntnisfrage mit dem „Fall“ Hermann Weingart auch von außen ver schärft.71 Damit stand ein Thema erneut auf der Tagesordnung, das bereits im Apostolikumstreit die Gemüter erhitzt hatte und zu dem Bonusʼ Anliegen, die Dogmentradition durch „Subjektivismus“ aufzulösen, einen streitbaren Beitrag geboten hatte. Auf dieser Linie lag auch Schultz’ – allerdings ungleich modera ter ausfallendes – Plädoyer, die „buchstäbliche Verpflichtung“ auf die Bekennt nisschriften fallen zu lassen.72 Rade stand der Debatte in Eisenach nicht ohne Befürchtungen gegenüber und erwartete einigen Widerstand gegen Bonusʼ Thesen.73 Er vermutete, dass die 69
Brief Rade an Harnack, Frankfurt, 29.10.1898 [Jantsch, Nr. 233,410–411]; daneben wa ren Johannes Gottschick und kurzfristig auch der Alttestamentler Hermann Gunkel in Erwä gung gezogen worden. Die Tagung wurde mit Programm ab Mitte September angezeigt, s. die Nachrichten unter der Rubrik „Freunde der Christlichen Welt“, in: CW 13 (1899), 886 und die folgenden Nummern. 70 Wie Rade Bonus auf dessen Nachfrage hin berichtete, hatte Schultz selbst darum gebe ten, zu diesem brisanten Thema Stellung zu nehmen (Brief Rade an Bonus, 15.9.1899 [ebd., 03_002]). Der Vortrag wurde veröffentlicht: Das Bekenntnis in der evangelischen Kirche, in: ebd., 1114–1116. Ursprünglich hatte Rade an Wilhelm Herrmann oder Gottschick als zweiten Vortragenden neben Bonus gedacht. 71 Der Osnabrücker Pfarrer H ermann Weingart hatte die leibliche Auferstehung Jesu an gefochten und im anschließenden Disziplinarverfahren unmissverständlich seine Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass er eine Interpretation der Bekenntnisschriften im Lichte der zeitgenössischen Wissenschaft und der Vernunft für den einzig legitimen Zugang zu einer modernen Glaubenslehre hielt. Weingart selbst hatte einen Teil der Prozessakten kommen tiert herausgegeben: Der Prozess Weingart in seinen Hauptaktenstücken mit Beilagen, Osna brück 1900. 72 Ähnlich wie Harnack hielt er die Bekenntnistradition für ein notwendiges Korrektiv, um die historisch gewachsene Identität der Kirchen der Reformation im Unterscheid zu „der katholischen und der schwärmerischen Auffassung des Christentums“ zu bewahren (ebd., 1115). 73 Die von Bonus vorbereitete Thesenreihe wurde den Tagungsteilnehmern im Druck vor gelegt. Rade hatte Bonus bei der Abfassung intensiv beraten. Er hielt Bonus dazu an, sich kurz zu fassen und eine polemische Überspitzung zu vermeiden (Brief Rade an Bonus, 22.9.1899 [ebd., 03_002]). Im Folgejahr 1900 steuerte Bonus noch einmal eine Thesenreihe zur Tagung in Eisenach bei, welche sich diesmal auf den Religionsunterricht bezog. Das Thema „Die Religion in der Schule“ stand auf dem Programm; Beiträge wurden u. a. von
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„Formel Germanisierung“ als eine Provokation verstanden würde, hinter wel cher der religionskritische Inhalt von Bonus’ Ideen verschwände.74 Dieser hatte sich schon im Herbst 1897 angeboten, sein Thema im Freundeskreis der Christlichen Welt vorzustellen.75 Rade reagierte zunächst zurückhaltend, denn er hat te, wie er dem Mitorganisator Adolf Harnack mitteilte, Bedenken, ob eine frucht bare Diskussion zustande kommen oder Bonus nicht zu sehr „ins Seltsame hin ausschweifen“ würde.76 Schließlich rang er sich durch, Bonus zuzulassen, zunächst, weil er eine fachlich-theologische Auseinandersetzung mit der moder nen Theologie als heilsam für den schriftstellernden Pfarrer ansah.77 Wichtiger waren aber seine Überlegungen zum Kurs der Christlichen Welt. Rade sah mit Bonus als Vortragsredner die Möglichkeit gegeben, den gelehrsamen Stil der Eisenacher Zusammenkünfte aufbrechen zu können. Hier wird man den eigent lichen Grund für seine Wahl der Debattenredner vermuten dürfen. Denn wäh rend die Zusammenkünfte in Eisenach bisher im geschlossenen Kreis als theo logischer Fachaustausch verliefen, drängte Rade darauf, seine Zeitschrift über die engeren theologischen Zirkel hinaus zu erweitern und in Zukunft auch „Lai en“ zu den Versammlungen zuzulassen. Mit Arthur Bonus konnte ein „mehr praktisch“ orientiertes und „ganz die akademischen Gedankenkreise durch schneidende[s] Thema“ ins Programm genommen werden, mit dem sich ein er weitertes Publikum gewinnen ließ.78 Aus der Planungskorrespondenz mit Har nack geht hervor, dass beide Theologen mit der Entscheidung, Bonus in Eisenach Redezeit einzuräumen, im Vorfeld der Tagung die Hoffnung auf einen Neu ansatz für die Christliche Welt verbanden. Rade sah mit Besorgnis, wie „lebens fremd die Fachtheologie mehr u.[nd] mehr“ wurde.79 Harnack stimmte ihm da „Baumgarten, Beyhl, Drews, Schiele, Schwartzkopff, Vollmer“ erwartet (vgl. An die Freun de Nr. 6 (28.9.1904), 41). 74 Vgl. die Briefe Rade an Bonus vom 22.9.1899, vom 30.9.1899 und vom 21.10.1899 [ebd., 03_002]. 75 Brief Rade an Harnack, Frankfurt, 21.1.1898 [Jantsch, Nr. 218, 394–395]; vgl. den Brief Rade an Bonus, 27.10.1897, in dem er Bonus um kurze Thesen für seinen Vortrag bittet, um diese mit Harnack als Mitverantwortlichem für die Eisenacher Tagungen besprechen zu kön nen [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. Dass Bonus erst im Herbst 1899 in Eisenach vor trug, hatte seinen Grund in der Geburt seiner Tochter Helga am 17. Dezember 1897, vgl. Brief Rades an Harnack, Frankfurt, 28.2.1898 [Jantsch, Nr. 224, 402–403]. 76 Brief Rade an Harnack, Frankfurt 30.10.1897 [Jantsch, Nr. 213, 390–391]. 77 Ebd. 78 Brief Rade an Harnack, Frankfurt, 28.2.1898 [Jantsch, Nr. 224, 402–403]. Eine Über sicht über alle Jahresversammlungen mit den dort behandelten Themen und Vorträgen wurde in: An die Freunde Nr. 6 (28. September 1904), 41 veröffentlicht. Hier bemerkt Rade mit Bedauern, dass „Thesen, Präsenzlisten und Briefe“ zu den Tagungen „nicht systematisch aufgehoben“ wurden. Ein Archiv der Christlichen Welt wurde erst ab 1904 geführt. 79 Brief Rade an Harnack, Frankfurt, 21.1.1898 [Jantsch, Nr. 218, 394–395].
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rin zu; auch für ihn sah es „matt“ aus, wie er Rade im Januar 1898 schrieb. Die „litterarische Thätigkeit“, mit der seine Kollegen hervortraten, reichte nicht aus, um der gegenwärtigen Generation neue Impulse zu geben.80 Bei ihr empfand er einen fachlichen „Mangel an […] Disciplin“, aber auch an theologischen Füh rungsgestalten, die eine theologische Sammelbewegung an sich binden konnten. Für ihn hieß das, dass in den nächsten Jahren theologische „Windstille und seich tes Fahrwasser“ zu erwarten waren.81 Die planerischen Überlegungen zwischen Rade und Harnack zeigen, dass durchaus ein redaktionelles Interesse bestand, mit der Christlichen Welt theologiepolitisch in die kirchliche Landschaft einzu greifen. Die breitere Öffnung für die kirchlich interessierten Nichttheologen sollte dieses Anliegen verstärken. Allerdings war auch deutlich, dass man mit Bonus den Teilnehmern einen „aufregenden Vortrag“ bieten würde, dem ein aufbauendes Thema entgegengesetzt werden musste.82 Rade ließ bei Bonus keine falschen Hoffnungen über den Ablauf der Dis kussion aufkommen, sondern bereitete ihn auf heftigen Gegenwind vor. Zudem hoffte er, mit dieser Diskussion eine endgültige Klärung über die Bewertung von Bonus’ Thesen in der Zeitschrift herbeizuführen. An Bonus schrieb er: Zwar wird’s eine furchtbare Schlacht. Es wird nicht nur um Dein Thema gehen, sondern um Dich u.[nd] Deine ganze öffentliche Arbeit. Ich werde das selbst mit provozieren, denn es muß sein. Ich werde nachdem Du gesprochen hast, eine Art Korreferat halten: meine b[e] z[iehungs]w.[eise] der Chr[istlichen]W[elt] Stellung zu Dir. Dabei mußt Du Dich darauf ge faßt machen, daß ich für die Phrase u.[nd] Formel der „Germanisierung“ nicht viel übrig habe. Ich werde meinen rückständigen Universalismus, meine flache Humanitätsschwärme rei ehrlich bekennen. Ich werde aber aufs dankbarste die Ergänzung bekunden, die ich an Deiner Mitarbeit habe. Ich werde lebhaft für Deine Art eintreten u.[nd] die versteckten Geg ner provozieren. Nur heimliches Gift darf nach dieser Auseinandersetzung nicht bleiben.83
In der Tat erwies sich der Widerstand gegen Bonus’ Thesen teilweise als be trächtlich.84 Harnack ließ im Anschluss bei Rade keinen Zweifel daran, dass er die Eisenacher Zusammenkunft für ein Fiasko hielt.85 Wie er dem Freund 80
Brief Harnack an Rade, Berlin, 23.1.1898 [Jantsch, Nr. 219, 395–397].
81 Ebd. 82
Brief Harnack an Bonus, Berlin, 30.10.1898 [Jantsch, Nr. 234, 411–412]. Brief Rade an Bonus, 15.9.1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 84 Rade berichtete Bonus im Nachgang der Tagung, dass ihn einige der Gegner auf einer Pappschachtel der Kölner Schokoladenfirma Stollwerck als Clown dargestellt hatten (Brief Rade an Bonus, 21.10.1899 [ebd., 03_002]). 85 Bonus’ Vortrag wurde von dem Bonner Neutestamentler Heinrich Weinel und dem Dresdner Pfarrer Ehrentraud mitstenographiert (vgl. die Briefwechsel [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_014]). Da das Protokoll nicht überliefert ist, stellt die Korrespondenz zwischen Rade und Harnack im Nachgang der Tagung die Grundlage für diese Rekonstruktion dar; dazu werden folgende Briefe herangezogen: Briefkarte Harnack an Rade, Berlin, 15.10.1899 [Jantsch, Nr. 247, 425–426]; Brief Rade an Harnack, Marburg, 30.10.1899 [ebd., Nr. 250 83
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schrieb, hatte er die Tagung mit „katzenjämmerlichem Gefühle verlassen“. Har nack hatte handfestere Impulse für das kirchliche Gespräch der Gegenwart er hofft; was auf der Tagung zu hören war, diente eher der Verwirrung. Auf die Tagung zurückblickend, ließ er Rade wissen, „sehe ich eine Heerde vor mir, die keinen Hirten bekommt“.86 Es kann sich kaum auf etwas anderes als die Diskus sion um Bonusʼ Thesen beziehen, wenn Harnack beklagte, dass sich auf der Tagung ein „‚Lebens‘trieb ohne Kraft“, ein „Urteilen ohne Maß“ und ein „Hochflug ohne Aufgaben“ gezeigt hatte, was für ihn im Ganzen ein Spiegelbild der Gegenwart darstellte.87 Bezeichnend war auch, von welcher Seite das religi öse Aufbruchsgefühl Harnack zufolge auf Resonanz traf. Friedrich Naumann und Wilhelm Bousset waren ihm mit unbedachten Redebeiträgen in Erinnerung geblieben, zwei Theologen also, die zu den Wortführern der jüngeren Genera tion zählten und mit je eigener Akzentuierung an einer Modernisierung des Protestantismus arbeiteten. Deutlich zeichnete sich diese Fraktion auch in der folgenden Bemerkung Harnacks ab: „Das Parterre von Nationalsocialen klatsch te den fragwürdigsten Behauptungen den meisten Beifall“ – die religiös-politi sche Gruppierung im Kulturprotestantismus also, bei der Bonus im gleichen Zeitraum selbst Anschluss gefunden hatte.88 Das bestätigt auch die Reaktion von Erich Foerster, der Bonus gegenüber anlässlich seines Vortrags von einer „Rohrbach’schen Stimmung“ sprach, die auf der Eisenacher Tagung zu Auseinandersetzungen geführt habe. Darunter war ein undogmatisches, soziales Tatchristentum und eine weltpolitische Aus richtung am Deutschtum und der Reich-Gottes-Arbeit zu verstehen. Foerster selbst wies Bonus jedoch auch auf verschiedene offene Stellen in seinen Über legungen hin, welche die Irritationen an seiner theologischen Argumentations weise dokumentierten. Warum musste die Kritik an der Theologie als Glau bensreflexion unter einem „germanischen Firmenschild“ laufen? Weiter bemän gelte er Bonus’ Abstinenz in christologischen Fragestellungen.89 Das von außen kommende „Erlösende“ der Kreuzestheologie – und damit doch ein protestanti sches Kernthema – schien bei Bonus, der das religiöse Geschehen im Innenund Seelenleben betonte, abhandengekommen zu sein.90 Anders nuancierte der 429–432]; Brief Harnack an Rade, Berlin, 6.11.1899 [ebd., Nr. 251, 432–435]. Die Diskussion zwischen Harnack und Rade ermöglicht keine detaillierte Wiedergabe der Auseinander setzung, lässt aber die atmosphärischen Spannungen, die auf der Tagung aufbrachen, deut lich erkennen; in ihr zeichnen sich zwei frömmigkeitsgeschichtlich unterscheidbare Lager ab, die von Rade als „Jüngere“ und „Ältere“ bezeichnet werden. 86 Briefkarte Harnack an Rade, Berlin, 15.10.1899 [Jantsch, Nr. 247, 425–426]. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Brief Foerster an Bonus, 31.10.1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_014]. 90 Brief Foerster an Bonus, 30.11.1899 [ebd.].
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Neutestamentler Heinrich Weinel, der Bonus’ Vortrag durch eine leider nicht erhaltene Mitschrift festgehalten hatte. Wie er Bonus mitteilte, hatte er seine „Bücher und Aufsätze“ mit Interesse verfolgt. Dem Grundanliegen stand Wei nel durchaus positiv gegenüber, insofern es sich bei der „Germanisierung“ um eine entwicklungsgemäße Verschränkung von Christentum und Deutschtum im Sinne des sittlichen Kulturfortschritts handelte, die sich aus der Geschichte seit der Reformation wie von selbst ergebe. Ob sich allerdings „eine Religion über haupt ‚isieren‘“, also künstlich in einen anderen Kulturzustand heben lasse, stand für Weinel als ungelöstes Problem im Raum. Trotz ähnlicher Gestimmt heit äußerte er Zweifel an den Vortragsthesen, denen es an wissenschaftlicher Substanz gefehlt habe; anders nämlich, so Weinels Resümee der Tagung, wäre in der Sache „alles mindestens einverstanden“ gewesen.91 „[…] wenn Herr Bonus doch auch ein wenig schwereres wissenschaftliches Geschütz hätte auf fahren wollen, würde er leichter mit seinen Gedanken durchgedrungen sein als so, wo ihn viele bloß für einen geistlichen Schriftsteller hielten“, gab Weinel den allgemeinen Eindruck wieder.92 Für Martin Rade war die Eisenacher Tagung ein Beleg für das Verlangen nach aktivistischer, lebendig-kraftvoller Frömmigkeit, welches die „Jüngeren“ in der derzeitigen Theologengeneration auszeichnete.93 Diese sahen den Protes tantismus nicht mehr in den engen Bahnen der Bekenntniskirche, sondern auf dem freien Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stehen. Sie orien tierten sich an Naumann und an der sozialen Frage, sie zielten auf ein prakti sches Christentum. Hier lag der Gegensatz, der für Rade zum zündenden Streit punkt geworden war. Die Jüngeren wollten sich nicht mehr auf den eng begrenz ten Boden der Institution Landeskirche beschränken, sie steuerten auf eine religiöse Bewegung zu, die mit Entschiedenheit Glauben und Gesellschaft um fasste.94 Daher bat er Bonus, nicht „die Formel von der Germanisierung uns als das neue Dogma aufzudrängen“, obwohl er sie inhaltlich als ein notwendiges Korrektiv in der kirchlich-religiösen und sozialen Konfliktlage betrachtete.95 Rade erblickte hier eine neue Verbindung von Gegenwart und Evangelium, die er gegenüber Harnack zu rechtfertigen suchte: 91
Briefe Weinel an Bonus, 5.11.1899 und 14.11.1900 [ebd., 07_014 und 07_015]. Brief Weinel an Bonus, 13.11.1899 [ebd., 07_014]. 93 Briefkarte Harnack an Rade, Berlin, 15.10.1899 [Jantsch, Nr. 247, 425–426]. 94 Ebd. Rade bezog sich auf den Evangelisch-sozialen Kongreß als von Harnack wesent lich mitgeprägte Institution des liberalen Protestantismus, durch die „die Schranken des Fachs u.[nd] des Amtes“ überwunden werden sollten; er fuhr dann mit der Charakterisierung der „jüngeren“ Freunde fort, denen die kirchlich-institutionelle Grenzziehung zu eng gewor den war. 95 Brief Rade an Bonus, 2.11.1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_002]. 92
I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘
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Es ist Dir eitel Kraftmeierei. Ja du liebe Zeit – lebt, wirkt denn nicht Bonus in seinem Dorfe in seiner Kraft? Sind denn nicht Leute wie [Paul] Jaeger u.[nd] [Willy] Veit ideale Pastoren? Christen, auf die man zählen kann? Ist es denn nicht eine Wohltat, daß wir ein Geschlecht aufwachsen sehen, das jedenfalls dem Banausentum gründlich entsagt hat? Ich habe eine große Freude über allerlei Leben, das sich regt. Gewiß, Gefahren sind da. Aber sie sind gering. Um Schwärmer zu werden, haben diese Leute viel zu viel gelernt.96
Die beiden von Rade beispielhaft genannten Theologen Paul Jaeger und Willy Veit waren in der Christlichen Welt beide als Vertreter eines dezidiert modernen Protestantismus aufgetreten, der sich von einer eng verstandenen Bekenntniso rientierung gelöst hatte; beide entstammten dem Umfeld des Nationalsozialen Vereins.97 An Willy Veit, der 1899 in der Christlichen Welt eine „revolutionäre Frömmigkeit“ einforderte, lässt sich die frömmigkeitsgeschichtliche Problem stellung dieser „jüngeren“ Gruppe illustrieren. Veit litt unter der historischen Distanz zwischen der christlichen Überlieferung und der Gegenwart und for derte, dass neben der biblischen Überlieferung eine „lebendige, frisch fließende Offenbarung für die Fragen unsrer Zeit“ einbezogen würde.98 Der etwa von Friedrich Naumanns Asia aufgewiesene Abstand zwischen der Lebenswelt des Jesus von Nazareth, seiner dem antiken Judentum entstammenden Ethik und den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart erwies sich als sensible und nur schwer überbrückbare Problemstellung. Die Grundsatzfrage der Vermitt lung zwischen Christentum, modernem Wirtschaftsleben und nationalem In teressenkampf, die Naumann an der Kolonialdebatte und der Wirtschaftsethik aufgerissen hatte, stellte sich als Anfrage an seine religiöse Existenz dar, die sich für Veit beispielsweise nur durch den Rückbezug auf eine erneute „Offen barung“ für die Gegenwart beantworten ließ.99 Der von der liberalen Theologie aufgewiesene Lösungsweg, ethische Fragen aus dem christlichen Gewissen des Einzelnen zu beantworten, war nicht befriedigend, denn hier fehlte eine ele mentare Entschiedenheit und religiöse Eindeutigkeit.100 Veit suchte zu unmittel 96
Briefkarte Harnack an Rade, Berlin, 15.10.1899 [Jantsch, Nr. 247, 425–426]. Paul Jaeger gehörte zu Bonus’ engerem Bekanntenkreis; Willy Veit gehörte dem Um feld von Rades Zeitschriftenredaktion in Marburg an. Veit und Bonus hatten sich zumindest privat kennenlernen können, als Rade Veit nach Groß Muckrow sandte, um dort als Vertreter Rades an der Taufe von Bonus’ Sohn Heinz teilzunehmen. Rade war dienstlich verhindert. Der zweite Taufpate war Paul Göhre. 98 Willy Veit: Religionsgeschichte und Frömmigkeit, in: CW 13 (1899), 991–998, 997 f.; von ihm vgl. auch ausführlich zu dieser Fragestellung den in den Heften zur Christlichen Welt erschienen Band Brauchen wir neue Offenbarungen?, Tübingen 1901. 99 Ebd., s. zur Infragestellung der modernen Theologie und Ethik Willy Veit: Christen tum und Berufsleben, in: CW 15 (1901), 215–219; ders.: Die christliche Ethik und der südaf rikanische Krieg, in: ebd., 884–888. 100 Vgl. als unmittelbare Antwort auf Veits Überlegungen: Johannes Gottschick: Neue Propheten?, ebd., 1086–1089. Gottschicks präziser und umsichtiger Artikel verwies Veit auf 97
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
barer, erlebnishafter Religion hindurchzudringen, die den Protestantismus aus seiner Verbindung mit dem christlich-konservativen Staat und der bürgerlichen Bildungskultur hinausführte.101 In diesen Überlegungen äußerte sich ein mehrschichtiges Umbruchsbewusst sein, in dem genuin theologische Fragen, ein kritischer Blick auf die kirchliche Gegenwart sowie eine erhöhte Sensibilität in sozialen und politischen Dingen ineinandergriffen. In dieser Schnittmenge traf sich Arthur Bonus mit anderen jüngeren Theologen der Christlichen Welt, die auf eine Umformung der Fröm migkeit hinarbeiteten. Der Ruf nach einer vertieften, weltanschaulichen Einheit und nach religiöser Gewissheit, der die Theologen vom linken Rand des religi ösen Liberalismus her beschäftigte, fand seinen Ausdruck in rhetorischen Fra gen wie: „Bedürfen wir einer neuen Reformation?“102 Bonus’ Suche nach mehr „Unbefangenheit und Natürlichkeit, mehr Reichtum und Fülle“ und nach Über windung des „Lehrhaften im protestantischen Gottesdienst“ galt als Beleg für das Vorhandensein einer Sehnsucht nach neuen Ausdrucksformen. Vermehrt wurde seit der Jahrhundertwende der Wunsch laut, die theologische Glaubens reflexion und das Gewicht der historischen Fachdebatten zugunsten der religiö sen Praxis zurückzustellen. Nichts Geringeres als ein „neuer Reformator“ sollte den Hunger des modernen Menschen nach religiösen Erfahrungen, nach Ge schichtsdeutung und Naturbezug stillen.103 Semmler, Schleiermacher und Ritschl, die sich in der neueren Theologiegeschichte im Be wusstsein der geschichtlichen Distanz zwischen dem Urchristentum und den jeweiligen kul turellen Bedingungen der Gegenwart mit der Begründung der christlichen Ethik auseinan dergesetzt hatten. Er zog zudem die Grenzlinie zwischen dem religiösen Drängen der jünge ren Theologengeneration und den älteren Vertretern der Theologie Ritschls, indem er die Hoffnung Veits auf eine neue Offenbarungsquelle als „gesetzlich“ und „katholisch“ abwies, weil damit an die Stelle der liberalprotestantischen, von Luther abgeleiteten individuellen Gewissensethik eine neue Autorität gesetzt würde. Für Gottschick – wie für die kulturprotes tantischen Ethiker insgesamt – war die „christlich-sittliche Gesinnung“ die Entscheidungs grundlage in ethischen Fragen (1088). 101 Willy Veit: Aesthetische oder revolutionäre Frömmigkeit, in: CW 13 (1899), 1108– 1113, 1112 f. 102 H ermann Scholz: Bedürfen wir einer neuen Reformation?, in: CW 15 (1901), 1025– 1037; Hermann Scholz lehnte dieses Ansinnen ab mit Verweis auf „Luthers vorbildliche Frömmigkeit“ und den „fortwirkenden protestantischen Kulturgedanken“, an denen er als bleibende Errungenschaft des Reformators für den Protestantismus der Gegenwart festhalten wollte (1032). 103 Ebd., 1031. Scholz erwähnte dabei Bonusʼ Artikel: Märchen in der Kirche, in: CW 10 (1896), 703–704; für das Deutsche Wochenblatt hatte er eine ausgesprochen lobende Rezen sion von Zwischen den Zeilen I verfasst: „Es ist ein gutes Zeichen, besonders für Theologie und Kirche, wenn solche Bücher geschrieben werden“ (Deutscher Glaube, Heilbronn 1897, Umschlag).
I. Bonus und die ‚Moderne Theologie‘
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Die religiöse Generationenverschiebung, das Bedürfnis nach neuen Formen, der Ruf nach Unmittelbarkeit und einem praktischen Glauben flossen in der Christlichen Welt in einer Folge von „Laienforderungen“ zusammen, welche die Zeitschrift in den Jahrgängen nach 1900 beschäftigten und sich bruchlos mit den Auseinandersetzungen um Harnacks Wesen des Christentums überschnit ten.104 Zahlreiche Amtsbrüder stimmten in die Klagen mit ein, dass es der mo dernen Theologie an Eindeutigkeit mangelte, „den Kern der christlichen Lehre heraus[zu]schälen und dem modernen Weltbilde harmonisch ein[zu]fügen“.105 Die Ablösung von der orthodoxen Bekenntnistradition wurde nicht eindeutig genug verfolgt. Wenn es nicht gelingen sollte, zu klareren Positionen in den religiösen und kulturellen Gegenwartsfragen zu gelangen, ließ sich eine fort schreitende Entkirchlichung befürchten; um das zu vermeiden und um eine Weiterentwicklung des Christentums zu gewährleisten, wurde empfohlen, den Ballast der Traditionen und theologischen Einzellehren gänzlich abzuwerfen.106 Wo das gefordert wurde, ließ sich auch Bonus zu den Theologen rechnen, deren Werk eine begrüßenswerte und „rückhaltlose Antwort“ auf die religiösen Prob lemstellungen der Moderne gab.107 Seine Reduktion des Christusglaubens er 104
Vgl. dazu und den sich im Hintergrund abspielenden Konflikten um den Kurs der Christlichen Welt R athje: Die Welt des Freien Protestantismus, 110–114. Nach Rathjes Be richt nutzte Rade die vom 30. September bis zum 3. Oktober 1901 geplante Tagung in Goslar sowie die Zusammenkunft im Folgejahr, um hier „die künftige Haltung der ‚Christlichen Welt‘“ mit den unterschiedlichen Lagern der „Alten“ und der „Jungen“ zu besprechen (110 f.). Dabei stand die Auseinandersetzung um Troeltsch, die Religionsgeschichtliche Schule sowie die Theologie Ritschls latent noch immer auf der Tagesordnung. Blickt man in die Zeitschrift selbst, ergibt sich allerdings ein erweitertes, weniger von theologischen, sondern stärker von ethischen Themen und von Fragen der Frömmigkeit bestimmtes Bild. Auch die Goslaer Ta gung besaß mit Ernst Troeltschs und Max Christliebs Beiträgen über die „Absolutheit des Christentums“ neben dem erwähnten Vortrag von Scholz einigen inhaltlichen Sprengstoff. 105 G.v.Z.: Laienforderungen, in: CW 14 (1900), 415–418; vgl. dazu: R ade: ‚Laienforderun gen‘, in: ebd., 450–451; H. Vollmer, Zu den ‚Laienforderungen‘, in: ebd., 545–546; Emil Sulze: Muß der theologische Kampf in der Kirche weiter gehen?, in: ebd. 390–394.411–415; Arnold Köster: Ein Versuch, auf die Laienforderungen zu antworten. Zugleich ein Beitrag zu D. Sul zes Frage: Muß der theologische Kampf in der Kirche weiter gehen?, in: ebd., 553–560. Sulze plädierte für eine Beschränkung der innerkonfessionellen Auseinandersetzungen und für eine Betonung der protestantischen Gemeinsamkeiten, wofür ihm „von der linken Seite“ heftiger Widerspruch entgegentrat; vgl. unmittelbar dazu die Reaktionen von J. Heyn, in: Der Protes tant Nr. 11 und PrB Nr. 14. Im Folgejahr ging die Diskussion auch auf die Frage um die Bedeu tung Jesu ein, an der einmal mehr der Abstand zwischen theologischer Wissenschaft, Bekennt nisüberlieferung und Frömmigkeit aufbrach, vgl. v. a. den Aufsatz F.D.: Christus, in: CW 15 (1901), 809–814: „Wer war Jesus Christus? Ich weiß es nicht. Historische Person? Konglomerat oder Quintessenz mehrerer menschlicher Wesen? Personifikation von Ideen?“ (810). 106 Ebd., 418. 107 A rnold Köster: Ein Versuch, auf die ‚Laienforderungen‘ zu antworten, in: CW 14
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
schien als Lösungsweg, um unter Ablösung der kirchlichen Lehrtradition auf das Lebensgefühl Jesu zurückzugreifen. Für Bonus selbst bestätigte die recht breite Diskussion um seine kritische und provozierende Darstellung der religiösen Lage, dass sich kurz vor der Jahrhun dertwende im Umfeld der Christlichen Welt eine modern-soziale und undogma tische Gestimmtheit abzuzeichnen begann. Die Leserzuschriften, aber auch die Förderung Rades ließen sich als Hinweis darauf verstehen, dass seine Veröffent lichungen mehr als „die fixen Ideen eines Einzelnen“ waren.108 Unter den Le sern von Rades Zeitschrift, im Umkreis der Naumannianer und in der Gebilde tenreformbewegung wurde aus seiner Sicht ein Potential lebendig, dass seine theologiekritischen und religiös-nationalen Vorstellungen teilte. Daraus ent stand der Wunsch nach einer stärkeren Vernetzung und intensiverer publizisti scher Präsenz: Wir müssen uns in die Augen sehen, müssen Fühlung suchen, mit denen, die Ähnliches auf dem Herzen haben, und vor allem, wir müssen auf Biegen und Brechen durchsetzen, daß man unsern Gedankengang ernst nimmt.109
Bonus war deutlich, das seine religiös-kulturellen Überzeugungen eine theolo gische Minderheitenposition im Kreis um die Christliche Welt darstellten. Wie der Durchgang durch die Reaktionen auf Bonus’ Veröffentlichung um 1900 ge zeigt hat, wurden seine Thesen in der Christlichen Welt dennoch breit rezipiert und mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert. Theologen wie Harnack oder Kaftan warnten vor einem Bruch mit dem theologiegeschichtlichen Zusammenhang; ihnen rückte Bonus zu dicht an die Bildungsreligionen des fin-de-siècle heran. Doch bestanden keine grundsätzlichen Rezeptionshürden gegenüber seinen Thesen.110 Manche Leser zeigten sich regelrecht fasziniert von seiner Melange aus religiösen, kulturellen und nationalistischen Motiven. Bonus’ Schriften gal ten als sensorisch feine Reaktionen auf die religiöse Lage um 1900, die den Brückenschlag zur Kultur und Weltanschauung der Moderne ermöglichten.111 In seiner markanten Kritik des Offenbarungschristentums, der Bewegung zu inneren, seelischen Ereignissen und Diesseitigkeit sowie der sozialpolitischen (1900), 553–560, 557. Bonus’ Äußerungen wurden hier als ein auf angemessener Versuch bewertet, ohne Rückzug in die abstrakte Fachtheologie auf die religiösen Fragen der Gegen wart einzugehen. Köster stellt ihn sogar in eine Reihe mit den ‚Heften der Christlichen Welt‘. 108 Briefkonzept Bonus an Pfarrer Jansen, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_014]. 109 Ebd. 110 Solche traten etwa in der Reaktion des orthodoxen Generalsuperintendenten der Neu mark Theodor Braun hervor, der Bonus als Vorgesetzter eine „Verfälschung des Christen tums vorwarf und ihm anriet, sich doch lieber „den Pferdefuß als das Kreuz als Symbol an zueignen (Brief Generalsuperintendent Braun an Bonus, 7.3.1899 [ebd.]). 111 So z. B. Brief Breest an Bonus, Berlin 18.9.1902 [ebd., 08_001].
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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Motivation schien prägnant die Erneuerung des Protestantismus vorausgezeich net. Zusammenfassend lässt sich auf die Reaktion des Gießener Kirchenhistori kers Gustav Krüger verweisen, der Bonus’ Germanisierungsthese als einen wirksamen Gegenentwurf zur farblos gewordenen Frömmigkeit des bürger lich-moralisierenden „Philistertums“ las.112 Dass in ihr theologische Fehlurteile im Einzelnen lagen, verdrängte er bereitwillig zugunsten des wuchtigen Ge samteindrucks. Für ihn schuf Bonus eine mit Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts vergleichbare apologetische Begründung der wesentlichen Inhalte des Christentums gegenüber einem gleichgültigen oder materialistischen Bür gertum, der es gelang, die Bedeutung der Persönlichkeit Jesu für die deutsche Kultur der Gegenwart zu erhalten. Diese würde gegen die zivilisatorischen Er schlaffungserscheinungen der Moderne zurückführen zu „Leben, Fortschritt und Kampfeslust“.113 Aufgrund solcher Bewertungen konnte Bonus zu einer Führungsgestalt in der Christlichen Welt um 1900 werden, die zur Selbstklä rung in der religiösen und sozialen Kontroverslage der Moderne beizutragen schien.114 Noch Jahre später wurde von den Freunden der Christlichen Welt auf die „vergangenen Zeiten […] eines Arthur Bonus“ zurückverwiesen, in denen man entschieden auf eine Erneuerung des Christentums unter Abkehr von der theologischen Tradition hingewirkt hätte.115
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“: Die Germanisierungsthese in kulturprotestantischen Kontexten Seit der Jahrhundertwende wurde Bonus zu den maßgeblichen Persönlichkeiten eines religiösen Umbruchs im Protestantismus gezählt. Vortragsanfragen und Einladungen zu Aufsätzen signalisierten, dass sein bildungsbürgerliches Publi kum mit seiner Theologiekritik ebenso wie mit der „Nationalisierung der Religi on“ etwas anfangen konnte. Wilhelm Bousset fragte bei Bonus an, ob dieser in der Theologischen Rundschau über Paul de Lagarde und das deutsche Christen tum schreiben würde, Friedrich Michael Schiele schlug ihn für die renommier ten Religionsgeschichtlichen Volksbücher vor.116 Vortragseinladungen kamen 112
Brief Krüger an Bonus, Gießen 21.10.1900 [ebd., 07_015]. Vgl. Krügers Rezensionsartikel: Chamberlains Grundlagen des neunzehnten Jahrhun derts, in: CW 14 (1900), 988–991, den er Bonus in seinem Brief zur Lektüre empfahl. 114 Köster: Ein Versuch, auf die ‚Laienforderungen‘ zu antworten, 557. 115 Constantin von Zastrow: Strafgericht oder Naturgesetz?, in: CW 21 (1907), 331–333, 331. 116 Brief Bousset an Bonus, 26.6.1900 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_015]; Brief Schiele an Bonus, 22.4.1904 [ebd., 08_002]. 113
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
von der honorigen Berliner „Kirchlich-Theologischen Konferenz“ oder auch, mit einem völkischen Hintergrund, von der „Deutschbundgemeinde“ Gothas.117 Aus dem süddeutschen liberalprotestantischen Umfeld kam die Bitte um eine Leser eise, deren Themenstellung illustrierte, welche Inhalte nun mit Bonus verbunden wurden, nämlich die „neue Entwicklung des deutschen Protestantismus“.118 Wenn Bonus hier als ein Vorreiter betrachtet wurde, dann geschah das auch mit Blick auf die von ihm anvisierte Verbindung von Deutschtum und Christen tum. Sie traf in den kulturprotestantischen Zeitschriften auf ein Klima, in dem verstärkt nach der Kulturbedeutung des Deutschtums gefragt und zugleich nach tieferer religiöser Verbindlichkeit gesucht wurde. Es wurde begrüßt, dass Bonus die „Stickluft“ des Kirchenchristentums durch eine männlich-heroisierende Frömmigkeit austauschen wollte, um damit das „Erbe des germanischen Cha rakters“ zu bewahren.119 Wer in ihm einen „Kämpfer für ursprüngliche, mann hafte, deutsche Frömmigkeit“ sah, erhoffte sich, mit seinen religiösen Theorien einen Ausweg aus unfruchtbaren theologischen Auseinandersetzungen zu fin den.120 Bonus’ Texte enthielten „ein deutsches Wort gegen das furchtbare De mutsgewinsel“ des Pietismus, sie stellten nach Ansicht mancher Leser ein ein heitlicheres religiöses Bild gegen die Vielfalt der exegetischen Theorien oder erschienen als vorbildlich im „Radicalismus“, mit dem sie gegen die akademi sche Theologie vorgingen.121 Seine Versuche, den Glauben in Distanz zur Theo logie als Erlebnis zu beschreiben, wurden als eine Möglichkeit wahrgenommen, in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart der Religion einen festen Ort zuzuweisen. Insofern ließ er sich wie in der nationalsozialen Zeit als ein „Führer“ in den Umbrüchen der Gegenwart betrachten, dessen Schriften in ihrem Anliegen, moderne Bildung und Frömmigkeit zu versöhnen, gar ein 117
Brief Pfarrer Koehler an Bonus, 28.1.1901; Brief Jaeger an Bonus, März 1901 [beides ebd., 08_001]. 118 Brief J. Johannsen an Bonus, 25. November 1904 [ebd., 13_005]. 119 Ernst Rolffs: Predigt- und Erbauungsliteratur, in: ThR 3 (1900), 28–39, 37 f. Der im Umkreis der Christlichen Welt als praktischer wie wissenschaftlicher Theologe sehr rege Pfarrer Ernst Rolffs – wie Bonus ein Harnack-Schüler – war ein aufmerksamer Leser von Bonus’ Veröffentlichungen. Seine ausgesprochen wohlwollende Rezension relativiert den oben zitierten Brief an Rade, dem er empfahl, Bonus aufgrund seiner theologisch anstößigen Äußerungen die Spalten seiner Zeitschrift weniger häufig zu öffnen (Brief Pfarrer E. Rolffs an Rade, Oederquart bei Freiburg an der Elbe 19.12.1896 [ebd., 13_006]). 120 Rudolf Günther: Arthur Bonus’ Schriften, in: ZThK 11 (1901), 214–229, 229. Der spätere Marburger Theologieprofessor war literarisch interessiert; seine Ehefrau Agnes Günther verfasste den 1913 posthum veröffentlichten Erfolgsroman: Die Heilige und ihr Narr, Stuttgart 1913; vgl. seine memoirenhafte Darstellung: Unter dem Schleier der Gisela, Stutt gart 1936. 121 Brief Liebe an Bonus, 12.4.1902 [ebd., 12_004]; Brief Lic. Jüngst, 9.10.1897 [ebd., 13_007]; Dietrich Graue an Bonus, 27.6.1902 [ebd., 08_001].
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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„Geist von Schleiermacher“ durchwehe.122 Die von ihm vorgezeichnete Verbin dung von Nation und Frömmigkeit erschien als grundlegender Baustein in der kulturellen Neuwerdung Deutschlands. Mit seinen Büchern im Gewissen „soll ten alle für Deutschlands Zukunft Schaffenden hören, lernen, mitanfassen“.123 Viele seiner Rezensenten teilten Bonusʼ Anliegen, dass die Persönlichkeit und das religiöse Bewusstsein Jesu als Kern des Christentums in den Geist des Deutschtums und der Moderne überführt werden müsse. Das war eines der Ker nanliegen, die im Rahmen der „Laienforderungen“ um 1900 in der Christlichen Welt als Desiderat an die moderne Theologie herangetragen wurden: „Es gilt, den ganzen kraftvollen Idealismus und ‚Lebensmut‘ Jesu und der ersten Chris ten aus ihren damaligen Anschauungen in unsere heutigen Anschauungen her überzuretten.“124 Diese Übertragungsleistung stellte für den Kieler Professor für praktische Theologie Otto Baumgarten eines der hauptsächlichen „Pre digt-Probleme“ der Gegenwart dar, denen er eine Vorlesung widmete, die 1904 im Druck erschien. Baumgarten, der als einer der führenden Theologe des mo dernen Protestantismus mit großem Gespür für die gesellschaftliche Gesprächs situation seiner Zeit daran arbeitete, die Theologie in eine praktische Wis senschaft der gelebten Frömmigkeit umzubauen, beobachtete sehr genau die Erosionsprozesse am überkommenen Bau des Kirchenchristentums, die er be sonders an der Haltung der Gebildeten festmachte. Angesichts der im Bürger tum verbreiteten diffusen Frömmigkeit ging seine Vorlesung auf die Herausfor derungen ein, die der Evangeliumsverkündigung durch die modernen Individu alisierungsprozesse, die Auflösung der theologischen Selbstverständlichkeiten, die klaffende Distanz zwischen biblischer Sprache und moderner Lebenswelt aufgegeben waren. Den Einflussverlust der Kirche führte er zurück auf den „Hiatus zwischen den Antworten, die unsere Verkündigung gibt und den Fra gen, die unser Geschlecht uns entgegenbringt“.125 Baumgarten erwies Arthur Bonus in seinem Versuch über die moderne Pre digt eine Referenz, indem er ihn als Entdecker einer homiletischen „Kunst des 122
K ayser, Büchertisch. Arthur Bonus, Religion als Schöpfung, in: Die Zeit 2 (1902), 797.
123 Ebd.
124 Köster: Ein Versuch, auf die Laienforderungen zu antworten, in: CW 14 (1900), 553– 560, 560. 125 Otto Baumgarten: Predigt-Probleme, Tübingen 1904, 102; vgl. zustimmend zu Baumgartens Predigtlehre als Berichtsartikel: Moderne Predigt?!-, in: PrBl 38 (1905), 425– 427; das Protestantenblatt griff die von Baumgarten aufgezeigte Problemstellung auf und zitierte ausgiebig aus: Bonus: Die Textgemässheit, in: Monatsschrift für die kirchliche Praxis 4 (1904), 423–427, mit dessen homiletischer Fundamentalkritik: „Aus […] dem Versuch, eine Anzahl Menschen in lebendige Berührung mit dem schaffenden Gottesgeist zu bringen, ist eine alle wesentlichen Gesichtspunkte zur Erörterung bringende Auslegung eines alten Schriftstücks geworden.“
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Übersetzens“ empfahl, nach der die christlich-dogmatische „Fremdreligion“ in die Lebensideale der Gegenwart zu übertragen war.126 Dabei grenzte er sich von einer kirchenfreien Frömmigkeit ab, wie sie sich in den unterschiedlichen Spiel arten einer modernen Bildungsreligion – als Nietzsche-, Wagner- oder Goethe kult, in kunstreligiösem Ästhetizismus oder monistischen Weltanschauungsent würfen – manifestierte. Den Bogenschlag zu den vagierenden Frömmigkeits entwürfen hielt er für notwendig, um die Gebildeten für Sittlichkeit und Kirche wiederzugewinnen. Die protestantische Überlieferung musste in neue Formen und zeitgenössische Sprache gegossen werden, ohne an ihrer religiösen Sub stanz zu verlieren. An dieser Stelle wurde die Frage nach einer Verdeutschung des Christentums relevant. Einen wesentlichen Impuls dazu sollte das „Geheim nis der Persönlichkeit“ liefern, das, wie Baumgarten erläuterte, durch „Anre ger“ wie „Lagarde, Kierkegaard, Maeterlinck, Bonus“ zwischen nationalem Lebensideal und wachsendem „Bismarck“-Geist zu den religiösen Themen der Gegenwart zählte.127 Baumgarten griff Bonus’ Forderung auf, das moderne Per sönlichkeitsideal gegen die Demutsemphase des Traditionschristentums als „männliche Selbstsetzung“ in den Bereich der Frömmigkeit zu holen und ver stand darunter die Betonung der Individualität und des Seelenlebens.128 Auf den sittlichen Anspruch des Evangeliums wollte er dabei nicht verzichten. Baum garten griff Bonus insofern auf, als dass er sein Programm einer „Accomoda tion“ des Christentums an den Zeitgeist goutierte, seiner nationalreligiösen Aufladung aber nur begrenzt folgte:129 Das bedeutet zwar nicht ‚Germanisierung des Christentums‘ – diesen Teutonenwahn lehne ich ab – wohl aber Ausgleichung des modernen Bewußtseins mit dem Christentum.130
Bereits vor der Jahrhundertwende hatte Baumgarten in der Zeitschrift für praktische Theologie auf Bonus’ Werk hingewiesen. Hier legte er ausführlich dar, dass er einem „umnationalisierten Christentum, das möglichst viel Erdfarbe deutscher Gemütsart an sich tragen soll“, klärende Wirkung für die Gegenwart zuschrieb.131 Ein solcher Neuansatz im Christentum würde ein „zersetztes und mit seinen Idealen zerfallenes Volk“ wie das Deutsche zu neuem Glauben und Idealismus aufrütteln.132 Das für die Gegenwart reformulierte und eingedeutsch 126 Ebd., 103 f.; Baumgarten bezog sich auf Bonus’ Artikelserie zur „Germanisierung des Christentums“ von 1899, die er ausführlich referierte. Vgl. auch ders.: Neue Bahnen. Der Unterricht in der christlichen Religion im Geist der Moderne, Tübingen 1903, 22 f. 127 Ebd., 50. 128 Ebd., 92 f. 129 Diesen Begriff wählte Baumgarten: Neue Bahnen, 22 f. 130 Ders.: Predigt-Probleme, Tübingen 1904, 94. 131 Ders.: Über die christliche Welt Martin Rades, in: ZPrTh 21 (1899), 245–276, 263. 132 Ebd., 264.
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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te Evangelium sollte also erneut als sittlich-religiöses Fundament der modernen Nation wirken. Es bestanden enge Rückkopplungseffekte zwischen solchen Modernisie rungsangeboten und einer wachsenden kulturell-religiösen Verunsicherung. Den Graben zum Evangelium und zur Geschichte brachten etwa die Auseinan dersetzungen um die Leben-Jesu-Forschung und die Religionsgeschichte zum Ausdruck. Obwohl er nicht in der gleichen Schärfe wie Baumgarten einen grundlegenden Konflikt zwischen der „modernen Weltanschauung“ und dem Christentum anerkennen wollte, gehörte etwa für Adolf Harnack die Frage nach dem historischen Jesus zu den entscheidenden „Beunruhigungen“ des Protes tantismus nach 1900.133 So brachte 1901 ein Nichttheologe in der Christlichen Welt als Reaktion auf Harnacks Wesen des Christentums und auf Bonus’ Ger manisierungsaufsätze seine Not zum Ausdruck, wie denn eine fromme Verbin dung zu dem lediglich historisch umrissenen Jesus der neueren liberaltheologi schen Exegese möglich sein könnte. Ein „deutscher Jesus“ stellte für den Ver fasser eine greifbarere Vorstellung dar als ein nur gedanklich erfassbarer dogmatischer „Menschheitschristus“ oder der als fremdartig erfahrene, vor dem jüdischen Kontext der Antike rekonstruierte historische Jesus. Dieser blieb für den Laien nur eine „blasse Abstraktion“.134 Der Autor rekurrierte auf die Vorstellung vom Volkscharakter, der doch das eigentliche individuelle Moment in die Frömmigkeit einbrächte. Zur Ausbildung der Persönlichkeit gehöre ihre Verwurzelung im Volk. Wenn Christus zur sittlich-religiösen Grundlage der Gegenwart werden und den Einzelnen erreichen sollte, dann mussten die Jesus vorstellungen deutsche Eigenart annehmen. „Er muß, sage ich, deutsch reden, deutsch wollen, deutsch fühlen, deutsch denken, deutsch glauben.“135 Diese Äu ßerungen zeigten ein sich intensivierendes Bedürfnis nach religiöser Beheima tung und nach Verringerung des Abstraktionsgrades auch in den tendenziell reflexionsbereiten und historisch-kritisch geschulten Reihen des modernen Pro testantismus. Gegen das dogmatische Christusverständnis wie gegen die histo risch erforschte Jesusgestalt wurde hier auf eine einfache, menschliche und von ihren geschichtlichen Fremdheitsaspekten bereinigte Heilandspersönlichkeit rekurriert, die sich in gegenwärtige Vorstellungsformen einpassen ließ. Der fromme Laie brachte seine Empfindungen auf die Formel, dass die notwendige „Menschwerdung“ Jesu in der Gegenwart nur noch seine „Deutschwerdung“ bedeuten könne.136 133 A dolf H arnack: Beunruhigungen des kirchlichen Glaubens und der Frömmigkeit, in: CW 21 (1907), 583–591, 589. 134 F.D.: Christus. Erwiderung in fünf Briefen, in: CW 15 (1901), 1182–1190, 1186. 135 Ebd. 136 Ebd.
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In diesen Einwänden kam ein zunehmender Gegensatz zur historischen Aus richtung der modernen Theologie zum Ausdruck. Der theologische Liberalis mus insgesamt, führte der Elbinger Pfarrer Falck im Protestantenblatt aus, habe sich mit der historischen Leben-Jesu-Forschung zu eng an die „Mächte der Ver gangenheit“ gebunden und den Zusammenhang mit der Weltanschauung der Moderne verloren. Die zeitlose Bedeutung Jesu liege nicht in der historischen Person, sondern in der „Grundstimmung seiner Seele“, die sich losgelöst „von allen theologischen Formeln und Formulierungen“ in die heutige Gedankenwelt übertragen lassen müsse, wenn sie relevant bleiben wolle. Die historische Me thode würde die Religiosität auf dem „Boden Palästinas“ nachzeichnen und da mit den Graben zur Gegenwart vertiefen; der Protestantismus hingegen dürfe die Verbindung zum „Prophetengeist“ in unserer Zeit nicht verlieren.137 Solche Diagnosen waren vor allem im Protestantenblatt und ähnlichen liberaltheologi schen Organen seit der Jahrhundertwende keine Seltenheit. Sie speisten sich aus dem Bedürfnis, gegen die relativierende Wirkung der Religionsgeschichte reli giöse Fixpunkte in der Moderne zu formulieren. Es ging darum, das „Wesen hafte, Unwandelbare, Ewige“ im Evangelium gegenüber Relativierungstenden zen unanfechtbar abzugrenzen. „Nichts Geschichtliches (damit Begrenzbares, Veränderliches) kann zum Fundament einer absoluten Religion gemacht wer den“, hieß es im Protestantenblatt in einer abwehrenden Stellungnahme zum „Jesus der Geschichte“.138 Die moderne Wissenschaft habe nämlich das Jesus ideal aufgelöst, aber keine neue Verbindlichkeit an seine Stelle gesetzt.139 Die kirchliche Verkündigung wurde aber auch im Ganzen als defizitär verur teilt, weil sie nicht zu einer positiven sittlichen Wertung der modernen gesell schaftlichen Entwicklung zu kommen schien. „Für uns heut sind Familie, Na tion, moderner Staatsgedanke, wirtschaftliche Entwicklung, die Kampf fordert, reale Werte, die wir nicht missen und ignorieren können,“ notierte ein Artikel im Protestantenblatt. Die konfessionelle Predigt stand nach Ansicht des Schrei bers nicht nur in einem Gegensatz zur sittlichen Selbstwahrnehmung des Fort schritts- und Gegenwartsmenschen, sie widersprach auch dem „germanischen 137
Falck: Die religiöse Bedeutung Jesu, in: PrBl 40 (1907), 97–103, 101 f. Siems: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, in: PrBl 42 (1909), 678–684, 682. Fast identisch hielt auch Bonus dieses Axiom fest: „Eine historisch begrenzte Person, der man sich als etwas Letztem, Fraglosem soll überlassen können – das vollzieht einfach nicht“ (Bonus: Einige Anmerkungen zur religiösen Krisis, in CW 21 (1907), 513–519, 517). 139 Als Reaktion auf den oben zitierten Aufsatz von Harnack zur „Beunruhigung“ durch die moderne Theologie notierte das Protestantenblatt: „Wir wissen negativ genauer, was wir verloren haben, als wir positiv sagen können, was wir gewonnen haben“ (W. Schott: Was hat das religiöse Gemüt durch die Ergebnisse der modernen Wissenschaft gewonnen?, in: PrBl 41 (1908), 8–10). 138
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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Empfinden“. Dieses fordere an der Stelle der biblisch-theologischen Hauptsätze Buße, Sühne und Vergebung eine Predigt, die von „der Ehre und der Freiheit, der Treue“ spräche.140 Dass eine so aktualisierte Predigt dem Geist des Evan geliums nicht zuwiderlaufe, wurde beispielsweise von Dietrich Graue betont. Jesus selbst, so seine Begründung, habe seine Verkündigung „ganz in nationa len Farben und auf dem Boden der Heimat“ gestaltet; es gehöre daher gleichsam zu den Pflichten der evangelischen Kirche, ihre Predigt ebenso in den Rahmen der nationalen Gegenwart zu stellen.141 Die Verdeutschung als Modernisierung und Plausibilisierung des Christen tums stellte dem Protestantenblatt zufolge eine starke „Tendenz“ im Protestan tismus seit der Jahrhundertwende dar.142 Es fand ein notwendiger „Umprägungs prozeß“ statt, durch den sich die Gegenwart das Christentum erneut erschloss: Sie sei „am Werke, ihr eigenes Christusideal herauszuarbeiten“.143 Die Anfänge wurden bei Friedrich Naumann gesucht, dessen Reisebericht Asia exemplarisch die Erschütterung des frommen Jesusbildes dokumentierte.144 Diese Schrift wurde als ein religiöses Revolutionsbuch und als ein Krisenerzeugnis empfun den, das auf die ungelösten Anschauungen der modernen Theologen hinwies. Naumann hatte in seinem Reisebericht mitgeteilt, dass ihn angesichts der Dis krepanz zwischen der Bedeutung der christlichen Jesusüberlieferung und dem von ihm erlebten Zustand der orientalischen Umwelt religiöse Zweifel überka men. In sozialdarwinistischer Diktion verwies er auf die in seinen Augen rück ständigen Kulturen Palästinas, dessen Bewohner „nichts ordentliches geleistet“ hätten.145 Die aufstrebende „gesunde germanische Kraft“ der Gegenwart wurde in Naumanns Buch mit den Negativerfahrungen des Palästinareisenden kon frontiert. Wenn die historisch-kritische Forschung zunehmend einen orientali schen Jesus in ihren Fokus rückte, stellte das eine Herausforderung für die mo derne Predigt dar. Die Fremdheit der historischen Jesusgestalt – „ein Fremdling aus einer vergangenen Völkerwelt“ – musste durch einen „deutsch gedachten […] Jesus“ überwunden werden, um eine nachvollziehbare Wirklichkeit dar zustellen.146 Naumann berichtete, dass er während seiner Reise an die Kultur 140
R.L.: Moderne Verkündigung, in: PrBl 40 (1907), 322–326, 324 f. Dietrich Graue: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51–53. 75–78, 76. 142 Gottfried Fittbogen: Die Germanisierung des Christusbildes in Frenssens Hilligenlei, in: PrB 39 (1906), 822–825.845–849.870–874, 848 f.; zu Ähnlichem bei Martin Schian vgl. R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 139–141. 143 Ebd., 874. 144 Ebd. 145 Naumann: Asia, Göttingen 1899, 119 f., vgl. H einrichs: Das Judenbild im Protestantis mus, 470; Fehlberg: Protestantismus und Nationaler Sozialismus, 379–381. 146 Ebd. 141
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
visionen Paul de Lagardes und dessen „Traum eines wiederwachten altdeutschen Glaubens“ gedacht hatte.147 Er sah eine gegenseitige Bezogenheit von Germa nentum und Evangelium, die er in eine zukünftige, freie Auffassung des Chris tentums auflösen wollte; notwendig war die Übertragung der religiösen Erkennt nis Jesu in die Sprache und Ausdrucksformen der Gegenwart.148 Bonus stellte dieses Buch 1902 in der Münchner Allgemeinen Zeitung im Ver gleich zu Paul Rohrbachs Palästina-Buch Im Lande Jahwehs und Jesu vor. Für ihn waren beide Bücher Hinweise auf die sich neu bildenden religiösen und kulturellen Anschauungen der Gegenwart und auf das Ungenügen der moder nen Theologie, die wachsende „Innenkraft“ des Volkes theologisch zu erfassen. Aus den weichen Tönen der modernen Theologie müsse „eine schrille Kampf musik“ gegen Fortschrittshemmungen, orthodoxen Untertanengeist und kultur feindliches Dunkelmännertum gemacht werden, um zu einer durchgreifenden Veränderung des Protestantismus zu gelangen.149 Es waren insbesondere zwei Entwürfe einer nationalisierten Frömmigkeit, die in den kulturprotestantischen Zeitschriften mit Bonus’ Germanisierungsthese in Verbindung gebracht wurden. 1904 verglichen die Wartburgstimmen ihn mit Johannes Müller als einem „originellen Mitarbeiter“ einer neuen Frömmigkeit; sie vermerkten auch den Ort dieser Neubildung, nämlich das Umfeld der Christlichen Welt.150 Im Kreis der modernen Theologie zeichne sich eine religiöse Neu orientierung ab, die den konservativ-kirchlichen Protestantismus überwinden würde. Diese Sichtweise griffen auch Reformzeitschriften auf, für die Bonus als „genial-ketzerischer Pfarrer“ galt, der – wie beispielsweise der Friedrichshage ner Julius Hart formulierte – die „Molluskenbreimenschen“ der Gegenwart auf rütteln und für die Zukunft der Kultur weltanschaulich stärken wollte.151 Mit ähnlichen Bewertungsmaßstäben wurde Johannes Müller beschrieben, der eine aus dem freien Protestantismus geborene Übersetzung des Christentums in deutschen Zeitgeist repräsentierte, die sich mit ihrer Betonung von persönlicher Entwicklung, Diesseitsfreude, Natürlichkeit und Vitalismus sicher als einer der erfolgreichsten Versuche religiöser Vergemeinschaftung am Rand des Kultur protestantismus auszeichnete. Wie Bonus, so die Wartburgstimmen, arbeitete er 147 Ebd. 148
Ders.: Das Morgenland, in: Die Hilfe 3 (1897), Nr. 2, 1. Bonus: Randglossen zu Rohrbachs ‚Im Lande Jahwehs und Jesu‘, in: Allgemeine Zei tung 104 (Nr. 76 v. 3. April 1902) Beilage; vgl. Naumann: Asia; Rohrbach: Im Lande Jahwehs und Jesu. Wanderungen und Wandlungen vom Hermon bis zur Wüste Juda, Tübingen 1901. 150 Wartburgstimmen: Märzheft 1904 [UB Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen Art hur Bonus]. 151 Als Rezensionen zu: Religion als Schöpfung: Julius H art: Modern-religiöse Umschau, in: Der Tag, 6.3.1903 [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. 149
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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an einer „Rückkehr zum lebendigen Gott […] aus der Wüste der Kirchen“.152 Bonus galt als Vorreiter, in dessen Spuren Johannes Müller an einer „Verdeut schung des Jesusevangeliums“ arbeite.153 Die nationalkulturellen Bezüge waren nur ein Bestandteil dieser Unternehmung, die Theologen der Christlichen Welt wie Adolf Harnack ebenso anzog wie Größen aus Kultur und Politik. Müller ging es um Kritik am Materialismus und um neues Seelenleben, um Gestaltung und Werden, ohne dabei die theologischen Vorgaben fortzuschreiben. Die Grundgedanken zur Verdeutschung des Evangeliums legte er in der Einleitung zu seiner 1906 erschienenen Übersetzung der Bergpredigt vor.154 Wie Bonus wollte er im Evangelium keinerlei Sittengesetz erkennen, sondern die auf weni ge Hauptsätze reduzierbare Forderung zu „einer ganz neuen Art Leben“.155 Um sich diesem Inhalt nähern und die kulturelle Differenz zwischen Palästina und dem modernen Lebensgefühl überwinden zu können, stellte Müller die Forde rung auf, die Reden Jesu für die Gegenwart umzuformulieren. Darunter ver stand er eine moderne Adaption der Jesuslehre, die ein Verständnis für die deut sche „Volksindividualität“ aufzubringen hatte, um so die biblischen Fremdheits anmutungen abzulegen.156 Müller wollte die religiösen Vorstellungen Jesu aus ihrer Umwelt und der Vergangenheit lösen und sie der Kulturstufe der Gegen wart sprachlich und inhaltlich anpassen.157 Wie bei Bonus formte eine radikale Entschlackung der theologischen Tradition Müllers Programm, das er genauso unter die Voraussetzung stellte, dass der Einzelne „persönlich erleben“ müsse, was ihm auf religiösem Gebiet zur Wahrheit werden sollte.158 Wie Bonus war auch Müller der Ansicht, mit seiner entdogmatisierten Religion des Selbstlebens die Bausteine für eine neue, deutsche Zukunftskultur zusammenzutragen. Ein zweiter Entwurf stammte von dem Dithmarscher Pfarrer Gustav Fren ssen, dessen Dorfpredigten als vorzügliches Beispiel einer Übersetzung des Christentums in die Vorstellungswelt der Gegenwart galten. So ordnete die Deutsche Monatsschrift Bonus neben Harnack, Naumann und Frenssen unter den Vertretern einer modernen Theologie ein, die das „Christentum der Dog men“ zu überwinden suchten und in ihrer Arbeit an den „großen Fragen der Zeit“ auf einen kulturellen „Frühling“ hinarbeiteten.159 Wie Bonus tief von der 152 Wartburgstimmen, Märzheft 1904 [UB Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen A rthur Bonus]. 153 Deutsche Kultur, Nr. 34, 10–12 [ebd.]. 154 Johannes Müller: Die Bergpredigt, München 1906, 9 f. 155 Ebd. 156 Ebd., 12 f. 157 Ebd., 15. 158 Ebd., 22. 159 M artinus: Zur religiösen Frage, in: Deutsche Monatsschrift, Nr. 8 (1903) [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus].
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Naumann-Bewegung beeindruckt, predigte Frenssen ein soziales Tatchristen tum, in dessen Zentrum die heroisch-kulturüberwindende Persönlichkeit Jesu stand.160 In nationalprotestantischer Diktion fand er im „Weg zu Fleiß und Treue, zu Glauben und Mut und starker Liebe, zu allen guten deutschen Dingen“ den Kern der Jesusbotschaft.161 Bonus selbst zeigte Frenssens Predigtsammlung in der Christlichen Welt als Vorbild eines klaren, phrasenlosen und gegenwärti gen Stils an.162 In weiteren Rezensionen wurde die schlichte Art gelobt, in der Frenssens plastische Dorfschilderung und seine Verkündigung in die Erfah rungswelt niedersächsischer Bauern eindrangen und dadurch „Seelen erleuch ten“ wollten.163 Die inhaltliche Verbindung zwischen Bonus’ und Frenssens Auffassung des Christentums wurde bald hergestellt und, wie der Briefwechsel zwischen den beiden schriftstellernden Pfarrern zeigt, auch von ihnen selbst wahrgenommen.164 Frenssen empfand wie zahlreiche jüngere Prediger eine Ge sinnungsgenossenschaft mit Bonus.165 Der Privatdozent für praktische Theologie Friedrich Niebergall empfahl Frenssens Predigten der evangelischen Pfarrerschaft ausdrücklich an, weil in ihnen Germanisierung und Modernisierung im Sinne von Bonus zusammen trafen. Wenn den Evangelienberichten ein heutiges Gewand umgelegt wurde, ließen sie sich als ethisches Fundament für die moderne Persönlichkeit wieder gewinnen.166 Hier ist auf die feinen Untertöne zu achten: Was Niebergall an Frenssens Version des Christentums positiv hervorhob, war nicht allein ihre bildhafte Volkstümlichkeit als „homiletische Heimatkunst“, sondern der An satz zu einer substantiellen Transformation des Christentums durch seine An passung an die Bedürfnisse der Gegenwart. Die Germanisierung des Christen tums wurde als Weg seiner Modernisierung betrachtet, also seiner Erneuerung unter den lebensweltlichen Prämissen der Neuzeit. Sie war ein Replausibilisie 160
Gustav Frenssen: Dorfpredigten, Bd. 1, Göttingen 1899, 25. 97. 162 Bonus: Rez. Dorfpredigten, in: CW 14 (1900), 164–165; vgl. auch die Besprechung durch den Bonus-Freund Paul Jaeger: Rez. Dorfpredigten, in: CW 16 (1902), 1168. Diese Rezension begründete den freundschaftlichen Briefwechsel zwischen Bonus und Frenssen. 163 O. Everling: Allgemeines, die Predigt, ihre Theorie und Praxis, und die Erbauungsli teratur, in: Theologischer Jahresbericht 19 (1900), 888, vgl. die ausführliche Darstellung der Rezeption bei Andreas Crystall: Gustav Frenssen, 141–150; zu Frenssen im nationalsozia len Kontext vgl. Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 95–186. 164 Ernst Rolffs: Naumann und Frenssen, in: ThR 7 (1904), 229–241, 238; vgl. Crystall: Gustav Frenssen, 87–90. 165 Eine entsprechende Äußerung Frenssens teilte der in Dithmarschen tätige Pfarrer Jan sen mit, Brief Jansen an Bonus, 27.2.1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_014]. 166 Friedrich Niebergall: Zwei moderne Prediger, in: MkP 26 (1904), 282–291.336–341, 341; vgl. Crystall: Gustav Frenssen, 145–148. 161 Ebd.,
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rungsprogramm, das die christlichen Traditionen einerseits auf den Hauptinhalt der sittlichen Persönlichkeit reduzieren, diese andererseits aber für die Gegen wart absichern sollte. Frenssen vereinfachte das Christentum zu einer prakti schen Welthaltung, wovon Niebergall sich einen zukünftigen religiösen Fort schritt versprach. In diesem Sinne verstand er auch Bonus als religiösen Moder nisierer. Die von ihm vorgedachte Vergegenwärtigung des Evangeliums erschien als Weg zur Rettung einer modern verstandenen protestantischen Verkündi gung: „Sie machen viele reich, die der losen Kanzelschreibe überdrüssig nach ungarnierter, aber kräftiger Kost verlangen!“167 Wie Zuschriften an Bonus zeigen, wurden diese Entwürfe tatsächlich als homiletische Praxishilfe ohne „Kanzelschreibe“ verstanden. Friedrich Daab, Herausgeber des Jahrbuchs Das Suchen der Zeit und Pfarrer im brandenburgi schen Dorf Werbig, sah in der von Bonus im Deutschen Glauben vorgeführten Eindeutschung des Christentums einen Weg, seine Predigten auf die dörflichen Bedingungen in seiner Gemeinde auszurichten. Ähnlich wie Baumgarten und andere rang hier ein kirchlicher Praktiker mit einem grundlegenden Verständi gungsproblem in der modernen Predigt. Wie ließ sich das Evangelium in der modernen Lebenswirklichkeit „wirklich“ oder „sichtbar“ machen, also aus ei ner abstrakten Lehre in das religiöse Bewusstsein seiner Gemeindeglieder he ben?168 Für Daab entstand daraus eine homiletische Herausforderung, die ihn in seiner Existenz als Prediger auf die Probe stellte: Wie machen wir’s nun? Wie predigen wir unserem Volk auf dem Lande? Ich weiß noch nicht, ob’s wahr ist, daß die Gemeinden tot sind. Ich vermute es aber. Wie geben wir Leben? Wie behalten wir unseren Idealismus inmitten des Realismus des Lebens?169
Die von Bonus repräsentierte Verbindung von moderner Theologie, Nationalkul tur und Volkserziehung erschien ihm als Mittel, sich gegen Frustration in seinem Landpfarramt zu wappnen. Die Einbindung der religiösen Aussagen in eine emo tionalisierte deutsche Landschaftlichkeit – die Rede war von „dunklem Fören wald“ und „tiefem Tann“ – hielt er für gelungen. Die sprachliche und inhaltliche Aktualisierung der Jesus-Predigt und ein „deutscher Glaube“, der die Alltags pragmatik der Kirchgänger „ins Licht des fürstlichen Lebens setzen“ würde, emp fand Daab als geeigneten Lösungsweg für sein pastorales Dilemma.170 Ähnlich äußerte sich Wilhelm Schubring im Protestantenblatt. Für ihn stellten die Germa 167 Postkarte Niebergall an Bonus, 30.12.1899 [ebd., 07_014]. Ähnlich auch jeweils mit Neujahrswünschen: Niebergall an Bonus, 30.12.1898 und 20.12.1902 [ebd., 07_014/08_001]. 168 Brief Daab an Bonus, Werbig 15.1.1898 [ebd., 13_008]. Daab tauschte sich mit Bonus über konkrete praktische Erfahrungen im Pfarramt aus, etwa über brauchbare Leitfäden für die dörfliche Konfirmandenarbeit. 169 Ebd. 170 Ebd.
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nisierung in Bonus’ Deutschem Glauben, Frenssens Dorfpredigten und die sich in Daabs Zeitschrift Das Suchen der Zeit manifestierende „Sehnsucht nach Per sönlichkeit“ Hinweise dar, wie aus Volkstum und Dorfgeschmack die „natür lichste Frömmigkeit“ eines ungekünstelten Christentums herauszulesen war.171 Die hier hervorgehobene Übersetzungskunst wurde von Frenssen in einem weiteren, kontrovers diskutierten Werk weitergeführt, nämlich in seinem 1905 erschienenen Roman Hilligenlei, der schnell zu einem buchhändlerischen Erfolg wurde und in den protestantischen Zeitschriften eine Welle polarisierender Ein schätzungen produzierte.172 Das Buch verknüpfte eine Familienerzählung im Stil des Heimatromans mit religiöser Sinnsuche, es griff zudem das zeitgenössi sche, kulturpessimistische Bedürfnis nach „deutscher Wiedergeburt“ in einem protestantischen Kontext auf: Frenssen wollte die nationale Erneuerung aus ei nem deutschen Christentum heraus zuwege bringen. Ausführlich bezog er sich auf die gegenwärtige Gesprächslage der modernen Theologie und vor allem der Leben-Jesu-Forschung, als deren Spross er sich sah. Die kulturprotestantischen Bewertungen richteten sich auf Sittlichkeits- und Stilfragen, etwa auf Frenssens offene Schilderungen der Sexualität. Überwiegend bezogen sie sich aber auf ein Kapitel des Buches, die „Handschrift“, in der Frenssen eine Jesusgeschichte ent warf, diese aber ihrer dogmatisch-theologischen Besonderheiten entkleidete und vor allem eng mit seiner norddeutschen Gegenwart parallelisierte: Jesus, der „Held aus Norden“, lehrte hier eine einfache, moralische Lebensweise „in einer Ecke eines gewaltigen, zusammengestückelten Reiches, […] ganz wie unser Schleswig-Holstein, ebenso groß, schmal, und langgezogen am Meer entlang, im Norden stille, weite Heidehügel, im Süden eine große, prächtige Stadt.“173 Bonus, der dem belletristischen Werk Frenssens sehr positiv gegenüberstand, war von Hilligenlei weniger angetan. Dafür machte er allerdings keine reli giösen, sondern literarische Gründe geltend. Während er den skandinavischen Naturalismus Ibsens als einen Höhepunkt der modernen Literatur entdeckte, erschien ihm und Beate Bonus der Roman Frenssens als psychologisch nicht ausgefeilt genug. „Wir lesen Hilligenlei“, wurde Dora Rade informiert, „aber leider ist es scheußlich, nicht energisch in die Wirklichkeit hineingepflanzt“.174 171
Wilhelm Schubring: Christentum und Landbevölkerung, in: PrBl 40 (1907), 1011–1014. Gustav Frenssen: Hilligenlei, Berlin 1905; vgl. Crystall: Gustav Frenssen, 200–270. Nach Crystalls Angaben war die erste Auflage des Buches in Höhe von 100000 Exemplaren bereits Wochen nach dem Erscheinen ausverkauft. Nach der Einschätzung von Gangolf übinger erzeugte dieser Roman den heftigsten Literaturstreit in der Christlichen Welt (Kul H turprotestantismus und Politik, 179). 173 Zitiert nach dem Separatdruck: Das Leben des Heilands, Berlin 1907, 4. 174 Brief Beate Bonus an Dora Rade, 4. Januar 1905 [UB Marburg, NL Rade (Ms. 839): Korrespondenz Bonus]. 172
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Am Beispiel von Hilligenlei lässt sich zeigen, wie sehr die um Bonus grup pierten Versuche einer Germanisierung in den kulturprotestantischen Füh rungszeitschriften als Antworten auf eine religiöse Umbruchssituation gelesen wurden. Sie zielten darauf, wie Otto Baumgarten ausführte, auf geistigem und sittlichem Gebiet „neues Leben“ aufzubauen, wo die überkommenen Erfah rungsgründe brüchig geworden waren.175 Das spielte auf die gesellschaftliche Pluralisierung der Moderne an, die in den kulturprotestantischen Gegenwarts diagnosen vielfach als Folge von Vermassung, sozialer Zerklüftung und materi ellem Egoismus gebrandmarkt wurde. Ein germanisierter und ins Licht der Mo derne gerückter Protestantismus sollte dementgegen als ein sicheres Fundament zur „Wiedergeburt des deutschen Volkes“ dienen.176 Das war eine Integrations vorstellung, die zu gemeinsamer Sittlichkeit und nationalkultureller Einheit zu rückholen wollte. Die angebliche Deutungsgemeinschaft der Nation sollte in protestantischem Geiste erneuert werden. Friedrich Niebergall wiederholte in diesem Zusammenhang die Vision eines deutschen Kulturstaates, auf den der moderne Protestantismus im Verein mit weiteren Reformbewegungen auf kul turellem Gebiet hinarbeitete.177 Die sittliche Kraft der Persönlichkeit, ein freier Luthergeist und das als idealistischer Kulturbegriff verstandene Deutschtum waren die Elemente, bei denen Niebergall gegen die modernen Relativierungs tendenzen Zuflucht suchte. Vor allem Vertreter des Protestantenvereins zogen unter der Fahne der Ger manisierung des Christentums in einen „Kulturkampf“ gegen Konservatismus, Materialismus und Zentrumsherrschaft zugleich.178 So betonte Wilhelm Schubring im Protestantenblatt die Gegenwartspflicht des Protestantismus, im Kampf um deutsche Sittlichkeit und Kultur das „Deutschtum ins Christentum hineinzutragen“.179 1904 hatte er in der Kulturzeitschrift Deutschland in einer ausführlichen Besprechung von Bonus’ Ideenwelt versucht, eine Verhältnisbe stimmung zwischen einer religiösen Modernisierung und einer nationalreligiö sen Aufladung durchzuführen. Eine reine Modernisierung der Religion stellte für ihn „etwas Vages, Inhaltsloses“ dar, das dem internationalen Charakter ei 175
Otto Baumgarten: Gustav Frenssens Glaubensbekenntnis, Kiel 1906, 5; vgl. außerdem Notizen. Hilligenlei, in: MkP 5 (1905), 477–478; ders.: Art. Frenssen, in: RGG1 2 (1910), 1055–1058. 176 Ebd., 7. 177 Friedrich Niebergall: Hilligenlei und die moderne Theologie, Tübingen 1906. Auch hier fand sich eine Bezugnahme auf den modernprotestantischen Auftrag, an der „Wieder geburt unseres Volkslebens“ zu arbeiten (S. 66). 178 Saxo: Kulturkämpfe, in: PrBl 40 (1907), 1186–1188; A.F. [A lfred Fischer]: Protestan tisches Interesse am Block, in: ebd., 41 (1908), 92–94. 179 Wilhelm Schubring: Christliche und vaterländische Gesinnung. Ein Protest, in: PrBl 40 (1907), 991–994. ders.:
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ner natürlichen Rationalität oder, schlimmer noch, dem Katholizismus entspre che.180 Erst wenn die „Fortentwicklung“ des Protestantismus „von dem Grund satze der Germanisierung aus“ betrieben werde, könne „die Verbindung von Nationalcharakter und Christentum […] immer enger werden“, meinte Schu bring.181 Nach seiner Vorstellung war eine wechselseitige Durchdringung von Christentum und Volksgeist notwendig: Nur eine christliche Nationalreligion konnte das im Deutschtum verankerte Bedürfnis nach religiöser Individualisie rung und vor allem „nach Kraft, nach Stärkung seiner Kraft“ sicherstellen.182 Und umgekehrt war ein vertieftes Christentumsverständnis nur in den Bahnen seiner „Übersetzung“ und Umformung in die deutsche Kulturwelt der Gegen wart denkbar. Schubring erklärte die Verschränkung von Nation und Religion zur Voraussetzung der kulturellen Weiterentwicklung und die „Germanisie rung“ zur Vorbedingung eines deutschen Wegs in die Moderne, der auf Abgren zung bedacht war und die als bedroht empfundenen liberalprotestantischen Kul turideale – Sittlichkeit, Persönlichkeit, Bildung, Idealismus von Kant bis Schil ler – als nationale Werte weitertrug. Einen vergleichbaren Argumentationsgang verfolgte der Pfarrer Rudolf Wielandt in den Protestantischen Monatsheften.183 Auch hier wurde die Germanisierung als Anpassung der religiösen Anschauun gen an den Volkscharakter gefordert. Neben den biblischen mussten „treffende Bilder“ aus dem Ideenrepertoire des Volksgeistes gefunden werden, um den sittlich-kulturellen Ausbau des Deutschen Reiches abzusichern.184 Die Filiationen der Germanisierungsthese hatten gemeinsam, dass sie für die Fortentwicklung der kirchlichen Traditionen in ein Gegenwartschristentum ein traten, das die sozialen und kulturellen Gegensätze der wilhelminischen Gesell schaft überkuppeln sollte. Sie reagierten auf die um 1900 spürbare Entkirch lichung und auf weltanschauliche Pluralisierungsprozesse; sie empfanden die Deutungshegemonie des Protestantismus als bedroht. Friedrich Wilhelm Graf hat die verschiedenen Ansätze zu einem deutschen Christentum im Wilhelmi nismus als Syntheseversuche analysiert, die darauf zielten, die von der Religion erwarteten gesellschaftlichen Integrationspotentiale zu erneuern.185 Das Chris tentum wurde als menschheitsumspannende Humanitätsreligion gedeutet, in 180 Ders.: Germanisierung des Christentums, in: Deutschland. Monatsschrift für die ge samte Kultur 3 (1904), 399–411, 406. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 Rudolf Wielandt: Herders Gedanken über eine Germanisierung und Modernisierung des Christentums, in: PrM 7 (1903), 449–454; vgl. ders.: Herders Theorie von der Religion und den religiösen Vorstellungen, Berlin 1904. 184 Ebd., 453 f. 185 Graf: Kulturprotestantismus, 54 f.
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dessen Zentrum die Persönlichkeit Jesu stand. Einem evolutiven Geschichts verständnis folgend musste diese aber entlang der Höhenlinien der deutschen Nationalgeschichte seit der Reformation auf eine höhere Entwicklungsstufe ge hoben werden. Wahre Sittlichkeit ermöglichte die allgemeine Jesusreligion erst dann, wenn sie ihre Konkretisierung im deutschen Volkstum erlangte. Beispiel haft lässt sich diese Verbindung an einer Formulierung des Protestantenverein lers Dietrich Graue zeigen, mit der er die weitere Verdeutschung des Christen tums zur Vorbedingung einer erstrebten Einheit von Volkstum, Staat und Reli gion erklärte. Mit dem Erbe der Reformation wurde dabei verklärend eine übernationale und auf Fortschritt gepolte Kultursendung des Deutschtums be hauptet: Also etwa eine über alle Wassern in der Luft schwebende Religion? […] Nein, fest muß sie auftreten, will sie Boden fassen! […] Mit sehnsüchtigen Augen blicken die anderen Völker auf uns Deutsche. Sie wissen seit der Reformation, daß das Heil von den Deutschen kommt. Wir können ihnen nur helfen, indem wir uns selber helfen und mit der Energie des Protestan tismus unser Volksleben überall gesund machen. […] Aber noch enger lassen sich Religion und Volkstum ineinanderschlingen, eins dem anderen Gesundung bringend. Sie haben beide ein gemeinsames Ziel!186
Besondere Schärfe erlangten solche Positionen durch die sich ab 1905 intensi vierenden liberalprotestantischen Binnenkonflikte. Der freie Protestantismus geriet gegenüber den publizistisch hochaktiven neureligiösen Initiativen unter Druck, die gerade liberalen Vereinigungen wie dem Protestantenverein den An spruch strittig machten, die idealistisch-deutsche Vernunftreligion auf dem Boden des undogmatisch freien Christentums zu verkörpern.187 Gleichzeitig bildeten die wortmächtigen Vertreter einer ungebundenen Religiosität am libe ralprotestantischen Rand immer stärker Ansichten aus, die nur noch lose mit einem kirchlichen Christentum vereinbar waren. Funktionäre des Protestanten vereins wie Wilhelm Kulemann nahmen einen wachsenden Begründungsbedarf für den kirchlichen „Liberalismus“ wahr, der von einer „Spaltung“ bedroht er schien.188 Der freie Protestantismus habe mit einer „doppelten Gegnerschaft“ zu kämpfen, so das Protestantenblatt, die sich aus der Umklammerung zwischen einer fortschrittsfeindlich-konservativen Orthodoxie und dem modern-unkirch lichen „Radikalismus“ ergebe.189 186 Dietrich Graue: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51– 53.75–78, 76 f. 187 Vgl. grundlegend für diese Interpretationslinie Graf: Kulturprotestantismus, 50 f. 188 Wilhelm Kulemann: Liberalismus, in: PrBl 39 (1906), 4–6.26–29. 189 Fritze: Die Stellung und die Aufgaben des freisinnigen Protestantismus im heutigen Deutschland. Betrachtungen eines Laien, in: PrBl 38 (1905), 145–147.158–160.169–171.179– 183.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Den konkreten Interpretationshintergrund für solche Gegenwartswahrneh mungen stellte die kirchenpolitische Lage in Bremen her, wo sich die Pfarrer Albert Kalthoff, Friedrich Steudel und Oskar Mauritz mit hoher Öffentlich keitswirksamkeit auf eine dezidiert unkirchlich-freie Verkündigung ausgerich tet hatten und gleichsam „konventikelhafte“ Personalgemeinden um sich sam melten.190 Der „Bremer Radikalismus“ wurde zu einer überregionalen Chiffre für einen die Grenzlinien des evangelischen Christentums überschreitenden Liberalismus, als der zunächst der als Vertreter des Protestantenvereins hoch bekannte Kalthoff im Februar 1906 zum Ersten Vorsitzenden des kurz zuvor ins Leben gerufenen „Deutschen Monistenbundes“ bestimmt wurde.191 Die Aktivierung eines deutschen Christentums in der ideologischen Kontro verslage des liberalprotestantischen Kulturideals gegen vergleichbare religiöse Ausdehnungstendenzen lässt sich schlaglichtartig an dem Bremer Pfarrer Julius Burggraf verfolgen. Dieser schuf mit den 1907 begründeten Bremer Beiträgen zum Ausbau und Umbau der Kirche ein Zeitschriftenprojekt, das sich gezielt gegen den „Bremer Radikalismus“ richtete. Die Bremer Beiträge sollten ein „Organ der freigesinnten Theologie“ gegen radikale Tendenzen letztlich in ih ren eigenen Reihen darstellen, dabei aber den „Individualismus“ der monisti schen Pfarrerskollegen und ihrer Anhänger für die protestantische Frömmigkeit einholen.192 Ab 1909 in Deutsches Christentum umbenannt, widmete sich das Blatt einer Verbindung von Deutschtum und Christentum, die sich mit Friedrich Wilhelm Graf als „kirchlicher Nationalliberalismus“ bezeichnen lässt.193 Auch hier wurde auf Bonus’ Germanisierungsthese zurückgegriffen. Burg graf hielt Bonus für einen „Gesinnungsgenossen“ und versuchte, allerdings er folglos, ihn in sein Publikationsorgan einzubinden.194 Dezidiert protestantisch- 190 So
Wilhelm Kulemann: Liberalismus, in: PrBl 39 (1906), 4–6.26–29, 4 f. Vgl. den Bericht von Julius Burggraf: Auf vulkanischem Boden, in: CW 20 (1906). 192 Ders.: Grund, Zweck und Richtung unseres Werkes, in: Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche 1 (1906/07), 2–13, 5–7. 193 Graf: Kulturprotestantismus, 54. 194 Brief Burggraf an Bonus, 24.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. Bonus er hielt von Karl König eine Einladung, sich an dieser Zeitschrift zu beteiligen, was er aber nicht realisierte. Über König als Pfarrer des Bremer Vororts Horn und Mitglied im örtlichen Pro testantenverein konnte Bonus die Auseinandersetzungen auch in dessen Berichten verfolgen. König hielt die Konflikte zunächst für „Wurstblätterdebatten“, die auf die Eitelkeiten der Streitparteien zurückzuführen waren: „In Bremen könnten wir in religiösen Dingen sehr viel erreichen, wenn die Theologen bessere Menschen wären, vornehmer, ferner von kleinen Nei digkeiten und Bissigkeiten und persönlichen Interessen.“ Sachlich bewertete er den Monis mus ähnlich wie Bonus als „Intellectualismus“ (Brief König an Bonus, 5.7.1905 [ebd., 08_002]). Insgesamt wurde aber bedauert, dass durch die Auseinandersetzungen „die begab ten Menschen Kalthoff, Steudel und Mauritz durch Secession verloren gegangen“ waren (Brief König an Bonus, 8.4.1904 [ebd.]). 191
II. „Verdeutschen“ und „vergegenwärtigen“
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national sowie von antisemitischen und antikatholischen Stereotypen durchsetzt warb Burggraf für eine religiöse Wiederbelebung des Protestantismus aus dem Geist der deutschen Klassik, wie seine 1905 erschienenen Schillerpredigten zeigten.195 Das zielte auf eine Regeneration der deutschen Kultur, für die er auf die Sinnressourcen von Luther bis Schiller und Goethe als Quelle eines „deutsch- modernen Christusglaubens“ und einer grunderneuerten protestantischen Frömmigkeit zurückgriff, um die Rückgewinnung der „der Kirche Entfremde ten“ zu erreichen.196 Aus der religiösen Überhöhung der Kulturnation sollte neue Relevanz für die evangelische Kirche als „Prophetin ihres Volks“ entsprin gen.197 In der deutschen Nationalgeschichte fand er Belege für die „heilige Christustiefe unserer Volksseele“ bis in die Gegenwart.198 Ein germanisierter Protestantismus und ein religiös aufgeladener Nationalismus wurden eng ver schränkt und mündeten in den Auftrag für die Kirche ein, den „Deutschtumsge danken zu dem Bewußtsein einer göttlichen Erwählung“ auszubauen, kurzum also, den Nationalismus um eine nationalreligiöse Komponente zu erweitern:199 Insonderheit möchten wir unser Volk in der Einsicht befestigen, daß Jesus dem Germanen tume wahlverwandt ist; daß zwar in seinem innersten Wesen alles wahrhaft Menschliche sich finden und aufrichten kann, und Christentum weltumfassende Humanität ist, daß aber gerade unsere Rassen- und Volksindividualität sich auf ihn in herausragender Weise gewiesen sieht.200
Burggrafs Überlegungen bezogen sich auf eine Umformung des kirchlichen Li beralismus in eine idealistische Kulturreligion, die er gegen die Orthodoxie, den monistischen „Glaubensnebel“ und eine ästhetisierende „Stimmungsreligion“ 195 Julius Burggraf: Schillerpredigten, Jena 1905, 17. Zu Burggraf vgl. Justus H. Ulbricht: Deutsche Dichterpredigten. Sinnsuche um 1900 oder: Vom Erfinden der Mitte, in: Detlef A ltenburg (Hg.): Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln 2008, 183–218; zu der besonderen kirchenpolitischen Situation der Bremischen Landeskir che, die in massive, öffentlich ausgetragene theologische Richtungskämpfe zwischen Ortho doxen, Liberalen und Modernen einmündete, vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Po litik, 113–129 (unter der Überschrift: „Bremen und die kulturelle Polarisierung“); Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, 231. 196 Ders.: Schillerpredigten, 18. 197 Ebd., 394. 198 Ebd., 9. Zu Burggrafs in vergleichbarem Sinne ausgestalteter Stilisierung von Goethe als personifiziertem Gesamtentwurf des deutschen Volkscharakters ders.: Goethepredigen, Gießen 1913. Aufschlussreich ist in diesem Band besonders die Selbsteinschätzung Burg grafs: Zur Rechtfertigung der Dichterpredigt. Eine Jugenderinnerung und eine Lebensent wicklung, in: ebd., 1–30. 199 Ebd., 387–394; vgl. Ulbricht: Deutsche Dichterpredigten, 208. 200 Ders.: Grund, Zweck und Richtung unseres Werkes, in: Bremer Beiträge 1 (1906), 2–13, 10.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
abgrenzen und in einen „wahrhaft deutschen Glauben“ verlängern wollte.201 Diesen hielt er für eine kulturelle Notwendigkeit, ähnlich der nationalen Bewe gung in der Kunst, die mit „Dürer, Thoma, Böcklin“ zum „Umbau und Ausbau im Sinne deutscher Wesensart“ beigetragen habe. Für die Religion stellte er eine entsprechende Ahnenreihe aus Lagarde, Chamberlain und Bonus auf.202 Aus den schöpferischen Mächten des „Volkstums“ sollte eine religiöse Neuwerdung möglich sein, die Burggraf gegen die modernistischen Religionsavantgarden im Kalthoff-Stil zur sachgemäßen Fortsetzung der liberalen Theologie erklärte und zudem kulturkritisch gegen die Kräfte der Veräußerlichung und der Auflösung ausrichtete.203 Anders als die idealistisch-kulturnationalistischen Entwürfe Baumgartens, Niebergalls oder Schubrings rückte Burggraf die Germanisie rungsthese in einen völkischen Horizont. Im Fahrwasser seiner Zeitschrift wur de dem „germanischen Christentum“ zugesprochen, aus einem kirchenfreien „ahnen, hoffen, glauben, lieben“ zu bestehen, mit dem sich gegen den „jü disch-römischen Christus“ an der „wirklichen Entbindung des deutschen Chris tus“ arbeiten ließ.204 Diese Positionierung des theologischen Liberalismus stieß etwa bei Martin Rade in der Christlichen Welt auf massive Abwehrreaktionen, die nicht zuletzt den Gebrauch des Begriffes „liberale Theologie“ langfristig erschwerten.205 Auch wenn Trennlinien gegenüber einem simplifizierten „Vulgärliberalismus“ gezogen wurden, belegten diese Beispiele, wie weit die ideologische Auffase rung des kirchlichen Liberalismus nach der Jahrhundertwende in unterschied liche lokale, schulmäßige und lebensweltliche Splittergruppen fortgeschritten war.206 Viele Vertreter der modernen Theologie – verstärkt in den Pfarrämtern, abgeschwächter in der Universitätstheologie – erlebten ihr Kulturideal als um kämpft und ihr hegemoniales Selbstbild als intellektuelle Führungsmacht im Deutschen Reich als bedroht. Bei allen inneren Differenzen stellten die oben skizzierten Varianten einer ‚Germanisierung des Christentums‘ Begründungs 201
202
83.
203
Ebd., 9 f. Ders.: Präliminarien zum Deutschen Christus, in: Bremer Beiträge 2 (1907/08), 81–91,
Ders.: Der deutsche Christus, in: Bremer Beiträge 2 (1907/08), 171–203, 180. Lehmann: Der deutsche Christus und die Naturmystik, in: PrBl 40 (1907), 994– 996, 995 unter Bezugnahme auf die Bremer Beiträge. 205 Vgl. R ade: Verschiedenes. Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche, in: CW 20 (1906), 1073–1074 sowie die sich bis 1908 hinziehende Folgedebatte; vgl. auch: ders.: Christliche Welt und Liberalismus, in: PrBl 40 (1907), 427–430.453–456 als Wiederabdruck seines gleichnamigen Beitrags in den Bremer Beiträgen. 206 J. Vilbel: Vulgärliberalismus, in: PrBl 45 (1912), 287–290; vgl. dagegen aber als Ver teidigungsrede für Burggraf: R. Bäumer: Schiller als Apostel des deutschen Christus, in: ebd., 330–334. 204 Lic.
III. Die „religiöse Krisis“
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strategien für einen im Hintergrund liberal gefärbten Protestantismus dar, der als ‚deutsche Religion‘ apostrophiert wurde und als solche religiösen Konkur renzprodukten und Auflösungsprozessen entgegengeführt wurde. Sie waren ausgerichtet auf die Rückgewinnung der kulturellen Prägekraft des Protestan tismus, stellten sich Entkirchlichungstendenzen entgegen und zielten in präg nanter antikonservativer Ausrichtung auf Akzeptanz unter den Bildungschich ten. In der Überbetonung und religiösen Verbrämung der Nationalkultur wurde Rückhalt zur Stärkung eines freien Christentums kirchlicher Prägung gesucht, dessen gesellschaftliches Vermittlungspotential als zunehmend geschwächt empfunden wurde. Neuen Halt sollte daher eine „Zukunftskirche“ bieten, in welcher der deutsch-protestantische Geist „Wartburgauferstehung“ feiern wür de.207 Darin sprach sich ein Hunger nach Echtheit und Geschlossenheit aus, die in einer Synthese aus Volkstum, Kultur und Religion gesucht wurden. Die libe ralprotestantischen Vertreter einer ‚Germanisierung‘ entwarfen eine Bildungs religion, in der die Verbindung geschlossen wurde „von Kirche und Kunst, von Religion und Kultur, von Bibel und deutschen Volkstum“.208
III. Die „religiöse Krisis“ 1. „Jenseits der Kultur“: Der Abschied von der modernen Theologie Bereits im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg war die „Krise“ zu einem allge meinen Deutungsbegriff der gesellschaftlichen und kulturellen Lage der Ge genwart geworden. Die wilhelminischen Kulturdebatten adressierten die Kri senhaftigkeit der Moderne vor allem als eine Krise der Religion und zugespitzt als eine Krise von Kirche und Theologie. Im Umfeld der Christlichen Welt war es neben Ernst Troeltsch besonders Arthur Bonus, der seit der Jahrhundert wende den Krisenbegriff zu einem Leitbegriff der weltanschaulichen und theo logischen Gegenwartslage erhob. Die religiöse Krise war eine Krise des Welt gefühls, dem es an Einheitlichkeit mangelte, sowie eine Folge des theologischen Historismus, der auf Anschauungen aus der Vergangenheit fixiert war. In Bonus’ Augen konnte der Protestantismus die elementaren Bedürfnisse der Ge genwart nach weltanschaulicher Synthese, nach Persönlichkeit und Seele nicht mehr erfüllen; seiner Wahrnehmung nach ließ sich sogar von einer „Protestan tismusmüdigkeit“ sprechen.209 Der „Aufschrei“ der Gebildeten richtete sich ge 207 Julius Burggraf: Goethepredigten, Gießen 1913, 22. 208 Ebd., 382; vgl. ähnlich die Bewertung Frenssens durch
Otto Baumgarten: Gustav Frenssens Glaubensbekenntnis, Kiel 1906, 10. 209 Bonus: Einige Anmerkungen zur religiösen Krisis, 1. Die Erlösung von der Persön
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
gen die Lebensverflachung der bürgerlichen Frömmigkeit, gegen Intellektuali sierung und historischen Relativismus und fand in den verschiedenen neureli giösen oder ästhetischen Bewegungen einen Ausdruck.210 Das „Aufwachen frischer Religion“ – Bonus zufolge eine der Grundbedingungen des Kulturfort schritts – spielte sich außerhalb der Kirche ab.211 Die Mehrheit der kulturprotestantischen Beschreibungen der religiösen Ge genwartslage unterschied zwischen einer wachsenden Unkirchlichkeit und ei ner sich im Bildungsbürgertum zunehmend deutlich artikulierenden religiösen Sehnsucht. Ähnlich wie in Bonus’ Analysen wurde auf eine generelle „Kluft zwischen Theologie und Gesellschaft“ verwiesen, wie etwa der Kirchenhistori ker Walther Köhler ausführte.212 Die Gegenwart als „Übergangsperiode“ war in seinen Augen durch eine „absolute Oppositionsstellung zu allem Kirchlichen“ gekennzeichnet, zumal in der jüngeren Generation der Gebildeten.213 Eine nach lassende Kirchenbindung wurde jedoch nicht mit einer generellen Reli gionslosigkeit gleichgesetzt. Die „religiöse Krise der Gegenwart“, so urteilte das Protestantenblatt, treffe den „Staatsglauben, Kirchenglauben, Buchglau ben“, nicht aber das Bedürfnis nach Formen religiöser Sinngebung an sich.214 Die Entfremdung betraf aus dieser Perspektive eher die institutionalisierten Landeskirchen und wurde zumeist mit deren Unwilligkeit begründet, sich der Moderne und ihren neuen sozialen, ästhetischen und intellektuellen Rahmenbe dingungen zu öffnen; ihr Konservatismus stellte ein Entwicklungshemmnis dar, das den einheitlichen Fortschritt von Kultur und Sittlichkeit bedrohte.215 Die Ansicht war verbreitet, dass die „Krisis im Protestantismus“ auf die Theo logisierung der evangelischen Verkündigung und auf ihren Gegensatz zu den Weltanschauungsbedürfnissen der Gegenwart zurückzuführen war: „Die Stim mung der Moderne ist jedenfalls des intellektualistischen Räsonnements müde. lichkeit, in CW 21 (1907), 513–519, 514; Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535, 1529. 210 Ders.: Der Katholizismus und der Aberglaube. Rezension eines ungedruckten Buches, in: Neue Rundschau 18 (1907), 834–841, 836. 211 Ders.: Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535, 1529. 212 Walther Köhler: Verlag Eugen Diederichs, in: PrBl 46 (1913), 404–407. 213 Ebd. 214 H. Lehmann: Entweder Mythus oder Religion. Ein Wort zur religiösen Krisis der Ge genwart, in: PrBl 47 (1914), 764–768. 215 Exemplarisch zu dieser kirchenpolitischen Wendung der Entkirchlichungsthese s. Wagen er: Die liberalen Unkirchlichen, in: PrBl 38 (1905), 424–425.435–43; sowie den vom Deutscher Protestantenverein zur verstärkten agitatorischen Arbeit gegen die Orthodoxie in- und außerhalb der evangelischen Landeskirchen lancierten „Aufruf“, in: ebd., (Beilage Nr. 37 v. 9.9.1905).
III. Die „religiöse Krisis“
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Sie sehnt sich nach Mystik, nach Geheimnis, nach ‚Erlebnissen‘.“216 Dement gegen wurde an der evangelische Kirche die „Erstarrung […] zu toten, bequem übersehbaren Formeln“ beklagt.217 Besonders das Protestantenblatt machte seit der Jahrhundertwende verstärkt darauf aufmerksam, dass „der Strom des reli giösen Lebens […] nicht mehr durch die Kirche fließt, sondern sich sein Bett daneben graben muß.“218 Ähnlich lauteten die Einschätzungen in den bildungs bürgerlichen Zeitschriften, die auf eine außerkirchliche, oft künstlerisch-ästhe tisch geprägte Weltfrömmigkeit hinwiesen: Wir finden, was an Religiosität im Volke vorhanden ist, nicht mehr in der Kirche, sondern sehen es, zum Beispiel, als Mystik oder Weltanschauungsidee in der Kunst sein Wesen trei ben […].219
Zugleich bestand weithin Einigkeit darüber, dass die Gegenwart als „Zeit neu erwachter religiöser Interessen“ zu betrachten war.220 Die kulturprotestanti schen Zeitschriften debattierten im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg verstärkt über eine erwachende „religiöse Bewegung“, die, wie die Mehrheit der Beobachter problematisierte, „heimatlos neben der Kirche“ stehen würde.221 Auch konservative Theologen wie der Erlanger Systematiker Richard Grützma cher oder der Berliner Dogmenhistoriker Reinhold Seeberg wiesen auf die sich neu formierenden Religionsbestrebungen hin, die sie als eine außerkirchliche Bewegung verstanden.222 Umstritten war, inwieweit die Neubelebung religiöser Bedürfnisse der Kirche zugute kam. Diese Beobachtungen spiegelten sich in der Diskussion um Bonus’ religiöse Thesen wider. In zahlreichen Rezensionen in- wie außerhalb kirchlicher Zeit schriften wurde Bonus um 1910 als ein führender Vertreter einer neuerwachten 216
Eberlein: Zur religiösen Krisis im Protestantismus, in: PrBl 45 (1912), 573–577.597– 601.627–630, 598. 217 Francke: Albert Kalthoff, in: PrBl 39 (1906), 486–491, 489 (Rez. zu A lbert K althoff: Die Religion der Modernen, Jena 1905). 218 P. Koch: Moderne Theologie des Alten Glaubens, in: PrBl 40 (1907), 243–246.273– 276, 243 f. 219 K arl Scheffler: Religiöse Ideale, in: Neue Rundschau 20 (1909), 818–835, 821. 220 W. Gebhardt: Die Aussichten der Volkskirche, in: PrBl 39 (1906), 51–54. 221 Dietrich Graue: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51–53. 75–78. 222 R ichard Grützmacher: Moderne Religiosität und Kirche, in: Der Tag 31.12.1913 (Rubrik: Zeit- und Streitfragen). Grützmacher verwies auf den Diederichs-Verlag und be sprach die konservativ-apologetischen Schriften E. H aack: Warum hat die Kirche von dem Neuerwachen des religiösen Interesses bisher so wenig Gewinn gehabt?, Schwerin 1913; G. Hilbert (Hg.): Ersatz für das Christentum!, Leipzig 1913; R einhold Seeberg: Religion und Geschichte, Leipzig 1906, V: es gebe eine „religiöse Bewegung, die heute wieder weitere Kreise unseres Vaterlandes zu ergreifen scheint“.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Frömmigkeitsrichtung am Rande des liberalen Protestantismus wahrgenom men. Für das Protestantenblatt war er ein „religiöser Pfadfinder“, dessen Deu tungen des schöpferischen religiösen Erlebens frei von „kirchlichen und theolo gischen Schlagworten“ der modernen Glaubensnot zu Hilfe kamen.223 Für den dem Friedrichshagener Kreis angehörenden Schriftsteller Julius Hart gehörte Bonus zu den „modernsten, Radicalsten“ unter den zeitgenössischen Theolo gen, dessen Werk auf eine „neue religiöse Gestimmtheit“ hindeutete, die über das kirchliche Christentum hinauswies.224 Auf dem Boden seiner Religions theorien erwachse die „Zukunftsreligion“, die „das Unnatürliche, Weichliche, Gekünstelte“ hinwegfege, das dem „offiziellen Christentum“ anhafte, so Das neue Jahrhundert.225 Aufgrund seiner Religionsanalysen, die Krisenstimmung und Neukonstruktion miteinander verbanden, gehöre Bonus zu den „genialsten Schriftstellern unserer Zeit“.226 In den Religionsdebatten nach der Jahrhundertwende ließ sich eine Schwer punktverschiebung beobachten, die sich auch auf die Einschätzung von Bonus’ publizistischen Äußerungen auswirkte und die sich in den zahlreichen Rezen sionen und Verweisen auf seine religiösen Überlegungen niederschlug.227 Insge samt gewannen religiöse Fragen im Spannungsverhältnis zur Kultur an Publizi tät, wobei nicht mehr nur eine komplementäre Beziehung zwischen christlicher Sittlichkeit und kulturellem Leben, sondern zunehmend der Abstand zwischen Kirche und moderner Weltanschauung verfolgt wurde. Die Diagnosen zur Fort schrittsfähigkeit des „Staatprotestantismus“ erschienen immer skeptischer.228 Zunehmend geriet aber auch die liberale Theologie insgesamt in die Kritik, die angestrebte Modernisierung des Protestantismus nicht abschließen zu können. An die Stelle der liberaltheologischen Reflexionskultur sollte ein entschiedenes „Neu-Christentum“ gesetzt werden, das sich ohne Vorbehalte der Moderne öff nete und bereit war, entschieden mit der Bekenntnistradition zu brechen.229 223
A lfred König: Rez. Religion als Schöpfung, in: PrBl Nr. 49 (1909); ähnlich bereits Thomas Achelis: Religiöse Probleme, in: PrBl 2 (Nr. 43 v. 25.10.1902) [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. 224 Julius H art: Zur Germanisierung des Christentum, in: Der Tag, 14.2.1912 [ebd.]. 225 Das neue Jahrhundert 10.11.1912 [ebd.]. 226 So der Tenor zweier Rezensionen von O. H achtmann: Bonus. Vom neuen Mythos, in: Literarisches Zentralblatt (Nr. 22, 1912); ähnlich in: Grenzboten (Nr. 37, 1912), Rubrik: Phi losophie [ebd.]. 227 Das bestätigen die vom Eugen-Diederichs-Verlag gesammelten Rezensionen und Kur zanzeigen der entsprechenden Bonus-Veröffentlichungen [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. 228 Bonus: Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535, 1529. 229 Faut: Neu-Christentum, in: PrBl 43 (1910), 88–91; in ähnlichem Duktus auch: Die-
III. Die „religiöse Krisis“
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onus brachte diese Forderung nach der Jahrhundertwende mehrfach zur Spra B che, die für ihn vor allem eine Überwindung des theologischen Historismus beinhaltete. Eine Absage an die moderne Theologie formulierte er beispiels weise 1913 in Gottfried Traubs Christlicher Freiheit. Hier war es die von den kulturprotestantischen Kulturtheorien bestimmte Überzeugung von der lang samen, geschichtlichen Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaft, Kirche und Christentums, die als Ideal überwunden zu sein schien. Das liberal-idealistische Fortschrittsdenken war in Bonus’ Augen nicht entschieden genug auf den Welt anschauungswandel der Moderne ausgerichtet: Das ist als wenn ein Kanonier die zweifellos richtige Beobachtung macht, daß auch seine höchsten Bomben zu ebner Erde einschlagen und daraus die Moral ziehen wollte, daß man die ebene Erde entlang zielen müsse. Die moderne Theologie beobachtet einerseits, wie au ßerordentlich langsam die Dinge sich umbilden und statt daraus die Folgerung zu ziehen: selbst bei starker Anstrengung geht es schwach voran, wie stark also müssen wir uns anstren gen, damit es schneller gehe, zieht sie die entgegengesetzte Folgerung: ruhig Blut, es geht doch nur langsam! Man erreicht nur ein Zehntel des Gewollten, wollen wir also von vorn herein lieber nur ein Zehntel. – Man wird dann nur noch ein Hundertstel erreichen.230
Eine solche Theologiekritik war vor dem Ersten Weltkrieg zumeist unterhalb der akademischen Diskussionen um eine Unterscheidung zwischen Alt- und Neuprotestantismus angesiedelt.231 Sie war eng verwandt mit den Kulturdebat ten um eine moderne deutsche Kunst, um Neuromantik, Entwicklung und vita listische Lebendigkeit und zielte auf eine entschieden moderne Christentums form. In ihr äußerte sich eine Enttäuschung über das Christentum, die durchaus nicht nur von Vertretern einer außerkirchlichen Religionsreform vorgebracht wurde. Zahlreiche Gemeindepfarrer und Laien waren an diesen überwiegend in Bildungszeitschriften, kirchlichen Kleinschriften und Broschüren und an den Rändern der kulturprotestantischen Verbände um die Christliche Welt und den Protestantenverein geführten Auseinandersetzungen beteiligt. Diese formier ten sich um eine publizistisch hochaktive Gruppe von Theologen, die sich als Repräsentanten einer kirchlichen Radikalopposition verstehen lassen. Der Christlichen Welt zufolge zeichnete sich um Bonus eine Neuorientierung, sogar trich Graue: Protestantismus, in: ebd., 42 (1909), 899–904 sowie der Berichtsartikel: Was tut not? Ein Gruß dem Bremer Protestantentag, in: ebd., 919–922. Zur Analyse vgl. Graf: Kul turprotestantismus, 52 f. 230 Ebd. Ähnlich lautete schon ein Jahrzehnt zuvor seine Kritik: Die moderne Theologie wirke „komisch“ wie ein Mensch, der zum Schlag ausholt, aber die Geste nicht ausführt und dadurch in der Luft hänge, vgl. ders.: Randglossen zu Rohrbachs ‚Im Landes Jahwehs und Jesu‘, in: Allgemeine Zeitung 104 (Nr. 76 v. 3. April 1902) Beilage. 231 Vgl. zu dieser vorrangig auf Ernst Troeltsch zurückzuführenden theologiegeschichtli chen Typisierung Graf: Kulturprotestantismus, 52 f.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
ein „neuer Glaube“ in der protestantischen Theologie ab.232 Eugen Diederichs sah nach den Aufbrüchen der Jahrhundertwende mit Bonus die „zweite Welle“ einer modernen Alternativbewegung heranrollen, die im protestantischen Kom munikationszusammenhang die Bestrebungen einer bildungsbürgerlichen „va gierenden Religiosität“ einzufangen suchte. Die „modernistische Seite des Pro testantismus“ wurde in seinen Augen durch die jeweils divergierenden Entwür fe von Bonus, Karl König, Gottfried Traub, Max Maurenbrecher, Carl Jatho verkörpert, zudem die Schweizer Religiösen Sozialisten Hermann Kutter und Leonhard Ragaz.233 Der Diederichs-Verlag bot diesen literarisch-religiösen Be strebungen vorrangig Beheimatung; sie verbanden sich aber auch eng mit der Christlichen Welt und ihren regionalen Freundeskreisen, dem Protestantenblatt oder der von Gottfried Traub herausgegebenen Christlichen Freiheit. Die sich hier formierende religiöse Avantgarde wollte sich jenseits von allen kirchenpolitischen Fraktionierungen als Neuerungsbewegung positionieren.234 Diederichs’ regsame Unterstützung eines weltanschaulichen Rebellentums ver half diesen oppositionellen Theologen zur Publizität und zur profilierten An erkennung als einer kirchlichen Gegengruppe. Es waren aber vorrangig die liberaltheologischen Positionen und ihre Netzwerke, die ihnen einen Resonanz raum ermöglichten. So umriss etwa das Protestantenblatt eine „Gruppe ge meinsamer kritischer Einsichten und religiöser Wertungen“, die im Ringen um religiösen Individualismus, Entwicklungsdenken, undogmatische Offenheit so wie der Ablehnung von jeglichem bekenntnismäßigen Zwang über die traditio nelle Kirchlichkeit hinausdränge und auf einen „Neu-Protestantismus“ hinstre be.235 Der bisherige Liberalismus wurde als unzureichendes „Flickwerk“ an einzelnen christlichen Anschauungsweisen und Formulierungen empfunden.236 Ehemals protestantische Religionstheoretiker wie Max Maurenbrecher steiger ten diese Überlegungen in einen Überbietungskampf, indem sie angesichts einer fundamentalen Weltanschauungskrise auch die reformorientierten Forde 232 H ans Pöhlmann: Die deutsche Theologie auf dem Berliner Weltkongreß, in: CW 25 (1911), 198–203, 199 f.; Constantin von Zastrow: Diesseits und Jenseits, in: CW 27 (1913), 458–467, 465. 233 Diederichs: Lebensaufbau, Manuskript 1921, 153; ders.: Stirb und Werde, Jena 1929, 15 f. Vgl. K roeger: Gogarten, 99 f. 234 Vgl. K roeger: Gogarten, 99. 235 Eberlein: Zur religiösen Krisis im Protestantismus, in: PrBl 45 (1912), 573–577.597– 601.627–630, 573. Zum Begriff des „Neuprotestantismus“ und seinen ideologisch-synkretis tischen Verformungen im polemischen Feld der Auseinandersetzungen bis in die 1920er Jahre s. Graf: Kulturprotestantismus, 44–57; zur Konturierung des Begriffs aus Sicht der modernen Theologie im Sinne der Christlichen Welt vgl. Horst Stephan: Die heutigen Auf fassungen vom Neuprotestantismus, Giessen 1911. 236 Faut: Die neue Weltanschauung und der alte Glaube, in: PrBl 42 (1909), 656–659.
III. Die „religiöse Krisis“
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rungen eines „‚Neu-Protestantismus‘ oder ‚Frei-Protestantismus‘“ für un genügend hielten. Maurenbrecher lehnte die Ineinanderziehung einer „protes tantischen Kultur“ rundweg ab, um gänzlich jenseits kirchlich-religiöser Vor stellungsbedingungen den „Wille[n] zu einer höheren und edleren Form des Menschen“ zum Ziel eines diesseitigen Fortschrittsdenkens zu erklären.237 Die monistisch-freidenkerische Verheißung, dass in der Moderne „etwas grundsätz lich Neues“ aufscheine, wurde von den liberalprotestantischen Neuerern frei lich nicht kritiklos übernommen; dass ein reines „Umdeuten“ der historischen Überlieferungen des Christentums nicht ausreiche, wie Maurenbrecher behaup tete, wurde aber durchaus als Problem empfunden.238 Auch im Umkreis der Christlichen Welt ließ sich dieser Oppositionsdiskurs abbilden, in dem die Unklarheit und Idealarmut der modernen beklagt wurde. Zwar provozierten Äußerungen wie die Maurenbrechers scharfe Widerlegun gen; so notierte Harnack wütend, dass dem Protestantismus wohl kaum „vom Geschwätz der Journalisten und den Abstimmungen der Masse“ der Toten schein ausgestellt werden würde.239 Den Erneuerungsmöglichkeiten der refor matorischen Traditionslinien wurde ein eher optimistisches Zeugnis ausgestellt. Aber es wurde auch ihre Kompromisshaftigkeit als Ärgernis empfunden, mit unter auch als ein mutloses Hängenbleiben in den landeskirchlichen Institutio nen. Eine entschiedenere Umsetzung der modernen Theologie würde den neuen mystischen Strömungen und dem Ruf nach religiöser Diesseitigkeit über das gegenwärtige Christentum hinausweisend zu ihrem Recht verhelfen.240 Darin äußerte sich enttäuschte „Laienkritik“ an der kirchenpolitischen Lethargie der Liberalen, zu deren Wortführer über den Kreis der Christlichen Welt hinaus beispielsweise der gut vernetzte Amtsgerichtsrat Constantin von Zastrow wur de.241 Aber auch Pfarrer brachten ihre Frustration über die Inkonsequenz und 237
M ax M aurenbrecher, Protestantische Kultur?, in: Noris 5 (1912), 14–20, 15. Maurenbrechers Ausführungen stellten die Antwort auf eine Umfrage des Her ausgebers Hans Pöhlmann dar; vgl. zur Einschätzung auch Pöhlmanns Kommentar: Chronik, in: ebd., 89–100, 95–98: Maurenbrechers „Neuprotestantismus“ sei in seinen Kultur- und „Menschheitszielen“ doch mit den freiprotestantischen Anliegen eng verwandt, unterscheide sich allerdings streng durch den Verzicht auf den Offenbarungsglauben „des großen, persön lichen, lebendigen Vatergottes“. Maurenbrechers Ausführungen führten in eine Kontroverse mit Adolf Harnack, der die Umfrage ebenfalls beantwortet hatte und gegen Maurenbrecher die christlich-antike Fundierung aller abendländischer Kultur zu verteidigen suchte (Protes tantische Kultur, in: ebd., 4–8). 239 A dolf H arnack: Protestantische Kultur und Dr. Max Maurenbrecher, in: CW 26 (1912), 2–8, 8. 240 Zwei Briefe, in: AdF Nr. 23 (4. April 1908), 225–230, 228–229. 241 Zastrow erhielt die Gelegenheit, seine Kritikpunkte während der Eisenacher Tagung der Freunde vom 6. bis 8. Oktober 1908 vorzustellen (vgl. R ades Bericht: Eisenach 1908, in: ebd., Nr. 25 (28. Oktober 1908), 242–248, 244–246; und den Abdruck von Zastrows Vortrag: 238 Ebd.
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die organisatorische Zersplitterung der liberaltheologischen Traditionen zum Ausdruck, ebenso wie das Bedürfnis nach diskursiver Eindeutigkeit: „Heraus mit der Sprache! Ihr bezeichnet euch selbst als moderne Theologen; nun seid es auch wirklich im vollen Licht der Öffentlichkeit!“242 Ähnlich war in der Christlichen Welt von einer protestantisch-oppositionellen „Partei der Jüngeren“ die Rede, welche die liberale Theologie als „zu historistisch“, „zu gedankenmäßig“ und „zu moralistisch“ zu überwinden suchte.243 Hinzu trat eine sich verstärkende kritische Bewertung von religiösen Fragen im kulturellen Zusammenhang, die sich irritierend auf das Vermittlungsideal der Versöhnung von Christentum und Kultur auswirkten. Ernst Troeltsch veröf fentlichte 1906 seinen differenzierenden Überblick über „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“.244 Zeitschriften wie Theophil Stein manns Religion und Geisteskultur adressierten ab 1909 die Rolle der religiösen Persönlichkeit in den Kulturbezügen der Moderne. Ausdrücklich als „Problem“ behandelte Wilhelm Bousset den Zusammenhang von moderner Kultur und Re ligion 1911 auf dem 25. Protestantentag in Berlin. Eine in die versittlichende „Kulturarbeit“ führende Gegenüberstellung von Religion und Kulturleben wur de ebenso 1911 auf der Versammlung der süddeutschen Freunde der Christli chen Welt in Basel verhandelt.245 Anstelle des sittlich-religiösen Verbindungs ideals trat die Kritik an der „Kulturseligkeit“ der modernprotestantischen Vor gänger und die Unabhängigkeit der Religion in ihrer Grunddifferenz zur Kulturwelt in den Fokus.246 Wiederholt sahen sich gerade Funktionäre des Pro Die Theologie der Christlichen Welt in Laienbeurteilung, in: ebd., Nr. 27 (8. Februar 1909), 257–270). Vgl. Landgerichtsrat Clausius: Laienkritik, in: Christliche Freiheit 24 (1908), 680– 682.693–696, 693 f.; Meyer-Hermann: Was nun?, in: ebd., 25 (1909), 39–43. Rade hielt sein Umfeld über die Debatte informiert, vgl.: Zu dem Vortrage v. Zastrows, in: AdF Nr. 26 (20. November 1908), 256; zum Zusammenhang vgl. die Schilderung bei R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 221–223. 242 Dietrich Graue: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51–53. 75–78, 75 f. 243 Julius Sammetreuther: Mystik, in: CW 27 (1913), 1039–1042, 1039 f. 244 Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Paul Hinneberg (Hg.): Die christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion, Berlin 1906, 253–458 (Die Kultur der Gegenwart) (kritische Edition: KGA 7). 245 So die Thesen von Johannes H auri: Religion und Kultur, in: CW 25 (1911), 346–347, die auf die Kulturdistanz des Urchristentums rekurrierten. 246 Wilhelm Bousset: Die Religion als Kulturmacht, in: 25. Deutscher Protestantentag 4. bis 6. Oktober 1911 in Berlin. Reden und Debatten, Berlin 1911, 21–34; vgl. die Diskus sionsbeiträge von Otto Baumgarten und Gottfried Traub, ebd., 36–40. Affirmierend war da gegen der Beitrag samt Thesenreihe von Paul Kirmß angelegt, der die sittlichen Persönlich keitskräfte des Christentums einforderte, um den ethischen „Kulturzweck“ des Reiches Got tes erreichen zu können (ebd., 10–21).
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testantenvereins nach der Jahrhundertwende genötigt, zu erklären, dass es ih nen nicht um eine kritiklose Synthese zwischen Christentum und der „bloß äußerlichen Zivilisation“ der Gegenwart ging, sondern um „Entwickelung des Seelenlebens“.247 Jeglicher „Kultur-Größenwahn“ als Vergötzung der zivilisato rischen Errungenschaften wurde bestritten.248 In Bonus’ Umfeld wurde allerdings grundlegender und mit einem etwa von Nietzsche beeinflussten Pessimismus auf eine Distanznahme gegenüber der zeitgenössischen kulturellen Lage gedrungen, die in ihren Kernanschauungen als flach, wertlos und zerfasert galt. Noch als Vertreter des Protestantenvereins hatte beispielsweise Albert Kalthoff die Gegenwartskrise als ein „tiefes Unbe friedigtsein“ am Materialismus und der gestelzten Oberflächlichkeit der zeit genössischen Kultur zum Ausdruck gebracht.249 Bonus selbst empfahl eine reli giöse Fundamentalkritik, die einen „Standpunkt jenseits der Kultur“ einnehmen müsse, um zu entwicklungskräftigen Anschauungen über die hohlen Kompro misse des Gegenwartschristentums vorzudringen.250 Hier wirkten sich die bil dungsbürgerlichen Krisendiagnosen aus, die einerseits zwar konstruktiv den Willen zu Neuem betonten, in den bestehenden Strukturen aber eher Verfallser scheinungen ausmachten. Die wilhelminische Verbindung von Kirche und Kul tur würde eine überholte Weltanschauung festigen und „eine heruntergekomme ne, kleinlich gewordene und in dieser Mittelmäßigkeit und Schwächlichkeit als heilig und vorbildlich gepriesene Kultur von gestern“ zementieren.251 Hier for mulierte er eine deutliche Absage an herkömmliche kulturprotestantische Orien tierungen, verschärfte sie zudem, indem er ein grundsätzliches Spannungsver hältnis zwischen der bürgerlichen Normalkultur und dem auf Zukunft und Schöpfung ausgerichteten Inneren des wahrhaft Religiösen aufwies: Die wirk lich lebendige Religion griff schöpferisch über den bürgerlich-protestantischen Wertekanon hinaus; sie besaß eine grundlegende „Tendenz zur Kritik“ des Be stehenden und gehörte auf die zukünftige, gestaltende Seite der „wachsenden Kultur“. Aus diesem Grunde konnte Bonus zu dem Gesamturteil kommen, dass die Gegenwart „eher an zuviel Kultur in der Religion“ leide.252 247
Heinrich Geffcken: Was fordert die moderne Gemeinde von ihrem Pfarrer?, in: PrBl 40 (1907), 1179–1186.1201–1208.1232–1237, 1182; Gebhardt: Christentum und Kultur, in: ebd., 38 (1905), 88–89.98–99. 248 A lfred König: Natur und Kultur in ihrer Wirkung auf den Menschen mit besonderer Berücksichtigung dörflicher Verhältnisse, in: PrBl 42 (1909), 1010–1015.1034–1040.1079– 1083.1102–1105, 1103. 249 K althoff: Zarathustra-Predigten, Jena 1904, 1. 250 Bonus: Friedrich Nietzsche †, in: CW 14 (1900), 1045–1048, 1047; vgl. ähnlich: Sollen die Gemeinschaften in der Kirche bleiben?, in: ebd., 22 (1908), 1064–1067. 251 Ders.: Die Kirche, 67. 252 Ebd., 407.
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Der Ruf nach einer wirkmächtigeren Zuspitzung über den protestantischen Liberalismus hinaus war also kein Sondergut, das sich nur bei Arthur Bonus finden ließ. Im Gegenteil hatte sich um 1910 eine „Phalanx“ von religiösen Kri tikern geformt, die nach „freierem Glauben“ suchten und denen das institutio nell gefestigte Verständnis von Theologie und Kirche nicht mehr ausreichte.253 Wenn in den bildungsbürgerlichen Religionsdiskursen ein „Zukunftsglaube“ gefordert wurde, ließ sich einerseits die Gefahr der „Schwärmerei“ nicht leug nen; gleichzeitig bestand für modernprotestantische Theologen wie etwa Arthur Titius eine Gemeinsamkeit darin, als „Suchende“ neue Formen in der religiösen Krise des Christentums anzustreben.254 In der Ausrichtung auf eine moderne Weltsicht schienen von der bürgerlichen Reformbewegung und den protestan tisch Liberalen verwandte „Kulturziele“ verfolgt zu werden.255 Die „Weiter bildung des Christentums“ wurde hier zu einem Schlagwort, das eine Diagona le durch die bildungsbürgerlichen Religionsdiskurse hindurch herstellte.256 Der außerkirchlichen und freireligiösen Kirchenkritik entsprach im kultur protestantischen Umfeld die Forderung, „für die neue Zeit eine neue Religion“ auf dem Boden des Christentums zu schaffen.257 Dahinter stand die Erwartung einer gleichsam post-liberalen Theologie, welche an die unvollendet gebliebe nen Aufgaben der modernen Theologie anknüpfen würde: Kann die [i.e. eine moderne Frömmigkeit] die moderne Theologie nicht geben, so ist ihre Mission gewiß gottgewollt, zur Klärung der Anschauung von der Religion, zur Beseitigung vieler Hindernisse und Anstöße in der Tradition, um Bahn zu schaffen – aber es muß nach ihr eine neuere, eine stärkere religiöse Erkenntnis kommen, die nun Leben schafft, wo der Raum für das Leben geschaffen ist! Und sie kommt! Sie ist schon vor der Tür! Sie wird auch die Liberalen ergreifen! Sie werden ihre Träger sein!258
Solche Erwartungshorizonte erklären die teilweise faszinierte, teilweise schwär merische Reaktion auf Bonus’ religiöse Äußerungen. Das Protestantenblatt er 253
H ans Pöhlmann: Chronik, in: Noris 5 (1912), 89–100, 90 f. A rthur Titius: Der Bremer Radikalismus, Tübingen 1908, 24. 255 Am Beispiel des hochumstrittenen Monistenbundes: G. Wagener: Monistenbund und Protestantenverein, in: PrBl 41 (1908), 20–23; W. Fresenius: Monistenbund und Protestanten verein, in: ebd., 68–70. 256 So Arthur Drews in der Diederichs-Festschrift: Im Zeichen des Löwen, Leipzig 1927, 119. A dolf Deissmann (Hg.): Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion, München 1905 (mit Beiträgen führender modernprotestantischer Autoren, nämlich Deiss mann, Gunkel, Herrmann, Traub, Wobbermin, die bis zum Ersten Weltkrieg auch einzeln erschienen); aus dem Kontext der Babel-Bibel-Debatten um Friedrich Delitzsch vgl. Paul Schwartzkopff: Die Weiterbildung der Religion. Ein Kaiserwort, Schkeuditz 1903; Friedrich Delitzsch: Zur Weiterbildung der Religion, Stuttgart 1908. 257 Faut: Die neue Weltanschauung und der alte Glaube, in: PrBl 42 (1909), 656–659. 258 Der politische Liberalismus und die Religion, in: PrBl 41 (1908), 1100–1102, 1102. 254
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klärte Bonus zu einem Propheten, bei dem sich aufgrund seiner zuversichtlichen Prognosen zum neuen Mythos der Glanz einer „neuen Morgenröte“ abzeichne: „Ach, wenn wir mehr Propheten hätten, die die religiösen Fragen im Frühlicht sehen.“259 Der Krisendiagnostiker Bonus wurde hier zugleich zum Krisenüber winder erklärt, weil er die Konturen der kommenden Frömmigkeit zu benennen vermochte. Auch der Kreis der Christlichen Welt reagierte auf den Anspruch, die Kir chenkrise der Gegenwart durch eine Weiterführung der modernen Theologie zu lösen. Prägnant wies ein 1910 vor den süddeutschen ‚Freunden der Christlichen Welt‘ gehaltener Vortrag Friedrich Rittelmeyers auf das gesellschaftliche Un vermögen der modernen Theologie hin, die dieser darauf zurückführte, dass ihr ein positives Ideal fehlte. Sie erschien zu eng mit der bürgerlich-akademischen Welt verbunden, zu spezialisiert und zu theoretisch ausgerichtet, vor allem schien ihr eine praktische, wahrhaft religiöse Orientierung zu fehlen.260 Die „Schwäche“ der modernen Theologie lag für Rittelmeyer in ihrem Anspruch, sich in ihrem Kultur- und Bildungsstreben verweltlicht zu haben, man sei viel zu „matt und zu höflich“. Gegen eine solchermaßen als bieder verstandene Kul turreligion machte sich ein „wahrhaft elementarer Schrei nach Besserem, Höhe ren, Dauernderem in den Menschen unserer Zeit vernehmbar“.261 Mehrfach wurde in den von Martin Rade verantworteten Zeitschriften das Gefühl der Überalterung angesprochen und von jüngeren Theologen ein Bedürfnis nach Lebensreform, elementarem religiösem Fühlen und neuem Denken zum Aus druck gebracht. „Wir sind zum Ueberdruß mit Worten und Gedanken gesättigt, uns dürstet nach Leben,“ erläuterte ein Theologiestudent sein Distanzgefühl gegenüber der modernen Theologie.262 In diesen zu teilweise radikaler Kulturund Theologiekritik bereiten Vorkriegsdiskursen zeichneten sich Leitgedanken ab, die wirkungsvoll von den Krisentheologien der zwanziger Jahre aufgenom men wurden. Für Rittelmeyer eröffnete nur ein neuer Glaube an das Schöp fungshandeln Gottes den Weg aus der „Krise“ der kirchlichen Gegenwart: „denn wir können nichts tun, Gott muß es tun.“263 259 W.
Köppel: Rez. Die religiöse Krisis, in: PrBl 46 (Nr. 23 v. 4.6.1913), 634–635 (Litera rische Beilage) [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. 260 Friedrich R ittelmeyer: Was fehlt der modernen Theologie?, in: CW 24 (1910), 1034– 1043. 261 Ebd., 1042 f. 262 Unsere jungen Leute, in: AdF (Nr. 35 v. 10.2.1911), 387–388, gedruckt als anonyme Zuschrift auf die Klage Rades, dass sich zu wenige Vertreter der jüngeren Theologengenera tion und der Theologiestudenten in der Christlichen Welt zu Wort melden würden. 263 Friedrich R ittelmeyer: Was fehlt der modernen Theologie?, in: CW 24 (1910), 1034– 1043, 1041; die Christliche Welt unterscheide sich sonst kaum von der „humanistischen reli giösen Reformbewegung“.
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Martin Rade äußerte 1910 gegenüber Bonus seine Befürchtungen, dass sich der von diesem eingeschlagene Kurs von den gemeinsamen Ursprüngen und den Anliegen der Zeitschrift verabschiedet habe. Bonus’ Antwort ist aufschluss reich, denn sie zeigte zum einen, dass er sich einer erkennbaren Gruppe von protestantisch-liberalen Emigranten zugehörig fühlte, die ein Wir-Gefühl be saßen und sich von der modernen in ihren religiösen und kulturellen Zielvorstel lungen abheben wollten.264 Sie zeigte aber zweitens, dass die von der Christ lichen Welt angesprochene protestantisch-liberale Debattenlage der primäre Bezugsrahmen blieb, auf den sich seine Äußerungen bezogen. Die „Zumutung unsers Bekenntnisses“, so Bonus, sollte die von der Christlichen Welt repräsen tierte Leserschaft zwingen, entschieden die kirchlichen und religiösen Konse quenzen eines modern empfundenen Christentums umzusetzen. Eine Lossa gung vom intellektuellen Zusammenhang mit der Zeitschrift war damit nicht intendiert, vielmehr ging es um die kompromissfreie Fortsetzung der modernen Theologie und ihrer Problemlagen: „Oder soll man aufhören, über Eure Dinge in anderer Sprache und gewiß auch innerlich anderer Wendung dennoch zu sprechen?“265 Die moderne Theologie wurde also bereits in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur Projektionsfläche, gegen die sich angesichts der religiösen Krisendiagnosen die Notwendigkeit einer grunderneuerten religiösen Sprache abheben ließ. Ernst Troeltsch zufolge bildete sich vorrangig im Diederichs-Um feld eine „völlig freie literarisch-künstlerisch-philosophische Produktion“ her aus, die sich nicht in das orthodoxe oder das liberale Lager einteilen, sich aber durch ein energisches Reformbewusstsein zusammenfassen ließ.266 Bonus stell te in diesem Kreis religiöser Zukunftserwartungen eine Leitfigur dar. Seine kir chen- und theologiepolitischen Zielvorstellungen repräsentierten zunehmend die Vorstellungen einer religiösen Oppositionsgruppierung, verblieben aber an der Schnittstelle zu den kulturprotestantischen Debatten.
2. Jatho, Traub und die „Geheimreligion der Gebildeten“ Die Krisenhaftigkeit der religiösen Lage und Kritik am amtlichen Protestantis mus erhielt durch zwei aufsehenerregende „Fälle“ im deutschsprachigen Protes tantismus 1911 und 1912 neue Nahrung. Die altpreußische Generalsynode hatte 264
Brief Bonus an Rade, 10.4.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_007]. Bonus rechnete sich ausdrücklich unter die „fuorusciti“ der Zeitschrift. Gegenüber Rade betonte er seine kontinuierliche gedankliche Entwicklung als einer, „der von Euch ausgegangen ist und sich bewußt ist, ehrlich und im Innersten sich gleich geblieben zu sein“ (ebd.). 265 Ebd. 266 Ernst Troeltsch: Religion, in: David Sarason (Hg.): Das Jahr 1913, 533–549, 546 f.
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1910 ein von liberaler Seite mit heftiger Kritik aufgenommenes „Kirchengesetz, betreffend das Verfahrung bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen“ erlas sen, das 1911 bei dem Kölner Pfarrer Carl Jatho seine erste Anwendung fand und mit seiner Amtsenthebung endete, weil seine Predigten als mit dem „Be kenntnis der Kirche […] unvereinbar“ beurteilt worden waren.267 Der bereits fragmentierte Protestantismus wurde durch diese Vorgehensweise noch weiter polarisiert. Das verstärkte sich, als 1912 mit Gottfried Traub, dem Verteidiger Jathos, eine weitere hochbekannte Persönlichkeit des kirchlichen Liberalismus von einer disziplinarischen Maßnahme betroffen war. Die Amtsenthebungen wurden zur Hintergrundfolie, an der sich scharfe kir chenpolitische Protesthaltungen zum Ausdruck bringen ließen. Jatho und Traub wurden zu Opfern für das Aufwachsen einer neuen, zeitgenössischen Religiosi tät innerhalb der Kirche stilisiert. So verglich Friedrich Naumann Traub in ei nem Trostbrief mit den ungehörten biblischen Propheten: „[…] also haben sie behandelt die Propheten, die vor uns gewesen sind.“268 Die Fälle galten als Indi zien für ein einschränkendes gesellschaftliches Gesamtklima, das auf der Un terdrückung einer modernen Fortschrittsgesinnung durch Kirche und Staat zu beruhen schien. Für Bonus verwies das Vorgehen gegen Jatho auf die „Kern fragen“ einer sich entwickelnden religiösen Kultur; für Eugen Diederichs for mierte sich hier viel zu langsam ein möglicher Widerstand gegen die „Zwangs gültigkeit“ der kirchlichen Lehren, den er zu verstärken beabsichtigte.269 Man brauche „Märtyrer, wenn die religiöse Frage vorwärts kommen soll“, kommen tierte er während des Prozesses.270 Für seine kulturkritische Stimmung über den kirchlichen Liberalismus hin aus hatte Bonus in Eugen Diederichs den berufenen publizistischen Unterstützer gefunden. Dieser versuchte, verstärkt vor dem Hintergrund der innerprotestan tischen Spannungen die Religionsintellektuellen am freien Flügel des Protestan tismus gegen den Amtsprotestantismus zu aktivieren. Dabei hegte er umfäng liche kulturpolitische Zielvorstellungen, für die er den Schulterschluss mit dem 267 Ernst R. Huber /Wolfgang Huber (Hg): Staat und Kirche von der Beilegung des Kul turkampfes bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin 1983, 759–761; Aktenstücke zum Fall Jatho, Köln 1911; zur öffentlichen Debatte vgl. Gustav von R hoden: Der Kölner Kirchen streit. Pfarrer Jathos Amtsentsetzung im Lichte der öffentlichen Meinung, Berlin 1911. 268 Zitiert aus: Ernst Brinkmann: Die evangelische Kirche im Dortmunder Raum in der Zeit von 1815 bis 1945, Dortmund 1979, 117. 269 Brief Bonus an Diederichs. 20.2.1911 und Briefe Diederich an Bonus, 13.12.1910 und 23.2.1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. 270 Brief Diederichs an Bonus, 27.2.1911 [ebd., 06_005]. Ganz ähnlich äußerte sich Fried rich Gogarten gegenüber Bonus: „Der Entscheid im Fall Jatho freut mich fast, da er ehrlich die Lage zeigt. Wenn nur weitere Fälle kämen, damit die Lage noch klarer würde.“ (Brief Gogarten an Bonus, Heidelberg 26.6.1911 [ebd., 01_061.01]).
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freien Protestantismus suchte. Ein entschiedener „Reformprotestantismus“ konnte eine institutionslose Religion für die Moderne vorbereiten.271 Das traf im Umfeld von Bonus auf Zustimmung, wo eine „Weiterentwicklung des Protestan tismus ohne Mitwirkung des Kirchenregiments“ als Ideal geteilt wurde.272 Diederichs hatte schon in den Vorjahren mehrfach publizistische Stimmung gegen den konservativen Protestantismus zu erzeugen versucht. Diese Maßnah men versandeten jedoch, ohne eine wirksame Bewegung im Protestantismus auslösen zu können.273 Für Diederichs stand es außer Frage, dass die derzeitige Lage der evangelischen Landeskirchen auf eine theologische Wende hindräng te, denn es „brennt“ und der „Protestantismus hat gar keine Zeit zu verlieren“.274 1908 hatte Diederichs mit Unterstützung Rades eine Umfrage inszeniert, um zugunsten einer ungebundenen Bildungsreligion gegen die Erstarrung des Kir chentums zu fechten.275 Ausdrücklich verfolgte er dabei „kirchenpolitische Plä ne“, wie er Martin Rade schrieb, um die „Würde der Religion“ zu erhalten, die er durch ihre staatlich-institutionelle Umklammerung für gefährdet hielt.276 Die „lau“ gewordene Öffentlichkeit sollte auf das Mißverhältnis von Kirche, Staat und Bildung aufmerksam werden; um eine möglichst hohe Reichweite zu erzie len, war der Versand der Umfrageergebnisse an alle Reichstagsmitglieder ge plant.277 Um zu einer Bewegung in der kirchlichen Lage zu kommen, musste eine stärkere Polarisierung zwischen den gegensätzlichen Positionen bewirkt werden, da eine Klärung „doch nur im Kampf“ möglich sei.278 Dazu eröffnete 271
Briefe Diederichs an König, 22.1.1908 [LuW, 153–155] und 17.11.1913 [ebd., 225]. Brief Diederichs an König, 19.11.1907 [LuW, 150 f.]. Im Eisenacher Nachlass von Karl König ist die Diederichs-Korrespondenz nicht mehr erhalten. 273 Vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 288. Die skeptische Perspektive auf die evangelische Kirche, aus der heraus ein Neubau unmöglich sei, wurde Diederichs bereits 1908 von Gottfried Traub anlässlich eines Besuchs in Dortmund bestätigt (vgl. ebd., 290). 274 Brief Diederichs an König, 23.12.1907 [LuW, 152]. 275 Vgl. Brief Diederichs an Bonus, 16.6.1908 sowie den Durchschlag der Antwort an Diederichs, 7.7.1908, in der Bonus das Anliegen ablehnt [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005], vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 291. In der Christlichen Welt wurde das Anlie gen von Rade übernommen, der immerhin einige Stimmen sammeln konnte: R ade: Eine unterbliebene Umfrage, in: CW (1910), 15–19; 2 Antworten, in: ebd., 58–61.182–184. 276 Brief Diederichs an Rade, 27.2.1908 [UB Marburg, NL Rade]. Diederichs fragte bei Rade einen einleitenden Aufsatz an, der vor die vor allem von Künstlern und Schriftstellern erbetenen Antworten gestellt werden sollte. Rade unterstützte das Unternehmen und erhielt im März 1909 auch die von Diederichs gesammelten Stellungnahmen zur Umfrage; eine vollständige Publikation schien jedoch nicht erfolgt zu sein (vgl. die Briefe Diederichs an Rade, 6.11.1908 und 18.12.1909 [ebd.]). 277 Brief Diederichs an Rade, Jena 27.2.1908 [UB Marburg NL Rade]; Brief Diederichs an Rade, 6.3.1909 [LuW, 164; dieser Brief befindet sich nicht im Nachlass Rade]. 278 Ebd. [LuW, 165]. 272
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sich ein neues Aktionsfeld 1910 im Streit um Arthur Drews’ Christusmythe und die historische Jesusforschung, den er für seine religionspolitischen Ziele ge schickt ausnutzte. Offensiv verfolgte er das Ziel, die „eingeschlafene religiöse Bewegung“ in Deutschland zu wecken.279 Das Ungenügen des gegenwärtigen religiösen Lebens und das Stillhalten der freiprotestantischen Kreise beurteilte Diederichs ähnlich wie Bonus. Dem kirchlichen Protestantismus fehlte in Diederichs Augen die „neue Idee“, die ihn zu einem lebendigen und modernen Kulturfaktor werden ließ.280 Wie er Bonus mitteilte, sollte die öffentliche Inszenierung radikal geführter Religionsdebat ten als Mittel zur Beeinflussung dienen und helfen, den „Sturmbock gegen die liberale Theologie“ anzusetzen; sie griff zudem in den politischen Bereich über, da sich, wie Diederichs meinte, der „ganze Liberalismus […] in einer Krise“ befände.281 Ähnlich beklagte er gegenüber Traub, dass sich der kirchliche Libe ralismus nicht zu einer wirklichen gesellschaftlichen Wirksamkeit aufraffen könne aus „Angst, revolutionär zu erscheinen“.282 Die „Fälle“ Jatho und Traub wurden nun zu einem Symbol für das Geflecht von Landeskirche und konservativem Staat, das rasch größere öffentliche Auf merksamkeit erzielte.283 Die Christliche Welt veröffentlichte mehrfach ihren Protest gegen das Vorgehen gegen Jatho.284 Mit dem Amtsenthebungsverfahren war ein Präzedenzfall geschaffen worden, an dem sich die für illegitim und gleichsam inquisitorisch gehaltene Einmischung der kirchlichen und staatlichen Behörden gegen freie religiöse Überzeugungen darstellen ließ. Das war mit dem vielbeschworenen Geist der protestantischen Freiheit nicht zu vereinbaren. Für viele Gebildete stand dabei weniger die theologische Seite der Debatte, als der Streitpunkt einer „obrigkeitlichen Grenzziehung einer protestantischen Wort verkündigung“ auf der Tagesordnung.285 279
Vgl. die detaillierte Darstellung bei Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 291–303. Brief Diederichs an König, 22.1.1908 [LuW, 153]. 281 Brief Diederichs an Bonus, 6.6.1910 [LuW, 175 f.]. Diederichs ging hier „rein taktisch“ vor, um das öffentliche Bewusstsein für die religiöse Konfliktlage zu vergrößern. 282 Brief Diederichs an Traub, 12.8.1910 [LuW 179]. Auch Traub gegenüber verdeutlichte er, dass er den Streit um die Christusmythe nicht für seine „eigentliche Aufgabe“ hielt, son dern die Auseinandersetzung als Motor für eine grundsätzliche kirchenpolitische und kultu relle Neuorientierung suchte. Vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 295. 283 Zu Jatho vgl. Thomas M. Schneider: Der Fall Jatho: Opfer oder Irrlehrer?, in: KuD 54 (2008), 78–97; M anfred Jacobs: Art. Jatho, Carl Wilhelm (1851–1913), in: TRE 16 (1987), 525–548. 284 Erklärung. Zum Fall Jatho, in: CW 25 (1911), 121; Die Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt zum Fall Jatho, in: ebd., 659–660. 285 Theodor H euss: Erinnerungen 1905–1933, Tübingen 1963, 174, vgl. H eidler: Der Ver leger Eugen Diederichs, 295. 280
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Diederichs zufolge brach nun der langerhoffte Prinzipienkampf um geistige Freiheit aus, der „Leben in die Bude“ brächte und kirchenpolitische Grundent scheidungen erzwingen würde.286 Nunmehr schien die Gelegenheit zu einem zukunftsträchtigen religiösen Neubau gekommen, der die Trennung von Kirche und Staat erzwang und ohne das kompromisshafte liberalprotestantische Gere de eine „neu-liberale“ Tendenz verwirklichte.287 Arthur Bonus schaltete sich als streitbarer Vertreter einer freien religiösen Entwicklung mit hoher Provokati onslust über die Christliche Welt hinaus in die protestantische Pressefehde ein, die er als sichtbaren Beleg für die Religionskrise der Gegenwart verstand. Das Irrlehreverfahren stellte in seinen Augen ein katholisches Element im Protes tantismus dar.288 In der evangelischen Kirche stünden nicht bekenntnismäßige „Lehren und ihre Anerkennung“ im Zentrum, sondern das religiöse Gemein schaftsleben, das auf dem jeweiligen frommen Gewissen beruhte, wogegen jede behördliche Unterbindung eine Vergewaltigung darstellte.289 Mit dem Streitfall war der Anlass zu einer „Brandschrift“ gegeben, mit der verbunden er ein kir chenpolitisches Programm der Trennung von Kirche und Staat lancieren woll te.290 Im Februar 1911 hatten sich Paul Natorp und Martin Rade an ihn gewandt und ihn aufgefordert, stellvertretend den „Intellektuellen“-Protest gegen das kirchliche Vorgehen zu formulieren.291 Bonus verfasste zwei scharfe Artikel in der Wochenschrift März, äußerte sich in der Neuen Rundschau und im Kunstwart und trug die Debatte damit in die bildungsbürgerlichen Kulturzeitschrif ten. Bei Eugen Diederichs fasste er seine Ansichten zudem als „kirchenpoliti sche Programm“ in der Agitationsschrift Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats zusammen.292 Seine Position akzentuierte überscharf eine kritische 286
Brief Diederichs an König, 21.1.1911, zitiert aus I. Heidler, 295. in einer Selbstdarstellung gegenüber dem Berliner Tageblatt, 25.2.1911, zitiert: ebd., 296. 288 Bonus: Das katholische Element in dem neuen Irrlehreverfahren, in: CW 25 (1911), 519–520; Ein Nachwort zum Enzyklikastreit, in: Kunstwart 24/1 (1910/11), 34–35; Die kir chenpolitische Lage und der Fall Jatho, in: März 5/2 (1911), 562–566. 289 Ders.: Luther, die Schwärmer, Jatho und wir, in: CW 25 (1911), 733–736. 290 Briefkonzept Bonus an Diederichs, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. Gemeint ist: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats. Verfasst war sie unter kritischer Beglei tung von Friedrich Michael Schiele, der Korrekturen erhielt (vgl. ebd.); als Gutachter hatte Diederichs außerdem den Berliner Pfarrer Max Fischer und den Kölner Vorsitzenden des Rheinisch-Westfälischen ‚Verbandes der Freunde Christlicher Freiheit‘ eingeschaltet, den Juristen Geffcken, der die Schrift empfahl, um der „Vergewaltigung der Einzelgemeinde durch die Dogmenkirche“ zu wehren (Anhänge zu einem Brief Diederichs an Bonus, 19.4.1911 [ebd., dort auch die Beurteilung Schieles]). 291 Brief Natorp und Rade an Bonus, 24.2.1911 [ebd., 13_010]. 292 Bonus: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, Jena 1911; Briefkonzept Bonus an Die derichs undatiert (Anschreiben, mit dem Bonus die als „ganz populär“ verstandene Broschü 287 So
III. Die „religiöse Krisis“
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Perspektive auf die Verbindung von Kirche und Staat, die in ihren Grundzügen jedoch von vielen liberalen Protestanten geteilt wurde. Der „Fall“ Jatho wurde von einigen Vertretern der Christlichen Welt als Beleg dafür gewertet, dass eine „Entstaatlichung der Kirchen“ dringend vonnöten war; nicht ohne Widerstand in den eigenen Reihen sah Martin Rade die Auseinandersetzung als Möglich keit, die „Verwirklichung der ‚Religionsfreiheit in der Kirche‘“ zu forcieren.293 Eine ähnliche Sichtweise vertraten Gottfried Traub in der Hilfe oder Otto Baum garten in der Evangelischen Freiheit, aber eben auch Eugen Diederichs. Für viele Kulturprotestanten stand Jatho beispielhaft für die kirchenbehördliche Einschränkung der Lehr- und Gewissensfreiheit, während man seiner bildungs frommen, in den Monismus ragenden Theologie wenig abgewinnen konnte.294 Allerdings gab es auch bedeutende Gegenstimmen, etwa von Adolf Harnack, der das kirchliche Spruchkollegium als Notwendigkeit verteidigte, um die Iden tität der evangelischen Landeskirche gegenüber inhaltlicher Willkür schützen zu können.295 Für Bonus war die Verkündigung Jathos hingegen ein Beispiel für die tat sächlich bestehende „Geheimreligion der Gebildeten unter uns“.296 Damit ver wies er erneut auf die Krisenhaftigkeit des gegenwärtigen Protestantismus, an dessen Rändern eine neue Religiosität existierte, die in den verkrusteten kirch lichen Strukturen in seinen Augen keinen Platz mehr fand. Das Schlagwort der „Geheimreligion“ unterstellte, dass die Mehrzahl der Gebildeten die Kirche in nerlich schon längst verlassen und nur noch der Konvention wegen ihre Mit gliedschaft aufrecht erhalten hatte. Der große Zulauf zu Jathos Predigten legte nach Bonus offen, dass seine monistisch inspirierte, bildungsreligiöse, zum Teil neumystisch angehauchte Verkündigung den tatsächlichen Bedürfnissen der Moderne entsprach. Für Bonus musste sich hier eine wesentliche Kulturfrage entscheiden: Wie konnte eine „von den Gesamtmitteln lebende religiöse Volks re bei Diederichs einreicht [ebd., 06_005]). Die kurze Broschüre enthielt seine März-Artikel, eine Einleitung und eine Darstellung des Falls in Prozessakten. 293 Die Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt zum Fall Jatho, in: CW 25 (1911), 659–660, 660; R ade: Unsere Stellung zu anderen Tagungen, Vereinen und Parteien, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 432–436. 294 Für die „Freunde der christlichen Welt“ hatten Foerster, Rade und Weinel sich am 9. Februar 1911 in der Christlichen Welt für Jatho ausgesprochen (Erklärung zum Fall Jatho, in: CW 25 (1911), 121–122). Jathos Wirken in seiner Gemeinde sei „notorisch so segensreich“, dass theologische Bedenken in den Hintergrund treten müssten – man erklärte sich für Jatho, weil er der „Entfremdung weitester Kreise von der evangelischen Kirche“ entgegenarbeitete, nicht aber für seine Theologie. 295 A dolf H arnack: Für das Spruchkollegium, in: CW 25 (1911), 324–326. 296 Bonus: Der Fall Jatho und die Ausdruckskultur, in: Kunstwart 24/3 (1910/11), 26–29; ders.: Geheimreligion der Gebildeten?, in: ebd., 24/4 (1910/11), 365.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
organisation“ wie der landeskirchliche Protestantismus eine streng dogmatische Haltung rechtfertigen, durch die sie große Teile des Volkes zwang, wider ihr Gewissen Positionen zu vertreten, die für sie keinen Wahrheitsgehalt hatten?297 Diese Frage wurde im Kunstwart aufgegriffen, der den Protestantismus als Ort „wirklich erlebter Religion Herder-Goethe-Schleiermacherschen Gepräges“ einforderte und dessen Daseinsberechtigung darin sah, dass sich in ihm die „wirklich erlebte Religion“ der Gebildeten, aber auch der modernen Volkskreise insgesamt aussprechen ließ. Nur so war es möglich, der „religiösen Gleichgül tigkeit der Gebildeten“ entgegenzutreten, oder gar mittelfristig eine drohende „betont antikirchliche Wendung“ der Gebildeten abzuwehren.298 Bonus sah sich mit Jatho verbunden in dem Bestreben, an die Stelle der überlieferten Glaubens sätze „religiöses Fühlen“ zur Grundlage einer neuen Kirchengemeinschaft zu machen.299 Für ihn war es ein Unding, dass mit dem Spruchkammerverfahren gegen Jatho der „Gewissensbesitz des Einzelnen“ durch die lehramtliche Ent scheidung einer Behörde eingeschränkt würde.300 Die von der Kirchenbehörde ausgeübte „Inquisitionsgewalt, die den Glauben von Polizei wegen prüft“, lehn te er als unprotestantisch ab.301 „Was modern fühlt, darf nicht in diese Kir che!“302 – mit Bedauern nahm er wahr, dass sich der moderne Protestantismus nur zögerlich zu einer fortschrittlich-religiösen Bewegung mit gesellschaftli cher Durchschlagskraft ausbauen ließ. Für Diederichs hatte Bonus damit das „kommende Kampfeswort“ gefun den.303 Angesichts der aufgeregten Stimmung ermunterte er Bonus zu einer Pu blikation, aus der ausdrücklich zur Unterstützung Jathos und der von ihm reprä sentierten Gebildetenfrömmigkeit die drei – ursprünglich waren vier geplant – Bände Zur religiösen Krisis hervorgingen.304 Dieses Buchprojekt hatte im Sommer 1910 begonnen, erste Gestalt als Monument eines religiösen Umbruchs zu gewinnen. An Dora Rade schrieb er:
297
Ders.: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, 47. Ders.: Der Fall Jatho und die Ausdruckskultur, in: Kunstwart 24/3 (1910/11), 26–29, 26 f.; Zum Spruch gegen Jatho, in: ebd., 86–87. 299 Ebd., 87. 300 Ders.: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, 11. 301 Ebd., 7; vgl. ders.: Das katholische Element in dem neuen Irrlehreverfahren, in: CW 25 (1911), 519–520. 302 Ebd.,. 50. 303 So im Verlagskatalog 1911, zitiert nach H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 297; vgl. auch den Brief Diederichs an Jatho, 14.7.1911 304 Das teilte Diederichs Jatho mit, Brief Diederichs an Jatho, 11.5.1911, zitiert aus: Selbst zeugnisse, 200 f. Als Produkt des Falls Jatho nahm die Bände auch die Rezension von Otto Baltzer wahr (Die Religion der Zukunft, in: CW 25 (1911), 1194–1197, 1197). 298
III. Die „religiöse Krisis“
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Ich fange an von einem Buch zu träumen, das wie eine Göttermorgendämmerung über den Meeren sein möchte, sozusagen ein Kapitel aus der Schöpfungsgeschichte des Himmels und der Erde. Vielleicht gewinnt es mal Gestalt.305
Diederichs gegenüber meinte er, dass die Verbindungslinien zwischen seinen Religionsprognosen und den am Jathostreit aufbrechenden Konflikten „kein Zufall“ waren; vielmehr rissen jetzt genau die „Fragen“ auf, auf die sich seine gesamte bisherige Publikationsarbeit gerichtet hatte.306 In den neukonzipierten Bänden stellte Bonus teilweise bereits erschienene, aber auch teilweise unveröf fentlichte Analysen zur religiösen Lage der Gegenwart zusammen. Neu verfasst war der als vierter Band der Serie geplante Essay Vom neuen Mythos.307 Darin stünde, meinte Diederichs, „viel Prophetisches“, mit dem Bonus gezielt in die gegenwärtigen Religionsdebatten der Gegenwart hineinsprach.308 Diederichs war der Ansicht, er habe 1912 seine besten religiösen Bücher gebracht, allen voran „Bonus ‚Mythos‘“.309 Das Verhältnis von Kirche und Staat und der Wert der modernen Theologie und des Liberalismus im Ganzen waren die zentralen Fragen, die zur Debatte standen.310 Mit ihnen, so Diederichs, würde Bonus „der Lauheit und Faulheit unserer Zeit ein paar kräftige Worte an den Kopf“ werfen. Die „religiöse Krisis“ würde erst richtig zu Bewusstsein kommen, wenn es ge länge, „daß ein Teil der Theologen einfach nicht mehr mit dem Kirchenregiment mitmacht“.311 „Die kommende Religion“ oder „Zur Zukunftsreligion“ waren die ursprünglichen Titelvorschläge, mit denen angedeutet war, wie sehr Bonus von den „Fällen“ einen Anstoß zu einer religiös-kulturellen Wendung in Deutsch land über den Kulturprotestantismus hinaus erwartete.312 Dass er „frische Luft zufuhr in schwüle, dunstige Räume“ bringe, pflichteten auch Rezensenten bei.313 Ohne die „liberale Theologie“ gänzlich als „Feind“ verprellen zu wollen, schienen die Auseinandersetzungen für Diederichs auf eine außerkirchliche 305
Postkarte Bonus an Dora Rade, 13.8.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_007]. Briefkonzept Bonus an Diederichs, 20.2.1911 [ebd., 06_005]. 307 Bonus: Vom neuen Mythos, zur Komposition des Buches vgl. Brief Bonus an Gogar ten, 15.5.1915 [UB Göttingen, NL Gogarten]. 308 Brief Diederichs an Bonus, 6.4.1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. 309 Brief Diederichs an Karl König, 27.2.1913 [LuW, 214]. Das sah Bonus genauso. Der Neue Mythos stellte das „dem Inhalt nach“ das „verhältnismäßig beste“ seiner Buchreihe zur religiösen Krise dar (Brief Bonus an Rade, 17.3.1913 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_007]). 310 Briefkonzept Bonus an Diederichs, 20.2.1911 [ebd., 06_005]. 311 Brief Diederichs an Bonus, 27.2.1911 [ebd., 06_005]. 312 Brief Diederichs an Bonus, 15.3.1911 [ebd.]. Der Christlichen Welt nahestehende Auto ren wie Constantin von Zastrow oder Theophil Steinmann sekundierten mit einer Broschüre, die Bonus’ Thesen diskutierte und ergänzte: Constantin von Zastrow/Theophil Steinmann: Die Geheimreligion der Gebildeten, Göttingen 1913. 313 Fritz P hilippi: Artur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, in: CW 26 (1912), 840–844, 842. 306
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Fortsetzung des Protestantismus hinauszulaufen, an derer Spitze er sich mit sei nem Verlag setzen wollte.314 Entsprechend schmückte er seine religiösen Bücher zur Jahreswende 1911/12 mit dem Streifband: „Die Reformation geht weiter“.315
3. Die Volkskirche: Substrat für den Kulturstaat Angesichts der „Fälle“ Jatho und Traub und dem öffentlichen Umgang mit Dis sidenten spitze sich in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im liberal protestantischen Kontext die Frage nach den institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen des kirchlichen Christentums zu. Dabei stand einerseits die enge Verbindung von staatlichen und kirchlichen Behörden zur Debatte. „Der Ruf nach ‚Trennung von Staat und Kirche‘“ würde „laut und lauter“.316 Für die Christliche Welt legte Erich Foerster 1911 einen kontrovers diskutierten Ge setzesentwurf vor, der das Verhältnis von Staat, Kirche und Schule in Preußen neu regeln sollte und eine deutliche Entflechtung der staatlichen und kirchlichen Instanzen vorsah.317 Andererseits wurde aufgrund der fortwährenden Richtungs kämpfe zwischen Orthodoxie und Liberalismus das insbesondere vom Protes tantenverein propagierte Ideal einer freien, undogmatischen Volkskirche erneu ert.318 Angesichts der als „akute Krisis“ aufgefassten Disziplinierungen griff etwa der Berliner Protestantentag 1911 die Forderung auf, die bürokratisch ver fasste Landeskirche durch „Entstaatlichung“ zur Volkskirche umzugestalten, um so dem Ideal der „evangelischen Freiheit“ gerecht zu werden.319 Für viele Liberale war der Protestantismus zur konservativen „Parteikirche“ geworden.320
314
Brief Diederichs an Bonus, 3.4.1911 [ebd., 06_005]. Diederichs an Traub, 7.12.1911 [LuW, 203 f.]; das Schlagwort wurde zudem als Katalogtitel genutzt, vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 297. 316 Die ordentliche Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt am 4. Oktober 1911 in Goslar, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 422–429, 425. Vgl. zu den Auseinandersetzungen ausführlich: Sun-Ryol K im: Die Vorgeschichte der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung von 1919, Hamburg 1996, 121–166. 317 Erich Foerster: Entwurf eines neuen Kirchenrechts für Preußen, in: AdF Nr. 36 (20.6.1911), 389–402; vgl. mit ausführlichem Kommentar ders.: Entwurf eines Gesetzes be treffend die Religionsfreiheit im Preussischen Staate, Tübingen 1911; vgl. zudem den 1911 vor den Freunden der Christlichen Welt in Goslar gehaltenen programmatischen Vortrag: Religionsfreiheit und Kirchenreform, in: CW 26 (1912), 247–263. 318 Vgl. Hübinger: Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wil helminismus, in: R enz/Graf (Hg.): Umstrittene Moderne, 92–114, 93. 319 Vgl. die Referate von August P fannkuche und Gottfried Traub: Wie kann die Landes kirche zur Volkskirche gestaltet werden?, in: 25. Deutscher Protestantentag 4. Bis 6. Oktober 1911 in Berlin. Reden und Debatten, Berlin 1911, 122–154. 320 Ebd., 128. 315 Brief
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Das Protestantenblatt propagierte bereits ab 1906 verstärkt die freie, nationa le Kirchengemeinschaft als Gegensatz zu den bekenntnisorientierten Landes kirchen und knüpfte damit an die im 19. Jahrhundert entwickelten ekklesiologi schen Zielvorstellungen des Liberalismus an. Das war zum einen der wachsen den Kirchenferne unter den Gebildeten geschuldet, sollte zum anderen aber auch dem Ideal einer auf Beteiligung setzenden Laienkirche gerecht werden. Das kirchenpolitische Leitbild einer nach innen pluralistischen, die gesamte christliche Bevölkerung in ihren Glaubensauffassungen umfangenden Kirchen organisation wurde erneuert, die ohne konfessionellen „Zwangskurs“ auskom men sollte.321 Die Orthodoxie wurde mit Schärfe als ein „Fremdkörper im Volksganzen“ angegriffen, weil sie die Entfremdung der Bildungsschichten durch ihre gegenwartsferne, dogmatische Theologie erst verursache und eine einengende Sonderfrömmigkeit vorschreibe; sie agiere damit wie eine „Sek te“.322 Die Kirche habe hingegen über partikulare Anschauungen hinweg eine enge „Verbindung mit dem Volksganzen“ zu suchen, um alle sozialen Schichten und politischen Richtungen erreichen zu können.323 Die Zielvorstellung lag in einer antiklerikalen Laienkirche, „die als Volkskirche des ganzen Volkes gutes Gewissen sein müßte“.324 Damit rückte ein zivilreligiöses Moment in die Über legungen ein, die mit der freien Volkskirche den sittlichen Unterbau für den fortschrittlichen nationalen Kulturstaat schaffen wollten.325 Zudem spielte ein mitunter nationalistischer Grundton eine Rolle, etwa wenn gefordert wurde, dass die Volkskirche dem deutschen Volkscharakter einen religiösen Ausdruck verleihen sollte.326 Diese Überlegungen gewannen durch die landeskirchlichen „Fälle“ erneut an Aktualität. In den Kirchenzeitschriften erschienen diverse, kontrovers disku tierte Vorschläge für eine kirchliche Verfassungsreform. Aus Sicht der Libera len sollte dabei die Existenz einer freieren Frömmigkeit innerhalb der Landes kirche gesichert werden. Ernst Troeltsch zufolge riss die Disziplinierung Jathos die Frage nach der „Gewissensfreiheit“ innerhalb der Landeskirche auf; die er zwungene „Konformität der königlich preußischen Religion“ drängte den mo dern empfindenden Bildungsprotestantismus aus der Kirche heraus.327 Für die 321 M ax Fischer: Glückauf! Deutscher Protestantentag im Namen der Wahrheit!, in: PrBl 40 (1907), 481–483 (zum 22. Deutschen Protestantentag 1907 in Wiesbaden). 322 W. Gebhardt: Die Aussichten der Volkskirche, in: PrBl 39 (1906), 51–54. 323 Dietrich Graue: Der evangelische Pfarrer und die politischen Parteien, insbesondere die Sozialdemokratie, in: PrBl 40 (1907), 514–517. 324 Ders.: Nationale Pflichten des Protestantismus, in: PrBl 40 (1907), 51–53.75–78, 75. 325 Vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 263 f. 326 R.L.: Moderne Verkündigung, in: PrBl 40 (1907), 322–326. 327 Ernst Troeltsch: Gewissensfreiheit, in: CW 25 (1911), 677–682, 679.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Christliche Welt konnte es weniger um eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat nach französischem Vorbild gehen, sondern darum, „den freieren Ele menten des evangelischen Volkes Heimat und gleiche Recht zu gewähren“.328 Für das kirchenkritische Feld um Bonus ergab sich aus den Debatten zudem die Möglichkeit, nachdrücklich gegen das als konservativ und überholt abge lehnte Staats- und Landeskirchentum Stellung zu nehmen. Bereits 1909 hatte er in seiner als sozialpsychologisch verstandenen Studie Die Kirche die wilhelmi nische Religionskultur angegriffen, die seiner Ansicht nach von staatlich abge sicherten Kircheninstituten geprägt war, die sich als Instrumente einer konser vativ-autoritären Gängelung der Bevölkerung eigneten, aber keine lebendige, gefühlte Religiosität mehr vermitteln konnten.329 Erschienen war das kleine Buch an einem renommierten Ort, nämlich in der von Martin Buber verant worteten Reihe Die Gesellschaft, die zahlreiche Reformschriften umfasste, die – dem Reihentitel entsprechend – auf eine soziologisch informierte Gesell schaftsbeschreibung setzten. Weitere Mitarbeiter der Reihe waren beispielsweise Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Werner Sombart oder Harry Graf Kessler. Bonus hatte sich zu diesem Zweck mit Ernst Troeltsch auseinandergesetzt, nach der Lektüre von „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ auch erwogen, das gesamte Projekt an Troeltsch loszuwerden, schließlich aber bei Buber durchgesetzt, dass er auf eine streng wissenschaftliche Arbeit verzichte te.330 Gegen einen ekklesiologischen oder sakramentalen Kirchenbegriff stellte 328 So die retrospektive Zusammenfassung Otto Baumgartens: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, 180. Zur Auseinandersetzung vgl. die Stellungnahmen von M artin R ade: Zwei Erklärungen; in: CW 25 (1911), 827–829 als Bekenntnis zur „Volkskirche“ oder von K arl Sell: Vorschlag zu einem Modus vivendi zwischen Positiven und Modernen, in: ebd., 939–946. Vor allen Dingen Adolf Harnack sah seine kirchenpolitischen Grundmaximen durch die Diskussion überschritten; Rade gegenüber beteuerte er seine Zweifel, ob er der Christlichen Welt in den kirchlichen Verfassungsfragen noch „Gefolgschaft“ leisten könne (Brief Harnack an Rade, 16.7.1911, zitiert nach: R athje: Die Welt des Freien Protestantismus, 195). Die Frage nach einer kirchlichen Verfassungsreform sowie die Haltung gegenüber den „Radikalen“ wie Jatho oder Bonus führte schließlich dazu, dass einige Vertreter der preu ßisch-landeskirchlichen Mittelpartei wie Marin Schian die ‚Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt‘ aus Protest verließen, vgl.: Austrittserklärung, in: ebd., Nr. 39 (10.2.1912), 438. 329 Bonus: Die Kirche, Heilbronn 1909. 330 Briefe Troeltsch an Bonus, 1.4.1908 und 27.4.1908 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_003]. Troeltsch sagte trotz sachlichem Interesse ab, weil er zeitgleich an den „Sozialleh ren der christlichen Kirchen“ saß. Den Hinweis auf Troeltschs Werk erhielt Bonus von Fried rich Michael Schiele (Briefkarte, undatiert [ebd.]). Buber hatte ursprünglich eine bildungsre formerische Schrift bei Bonus angefragt und „Die Schule“ als Thema aufgebracht. Bonus lenkte auf sein Spezialthema der Religionskritik um, wobei er sorgsam darauf achtete, seinen Hauptverleger Diederichs nicht zu verprellen. Zudem spielten die Honorarverhandlungen eine Rolle (Briefe Buber an Bonus, 27.8.1906 und 4.3.1907 sowie die Korrespondenz in den
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Bonus ein soziologisch orientiertes Kirchenverständnis als einer Organisations form, die religiöse Gruppen- und Vergemeinschaftungsbedürfnisse zusammen führt. Eine „Kirche“, so seine Abhandlung, diene der gemeinschaftlichen Ent faltung von religiösem Leben. Bonus spiritualisierte den traditionellen Kirchen begriff, indem er ihn als Vergemeinschaftungsform der im Volk vorhandenen religiösen Erfahrungen, Ansichten und Zukunftsvorstellungen umdeutete; er entchristlichte ihn zudem, indem er „Kirche“ nicht mehr als nur an Sakramente, Bekenntnis und Evangelium gebundene Gemeinschaft, sondern als Ausdruck der „undifferenzierten schöpferischen Kräfte“ des Menschen verstand.331 Aus diesem Grunde musste er einen entschiedenen Widerspruch zwischen dem be stehenden Landeskirchentum und dem Ideal der Kirche als lebendigem Reli gionsorganismus wahrnehmen. Die lebendige Religion, so Bonus, habe unter dem kirchlich institutionalisierten Christentum „hungern müssen. Und wenn es wahr wäre, daß sie tot ist, so müßte sie an der Kirche gestorben sein.“332 Bonus flocht in diese Gedankengänge politische Töne ein, indem er sich ent schieden gegen die Nähe von Kirche und Staat wandte, aufgrund derer die Kir che zu einem obrigkeitlichen Ordnungsinstrument würde, das sich willig von der „preußischen Großgrundbesitzerpartei“ zur Durchsetzung ihrer sozialen Eigeninteressen instrumentalisieren ließ. Es sei weder im Interesse der Kultur noch der Religion, so seine Polemik, die bestehenden Staatsformen zu verherr lichen, sich der Verkündigung zivilreligiöser Tugendordnungen zu widmen oder die staatsfeindlichen Mächte zu bekämpfen – gemeint war wohl die Sozial demokratie.333 Im Gegensatz zu dem liberalprotestantischen Traum Richard Rothes vom Aufgehen der Kirche in einem sich frei entwickelnden Kulturstaat erschien Bonus die Kirche in der Gegenwart nun als Garant der Festigung einer bröckelnden, aber staatlich gefestigten Kulturordnung.334
Folgejahren bis 1908 [ebd., 02_008]). Der Kontakt zu Buber wurde von Paul Göhre vermit telt, der in der gleichen Reihe Das Warenhaus (erschienen: Frankfurt 1907) veröffentlicht hatte. Buber war mit dem Versuch, die Arbeit an Troeltsch weiterzugeben, nicht einverstan den. Zwar würde er damit seine Kritiker befriedigen, die „stoffreiche und systematisch er schöpfende Arbeiten“ den essayartigen Gesellschaft-Bänden vorzogen (Briefkonzept Bonus, undatiert/Brief Buber an Bonus, 12.8.1908 [ebd.]). Bonus erschien ihm aber als Garant für eine pointierte Reformschrift, was das Manuskript in Bubers Augen auch einlöste: „Verehr ter Herr Bonus, meine Meinung ist, daß Ihre Arbeit, abgesehen von ihrem großen absoluten Werte, eine wirklich sozialpsychologische Arbeit ist, mehr als die meisten der Sammlung“ (Postkarte Buber an Bonus, 30.12.1908 [ebd.]). 331 Bonus: Die Kirche, 52. 332 Ebd., 53. 333 Ebd., 79. 334 Ebd., 79 f.
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Solche Diskussionsansätze erhielten durch den Jatho-Streit zusätzliche Nah rung. Es war erneut Eugen Diederichs, der die entstandene Aufmerksamkeit für religiöse Kulturfragen mit verschiedenen Publikationen nutzte, um radikalere kirchenpolitische Reformansätze neben die liberaltheologischen Debatten zu stellen. Der sozialdemokratische Bremer Pfarrer Emil Felden veröffentlichte 1911 eine Stellungnahme zur Trennung von Staat und Kirche in den Staatsbürgerlichen Flugschriften, in der er sich für die Gewissensfreiheit einsetzte.335 National akzentuiert waren hingegen zwei in den Folgemonaten erschienene Entwürfe von Karl König und Gottfried Traub. König ging es in der Volkskir chenfrage um einen „deutschen Weg zur Zukunft“, den er allerdings beschrei ten wollte, „um Foerster u.[nd] Freunde zu unterstützen“, wie er an Bonus schrieb, also im Sinne der Christlichen Welt.336 Statt einer laizistischen Tren nung favorisierte König in Fortsetzung der kulturprotestantischen Visionen die „Eingliederung der Kirche in den Kulturstaat“.337 Demokratisch verfasst, sollte diese Kirche das sittliche Fundament des Kulturfortschritts und ein nationales Einheitsband werden. Als Fehlstellung galt nicht die Verbindung von Kirche und Staat als solche, sondern ihre Unterordnung unter den obrigkeitlichen Be hördenapparat und, vor allen Dingen, die Zentralstellung von Pastoren und Kir chenleitung: „Der orthodoxe Klerikalismus! Hier liegt die Not unserer Kirche und nirgend sonst.“338 Ungleich erfolgreicher war Traubs Kampfschrift Staatschristentum oder Volkskirche, die Diederichs geschickt in die kirchenpoliti sche Tageslage warf, indem er sie auf dem 25. Protestantentag in Berlin aus legen ließ.339 Traub hatte hier mit seinem Vortrag über: „Wie kann die Landes kirche zur Volkskirche umgestaltet werden?“ für Furore gesorgt.340 Er verband angriffslustig kirchenpolitische Maximen mit seinen religiösen Auffassungen und kritisierte scharf eine historisch-dogmatische Herangehensweise in der Theologie, indem er eine persönliche, aus der Gegenwart geborene, individuelle 335
Emil Felden: Die Trennung von Staat und Kirche. Eine Forderung der Gewissensfrei heit, Jena 1911. 336 K arl König: Staat und Kirche. Der deutsche Weg zur Zukunft, Jena 1912; Postkarte König an Bonus, 6.2.1912 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_001]. König hatte Bonus’ Die Kirche mit Begeisterung gelesen (Brief König an Bonus, 8.7.1909 [ebd., 13_004]), ging in seiner kirchenpolitischen Schrift aber andere Wege, die enger den Vorstellungen des Protestanten vereins folgten. 337 Ebd., 70, vgl. Hübinger: Kulturkritik, in: R enz /Graf: Umstrittene Moderne, 104. 338 Ebd., 46. 339 Brief Diederichs an Rade, 26.9.1911 [UB Marburg, NL Rade]; vgl. dazu H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 296 f.; Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 263. 340 Gottfried Traub: Wie kann die Landeskirche zur Volkskirche gestaltet werden?, in: 25. Deutscher Protestantentag 4. Bis 6. Oktober 1911 in Berlin. Reden und Debatten, Berlin 1911, 140–154, zu den Reaktionen vgl. das Debattenprotokoll, ebd., 154–187.
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Gotteserkenntnis als Grundlage einer modernen Rede von Gott einforderte. Zu dem erweiterte er den Glaubensbegriff durchaus im Sinne von Diederichs und Bonus um eine aktivistische Komponente, indem er erklärte, dass der Wert des Christentums „nicht in seinen Gedankenschöpfungen, sondern in seiner Erzie hung zu Kraft und Hilfe“ liege.341 Schließlich gab er der als „Laienkirche“ kon zipierten, überkonfessionellen Volkskirche eine nationale Aufgabenstellung, indem sie zum Mittel „zur Erzeugung einheitlichen Nationalbewußtseins“ er klärt wurde.342 König brachte auf dem Berliner Protestantentag die Gegensätze ganz ähnlich auf den Punkt, indem er die freie Volkskirche zur Grundlage für den „Kulturstaat“ erhob, „als national schaffende, organisatorische Lebensein heit“, während der wilhelminische „Zwangsstaat, Machtstaat, Polizeistaat“ die Einheit von Volk, Religion und Kultur aufhob.343 Auch Bonus rekurrierte in einer für sein Werk bezeichnenden Zuspitzung auf die Volkskirchendebatten. Bereits 1904 hatte er in der Frankfurter Zeitung un ter dem Titel „Kirche und Kultur“ auf die aus seiner Sicht grundlegende Bedeu tung einer einheitlichen und freien Religionsausübung für den modernen Kul turstaat hingewiesen.344 In der Deutschen Kultur erklärte Bonus den religiösen Fortschritt zu einer „Volkssache“ und rief zugleich die Gebildeten auf, sich an den kirchlichen Belangen aktiv zu beteiligen, weil die Nation sonst drohte, in diverse religiöse Lager zu zersplittern und als Ganze „geistig [zu] verarmen“.345 Unter dem Eindruck der in den religiösen Konflikten um 1910 aufscheinenden tiefreichenden Gegensätze stellte er daraufhin die Grundsatzfrage, „soll ‚Volks kirche‘ sein oder nicht?“346 Zu einer solchen müssten nach Bonus’ Ansicht alle religiösen Bewegungen von Bedeutung gehören. Dazu zählten für ihn auch die erwecklichen und charismatischen „Sekten“ und die Gruppen des Gemein schaftschristentums. In der Volkskirche müssten alle zur Gegenwart gehören den religiösen Bedürfnisse zum Ausdruck gebracht werden können: Will man die Volkskirche, so muß man der Lage der religiösen Dinge, wie sie nun einmal ist, (der ungemein entwickelten Differenziertheit unserer religiösen Bedürfnisse vor allem) noch in ganz anderer Weise Rechnung tragen als bisher. Denn man muß es dann geradezu eine Hauptsorge der Kirche sein lassen, sich zu assimilieren, was nur irgend assimilierbar ist,
341 Ders.: Staatschristentum oder Volkskirche. Ein protestantisches Bekenntnis, Jena 1911, 14 f.; vgl. Fehlberg, 219. 342 Ebd., 54. 343 Debattenbeitrag Königs, in: 25. Deutscher Protestantentag 4. Bis 6. Oktober 1911 in Berlin. Reden und Debatten, Berlin 1911, 176. 344 Bonus [„Grm“]: Glossen zur Frage ‚Kirche und Kultur‘, in: Frankfurter Zeitung (Nr. 45 v. 14.2.1904). 345 Ders.: Kirche und Kultur, in: Deutsche Kultur 1 (1906/07), 149–156, 153 f. 346 Ders.: Zur Frage der ‚Gemeinschaften‘, in: CW 23 (1909), 469–473, 469.
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damit die Gestaltung, welche aus der neuen Mischung hervorgehen will, noch innerhalb des volkskirchlichen Rahmens sich bilden kann.347
Für Bonus war es die spezifische Bedeutung der „Volkskirche“ als einem Ge genstück zur Konfessionskirche, die religiösen Vorstellungen des gesamten Volkes zu umfassen. Daraus ergab sich nun auch eine Forderung an die politische Kultur des Deut schen Reichs. Die Kirchenfrage musste den politischen Liberalismus als Partei von Bildung und Fortschritt interessieren. Die religiöse Indifferenz der liberalen Parteien war zu einem Kulturproblem geworden war. Für Bonus mussten „Frömmigkeit und Liberalismus“ miteinander vereinigt werden, um eine schlag kräftige Kulturbewegung aufbauen zu können.348 Die kirchenpolitische Schwä che des Liberalismus stellte sich gegenüber dem Konservatismus als verhäng nisvoll dar, weil sie die Zersplitterung des religiösen Volkslebens verstärkte und den Protestantismus zu einer einseitigen, reaktionären Formation verkommen ließ.349 Historisches Vorbild für die mögliche Verbindung von intensiver Frömmig keit, religiöser Toleranz und politischer Freiheit wurden der englische Puritanis mus und die amerikanischen Staaten. Die „moderne Staatsidee“ ließ sich in Bonus’ Augen dann verwirklichen, wenn im zukünftigen Staatswesen alle reli giöse Überzeugungen rechtlich gleich behandelt wurden.350 Es lag ein Versagen der modernen Theologie wie auch des politischen Liberalismus darin, die zu kunftsorientierten und modernen Tendenzen nicht innerhalb einer freien Kirche organisieren und lautstark zur Sprache bringen zu können. Bonus äußerte die Hoffnung, dass sich der Protestantismus in Zukunft gegenüber „der neuen reli giösen Bewegung“ öffnen und nicht die „Stellung von zu Unrecht privilegierten Sekten“ einnehmen würde.351 Die Gefahr einer solchen Entwicklung hatte das Verfahren gegen Jatho seiner Ansicht nach aufgezeigt. Für Bonus war das nicht nur eine kirchenpolitische Grundsatzfrage: Die an dem Verfahren zum Aus druck kommende Einschränkung der religiösen Freiheit brächte die „persönli chen Kraftquellen“ des Kulturlebens zum versiegen und markierte „den Anfang vom Ende eines aufsteigenden Volkslebens überhaupt“.352 Darin lag für ihn eine grundsätzliche Anfrage an den Liberalismus: Wie konnte er als politische und 347 348
353.
349
Ebd., 470. Ders.: Zu dem Votum des Herrn von Stegmann und Stein, in: CW 25 (1911), 352–353,
Ebd., vgl. auch ders.: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, Jena 1911, 50 f. Ebd. Vgl. ähnlich Ernst Troeltsch: Gewissensfreiheit, in: CW 25 (1911), 677–682, der ebenso auf das angelsächsische Vorbild verwies. 351 Ebd. 352 Ders.: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats, 45. 350
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geistige Freiheitsbewegung widerstandslos das massive Übergewicht der kon servativen Strömungen in Kirche und Staat zulassen? Für Bonus war es die re ligiöse Gleichgültigkeit des Parteiliberalismus, die eine dramatische Schieflage im öffentlichen Leben erzeugt hatte. Die „Selbstausscheidung des Liberalismus aus der Kirche“ hatte bewirkt, dass dieser nur noch als wirtschaftlicher Pragma tismus ohne weltanschauliche Basis vor dem Konservatismus hergetrieben wur de und keinen eigenständigen Kulturfaktor mehr darstellte.353 Die Stimmen aus seinem liberalprotestantischen Freundeskreis dazu waren verhalten. Julius Kaftan verhielt sich kritisch zu Bonus’ Volkskirchenverständ nis, verwies auf den Substanzverlust bei schrankenloser Freiheit und sprach sich für die behutsame Erweiterung des „Ererbten“ aus.354 Bonus würde die „sittliche Aufgabe“ der christlichen Kirche herunterspielen; an Stelle der durch ihren Christusbezug definierten und historisch gewachsenen Kirche würde er inhaltlich unklare „Gemeinschaften“ propagieren.355 Das zielte jedoch an Bonus’ Kritikpunkten vorbei, die, ähnlich wie schon in den Kursdebatten des Nationalsozialen Vereins in den späten 1890er Jahren, die Politikfähigkeit der religiösen Vollpersönlichkeit betonten und einer Sphärentrennung von Politik und Religion kritisch gegenüberstanden. Für ihn war es eine Zukunftsfrage ersten Ranges, ob eine freiheitliche und fortschrittliche Entwicklung einschließ lich der „religiösen Kultur“ in Deutschland möglich wäre. Durch das Überge wicht der Geistlichen und konservativen Beamten hatte sich der Protestantis mus in eine „konservativ-orthodoxe Polizei- und Parteikirche“ verwandelt, die in Verbund mit dem römischen Katholizismus jegliche Fortschrittsbewegung erstickte.356 Dass es den evangelischen Kirchen nicht möglich war, sich wie in der Reformationszeit zu einer einheitlich religiös-kulturellen Volksbewegung aufzuschwingen, war für Bonus ein Zeichen für den „Bankrott des Protestantis mus“.357 Gegen die religiösen Ermüdungserscheinungen und die reaktionären 353
Ebd., 51. Briefe Kaftan an Bonus, 8.4. und 21.5.1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 13_010]. 355 Brief Kaftan an Bonus, 3.6.1909 [ebd., 13_004]. Vgl. Luther, die Schwärmer, Jatho und wir, in: CW 25 (1911), 733–736 356 Ebd., 16. 357 Ders.: Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535. Es war kaum zufällig, dass Bonus hier eine Formulierung aufgriff und auf den Protestantismus zuspitzte, die aus der Auseinandersetzung um Friedrich Naumanns Briefe über Religion (Berlin-Schöneberg 1903) stammte. Naumanns theologische Kritik am Traditionschristen tum, dessen inhaltliche, subjektive Erneuerung er ähnlich wie Bonus angemahnt hatte, wurde von freireligiösen Autoren als christliche Bankrotterklärung angesichts der Moderne ange gangen, vgl. Wilhelm von Schnehen: Friedrich Naumann vor dem Bankrott des Christen tums, Leipzig 1907; Friedrich Steudel: Friedrich Naumann vor dem Bankrott des Christen tums, in: Blaubuch 2 (1907), Nr. 29. 354
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Verlangsamungen in der Politik forderte er die übergreifende „Volkskirche“, die aus den Tiefen des „modernen Geistes- und Gefühlslebens“ geboren wurde, sich auf die Reichspolitik auswirkte und zu einem zentralen Stützpfeiler der Gegen wartskultur entwickelte.358 In einer solchen Glaubensgemeinschaft entstünde etwas „Höheres“ als eine weitere, freireligiöse Konfessionskirche, nämlich „eine Kirche, die wirklich das ganze Volk, soweit es religiös ist oder sein will, umfaßt: die einheitliche Organisation aller wirklich vorhandenen religiösen Kräfte (wes Namens und welcher Richtung immer)“.359 Das Aufsehen um die Konflikte zwischen Pfarrern und Kirchenbehörden und die Diskussion um eine Kirchenreform motivierten zu hochgesteckten Erwar tungen an eine Kurswende für den freien Protestantismus. Paul Göhre beurteil te die Lage 1911 gegenüber Bonus fast euphorisch, weil sie eine Grundentschei dung zu erzwingen schien: Einerseits hielt er die „Jatho-Traub-Politik“ für „nichts weiter wie eine Ausstoßungspolitik der orthodox-lutherschen Landes kirche“; diese erschien ihm aber „als solche gut“, weil sie bewirken konnte, „daß jetzt endlich auch der Liberalismus wieder interessantere Wege geht, die Leben schaffen.“360 Ähnlich optimistische Erwartungen an die idealisierte Volkskirche als Organisation des Volksgeistes und als Basis des Kulturstaats brachte Bonus 1912 in der Christlichen Welt zum Ausdruck: Wird da ein Anfang sein können, der seinen Fortgang findet? ein entwicklungsfähiger An satz und eine kampffertige Organisation, um die Volkskirche durchzusetzen, das für unsere Art notwendige Substrat eines Kulturstaats – die Volkskirche mit dem gleichen religiösen Recht für Alle?361
Durchaus in der Verlängerung der Visionen des Protestantenvereins aus dem Reichsgründungsjahrzehnt vertrat Bonus unter dem Begriff der „Volkskirche“ eine holistische Vorstellung von der Glaubens- und Kultureinheit des deutschen Volkes. Die Erwartungen an eine Kulturwende erfüllten sich jedoch nicht. Diederichs bilanzierte 1913 in der Tat, dass nach den sensationshaften Anfangserfolgen die 358
Ebd., 1529. Ebd., 1534. 360 Brief Göhre an Bonus, 9.5.1911 [ebd., 13_003]. Göhre hegte zu diesem Zeitpunkt noch die Erwartung, innerhalb der Sozialdemokratie Verständnis für ein dogmenfreies, jesuani sches Tatchristentum zu wecken: „wer fertig ist mit Kirche u.[nd] Religion, heraus aus erste rem; wer fertig ist mit Kirche u. Religion, aber nach neuer Religion sucht, heraus aus ihr; wer aber Kirche und Religion braucht: drin bleiben und eine eigene sozialistische Kirchenpolitik machen im Sinne der Ethik des Urchristentums u[nd] einer undogmatischen Frömmigkeit“ (ebd.). 361 Bonus: Politik und Religion. Eine Frage an den Liberalismus, in: CW 26 (1912), 960– 963, 963. 359
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Gleichgültigkeit im Bürgertum und eine „religiöse Verflachung“ zurückgekehrt sei.362 Auch Friedrich Michael Schiele äußerte sich in der Patria skeptisch über die Aussichten einer religiösen Neubelebung jenseits des kirchlichen Christen tums.363 Ebenso zeigte sich bei Bonus Enttäuschung über das Ausbleiben einer kirchenpolitischen Wende und den kirchlichen Liberalismus, was ihn zu einer wütenden Attacke gegen seinen Lehrer Adolf Harnack brachte. Harnacks be fürwortende Äußerungen zum Spruchkammerverfahren und seine zurückhal tende Position in der Volkskirchenfrage stießen bei Bonus auf heftigen Wider spruch.364 Es erschien ihm nun als „Trugschluß“, in Harnack den Vorreiter einer religiösen Umorientierung wahrgenommen zu haben; die traditionskritischen Ansätze seiner Dogmengeschichte und das befreiende Erlebnis des Wesen des Christentums hätte man nicht mit „religiöser Prophetie“ verwechseln dürfen. Der Mann, der einst die Hoffnung derer war, die vorwärts wollten, ist nun ein starkes Hinder nis für sie geworden, indem er im Dienste einer an sich ganz braven Liberalisierung der überlieferten Religionsauffassung den eigentlich neuen Antrieben, allem Wagnis […] sein ‚Vorsicht! Lebensgefahr!‘, ja sein ‚Halt im Namen der echten Wissenschaft!‘ […] entgegen ruft.365
Für Bonus hatte die moderne Theologie im Kampf um religiösen Fortschritt und die „Geheimreligion der Gebildeten“ einmal mehr ihre Zahnlosigkeit und ihre Überholtheit erwiesen. Hier waren also neue Verbindungen zu suchen, die sich an den Rändern des freien Protestantismus auch ergaben. Gottfried Traub, selbst durch das Disziplinarverfahren um seine Amtsstellung gebracht, sah in Bonus einen Bundesgenossen im religiös-kirchlichen Radikalismus. Enttäuscht über die Unbeweglichkeit des Kirchentums verstärkte er seine kirchenpolitische Tätigkeit in verschiedenen liberalprotestantischen Verbänden, so ab 1912 als Direktor des „Protestantenbundes“ sowie als Vorsitzender der rheinland-west fälischen „Freunde der Evangelischen Freiheit“. Traub umwarb Bonus erfolg reich als Autor für seine Zeitschrift Die Christliche Freiheit, die er neben der Christlichen Welt und Diederichs’ Tat zu einem weiteren, schlagkräftigen freiprotestantischen Meinungsblatt ausbauen wollte, das sich den „Fragen reli 362 Briefe Diederichs an Bonus, 7.2.1911 und 1.11.1912 [ebd.]; Eugen Diederichs, Haben wir eine religiöse Bewegung?, in: Tat 5 (1913/14), 409–411. 363 Friedrich M. Schiele: Über die Möglichkeit religiöser Neubildungen in der Gegen wart, in: Patria 12 (1912), 110–130, 128. 364 A dolf H arnack: Für das Spruchkollegium, in: CW 25 (1911), 324–326. 365 Bonus: Adolf Harnack, in: Neue Rundschau 23/1 (1912), 123–129. Dass zwischen Har nacks historischem Entwicklungsdenken und Bonus’ radikaler Kirchenkritik Welten lagen, hätte Bonus zu diesem Zeitpunkt allerdings klar sein müssen. Harnack hatte ihm – wie oben ausgeführt – deutlich genug mitgeteilt, dass er politisch wie kirchlich für eine kontinuierliche Reform der geschichtlich gewachsenen Institutionen stand.
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
giöser Kultur“ widmen sollte.366 Die von Bonus als „Geheimreligion“ beschrie bene freie Religiosität der Gebildeten blieb hier ein Anliegen, dem Traub auch kirchenpolitisch zum Durchbruch zu verhelfen hoffte. Auch nachdem sich die öffentliche Entrüstung gelegt hatte, propagierte Traub einen freien, volkskirch lichen Protestantismus gegen das wilhelminische Landeskirchentum. Im Früh jahr 1914 wandte er sich allerdings vertraulich an Bonus „zwecks Anbahnung einer neureligiösen Bewegung“. Gemeinsam mit Paul Göhre und dem Kultur publizisten Walther Vielhaber war es Traub gelungen, in einer Stiftung die be trächtliche Summe von 100 000 Mark einzutreiben. Im Mai 1914 hatte Göhre in Berlin eine „Vereinigung zur Pflege und Förderung ethisch-neureligiöser Be strebungen“ ins Leben gerufen, die trotz ihres Namens eine freiprotestantische Religiosität vertrat. Grundlage war die Suche nach Alternativen zu den „nicht mehr glaubhaften Lehren der Orthodoxie“, die Göhre auch nach seinem 1906 erfolgten Kirchenaustritt beschäftigten.367 Traub plante für Herbst 1914 eine Zu sammenkunft, „bei welcher die einzelnen Freunde sich einmal gründlich über die gegenwärtige religiöse Lage aussprechen und sich in ihren Bestrebungen kennen lernen sollen.“368 Bonus war dafür vorgesehen, einen „Katechismus […] für fortgeschrittenes Christentum“ zu schreiben, der jedoch unter den Kriegs bedingungen nach 1914 nicht mehr zustande kam.369
4. Gogarten Bonus’ Beobachtung einer sich zu einer Revolution zuspitzenden Religionskrise erhielt ab 1910 durch einen jungen, ratsuchenden Theologen ihre Bestätigung: Friedrich Gogarten. Gogarten befand sich gerade in der Abschlussphase seines Theologiestudiums und suchte bei dem als religiösem Intellektuellen bekannten Bonus nach Orientierung. Die Spätsommermonate von August bis Oktober 1910 verbrachte er im Hause Bonus in Fiesole, in dem er mit dem Ehepaar Bonus zwei persönliche wie berufliche Ratgeber fand. Ein regelmäßiger, dichter Brief wechsel folgte, in dem private Unsicherheiten und Gefühle erörtert wurden, vor allem aber die religiöse Gegenwartslage ein beständiges Thema war. Bonus – 366 Briefe Traub an Bonus, 4.11.1912 und 27.5.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_001/ 14_010]. 367 So die Zusammenfassung der Motive durch den Mitbegründer Conze (Brief Conze an Bonus, 27.4.1915 [ebd., 21_002]). Allerdings bestanden zur inhaltlichen Ausrichtung unter den Mitgliedern auch Differenzen laut einer Bemerkung von Traub, der gegenüber Bonus die „ausgesprochen rationalistisch-ethischen“ Vorstellungen einiger Mitglieder hervorhob (Brief Traub an Bonus, Dortmund 12.4.1915 [ebd., 14_010]). 368 Brief Traub an Bonus, 27.5.1914 [ebd., 14_010]. 369 Briefkonzept Bonus an Traub, 20.3.1915 [ebd., 14_010].
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und auch seine Frau Beate – nahmen in dieser Lebensphase Gogartens bis 1920 eine prägende Mentorenfunktion ein. Rasch entwickelte sich ein vertrauensvol les Verhältnis und gegenseitige Bewunderung. Bonus erschloss ihm den Zu gang zur Verlagswelt um Eugen Diederichs sowie zum Umfeld Rades; Gogarten wurde seinerseits für Bonus wichtig, weil seine religiöse Suchbewegung das Gären einer neuen religiösen Anschauung zu belegen schien, die über das kirch liche Christentum hinauswuchs, außerdem, weil er in ihm einen gleichgesinn ten religiösen Aufrührer erkannte, der in ähnlicher Radikalität mit Theologie und Kirche ins Gericht ging. Gogartens Anfragen an den Gegenwartsprotestan tismus schienen ein Echo auf seine eigenen Prognosen darzustellen. Ein zweiter Italienaufenthalt bei Bonus erfolgte vom September 1912 bis Juni 1913. Wäh rend dieser Zeit arbeitete Gogarten mit Bonus’ Unterstützung an einer Lizenti atenarbeit über den Philosophen Fichte. In der Eugen-Diederichs-Festschrift Im Zeichen des Löwens von 1927 stellte Gogarten rückblickend fest, Bonus habe ihn davor bewahrt, dass er in seinem „theologischen Studium nie dem Liberalismus verfallen“ sei.370 Auch gegenüber Bonus selbst brachte er 1913 auf der Rückreise nach Deutschland zum Aus druck, dass die gemeinsamen Gespräche bei ihm tiefe Spuren hinterlassen hatten: […] vielen, vielen Dank. Ich möchte wohl, ich könnte Ihnen sagen, was ich Ihnen danke. Das war ja früher schon viel. Sie werden es ja auch gemerkt haben, wie Ihre Gedanken an allen Ecken u. Enden mich beeinflußt haben, […]. Und nun, daß ich so lange Zeit mit Ihnen leben konnte. Ich denke mir als Dank an Sie, daß manches von dem in mir lebendig würde, was bewußt u. unbewußt an mich gekommen ist diese lange Zeit hindurch.371
Die biographische Gogarten-Forschung beschreibt einhellig, wie sehr er von Selbstzweifeln und von Unsicherheit gegenüber dem Theologiestudium und den sich daraus ergebenden Berufsperspektiven im Pfarramt geplagt war.372 Mit Bonus war ein Vorbild gefunden, das solchen Skrupeln an der Fachtheologie intellektuell und polemisch Stimme verleihen konnte und ein religiöses Einzel gängertum förderte. Gogarten hatte sich in seinem Studium intensiv mit Schrif 370 So
Gogartens Würdigungsschreiben für Diederichs: Im Zeichen des Löwen. Für ugen Diederichs zum 60. Jahr am 22.6.1927, Leipzig 1927, 161 f. Dieses Zeugnis scheint für E Bonus sehr wichtig gewesen zu sein; in der Korrespondenz mit Wilhelm Stapel findet sich eine Mitte der 1930er Jahre entstandene Abschrift der ihn betreffenden Sätze Gogartens (undatiertes Typoskript [ebd., 24_006]). 371 Brief Gogarten an Bonus, 3.7.1913 [ebd., 01_061.03]. 372 Gogartens frühe Bonus-Rezeption wird ausführlicher erörtert von K roeger: Gogarten, 37–41. Für einen anregenden Austausch über die Beziehung zwischen Gogarten und Bonus danke ich Timothy Goering. Seine Gogarten-Biographie konnte für diese Arbeit leider nicht mehr ausgewertet werden (Friedrich Gogarten (1887–1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege, Berlin 2017).
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ten von Gottfried Traub und von Bonus auseinandergesetzt, in den liberalen Hochburgen Jena und Heidelberg bei Heinrich Weinel und Ernst Troeltsch Vor lesungen gehört, eine Grunddistanz gegenüber dem kirchlichen Christentum aber nicht überwinden können.373 In aller Offenheit schrieb er an Bonus, dass er „mitten in der Krise“ stehe: Die „Beschäftigung mit der Theologie“ habe ihn „gründlich ausgetrocknet“.374 Es war vermutlich Friedrich Niebergall, der ihn von Heidelberg aus an Bonus vermittelt hatte.375 Gogarten erhoffte sich von ihm Führung zu religiöser Tiefe, während die zeitgenössische Theologie bei ihm eher geistige Leere hinterlassen hatte. Gogartens briefliche Äußerungen brachten eine grundsätzliche Irritation am akademisch-theologischen Betrieb zum Ausdruck. Er habe einen „großen Hor ror vor der Universitätsatmosphäre“, erklärte er Bonus im Frühjahr 1911. Einige Tage später schrieb er von grundlegenden Zweifeln, ob der wirklich Religiöse in der Kirche der Gegenwart eine Heimat finden könne: Kann man eigentlich in der Kirche blieben, wenn man der Überzeugung ist, daß sie doch nur so eine Art Treibhaus ist, in dem man kostbare Pflanzen mit vieler Mühe, u. ohne daß sie sich recht entwickeln können u. dürfen, durch den Winter bringt?376
Die hier zur Sprache gebrachte Ablehnung gegenüber der Kirche als Institution sowie gegenüber dem akademischen Theologiebetrieb als einer lebensfremden Theorie verband sich leicht mit den Ansichten von Bonus. Beiden erschien die Landeskirche als ein düsterer, lebensfeindlicher „Keller“ und als Hemmnis für freiere religiöse Äußerungen, wie besonders die „Fälle“ Jatho und Traub ver deutlichten.377 Die Gewissenszwänge jüngerer Theologen lieferten Bonus zweimal den An lass, angesichts der konservativen Kirchendisziplin in der Christlichen Welt zu den inneren Voraussetzungen des Theologiestudiums Stellung zu beziehen. Ein erster „offener Brief an einen jüngeren Theologen“ erschien im Juni 1910 kurz vor Gogartens Italienbesuch.378 Bonus verwies hier auf eine jenseits der etab 373 Von Bonus hatte er Religion als Schöpfung sowie Vom Kulturwert der deutschen Schule gelesen, vgl. Brief Gogarten an Bonus, 3.7.1913 [ebd., 01_061.03] sowie den Rückblick: Im Zeichen des Löwen, 161. 374 Brief Gogarten an Bonus, 18.2.1911 [ebd., 01_061.01]. 375 Brief Gogarten an Bonus, Heidelberg, 12.2.1911 [ebd., 01_061.01]. Niebergall setzte sich auch in den Folgejahren für den unsicheren Theologiestudenten ein, um ihm zu einem Pfarrvikariat in einem geistig freien Klima zu verhelfen. 376 Postkarte bzw. Brief Gogarten an Bonus, 28.4.1911 und 9.5.1911 [ebd., 01_061.01]. 377 Brief Gogarten an Bonus, 26.6.1911 [ebd., 01_061.01]. 378 Ernst Troeltsch berichtete 1910 in dem Vortrag „Religiöser Individualismus und Kir che“ von einem Gespräch mit einem „jungen Theologen“, der sich mit dramatischen Selbst zweifeln und der Frage an ihn gewandt hatte, ob es Sinn mache, in der Kirche als „Stätte der Phrase und der Unwahrhaftigkeit“ als Pfarrer zu arbeiten. Bei dem Studenten handelte es sich
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lierten „Richtungen und Parteien“ wirkende Gruppe von religiösen Neuerern – Nietzsche, Kierkegaard, Lagarde „und noch Neuere“ –, die er auf einer „inner christlichen“, wenn auch von der Kirche misstrauisch beäugten Entwicklungs linie ansiedelte.379 Der Drang nach freierer Religiosität gehörte demnach in die Geschichte des Christentums hinein. Er stellte den eigentlichen Motor wachsen der Gotteserkenntnis dar, selbst wenn diese über die Kirche als Institution hin auswuchs. Wer aus innerem Drang heraus freiere religiöse Bilder schuf, gehörte demzufolge zu den Pionieren der Christentumsgeschichte. Es passte zu Gogar tens beruflichen Bedenken, wenn Bonus die „Reibungsmitte“ zwischen „Geist“ und „Institution“ zum Bewährungsort erklärte, an dem den sensibleren Reli giösen die Versuchung ereilen konnte, die Kirche zu verlassen.380 Deutlicher wurde er 1912 in einem weiteren, ebenso in der Christlichen Welt erschienen Artikel, in dem er öffentlich auf Gogartens Entsetzen reagierte, das das zweite Disziplinarverfahren der Vorkriegszeit, der Amtsausschluss Gottfried Traubs, bei diesem geweckt hatte. Es lässt sich vermuten, dass Bonus’ eigene Erfahrun gen mit der Kirchenbehörde in seine Stellungnahme einflossen, die einerseits zum Theologiestudium ermutigte, gleichzeitig aber darauf hinwies, dass bei innerer „Tapferkeit und Redlichkeit“ ein Konflikt und „Chikanierung“ unaus weichlich sein könnten. Die Streitfälle im deutschsprachigen Protestantismus ließen die Gegenwart als Zeit erscheinen, in der das Opfer beruflicher Sicherheit zugunsten eines partisanenhaften Wahrheitskampfes im Kirchendienst geboten war: Jetzt ist Not am Mann, jetzt werden die Männer Goldes wert in diesem gefährlichen Beruf. Jetzt kann man religiös erleben in ihm. Die Zeit der Zeugen und Propheten kehrt wieder.381
Gogarten legte im Briefwechsel mit Bonus sein Innerstes im Ringen mit der Kirche offen; zudem suchte er offenkundig Anschluss an die von diesem reprä sentierte freie, antitheologische Denkweise. Es berührte sich eng mit Bonus’ Angriffen auf den Amtsprotestantismus, wenn er die Lebensferne und das um Gogarten (vgl. K roeger: Gogarten, 63; Ernst Troeltsch: Religiöser Individualismus und Kirche, abgedruckt in: Zur religiösen Lage, Tübingen 1913, 109–133, 110 (GS II) (zuerst in: Protestantische Monatshefte (1911)). Bonus’ erster „offener Brief“ in der Christlichen Welt stellte die Antwort auf eine Zuschrift eines nicht genannten Theologiestudenten dar, der sich zuvor mit Bonus’ Schriften auseinandergesetzt hatte. Rade wurde der Brief am 10.4.1910 angekündigt (Brief Bonus an Rade, 10.4.1910 [ebd., 24_007]). Die erhaltene Korrespondenz zwischen Bonus und Gogarten setzt erst mit einer Postkarte an Gogarten vom 28.9.1910 wäh rend seines ersten Italienaufenthalts ein. Ein direkter Bezug lässt sich also nicht belegen, ich halte ihn aber für plausibel. 379 Bonus: Offener Brief an einen jungen Theologen, in: CW 24 (1910), 506–510 380 Ebd., 507. 381 Ders.: Offener Brief an einen jungen Theologen, in: CW 26 (1912), 1024–1025.
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Theoriehafte des protestantisch-theologischen Denkens der Gegenwart beklag te. Die Briefe, die er von Bonus erhielt, reflektierten wiederum seine Skepsis, indem sie einen scharfen Gegensatz zwischen der Lebens- und Geistesfreiheit einer erneuerten Religiosität und dem Kirchentum zeichneten. Bei Bonus drückte sich das brieflich das so aus: Drinnen hallet die Stimme an steinernen Säulen und Wände/draußen geht frei der Geist durch ein freies Gelände/drinnen spinnen die Spinnen ihr spinthisiertes Gespinnste/draußen zerteilet die labende Sonne der Menschenwerk gespenstische Künste.382
Trotz dieser scharfen Gegenüberstellung von „drinnen“ und „draußen“ entstand Einigkeit, dass nur von innen heraus im „Kampf“ mit der Kirche „das Gute u. [nd] Tiefe wachsen“ könne.383 Als Hauptwiderstand gegen ein solches religiösen Wachstums markierten Bonus und Gogarten den kirchlichen Liberalismus – das „große Schreckge spenst“.384 Dieser „dämpfte“ durch seine rationalistische Ausrichtung den Zu gang zu wirklicher Religion ab. Zumal die historisch-liberalen Christologien stießen Gogarten ab, da sie einem unverstellten Gotterleben im Wege standen. Er habe „einen Ekel vor dieser liberalen Christologie, vor der widerwärtigen, gekünstelten Übersetzerei, mit der sie zusammenkonstruiert ist,“ teilte er Bonus aus Heidelberg mit.385 Es waren viel eher die Schweizer religiösen Sozialisten wie Leonhard Ragaz, bei denen er so etwas wie „seelische Wucht“ empfand, was Bonus ganz ähnlich sah.386 Im Sommer 1912 hatte Gogarten Ragaz in Zürich gehört und Bonus davon begeistert berichtet.387 Sonst war es nur noch Kierkegaard, der sich als „Labsal“ gegenüber kirchlicher Seichtigkeit empfeh len ließ.388 Unverkennbar trafen hier zwei religiöse Intellektuelle aufeinander, die zutiefst die Not empfanden, eine „Befreiung“ vom bürgerlich-liberalen Pro testantismus zu erreichen.389 Damit war die Grundlage für eine literarische Zusammenarbeit gelegt, die sich erst nach 1919 lockern sollte, als sich Gogarten mit Karl Barth und der „dialekti schen Theologie“ einer neu entstehenden theologischen Konstellation anschloss. Zunächst gehörte er in das Umfeld des freien, sich als kirchliche Protestbewegung gerierenden Protestantismus, das in ihm einen geistigen Mitarbeiter erkannte, den 382
Brief Bonus an Gogarten, 6.7.1912 [UB Göttingen, NL Gogarten]. Brief Gogarten an Bonus, 21.7.1912 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.02]. 384 Brief Gogarten an Bonus, 26.6.1912 [ebd.]. 385 Brief Gogarten an Bonus, 21.7.1912 [ebd.]. 386 Brief Gogarten an Bonus, 26.6.1912 [ebd.]. 387 Ebd. sowie Brief Gogarten an Bonus, 30.7.1913 [ebd., 01_061.03]. 388 Brief Bonus an Gogarten, 6.7.1912 [UB Göttingen, NL Gogarten] sowie das Antwort schreiben Brief Gogarten an Bonus, 21.7.1912 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.02]. 389 Brief Gogarten an Bonus, 21.7.1912 [ebd.]. 383
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es nach Kräften zu fördern galt.390 Bonus spannte Gogarten ab 1911 in die Korrek turen zu seinen Diederichs-Bänden zur religiösen Krisis ein, was dieser als Gele genheit begrüßte, durch die intensive Textarbeit in Bonus’ „Schule gehen zu kön nen“ und darin Klärung zu gewinnen: „Vielleicht hilft es mir auf den eigenen We gen weiter.“391 Wie stark sich seine Einflüsse in den letzten Vorkriegsjahren bis in die Formulierungen hinein auf Gogarten auswirkten, zeigte bereits ein Aufsatz, den dieser 1910 in der Traub’schen Christlichen Freiheit veröffentlichte. „Wie kommen wir zu einem lebendigen Gott, der nicht nur ein Gedanke, sondern die Tatsache unseres Lebens ist?“, war die bestimmende Fragestellung, die dem von Bonus vorgebildeten Oppositionspaar von religiösem Erleben und wirkungslosem reinen „Denken“ folgte.392 Seine Zweifel richteten sich auf den modernen Protes tantismus als einer flachen, „rein vernünftigen Weltanschauung“; an ihr vermisste er eine „starke Religiosität“, welche die zur „Phrase“ gewordenen Formeln der „bloßen Kirchenchristen“ wieder zu gegenwärtigen „Wirklichkeiten“ machte. 1912 widmete Gogarten dem gerade erschienenen Neuen Mythos eine aus führliche Besprechung. Aus seiner Sicht brachte dieser Entwurf die derzeitige religiöse Zerfahrenheit treffend zum Ausdruck. Bonus lote die Möglichkeiten aus, wie „dem kommenden religiösen Wollen zur ungebrochenen und mutigen Selbstaussprache [zu] verhelfen“ sei.393 Das war der rhetorische Duktus, in dem sich die zeitgenössischen Ankündigungen einer Zukunftsreligion ergingen; Gogarten hingegen wies nachdrücklich darauf hin, dass es sich bei Bonus’ An 390 Das wurde in Bonus’ Briefnetzwerk klar erkannt und zur Sprache gebracht. Als Go garten 1913 als Hilfsprediger nach Stolberg in die rheinische Kirchenprovinz geschickt wur de, empfing Gottfried Traub ihn als einen Gleichgesinnten, dem in seiner neuen Funktion „etwas sonderbar zu Mute“ sei. Gegenüber Bonus betonte er die persönliche Nähe: „Ich freue mich, diesem tüchtigen Menschen wieder begegnet zu sein“ (Brief Traub an Bonus, 12.12.1913 [ebd., 14_010]). Ähnlich erfreut begrüßte Karl König seinen Wechsel nach Bremen: „Sehr viel habe ich an Gogarten. Er ist einer der wenigen Theologen, die von hoher Religion sind und an dem die Theologie das eigene Denken und Empfinden nicht alteriert hat. Freilich er leidet hier viel an seiner Kirche, und an unserem Bremer Liberalismus auch. Ich aber bin dankbar, daß ich ihn noch hier habe und hoffentlich noch einige Zeit behalte“ (Brief König an Bonus, 28.12.1915 [ebd., 21_003]). 391 Brief Gogarten an Bonus, 18.2.1911 [ebd., 01_061.01]. 392 Friedrich Gogarten: Ein Versuch einer Antwort, die eine Frage löst durch Stellung einer schwereren“, in: Christliche Freiheit 26 (1910), 485–487. Vgl. K roeger: Gogarten, 44. 393 ders.: Arthur Bonus, Typoskript 1912, 1 [UB Göttingen, NL Gogarten]. Dabei handel te es sich um eine unveröffentlicht gebliebene Replik auf eine Rezension von Otto Baltzer in der Christlichen Welt (Die Religion der Zukunft, in: CW 25 (1911), 1194–1197), die seine Entrüstung ausgelöst hatte (Brief Bonus an Gogarten, 16.3.1912 [ebd.]; Brief Gogarten an Bonus, 28.4.1912 und 3.4.1912 [LKA Eisenach, 01_061.02]; Bonus leitete den Artikel aus unklaren Gründen erst im Dezember an Martin Rade zur Veröffentlichung weiter (Bonus an Rade, 15.12.1912 [ebd., 24_007]).
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liegen um nichts anderes handeln konnte als um eine Rückkehr zum ursprüng lichen Gotterleben des Urchristentums, jedoch nicht in einer „theologischen“ Gestalt, sei es „liberal oder orthodox oder modern-positiv“, sondern in der un verstellten Weise, wie es sich „sehr ungestüm, sehr untheologisch, sehr unge setzlich“ im Neuen Testament ausgedrückt hatte.394 Dieses Christentum wurde als einer bürgerlichen Kulturreligion entgegengesetzt aufgefasst, nämlich als ein voluntaristisches Entwicklungs- und Zukunftsdenken, das es ermöglichte, das wilhelminische Konventionen- und Moralkorsett zu durchbrechen. Gogar ten stieß hier auf einen engagiert geführten Kampf gegen ein rationalistisches Wirklichkeitsverständnis, gegen das die lebendigen religiösen Erfahrungen als „Offenbarungen des viel stärkeren Lebens, das hinter unserem gewöhnlichen Leben läuft und das hineinbrechen will in die Menschenwelt“ gezeichnet wur den.395 Religion stelle jenseits von allen sittlichen, wissenschaftlichen oder kul turellen Gedankengängen ein „Wagnis“ und eine „Lebensnotwendigkeit“ dar, ganz anders als es die „Schwächlichkeitsausbrüche“ der Gotteskonstruktionen in der zeitgenössischen Theologie ausführten.396 Was Gogarten zusammenfassend an Bonus beeindruckte, war der Kampf ei nes Theologen gegen die von ihm selbst ähnlich empfundene Flachheit einer Theologie, die zu einer „schematischen Technik und unpersönlichen Wissen schaft“ geworden war.397 Dieser Vorwurf war vor allem gegen den theologi schen Liberalismus gerichtet, der in seiner historischen Ausrichtung am eigent lichen Kern des Christentums vorbeiführte. Bonus war zum revolutionären Vorreiter eines seine kulturellen Bindungen sprengenden Christentumsver ständnisses und zum persönlichen Wegweiser geworden.
5. Ein deutsches „Kulturprogramm“: Fichte Die gedankliche Verbindung zwischen Bonus und Gogarten manifestierte sich in der gemeinsamen Beschäftigung mit Fichte. Für beide wurde der Philosoph zu einem visionären Vordenker, dessen Werk Aufschlüsse darüber versprach, wie sich die religiöse und kulturelle Gegenwartskrise überwinden ließ. Wie Bonus 1913 in der Zeitschrift Das neue Deutschland euphorisch erklärte, war Fichte für ihn ein nationaler „Prophet, vielleicht der einzige […] seit Luther“.398 394
Ebd., 3. Ebd., 6. 396 Ebd., 11–17. 397 Ders.: Arthur Bonus. Zur religiösen Frage, Typoskript 1915, 2 [UB Göttingen, NL Gogarten], eine unveröffentlichte Rezension zu Bonus: Religion als Wille, Jena 1915. 398 Bonus: Was haben wir noch mit Fichte gemein?, in: Das neue Deutschland 2 (1913), 525–527. 395
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Die Wiederentdeckung Fichtes war in den letzten Vorkriegsjahre keineswegs ungewöhnlich.399 Eine neuidealistische Fichte-Rezeption fand an den Universi täten und in den Kulturzeitschriften Verbreitung. Zwischen Bonus und Gogar ten schien der Philosoph bereits 1910 ein Thema gewesen zu sein; eine intensive Zusammenarbeit über den Philosophen begann jedoch während Gogartens zweitem Italienaufenthalt und hinterließ bei Bonus einen tiefen Eindruck. Sie schlug sich in Gogartens erster eigenständiger Veröffentlichung Fichte als religiöser Denker nieder, die auf Bonus’ Vermittlung hin im Fichte-Jahr 1914 im Diederichs-Verlag erschien.400 Aber auch Bonus wandte sich dem Denker in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen zu. Am 15. Dezember 1912 schrieb er an Martin Rade, dass Fichte „als Mensch und religiöser Genius“ für die Gegenwart ganz neu erschlossen werden müsse, im Januar 1913 ließ er sich von ihm die fehlenden Bände der Medicus’schen Werkauswahl schicken.401 Schon 1912 hat te er erfolglos versucht, in den Sozialistischen Monatsheften einen Aufsatz un terzubringen, in dem er Fichte zum Wegbereiter einer zukünftigen Verbindung von Religion, Sozialismus und Nation erklärte. Ein völlig neues Staatsdenken schien sich hier entwickeln zu lassen, das in revolutionärem Gestus mit dem wilhelminischen Regierungssystem brach. Es belegt die übergreifende Kombi natorik der wilhelminischen Weltanschauungsdiskurse, dass Bonus mit seiner religiösen Fichteinterpretation an ein, wenn auch revisionistisches, Publika tionsorgan der Sozialdemokratie gedacht hatte. Obwohl Paul Göhre als Redak tionsmitglied der Monatshefte die Veröffentlichung ablehnen musste, beschied er Bonus zu dem sich hier anbahnenden Neuentwurf: „Du hast nur zu Recht; der Fichtesche Weg ist der allein mögliche für uns.“402 Auch Eugen Diederichs be fand sich wie viele andere Intellektuelle kurz vor dem Ersten Weltkrieg in einem neufichteanischen Aufwind: „Es freut mich von Ihnen zu hören,“ schrieb er an Bonus, „dass Sie Fichte so nahe stehen, denn Fichte ist ganz mein Mann.“403
399 Zur Ideologisierung Fichtes nach der Jahrhundertwende vgl. Jens Nordalm: Fichte und der ‚Geist von 1914‘. Kulturgeschichtliche Aspekte eines Beispiels politischer Wirkung phi losophischer Ideen in Deutschland, in: Fichte-Studien 15 (1999), 211–232. 400 Bonus sandte Gogartens Manuskript im Oktober 1913 an Diederichs (Brief Diederichs an Bonus, 8.10.1913 sowie Brief Bonus an Gogarten, 14.10.1913 [UB Göttingen, NL Gogar ten); weiterhin unterstützte er ihn bei den Honorarverhandlungen (Postkarten Bonus an Go garten, 22.10.193, 23.11.1913 und 28.11.1913 [ebd.]). Im Sommer 1913 war noch an eine Ver öffentlichung als Aufsatz in der Zeitschrift für Theologie und Kirche gedacht worden; Rade empfahl aber die Erweiterung zu einer eigenständigen Broschüre (Brief Gogarten an Bonus, 7.7.1913 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.03]). 401 Postkarten Bonus an Rade, 15.12.1912 und 11.1.1913 [ebd., 24_007]. 402 Postkarte Göhre an Bonus, 1.2.1912 [ebd., 13_003]. 403 Brief Diederichs an Bonus, 8.10.1913 [UB Göttingen, NL Gogarten]. Bonus hatte den
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Sowohl Gogarten als auch Bonus lasen Fichte als religiösen Denker, dessen Entwurf erfolgreich über ein bürgerlich-rationalistisches Vernunftverständnis hinauszuführen schien und eine rein intellektualistische Anschauung von Ge schichte und Wirklichkeit zu überwinden half. Aus den „Trümmern“ des philo sophischen Fichte müsse nun „der religiöse Genius“ geborgen werden, dessen Werk das „Bildmaterial“ für die kommende Kulturentwicklung vorzeichne.404 Bonus zufolge entwickelten Fichtes Gedankengänge genau jene zukunftsorien tierte Weltsicht, welche die moderne „Geheimreligion“ der Gebildeten für die Gegenwart einforderte.405 Gogarten schrieb im Oktober 1913 an Bonus, dass ihm die Arbeit an Fichte die „Verbindung von Mystik und Geschichte“ verdeut licht habe.406 Dieser hatte ihn gedrängt, neben Fichte auch Lagarde zur Kennt nis zu nehmen, der deswegen Bewunderung verdiente, weil er über Gott ohne „widerwärtig frömmelnde Phrasen“ sprechen konnte.407 Damit war die Fichte- Lektüre von vorne herein auf patriotische Geleise gestellt. Die gemeinsame Arbeit an Fichte schuf eine intensive Diskursgemein schaft.408 Bonus und Gogarten galt Fichte als ein Philosoph, der sich erfolgreich gegen eine bloße Vernunft gewandt und das Dasein als eine schöpferische, le bendige Wirklichkeit betrachtet hatte. Die Denkweise Fichtes wurde nicht als „unmenschlich, rigoros, kalt“ empfunden; vielmehr sprach aus dem Philoso phen „ein wundervolles tiefes Vertrauen zu Gott. Und alles Handeln ist in Gott geborgen, es quillt aus dem Vertrauen zu ihm u.[nd] wird von seinem Willen aufgenommen. Fichte verbindet mit der äußersten Autonomie des Handelns eine tiefe Hingebung an Gott.“409 In den religiösen Aporien des wilhelminischen Protestantismus, die Bonus und Gogarten miteinander diskutierten, eröffnete das eine neue Perspektive. Fichte wies in eine Richtung, in der sich die von Grund auf erneuerte Religionskultur abzeichnete, die Bonus als „neuen My thos“ bezeichnet hatte. In Gogartens Augen erhielt Bonus’ religiöses Zukunfts denken wie die eigene religiöse Suche eine philosophische Rahmengebung: „In Brief, in dem Diederichs Interesse an Gogartens Fichte-Thema bekundete, an Gogarten wei tergeleitet. 404 Bonus: Was haben wir noch mit Fichte gemein?, in: Das neue Deutschland 2 (1913), 525–527. 405 Ders.: Fichte als religiöser Genius; in: Das neue Deutschland 2 (1913), 561–563, 561. 406 Brief Gogarten an Bonus, 14.10.1913 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.03]. 407 Brief Gogarten an Bonus, 8.9.1913 [ebd., 01_061.03]. 408 Bonus wies in verschiedenen Aufsätzen darauf hin, dass er die Beschäftigung mit Fichte einem „jungen Freund“ verdanke, nämlich Gogarten (Fichte als religiöser Genius; in: Das neue Deutschland 2 (1913), 561–563, 561; auf Gogarten als Vorbild einer auf die „Tat“ und das Handeln verweisenden Fichteinterpretation auch ders.: Schopenhauer oder Fichte. Asiatische oder abendländische Religion, in: Der Tag 14.2.1914). 409 Brief Gogarten an Bonus, 21.7.1912 [ebd., 01_061.02].
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vielem ist Fichte merkwürdig modern (vieles von dem, was Sie im Neuen My thos schreiben, paßt auf ihn).“410 Hatte Gogarten durch Korrekturen den Entstehungsprozess von Bonus’ My thos-Band akkurat begleitet, wurde dieser nun als Ratgeber eng in das Schrei ben der Fichte-Arbeit einbezogen. War die Studie zunächst als wissenschaftli che Qualifikationsschrift angedacht, geriet sie zunehmend zu einer vergegen wärtigenden Deutung des Denkers.411 Wie Gogarten mitteilte, hatte er keine strenge philosophische Fichte-Exegese im Sinn, sondern beabsichtigte eine Darstellung, in der „Fichte sozusagen nur der Anlaß der Erwägungen ist.“412 Das kam auch im Vorwort zum Ausdruck, demzufolge Gogarten die Absicht verfolgte, „Fichtes Gedanken in unsere eigene Sprache zu übersetzen“.413 Bonus zeigte sich beeindruckt; mit Gogartens „Gedankengang“ war er „ganz einverstanden“, wie er nach Durchsicht des Manuskripts schrieb.414 In der Tat fanden sich hier an Fichte Vorstellungen exemplifiziert, die er selbst als grund legend für das kommende religiöse Fühlen betrachtete. Gogarten hielt es für entscheidend an Fichte, dass dieser „Handeln“, also menschliches Schaffen und Zukunftsstreben in der Geschichte, mit der „Mystik zusammengebracht hat“.415 Das Dasein war, so Gogartens Interpretation, „ewige Bewegung“ hin zu „neue rer, vollkommenerer Gestalt.“416 Durch die Brille Fichtes betrachtet – so schrieb es Gogarten – wurde die Welt „zu einer, die in alle Ewigkeit neue Formen und neue Gestalten annehmen soll“.417 Ein solch aktivistisches und weltzugewandtes Mystikverständnis verband Fichte in Gogartens Augen mit dem Werk von Bo nus, das sich ebenso durch eine „starke Betonung der Mystik und de[n] stete[n] Hinweis auf das Tätige in der Mystik“ auszeichne.418 410 Ebd. Das sah Bonus genauso: Für ihn lag Fichtes Gegenwartsbedeutung u. a. darin, dass er die Grundlagen des neuen „Mythos“ gelegt habe (Was haben wir noch mit Fichte gemein?, in: Das neue Deutschland 2 (1913), 525–527). 411 Gogarten verzichtete mit der Veröffentlichung des Buches auf den theologischen Licentiatengrad, der vor der Veröffentlichung der Licentiatenarbeit die akademische Prüfung vorschrieb, vielmehr bekannte er sich zu der freien Religionsdeutung des Eugen-Dieder ichsVerlages; vgl. K roeger: Gogarten, 75. 412 Briefe Gogarten an Bonus, 16.9.1913 und 18.9.1913 [ebd., 01_061.03]. 413 Friedrich Gogarten: Fichte als religiöser Denker, Jena 1914, 4. 414 Brief Bonus an Gogarten, 18.10.1913 [UB Göttingen, NL Gogarten]. Das belegen auch die zahlreichen Bleistiftanmerkungen von Bonus in Gogartens Arbeitsmanuskript, das er vollständig durchgearbeitet hatte [ebd., Cod Ms F. Gogarten 57]. Neben teilweise ausführli chen Erweiterungen der Gedankenführung finden sich immer wieder Randnotizen wie „Gut“, „Sehr gut!“ oder „richtig“, die Bonus’ Zustimmung signalisierten. 415 Gogarten: Fichte als religiöser Denker, Jena 1914, 3. 416 Ebd., 11. 417 Ebd. 418 Briefe Gogarten an Bonus, 16.9.1913 und 18.9.1913 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.03].
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
Gogarten und Bonus lasen Fichte zudem beide als Vordenker eines spezifisch deutschen Idealismus. Für beide bestand eine enge Verbindung zwischen dem mit Fichte konstruierten handlungsbezogenen Mystikbegriff und einer ins Reli giöse gesteigerten „Vaterlandsliebe“. Gogarten fand hier Formulierungen, die eng mit den Überlegungen von Bonus zum Verhältnis des Einzelnen zur Nation verwandt waren: Das Volk als eigentümliche Offenbarung des göttlichen Lebens, das ist die Voraussetzung für das nationale Denken dieser Mystik. So steht das Volk unter jener großen Gemeinschaft, die das ganze Menschengeschlecht umspannt. Es ist ein organischer Teil von ihr, wie das einzelne Individuum wieder ein organisches Glied der Volksgemeinschaft ist. […] Soweit das ursprüngliche Leben des Individuums in irdischen Aufgaben zeitliche Formen annimmt, ist es bestimmt durch das Volk, aus dem es stammt und in dem es aufwuchs. Das Volk ist eine ganz bestimmte Art, in der das göttliche und ursprüngliche Leben sich ent wickelt.419
Eine so geartete nationale Mystik würde das „Selbstische, Eigensüchtige“ des wilhelminischen Bürgerbetriebs ablegen und eine interessengeleitete „Politik im gewöhnlichen Stil“ unmöglich machen.420 Diese nationalreformerische Lesart trat auch in Bonus’ Fichte-Aufsätzen in den Vordergrund, die hier abschließend neben Gogartens Entwurf zu legen sind, um die spezifische Vermischung von religiösen und nationalen Stimmun gen in der Interpretation des Philosophen zu verdeutlichen.421 Die verschiede nen, gedanklichen Fäden, die Bonus seit der Jahrhundertwende zu knüpfen be gonnen hatte und die immer wieder das Thema einer intellektuellen und reli giösen Krise umspannen, ließen sich mit Fichte verknoten. Sie liefen auf die Vorhersage einer nationalen und religiösen Gemeinschaft hinaus, die eine deut sche Moderne begründen würde. Insofern lässt sich Bonus’ Fichte-Lektüre nicht auf einen unpolitischen „Vulgär-Idealismus“ begrenzen.422 Als idealisti schen Traditionshintergrund für seinen Kulturprotest destillierte Bonus mit Fichte ein deutsches „Kulturprogramm“, das im Februar 1914 im Kunstwart erschien und aus den Reden an die deutsche Nation herausgearbeitet war.423 Bonus verteilte dieses Programm auf drei Ebenen, die auf die Begründung eines neudeutschen Patriotismus abzielten, der sich vom „Geschäftspatriotismus“ des wilhelminischen Bürgertums abheben sollte. Untertanen sollten zu bewussten 419
Gogarten, Fichte als religiöser Denker, 117. Ebd., 116. 421 Bonus: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik, in: CW 28 (1914), 791–796.808–813, 793; ders.: Fichtes schriftstellerische Persönlichkeit, in: Neue Rundschau 25/1 (1914), 227–236; ders.: Ein deutsches Kulturprogramm, in: Kunstwart 27/2 (1913/14), 169–181; ders.: Vater landsliebe und Weltsprache, in: ebd., 27/3 (1913/14), 2–6. 422 So Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 1, München 1994, 818. 423 Bonus: Ein deutsches Kulturprogramm, in: Kunstwart 27/2 (1913/14), 169–181. 420
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Staatsbürgern werden. „Wir wollen uns endlich einen Charakter anschaffen“, lautete die Richtung, welche die Fichte-Interpretation nun auf eine Vertiefung des Nationalgefühls hin einschlug.424 Hatte der Philosoph im Zeitalter der Krie ge gegen das napoleonische Frankreich eine „Weltwende“ vom Zeitalter der „Selbstsucht“ zu dem der „Vernunft“ erahnt, hoffte Bonus angesichts der wel tanschaulichen Krisenlagen auf die Gesundungskraft einer neuen deutschen Lebensform.425 Erstens war dazu auf eine einheitliche Kultursprache hinzuwir ken, in der sich das „geistige Leben“ aller Volksschichten ausdrücken konnte. Das war ein Baustein aus dem völkischen Ideenrepertoire, der nun im gegen wartskritischen Diskurs des Kunstwarts Einsatzort fand. Eine gekünstelte Hochkultur aus „Grazie, Raffinement, Verkleidung“ war zugunsten einer ein heitlichen Aussprache des Nationalempfindens abzulehnen – ein idealistisches Nationsverständnis mit Fichte sollte die deutsche Kultur zu Echtheit und Tiefe zurückführen.426 Zweitens war mit Fichte auf eine „Bildung der Empfindung, Anschauung und körperlichen Kraft“ zu setzen, die anders als die Leistungen der gymnasialen Beschulung nicht durch „Erkriechen“ zu erreichen war, son dern zum „reinen Wollen“ und zu „Selbsttätigkeit“ befähigte.427 Drittens schließlich war eine „deutsche Weltanschauung“ zu entwickeln, die Bonus als ein „Glauben an das Höher hinauf […], an Freiheit und einen stets Neues schaf fenden Geist“ fasste. Es handelte es sich bei dem mit Fichte zu schaffenden, mystisch vertieften Nationalglauben anders als beim imperialistischen Macht denken um „etwas in sich Gekehrtes, Inniges, nach außen hin Stilles“, das gleichwohl zu einer Erneuerung des Deutschtums beitragen würde.428 Das hier zu Tage tretende Fichte-Verständnis berührte sich mit weiteren Ver suchen, mit dem Philosophen einen neudeutschen Patriotismus zu begründen. Im kulturprotestantischen Umfeld wurde Fichte zeitgleich als bedeutende Stim me einer nationalen Reform entdeckt. Martin Rade etwa begründete seinen li beral-reformerischen Patriotismus mit Fichtes Satz „Deutsch sein heißt frei sein“; er führte Fichte als philosophischen Vordenker demokratischer Forderun gen an, für den das deutsche Volk zum „freien Miturteilen“ befähigt sei und nicht als bloße „stumme Maschine“.429 Mit ähnlicher Stoßrichtung warb Fried rich Naumann im Frühsommer 1914 in der Hilfe für einen „Fichteschen Natio nalsinn“. Für Naumann war dieser Patriotismus aus dem Liberalismus und sei 424 Ebd.,
171. Ebd., 179 f. 426 Ebd., 174. 427 Ebd., 178, mit Anklängen an Lagarde. 428 Ebd., 171. 429 M artin R ade: Nationale Gesinnung. Freibund-Vortrag in Marburg und Bonn, in: Mehr Idealismus in der Politik, Jena 1911, 3–20, 10 f. 425
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Viertes Kapitel: „Sind wir noch Christen?“
ner eigenen, nationalsozialen Vergangenheit abzuleiten: „Weil ich diesem Fich teschen Nationalsinn mich zurechne, gehöre ich politisch zum Liberalismus. Fichte war der deutscheste und der freieste Mensch, den unser Volk hervorge bracht hat. Alle unsere sozialen Bestrebungen finden sich in ihren Ansätzen bei Fichte.“430 Schon in Demokratie und Kaisertum hatte Naumann die „Wieder geburt des deutschen Volkes“ in der nationalen Begeisterung der antinapoleoni schen Kriege besonders bei Fichte anfangen lassen, der mit „Ur- und Sturm gewalt“ auf einen sozialen und politischen Glauben hingedrängt habe.431 Bonus’ Aneignung des Philosophen zielte über diese Interpretationslinien, die einen liberalen Patriotismus begründen sollten, hinaus. Überschneidungen bestanden im Reformbewusstsein und auch darin, dass durch sie partizipatori sche Grundhaltungen aktiviert werden sollten. Bei Bonus verband sich aber die revolutionäre Ausrichtung gegen ein verhärtetes Kirchentum mit der Erwartung einer aus den Tiefen des Volksgeistes entspringenden Neuwerdung von Politik und Kultur gleichermaßen.
430 431
Friedrich Naumann: Deutscher Nationalsinn, in: Die Hilfe 20/13 (1914), 2–3. Ders.: Demokratie und Kaisertum, 246 f.
Fünftes Kapitel
„…wir müssten nur Ideale sehen“. Religion, Nation und Liberalismus Wie Arthur Bonus 1912 gegenüber Martin Rade bekannte, hatte er durch Fried rich Naumann auf politischem Gebiet eine „Gemütsbeziehung zum Liberalis mus“ aufbauen können.1 Ihm war er von seinen christlich-sozialen Anfängen in den Nationalsozialen Verein gefolgt; auch nach dem Scheitern des national sozialen Experimentes und dem Debakel der Reichstagswahl 1903 blieb Nau mann ein wichtiger Bezugspunkt in der Beurteilung der deutschen Politik und des deutschen Liberalismus. Die Geschichte des Liberalismus im wilhelminischen Kaiserreich ist in der Forschung immer wieder als eine Verfallsgeschichte beschrieben worden.2 Dem organisatorisch zersplitterten Liberalismus gelang es nicht wie anderen politi schen Milieus, breite Bevölkerungsschichten in einer Massenbewegung zu ver sammeln und mit eindeutigen Zielen zu verbinden. In mehrere, konkurrierende Parteiorganisationen zerfallen, fiel es ihm schwer, als Repräsentant des politi schen, gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts die divergierenden Inter essengruppen im Bürgertum zu bündeln. Auch in seiner wichtigsten Wähler gruppe, im Bildungsbürgertum, verlor er an Bindekraft, so dass die mehrfach anvisierte Sammlung eines breit angelegten und koalitionsfähigen Gesamt liberalismus ausblieb. Gleichwohl hat die jüngere Liberalismusforschung die Potentiale herausgearbeitet, die die liberalen Parteien dennoch im wilhelmini schen Politiksystem vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene besassen. Liberale Anliegen und Reformvorstellungen ließen sich zudem vielfach mit dem aufsteigenden Nationalismus verbinden.3
1
Postkarte Bonus an Rade, 22. Oktober 1912 [UB Marburg, NL Rade]. zur Geschichte des deutschen Liberalismus – solche Verfallsszenarien teilweise nuancierend – James Sheehan: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahr hundert bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988; K arl H. Pohl: Der Liberalismus in Deutschland, 1890 bis 1933, in: Philippe A lexandre/R einer M arcowitz (Hg.): Die Zeitschrift „Die Hilfe“ 1894– 1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, Bern 2011, 39–66 3 Vgl. dazu Eric Kurlander: The Price of Exlusion, New York 2006; am Beispiel Gerturd 2 Vgl.
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
Seit der Jahrhundertwende ließ sich eine verstärkte Tendenz beobachten, den Liberalismus zu revitalisieren. Solche Impulse gingen vom freisinnigen Lager aus, nicht zuletzt nach der Fusion mit dem Nationalsozialen Verein, der nun in der „Freisinnigen Vereinigung“ eine politische Plattform besaß, von der aus er erst seine „volle politische Wirksamkeit“ entfalten konnte.4 Schon Zeitgenossen betonten allerdings, dass das nationalsoziale Erbe nicht einfach den Weg in den parteipolitischen Liberalismus geebnet hatte. Der Naumannbiograph und Ger manistikprofessor Heinrich Meyer-Benfey, zugleich ein Bonus-Verehrer, fasste den gedanklichen Kern des nationalsozialen Ideenspektrums so zusammen: „Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus gehören zusammen, denn nur vereint ergeben sie eine gesunde deutsche Politik.“5 Bonus’ Äußerungen zur Begründung des deutschen Nationalismus sind an den Schnittstellen der sich überlagernden politischen Intellektuellendiskurse über eine „gesunde deutsche Politik“ nach 1900 zu beobachten. Hier wurde eine langanhaltende „Krise des Liberalismus“ wahrgenommen, die an der Schwäche der liberalen Parteien im Reichstag festgemacht wurde.6 Eine neue Politik und ein neues Nationalbewusstsein sollten hier Lösungswege anbieten. Der Liberalismus geriet erneut durch den Bülow-Block ab 1907 in Bewe gung, in dem er vom Reichskanzler in eine von den Konservativen bis zum Linksliberalismus reichende Koalition eingebunden wurde. Obwohl diese Zu sammensetzung nicht von langer Dauer war, wurde sie von vielen linksliberalen Politikern als vorbereitender Schritt hin zu einer politischen Einflussnahme im Reichstag gedeutet.7 Schon zuvor verstärkte sich auch in der bildungsbürgerli chen Öffentlichkeit das Bedürfnis nach einer ideellen Unterfütterung des Libe ralismus, nach neuen Zielen für die liberale Politik und insgesamt nach Mög lichkeiten, den Liberalismus „politisch produktiv zu machen“.8 So warb Nau mann 1906 in der Hilfe für die „Auferstehung der liberalen Idee“, die er durch Bäumers: K evin R epp: Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity, Cambridge 2000, 104–147. 4 Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 146–148. 5 H einrich M eyer-Benfey: Friedrich Naumann, Göttingen 1904, 193; vgl. auch die von Meyer-Benfey herausgebene Naumann-Textauswahl, die diese Interpretationslinie um die religiöse Perspektive erweitert unterstrich: Naumann-Buch. Eine Auswahl klassischer Stücke aus Friedrich Naumanns Schriften, Göttingen 1903. 6 M argot Goeller: Hüter der Kultur. Bildungsbürgerlichkeit in den Kulturzeitschriften „Deutsche Rundschau“ und „Neue Rundschau“ (1890–1914), Frankfurt 2010, 233, vgl. Lothar Gall: Liberalismus und ‚bürgerliche Gesellschaft‘: Zu Charakter und Entwicklung der libe ralen Bewegung in Deutschland, in: HZ 220 (1975), 324–356, 354. 7 Vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, 222 f. 8 Aus Junius Tagebuch, in: Neue Rundschau 23 (1912), 289–293, 293; vgl. M argot Goeller: Hüter der Kultur, 236.
Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
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die organisatorische Stärkung und engere Verbindung der liberalen Parteien einleiten wollte.9 Diese Anliegen trafen im Umfeld Martin Rades auf Resonanz.10 Rade zählte es zu den kulturell-politischen Aufgaben des Kreises um die Christliche Welt, die „Mission“ des Liberalismus in Deutschland nicht abbrechen zu lassen, ob wohl er argumentativ gegenüber seinen Lesern die Rückbindung an eine tradi tionelle „christliche Weltanschauung“ betonte.11 Unabhängig von einer partei politischen Entscheidung galt es, die „staatsbürgerliche Gesinnung“ zu stärken; gerade die Idealisten der Christlichen Welt müssten sich verstärkt „um den Staat kümmern“.12 Dass „dem frommen Menschen […] Politik zu einem Übungsfelde seiner Frömmigkeit“ werden müsse, forderte auch das Protestantenblatt ein.13 Auch über dieses Umfeld hinaus wurde immer wieder beklagt, dass den Li beralismus überwiegend Alltagspolitik, Gruppeninteressen und Pragmatik be stimmten und seine „ideelle Zerfahrenheit“ eine erfolgreiche gesellschaftliche Wirksamkeit verhinderte.14 Für „das gefrorene Volk“, wie eine Überschrift in der Hilfe lautete, sollte durch Politisierung und demokratische Reformen Tau 9
Friedrich Naumann, Die Auferstehung der liberalen Idee, in: Die Hilfe 12 (Nr. 36 v. 9.9. 1906), 2–3; vgl. ders. Die Organisation des Liberalismus, in: ebd. (Nr. 37 v. 16.9.1906), 2–3; Die Jungliberalen, in: ebd. (Nr. 37 v. 16.9.1906), 3–4. Naumann forderte hier den Zusammen schluss der entschieden liberalen Parteien; aus seiner Sicht konnte nur „ein demokratischer und sozialpolitisch fortschrittlicher Liberalismus Existenzberechtigung“ beanspruchen. 10 Führende Theologen der Christlichen Welt wie Martin Rade und Wilhelm Bousset übernahmen ab 1907 jeweils auf Länderebene parteipolitische Funktionen in linksliberalen Parteien, was dem ganzen theologischen Spektrum den Vorwurf einbrachte: „Die Fortschritt liche Volkspartei aber erweist sich immer mehr als Treffpunkt unserer liberalen Theologen“, sie sei ein „Theologengrüppchen“ geworden, wie die konservative Evangelische Kirchen zeitung sowie die von Adolf Stoecker geprägte Reformation polemisierten (zitiert in: Politik, in: AdF, Nr. 32 (25.7.1910), 350–351). Rade begründete seinen Weg in die Parteipolitik aller dings nicht mit dem Naumannerbe, sondern führte ihn auf Gemeinsamkeiten mit dem Mar burger Staatsrechtslehrer Walther Schücking zurück. Schücking war Pazifist und warb für ein politisches Bündnissystem des internationalen Ausgleichs, was ihm öffentliche Anfein dungen einbrachte (vgl. Johanna Jantsch: Theologie auf dem öffentlichen Markt, 84; M artin R ade: Zur Antwort, in: CW 43 (1929), 1093–1094. 11 M artin R ade: Jahresbericht, in: AdF, Nr. 22 (10.11.1907), 209–213, 211. 12 So Rades Diskussionbeitrag auf der Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt im Oktober 1910: „Die Ideen der CW drängen in die Politik hinein. In der Tat, wir müssen als Staatsbürger ganz anders eintreten, das ist unsre Pflicht“ (E. Engelhard (als Protokollant): Die ordentliche Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt, in: AdF, Nr. 34 (25.10.1910), 373–390, 377 f.); vgl. auch seine Vortragsthesen: Welche Verpflichtung haben wir zur Politik. Thesen für Eisenach, an: Tagesordnung für Eisenach, in: AdF, Nr. 45 (12.9.1913) [ohne Seitenangabe]. 13 Ch. H eil: Religion und Politik, in: PrBl 40 (1907), 874–876. 14 Aus Junius Tagebuch, in: Neue Rundschau 25 (1914), 431–437, 431; vgl. M. Goeller: Hüter der Kultur, 237.
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wetter anbrechen.15 In der Hilfe, ähnlich im Kunstwart und in anderen Kultur zeitschriften wurde das Übergewicht der konservativen und bürokratischen Eliten gegenüber den bürgerlich-liberalen und ökonomischen Interessenlagen beklagt.16 Auch wenn die in den Wartburgstimmen erhobene, bangende Frage „Ist Deutschland ein Notstaat?“ keine Mehrheitsmeinung wiedergab, wurde im kulturkritisch-gebildeten Spektrum auf die Umsetzung fortschrittsgerichteter Reformimpulse, auf politische Teilhabe und soziale Integration in einer emanzi pierten Bürgergesellschaft gedrängt.17 Der wilhelminische Staat wurde dabei nicht als Ganzer abgelehnt, aber der Ausbau seiner fortschrittsorientierten Ver fassungselemente eingefordert.18 Die „bloßen Formen des Parlamentarismus“ galten nicht aus sich heraus als Garanten des Verfassungsfortschritts, vielmehr war ihnen eine „ins Weite schauende Gesinnung“ hinzuzufügen.19 Für Nau mann stand es außer Zweifel, dass ein politisierter, liberaler Reformnationalis mus die Grundlage dazu bilden musste: Es ist notwendig, die Nationalitätsidee wieder aus der Verschüttung hervorzuholen. Die Na tionalitätsidee war aber immer und überall in ihren kräftigen Zeiten eine liberale, eine demo kratische Idee, sie war die Idee des ganzen Volkes, das sein Schicksal in seinen Händen trägt, die Idee des Staates, der keine Maschine zur Ausnutzung der Menge durch eine Minderheit ist, sondern eine Organisation aller für alle.20 15 E.
K atz: Das gefrorene Volk, in: Die Hilfe 13, Nr. 2 (13. Januar 1907), 18–19. Vgl. die Darstellung der Zeitschriftendiskurse bei M. Goeller: Hüter der Kultur, 232–238. 17 So der Titel einer Aufsatzreihe des völkischen Essayisten Wilhelm Schölermann in den Wartburgstimmen. Schölermann, der dem „Deutschbund“ Friedrich Langes nahestand, verband in seinen Aufsätzen eine imperialistische Weltpolitik, die sich in Konkurrenz zu dem Vorbild Englands sah, mit dem Ruf nach einer Konstitutionalisierung der Reichsverfas sung, nach der dem Parlament die Ministerkontrolle ermöglicht werden sollte. Statt weiterhin eine militaristische, veräußerlichte „Paradepolitik“ zu verfolgen, sollte die Parlamentarisie rung unter monarchischem Dach der inneren Nationswerdung des deutschen „Kunst-Staats“ dienen. Schölermann propagierte allerdings weniger eine reflektierte Erneuerung des Libe ralismus als ein machtstaatliches Selbstständigwerden auf Grundlage einer gesamtnationalen Verantwortung, das „erste Stück völkischer Mannbarkeit“, das er einem aus Rassenlehre und kultureller Dekadenztheorie gespeisten nationalen Untergangsszenario entgegenstellte (Wartburgstimmen 2/1 (1904/05), 272 f.; 606 f.; 2/2 (1905), 440 f.; 574 f.). Die Artikelfolge erschien 1910 in Buchfassung, um Beiträge aus dem Hammer und den Grenzboten ergänzt, unter dem Titel Die deutsche Not (Leipzig 1910). 18 Vgl. dazu zusammenfassend: M ark H ewitson: The Wilhelmine Regime and the Prob lem of Reform. German Debates about Modern Nation-States, in: Geoff Eley/James R etallack (Hg.): Wilhelmism and Its Legacies, 73–90. 19 Friedrich Naumann: Die Auferstehung der liberalen Idee, in: Die Hilfe 12 (Nr. 36 v. 9.9.1906), 2–3. Dass sich eine erfolgreiche Politik „weder in absolutistischen noch in parla mentarischen Formen“ garantieren ließ, sondern nur durch ein „ethisches Verhältnis“ zwi schen Volk und Regierung, betonte auch das Protestantenblatt: R einhold Emde: Der Kaiser und das Volk, in: PrBl 40 (1907), 74. 20 Ebd. 16
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Hier ist zu fragen, in wie weit sich diese Grundlinien im Werk von Arthur Bonus wiederfinden lassen. Um die Jahrhundertwende lotete er in der Hilfe und im Umkreis Naumanns die Möglichkeiten einer fortschrittlichen Nationalbewe gung aus, die innenpolitische Reformen und einen starken Nationalgeist mitein ander verbinden sollte. In Abgrenzung zum völkischen Nationalismus und den nationalen Großverbänden suchte er nach einer idealistischen Weltpolitik, die er als Steigerung der internationalen Ausstrahlungskraft der deutschen Kultur ver stand. Ab 1905 begann er zusätzlich zum Kunstwart immer häufiger in den linksliberalen Zeitschriften März, Neue Rundschau und dem Tag zu veröffent lichten, wobei er in steigendem Maße auf politische Themen Bezug nahm. Seine Konzeption der Nation als einer historisch und emotional verbundenen „Volks gemeinschaft“ gewannen hier politische und soziale Relevanz. Bonus behandel te die Erneuerung des deutschen Regierungssystems als eine Kultur- und Wel tanschauungsfrage: Ein idealistischer Nationalismus würde auch in eine neue Politik einmünden. Zudem wandte er sich kirchenpolitischen Themen zu. Der hier angedeuteten Verflechtung von Nationalismus, Kulturgedanken und Libe ralisierungstendenzen soll in den folgenden Abschnitten in ihren Bezügen zum Naumann-Kreis wie zum kulturprotestantischen Umfeld nachgegangen werden.
I. Deutsch bleiben: Kulturnationalismus als Reformforderung Im Kontext des Nationalsozialen Vereins konnte sich Arthur Bonus einen Ruf als intellektueller Theoretiker eines kulturell vertieften Nationalismus erwer ben.21 Paul Göhre, der sich 1899 vom Nationalsozialen Verein nicht zuletzt auf grund der um die Jahrhundertwende deutlich hervortretenden Machtemphase gelöst hatte, warf Bonus vor, der im Bürgertum verbreiteten Idealisierung der nationalen Stärke aufzusitzen und kritiklos an die Durchsetzung imperialisti scher Politikziele zu glauben. Eine solche Einstellung hielt er für „ein Charak teristikum der autoritätsgläubigen Nationalsozialen Gernegroße“, denen sich Bonus „zu meinem Leidwesen bedenklich“ – wie Göhre schrieb – annäherte.22 Göhre wies Bonus auf die notorische Selbstüberschätzung der kleinen national 21
Auffällig in dieser Hinsicht ist ein Artikel des Hamburger Pfarrers A rnold Köster, der die kulturell-weltanschauliche Befürwortung eines starken und nach Außen gerichteten Im perialismus im Kontext der Christlichen Welt ausdrücklich für „Arthur Bonus Verdienst“ hielt: Der Krieg nach Luther, in: CW 13 (1899). Köster trat auch als Rezensent von Bonus’ Schriften hervor, vgl. Religion als Schöpfung, in: CW 16 (1902), 1106–1119. 22 Brief Göhre an Bonus, Berlin 13.2.1901 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_011]. Vgl. auch Göhres Position in: Christentum und Machtpolitik, in: Die Hilfe 5 (Nr. 21 v. 22. Mai 1898), 3 ff.
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sozialen Gefolgschaftsgruppe hin und wandte sich scharf gegen die von ihnen gehegten weltpolitischen Zukunftsträume. Aber gerade diese waren es, die Bonus anzogen: „Die nat[ional]soz[ialen] Gernegroße stehen meinem Herzen nah, wie du richtig erkannt hast, weniger noch in ihrer Politik, als – nun eben in ihrer Gernegröße.“23 Bonus schloss sich dem von der Naumann-Bewegung vertretenen, mit dem Ruf nach sozialem Fortschritt gepaarten Machtgedanken an, verlieh ihm aller dings eine weltanschauliche Rückkoppelung, die im Folgenden darzustellen ist. Das Ineinandergreifen von kulturnationalistischen Stimmungslagen und Hoff nungen auf nationalen Machterwerb fand in seinen Äußerungen eine für die bildungsbürgerliche Reformbewegung, wie sie sich im Diskursfeld von Kunstwart bis Hilfe formierte, signifikante Ausprägung. Wie Bonus wiederholt deutlich machte, schien ihm das Erstarken nationalis tischer Haltungen vor der Jahrhundertwende auf eine Festigung des Deutschen Reichs „als charaktervolles Volkstum“ hinzudeuten.24 Die aufblühenden „natio nalen Hoffnungen“ und den sich zunehmend deutlich artikulierenden Macht willen wertete er als Beleg dafür, dass das deutsche Volk begonnen hatte, ein Gespür für politische Fragen zu entwickeln.25 Das anwachsende nationale Selbstbewusstsein, in dem seit 1871 geeinten Reich einen Faktor im Konkur renzkampf der Weltmächte darzustellen, musste allerdings seiner Ansicht nach noch in politische und kulturelle Bahnen gelenkt werden. Für den Treitsch ke-Schüler Bonus war mit der Nationalstaatswerdung eine Vorbedingung er füllt, auf die nun eine zukunftsträchtige Ausformung des deutschen Volkstums zu folgen hatte. Die Deutschen, so seine Ansicht, waren im Laufe des 19. Jahr hunderts und besonders mit der Reichsgründung vor äußere, „politische Aufga ben“ gestellt worden und hätten darüber ihre „innerlich-nationale […] Entwick lung“ vernachlässigt.26 Es war nach Eigenständigkeit im kulturellen Leben zu suchen, nach einer spezifisch deutschen Ausdruckskultur, die nicht versuchte, aus dem Ausland importierte Formen nachzuahmen; im politischen Leben wa ren Wege der Beteiligung für breitere Bevölkerungsteile zu finden. Wie Bonus 1899 in der Christlichen Welt notierte, sah er das Deutsche Reich in einer ge schichtlichen Umbruchsituation, die dazu aufrief, „neue Kräfte [zu] sammeln für die neue Zeit“.27 23
Antwortkonzept Bonus an Göhre, undatiert [ebd.]. Bonus: Individualisierung und Nationalisierung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150. 25 Ders.: Die Religion der Feigheit. Zur Germanisirung des Christentums 3, in: CW 13 (1899), 101–103. 26 Ebd. 27 Ebd. 24
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Diese „neue Zeit“ machte es notwendig, zwischen der politischen Wirklich keit des Wilhelminischen Reiches und dem lautstark vorgebrachten Anspruch auf politische und kulturelle Weltgeltung zu vermitteln. Mit dem Kaiserreich war erst die äußere Hülle für eine Nationswerdung geschaffen, die auf kulturel ler Ebene noch nachzuholen war. Bereits 1893 hatte Bonus anlässlich deutsch nationaler und antisemitischer Ausbrüche beklagt, dass ein Patriotismus ohne Gespür für kulturelle Inhalte und für Eigenständigkeit sich in richtungslosem und veräußerlichtem Getue erginge. „Form ohne Stoff giebt halt Phrase.“28 Der phrasengeladene Deutschnationalismus bezog seinen Schwung aus der Abwer tung des kulturell Fremden, war aber nicht in der Lage, einen Eigenwert herzu stellen. Wie er gegenüber der Kritik Erich Foersters betonte, war ein vergrößer tes nationales Selbstbewusstsein ein notwendiger Schritt im „Prozeß der Konso lidierung unseres Volkstums“. Die christlich-ethische Problemstellung war es, dem Nationalisierungsprozess eine verinnerlichende und weltoffene Richtung zu geben, wie er Foerster 1899 schrieb: Dieser Prozeß ist aber nur zu einem und hoffentlich dem kleineren Teil ein äußerlicher. Die Hauptarbeit ist die geistige, kulturelle. Hier sehe ich ungeheure Aufgaben und zwar die ei gentlich historische unserer Epoche. Überall und in aller Welt wendet sich das Denken je realistischer es wird desto mehr nationalen Gedanken zu. […] Diese nationale Richtung der Entwicklung wird nun entweder das in ihr ruhende chauvinistische, egoistische (im schlech ten Sinn), antichristliche Element weiter ausbilden, oder sie wird […] weltoffen nur darauf aus sein, zu lernen wie etwas zu brauchen ist, aber alles innerlich in die spezifisch deutsche Eigenart zu verarbeiten.29
Diese Sichtweise auf den deutschen Nationalismus als geistig-kulturelle Zeit aufgabe teilte Bonus mit vielen reformorientierten Gebildeten der Jahrhundert wende, etwa mit Ferdinand Avenarius. Dieser formulierte einen nationalpäda gogischen Erziehungsauftrag, bei dem ein vertiefter, „weltoffener“ Kulturnatio nalismus helfen sollte, das politische Bewusstsein des Einzelnen zu stärken. Nicht „Untertanen“, „sondern Bürger“ zu bilden, hielt er für den Zielauftrag eines wahrhaften Nationalismus.30 Das Pathos, in dem der offizielle Nationalis mus das Reich als Verwirklichung des Deutschtums glorifizierte, führte nicht zu der erwünschten Versittlichung des Alltagslebens oder zur Eröffnung neuer 28 Brief Bonus an Erich Foerster, undatiert [ebd., 03_002]. Der Brief wurde wohl in der ersten Jahreshälfte 1893 geschrieben, da er redaktionelle Bemerkungen über Bonus’ Artikel „Gott in Christus“ enthält (in: CW 7 (1893), 970–971). Konkreter Bezugspunkt der Aussage war der von Stoecker geprägte „Verein deutscher Studenten“, dessen patriotischen und anti semitischen Eifer Bonus für sinnlosen Radaunationalismus hielt. 29 Briefkonzept Bonus an Foerster, undatiert, als Antwort auf einen Brief Foersters vom 31.10.1899 [ebd., 07_014]. Bonus erläuterte in diesem Schreiben die Funktion der Formel „Germanisierung des Christentums“. 30 Ferdinand Avenarius: Nationale Arbeit, in: Kunstwart 22/1 (1908), 1–6, 5.
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kultureller Wirkungsräume für die Gebildeten; ebenso wenig vermochte es, die divergierenden konfessionellen und sozialen Interessenlagen der deutschen Be völkerung zusammenzuführen. Für Bonus waren die alljährlichen Sedansfeiern ein Symbol für diesen triumphalistischen, aber wenig handlungsorientierten Nationalstolz. Die Sedantage zeichneten ein typisches „Situationsbild eines patriotischen Festes […] mit Bier, sogar viel Bier“, klagte er im Kunstwart und nannte zur Begründung: „denn die alten Deutschen soffen erstaunlich und diese Tugend ist am leichtesten nachzuahmen. […] – Wolken von Tabaksdampf – Lichter, Fahnen, Hin- und Herlaufen und Hin- und Herrufen“ bestimmten die Feierlichkeiten.31 Eine „Möglichkeit von Gedenken oder seelischer Vertiefung“ bot der patriotische Rummel jedoch nicht, sondern bloßes „physisches und geis tiges Sichberauschen“.32 Ferdinand Avenarius pflichtete ihm in der Ansicht bei, dass die Hebung des nationalen Bewusstseins als „hochwichtiger Gegenstand der ästhetischen Kultur“ zu behandeln sei.33 Der Anspruch auf Weltgeltung des Deutschtums sollte eher auf kulturellem als auf machtpolitischem Wege vorangetrieben werden. Bonus richtete sich ge gen die nationalistischen „Vordergrundsdeutschen“ in den nationalen Verbän den, die nur Machtemphase ohne inneren Wert vertreten würden.34 Er hielt es für einen Fehlweg, wenn man den Nationalismus „für Etwas erklärt, das keines Nachdenkens bedarf, die deutsche Art für Etwas, das sans phrase […] ohne Überlegung vertreten werden muß“.35 Das Nationalbewusstsein war Bestandteil einer anvisierten Konstruktionsleistung, die den eigenständigen „Kulturwert“ des Deutschtums aufdecken sollte, der für Bonus aus den „uns allein durch uns re Geschichte zugewachsenen Fragen“ entsprang.36 Die ersehnte machtvolle Neubegründung der Nation konnte nicht aus den offiziellen Parolen und politi schen Großforderungen im Konflikt mit den anderen Weltmächten entspringen, sondern musste langsam aus der Mitte des Volkes durch Erziehung und Einwir kung der Gebildeten erweckt werden.37 In Bonus’ nationalistischen Überlegun 31 Bonus: Begeisterungsreden, in: Kunstwart 16/1 (1902/1903), 437–447, 445. Die Hebung des nationalen Bewusstseins war für den Kunstwart-Mitarbeiter Bonus „ein hochwichtiger Gegenstand der ästhetischen Kultur“; vgl. den Brief Avenarius an Bonus, 29.10.1902 [ebd., 12_004]. Vgl. zur Verbindung von nationalen und ethischen Ansprüchen anlässlich der Nati onalfeste Friedrich Battenberg: Sedan, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 35 v. 1. September, 3–4. 32 Ebd. 33 Brief Avenarius an Bonus, Dresden-Blasewitz, 29.10.1902 [ebd., 12_004]. 34 Ders.: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 772 f. 35 Ders.: Ueber deutschen Nationalismus, in: CW 15 (1901), 533–535, 534. 36 Ebd. 37 1912 fasste er diese Forderung als Hoffnung auf einen „heimlichen Kaiser“, der die kulturelle Nationswerdung vorantreiben würde. Damit griff er ein Schlagwort des „Rem brandtdeutschen“ Langbehn auf, der auf ein geistiges Kaisertum, auf „heimliche Herzöge
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gen war also eine verstärkte Forderung an den Einzelnen auf Selbstverpflich tung und reformkulturelles Streben enthalten. Dabei verfolgte Bonus den Anspruch auf bürgerliche Beteiligung, den der liberale Nationalismus in sein Zentrum gestellt hatte, und grenzte sich zumin dest rhetorisch scharf von dem populistischen Pathos ab, das die nationalisti schen Großverbände wie etwa der Alldeutsche Verband oder der Flottenverein entfalteten. In Abgrenzung von den „nationalen Epileptikern“ der rechtsstehen den pressure groups ging es ihm darum, „eine deutsche Art Nationalismus“ zu begründen, die er als idealistisches Bildungs- und Sittlichkeitsstreben ver stand.38 Den Ausbau eines solchen „deutschen Nationalismus“ hatte etwa Lothar Schücking in der Hilfe als gegenüber dem monarchischen Gehorsam und all deutschen Nationalismus höhere Entwicklungsstufe eingeklagt: Ein wahrer Pa triotismus würde die deutsche Konkurrenzfähigkeit „unter den Kulturvölkern der Erde“ erhalten, seine Machtstellung aber nicht nur durch militärische Inter ventionen und Flottenbau, sondern die „Hinaussendung von Kulturträgern“ si chern wollen.39 Das völkische Deutschtumspathos erschien dagegen als nationalistische Nabelschau. Wie im Bereich der Religion war auch für die Kultur insgesamt eine völkische Germanentümelei abzulehnen, die als rückwärtsgerichtete und ahistorische Ideologie nicht in die Moderne passe; zudem hielt Bonus eine sol che, aus einer willkürlichen Geschichtskonstruktion erwachsene Identitäts beschreibung für eine intellektuelle Engführung: Es ist merkwürdig, was Leute, die ihrem Leibe keine Zigarre vorenthalten können, – was sie ihrem geistigen Leben alles abgewöhnen vermögen! – Dieser hier will sich Christus abge wöhnen. Er faßt den Beschluß und schmaucht dazu einen Tabak aus Havanna. Er schreibt seinen Beschluß gar nieder und reicht ihn irgend einem Deutschbund ein – und doch stam men die Buchstaben aus Ägypten.40
Für Bonus war der Nationalismus vielmehr als langfristige Kulturarbeit zu ver stehen, die in einem Fortschrittszusammenhang stehen musste. Die „deutsche Arbeit“ der Reformnationalisten hatte die Aufgabe, die Weiterentwicklung der Nationalkultur voranzutreiben; sie war „Landarbeit“ im bäuerlichen Sinne, die
und Vasallen“ wartete, die dem politischen Reichsgebilde einen inneren Kern geben würden, der eben „heimlich“, jenseits des offiziellen Patriotismus und der ihn tragenden Gesellschafts eliten erwuchs (Bonus: Vom neuen Mythos, Jena 1911, 55; zu Langbehn vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der ‚Rembrandtdeutsche‘, in: HzVB, 94–113; Fritz Stern: Kultur pesssimismus, Frankfurt 1963). 38 Ders.: Ueber deutschen Nationalismus, in: CW 15 (1901), 533–535, 534. 39 Lothar Schücking: Die Stufen des Patriotismus, in: Die Hilfe 14 (Nr. 22, 1908), 350–351. 40 Bonus: Der Urgermane, in: Deutscher Glaube, Heilbronn 1897, 192–196, 192 f.
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schrittweises Wachstum, langsame Kultivierung, aber auch die Aneignung von nutzbaren Fremdeinflüssen bedeutete: Unsere Landarbeit besteht darin, die einheimischen Pflanzen zu zerstören, und an ihre Stelle weit her eingeführte Pflanzen künstlich anzubauen. Auch der fremden Haustiere wegen ha ben wir den einheimischen Wolf und Bären uns entfremdet. Wer uns zur Schlehen-, Wald beeren- und Holzbirnen- oder zur Bärenjagdkultur zurückbringen wollte, den würden wir einmütig als unsern Feind betrachten. […] Unsere Arbeit an ihnen besteht in ihrer Einbürge rung und Weiter- und Höherzüchtung. Nicht die Frage, woher sie stammen, sondern lediglich die, was wir aus ihnen zu machen gewußt haben, entscheidet über den Wert unserer Arbeit an ihnen, auch – und erst recht! – als deutscher Arbeit.41
Der Aufbau der Nation war für Bonus also durch innere Kulturwerte und eine bewusste Lebensführung zu erreichen, nicht durch rassistische Vorstellungen oder den imperialistischen Machterwerb. Die „deutsche Art“ hatte den nationa len Neubau zu bringen, nicht der bloße Verweis auf den „deutschen Namen“.42 Damit knüpfte er gezielt an die Formel Paul de Lagardes an, dass das „Deutsch tum nicht im Geblüte, sondern im Gemüte“ liege.43 Für ihn war das National bewusstsein eine Handlungsvorgabe und eine innere Qualität, die nicht auf die Abwertung anderer Volkstümer hinauslaufen durfte. Für das bürgerliche Re formspektrum musste die Entwicklung der deutschen Nation am politischen und kulturellen Fortschritt der Menschheit teilhaben. Bereits 1897 hatte er dazu im Deutschen Glauben Stellung genommen und sein kulturnationalistisches Credo entfaltet. Es war der „deutsche Geist“, der vertieft und zur Führung ge bracht werden musste, um zur kulturellen Leitnation zu werden: Höre, laß unser deutsches Volk ruhig wandern und suchen, alles was edel ist, alles was gut ist, soweit die Sonne scheint, Fäden knüpfen in aller Welt, daß es die Fäden der Welt in die Hand bekomme und die Weltherrschaft erringe, nicht die durch ministerielle und sonstige Erlasse, aber die Weltherrschaft durch deutschen Geist. Den suche zu stärken. Je mehr er Fremdes verdauen kann, desto kräftiger wird er sich bewähren.44
Für Bonus konnte nur dann legitim vom Nationalismus die Rede sein, wenn dieser es möglich machte, dass aus der kulturellen Auseinandersetzung der ein zelnen Nationen ein „wohl organisirter Gesamtzustand, zunächst des Einzel volks, dann der Gesamtmenschheit“ erwachsen würde.45 Dieser Gedankengang 41
Ders.: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 773.
42 Ebd.
43 Vgl. Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik (1853), in: Deutsche Schriften, Göttingen 1892, 24, zu Lagarde s. o. und Paul: Lagarde, in: HzVB, 45–93. 44 Bonus: Deutscher Glaube, 192. 45 Ders.: Ein Brief, in: Der moderne Mensch und das Christentum, Leipzig 1898, 7–18, 16 f., vgl. auch das oben zitierte Briefmanuskript an Erich Foerster: „Wir nähern uns eben doch noch dem langen metaphysischen Traum von der ursprünglichen Gleichheit aller Men schen, alles Rechts, aller Religion us.f. zur Gesundung und zur gesunden Auffassung der
II. „Abwehr der Phrase“: Die reformnationalistische Position
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hatte einen sozialdarwinistischen Hintergrund. Der Nationalismus sollte die Echtheit und Festigkeit der eigenen Art, der eigenen kulturellen Ausprägung verstärken: Es läßt sich ein Nationalismus denken, der die Möglichkeit hat, gerecht oder doch anständig zu sein. Ein solcher Nationalismus würde sich von einer Ueberschätzung des Eignen sehr entfernt halten, aber er würde die ihr zugrunde liegende Beobachtung ernst nehmen, daß für den Einzelnen unter sonst gleichen Umständen das verwandte Gute besser ist als das fremde. […] Dieser Nationalismus wird keinen Grund sehen, seine Wahrheit in die ganz andersartige Behauptung umzulügen, daß die uns verwandte Tugend nicht nur für uns, sondern auch für alle Andern besser sei, womöglich gar an irgend einem absoluten ethischen Prinzip gemes sen. Er würde – an Selbstzucht und innere Vornehmheit gewöhnt – die doppelte Lüge des vulgären Nationalismus ablehnen, als gebe es einen bestimmten Typus der Kultur, der als der vollkommenste von allen Völkern anzunehmen sei, und als stehe die eigene Kultur diesem Typus, dieser Normalkultur am nächsten.46
Für Bonus zielte der Nationalismus folglich auf eine Organisation des Völker lebens, nach der verschiedene Kulturtypen nebeneinander bestehen blieben. Ein „echtes“ Deutschtum, so seine Ansicht, würde eine kulturelle Festigung gegen Degeneration und aufgesetzte Fremdeinflüsse bewirken. Einen übernationalen Geltungsanspruch für die deutsche Kultur lehnte er ab, richtete sich aber auch gegen einen ethischen Universalismus, der das „Gute“ aus allgemeinen Prin zipien ableitete. Bonus’ Vorstellungen lassen sich also zusammenfassend als „Kulturnationalismus“ deuten, der partizipatorische Züge und die emphatisch als Leitwert beschworene deutsche Nation miteinander verband.47 Die Berufung auf die Nation als Kulturziel sollte die Führungsrolle der Gebildeten gegenüber dem Nationalismus der Massen sicherstellen. Zugleich wurde mit ihr ein An recht auf politische und gesellschaftliche Mitgestaltung begründet.
II. „Abwehr der Phrase“: Die reformnationalistische Position in den Kolonialdebatten Besonders in der um die Jahrhundertwende im Umfeld Naumanns anschwellen den Kolonialbegeisterung traten für Bonus die Gefahren des Imperialismus vor Augen, der für ihn im Gegensatz zu einem „echten“ deutschen National bewusstsein stand. Diese Haltung war nicht als Absage an eine deutsche Welt politik zu verstehen, sie ging vielmehr von der Priorität einer kulturellen Welt wirklichen Wirklichkeit. Die aber ist die Verschiedenheit sowohl der einzelnen als der Völ ker, ihrer Gaben, Aufgaben, Ideale, Anschauungsweisen, Rechte, Religionen“ (Briefkonzept Bonus an Foerster, 1899 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_014]). 46 Ders.: [Fritz Benthin]: Nordische Litteratur, in: CW 17 (1903), 1164–1169, 1164. 47 Vgl. Graf/Tanner: Art. Kultur II. Theologiegeschichtlich, in: TRE 20 (1990), 187–209.
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geltung vor wirtschaftlichen Motiven aus. Bonus hoffte auf den inneren Ausbau des Reichs zu einer kulturellen Führungsnation. Dazu trennte er scharf zwi schen dem anschwellenden Hurrapatriotismus und einem bildungsbürgerlich gedachten, nationalen Leitanspruch. 1901 führte er in der Deutschen Heimat aus: „Nur wenn wir die nationale Phrase als den eigentlichen Feind fixieren, können wir hoffen, in der nationalistischen Hochflut wahr zu bleiben, echt zu bleiben – deutsch zu bleiben“.48 Die Frage nach einem verinnerlichten Nationalismus, der den weltpolitischen Machtausbau mit einem sozialen und sittlichen Ausbau der deutschen Kultur verknüpfte, brach im Umfeld des Nationalsozialen Vereins vor der Jahrhundert wende auf, nachdem dieser sich unter Naumanns Ägide für ein imperialisti sches Programm erklärt hatte, in dem die beiden Integrationsideologien Natio nalismus und Sozialismus eng verbunden waren.49 Naumann gelang es, sein Publikum mit imperialistischen Programmformeln und sozialen Forderungen gleichermaßen zu elektrisierten und zu provozieren. Bereits in seinen frühen staatstheoretischen Überlegungen trat der machtvolle Nationalstaat, ähnlich wie bei dem Mitstreiter Max Weber, als nach außen stark, aber nach innen als reformfähig hervor.50 Auch nach dem Scheitern des Nationalsozialen Vereins blieb die Verbindung von Demokratisierungsforderungen mit einem straffen Nationalismus erhalten. In Naumanns Konzept eines „neudeutschen Patriotis mus“ waren innenpolitische Reform und Außenpolitik, Flottenbau und Sozial gesetzgebung eng miteinander verschränkt: Dieser neudeutsche Patriotismus ist seinem Wesen nach eine Fortsetzung des liberalen Patri otismus des vorigen Jahrhunderts, nur unterscheidet er sich von ihm in seinen Aufgaben. […] Mit den Schiffen stärken wir das Deutschtum nach außen und mit den sozialen Gesetzen nach innen. Machtpolitik und Reformpolitik ist der Inhalt des neudeutschen Patriotismus.51
Bei den Naumannianern trat ein „gleichsam progressiv umgebogener Sozialim perialismus“ hervor, der wirtschaftliche Interessen und parlamentarisierende Reformen unter dem Siegel der Weltpolitik aufeinander bezog.52 Die nach außen gewandte Flottenschwärmerei war mit idealistischen Kul turzielen oder gar dem christlichen Evangelium allerdings schwer vermittelbar, zumal Kritiker etwa von sozialdemokratischer Seite aus die nationalsoziale Ko 48
Bonus: Religion, Natur, Naturreligion, in: Deutsche Heimat 4/2 (1901), 765–774, 772 f. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 149. 50 Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, 221; Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 2004; Peter Theiner, Friedrich Naumann und der soziale Liberalismus im Kaiserreich, in: K arl Holl (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, 72–83. 51 Friedrich Naumann: Vertiefung der Vaterlandsliebe, in: Patria 3 (1903), I–II. 52 Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, 220. 49 Vgl.
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lonialpolitik scharf angriffen. Aber auch unter seinen liberalprotestantischen Lesern herrschte keineswegs einheitliche Zustimmung zu Naumanns kolonial politischen Äußerungen.53 Im Spannungsfeld zwischen kolonialer Ausdehnung, den Visionen von globaler Einflussnahme und sittlich-kulturellen Erwägungen wurde im Umfeld Naumanns versucht, dem Weltmachtsgedanken als „ethi schem Imperialismus“ eine weltanschauliche Fundierung und eine inhaltliche Zielsetzung zu geben.54 Die Überbrückung von religiösem Anspruch und nationaler Zielsetzung wur de im Umfeld Naumanns einflussreich durch Paul Rohrbach vertreten. Mit An sätzen zu einem deutschen weltpolitischen Programm trat er im Zuge der Vor bereitungen für den 11. Evangelisch-sozialen Kongreß hervor, der in der Pfingst woche 1900 zur Frage „Welche sozialen und sittlichen Aufgaben stellt die Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht unserem Volke?“ in Karlsruhe statt fand. In diesem Kontext entwickelte Rohrbach das Konzept eines „größeren Deutschlands in Moral und Politik“, das zu einem Leitbegriff in den Kolonial debatten werden und politisch-ethische Grundpfeiler eines deutschen Werteund Kulturimperialismus setzen sollte.55 Dabei verwies er zunächst auf die wirt schaftlichen Abhängigkeiten, welche den weltpolitischen Ausbau und die inter nationale Einflusssicherung des Deutschen Reichs notwendig machten, um sich „unter den vordersten Völkern der Weltgeschichte“ zu behaupten.56 Deutschland befände sich in einem globalen Existenzkampf, in dem es nur unter Ausweitung seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen bestehen könne. Das Weltmachtstreben wurde von Rohrbach sozialdarwinistisch als Notwendig keit im Daseinskampf der Nationen aufgefasst. Mit der ökonomischen Machter weiterung würden allerdings auch die „moralischen Pflichten“ der Nation wach sen. Der Theologe Rohrbach umschrieb diese als weltweite Reich-Gottes-Arbeit, durch welche die fortschrittlichen kulturellen Errungenschaften des Deutsch tums auch in den Kolonialgebieten Fuß fassen sollten.57 Der deutsche Weltge 53 Informativ zur Debatte in der Hilfe: Christina Stange-Fayos: Kolonialfragen in der Hilfe, in: Philippe A lexandre/R einer M arcowitz (Hg.): Die Zeitschrift „Die Hilfe“, 1894– 1944. Ein Ideenlabor in Deutschland, Bern 2011, 99–111; Eberhard Demm: Friedrich Nau mann, Die Hilfe und die orientalische Frage, in: ebd., 135–157. 54 So charakterisiert Walter Mogk die Imperialismustheorien Paul Rohrbachs: Paul Rohrbach und das „Größere Deutschland“. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1972. 55 Paul Rohrbach: Das größere Deutschland in Politik und Moral, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses 9 (1900), 2–8.14–17. Vgl. die ausführliche Analyse bei Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 259–262. 56 Ebd., 3. 57 Ders.: Vom Gottesreich, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses 9 (1900), 29–33, 32.
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danke benötigte eine weltanschauliche Untermauerung, um ihn von einem ma terialistischen und ökonomischen Zweckdenken zu unterscheiden. Darin traf er sich mit Bonus, der bereits 1897 im Deutschen Glauben von ei ner zukünftigen „Weltherrschaft durch deutschen Geist“ ausgegangen war.58 Unter sozialdarwinistischen Annahmen und unter Bezugnahme auf die im Na tionalsozialen Verein geführten Imperialismusdebatten zeichnete er das Bild eines globalen Wettbewerbs zwischen den einzelnen Völkern um Herrschaft, Einfluss und Selbständigkeit. Dabei ging er allerdings vordergründig nicht von der kolonialen Verteilungs- und politischen Machtfrage aus. Bonus schilderte das Verhältnis der Weltvölker unter den Voraussetzungen der Entwicklungs lehre als gegenseitigen Organisations- und Wachstumsvorgang. Die von Nau mann, Rohrbach und anderen propagierte Weltpolitik als Existenznotwendig keit wurde von ihm in den Bereich der Kultur verlagert. Für Bonus ging es um die Identität und Prägungskraft des Volkes. Der von ihm propagierte Nationa lismus reagierte auf das Aufblühen imperialistischer Herrschaftsvisionen vor der Jahrhundertwende, siedelte die hier gehegten Macht- und Konkurrenzge danken jedoch auf das Feld der Kultur um und lenkte sie auf das erhoffte innere Erstarken des Deutschtums. Im globalen Mächteantagonismus trafen nicht nur Staatsgebilde aufeinander, so das von ihm gezeichnete Bild einer weltweiten Auseinandersetzung; vielmehr traten hier unterschiedliche Kultursphären in ein Spannungsverhältnis, in dem sie um gegenseitige Überbietung oder Aner kennung rangen. In der gegenseitigen Konfrontation konnten sich die kulturel len Kernwerte der einzelnen Völker erst eigentlich ausprägen. Rohrbach und Bonus konnten es als gleichsam religiösen Akt auffassen, das Dasein der deutschen Volksindividualität unter den Weltnationen zu bewahren. Die Stärkung und Vertiefung des Kulturbewusstseins als Volk, so Bonus, stellte einen wesentlichen Entwicklungsschritt und ein Zeichen der heraufziehenden Moderne dar, die auf eine wachsende „Organisation der Nationen, der Individu en und der Geisteskräfte der Individuen“ zusteuerte; dafür suchte er in der Re ligion nach einem einheitlichen Fundament.59 Ganz gegenläufig waren die Vorstöße, mit denen etwa der Berliner Philosoph Friedrich Paulsen in der Christlichen Welt und in den Preußischen Jahrbüchern zeitgleich darauf hinwies, dass Politik nicht nur ein reines Machtverhältnis be deutete, sondern auch ein Bereich des Rechts und der Moral sei. Die „Solidarität des Menschheitsinteresses“ setze einer egoistischen Interessenpolitik etwa im Kolonialwesen Grenzen. Die Staaten standen als „Glieder einer sittlichen Welt“ 58
Bonus: Deutscher Glaube, 192. Ders.: Individualisirung und Nationalisirung. Zur Germanisirung des Christentums 5, in: CW 13 (1899), 147–150, 149. 59
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und in der Gemeinschaft der Kulturnationen nebeneinander, „die die Eigentüm lichkeit der nationalen Bindung nicht auslöscht, sondern sie in befruchtende Wechselwirkung mit der eigentümlichen Bildung aller übrigen“ brächte.60 Pau lsen wehrte damit die Verabsolutierung staatlicher Eigeninteressen durch den Imperialismus ab, die für ihn allerdings die Kehrseite einer beklagenswerten Ziellosigkeit in der deutschen Politik darstellte. Dem Fehlen eines überkuppeln den Gesamtsinns entgegen mahnte Paulsen an, dass das politische Leben „hu manisiert, ethisiert werden“ müsse. In ihm habe bei aller Konfliktbereitschaft zu gelten, „daß es ein Kampf sei nicht bloß für kleinliche Vorteile und materiel le Interessen, sondern für ideelle Interessen und hohe Ziele, ein Kampf, der zu letzt geführt wird unter dem Gesichtspunkt der Ehre und Würde des Volks, der großen Güter der Menschheit.“61 Das Verhältnis von „Christentum und Machtpolitik“ und die weltpolitische Aufgabe des Deutschen Reiches wurde in den kulturprotestantischen Kontexten um die Jahrhundertwende auf der Suche nach einem ethischen Fundament also in gegensätzlichen Versionen verhandelt, verstärkt durch die scharfen Äußerun gen Naumanns zum militärischen Einsatz in China und Südafrika sowie durch die Veröffentlichung seiner machtpolitischen Konzeption in Demokratie und Kaisertum 1900.62 Naumanns Bekenntnis zu einem harten, gegebenenfalls auch militärischen Durchsetzen deutscher Kolonialinteressen brachte ihm in der Öf fentlichkeit den Titel eines „Hunnenpastors“ ein, obwohl der Kolonialdiskurs unter den nationalsozialen Gefolgsleuten auch differenziertere Ansätze kannte. Naumann rechnete mit einer Kollision mit Großbritannien um die ökonomische Vorherrschaft; für manche seiner Anhänger war das britische Empire aber auch ein politisches Leitbild. Einen Vorschlag zu einem Kolonialismus, der nicht ein seitige Ausbeutung, sondern die geistige und materielle Hebung der Kolonialbe völkerung vorsah und nach dem britischen Vorbild die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung in den Kolonien forderte – analog zu den Forderungen für das Reich selbst –, legten Karl Rathgen und Adolf Damaschke auf der Delegierten versammlung des Nationalsozialen Vereins in Darmstadt 1901 vor.63 Doch ging es allen Entwürfen um die politisch-ethische Begründung und Gestaltung, nicht um die Absage an ein imperialistisches Weltmachtstreben. 60 Vgl.
Brigitte Wiegand: Krieg und Frieden im Spiegel führender protestantischer Pres seorgane Deutschland und der Schweiz in den Jahren 1890–1914, Bern 1976, 82–84. 61 Friedrich Paulsen: Parteipolitik und Moral, Dresden 1900, 47. 62 Friedrich Naumann: Christentum und Machtpolitik, in: Die Hilfe 4 (1898), Nr. 21, 3–5; ders.: Die Nationalsozialen und der Kolonisationsgedanke, in: Die Hilfe 4 (1898), Nr. 16, 3 f.; ders.: Demokratie und Kaisertum, Berlin-Schöneberg 1900. 63 Protokoll über die Verhandlungen des Nationalsozialen Vereins in Leipzig, Berlin 1900, 64–65; vgl. A dolf Damaschke: Kamerun oder Kiautschou?, Berlin 1900.
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In der Christlichen Welt hatte der zu diesem Zeitpunkt in Manchester tätige Theologe Willy Veit auf die Ideen Naumanns sowie auf den Burenkrieg reagiert und dabei dem Protestantismus eine Warnung vor einer imperialistischen Aus richtung ins Stammbuch geschrieben: „Christliche Frömmigkeit, werde hart gegen Nationalismus und Imperialismus!“64 Das provozierte scharfe Zurück weisungen in Rades Blatt von den Nationalsozialen Max Maurenbrecher und Paul Rohrbach. Maurenbrecher hielt die sich in Teilen des Kulturprotestantis mus äußernde Friedensneigung für eine Gefährdung der politischen Zukunft des Deutschen Reiches. „Machtpolitik“, so resümierte er, ergebe sich aus der Notwendigkeit der staatlichen Selbstverteidigung und dem „Verantwortungs gefühl gegenüber der Zukunft“. Eine solche hielt er für einen sittlichen Wert, der sich auf gleicher Höhe mit dem Nächstenliebegebot befand.65 Eine ähnliche Begründung für eine nationale Weltpolitik lieferte Rohrbach, der sich um eine Herleitung bemühte, warum sich ein Christ „an deutscher, na tionaler Machtpolitik“ beteiligen müsse: Im Innern des Volkes ringen die aus der Tiefe emporsteigenden Massen um Licht und Luft, um politische Macht; nur wenn sie sie haben, können sie ihr materielles und geistiges Dasein verbessern. Nach Außen kämpfen wir mit unsern Mitbewerbern um Weltmarkt und Welt macht – solange es geht mit Finanzinstituten und Maschinen, und wenn das nicht mehr aus reicht, mit Panzerschiffen und rauchlosem Pulver.66
Bei einer solchen Haltung ließ ihn die Theologie, so Rohrbach, „im Stich“. Um diesen Mangel zu beheben, formulierte Rohrbach die enge Verknüpfung von Reich-Gottes-Denken und kulturprotestantischem Sendungsgefühl. Die Selbst erhaltung des deutschen Volkes und seiner intellektuellen und kulturellen Be sonderheiten bedeutete für ihn „ein Stück von der Verwirklichung des Gottes reichs“. Der deutschen Kultur wurde ein globaler Fortschrittsauftrag erteilt: Das Deutschtum habe, so Rohrbach, „an Kapital für die Verbesserung der gesamten Menschheitsbilanz“ beigetragen und würde durch eine ethisch begründete und kulturell erzieherische Weltpolitik am allgemeinen Fortkommen der Gesamt menschheit mitwirken.67 Eine starke Weltpolitik erschien ihm notwendig, um nicht zwischen den jetzigen und den kommenden Weltvölkern zu verkümmern; sie galt mithin als eine Frage des Selbsterhalts der Nation.
64 Willy Veit: Die christliche Ethik und der südafrikanische Krieg, in: CW 15 (1901), 884–888, 888. 65 M ax M aurenbrecher: Christentum und Nationalismus, in: CW 15 (1901), 1037–1041, 1040. 66 Paul Rohrbach: Christentum und Nationalismus, in: CW 15 (1901), 1064–1067.1082– 1084, 1065. 67 Ebd., 1066.
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Positionen wie die von Maurenbrecher und Rohrbach, die in der Christlichen Welt im Anschluss an die Veröffentlichung von Demokratie und Kaisertum Naumanns Entwicklung vom sozialen Standpunkt zum Machtpolitiker rechtfer tigten, trafen teilweise auf deutlichen Widerspruch. Sie erleichterten jedoch die Fundierung eines mit religiösen Denkmustern unterstützten Weltmachtden kens. Für Maurenbrecher hatte die Wandlung Naumanns unter den Realbedin gungen des politischen Lebens stattgefunden und ihm aufgezeigt, dass sich Po litik nicht in der „abstrakten Höhe der unparteiischen Moral“ abspielte, sondern einen rücksichtslosen „Kampf um die Macht“ darstellte. Unter dem theoreti schen Einfluss der Nationalökonomie, besonders von Max Weber und Werner Sombart, war bei Naumann eine „ökonomische“ Weltsicht an die Stelle der „ethischen Motive der ersten Periode“ getreten. Die Religion war auf die Berei che „Seelentrost und Erziehungsmacht“ beschränkt worden und hatte vor dem „harten Realismus der Thatsachen die Waffen gestreckt“. Für das „sittlich-reli giöse Gefühl“, so Maurenbrecher, blieb nur noch eine „Lücke“ übrig, die er mit den bisherigen Werten christlicher Sozialethik nicht zu füllen vermochte.68 Die Versuche von Arthur Bonus, einen machtvollen Kulturnationalismus zu begründen, lassen sich als Antwort auf die von Maurenbrecher aufgewiesene ethische „Lücke“ verstehen. An zwei Brennpunkten soll das belegt werden, nämlich zunächst an einer von Bonus mitbestrittenen Auseinandersetzung zwi schen der Hilfe und der Täglichen Rundschau, sowie in einem zweiten Abschnitt an seiner Haltung während der Burenfrage.
1. „Deutscher Nationalismus“: Gegen die Tägliche Rundschau Die Hilfe hatte in der Imperialismus-Debatte der Jahrhundertwende trotz aller Flottenbegeisterung versucht, nach rechts und zu den nationalistischen Verbän den Distanz zu wahren. Unter der nationalsozialen Prämisse, dass „Machtpolitik 68 Ethik und Politik. Vier Briefe an den Herausgeber, in: Die Hilfe 6 (Nr. 33 v. 1900), 4 ff., darin Zuschrift Paulsen an Naumann und Antwort, vgl. Theodor Heuss: Friedrich Naumann, Berlin 1937, 123 f.; W. Koppelmann: Nochmals Politik und Moral, in: CW 13 (1899), 674 ff.; Ethik und Politik, in: Grenzboten 59 (1900), 249 ff.; Gottfried Traub: Politik und Sittlich keit, in: Patria 2 (1901), 129–153; Otto Umfrid: Politische Moral und moralische Politik, in: Die Gegenwart 30 (1901), 193 ff. Vgl. auch aufschlussreich die Stellungnahme im Protestantenblatt, die Naumann eine „Entgleisung“ in machtpolitische Vorstellungen vorwarf. Die von ihm vorgenommene „Apotheose der Macht“ zeige den „Triumph des Politikers über den Ethi ker“. Nur noch der „reine Nationalismus“ sei übrig geblieben auf dem Weg zum „brutalen Kraftmenschentum“. Naumann predige einen „Kultus der Macht“. Die „innere Gesundheit des Volkslebens“ sei wichtiger als die „Machtentfaltung nach aussen“, die „sittlichen Mächte in der Volksseele“ müssen geweckt werden gegen „Kanonen und Kriegsschiffe“ (A lbert K althoff: Naumanns jüngste Wandlung, in: PrB 34 (1900), 315).
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ohne Sozialpolitik […] ein Unding“ sei, wurde der Ruf nach deutscher Weltgel tung von der Forderung nach Sozialreform und nach Kulturbesinnung begleitet: Nur in diesem Zusammenhang konnte das „größere Deutschland“ erreicht wer den.69 Die äußere Stärke des Deutschen Reiches bildete das Widerlager einer reformerischen, „inneren Kulturpolitik“, die den Ausbau der „physischen, sittli chen und geistigen Energien“ des deutschen Volkes verfolgte und dabei zunächst die Aufgabe hatte, den „Staatsbau in die Tiefe zu fundamentieren“.70 Machtpo litik galt gleichsam als eine Funktion der Innenpolitik, deren Dynamik sich nur wechselseitig antreiben ließ. Das wurde in Abgrenzung zu den „Deutschradika len“ formuliert, etwa von Hellmut von Gerlach, der in der Hilfe betonte, dass aus nationalsozialer Sicht das staatliche Machtstreben in den Bahnen der „Realpoli tik“ zu verbleiben hatte.71 Etwaige weltpolitische Zukunftsträume hatten ihren Anfangspunkt beim konkreten Staat und seiner Vertiefung nach innen zu neh men. In Abgrenzung gegenüber einer überschwänglichen nationalistischen Deutschtumspolitik, etwa unter Einbeziehung von Deutschösterreich, bestimm te er die „Entwicklung des Deutschen Reiches“ zur nationalen Zukunftsaufgabe und verwies auf den im Reich herrschenden, erheblichen Parlamentarisierungs bedarf. Flottenpolitik und Burenpropaganda würden als Nebenschauplätze dar über hinwegtäuschen, dass die Reichspolitik tatsächlich im Bündnis zwischen Zentrum und den konservativen Parteien verharrte und etwa in der Schutzzoll frage einseitig die alten Eliten begünstigte. Anstelle einer Politik, in der sich „Agrarier und Klerikale als Vormacht Deutschlands“ fühlen durften, war eine „vaterländische Massenpolitik“ zu suchen, die Sozialreform, wirtschaftliche Liberalisierung und politische Mitbestimmungsmöglichkeiten freistellte. Für Gerlach waren „deutsche Freiheit“ und „deutscher Fortschritt“ die Grundkoordi naten eines zukunftsorientierten Nationalbewusstseins: „An das Volk glauben und an die Kräfte, die in ihm schlummern, das ist deutsch gedacht.“72 Diese Haltung hatte in der entschieden nationalistischen Täglichen Rundschau zu scharfer Polemik gegen einzelne Vertreter der Nationalsozialen, aber auch gegen die gesamte Naumann-Richtung geführt.73 Die Kolonialfrage war eines der umstrittenen Themen; damit verwandt war die Bewertung eines ideo logischen Alldeutschtums sowie ein ökonomischer Streitpunkt, der jedoch Kon 69
So der Jurist und Nationalökonom Woldemar Zimmermann, Das größere Deutschland, in: Die Zeit 2 (1902/03), 744–748; vgl. Die Tägliche Rundschau und die Nationalsozialen, in: Die Hilfe 7 (Nr. 9 v. 3. März 1901), 3. 70 Ebd. 71 H ellmut von Gerlach: Reichsdeutsch oder Alldeutsch?, in: Die Hilfe 7 (Nr. 8 v. 24. Februar 1901). 72 Ders.: Zur Verständigung, in: Die Hilfe 7 (Nr. 11 v. 17. März 1901). 73 Theodor H euss: Friedrich Naumann, Berlin 1937, 153.
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sequenzen für die Reichspolitik besaß, nämlich die Einführung von Schutz zöllen auf agrarische Produkte, die einseitig den ostelbischen Großgrundbesit zern dienlich war und damit den Junker-Konservatismus gefestigt hätte. Die Tägliche Rundschau sei auf die „agitatorischen Schlagworte vom ‚Schutz der nationalen Arbeit‘ hineingefallen“ und würde „immer agrarischer“, beklagte die Hilfe. Aus ihrer Sicht war die Rundschau in Fragen der Handelspolitik schlecht beraten, wenn sie einen gouvernementalen, antiliberalen Standpunkt einzunehmen gedachte.74 Die Tägliche Rundschau wiederum hatte den Natio nalsozialen um Naumann aufgrund ihrer ablehnenden Haltung zu einer alldeut schen Volkstumspolitik „nationales Verrätertum“ vorgeworfen.75 Dagegen stell ten die Nationalsozialen die alldeutschen Nationalisten als „harmlose Leute“ dar, die „niemals als Politiker ernsthaft genommen“ werden dürften.76 Die Tägliche Rundschau, die als „unparteiische Zeitung für nationale Politik“ firmierte, war seit 1890 unter ihrem Herausgeber Friedrich Lange zu einem der wichtigsten nationalistischen Organe für ein breiteres, gebildetes Publikum ausgebaut worden.77 Lange hatte in seinem 1893 erschienenen Buch Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung programmatisch und in scharfer antisemitischer Wendung für die Befreiung der „deutschen Volksseele“ von den schädlichen Einflüssen des Judentums geworben und ein verstärktes „Deutschbewußtsein“ gefordert, das seinen Niederschlag in der machtvollen Wendung nach Außen finden sollte.78 Der Primat des Nationalen bestimmte den Kurs der Zeitung, auch wenn Lange eine radikale völkisch-ideo logische Ausprägung nicht durchsetzen konnte. Sie verstand sich als ein natio nales Zentralorgan, das „das Beste darbietet, was deutscher Geist schafft, und unabhängig von jeden Parteien oder geschäftlichen Einflüssen nur den Zwecken 74 Politische
Notizen: Die Wirtschaftspolitik der ‚Täglichen Rundschau‘, in: Die Hilfe 7 (Nr. 8 v. 24. Februar), 1901. 75 Vgl. Hellmut von Gerlach: Zur Verständigung, in: Die Hilfe 7 (Nr. 11 v. 17. März 1901). Auslöser der Presseauseinandersetzung waren Artikel von Hellmut von Gerlach und Max Maurenbrecher, in denen Kritik an der deutschnationalen Bewegung in Österreich und der deutschen Schutzzollpolitik geäußert wurde. Unter dem Eindruck der gespannten, welt politischen Erwartungen verlagerte sich die Diskussion rasch auf die nationalistische Grund satzfrage. 76 Politische Notizen. Ein Verband zur Abwehr der Alldeutschen, in: Die Hilfe 8 (Nr. 20 v. 18. Mai 1908). 77 Zu den völkischen Aktivitäten Langes Dieter Fricke: Der ‚Deutschbund‘, in: HzVB, 328–340; Askan Gossler: Friedrich Lange und die ‚völkische Bewegung‘ des Kaiserreichs, in: AKuG 83 (2001), 377–411. Zu der publizistischen Tätigkeit Langes im Umfeld der Täg lichen Rundschau existieren nur ältere Arbeiten: Hinweise zur Geschichte der Zeitung bietet Lotte A dam: Geschichte der „Täglichen Rundschau“, Berlin 1934, 25 ff.; vgl. A rnold Leinemann: Friedrich Lange und die Deutsche Zeitung, Berlin 1938, 72 ff. 78 Friedrich Lange: Reines Deutschtum, Berlin 1893.
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deutscher Arbeit, deutscher Macht und deutscher Freiheit sich widmet“.79 Lange hatte das Blatt auf einen nationalen Kurs gebracht und energisch für Flottenstär ke und den Ausbau der deutschen Kolonien eintreten lassen, wodurch sich eine enge Interessenverbindung mit dem Alldeutschen Verband ergab, die auch nach Langes unfreiwilligem Ausscheiden aus der Zeitungsredaktion erhalten blieb. Die Tägliche Rundschau konnte als Sprachrohr eines nationalen Liberalismus im Bereich des protestantischen Bildungsbürgertums, das den hauptsächlichen Adressatenkreis der Zeitung stellte, mit zustimmendem Interesse rechnen. Nach Eingehen der nationalsozialen Tageszeitung Die Zeit ging an die ehemali gen Leser die Empfehlung, die von Heinrich Rippler übernommene Tägliche Rundschau zu beziehen; bis zu den Auseinandersetzungen 1901 blieb die publi zistische Verbindung bestehen.80 Martin Rade hatte die Tägliche Rundschau 1893 als ein nationales Kulturblatt empfohlen, das „frisch und fröhlich für eine soziale Neugestaltung unsers Volks- und Wirtschaftslebens“ eintrete, „mit Lei denschaft […] auf deutsche Art“ dränge und dabei „kirchlichen und christlichen Interessen“ angemessen Raum schaffe. Eine klare Absage erfuhr allerdings der aggressiv an die Öffentlichkeit tretende „Hetzantisemitismus“, der in der Zei tung immer wieder in den Vordergrund drängte.81 79 Brief Dr. Paul Hempel (namens der Redaktion) an Bonus, Berlin 18.3.1896 [LKA Eise nach, NL Bonus, 07_005]. 80 Theodor H euss: Friedrich Naumann, 153. Martin Rade notierte 1911, dass die Tägliche Rundschau wohl die von den Mitgliedern der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ meistgehaltene Tageszeitung wäre: Verschiedenes, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 436. 81 M artin R ade: Die tägliche Rundschau, in: CW 7 (1893), 211–214, Zitate 211.214; vgl. die Kurzanzeige in der ersten Januarausgabe 1893 unter: Verschiedenes. Die Tägliche Rundschau, in: ebd., 23. Rade konnte die Tägliche Rundschau als überparteiliche Zeitung mit Ausrichtung an den Gebildeten und eigenständiger Nachrichtenredaktion im Gegensatz zu den konserva tiv-christlichen Blättern empfehlen. Seine Bewertung lässt eine erhebliche Verärgerung über die kirchennahen Flaggschiffe des preußischen Konservatismus, die Kreuzzeitung und den Reichsboten, erkennen. Im Hintergrund standen wohl die polemische Berichterstattung zum Aposto likumstreit und die aus Rades Sicht mit Kenntnislücken übersäte Darstellung der christlich-so zialen Bestrebungen. Der einseitig-parteiischen Berichterstattung wegen ließ sich der sonst so ausgewogene Zeitungsschreiber zu der Bemerkung hinreißen, er träfe in den konservativen Zeitungen auf eine „Journalistik, die in ihren Spalten fast ebenso wie in den verachteten und geschmähten Judenblättern leider ihre Stätte findet“ (211), womit wohl die großen liberalen Zeitungen wie das Berliner Tageblatt gemeint waren. Den redaktionell verankerten Antisemi tismus, der in der Täglichen Rundschau gleichsam zu einem journalistischen Prinzip wurde, lehnte Rade ab (212 f.), ohne von hier aus einen Bezug zu den nationalpolitischen Zielen herzu stellen, die für Rade als Facetten eines auf Sittlichkeit und Kultur bezogenen „Idealismus“ ak zeptabel blieben (vgl. auch die kritische Bewertung Friedrich Langes und seines Reinen Deutschtums von: Richard Bürkner: Christentum und Deutschreligion, in: CW 7 (1893), 760– 766.788–792). Die Tägliche Rundschau nahm die Positionierung der „modernen Theologen“ um die Christliche Welt, etwa im Apostolikumstreit, mit Aufmerksamkeit wahr, jedoch ohne die
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Auch Arthur Bonus veröffentlichte gelegentlich kürzere Artikel und Rezen sionen in der Zeitung und wurde nach der redaktionellen Umstellung und dem Weggang Langes ab 1896 als fester Mitarbeiter für den Kulturteil umworben, da man hoffte, dass seine „gewandte und geschätzte Feder“ der Ausrichtung an den Bedürfnissen der Gebildeten entsprechen würde.82 Ihre aufflackernde antisemi tische Stellung war für ihn ein Anlass, der Täglichen Rundschau zeitweilig sei ne Mitarbeiterschaft zu entziehen, doch blieb er dem Blatt als Leser gewogen.83 Mit der Auseinandersetzung mit der Täglichen Rundschau war für ihn aber eine rote Linie überschritten, wie er in der Hilfe und der Christlichen Welt in einem offenen Brief ausführte.84 Bonus verweigerte sich dem in der Täglichen Rundschau vertretenen Nationalismus, der sich nach der Jahrhundertwende ver schärft an der alldeutschen Propaganda um Weltgeltung, Kolonialerwerb und der nationalen Einbindung des Auslandsdeutschtums ausrichtete. Für ihn äußer te sich hier „eine Richtung des Patriotismus“, die „zur Farbe des epileptischen Nationalismus“ gehörte, da sie „auf jede inhaltliche Näherbestimmung dessen, wofür sie eintritt verzichtet, wenn es nur ‚national‘ einherfährt. Einen tiefer durchdachten sachlichen Nationalismus kennt sie nur als – ‚Etikette ohne Wert.‘“85 Ein solcher „sachlicher Nationalismus“ lag aus Bonus’ Sicht in den nationalsozialen Weltmachtkonzepten vor. Bonus bezweifelte, dass sich durch ein nationalistisches Auftrumpfen und weitreichende Kolonialträume eine damit verbundenen religiösen Überzeugungen zu teilen. Lange versuchte etwa, wie er Bonus wissen ließ, durch einen mit scharfen, antiklerikalen Kommentaren versehenen Artikel „der von Ihnen vertretenen theologischen Richtung einen Dienst zu leisten“ (Brief Friedrich Lange an Bonus, Berlin, 16.6.1893 [LKA Eisenach, NL Bonus, 07_005]; es handelt sich um eine Antwort auf eine kritische Zuschrift von Bonus, die nicht mehr vorliegt). Auch am christlich-sozialen Themenfeld und besonders der Naumann-Bewegung zeigte die Zeitung ein verstärktes Interes se; Paul Hempel teilte Bonus anlässlich einer von diesem zurückgezogenen Rezension von Paul Göhres Buch Die evangelisch-soziale Bewegung mit, dass er „den christlich sozialen Bestrebun gen freundlich gegenüberstehe“ (Brief Hempel an Bonus, Berlin 16.5.1896 [ebd., 07_005]). 82 Ebd. 83 Briefkonzept Bonus an Hempel, undatiert (auf der Rückseite des oben zitierten Schrei ben Hempels vom 18.3.1896 [ebd., 07_005]); vgl. seine Bemerkungen in: Ueber deutschen Nationalismus, 544. 84 Die Auseinandersetzung fiel ihm offenbar nicht leicht: „Der Brief an die Tägliche R. [undschau] ist sicher das Gegenteil eines Meisterstücks. Aber zu meiner Schande muß ich gestehen, daß es der dritte war, den ich schrieb. Zwei Entwürfe hatte ich zerrissen“ (Brief konzept Bonus an Rade, 14.8.1901 [ebd., 03_003]). 85 Brief Bonus an Rade, 6.–11.3.1901 [ebd.]; vgl. Bonus: Über deutschen Nationalismus. Ein Brief an die Tägliche Rundschau, in: CW 15 (1901), 533–535 sowie ders.: Litteratur, in: Die Hilfe 7 (Nr. 26 vom 30. Juni 1901), 6. Die Attacken gegen die Tägliche Rundschau hatten zur Folge, dass Bonus’ Artikel nicht mehr gedruckt wurden und eine Rezensionssperre über ihn verhängt wurde (Brief Dr. G. Manz, Schriftleitung der Täglichen Rundschau. Unabhän gige Zeitung für nationale Politik, an Karl König, Berlin 7.5.1904 [ebd., 08_002].
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nachhaltige „national-energische und gar Welt-Politik“ realisieren lasse. Er warf der Zeitung vor, dass sie sich im Rahmen der „China-Begeisterung“ und der Bureneuphorie in imperialistische Maximalvorstellungen gesteigert hatte, die einem reinen Machtkalkül folgten, aber ethische Erwägungen zugunsten eines nationalen Egoismus beiseite schoben. Das „rücksichtslose Jasagen zum eigenen Volksinteresse“ war aus Bonus’ Sicht verwerflich, wenn es nicht eng mit einer Reform der Innenpolitik und einem erneuerten Kulturbewusstsein verknüpft werden konnte.86 Eine deutsche Weltpolitik erschien ihm nur als in nerer, kultureller Ausbau vertretbar; sie hatte zunächst ein geschlossenes Nati onalgefühl im Deutschen Reich zu schaffen, um darauf aufbauend nach einem vergrößerten Welteinfluss zu streben. Bonus’ Position reflektierte die Diskussi onen der Naumannianer und des Nationalsozialen Vereins, wenn er es zur Auf gabe des Nationalismus erklärte, die „deutsche Art“ zu vertiefen und sie dann „zu neuen Werken“ auf dem Gebiet der Kultur zu führen.87
2. Burenbegeisterung Spannungen zwischen Realpolitik und einem idealisierten Nationalismus lassen sich auch in der Bewertung der Burenkriege finden. Für die Intensivierung außenund nationalpolitischer Stimmungslagen kam der Burenbegeisterung zwischen 1899 und 1902 erhebliche Bedeutung zu. Verstärkt durch die zuvor schon in Ver einen und durch offizielle Kampagnen aufgezogene Flottenpropaganda hatte sie ein leidenschaftliches Ausmaß erreicht und dabei antienglischen Tendenzen Auf trieb gegeben.88 Die öffentliche Erregung baute sich gegen eine aus Sicht zahlrei cher Zeitungskommentare fehlgeleitete Außenpolitik auf, die nicht energisch genug für die südafrikanischen Republiken einzutreten schien, zudem aber auch den Druck der Pressemeinung weitgehend ignorierte.89 „Die Vorliebe für die be drängten Buren stieg bei uns zur Begeisterung, und jede Burenkugel, die einen Engländer traf, war ein Erfolg, dessen auch wir uns freuten“, resümierte Friedrich Naumann in der Hilfe.90 Naumann gab den gefühlsbetonten Überschwang wieder, der die deutsche Öffentlichkeit teilweise erfasst hatte und der den Blick für eine 86
Bonus: Über deutschen Nationalismus, in: CW 15 (1901), 533–535, 543.
87 Ebd. 88
Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, 240. Vgl. zur öffentlichen Wahrnehmung des Burenkrieges in der deutschsprachigen Presse Ulrich K röll: Die internationale Buren-Agitation 1899–1902, Münster 1972; Steffen Bender: Der Burenkrieg und die deutschsprachige Presse, Paderborn 2009; sowie die ältere Darstel lung von W. Treue: Presse und Politik in Deutschland und England während des Buren krieges, in: Berliner Monatshefte 11 (1933), 786–804. 90 Wochenschau. Der Burenkampf und die Großmächte, in: Die Hilfe 6 (Nr. 10 vom 11. März 1900). 89
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sachliche Beurteilung der kolonialpolitischen Weltlage zu verstellen drohte. Au ßerdem wies er auf die grassierende Englandfeindschaft hin. In der nationalisti schen Euphorie hatte man begonnen, die Verteidigung der afrikanischen Freistaa ten „für eine altgermanische Sache“ zu halten.91 Allerdings konnte sich Naumann selbst für die heroische Religiosität der Buren erwärmen, die sich „bei moderns ten Waffen einen sehr alten Glauben“ bewahrt hätten, der ihm in seinen Formen „dem Christentum des deutschen Protestantismus verwandt“ erschien und der sich als unbeugsames „Gottvertrauen bis in den Tod“ äußerte.92 Eine konstruierte, teilweise schwärmerische Betonung einer „Stammesver wandtschaft“ mit den Buren als germanisch-niederdeutschem Brudervolk, die wirkungsvoll von nationalistischen Kreisen wie vor allem dem Alldeutschen Verband angefacht wurde, verhalf dem Eintreten für die afrikanischen Freistaa ten zur Legitimität und verstärkte dabei das antienglische Ressentiment.93 In die Darstellung der südafrikanischen Kolonistenstaaten flossen ideologisierte Ideal bilder einer deutschen Vergangenheit ein, die deutlich von modernitätskritischen Befürchtungen und massiven anti-industriellen Ängsten durchzogen waren.94 Auf der Folie der burischen Siedler wurde eine vormoderne Gesellschaftsform nachgezeichnet und zu einem Gesamtbild stilisiert, das eine agrarisch-ständi sche Lebensweise und ein religiös geprägtes Gemeinwesen hochhielt. Das Kon trastbild dazu ließ sich im Kriegsgegner Großbritannien finden, das als hochin dustrialisierte Imperialmacht moralisch dem landwüchsigen Burentum entge gengestellt wurde. Als „Burenlieder“ fanden zahlreiche heroisierende Gedichte Verbreitung, die das Bild einer starken, freien Landbevölkerung ausmalten: Bauernfaust und Bauerngeist Ob auch selten man sie preist, Sind des Staates Quell und Macht, Sind die Sieger in der Schlacht, Wohl dem Staat, der das bedacht!95 91 Ebd.
92 Friedrich Naumann: Gläubige Kriegsleute, in: Die Hilfe 6 (Nr. 9 vom 4. März 1900), Beiblatt 9. 93 Vor allem die von dem alldeutschen Verbandsfunktionär Fritz Bley 1898 herausgegebe ne Flugschrift: Südafrika niederdeutsch! (Im Kampf um das Deutschtum 17), prägte das Bild einer seit dem 17. Jahrhundert unverändert erhaltenen, germanischen Bauernkultur mit deut schen Wurzeln. Massiv schlug sich diese Perspektive in den national ausgerichteten Tageszei tungen Die Tägliche Rundschau und dem Nachfolgeprojekt Friedrich Langes, der Deutschen Zeitung, nieder, vgl. Steffen Bender: Der Burenkrieg und die deutschsprachige Presse, 75–78. 94 So Eckart K ehr: Englandhaß und Weltpolitik, in: ders.: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1970, 149–175, 153. 95 Heinrich Sohnrey: Die Buren, in: Deutsche Heimat 1/1 (1900), 68. Vgl. auch Friedrich Lienhard: Burenlieder, in: Deutsche Heimat 1/1 (1900), 237–241. Die Präsentation der Buren
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
In der Christlichen Welt warb Bonus in mehreren Beiträgen für einen nationalen Standpunkt in der Burenfrage, der deutlich von der alldeutschen Burenbegeiste rung eingefärbt war. Die Zeitschrift – wie die anderen Organe des Liberal protestantismus auch – unterstützte die Einrichtung von Burenhilfsfonds und berichtete über die Verbandsarbeit der Burenliga.96 Bonus hatte auf den zurückhaltenden Rade massiv eingewirkt, eine Partei nahme zugunsten der Buren in der Christlichen Welt zu ermöglichen. Dieser war angesichts der landesweiten „Burensympathie“ zunächst eher zögerlich; „die Alldeutschen“, so Rade, pflegten „im Namen Deutschlands denselben Im perialismus“ wie die Briten.97 Für Bonus hingegen ging es „um ein Volk und um ein so gräßliches Morden und Hängenlassen, als wir unsrer alten Erde kaum noch zugetraut hatten“.98 Der Krieg gegen die Burenrepubliken stelle nichts Ge ringeres als einen „Kulturkampf“ dar, bei dem es um die Befreiung eines unver dorbenen germanischen Volkstums ging. Die Buren repräsentierten ein „außer ordentlich wertvolles Volksmaterial, das sehr bedeutende Kultur besitzt“, die allerdings noch des Ausbaus bedurfte.99 Für Bonus handelte es sich bei den afrikanischen Auswandererrepubliken um „germanische Volkbildungen über den Meeren“, durch die sich „das Germanen tum […] Hebelpunkte auf noch unzerfressenem Boden“ geschaffen hatte, um von hier aus zu einer kulturellen Neugründung aufzubrechen:
als gleichsam germanischer Bruderstamm in Gedichten und Kurzgeschichten kann hier nur gestreift werden; sie durchzieht um die Jahrhundertwende die gesamte bürgerliche Zeit schriftenlandschaft. 96 Vgl. Bonus: Zu den ‚Lehren des Burenkrieges‘, in: CW 15 (1901), 876 sowie den Aufruf zur Beteiligung an einem Burenhilfsfonds (ebd., 1205); Verschiedenes, in: ebd., 445; Unsere Burenhilfe, in: Die Zeit 1 (1901/02), 642. 97 Briefe Rades an Bonus, 21. und 28.8.1901 [ebd., 03_003]. 98 Briefkonzept Bonus an Rade, 27.6.1901 [ebd.]. Bonus betonte, dass er in den allgemei nen Englandhass nicht einstimmen wollte; die Burenagitation habe seine „alte Liebe gerade zu englischer Art und englischem Denken ganz unberührt“ gelassen (Briefkonzept Bonus an Rade, 14.8.1901 [ebd.]). Auch gegenüber der Internationalen Burenliga, die ihn als Berichter statter zu gewinnen suchte, betonte Bonus stellvertretend für den Kreis um Rade das positive Englandbild (Briefkonzept Bonus an Sklarek, Internationale Burenliga, 11.9.1901 [ebd., 08_001]). 99 Wie Bonus gegenüber Rade ausführte, befand sich die „Civilisation“ der Buren, beson ders hinsichtlich der Behandlung der afrikanischen Ureinwohner, im „16. Jahrhundert“; von rassistischen Anschauungen seien aber „sämtliche Völker, die Engländer nicht zuletzt, durchdrungen, handeln wenigstens z. B. in der Kriegführung aber auch sonst danach“; der gegen die südafrikanischen Republiken geführte „Raubkrieg“ sei „Gott sei dank, doch noch keine allgemeine Überzeugung“ und daher in der Christlichen Welt als Unrecht zu themati sieren (Briefkonzept Bonus an Rade, undatiert [ebd., 03_003]).
II. „Abwehr der Phrase“: Die reformnationalistische Position
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Von Südafrika hoffen wir noch Größeres für eine – freilich entfernte – Zukunft. Südafrika und Nordamerika sind für uns zwei Vorposten im kulturellen Kampfe Los von Rom, zwei Vorstöße in der geistigen Varusschlacht, die noch nicht zu Ende ist.100
Bonus hatte die Hoffnung, dass in den begeistert unterstützen Burenrepubliken ein kultureller Ansporn und ein konkretes Vorbild für die deutsche Bevölke rung entstanden war. Auch nach der Beendigung der Kampfhandlungen und der Kapitulation der Buren erschienen sie ihm in der angeblichen Verbindung von Freiheit, Bauerntum und Kolonistengeist als Keimzelle eines zukünftigen, „echten“ Germanentums. In der Christlichen Welt berichtete er von einem Emp fangsabend des Burenhilfsbundes, dessen Stimmung er religiös berührend und ernsthafter fand „als bei den gewöhnlichen patriotischen Festen“. Die durch die Solidarisierung mit den unterlegenen südafrikanischen Republiken entstandene patriotische Erregung führte zu einem verstärkten nationalen Drängen und in tensivierte die Vision eines erneuerten Deutschtums. Bei Bonus drückte sich das in religiösen Tönen aus: Wir haben diese Tage über das Gefühl gehabt, die Stimme unseres Volkes darzustellen und, wie wir mit großer Innigkeit glauben, die Stimme unsers Gottes. D.[as] h.[eißt] einer stärke ren Wirklichkeit, aber auch einer zehrenderen, als es die gewöhnliche Wirklichkeit ist, näm lich einer prophetischen. Unsere Seele hat gearbeitet in diesen Tagen, meine ich, um gegen über der trostlosen Wirklichkeit die Zuversicht festzuhalten, daß das Echte doch durchdrin gen muß.101
In der Christlichen Welt führte die angeheizte „politisch-nationale Stimmung“ während der Burenfrage dazu, sich – verschränkt mit den Äußerungen Nau manns und Rohrbachs – grundsätzlich mit dem deutschen Imperialismus aus einanderzusetzen.102 Es war ein leichtes, die englische Kriegspolitik mit massi ver Empörung zurückzuweisen und die Auseinandersetzung als illegitimen Überfall und als „Raubkrieg“ zu brandmarken, durch den sich das britische Kolonialreich der in den Burenstaaten gefundenen Goldvorkommen zu bemäch tigen suchte.103 Im Verlauf des Krieges wurde zunehmend auf die Greueltaten an der Zivilbevölkerung verwiesen und dadurch die moralische Minderwertig keit des britischen Vorgehens betont. Als besonders ärgerlich wurde empfun 100
Bonus: Stimmungen und Eindrücke der Burentage, in: CW 16 (1902), 1059–1064, 1063. Auch Avenarius erbat sich von Bonus eine Stellungnahme zur Frage im Kunstwart, aus welcher der Artikel „Begeisterungsreden“ hervorging (Kunstwart 16/1 (1902/1903), 437–447, vgl. Brief Avenarius an Bonus, 29.10.1902 [ebd., 12_004]). 102 M artin R ade: Unser Schweigen zum Burenkriege, in: CW 14 (1900), 543–544, 544. Rades Stellungnahme war von Bonus korrigiert und inhaltlich stark gefärbt (ersichtlich aus: Briefkonzept Bonus an Rade, undatiert [ebd., 03_003]). 103 Gottfried Traub: Der Burenkrieg und die Gebeterhörung, in: CW 14 (1900), 541–544, 543; vgl. Steffen Bender: Der Burenkrieg und die deutschsprachige Presse, 61. 101 Ebd.
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
den, dass sich englische Kirchenvertreter gemeinsam mit deutschen Protestan ten aus christlicher Überzeugung gegen die Armenierverfolgung im Osmani schen Reich eingesetzt hatten, nun aber die aus Sicht der Deutschen ähnlich gelagerte Burenpolitik rechtfertigten. Für Bonus war diese als doppelzüngig bewertete Haltung ein Skandal: Daß die Türken, die in Kultur, Sitte, Gesinnung kaum schon auf mittelalterlicher Entwick lungsstufe stehen, darauf verfallen konnten, ein ganzes Volk, das ihnen unbequem wurde, auszurotten, das war – zumal noch Religionsverschiedenheit hinzutrat – wenigstens nicht befremdlich. Daß aber England, das damals so empörte England, das christliche England, diesen Gedanken noch einmal denkt! Und in wie inniger Personalunion mit seinem Christen tum!104
Als schwieriger stellte es sich heraus, die „Lehren des Burenkrieges“ auch für die eigene Kolonialpolitik festzuhalten. Gottfried Traub etwa wies darauf hin, dass die deutsche Kolonialpolitik sich in einem ähnlichen Konflikt kaum von dem angeprangerten Vorgehen der britischen Regierung gegen die Buren unter scheiden würde. Traub lehnte es ab, sich „gewissermaßen zu salvieren“ und die mit dem Krieg aufgeworfene ethische Fragestellung lediglich am englischen Imperialismus festzumachen. Durch moralische Entrüstung, Friedensgebete und antienglische Stimmungsmache wurde die grundsätzliche Frage nicht ge löst, „in wie weit Gewalt in der Politik ein Recht hat, und in wie weit sich Politik versittlichen läßt“. Für Traub stand als Lehre aus dem Burenkrieg fest, dass durch die christlichen Staaten ein Kriegseinsatz „mit allen Mitteln durch die Völker verhindert werden“ müsse.105 Für Martin Rade war mit dem moralischen Aufbegehren gegen das britische Vorgehen die Gefahr der Heuchelei verbunden. Rade sah deutlich, dass sich das Deutsche Reich mit der Wende zur kolonialen Weltpolitik und dem weit verbreiteten Flottenenthusiasmus in den gleichen Bah nen bewegte, die am britischen Imperialismus so scharf angeprangert wurden.106 Die Burenbegeisterung war „Ausdruck einer antienglischen Stimmung in Deutschland“ und in hohem Maße mit nationalistischem Pathos aufgeladen, aber ihr fehlte eine kritische Rückkopplung mit dem Kolonialismus im eigenen Land. Wenn die emotionalisierte Pressedebatte über den südafrikanischen Krieg für 104 Bonus: Lehren des Burenkrieges, CW 15 (1901), 860–865, 862; vgl. sehr ähnlich artin R ade: Unser Schweigen zum Burenkriege, in: CW 14 (1900), 543–544, 544. M 105 Gottfried Traub: Der Burenkrieg und die Gebeterhörung, in: CW 14 (1900), 541–544, 543. Vgl. Willy Veit: Die christliche Ethik und der südafrikanische Krieg, in: CW 15 (1901), 884–888 mit dem Aufruf: „Christliche Frömmigkeit werde fest gegen Nationalismus und Imperialismus!“. 106 Ähnlich äußerte Naumann die Befürchtung, dass Deutschland in einem Kolonialkrieg einer entsprechenden „Barbarisierung“ erliegen würde (Christentum und Krieg, in: Die Hilfe 6 (Nr. 50 v. 15.12.1901), 6–7).
III. „Assimilation“: Zur Rolle des Judentums
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die deutsche Öffentlichkeit etwas austragen sollte, dann musste sie in eine Neu besinnung über das deutsche Weltmachtstreben einmünden. Der Burenkrieg bot für Rade den Anlass, sich über den Sinn und die Ausrichtung der deutschen Kolonialpolitik Klarheit zu verschaffen: „Welche sittlichen und sozialen Aufga ben stellt die Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht unserm Volke?“107 Trotz seiner emphatischen Parteinahme für die Buren teilte Bonus die Be fürchtung, dass die deutsche Politik auf dem Weg sein könnte, in einen aggres siven Imperialismus abzugleiten. Auch wenn ihm das internationale Verhältnis der Weltvölker als brutal geführter, darwinistischer „Lebenskampf“ erschien, warnte er davor, in eine reine Interessenpolitik zu verfallen.108 Wie er notierte, würde der Burenkrieg die Notwendigkeit einer internationalen Friedenspolitik unter Beweis stellen: „Jetzt die Macht des öffentlichen Gewissens in allen Völ kern soweit aufbringen und stärken, daß der Friede erzwungen wird, das wäre eine That anstelle der Redereien.“109 Tatsächlich trat jedoch der „verwerfliche nationale Egoismus“ zu tage, der Bonus zufolge die Ansicht verkörperte: „Laß sie sich doch gegenseitig fressen, so wird das Land für uns frei.“110
III. „Assimilation“: Zur Rolle des Judentums Augenfällig wirkte sich die Überzeugung einer fortschrittlichen Prägekraft der deutschen Kultur auf Bonus’ Verhältnis zum Judentum aus. Dabei folgte er der im Kulturprotestantismus überwiegenden Forderung, dass der idealistisch ver standene deutsche Kulturstaat und die Ausstrahlung des „deutschen Geistes“ auf eine Assimilierung des Judentums hinauslaufen würde. Während in der Gründungsphase des Deutschen Reichs in den kulturprotes tantischen Organen überwiegend eine rechtliche und gesellschaftliche Öffnung für das Judentum unterstützt wurde, um dieses an eine von protestantischen Idealen getragene Kultur zu binden, geriet die liberale Assimilationshoffnung seit den 1890er Jahren zunehmend unter Druck.111 Einerseits bemühte man sich 107
M artin R ade: Unser Schweigen zum Burenkriege, in: CW 14 (1900), 543–544, 544. Damit griff Rade das Thema des Karlsruher ESK auf. 108 Bonus: Stimmungen und Eindrücke der Burentage, in: CW 16 (1902), 1059–1064, 1060. 109 Briefkonzept Bonus an Rade, 14.8.1901 [ebd., 03_003]. Es muss erwähnt werden, dass Bonus sich im gleichen Schreiben ausdrücklich von der „Friedensbewegung“ distanzierte. 110 Briefkonzept Bonus an Rade, 27.6.1901 [ebd.]. 111 Vgl. Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 351; R einhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975; Dieter Langewiesche: Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhun dert, in: Peter Freimark (Hg.): Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, 148–160.
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deutlich um Abgrenzung vom politischen und offenen Antisemitismus, der als unsittlich und fortschrittsfeindlich empfunden wurde. Nicht wenige Kulturpro testanten gehörten dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus an. Trotzdem wurde im Judentum ein Hinweis auf die moderne Krisis erblickt, die sich nur im Kulturstaat beheben ließ. So warnte Erich Foerster 1891 vor dem parteipoliti schen Antisemitismus und wies auf ein „allgemeines Empfinden“ im Bürger tum hin, das judenfeindliche Einstellungen begünstigte. Gleichwohl bemass auch er den jüdischen Anteil an der „gefährlichen Zerklüftung unseres wirt schaftlichen Lebens“ als besonders hoch.112 Selbst erklärte Gegner des Anti semitismus wie Martin Rade äußerten sich vereinzelt über eine sozialschädi gende Wirkung des Judentums, die sie auf eine angebliche kapitalistische Über repräsentiertheit sowie auf die historisch gewachsene Entwurzelung und Sonderexistenz der Juden zurückführten.113 Auch wenn völkische Rassentheorien als dem humanitären Fortschritts gedanken widersprechend häufig auf Ablehnung stießen, wurde doch ein Ge gensatz zwischen Germanentum und orientalischem Denken angenommen.114 Je mehr Religion und Volkstum als Einheit verstanden wurden und die „sitt lich-religiöse Wiedergeburt“ der deutschen Kultur im protestantischen Geiste mit kulturkritischem Affekt herbeigesehnt wurde, desto deutlicher markierte man das Judentum als einen Fremdkörper. Wo das Deutsche Reich „mit deut schem Blute und mit christlichem Geiste“ erfüllt werden sollte, blieb für eine
Für die Liberalprotestanten war die Abgrenzung gegenüber dem Judentum auch deshalb ein problematisches Thema, weil sie in der konservativen Propaganda als Einbruch des Ju dentums in den Protestantismus angegriffen wurden, vgl. den Bericht: Der Antisemitismus bei Berliner Kirchenwahlen, in: PKZ 40 (1893), 261–263 sowie M artin R ade: „Es ist nicht recht, wenn in manchen Kreisen und Blättern in einem Tone vom Protestantenverein gespro chen wird, als wären seine Mitglieder allesamt eine vom Reformjudentum nicht unterscheid bare Masse.“ Vgl. Wolfram K inzig: Philosemitismus. Teil I: Zur Geschichte des Begriffs, Teil II: Zur historiographischen Verwendung des Begriffs, in: ZKG 104 (1994), 202–228.361– 383, 223. 112 Erich Foerster: Evangelische Gedanken zur Judenfrage, in: CW 5 (1891), 313– 321.368–375.387–393, 320.375. 113 Vgl. z. B. M artin R ade: Vom evangelisch-sozialen Kongreß zu Berlin, 4. Schlußwort, in: CW 4 (1890), 604–610, hier: 604 f. (vgl. auch seine Stellungnahme 1893 zu Friedrich Lange und zur Täglichen Rundschau). Ähnlich konnte Harnack eine „Judenfrage“ in Politik und Wirtschaft erkennen (Bericht über die Verhandlungen des Ersten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin vom 27. bis zum 29. Mai 1890, Berlin 1890, 142, vgl. A dolf H arnack: Der evangelisch-soziale Congreß zu Berlin, in: PrJ 65 (1890), 566–576, 574. 114 Vgl. z. B. Wilhelm Nestle: Das religiöse Problem in H.St. Chamberlains ‚Grundlagen des 19. Jahrhunderts‘, in: PrB 36 (1903), 212–214.217–220.225–228.231–233, 225; ders.: Der protestantische Geist in Gustav Freytags Werken, in: PrB 28 (1895), 330–335.338–341.
III. „Assimilation“: Zur Rolle des Judentums
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jüdische Minderheit wenig Raum.115 Gerade dem modernen, liberalen Judentum wurde wenig Verständnis entgegengebracht, da man seine baldige Konversion und die Aufgabe seiner Identität erwartete. Bonus’ wenige, explizite Äußerungen zum Judentum lassen erkennen, dass er dem „kulturellen Code“ des Antisemitismus folgte.116 Dem Judentum wurden ähnlich wie bei anderen protestantischen Vertretern Negativeigenschaften wie Äußerlichkeit, Materialismus und die Neigung zum wirtschaftlichen Übervor teilen nachgesagt, die Bonus zudem noch auf eine langfristige gewachsene Gruppenidentität zurückführte. Als historisch depravierte Religions- und Volksgruppe war der dem Judentum nachgesagte Kollektivcharakter sozusagen geschichtlich begründet und konnte nur durch den „edlen“ Einzelwillen über wunden werden. Bonus sah sich 1896 im Zuge der Gründung des Nationalsozialen Vereins aufgerufen, grundsätzlich zur „Judenfrage“ Stellung zu nehmen. Anlass gaben die in der Gründungsphase aufwallenden Debatten um die Frage, ob sich Juden an der anvisierten deutschen Nationalbewegung durch Mitgliedschaft im Natio nalsozialen Verein beteiligen könnten. Friedrich Naumann begegnete der teil weise scharfen Ablehnung gegen mögliche jüdische Mitglieder damit, dass er den Nationalsozialen Verein als eine übergeordnete Bewegung verstand, die sich unter einer „Politik des Deutschtums“ sammelte, die alle Differenzen unter dem nationalen Ideal vereinigen würde.117 Nicht unähnlich verwies auch Bonus auf die erwartete Integrationskraft der Nation, die es der Mehrheit der Juden ermöglichen würde, im deutschen Volk aufzugehen. Bonus forderte, dass Juden nicht nur juristisch, sondern tatsächlich den gleichen Zugang zu allen staatsbür gerlichen Rechten erhielten, also auch Aufnahme im Offizierskorps und in der Beamtenschaft fänden. Denn damit, meinte Bonus, würde die „allmähliche fortschreitende Germanisierung“ des Judentums beschleunigt, die sich seiner Ansicht nach im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Emanzipationsbewegung angedeutet habe.118 Bonus forderte keine Konversion zum Christentum, sondern ließ die religiöse Frage unterbelichtet im Hintergrund seines Kulturideals, weil er in seinem Fortschrittsglauben von der raschen Auflösung des Judentums aus ging, würde es sich nur erst frei im Deutschtum bewegen. Dem Judentum wurde gab die Protestantische Kirchenzeitung einen Vortrag des Hamburger Pfarrers Eduard Grimm wieder: Der deutsche Protestantismus und die Ideale unseres Volkes, in: PKZ 39 (1892), 169–171, 171; vgl. Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 417, Anm. 1299. 116 Vgl. dazu den gleichnamigen Essay in: Shulamit Volkov: Antisemitismus als kulturel ler Code, München 2000, 13–36. 117 So in einer Stellungnahme 1896 zur Frage, ob der Nationalsoziale Verein auch Juden aufnehmen würde, zitiert bei Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 462 f. 118 Bonus: Shylock. Zur Judenfrage. Acht Briefe an eine Jüdin, in: PrJ 83 (1896), 414–437. 115 So
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damit in einer sittlich-protestantisch verstandenen Nationalkultur ein Platz ein geräumt, der ihm jedoch nur bei Aufgabe der jüdischen Identität freigehalten wurde. Als Martin Buber in seinen 1911 erschienenen Reden über das Judentum von einer tiefliegenden, eigenständigen nationalen Identität des Judentums sprach, reagierte Bonus darauf scharf: Bubers angeblich „chauvinistische Me thode“ lehnte er für das Judentum entschieden ab.119 Auf religiöser Ebene folgte Bonus weitgehend der um die Jahrhundertwende in der protestantischen Forschung verbreiteten Unterscheidung zwischen dem eher positiv verstandenen eigentlichen Glauben Israels, der sich in dem Ethos der Propheten realisierte und im Christentum weitergetragen wurde, und einem als „Pharisäismus“ oder „Gesetzesfrömmigkeit“ abgewerteten nachexilischen Judentum, auf das auch das moderne Judentum in seiner orthodoxen Form re duziert wurde.120 Er hielt es für den bleibenden entwicklungsgeschichtlichen Durchbruch Israels, im Monotheismus das Gottesbild auf eine übernationale, allgemeingültige Stufe gehoben zu haben. In seinem nationalreligiösen Sen dungsbewusstsein war dies nun eine Aufgabe, die er für die nahe Zukunft dem Deutschtum zusprach, als „Erbe Israels“ zu wirken.121 Bonus griff nicht auf biologistische Argumente zurück.122 Der Fluchtpunkt seiner Ansichten war das „deutsche Volksgemüth“ als ein historisch-geistiger Ort, der auch dem anpassungswilligen Judentum offenstehen würde.123 In die 119
So nach einem Brief Bubers an Bonus, 2.11.1911 [NL Bonus, LKA Eisenach, 02_008]. Bonus bezog sich auf: M artin Buber: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt 1911. 120 Vgl. Roland Deines: Die Pharisäer im Spiegel christlicher und jüdischer Forschung seit Wellhausen und Graetz, Tübingen 1997; Uriel Tal: Christians and Jews in Germany; Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus, 388–409. 121 Bonus: Zur Germanisierung, 14. 122 Insgesamt spielte das Verhältnis zum Judentum in seinem Werk eine eher marginale Rolle; seine Konstruktion der religiös-kulturellen „Germanisierung“ nahm mit Ausnahme der hier erwähnten Aufsätze auf keinen Bezug auf das Judentum. Die Ablehnung des Ras senantisemitismus, die nicht als unbefangener Umgang mit einem gleichberechtigen Juden tum missverstanden werden darf, lässt sich auch in seinem Briefnachlass nachvollziehen. Nach der Revolution tauschte er sich mit Johannes Müller-Elmau und Rudolf Hermes ableh nend über den anwachsenden, „greulichen Rassismus“ und die „patriotische Überheblich keit“ aus, die sich im Weltkrieg verstärkt hätten (Hermes an Bonus, 24.6.1919 [ebd., 24_002]). Gleichwohl traten immer wieder Äußerungen auf, in denen en passant die Charakterisierung als Jude eine Abwertung bedeutete. Spöttisch äußerte er sich etwa 1908 im März über den völkischen Rassismus und die dor tige Germanenschwärmerei; er empfahl satirisch einen „Verein zur Zeugung von Germa nen“, für diejenigen, die sich in „großen völkischen, heldischen, urgermanischen Gedanken“ ergehen, überall „völkische Entartung und rassische Verwesung“ sehen, um möglichst „ur germanisches Blut fortzupflanzen“ (Bonus [Franz]: Verein zur Zeugung von Germanen, in: März 2/1 (1908), 189–191). 123 Ders.: Shylock, in: PrJ 83 (1896), 414–437, 433.
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sem sich erst noch vertiefenden nationalen Seelenstrang fielen alle religiösen und kulturellen Unterschiede gleichsam in einer dialektischen Bewegung in eins, wenn sich Deutschtum, Judentum und Christentum auf eine kommende Einheit im „deutschvolksreligiösen Sinne“ zubewegten.124 Der „böse Antisemi tismus“ als eine aus „den gemeinsten Trieben des Thieres“ hervorgewachsene Bewegung vergrößerte nur die Gefahr, diese „schöne Entwicklung“ auszu hebeln.125 Roderick Stackelberg hat mit Blick auf völkische Theoretiker wie Friedrich Lienhard oder Paul de Lagarde den Begriff des „idealistischen Antisemitismus“ geprägt.126 So wies Lienhard als Beispiel den biologischen Rassismus als eine „Sackgasse“ zurück und forderte gleichzeitig die Lösung der „Judenfrage“ als eines Kulturproblems. Für ihn hatte sich das Judentum durch „Idealismus“ selbst zu „entgiften“ und durch Eigenschaften wie „Güte, Wärme, Liebe“ die ihm eigentlich innewohnenden Zustände des Hasses und des Materialismus zu überwinden. Die edlen Glieder des Judentums forderte er auf, sich verstärkt dem fortgeschrittenen Kulturzustand des Deutschtums anzugleichen und damit in diesem aufzugehen.127 Bonus’ Aussagen müssen vor diesem Hintergrund verstanden werden. Seine Ablehnung des rassistischen Antisemitismus zugunsten eines vereinheitlichen den deutschen Kulturideals hielt er konsequent aufrecht, ohne Abstriche an sei ner Assimilierungsforderung zu machen. Als Moritz Goldstein 1912 im Kunstwart die Auseinandersetzungen um einen „deutsch-jüdischen Parnass“ eröffne te und darin das Gelingen einer Kultursymbiose von Deutschtum und Judentum in Frage stellte, gehörte Bonus zu den Autoren, die die Integrationskraft des idealistischen Erbes des Deutschtums betonten.128 124 Ebd.
125 Ebd.,
427. Roderick Stackelberg: Idealism Debased. From Völkisch Ideology to National Socia lism, Kent 1981, 91; vgl. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung, 55; Werner Bergmann: Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, in: HzVB, 449–463, 454 127 Vgl. Friedrich Lienhard: Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Türmer 14/1 (1912), 100– 102, hier 102; Hildegard Châtellier: Friedrich Lienhard, in: HzVB, 114–130. 128 Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnass in: Kunstwart 25/2 (1912), 281–294; Bonus: Siegfried Lipiner. Zugleich ein Wort zur Judenfrage, in: Kunstwart 27/4 (1913/14), 243–248. Bonus wies hier auf den Schriftsteller Lipiner hin, einen Schulfreund Paul Natorps, der ihn gebeten hatte, Lipiner als Verfechter der idealistischen Literaturtradition der Klassi ker zu erwähnen, in deren Geiste deutsche und jüdische Differenzen ineinanderflössen (Brief Natorp an Bonus, 19.7.1913 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_002]). Zur Debatte vgl. M anfred Voigts: Moritz Goldstein, der Mann hinter der ‚Kunstwart-Debatte‘. Ein Beitrag zur Tragik der Assimilation, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 13 (1995), 149–194; Julius H. Schoeps (Hg.): Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte, Berlin 2002. 126
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Eine zusammenfassende Einschätzung seiner Haltung zum Verhältnis von Judentum und Deutschtum veröffentlichte Bonus 1925 in der Hilfe. Diese soll abschließend zitiert werden, weil sie Bonusʼ Kulturnationalismus noch einmal illustriert und zudem die Bedeutung von Paul de Lagarde für seine Ansichten belegt: Sind die Juden in Deutschland zurzeit noch ein fremder Körper, so beweist dieser Umstand, dass das Leben Deutschlands nicht energisch und nicht ernst genug ist. […] Jeder uns lästige Jude ist ein schwerer Vorwurf gegen die Echtheit und Wahrhaftigkeit unseres Deutschtums. […] Die Judenfrage als Religionsfrage ist ein Archaismus, die Judenfrage als Rassenfrage eine Niederträchtigkeit. Die Judenfrage […] ist eine Volksfrage und muss als solche positiv gelöst werden.129
Bonus hatte also die Erwartung, dass sich das Judentum von selbst auflösen würde, wenn nur das Deutschtum zu sich selbst fände. Auch ohne rassistischen Hintergrund wird man diesen Gedankengang als antisemitisch bezeichnen dür fen, da er dem Judentum als Gruppe langfristig kein Existenzrecht zubilligte. Der fortschrittliche Kulturcharakter des Deutschtums musste sich seiner An sicht nach als groß genug erweisen, um das deutsche Judentum assimilierend in sich aufzunehmen.
IV. Die „Kurzsichtigkeit der Hetzpolitik“. Zur Behandlung der nationalen Minderheiten Sowohl in der Christlichen Welt wie auch im Protestantenblatt wurden nach der Jahrhundertwende verstärkt die Gefahren eines übersteigerten alldeutschen Na tionalismus thematisiert. Bei aller Hochschätzung der deutschen Kultur wandte sich das Protestantenblatt gegen eine „Überspannung“ des Nationalgefühls, das sich zur „Kulturgefahr“ auszuwachsen drohe.130 Als eine Quelle eines überstei gerten Nationalismus machte Martin Rade die Minderheitenkonflikte innerhalb des Deutschen Reiches aus, die aufgrund der straffen Germanisierungspolitik gegenüber den polnischen und dänischen Bevölkerungsgruppen in den östlichen und nördlichen Teilen des Reiches einen politischen Krisenherd darstellten. Rades Engagement entsprang zunächst grundsätzlichen, christlich-ethischen Einsichten, die ihn zu der Überzeugung brachten, dass die christliche Gesin nung auch im Miteinander der Völker Relevanz behalten müsse. 1908 positio nierte er sich in einem Freibund-Vortrag über „Nationale Gesinnung“, in dem er 129
Bonus: Lagarde, in: Die Hilfe 31 (Nr. 5 v. 1.3.1925), 116–117, 117; Bonus rezensierte hier eine Neuausgabe von Paul de Lagarde: Deutsche Schriften, München 1924. 130 Saxo: Die Gefahr des Nationalismus, in: PrBl 42 (1909) 180.
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scharf den parvenühaften wilhelminischen „Pseudonationalismus“ anprangerte und vor einem liberalen und humanitären Hintergrund alternative Entwick lungsmöglichkeiten aufzuzeigen versuchte.131 Etwa zeitgleich begann er, sich mit der Berechtigung des Pazifismus auseinanderzusetzen.132 Mit Verweisen auf Paul Natorp und Walther Schücking forderte er die Weiterentwicklung hin zu einem „kulturellen, humanitären Nationalismus“, der auf die sozialen und politischen Spannungen im Inneren ausgleichend und auf die europäischen Nachbarstaaten vertrauensbildend wirken würde.133 Wie der einzelne Christ für seine Mitmenschen Verantwortung übernehmen sollte, wie sich jeder Staatsbür ger für die Aufgaben der Nation einsetzen sollte, erwartete Rade auch von Deutschland, sich gleichsam als „Kulturdünger“ in den Menschheitsfortschritt einzubringen und zwischen den europäischen Staaten ausgleichend zu wir ken.134 Gegen nationale Machtphantasien erhob Rade den deutschen Idealismus zum kulturellen Leitbild, mit dem sich Nationalbewusstsein und sittliche Welt verantwortung verbinden ließen: „Es gilt zu begreifen, dass das Nationale nur sittlichen Wert hat im innigsten Zusammenhange mit dem Internationalen, an ihm sich entzündend nicht nur, sondern zur reinen Flamme klärend.“135 Diesen Überlegungen standen bereits 1907 konkrete Pläne zur Seite, die Ver lagszentrale der Christlichen Welt nach Posen zu verlagern, um dort, wie Rade schrieb, zur Hebung der „moralischen Lage des Deutschtums in unsern Ostmar ken“ beizutragen.136 Rade bezeichnete dieses Vorhaben als einen „Kolonialisie 131 Abgedruckt als: M artin R ade: Nationale Gesinnung. Freibund-Vortrag in Marburg und Bonn, in: Mehr Idealismus in der Politik, Jena 1911, 3–20 als „Staatsbürgerliche Flug schrift“ des Eugen-Diederichs-Verlags (Zitat 18). Vgl. die Zusammenfassung und inhaltliche Einordnung bei Johanna Jantsch: Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin 1996, 86. 132 Zu Rades mehrschichtigem Verhältnis zum Pazifismus s. A nne C. Nagel: ‚Ich glaube an den Krieg‘ – ‚Ich freue mich auf den Frieden‘. Der Marburger Theologie, Publizist und Politiker Martin Rade in der Auseinandersetzung mit dem Pazifismus, in: Hessisches Jahr buch für Landesgeschichte 40 (1990), 193–217. 133 R ade: Nationale Gesinnung, 18 f. Rade verwies ausdrücklich auf die in der Christ lichen Welt als Zusammenfassung abgedruckte politisch-ethische Nationalismuskritik von Walther Schücking: Das Nationalitätenproblem, in: CW 20 (1906), 219–230; vgl. ders.: Das Nationalitätenproblem. Eine politische Studie über die Polenfrage und die Zukunft Öster reich-Ungarns, Dresden 1908. 134 Ebd. 10. 135 Ebd., 16. 136 Ders.: Deutschherren-Bund, in: AdF, Nr. 22 (10.11.1907), 232; Zur Uebersiedlung nach Polen, in: ebd., Nr. 29 (1.8.1909), 299–300. Rade hatte sich bereits 1902 in der Christlichen Welt entsetzt über die Auseinandersetzungen um den Religionsunterricht in den Provinzen Posen und Westpreußen geäußert, für den als antipolnische Maßnahme der Gebrauch der deutschen Sprache erzwungen werden sollte: Die deutsche Schule im preußischen Polen, in: CW 16 (1902), 1068–1074. Zu Rades Vermittlungsbemühungen für eine moderate Minder heitenpolitik insgesamt vgl. J. Jantsch: Theologie auf dem öffentlichen Markt, 84–92. Rades
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rungsversuch“, allerdings nicht im Sinne der Germanisierungspolitik, sondern um den Bildungsidealismus der Christlichen Welt an den nationalen Reibungs punkten der deutschen Ostprovinzen zu verbreiten; Rade wollte im Osten „stär kend und verbindend wirken“ und zwar sowohl in kirchlicher wie in politischer Hinsicht.137 Diese Haltung löste teilweise scharfen Widerstand im Netzwerk der Christlichen Welt aus, der sich noch einmal verstärkte, als Rade begann, sich mit einem kurzzeitig bestehenden Nachrichtenblatt, der Grenzmarken-Korrespondenz für die Aussöhnung mit den dänischen Minderheiten in Nordschleswig einzusetzen. Gegen die aggressive Volkstumspolitik der preußischen Regierung plante er im Herbst 1910, einen „Verein zum Schutz der deutschen Ehre in der Nordmark“ zu begründen.138 In der Christlichen Welt richtete er einen Appell an die patriotisch gesinnten Deutschen, dass der politische Druck auf die Dänen dem „Deutschtum schweren Schaden“ zufüge. Es sei nicht nur ein „Gebot der Klugheit“, sondern eine „Forderung der Moral“, die Unterdrückungspolitik einzustellen und auf die Rechte der Minoritäten einzugehen.139 Zwischen Deutschland und den skandinavischen Nachbarländern sei eine Politik der „Freundschaft und Gemeinschaft“ notwendig.140 Die Vereinsgründung scheiter te aufgrund mangelnder Beteiligung, Rade schuf jedoch mit der Grenzmarken- Korrespondenz ein publizistisches „Kampforgan“, das über die Unrechtszustän de informieren sollte. Bonus – in der Christlichen Welt als Vermittler skandinavischer Literaturen bekannt – unterstützte Rade energisch in diesem Vorhaben, das bei ihm die „lebhafteste Zustimmung“ auslöste: „Ich bin dir dankbar für deinen Nordmar kenstreich, zumal ich höre, daß man dich häßlich angreift.“141 Er warb für Rades Anliegen in seinem Bekanntenkreis142 und versprach, sich publizistisch für die Umzugspläne lösten echte Bewunderung aus, wie im Briefwechsel zwischen Bonus und Göhre deutlich wird: Der Umzug sei ein „politischer Schritt und auch eine That“, schrieb Paul Göhre, Rade sei „noch ein Mann, der ernst macht mit seiner Gesinnung, der auch thut, was er für richtig hält“ (Brief Göhre an Bonus, 10.2.1909 [ebd., 13_003]). 137 Ebd. 138 Die Motivlage legte R ade um einzelne Dokumente ergänzt dar in: Wie ich zu meiner Nordmarkenpolitik kam. An meine Freunde unter ihren Verächtern, in: Mehr Idealismus in der Politik, Jena 1911, 41–73. 139 Neben der Ablehnung der aggressiven preußischen Politik in Nordschleswig war ein konkreter Anlass für Rade die Ausweisung des moderaten, prodänischen Historikers Hans Victor Clausen; vgl. die Ausführungen R ades: Deutsche Ehre und Nordschleswig, in: Die Hilfe 16 (Nr. 40 v. 9.10.1910), 613 f. 140 Ders.: Zur Verständigung. In Sachen des Herausgebers, in: AdF, Nr. 33 (20.9.1910), 370–372. 141 Postkarte Bonus an Rade, San Domenico 25.9.1910 [ebd., 24_007]. 142 So etwa, indem er gegenüber dem Kunstprofessor Karl Schmoll-Eisenwerth die Posi tionen Rades und Harnacks zu vermitteln suchte, vgl. den Briefwechsel zwischen Bonus und
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Verbreitung der Grenzmarken-Korrespondenz einzusetzen.143 Auch bei Avena rius fand er Rückhalt, der für den Kunstwart um eine Darstellung von Rades Anliegen bat.144 Rades Friedensarbeit, die sich in ihrer Rhetorik ausdrücklich patriotisch gab, stieß bei einigen Lesern der Christlichen Welt auf Unverständnis. Stellvertre tend für die Gegner führte der Oberlehrer Karl Kessler den Widerspruch in der Christlichen Welt an, der einerseits die Vermischung von Politik und Christen tum ablehnte, aber auch Bedenken äußerte, dass durch Rades Betonung der Menschenrechte Vaterlandsliebe, Nationalismus und die Autorität des Staates vernachlässigt würden.145 Rade protestierte gegen diese Fehldeutung und beton te, dass er auf seinem christlich-idealistischen Hintergrund zu einem anderen Nationalismusverständnis gelangt sei: „Will man mir ‚nationalen‘ Sinn abspre chen, so lache ich wirklich. Aber den vulgären terroristischen ‚Nationalismus‘ von heute mache ich freilich nicht mit.“146 Statt einer Politik des „Eindeut schens“ forderte Rade, die Einflüsse der „Fremdvölker“ als kulturelle Bereiche rung und als Brückenschlag zu den Nachbarvölkern zu „vertragen“.147
Schmoll-Eisenwerth im November/Dezember 1910 [ebd., 03_007]. Harnack teilte Schmoll-Ei senwerth allerdings einschränkend mit, dass er „in der Sache mit Rade und Bonus einver standen“ sei und den „Mißgriffen der preußischen Politik gegenüber dem Polentum“ ableh nend gegenüberstand, das politische Engagement aber für eine Aufgabe der „preußischen Liberalen“ hielt und eine Einschränkung der Grenzmarken-Korrespondenz „nur mit Bezug auf die Dänenpolitik“ für unglücklich hielt (Postkarte Harnack an Schmoll-Eisenwerth, 5.12.1910 [ebd.]). 143 Vgl. M artin R ades „Aufruf“ zur Unterstützung der Zeitschrift „Grenzmarken-Korre spondenz“, in: CW 24 (1910), XI und in PrJ 142 (1910), 579–580 mit Bonus als Unterzeichner neben Friedrich Naumann, Hans Delbrück, Eugen Diederichs und Walther Schücking. Zu dem erklärte er sich für die Absicht von Rade, Harnack, Naumann und Schücking, sich an einem „Verbund für internationale Verständigung“ zu beteiligen: Bonus: Die ‚völkische‘ und die pangermanische Idee, in: März 4/3 (16.9.1910), 484–485. 144 Brief Avenarius an Rade, 20.8.1910 [UB Marburg, NL Rade]. 145 K. K essler: Christliche Welt und Nordmarkenpolitik. Eine Stimme aus der Ostmark, in: CW 25 (1911), 63–67; vgl. Johanna Jantsch: Theologie auf dem öffentlichen Markt, 88. Wie sehr der Konflikt eskalierte, zeigte Rades Bericht anlässlich der Mitgliederversammlung der Freunde im Folgejahr 1911. Da Rade „das nationale Moment nicht genug in Anschlag“ bringe, drohten die ostpreußischen Vereinsmitglieder, gegen Rade einen Artikel in der Täglichen Rundschau zu veröffentlichen. Dem Protokoll zufolge trat manch einer unter den preu ßischen Freunden als „fanatischer Alldeutscher“ auf (Die ordentliche Mitgliederversamm lung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt am 4. Oktober 1911 in Goslar, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 422–429, 428 f.). 146 M artin R ade: Zur Verständigung. In Sachen des Herausgebers, in: AdF, Nr. 33 (20.9.1910), 370–372. 147 Ders.: Nordschleswig und Christliche Welt, in: CW 24 (1910), 1159.
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Bonus sekundierte Rade in seinen Bemühungen gegen einen überzogenen Nationalismus, schwenkte dabei aber auf die ihm eigenen Kulturtheorien ein. In der Christlichen Welt berichtete er von der zweiten Hamburger Nordmarkver sammlung vom 8. Mai 1911 und unterstützte ausdrücklich, was Martin Rade „über die Kurzsichtigkeit der Hetzpolitik“ gesagt hatte, welche die Antipathien bei den dänischen Minderheiten gegenüber den Deutschen vertiefen würde.148 Die Nationalisierungspolitik belege vielmehr den Mangel an nationalem Selbst vertrauen. In der Frankfurter Zeitung wandte er sich gegen eine nationalistische „Politik des Patriarchalismus“, die mit dem Ziel der staatlichen Einheit die dä nische Selbstentfaltung unterbinde. „Man spricht so viel von der Notwendigkeit, die deutsche Kultur gegen die dänische zu schützen. Man muß dagegen protes tieren, daß die deutsche Kultur so niedrig stehe, daß sie polizeilichen Schutzes bedürfe.“149 Bei Dänemark und anderen ginge es um „blutsverwandte germani sche Staaten“, die durch eine Politik des Respekts für den deutschen Kulturein fluss gewonnen werden müssten, statt durch imperiales Gehabe abgestoßen zu werden.150 Rades Überlegungen, den deutschen Nationalismus idealistisch zu erweitern, erhielten bei Bonus ein eigenes Gepräge. Er war sich mit Rade einig, dass der auftrumpfende wilhelminische Nationalgeist eine Gefährdung darstell te. Nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an inhaltsloser nationalistischer Emphase war zu beklagen: „Denn denen, die im Volksleben drin stehen, scheint für den Nationalismus schon seit Jahren die größte Gefahr vielmehr die zu sein, daß er überspannt werde.“151 Die von Rade eingeforderte universalistische Öff nung und idealistische Vertiefung des Nationalgefühls bog Bonus im Rahmen der Nordmarkendebatte zu einer Kulturraumidee um, bei der nicht nur die inter nationale Verständigung, sondern das germanische Verwandtschaftsgefühl zum verbindenden und friedensstiftenden Element werden sollte. Wie Rade sah Bo nus die Notwendigkeit, den „Weg von der nationalen zur internationalen Idee“ zu beschreiten; dieser sollte aber „besser und wirksamer […] über die panger
148 Bonus: Literaturbriefe. Zum Streit um die Nordmark, in: CW 25 (1911), 930–932, 931. Eine ähnliche Position vertrat ein Pfarrer aus Schleswig auf der Goslarer Tagung 1911. Durch die Repressionspolitik gegenüber den Dänen, die berechtigen Widerstand auslöse, seien „Wahrheit, Gerechtigkeit, nationale Stärke“ bedroht; die Dänen müssten vielmehr „innerlich“ für das Deutschtum gewonnen werden (Die ordentliche Mitgliederversammlung der Vereini gung der Freunde der Christlichen Welt am 4. Oktober 1911 in Goslar, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 422–429, 428). 149 Ders.: Zur Politik des Patriarchalismus oder ‚Der große preußische Gendarm!‘, in: Frankfurter Zeitung (7.5.1911) [als Belegdruck: LKA Eisenach, NL Bonus, 29_074]. 150 Ders.: Literaturbriefe. Zum Streit um die Nordmark, in: CW 25 (1911), 930–932, 931. 151 Ders.: Die ‚völkische‘ und die pangermanische Idee, in: März 4/3 (16.9.1910), 484– 485, 485.
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manische Idee […] geleitet“ werden: „Eine Einigung der germanischen Völker würde schon heute ohne weiteres den Frieden gebieten können.“152 Die Berührung mit dem nationalsozialen Imperialismus und mit Rades Über legungen in der Christlichen Welt sowie die Auseinandersetzung mit den all deutschen Forderungen an die Nation führten Bonus also mehr und mehr zu der Auffassung, dass der Nationalismus um ein inneres, ethisches Wertesystem er gänzt werden müsse. Dennoch verbleibt ein ambivalenter Eindruck: Die Beto nung der ethischen Ideale verdeckte nicht, dass es letztlich der „deutsche Geist“ war, dem Bonus die zukünftige kulturelle Führungsrolle zusprach.
V. Kulturpolitik: ein nationales Programm für den Liberalismus 1. Der Liberalismus im Betkämmerlein: Für eine parlamentarische Stärkung des Liberalismus Die deutsche Öffentlichkeit wurde im Herbst 1908 von einem Presseskandal erschüttert, dessen Urheber bald im Kaiser persönlich ausgemacht war. Wil helm II. hatte während eines Urlaubsaufenthalts in England ein Gespräch mit einem britischen Armeeoffizier geführt, dessen Inhalt dieser im Stil eines Inter views zusammenfasste und an die Presse weitergab. Das Kaiserinterview enthielt unausgegorene Äußerungen zu den deutschen Flottenplänen, die sich als Hinweise auf ein antienglisches Rüstungsvorhaben deuten ließen; weiterhin fiel der Kaiser durch sein selbstherrliches Auftreten der Diplomatie des deut schen Reiches in den Rücken und löste damit erhebliche Irritationen im In- und im Ausland aus.153 Der mit der „Daily-Telegraph-Affäre“ entfachte Entrüstungssturm wurde auch für Arthur Bonus zum Anlass, sich zunehmend konkreter zu politischen Fragen zu äußern. In der Zeitschrift März stellte er den Kaiser recht deutlich als einen außenpolitischen Risikofaktor hin. Offen beklagte er zudem die Prinzi pienlosigkeit der deutschen Politik und die tiefe Kluft, die zwischen den Äuße rungen des Kaisers, der deutschen Reichspolitik und den eigentlichen Ansichten und politischen Bedürfnissen der Bevölkerung auftrat.154 152 Ebd.
153 Zu den diplomatischen Verwicklungen um das Kaiserinterview vgl. Peter Winzen: Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908, Stuttgart 2002. 154 Bonus: Die eigentliche Englandgefahr, in: März 3/1 (1909), 396; die Telegraph-Affäre erschien Bonus wie seinen gebildeten Zeitgenossen als Beweis für die Richtungslosigkeit der deutschen Außenpolitik. Bitter kommentierte er das Kaiserinterview als Beleg dafür, dass es in „ganz Deutschland wohl niemand gibt, der weniger über deutsche Gefühle und Stimmun
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Die Telegraph-Affäre wirkte wie ein Beleg dafür, dass in Deutschland ein erheblicher Nachholbedarf bestand, was die politische Kultur und die parlamen tarischen Mitwirkungsmöglichkeiten des Reichstages betraf. Politische Kritik dürfe nun endgültig nicht mehr im Privaten geübt werden, reklamierte bei spielsweise das Protestantenblatt. Vielmehr müssten nun Volk und Vaterland, aber auch „unser Kaiser und sein Regiment“ von der publizistischen Sorge der Öffentlichkeit getragen werden, wie die Zeitschrift etwas verklausuliert forder te.155 Schon vor dem Kaiserinterview hatte Bonus angemahnt, dass eine parla mentarische Macht fehlte, die ein wirksames Gegengewicht zum Konservatis mus und zum Militär darstellen könnte. Darin trat eine „Tragik in der Partei politik“ zutage, meinte er, die vor allem den Liberalismus treffe, der vereinsamt zwischen den Interessen der Massenverbände und der Reichsregierung zu agie ren suchte.156 Trotz zahlreicher Differenzen wurde Martin Rade in diesen Jahren zu einem politischen Wegweiser. Zu Rades Schritt in die linksliberale Parteipolitik er klärte Bonus seine Zustimmung „ohne geringsten Anstoß“, wobei er auch deut lich machte, dass es für ihn selbst nicht um eine parteipolitische Entscheidung gehen konnte.157 Vielmehr wurde die parlamentarische Schwäche des Liberalis mus zum gemeinsamen Thema, und wie wenig es den Liberalen gelang, ihr politisches und gesellschaftliches Reformpotential in der wilhelminischen Öf fentlichkeit fest zu verankern. Besonders die vom Reichskanzler Bernhard von Bülow initiierte Querschnittspolitik der bürgerlichen Parteien – der „Bü lowblock“ – bot Anlass zu skeptischem Nachdenken über die politische Rolle der Liberalen. Bonus hatte sich – wie sein Freund Göhre tadelnd festhielt – ab 1907 als „Blockenthusiast“ hinter das taktische Bündnis des Reichskanzlers ge stellt.158 Das erhoffte Erstarken des „Linksliberalismus“ blieb jedoch aus; viel gen unterrichtet wäre als ausgerechnet der Deutsche Kaiser“ (ders. [„Franz“]: Psychologie in der Politik, in: März 2/4 (1908), 320); vgl. zur Ablehnung des Kaisers als sentimental und geschmacklos: Der Kaiser und das deutsche Erblaster, in: Kunstwart 22/2 (1908/09), 367– 368. 155 Saxo: Nach der Krisis, in: PrBl 41 (1908), 1188–1189. 156 Bonus: Die Tragik in der Parteipolitik, in: Der Tag, 24.4.1907. Eine ähnliche Beurtei lung der Lage findet sich bei Friedrich Naumann, der in Verbindung mit Demokratisierungs forderungen die Rücknahme der hochgefährlichen „persönlichen Politik“ des Kaisers für notwendig hielt: Die Politik des Kaisers, in: Die Hilfe 14 (Nr. 45, 1908), 718–720; ders.: Die Kaiserfrage, in: ebd., 14 (Nr. 47, 1908), 750–51 („Für eine sorgsame und gut gearbeitete deut sche Machtpolitik soll und muß bezahlt werden, aber nicht für eine Politik der Willkürlich keiten“). 157 Brief Bonus an Rade, 10.4.1910 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_007]. 158 Briefe Göhre an Bonus, 10.2.1909 sowie 9.5.1911: „Lieber, wie haben sich die Zeiten seit den Januarwahlen 1907 verändert: Du gehörtest ja wohl auch zu den Enthusiasten, die sich damals hatten von den Bülow-Herrschaften verführen lassen“ [ebd., 13_003].
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mehr zeichnete sich ein quälender „Zerreibungsprozeß“ ab.159 Die bürgerlichen Parteien würden den „Patriotismus nur zu Maule führen“, ließ Göhre wissen, wohinter sich jedoch lediglich die Maskierung einer egoistischen Interessen politik verbergen würde.160 Gegenüber Rade brachte Bonus daher seine Besorgnis ins Gespräch, „wie pessimistisch [er] überhaupt über den Liberalismus denke“.161 Rades Versuche, einen idealistischen Politikstil mit liberalem Gepräge zu finden, erschienen da gegen richtungweisend. Bonus stellte 1908 im Kunstwart einen Vortrag vor, den Martin Rade vor der Deutschen Friedensgesellschaft gehalten und in dem er Machtstaat, Rechtsstaat und Kulturstaat voneinander unterschieden hatte. Bo nus gab Rades Gedanken als Plädoyer für eine Erneuerung des Kulturstaatsge dankens wieder und schloss sich seinen Vorschlägen an, der gegen „politisches Bramarbasieren“ und die nationale Machtideologie „ideale Ziele“ für die Politik eingefordert hatte, zu denen auch eine parlamentarische Volksvertretung gehör te.162 Hier lag ein Staats- und Politikverständnis vor, auf das Bonus den zuneh mend kritisch betrachteten Liberalismus verpflichten wollte, dessen Zurückwei chen ins „Betkämmerlein“ er beklagte.163 Dem Liberalismus fehle die Fähigkeit, sich zu einer fortschrittsorientierten und kritikfähigen politischen Bewegung im Reich aufzuraffen. Ein parteipolitisch abgrenzbarer und ideenpolitisch re flektierter Liberalismus-Begriff war damit freilich nicht verbunden; wo Bonus vom Liberalismus sprach, trat das Wort häufig als Chiffre für die Forderung 159 Postkarte Göhre an Bonus, 11.4.1908 [ebd.]. Göhre notierte, dass das „Blockelend“ immerhin der Sozialdemokratie nutze und dadurch „ein wenig freiheitliches“ mit sich bringe. 160 Postkarte Göhre an Bonus, 25.6.1909 [ebd., 13_003]. Ähnliche Ansichten ließen sich im Protestantenblatt finden: Zwar segle die Regierung unter „allerlei liberalen Wimpeln“, doch verberge sich dahinter ein völlig anderer, nämlich reaktionärer „Kurs“ (Saxo: Schücking, in: PrBl 41 (1908) 875–877). Der Liberalismus solle sich entschiedener auf seine „Grund sätze“ berufen (ders.: Das Programm, in: ebd., 42 (1909) 687–689. In Preußen sei es Tradi tion, bei jeder unliebsamen politischen Entscheidung „auf die bösen Liberalen“ zu schimp fen; daran zeige sich eine grundsätzliche Verachtung gegenüber der „Volksvertretung“ (ders.: Volksvertreter, in: ebd., 45 (1912) 605–606). 161 Brief Bonus an Rade, 15.10.1912 [ebd.]. 162 Ders.: Rundschau. Machtstaat, Rechtstaat, Kulturstaat, in: Kunstwart 21/4 (1907/08), 111–113, 113; vgl. M artin R ade: Machtsstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat, in: CW 22 (1908), 505–512; dazu Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, 233 f. R ades Vortrag war im Folgejahr auch in einer kleinen Aufsatzsammlung veröffentlicht worden: Das religiöse Wun der und anderes, Tübingen 1909. 163 Ders. [„Franz“]: Der Liberalismus im Betkämmerlein, in: März 2/1 (4.2.1908), 283– 284. Anlass des kurzen Artikels war die Massregelung des Pfarrers August Pfannkuche, ei nes Naumannianers, der sich in Osnabrück für Gewerkschaftsrechte eingesetzt hatte, durch das konservative Hannoversche Konsistorium; die liberale Presse hätte Pfannkuche in Schutz nehmen müssen.
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nach neuen Werten, Gemeinschaft und politischer Beteiligung im wilhelmini schen Bürgertum auf. Deutlich fiel Bonus’ Missbilligung aus, als Wilhelm II. sich im Sommer 1910 in einer Ansprache in Königsberg zum Gottesgnadentum bekannt hatte und dabei in einem Zuge den Parlamentarismus abwertete und der Monarchie eine quasi religiöse Mission aufgab. Bonus wandte sich darauf erneut in einem März-Artikel an den Liberalismus, dem er empfahl, sich gegen den von rechts her blasenden „Byzantinersturm“ auf seine „alten Ideale“ zu besinnen.164 Ange sichts der verquasten Aussagen des Kaisers erklärte er die Republik zur ur sprünglichen germanischen Staatsform: „Alle germanischen Völker“, so Bo nus, „mit Ausnahme der in Berlin und Wien zentralisierten sind offene oder la tente Republiken.“ Weiterhin zog er eine Linie zur Reformation und verwies auf die Bauernkriege von 1525, die er hier zum Ausgangsort einer bürgerlich- modernen Staatsidee erhob.165 Damit erklärte Bonus die Begrenzung der Staats macht und die Freiheit des Bürgers zu urdeutschen Kulturprinzipien; zugleich machte er nun sein nationalistisches Ideengut für eine fortschrittliche Oppositi on gegen das wilhelminische Regierungssystem nutzbar. In der „byzantelnden“ Gegenwart empfahl er den Liberalen die Reaktivierung ihrer größeren Vergan genheit: „Wenn die Liberalen kleinlaute Beteuerungen und Verwahrungen ab geben, so ist das kaum die rechte Politik. Sie sollten sich ihrer Traditionen erin nern.“166 Bonus’ nationalkulturelle Vorstellungen lassen sich vor diesem Kommunika tionszusammenhang als kritische Stellungnahme zum wilhelminischen Politik stil deuten. Nachdrücklich forderte er eine fortschrittsorientierte Wende, die eine Politik jenseits von „Blut und Eisen“ möglich machen sollte, um eine inter nationale Isolierung Deutschlands zu verhindern: Wir machen uns durch eine nichtswürdige Nadelstichpolitik in der ganzen Welt verhaßt, ver geuden unsern guten Namen auf die leichtfertigste Weise, schwächen unsre Sache, impfen das Gift nationalen Dünkels unserm im Grund gesunden und gerechten Volk gewaltsam ein.167
2. Der Liberalismus als „Weichtierbildung“: Stärkung durch Religion Den sich hier artikulierenden politischen Erwartungen boten sich nur wenige konkrete Anknüpfungspunkte und Repräsentationsmöglichkeiten im politi schen System des Kaiserreichs. Die Hoffnungen richteten sich auf einen erstar 164
Ders.: Das Bekenntnis des Bürgers, in: März 4/4 (8.11.1910), 261–263, 263. Ebd., 262. 166 Ebd. 167 Ders.: Literaturbriefe, in: CW 25 (1911), 207–210.543–545.930–932.979–981.1168– 1172, 931. 165
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kenden Liberalismus als Träger der kulturellen und politischen Fortschritts bewegung – wobei es den Reformern im Stil von Bonus tatsächlich eher um eine Bewegung als gesellschaftliche Formierung denn um eine parteipolitische Bele bung der liberalen Ideale ging. Bonus’ Ruf nach einem erneuerten liberalen Geist versteht sich daher leichter als eine reformerische „Anti-Politik“, die auf gesellschaftspolitische Umpolung jenseits der parteipolitischen Arbeit setzte.168 Sie traf sich aber mit Sichtweisen, die auch von anderen kulturprotestantischen Publizisten geäußert wurden. Dabei wurde die mangelnde soziale Wirkmäch tigkeit des Liberalismus auf die weltanschauliche Indifferenz der liberalen Par teipolitik zurückgeführt; konkret auf ihren Unwillen, sich mit den Vertretern eines modernen Protestantismus zusammenzuschließen.169 Von kulturprotes tantischer Seite aus konnte mitunter eine unmittelbare Unterfütterung des Linksliberalismus mit protestantischen Werten gefordert werden, auch wenn die politischen Parteiführer diese Ineinanderschiebung teilweise für unverein bar mit ihren liberalen Prinzipien hielten.170 Die „religiöse Schwäche des Liberalismus“ wurde ab 1908 etwa im Protestantenblatt recht breit diskutiert. Um zu politischer Wirksamkeit zu kommen, fehlte dem Liberalismus „die Macht des Gemütes“; „innerlich gefestigte, von Idealen, nicht von Negation erfüllte Anhänger“ fehlten den liberalen Parteien.171 In der Hilfe rief Wilhelm Schubring im gleichen Jahr dazu auf, den Liberalis mus für den modernen Protestantismus zu öffnen, denn dieser habe „nationale Bedeutung“.172 Der Liberalismus dürfe keine Politiktheorie darstellen, sondern eine „Weltanschauung, die an die Zukunft, an den Fortschritt glaubt; seine poli tische Macht hängt von der Begeisterung ab, die diese idealistische Weltan schauung zu wecken vermag.“173 168
Vgl. zur reformerischen „Antipolitik“ als nicht parteipolitisch agierendem, aber doch auf gesellschaftliche und politische Veränderung abzielendem Transformationsbestreben K evin R epp: Reformers, Critics, and the Paths of German Modernity, Cambridge 2000, v. a. 215–218; zur Naumann-Sombart-Debatte im Morgen vgl. ebd., 211–214; Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, 186–189; Friedrich Naumann: An Herrn Prof. W. Sombart, in: Morgen 1 (1907), 382–387; Werner Sombart: An Friedrich Naumann, in: ebd., 415–421. 169 Rudolf Wielandt: Der politische Liberalismus, Göttingen 1908, vgl. Hübinger: Kul turprotestantismus und Politik, 158, aufschlussreich dazu die Beurteilung von M artin R ade: Von der Ost- und Nordmarkenfrage, in: AdF, Nr. 35 (10.2.1911), 384–387. 170 Vgl. H ermann Mulert: Religiöser und politischer Liberalismus, in: ZfP 4 (1911), 374– 390; vgl. ebd. 171 Der politische Liberalismus und die Religion, in: PrBl 41 (1908), 1100–1102 als Rezen sion zu: Rudolf Wielandt: Der politische Liberalismus. 172 Wilhelm Schubring: Der politische Liberalismus und die christliche Religion, in: Die Hilfe 14 (Nr. 51, 1908), 824–826. 173 Ebd.
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
Friedrich Naumann hatte auf dem Bremer Protestantentag 1909 eine enge Beziehung zwischen Liberalismus und freiem Protestantismus hergestellt.174 Sittlichkeitsdenken, geschichtlicher Fortschrittsglaube und die idealistische „Nationalitätsidee“ verbanden das liberale Denken mit dem freien Protestantis mus. Letzteren charakterisierte Naumann recht unspezifisch als mentale Auf nahmebereitschaft für die moderne Weltsicht „in den christlichen Glauben der Volksgemeinschaft“.175 Erst ein solcher freier „Volksglauben“, so Naumann, würde dem politischen Liberalismus die notwendige Tiefe geben, die er für eine gestaltungskräftige Wirksamkeit benötigte. Die individuelle Persönlichkeit und der idealistisch gedachte Bezug zur Nationalität waren äußere Faktoren, zu de nen die protestantische Freiheit hinzukommen musste, damit der Liberalismus nicht kalte und leere Staatstechnik bleibe: „Die Liberalisierung des Staates läßt sich niemals mit bloßer Staatstechnik und Nützlichkeitslehre erreichen, sondern setzt einen Untergrund von Volksglauben voraus, wie er sich im religiösen Li beralismus bietet.“176 Obwohl sich der kirchliche Liberalismus in Naumanns Augen noch in der Entwicklungsphase befand, schien er ihm in Verbindung mit einer freien, nationalen Politik die Substanz für die deutsche Zukunft zu bilden. Trotz tiefer innerer Widerstände rückte auch im Kreis um die Christliche Welt das Verhältnis zur Politik und zum politischen Liberalismus auf die Tages ordnung, angespornt durch die parteipolitische Betätigung Rades.177 174
Friedrich Naumann: Liberalismus und Protestantismus, in: Protestantische Freiheit. Verhandlungen des 24. Deutschen Protestantentags in Bremen am 22.9.1909, Berlin-Schöne berg 1909, ediert unter dem Titel: Religiöser und politischer Liberalismus, in: Werke, Bd. 1, 773–801, vgl. Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus, 393 f. 175 Ebd. 176 Ebd. 1908 stellte Naumann als Reaktion auf Troeltschs „Soziallehren“ Überlegungen an, inwieweit eine Verschränkung von freiem Protestantismus und Nationalbewusstsein „eine Fortsetzung des alten einheitlichen Volkschristentums auf höherer Stufe“ darstellen würde, hielt das aber angesichts der kirchenrechtlichen und konfessionellen Realitäten im Reich für eine Utopie (Ders.: Staat und Kirche, in: Die Hilfe 12 (Nr. 50 v. 16.12.1906), 2–3). 177 Neben Rades persönlicher Entschließung zur liberalen Parteipolitik und seiner Stel lungnahme in der Nordmarkenfrage riss der Konflikt an der Frage auf, in wie weit sich der Freundeskreis an einem Zusammenschluss des kirchlichen Liberalismus beteiligen sollte, vgl. die Diskussion bei M artin R ade: Unsere Stellung zu anderen Tagungen, Vereinen und Parteien, in: AdF, Nr. 38 (25.10.1911), 432–436; ders.: Liberalismus und Gemeinchristentum, in: ebd., Nr. 43 (14.1.1913), 477–480, 479 f.; ders.: Eisenach 1913, in: ebd., 480–481. Die Vor würfe aus den eigenen Reihen waren teilweise beträchtlich: Die Christliche Welt stelle sich „abseits von der religiösen Wiedergeburt unsers Volks“, wenn sie sich auf eine geistig-intel lektuelle Wirkung beschränken wolle. Während die „Altgläubigen“ im Konservatismus ei nen klaren sozialen Hintergrund hätten, wurde der Radekreis als sozial und politisch ortlos empfunden (Freunde der CW und Freunde evangelischer Freiheit, in: AdF, Nr. 47 (14.3.1914), 539–541). Kontinuierlich wurde die „Einflußlosigkeit unsers Kreises“ thematisiert: ein „real politischer Einfluß – und sei es nur in kirchlichen Fragen“ – existiere über das Korrespon
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Für Bonus ging es allerdings darum, den bestehenden, gespaltenen Parteien liberalismus in eine geschlossene Volksbewegung zu überführen. Er suchte nach dem Ansatzpunkt einer umfassenden Kulturpolitik, die durch politische Beteiligung und religiöse Freiheit einen Modernisierungsschub für das Ord nungssystem des Deutschen Reiches bringen sollte. Diese Überlegungen ver dichteten sich zwischen 1910 und 1912 auf eine für Bonus bezeichnende Weise auf dem Gebiet der Kirchenpolitik. Bonus sah mit den in der Öffentlichkeit breit diskutierten kirchlichen Disziplinarverfahren gegen die Pfarrer Carl Jatho und Gottfried Traub die Möglichkeit gekommen, dem schwächelnden Liberalismus eine energische weltanschauliche Basis zu geben. Die oben nachgezeichnete re ligiöse Interpretationslinie ist hier also um eine politische zu ergänzen. Im Februar 1911 schrieb der Verleger Eugen Diederichs an Bonus, dass er in der deutschen Öffentlichkeit einen „Umschwung“ hin zu einem neuen, liberalen Bewusstsein wahrnehmen würde.178 Für ihn war die Zeit reif für eine Mobilisie rung der Gebildeten im kulturpolitischen Sinne: „[…] wir sind jetzt am Wende punkte, wo wir über die Parteiphrase hinaus zu einem ernsthaften Interesse der Gebildeten an inneren politischen Fragen kommen müssen“.179 Die kirchliche Frage wurde dabei als Indiz für das Erlahmen der bildungsbürgerlichen Gestal tungsfähigkeit und für das hemmende Übergewicht der konservativen Partei in Staat und Kirche wahrgenommen. Auch Bonus erwartete, aus der öffentlichen Stimmung und den kirchenpoli tischen Debatten Kräfte für eine liberale Neubelebung gewinnen zu können.180 Diese musste einerseits auf den politischen Liberalismus ausstrahlen, zugleich aber eine religiöse Fundierung des deutschen Kulturstaats in freiem Geiste mit sich bringen. Wie Diederichs hoffte Bonus, eine liberale Gebildetenbewegung anstoßen zu können. Für ihn hatte sich an den kirchlichen Ereignissen gezeigt, dass der Liberalismus in einem gesellschaftsrelevanten Konfliktfall, in dem es in Bonus’ Augen um Gewissens- und Wissenschaftsfreiheit ging, kaum mehr einen gewichtigen Politikfaktor darstellte. An der staatskirchlichen Behandlung denz- und Publikationsnetzwerk hinaus nicht (Verschiedenes. Die Einflußlosigkeit unsers Kreises, in: AdF, Nr. 53 (22.6.1915), 616). 178 Brief Diederichs an Bonus, 7.2.1911 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_005]. 179 Brief Diederichs an Herbert von Berger, 28. August 1912, zitiert aus: Ulf Diederichs: Eugen Diederichs, Düsseldorf 1967, 105 f. Diederichs versuchte mit seinen Staatsbürgerlichen Flugschriften und der Politischen Bibliothek sich ab 1911 einen überparteilichen „Zu hörerkreis“ zu schaffen, der für praktische Politik zu gewinnen war. Die „politische Gleich gültigkeit“ stellte für ihn eine „moralische Krankheit“ dar (Eugen Diederichs: Zur Entwick lung des Verlages, in: Bücher-Verzeichnis des Verlages Eugen Diederichs, Jena 1911, unpaginiert). 180 Bonus: Liberale Kirchenpolitik, in: Neue Rundschau 22 (1911), 1289–1295; ders.: Po litik und Religion. Eine Frage an den Liberalismus, in: CW 26 (1912), 960–963.
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der gemaßregelten Pastoren wie Carl Jatho sei die Verachtung deutlich gewor den, „mit der unsere innere Politik an den noch so deutlich und laut ausgespro chenen Forderungen unserer liberalen Volksteile vorübergeht“, schrieb er in der Neuen Rundschau.181 Dem stellte er eine gesellschaftspolitische Analyse zur Seite, in der er den geringen politischen Einfluss der liberalen Parteien zu erhel len suchte. Der Konservatismus und das katholische Zentrum saßen jeweils auf einer starken „religiösen Stimmung im Volk“ auf, die ihnen half, politische Ein stellungen mit tieferen Weltsichten zu verbinden. Für den Liberalismus hinge gen war „Religion eine Privatsache“ und galt „die religiöse Indifferenz“ als Leitlinie. Damit war er in Bonusʼ Augen „zum Verlust der lebendigen Verbin dung mit dem Volksfühlen und -denken verurteilt, die ihn dazu verdammt, lite rarisch zu herrschen und praktisch einflußlos zu bleiben“.182 Hatte er schon an gesichts des Verlustes der Bildungsschichten von einem „Bankrott des Protes tantismus“ gesprochen, befürchtete er nun ebenso einen „Bankrott des Liberalismus“.183 Für ihn bot die „Weichtierbildung“ des Liberalismus, der sich in politischer Dogmatik aufsplitterte und gleichzeitig zu fortwährend neuen Ko alitionen fähig schien, welche die Kulturstaatlichkeit aufs Spiel setzten, indem sie dem Konservatismus den Gestaltungsrahmen überließen, keine Zukunfts perspektive. Noch weniger konnte im preußisch geprägten, sich deutsch-protestantisch ge bärdenden Konservatismus ein Erneuerungsimpuls gefunden werden, wie Bo nus in einem offenen Brief in Gottfried Traubs Christlicher Freiheit ausführte. In biographischer Rückblende auf den christlich-sozialen Frühlingstraum der 90er Jahre beklagte er die Verbindung der konservativen „Geldsackpartei“ mit der zum Herrschaftsinstrument herabgestuften protestantischen Staatsreligion, die der „Erzeugung eines gehorsamen Arbeitervolks“, aber nicht mehr der kraftvollen, sozialen Gestaltung dienen durfte. Schien das zunächst kirchen bürokratisch bereitwillig hingenommene Engagement der ‚sozialen Pastoren‘ für eine langsame Öffnung des konservativen Protestantismus zu sprechen, so war davon seit der Jahrhundertwende eine zu „Denunziation“ und „Byzantinis mus“ neigende Besitzendenbewegung mit religiöser Übertünchung geblieben. Die Aushöhlung der Religion hin zu einem sterilisierten Moralanspruch offen barte, „daß man das Ideal garnicht einmal als Ideal hatte“, sondern lediglich zur Kaschierung der eigenen Standesinteressen vorschob. Damit war der Zusam menhang von Thron, Altar und Nation diskreditiert, der sich als Legitimie rungsinstanz für den „Polizeiknüttel“ eignete, aber nationale Prosperität in 181
Ders.: Bankrott des Protestantismus?, in: Neue Rundschau 23/2 (1912), 1527–1535, 1529. Ebd., 1530. 183 Ebd., 1531. 182
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Kunst, Wissenschaft und „politischer Gesinnung“ verhinderte und somit als Option des modernen Bürgertums nicht mehr in Frage kam.184 Überraschender jedoch waren Bonus’ Analysen zum Liberalismus selbst. Die programmatische Mattigkeit des zeitgenössischen Liberalismus lud zum Ver gleich mit seiner parlamentarischen Marginalisierung in der Bismarckära ein und ließ den gescheiterten Kulturkampf aufscheinen. Während sich die liberale Parteiengeschichte seit der Reichsgründungsphase als fortlaufende Abwärtsent wicklung ausnahm, konstatierte Bonus den verfestigten, langfristig ausgebau ten Erfolg der Parteien, die „eine organisierte religiöse Stimmung“ zu nutzen verstanden. Hier vermischte sich ein ungeklärtes, eher publizistisch als soziolo gisch verankertes Gespür für milieuhafte Strukturen mit einem für Viele aus gesprochenen Gefühl gesellschaftlicher Ortlosigkeit. Rationalistisch, wissen schaftsgläubig und in Distanz zur religiösen Tradition hatte der Liberalismus als Träger der wilhelminischen Modernisierungsschübe den ländlich-agrarischen Protestantismus geradezu dem Konservatismus in die Arme getrieben, wo er nun „Vorspanndienste“ für die dortigen „kleingeistigen Polizei- und Porte monnaie-Ideale“ zu leisten hatte. Dass sich im zentrumsnahen Katholizismus keine Herberge für die städtisch geprägten Modernen fand, verstand sich von selbst. Beengend, politisch gar verhängnisvoll erschien das Erschlaffen des noch in der Gründerzeit vom Bürgertum enthusiastisch getragenen, national- freiheitlichen Kulturideals, das nun der bornierten Gleichgültigkeit des besten falls positivistischen, an den sich beschleunigenden Kulturimpulsen der Jahr hundertwende kaum beteiligten „Bildungsphilisters“ gewichen war.185 Als na tionale, freiheitliche und fortschrittsgerichtete Weltsicht hätte ein protestantischer Liberalismus das „Kultursubstrat“ eines kommenden, starken Deutschtums abgeben können. Doch war es ihm in seiner Hochphase im Bismarckreich nicht gelungen, „ein religiöses Knochengerüst auszubilden“: Keine große Allgemeinanschauung und -stimmung kam auf, stark genug, um sich bis in die letzten Gründe des Seins hinein zu ankern – ‚religiös‘, selbständig religiös zu werden, stark genug, um alle die kleineren Dissense in seinen kräftigen Hauch mit hineinzureißen, stark genug, um die Grundlage einer neuen Gemeinempfindung und damit einer neuen Gemein schaft, einer neuen Kultur zu schaffen. Der Liberalismus, wie er im wesentlichen bis heute noch dasteht, hat sich selbst und uns um das betrogen, was er uns hätte leisten müssen.186
Während die Programme der Konfessionsparteien und der Sozialdemokratie auf einem festen, sozial verankerten Deutungsrahmen aufzusitzen schienen, spie gelte gerade der Kontrast zu dem breiten, bürgerlichen Aufbruch der 60er Jahre 184
Ders.: Vom Konservatismus, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 355–358, Zitat 358. Ders.: Politik und Religion, in: CW 26 (1912), 960–963, 962; fortgeführt in: Religion und Liberalismus, in: ebd., 27 (1913), 63–66. 186 Ders.: Politik und Religion, in: CW 26 (1912), 960–963, 962. 185
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das Gefühl wider, nun „politisch heimatlos“ geworden zu sein. Die „große All gemeinanschauung und -stimmung“, die aus dem Idealismus gespeiste, sich in einem Nationalbürgertum verwirklichende und in kulturelle Weltpolitik aus strahlende Zugkraft fehlte dem Liberalismus.187 Angesichts der religiösen Pro teststimmung und zudem dem relativen Wahlerfolg von 1912 schien für den Li beralismus als Bewegung die Gelegenheit gekommen zu sein, von der aus er sich zur Rückeroberung verlorenen Terrains aufmachen konnte. Die Überführung der altliberalen Impulse von bürgerlichem Freiheitspathos und protestantischem Kulturideal musste eine „auf Dauer befähigende, tiefgründige und möglichst wenig negativ bleibende, kurz religiöse“ Stimmung erwecken, die dem Libera lismus die Vitalität einer weltanschaulichen Mehrheitsbewegung zurückgab.188 Bonus folgte hier einer in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg unter den Gebildeten wiederholt verhandelten Analyse, nach der das Manko des Liberalis mus das Fehlen einer geschlossenen, massentauglichen Weltanschauung war. So wies etwa der Herausgeber der Deutschen Kultur, Heinrich Driesmans, auf das Fehlen eines klar umrissenen „Kulturprogrammes“ im Liberalismus hin, ohne welches „aus den Trümmern des einst so stolzen liberalen Palastes ein verheißungsvoller kulturpolitischer Neubau für das deutsche Reich zu gewin nen“ unmöglich bleiben musste. Die politische Erneuerung erforderte „große Prinzipien, die uns im Innersten packen“ und in „heilige ergriffene Seelen stimmung“ versetzten.189 Die Befürworter einer Regeneration des Liberalismus sahen in der „Zerbröckelung“ des stadtbürgerlich-protestantischen Rückhaltes wie auch der bürgerlichen Parteienlandschaft ein wesentliches Hindernis für die erwünschte Festigung des Liberalismus in den Parlamenten. Aus den fluktuie renden Mittelschichten ließ sich unter industriestaatlichen Bedingungen keine Bewegung mehr mobilisieren; außerdem fehlten langfristige, regionale „Hoch burgen“, auf die sowohl die Arbeiterbewegung als auch das christlich-konserva tive Lager zurückfallen konnten und die ihre Stärke aus einer abgrenzbaren, in einem Sozialmilieu verhafteten Wählerschicht gewannen. Für viele Liberalis 187 Ders.: Vom Konservatismus, in: Christliche Freiheit 29 (1913), 355–358, Zitat 358. Bonus schloss sich hier einer Formulierung Naumanns an, der im National-Sozialen Kate chismus (Berlin-Schöneberg 1897) über die liberalen und reformwilligen Vertreter des Bil dungsbürgertums meinte: „Sie sind politisch heimatlos, weil sie an die staatstragende Kraft der alten Parteien nicht mehr glauben und zu der sozialistischen Bewegung noch kein Zutrau en haben.“ 188 Ebd. 189 H einrich Driesmans: Vom neuen deutschen Liberalismus, in: Deutsche Kultur 1 (1906), 131–137; dieser Artikel ist eine ablehnende Stellungnahme zu Theodor Barths freisinniger Programmschrift: Was ist Liberalismus?, Berlin-Schöneberg 1905 sowie zu dem eine Verei nigung der liberalen Parteien fordernden Heft von M ax Heinrich K rause: Neuliberale Zu kunft, Stuttgart 1905.
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muskritiker war etwa die Situationsbeschreibung Friedrich Naumanns charak teristisch, der mit Blick auf die Überführung des Parteiliberalismus in eine kul turprägende Gestaltungsmacht beklagte, dass auf seinem bisherigen Kurs das „liberale Schiff“ durch weltpolitische Behäbigkeit und das Abweisen der Arbei terbewegung am „nationalen und am sozialen Felsen“ zu zerschellen drohte.190 Naumanns Bemühungen um einen „Gesamtliberalismus“ waren ein Versuch, den Liberalismus in eine wirksame, auf einem Grundkonsens beruhende und dadurch mit gesellschaftlicher Ausstrahlung versehene Bewegung umzufor men.191 In einem breiten „Kulturliberalismus“ als Fortschrittsbewegung sollte für den Liberalismus verlorener Grund wiedergewonnen werden.192 Bonus’ Überlegungen, mittels der religiösen Konflikten um Jatho zu einer Politisierung des Bildungsbürgertums zu gelangen, hatten hier ihren Ursprung. Dass er mit seinen Ansichten die Grenzen eines parteipolitisch gefassten Libe ralismus sprengte, war ihm deutlich. Die Frankfurter Zeitung verwies ihn auf die fehlende Verbindung zwischen der freischwebenden Bildungsreligiosität in Teilen des protestantischen Bürgertums und dem Parteiliberalismus, der zudem einen überkonfessionellen Charakter hatte.193 Beides war nicht auf die Formung einer starken Bewegung angelegt. Skepsis wurde auch seitens des freien Protes tantismus geäußert. In der Christlichen Freiheit beklagte ein Pfarrer die bleiben de „Gleichgültigkeit“, die dem Liberalismus entgegenwehte. Als Erscheinung des Bildungsbürgertums würde der Liberalismus auf sich selbst bezogen bleiben und weiterhin „eine Geheimreligion der Gebildeten“ darstellen. Damit ließ er sich kaum in eine wirkungsvolle Kulturbewegung überführen. „Als Erscheinung hoher Kultur“, fuhr der Pfarrer fort, habe der Liberalismus „auch nicht die Auf gabe, die rohen Massen zu durchdringen“.194 Dennoch sah er in der Jatho-Bewe gung erste Zeichen für einen liberalen Aktionismus in Kirche und Politik auf keimen. Mit Verweis auf Bonus fragte er: „Sollte der neue Mythos, ohne den keine neue Gestaltung kommt, schon aufkeimend die Decke heben?“195 190 Friedrich Naumann: Warum haben wir keinen kräftigen Liberalismus?, in: Die Hilfe 4 (Nr. 13 v. 27.3.1898), 1; ders.: in: Werke, Bd. 4, 218. Vgl. Düding: Der nationalsoziale Ver ein, 151–157. 191 Vgl. dazu Naumanns Thesenreihe: Das Auferstehen der Liberalen Idee, in: Die Hilfe 12 (Nr. 36 v. 9. September 1906), 2–3; ders.: Die Organisation des Liberalismus, in: ebd. (Nr. 37 v. 16. September 1906), 2–3; ders.: Die Aussichten der liberalen Einigung, in: ebd. (Nr. 41 v. 14. Oktober), 2–3 (hier zum Vorbild der süddeutschen Liberalen). 192 Wilhelm Ohr: Der neue Weg, München 1910, 7 f.; vgl. Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, 226; Frank Simon-R itz: Die Organisation einer Weltanschauung, 180 f. 193 Frankfurter Zeitung 57, Nr. 283, Abendausgabe (12. Oktober 1912), Leitartikel. 194 [Anonym]: Briefe eines älteren Pfarrers an den Herausgeber der Christlichen Freiheit, in: Christliche Freiheit 30 (1914), 379–380.396–398.413–415, 397. 195 Ebd.
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Bonus blickte 1913 noch einmal, vom Liberalismus enttäuscht, auf seine reli giös-sozialen Anfänge zurück, in denen er an der Seite Naumanns nach einer Verbindung von Liberalismus und Sozialismus, von Religion und Nation gesucht hatte. Die Aussichten auf eine „Politisierung der Gebildeten“ schätzte er nun als gering ein. Für Bonus war es ein unaufgelöstes Problem, wie „geistige Herr schaft“ in einem Zeitalter des Interessenpluralismus verwirklicht werden konn te.196 Ohne konkrete, materielle Interessen hielt er eine „reine Gesinnungsgenos senschaft“ für eine Illusion; ein Zusammenschluss der Gebildeten würde höchs tens den „Streit, Neid, Ehrgeiz“ der Anführer offen zu tage legen.197 Nur in der Bindung an konkrete Interessen waren nach Bonus’ Credo die „Königlichen“, die intellektuell „Führenden“, in der Lage, die zentrifugalen Kräfte der „Masse“ zu sammeln und in Bewegung zu setzen. Es mussten „harte Zwecke“ sein, schrieb er 1913, die das Wachstum einer Gesinnungsgemeinschaft beförderten und ihre ideellen Ziele unterstützten; eine Dynamik, die gegenwärtig allein in der Sozialdemokratie wirksam war. Für das bürgerliche Spektrum sah Bonus keine damit vergleichbare Weltanschauung in Griffweite, die soziale Gestaltung und Sinngebung gleichermaßen umfasste. Dem modernen Kulturgefühl blieb im Spiel diffuser Gemeinschaftskräfte die Frage nach „transzendenter Führung“ als unbeantwortete Leerstelle offen. Das Entstehen einer neuen Religion ersehnte Bonus unbestimmt zukunftsgerichtet in einer reinen Gesinnung, die religiös- sozial, hierarchiefrei, „wuchtig“ sein musste und im Spiegel der Reich-GottesIdee Transzendenz und diesseitige Verwirklichung durchdrang. Innerhalb des Protestantismus war eine solche Weltsicht kaum zu erwarten. Freilich konnte sich auch der Liberalismus nicht als Speerspitze einer neuen, nationalreligiösen Entwicklung erweisen.198 Tatsächlich gab Bonus bei den Reichstagswahlen im Januar 1912 seine Stimme für die Sozialdemokratie ab. Die soziale Frage oder die Anliegen der Arbeiterbewegung hatten bei dieser Entscheidung keine zentrale Rolle gespielt. Wie er im Kunstwart anonym aus führte, ordnete er sich zu einer nicht unbeträchtlichen Gruppe von Gebildeten zu, „deren höchstes politisches Gesetz Kulturpolitik“ sei.199 Vor diesem Hinter 196
Bonus: Ueber die Idee reiner Gesinnungsgenossenschaften, in: Allgemeiner Beobach ter 2 (1912/1913), 328–331. 197 Wie weit in diese Überlegungen Gedanken von Max Weber einflossen, muss bis auf weiteres offen bleiben; hier bezog er sich in einer Besprechung auf eine kleine, deutsch sprachig erschienene Broschüre des niederländischen Lebensreformers und Schriftstellers Frederik van Eeden: Welt-Eroberung durch Helden-Liebe, Berlin 1911. Eine Auseinanderset zung mit Webers Aufsätzen zur Religionssoziologie fand 1922 im Rahmen einer Rezension statt: Bonus: Glossen zu allerhand Büchern, in: CW 36 (1922), 650–657. 198 Ebd. 199 Ders.: Warum sie für den Sozialdemokraten stimmten, in: Kunstwart 25/2 (1912), 263–265, 264. Bonus ordnete sein kulturpolitisches Interesse stellvertretend für die von ihm
VI. Völkisch, Alldeutsch, Pangermanisch?
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grund empfand er als es politische und kulturelle Gefahr, wenn „ein Drittel des deutschen Volkes mehr oder minder verblümt als unpatriotisch, gottlos oder sonst minderwertig“ gebrandmarkt würde. Die „Ächtungsparole“ gegenüber der Sozialdemokratie, die er vor allem in Kirche, Militär und Beamtenschaft gepflegt sah, stünde einem „ruhigen politischen Nachdenken“ im Wege und er weitere unnötig die „Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Nichtbemittel ten“.200 Darin äußere sich ein fehlgeleiteter Patriotismus, der Reformen verhin dere und jeden gesellschaftlichen Veränderungswillen „zur Vertuschung ge machter Fehler“ als reichsfeindlich abstemple. Ein knappes Jahrzehnt nach Auflösung des Nationalsozialen Vereins war Bonus hier an einem Punkt angekommen, von dem ausgehend er sich in den 1890er Jahren zur christlich-sozialen Bewegung und dann zu Naumann bekannt hatte: der Suche nach einer Synthese aus Christentum, Sozialismus und Natio nalismus. Auch ohne diesen Titel blieb die „Germanisierung des Christentums“ sein Programm, um Religion, Sozialreform und einen emanzipatorisch-kultu rellen Nationalismus in einer schlagkräftigen Bewegung zu verbinden und dar in die Einheit des Deutschtums über Schichten hinweg zu begründen.
VI. Völkisch, Alldeutsch, Pangermanisch? Bonusʼ Selbsteinordnung im radikalnationalistischen Lager Im Januar 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, hatte Bonus ein Buch des Herausgebers der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück, zur Rezension er halten, das ihn nachhaltig beindruckte. Es handelte sich um eine politische Vor lesungsmitschrift über Regierung und Volkswille, die eigentlich darauf zielte, die deutschen, konstitutionellen Verfassungsrealitäten zu erläutern. Nach Del brück würden „zwei Potenzen bei uns im Lande regieren: die organisierte poli tische Intelligenz im Beamtentum und die Masse, die im Reichstag ihre ver schiedenen Instinkte kundtut“.201 Bonus’ Rezension konzentrierte sich auf ei in den Blick genommenen Gebildeten als liberal ein; die mit der Stimmabgabe für die Sozi aldemokratie verfolgten Interessen waren „in erster Linie liberal, in zweiter sozialdemokra tisch“ (ebd.). Die Zuschreibung des anonymen, von Avenarius eingeleiteten Artikels an Bonus ergibt sich aus den korrigierten Druckfahnen [LKA Eisenach, NL Bonus, 29_110, dort andere Sei tenzählung]. Wie Avenarius in seiner redaktionellen Notiz ausführte, sollte die anonyme Veröffentlichung einen Schutz für Bonus gegen soziale Anfeindungen darstellen; zugleich hielt er es für bedeutend, wie jemand, der „im deutschen Geistesleben zu den Bekanntesten und Meistgeachteten“ gehöre, sich politisch einordne. 200 Ebd., 264 f. 201 H ans Delbrück: Regierung und Volkswille, Berlin 1914, 156. Zum Problemhorizont
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
nen Schwerpunkt des Buches, nämlich auf die Frage nach einer wirksamen Einbindung des „Volkswillens“ in die Politik. Darin entdeckte er im Fahrwasser Delbrücks ein Organ, das zur machtvollen Ausgestaltung des Deutschen Rei ches befähigt werden musste, politische Entscheidungen zu treffen, und dazu Bildung und entsprechende Institutionen zur Mitbestimmung benötigte. Für Bonus brachte Delbrücks Buch ein notwendiges Streben nach Demokratisie rung zum Ausdruck. Bonus verband damit die Grundsatzfrage, was überhaupt das „Volk“ war, das zur Trägerschicht von Delbrücks Politikansatz erklärt wurde, und was dies für das Verständnis des Patriotismus – von ihm als „Volksliebe“ übersetzt – bedeute: Was ist hier überhaupt Volk? Ist es die Gesamtheit aller Deutschen? Und die sollte ich lieben? den Automobilpöbel, den ich hier aus meinem Vaterland herüberrasseln sehe? […] oder das nicht bessere, das unter Patriotismus die Verleumdung des Fremden versteht, unter deutsch ein flegelhaftes Ausstoßen gegen die fremden Nationalitäten im gemeinsamen Vaterland – ich muß mir […] gestehen, daß es ein verflucht geringer Teil des deutschen Volkes ist, vom dem ich mir auch nur vorstellen kann, daß ich es liebe könnte […].202
Für Bonus bezog sich der Volksbegriff nicht auf die existierende Nation, son dern stellte eine visionäre, durch kulturelle Arbeit erst noch zu schaffende Größe dar. Wenn er von Nationalismus sprach, dann richtete dieser sich auf das Volk, „dessen Zukunft wir in unserm Willen haben“.203 Diese Ausführungen sollen zum Anlass genommen werden, zusammenfassend nach Bonusʼ Selbst einordnung im Feld des radikalen Nationalismus zu fragen. Der Begriff „völkisch“ lässt sich in Bonusʼ Werk mehrfach finden. Er begeg net zunächst als klangvollere Modernisierung – so Bonus – des alten Wortes „deutsch“.204 Spätestens während des Ersten Weltkriegs war ihm der Begriff als emphatische Bezeichnung für die organizistisch verstandene Einheit der Nation als einer Sprach-, Abstammungs- und Kulturgemeinschaft geläufig. So konnte Bonus über ein verbindendes „völkisches Leben” und geteilte „völkische Schick sale” schreiben.205 In diesem Horizont, der vom Volk als einer überstaatlichen und überzeitlichen Größe ausging, konnte er nach dem Krieg auch den Begriff der „Volksgemeinschaft“ verwenden.206 Der Begriff „völkisch“ diente zudem der Abgrenzung eines politischen Lagers, etwa wenn Bonus vom „völkischen vgl.: Rüdiger vom Bruch: Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: ders. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 1, Stuttgart 1989, 63–102, 94 f. 202 Bonus: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik. Aus Anlaß von Hans Delbrücks ‚Regie rung und Volkswille‘, in: CW 28 (1914), 791–796.808–813, 795. 203 Ebd. 204 Ders. [Hinkepott]: Von unseren Nationalisten, in: Die Tat 17/2 (1925/26), 612–616. 205 Ders.: In Sachen Österreichs, in: Kunstwart 31/4 (1918), 167–171. 206 Ders.: Immer wieder: West oder Ost!, in: Kunstwart 33/3 (1920), 319–320.
VI. Völkisch, Alldeutsch, Pangermanisch?
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[…] Flügel“ der freideutschen Jugend sprach und diesen von den sozialistischen und demokratischen Strömungen in der Jugendbewegung unterschied.207 Hier diente er der Bezeichnung des radikalen Nationalismus der konservativen Revo lution in der Nachkriegszeit und bedurfte in Bonusʼ Ausführungen keiner Er läuterung mehr. Anders verhielt es sich in der Zeit vor dem Krieg. Distanziert und ironisch berichtete Bonus etwa 1908 im März von den Rassentheorien der völkischen Bewegung. Bonus spottete über einen angeblichen „Verein zur Zeugung von Germanen“ als ein völkisches Projekt, das aus dem gegenwärtigen Kulturpessi mismus erwachsen sei.208 1910 ließ er sich in der gleichen Zeitschrift über einen Nationalismus aus, dessen eingeschränkte ideologische Fassung er als „völ kisch“ bezeichnete.209 Diese hielt er dem eigenen kulturnationalistischen Ver ständnis entgegen. Eine weitere Abgrenzung betraf den Begriff „alldeutsch“. Dieses Schlagwort war mit einer konkreten Vereinigung verbunden, nämlich dem Alldeutschen Verband als führender Organisation des integralistischen Nationalismus im Deutschen Reich. In der dem völkischen Lager zuzuordenden Zeitschrift Allgemeiner Beobachter führte Bonus aus, dass ein alldeutscher Nationalismus mit dem Ideal einer deutschen, imperialistischen Vorherrschaft nicht mit seinen kul turellen und demokratisierenden Zielen zu verbinden sei.210 Bonus fand für seine Zielsetzungen den Begriff „pangermanisch“. Ausdrück lich wollte er sein darin zum Ausdruck gebrachtes Kulturbewusstsein von dem Begriff „alldeutsch“ unterschieden wissen.211 Damit enthob er den Begriff sei nem ideologischen Bedeutungsrahmen, unter dem federführend der Alldeut sche Verband ein reichsdeutsches Führungsprogramm für die deutschsprachi gen Teile Europas anstrebte.212 Bonus versprach sich von einem „Pangermanis mus“ eine kulturelle Neuerweckung, obwohl auch er darin weitreichende politische Ordnungsvorstellungen einfließen ließ. 1910 hatte er diesen Begriff zum ersten Mal gebraucht, zunächst, um auf die gemeinsamen germanischen Quellen der nordischen Literatur hinzuweisen, aber auch als politischen und 207
Ders.: Sein und Sollen, in: Kunstwart 33/3 (1920), 309. Ders. [Franz]: Verein zur Zeugung von Germanen, in: März 2/1 (21.1.1908), 189–191. 209 Ders.: Die ‚völkische‘ und die pangermanische Idee, in: März 4/3 (16.9.1910), 484–485. 210 Ders.: Kolonialpolitik und Sozialismus, in: Allgemeiner Beobachter. Halbmonats schrift für alle Fragen des modernen Lebens 2 (1913), 43–44 211 Ders.: Literaturbriefe, in: CW 24 (1910), 37–41, 38. 212 Vgl. zum Begriff „Pangermanismus“ z. B. R ainer H ering: Art. Pangermanismus, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Berlin 2010, 262–264; Heinz Gollwitzer: Zum politischen Germanismus, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Göttin gen 1971, Bd. 1, 337–341; K laus von See: Deutsche Germanen-Ideologie, 79–82. 208
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
kulturellen Raumbegriff.213 Ausdrücklich rückte er seine Begriffsprägung von völkischen Weltmodellen ab. Ihm ging es weniger um einen äußeren Herr schaftsanspruch des Deutschen, sondern um eine kulturelle Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent mit dem Ziel des zwischenstaatlichen Ausgleichs. Eine politische Bündnisordnung der „germanischen“ Nationen Europas, Skan dinaviens und der angelsächsischen Welt, die allesamt als Fortschrittsträger zu gelten hatten, könnte ein grundlegender Baustein einer globalen Friedensord nung unter deutscher Führung werden. Neben die harten ökonomischen Interes sen, die angesichts der weltpolitischen Konkurrenz um imperiale Machtberei che ineinander verkeilt waren, würden innere, kulturelle Gemeinsamkeiten als Leitprinzipien rücken. Angesichts der politischen Realitäten vor 1914 war das bestenfalls ein gutgemeinter, utopischer Vorschlag. Mit der ambivalenten Suche nach einem patriotischen Alternativprogramm stand er aber nicht alleine da. Bonus vollzog eine Neujustierung seiner kulturnationalistischen Ansichten, die sich auch im Verlagskonzept von Eugen Diederichs wiederfinden ließ. Die derichs hatte 1912 im Werbetext für die neuerworbene Zeitschrift Die Tat laut stark erklärt: „Eine pangermanische Kultur steht Europa bevor“.214 Ausführlich stellte er im Folgejahr in seiner kulturellen Bestandsaufnahme „Wo stehen wir?“ heraus, dass eine Selbstbeschränkung auf das Eigene nicht genügen wür de.215 Eine Abschottung gegenüber ausländischen Einflüssen führe beim Indivi duum wie im Volksleben zur einseitigen Verengung. Diederichs beabsichtigte daher, durch sein Verlagsprogramm den „Deutschen die Augen offen zu halten für die ergänzenden Eigenschaften anderer Völker und dadurch uns klar zu ma chen, daß wir uns vom Chauvinismus freizuhalten haben“.216 Von Engländern, fuhr Diederichs fort, könnten die Deutschen politisches Selbstverständnis erler nen, von den Franzosen ein verfeinertes Lebensgefühl, von den slawischen Völ kern eine Vertiefung des religiös geprägten Individualismus und schließlich von den Asiaten eine erweiterte Geistigkeit. Der kulturellen Einbindung in die Welt völker stand allerdings ein tief verankertes Sendungsbewusstsein gegenüber, das mit dem Ruf „Fichte und Lagarde!“ zum Ausdruck gebracht wurde.217 Bonus gab diesem Gedanken allerdings noch eine politische Wendung, in dem er aus dem pangermanischen Führungsanspruch des deutschen Kultur volkes ein Modell für den friedlichen Kräfteausgleich zwischen den euro 213 Bonus: Literaturbriefe, in: CW 24 (1910), 37–41; ders.: Die ‚völkische‘ und die panger manische Idee, in: März 4/3 (16.9.1910), 484–485. 214 Neuerscheinungen des Verlages Eugen Diederichs im Jahre 1912, 9. 215 Eugen Diederichs: Wo stehen wir?, in: Tat 3 (1913), 1–5, 1. 216 Ebd., 3. 217 Werbeanzeige in: Die Tat 3 (1913), vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 375 ff.; Meike Werner: Moderne in der Provinz, 185 f.
VI. Völkisch, Alldeutsch, Pangermanisch?
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päischen Mächten schuf. Er ging dabei von einer kulturellen und geistigen Verwandtschaft der europäischen, „germanischen“ Völker einschließlich Nord amerikas aus. Da eine diplomatische oder „polizeiliche“ Instanz zur Befriedung des Völkerverkehrs nicht existierte, empfahl er die Einrichtung eines zwischen germanischen Kulturbunds als einer „hemmenden Macht über den Völkern“.218 Ihm schwebte ein auf Sprach- und Kulturbasis errichteter Staatenbund aus den deutschsprachigen Nationen Europas, den skandinavischen Staaten, Belgien und den Niederlanden sowie den „Angelsachsen diesseits und jenseits des Mee res“ vor. Durch „ein solches innergermanisches Einvernehmen“ in einem „auf germanischer Blutgrundlage geeinigten Europa“ ließ sich nach Bonusʼ Ansicht ein möglicher Kriegsausbruch verhindern. Er zielte auf einen Internationalis mus hin, „der eine Verständigung der Völker will, damit sich die Volkseigen arten in Frieden und gegenseitiger Befruchtung entwickeln können“, und den er für von Grund auf kulturfreundlich hielt.219 Hier bewegte Bonus sich ganz auf der Linie einer als Weltpolitik verstande nen Kulturpolitik, mit der in bildungsbürgerlichen Kreisen ein nationalistisches, aber nicht kriegstreibendes Gegengewicht zum alldeutschen Chauvinismus ge sucht wurde. Die ethische Bezähmung des Imperialismus war das Ziel, zugleich eine Stärkung der parlamentarisch-demokratischen Verfassungseinrichtungen, ohne dabei das Bewusstsein der Führungsrolle deutscher Kultur abzulegen. Einflussreich war die seit 1912 breit diskutierte Programmschrift von Paul Rohrbach Der deutsche Gedanke in der Welt, der zur nichtmilitärischen Ab sicherung der deutschen Weltpolitik die „kulturelle Durchdringung aller er strebten Einflußgebiete im idealen Sinne des deutschen Gedankens“ vorge schlagen hatte.220 Bonus setzte dem eine neue, von Deutschland ausstrahlende „Mitte“ Europas an die Seite, das durch die fortschrittliche Kultur und Geistig keit des germanischen Wurzelvolks der Deutschen zusammenfinden würde. Um dieser nationalkulturellen Herrschaftsphantasie den Weg zur Realisie rung zu eröffnen, war in Bonus’ Augen das imperialistische Säbelrasseln abzu legen. In seinen Worten: unser sogenannter ‚Patriotismus‘ hat uns halb lächerlich, halb verhaßt in Europa gemacht. […] Er ist Nachahmung, und das pflegt schnell fühlbar zu werden. […] Er wird das werden, als was er zur Zeit in Europa gilt […] – ein Großmaul.221
218 Bonus: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik. Aus Anlaß von Hans Delbrücks ‚Regie rung und Volkswille‘, in: CW 28 (1914), 791–796.808–813, 793. 219 Ebd., 812. 220 Paul Rohrbach: Der deutsche Gedanke in der Welt, Königstein 1912, 184 f. 221 Bonus: Ein deutsches Kulturprogramm, in: Kunstwart 27/2 (1913/14), 169–181, 171.
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Fünftes Kapitel: Religion, Nation und Liberalismus
Es war zusammenfassend also die Heraufführung eines eigenständigen deut schen Nationalbewusstseins und einer autochthonen Kultur, mit denen Bonus die von ihm erhoffte Liebe des Auslandes auf Deutschland vereinigen wollte. Nicht durch ein imperialistisches Verständnis von Weltpolitik, sondern durch eine Kulturpolitik sollte die pangermanische Vision eines freien, europäischen Völkerbündnisses unter deutscher Führung erreicht werden. Als Nationalist und als religiöser Rebell suchte er nach einer Art Fundamen talpolitik, die er aus dem Liberalismus heraus zu erwecken gedachte. Diesen wollte er als eine fortschrittsorientierte Bewegung gegen den Konservatismus beleben. Mit Anklang an den Liberalismus der Reichsgründungsära, der protes tantische, freiheitliche und nationale Ideale miteinander verband, hoffte er auf einen neuerlichen bürgerlichen Aufbruch als Nationalbewegung.
Sechstes Kapitel
„Im Kampf der Moralen“. Der Erste Weltkrieg als Kulturkrieg I. Kriegsbegeisterung und Reformwillen: Die Anfänge des Weltkrieges 1. Das „Augusterlebnis“. Reaktionen zu Beginn des Weltkrieges Als in den ersten Augusttagen die Zeitungsschlagzeilen den Ausbruch eines europäischen Krieges verkündeten, löste das in der deutschen Öffentlichkeit eine tiefe Erregung aus. In neueren Untersuchungen wird die Reichweite der anfänglichen Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 deutlich relativiert und ein je nach Region, Schicht- oder Parteienzugehörigkeit differenziertes Spektrum unterschiedlicher Reaktionen nachgezeichnet, die zwischen Begeisterung, Angst oder Fatalismus schwankten. Hurrarufe und aufgewühlte Straßenszenen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die patriotische Begeisterung nicht von allen Bürgern in Deutschland geteilt wurde.1 Auch hat die neuere Forschung herausgearbeitet, dass die meisten Deutschen nach den politischen Spannungen der Sommermonate 1914 eher überrascht waren, als der Krieg tatsächlich aus brach.2 Kaiser Wilhelm II. galt in der Öffentlichkeit als „Friedenskaiser“, der 24 Jahre lang unter den europäischen Mächten für Ausgleich gesorgt hatte.3 Die ersten Augusttage waren vor allem für das gebildete Bürgertum eine Zeit des emotionalen Überschwangs und der pathetischen Reden. Was in Erinnerung blieb, war das Erlebnis der Solidarität und der Einheit im „Volk“, das die innen 1
Vgl. den Überblick bei Sven O. Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung, Göttin gen 2003, 56–70 sowie: Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volks gemeinschaft, Hamburg 2000; Wolfgang K ruse: Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: ders. (Hg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frank furt 1997, 159–166; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora, München 2014, als Regional studie: Roger Chickering: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer All tag 1914–1918, Paderborn 2009. 2 Vgl. z. B. M ichael S. Neiberg: Dance of the Furies. Europe and the Outbreak of World War I, Cambridge 2011. 3 Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, Mün chen 2009.
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Sechstes Kapitel: Der Erste Weltkrieg als Kulturkrieg
politischen Gegensätze und den Parteienkampf im gemeinsamen Kriegseinsatz scheinbar überwunden hatte. Der Kriegsbeginn stellte den Beginn einer Deu tungsoffensive dar, in der Gelehrte, Künstler, Professoren und Pfarrer versuch ten, der offiziellen Propaganda ihre philosophischen, religiösen oder geschichts politischen Positionen an die Seite zu stellen, um den Kriegseinsatz nach innen wie nach außen zu erklären. Auch Arthur Bonus nahm als regelmäßiger Kommentator in den bildungs bürgerlichen Zeitschriften an der Kriegsdeutung teil, was ihm bis zum Kriegs ende den Ruf einbrachte, als „verdienter Kulturpolitiker“ gewirkt und dabei charakteristische Positionen des Bildungsbürgertums vertreten zu haben.4 Zwi schen 1914 und 1918 entwickelte er sich zu einem rührigen Berichterstatter über die laufenden Ereignisse, der das Kriegsgeschehen als einen Kulturkampf zwi schen den europäischen Mächten zu durchdringen suchte und diesen in ein spe kulatives Gesamtbild vom Lauf der Weltgeschichte einordnete. Vom Sommer 1914 bis zum Jahresende 1918 veröffentlichte er über 220 Einzelartikel, die überwiegende Mehrheit davon im Kunstwart, an dem er ab 1917 auch als Redak tionsmitglied mitarbeitete.5 Zudem kommentierte er die innen- wie außen politischen Auswirkungen des Kriegsverlaufs im März und in der Berliner Zei tung Der Tag.6 Ferner blieb er seinen kulturprotestantischen Ursprüngen in der Christlichen Welt, der Hilfe und anfänglich auch der Christlichen Freiheit und damit weiterhin dem liberalprotestantischen, bildungsbürgerlichen Meinungs spektrum verhaftet, was sich in der kulturellen und innenpolitischen Deutung der Kriegszeit widerspiegelte. Ausdrücklich verstand er seine Veröffentlichun gen als Beitrag zu dem im Bildungsbürgertum im Sommer 1914 einsetzenden „Sinnsuchen“.7 Stimmte Bonus zu Kriegsanfang nach anfänglichem Zögern in die nationalis tische Euphorie ein, trat ab 1917 zunehmend der Reformbedarf des wilhelmini schen Staates in den Vordergrund, während sich auf religiöser Ebene seine Wahrnehmung eines Bruchs gegenüber der Vorkriegstheologie und der Ruf nach einer neuen Frömmigkeit verstärkte. Seine politisch-kulturellen Diagno sen bestimmten die bildungsbürgerliche Kriegswahrnehmung aufgrund seiner einflussreichen Positionierung im Kunstwart mit, sodass seinen Veröffentli chungen Erklärungskraft beizumessen ist, wenn man nach den Dispositionen und der Veränderung der nationalen Einstellungen im gebildeten protestanti 4
Hermann Ullmann/A rthur Bonus: In Sachen Österreichs, in: Kunstwart 31/4 (1918), 167–171, 167. 5 Zum „Kunstwartgeist“ während des Krieges vgl. K ratzsch: Kunstwart, 364–426. 6 Zum Tag als intellektuellem Diskussionsforum des Berliner Zeitungsverlegers Scherl vgl. Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, 41. 7 Bonus: Religion als Wille, Jena 1915, im Vorwort.
I. Kriegsbegeisterung und Reformwillen: Die Anfänge des Weltkrieges
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schen Bürgertum während der „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ fragt. In Bonus’ publizistischem Umfeld löste die Umstellung vom Friedens- auf den Kriegsbetrieb, auf den die meisten Schriftsteller und Zeitschriftenredaktio nen kaum vorbereitet waren, teilweise hektische Aktivitäten aus. Der Kriegs ausbruch markiere eine „neue Zeit“, hieß es im Kunstwart, in der die Kluft zwischen Kultur und Politik wie zwischen Bürgertum und Regierungsapparat überwunden wäre.8 Der Kunstwart firmierte ab Oktober 1915 unter dem Titel Deutscher Wille, nachdem die Kriegsthematik und ihre kulturellen und sozialen Auswirkungen seit Sommer 1914 zum hauptsächlichen Diskussionsthema ge worden waren.9 Weniger die Frontverläufe und militärischen Erfolge als die in nenpolitischen Dimensionen der Auseinandersetzung standen dabei im Vorder grund. Ähnlich optierte Eugen Diederichs, der eine „Feldpostbibliothek“ er scheinen ließ, in der die Grundzüge „deutscher Art und deutscher Kultur“ durchaus in Abgrenzung gegen die nationalistische Kriegshetze freigelegt wer den sollten.10 Wie er Bonus mitteilte, hatte nationalistisches Schrifttum Kon junktur, was ihm aber zu seicht und oberflächlich erschien, vielmehr sollte die von ihm verlegte Kriegsliteratur vorausdeuten, „was die Linie nach dem Krieg sein muss“, um „das Kommende vorzubereiten“.11 Diederichs erhoffte sich von ihm einen deutenden und aktualisierenden Beitrag „über das Volkstum“, denn die Kriegsgegenwart verlange, „daß wir aus ihr heraus etwas zu sagen haben“.12 Dass daneben freilich auch die patriotische Stärkung der Soldaten vorgesehen war, verdeutlichten seine Editionspläne einer „Weihnachtsgabe“ für die Front, die er bereits in den ersten Augusttagen konzipierte. Seine Autoren sollten sich „im Fichte’schen, Lagarde’schen und Nietzsche’schen Geiste über trotzige Selbstbehauptung, heroisches Leben und tiefer gefaßte germanische Kultur aus sprechen“ und damit dem Krieg eine ins Innere reichende, seelisch-k ulturelle Begründung liefern.13 Auch Gottfried Traub erbat sich für die Christliche Freiheit von Bonus nun zeitgebundene Artikel zu den inneren Auswirkungen der Kriegssituation, mit denen er seine Zeitschrift zu einem „Organ des deutschen Idealismus und deutscher Kulturpolitik“ umbauen könne.14 8
Ferdinand Avenarius: Die neue Zeit, in: Kunstwart 28/1 (1914), 1–4. Kleine Neuerungen beim Kunstwart, in: Kunstwart 29/1 (1915), 37–38; Ferdinand Avenarius: Deutscher Wille, in: ebd., 1–5. 10 Vgl. zur Kriegspublizistik des Diederichs-Verlages detailliert H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 390–412, hier v. a. 396 sowie das Werbefaltblatt: Kriegsliteratur des Ver lags Eugen Diederichs in Jena. Feldpost-Bücherei, Jena 1915. 11 Brief Diederichs an Bonus, Jena 25.11.1914 [LKA Eisenach NL Bonus 06_006]. 12 Brief Diederichs an Bonus, Jena 14.12.1914 [ebd.]. 13 Brief Diederichs an Bonus, Jena 10.8.1914 [ebd.]. 14 Brief Traub an Bonus, Dortmund 11.8.1914 [ebd., 14_010]. Zahlreiche weitere Vor 9 Vgl.:
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Sechstes Kapitel: Der Erste Weltkrieg als Kulturkrieg
Ein deutlich differenziertes Meinungsspektrum versammelte sich in der Christlichen Welt. Obwohl auch hier eine patriotische Grundstimmung vor herrschte, hatte Martin Rade nach dem Abklingen der ersten Kriegseuphorie einen „Bankerott der Christenheit“ beklagt, die lange vor 1914 schon ihre Auf gabe „als eines völkerverbindenden Ganzen“ versäumt hatte.15 Rade konnte sich der verbreiteten Auffassung nicht anschließen, dass ein „reiner Verteidigungs krieg“ geführt wurde, der dem Deutschen Reich aufgezwungen worden wäre, vielmehr sprach er von einer diplomatischen Mitschuld Deutschlands am Aus bruch des Krieges.16 Die bildungsbürgerlichen Reaktionen auf den Kriegsausbruch waren von der Erwartung durchzogen, dass sich im Aufbruch vom August 1914 das Ende einer schon länger beobachteten Kulturkrise feststellen lasse, von der eine idealisti sche Neuformierung der deutschen Gesellschaft ausgehen sollte. Selbst kriti schere Beobachter der Mobilisierung wie Martin Rade sahen nun den „großen Umwerter“ gekommen, der mit der Dekadenz, dem Materialismus und der Kleinlichkeit der Jahre nach der Jahrhundertwende aufräumen würde.17 Natio nalistische Untertöne, die eine Klärung und Selbstbereinigung der deutschen Kultur im Krieg prophezeiten, waren verbreitet. „Werde, was du bist!“, empfahl etwa Ernst Troeltsch mit einer an Nietzsche gemahnenden Überschrift im Kunstwart und rief damit zu einer Selbstversenkung „in das Wesen des deut schen Geistes“ auf.18 Der Kriegsausbruch wurde als kulturelle Läuterung gefei ert, welche die „Heuchelei“ und Phrasenhaftigkeit der letzten Friedensjahre hinwegfegen würde.19 Dem Vorkriegszustand wurde das Erwachen eines neuen tragseinladungen und Publikationsanfragen folgten, die von der obskuren Münchener Kritischen Rundschau bis hin zur reformkonservativen Halbmonatsschrift Das Neue Deutschland des Herausgebers Adolf Grabowsky reichten [ebd., 21_002]. 15 M artin R ade: Der Bankerott der Christenheit, in: CW 28 (1914), 849–850, 850 (veröf fentlicht am 17. September 1914); vgl. dagegen die weniger kritischen Stellungnahmen ders.: Nach der Mobilmachung, in: ebd., 767–768; ders.: Vaterlandsliebe und Christentum, in: ebd., 787–788. 16 Ebd., 767. 17 So z. B. M artin R ade: Von der Lage unsrer Zeitung, in: CW 28 (1914), 785–787, 786. 18 Ernst Troeltsch: Werde, was du bist!, in: Kunstwart 29/1 (1915), 38–39. 19 Vgl. zu dieser Deutung beispielhaft die Kriegstexte Martin Rades im Sommer 1914. Obwohl er sich in der ersten Ausgabe der Christlichen Welt nach der Mobilmachung am 6. August erstmals öffentlich als „Pazifist“ bezeichnete, sah er im Kampfgeschehen eine un ausweichliche Katastrophe, der der Einzelne mit Pflichterfüllung begegnen musste. Rade beschrieb prägnant den Gewissenskonflikt zwischen christlicher Ethik und patriotischen An spruch, dem er nur in der Hoffnung begegnen konnte, dass aus dem Krieg eine neue „Zu kunft“ erwachsen würde. Diese Einstellung findet sich in fast allen Äußerungen Rades seit Kriegsbeginn. Erhebliche Kritik handelte er sich durch die Einschätzung ein, dass der deut sche Nationalismus am Kriegsausbruch „mitschuldig“ sei, so in der aphoristischen Gedan
I. Kriegsbegeisterung und Reformwillen: Die Anfänge des Weltkrieges
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Idealismus, eine vertiefte Frömmigkeit und die Überwindung der sozialen und konfessionellen Gräben entgegengesetzt. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Spannungsherde des Kaiserreichs wurde der Krieg als Schritt zur Vollendung der „inneren Reichsgründung“ präsentiert, da er scheinbar die Einbindung der Sozialdemokraten und der nationalen Minderheiten gebracht hatte, die in Frie denszeiten nicht gelungen war. Daran knüpfte sich allerdings wenigstens im li beralen Bürgertum die Aussicht auf Beteiligung am Nationsprojekt an. „Wir sind ein politisches Volk geworden“, verkündete etwa Ferdinand Avenarius im Kunstwart, das nun gezeigt habe, dass es in der Lage war, „die Rechte und die Pflichten“ einer mündigen Bevölkerung zu tragen.20 Gegenüber Bonus erklärte er, dass mit dem Krieg das schon lange erwartete politisch-kulturelle „Vor wärtskommen“ möglich geworden sei.21 Arthur Bonus empfand die patriotische Euphorie der ersten Augusttage mit, die allerdings ambivalente Erfahrungen nicht ausschloss.22 Angesichts des Einschwenkens der Sozialdemokratie und der öffentlichen Solidarität bedeutete der Kriegsbeginn etwas „Wunderbares und – falls uns der Sieg beschieden ist – märchenhaft Schönes“, schrieb er an Martin Rade.23 Zu gleich äußerte er gegenüber dem Historiker Hans Delbrück Zweifel, was wohl der geschichtliche Sinn des „Völkerschlachtens“ sein könne.24 Für Bonus bedeu tete der Krieg keine „Lust“, wie die patriotische Kriegslyrik glauben machte, sondern für den Einzelnen ein „Schicksal“, dem man sich zu beugen hatte, und für die Bevölkerung insgesamt eine „Notwendigkeit“, der man mit „Manns zucht“ begegnen musste.25 Die „furchtbare Katastrophe“ des Krieges stellte die deutsche Bevölkerung vor die Alternative „Pflichterfüllung oder Feigheit“.26 kensammlung: R ade: Nach der Mobilmachung, in: CW 28 (1914), 767–768; vgl. ders.: Gottes Wille im Krieg, in: CW 28 (1914), 769–770; ders.: Deutsche Nation, in: CW 28 (1914), 817– 818. 20 Ebd., 3; vgl. K ratzsch: Kunstwart, 365 f. 21 Brief Avenarius an Bonus, 19.9.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 11_005]. 22 Im Rückblick bestritt Bonus, dass der Kriegsausbruch in seinem Umfeld begrüsst wor den wäre: „In den Kreisen, in denen ich mich bewegte, betrachtete man den Krieg als Wahn sinn, dem man mit Trauer und Sorgen entgegensah. Man suchte ihm nachträglich einen Sinn abzugewinnen, da er nun einmal ausgebrochen war.“ Die Kriegsbegeisterung sei das Ergeb nis eines „Suggerierkrieges“ von Rechts gewesen (Bonus: Konservatismus und Sozialismus. Zwei konservative Stimmen, in: Kunstwart 33/3 (1920), 357–365.398–402, 398). 23 Briefkonzept Bonus an Rade, Taufkirchen 15.8.1914 [ebd., 03_005]. 24 Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 9.8.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (96)]. 25 Bonus: Heimkehr ins Vaterland – Krieg. Erfahrungen und Erwägungen, in: Die christ liche Freiheit 30 (1914), 592–594; vgl. auch ders.: Religion als Wille, Jena 1915, im Vorwort; ders.: Die Moral und die politische Notwendigkeit, in: Das neue Deutschland 3 (1915), 122– 126. 26 Ders.: Wer hat Schuld?, in: CW 29 (1915), 457–461.483–485.514–519.
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Wie für die Mehrheit der bildungsbürgerlichen Publizisten zu Kriegsbeginn stand es für Bonus außer Frage, dass Deutschland unverschuldet in einen Ver teidigungskrieg gezwungen worden war.27 Wie er kurz nach der Kriegserklä rung an Hans Delbrück schrieb, musste sich Deutschland gegen einen Ring von feindlichen „Hyänenstaaten“ zur Wehr setzen.28 Bonus war erst im Frühsommer 1914 aus seiner italienischen Wahlheimat in das Deutsche Reich zurückgekehrt und zur „schweren Stunde“ nach Taufkirchen bei München gezogen.29 Das Aufschäumen nationalistischer Gefühle nach der Kriegserklärung, das bisweilen in Hysterie umschlug und schon vor Beginn der Kampfhandlungen zu heftigen Reaktionen und Anfeindungen in der Zivilbevöl kerung führte, nahm er mit Besorgnis wahr. In München entlud sich die Span nung in einer förmlichen Hetzjagd auf angebliche Spione, der auch Bonus zum Opfer fiel.30 An solchen Panikreaktionen zeigte sich für Bonus das „Unwürdige“ einer noch unfertigen Nation, die nun besonders der Führung durch eine aufklä rende Berichterstattung bedurfte, wie er an Hans Delbrück schrieb.31 27 Ders.: Soll und Haben unsrer Feindesliebe, in: Kunstwart 28/2 (1915), 55–57; Wer hat Schuld?, in: CW 29 (1915), 457–461.483–485.514–519. Zur verbreiteten Grundannahme, man befände sich in einem „Verteidigungskrieg“ vgl. neben der eingangs genannten Literatur: Rüdiger vom Bruch: Militarismus, ‚Realpolitik‘ und ‚Pazifismus‘. Außenpolitik und Aufrüs tung in der Sicht deutscher Hochschullehrer (Historiker) im späten Kaiserreich, in: MGM 39 (1986), 37–58; ders.: Krieg und Frieden. Zur Frage der Militarisierung deutscher Hochschul lehrer und Universitäten im späten Kaiserreich, in: Jost Dülffer /K arl Holl (Hg.): Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1940, Göttingen 1986, 74–98. 28 Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 8.9.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (99)]. 29 PK Rade an Bonus, Marburg 7.8.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]. Den Brief wechseln mit Rade und Hans Delbrück zufolge hatte das finanzielle und familiäre Gründe: In Deutschland konnte er engeren Kontakt mit Verlegern und Zeitschriftenredaktionen pflegen. Außerdem konnte den Kindern eine deutsche Schulausbildung ermöglicht werden, vgl. Brief Bonus an Delbrück, San Domenico 5.2.1914 [StaBi Berlin, NL Hans Delbrück (91)] sowie den Briefwechsel mit Rade im Mai/Juni 1914. 30 Bonus: Heimkehr ins Vaterland – Krieg. Erfahrungen und Erwägungen, in: Christliche Freiheit 30 (1914), 592–594, vgl. seine persönlichen Berichte: Briefdurchschlag Bonus an Eugen Kalckschmidt, Taufkirchen 5.8.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003]; Brief Bonus an Hans Delbrück, Taufkirchen 9.8.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (96)]. Die Christliche Welt berichtete in der zweiten Kriegswoche besorgt über lokale Exzesse, die der Suche nach Spionen und feindlichen Ausländern galten (M artin R ade: Zum Kriege, in: CW 28 (1914), 781–782; vgl. ders.: Vaterlandsliebe und Christentum, in: ebd., 787–789); vgl. zur Spionage furcht, die bis zu Lynchmorden führte, Sven O. Müller: Die Nation als Waffe und Vorstel lung, 66–70. 31 Brief Bonus an Hans Delbrück, Taufkirchen 9.8.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (96)]; vgl. auch Bonus’ Brief an Eugen Kalckschmidt, Taufkirchen 5.8.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003], in dem er das Erlebnis schilderte und anschließend zu dem Schluss kam, es sei ihm „in Italien leichter“ gefallen, „mein Vaterland zu lieben, als jetzt unter den gehässigen Blicken“ der nationalisierten Mitbürger.
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Bonus’ Äußerungen aus dem Sommer und Herbst 1914 lassen erkennen, dass er den Kriegsausbruch als tiefgreifenden Umbruch deutete, an dem sich die bis herigen Linien seiner nationalreformerischen Publizistik verdichteten. Es lassen sich drei unterschiedliche Deutungsebenen nachzeichnen, in denen sich Bonus jeweils an das „Augusterlebnis“ 1914 anschloss. Erstens teilte Bonus die unter den Intellektuellen verbreitete Erwartung eines vom Krieg ermöglichten inneren Neubeginns der deutschen Nation. Nun musste in volkserzieherischem Sinne an der „Beseitigung der schweren Volksschäden“ des Egoismus und des Materia lismus gearbeitet werden, wie er gegenüber Gottfried Traub ausführte.32 Die Geschlossenheit im August 1914 löste die Hoffnung aus, dass der Krieg aus dem Deutschtum der Gegenwart ein „ideales […] Volk“ formen würde.33 Dem Kriegsausbruch 1914 wurde zweitens eine deutliche innenpolitische Di mension verliehen. Die nationale Integration der Sozialdemokratie in die beste hende politische Ordnung ließ sich als erster Erfolg in diese Richtung verstehen und verstärkte die Forderung nach innenpolitischen Reformen und Mitbestim mungsrechten für die Bevölkerung. In einer in der Christlichen Welt erschiene nen Rezension von Hans Delbrücks Vorlesung über Regierung und Volkswille verdeutlichte Bonus, dass die Zeit für grundlegende parlamentarische Zuge ständnisse gekommen war.34 Die deutsche Bevölkerung habe ihre Reife so hin reichend bewiesen, dass ein „Heranziehen zur praktischen Politik“ nicht mehr länger hinausgezögert werden dürfe.35 Nach dem bisherigen Verfassungssystem sei das Volk nur als „Objekt des Staatswillens“ in Erscheinung getreten und die Machtverteilung zwischen Reichstag und Regierung so unausgewogen, dass die Reichsleitung getrost auf den Reichstag „pfeifen“ könne. Durch politische Er ziehung musste ein „Verantwortlichkeitsgefühl“ der Bürger für das Staatswesen erzeugt werden.36 Bonus nahm zeitgleich mit dem Erscheinen dieser ausgespro 32
Briefkonzept Bonus an Traub, 31.8.1914 [ebd., 14_010]. Bonus: Heimkehr ins Vaterland – Krieg. Erfahrungen und Erwägungen, in: Christliche Freiheit 30 (1914), 592–594. 34 Ders.: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik. Aus Anlaß von Hans Delbrücks ‚Regie rung und Volkswille‘, in: CW 28 (1914), 791–796.808–813. Bonus hatte seine Besprechung schon zu Jahresanfang an Rade abgeschickt, aber unter den Bedingungen des „Gottesfrie dens“ zwischen den Parteien manche Passagen geglättet (Briefkonzept Bonus an Rade, Tauf kirchen 15.8.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]; Rade teilte die Annahme des Manu skripts per Postkarte vom 14.3.1914 mit [ebd.]). 35 Ebd., 809. 36 Ebd., 810–812. Zum Vorbild einer gelungenen Demokratisierung führte Bonus er staunlicherweise den Kriegsgegner Frankreich an, wo „Lederhändler, Börsenmakler, Advo katen, Zeitungsschreiber, Sozialisten Minister werden“; die französische Politik habe sich dabei „der unsrigen überlegen gezeigt“, während die deutsche „Bureaukratie-Regierungs weisheit“ sich etwa in der Behandlung der nationalen Minderheiten als orientierungslos er wiesen habe (ebd., 811). 33
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chen bemerkenswerten Ausführungen auf Hans Delbrücks politische Berichter stattung in den Preußischen Jahrbüchern bezug, der die Integration der Sozial demokratie in die Kriegsanstrengungen als Frucht und „Segen der Sozialre form“ betrachtet hatte.37 Delbrücks Ausführungen dienten ihm als Beleg für die Erwartung, dass auch im Krieg die vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten ausgebaut würden. Schon vor Kriegsbeginn hatte er Delbrück mitgeteilt, dass er die Privilegierung „einer bestimmten Gesellschaftsklasse“ im Beamtenapparat und im Militär für „garnicht demokratisch“ hielt;38 nun verdichteten sich seine Erwartungen an eine politische Öffnung. Drittens interpretierte er das Kriegsgeschehen als drastisches Symptom einer historischen Umbruchsphase. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, ließen seine Ausführungen im Kunstwart durchblicken, waren die gewalttätigen Be gleiterscheinungen des Heraufzugs einer germanischen Geschichtsepoche, in der Deutschland die ideelle Führung unter den europäischen Nation überneh men würde.39 Er versuchte den Ereignissen im Sommer 1914 als Kampf um höchste Kulturideale und als letztes Mittel der Friedenssicherung Sinn zu ver leihen, so in der Christlichen Welt: Aber dieser entsetzenvolle Krieg, der Einleitung und sozusagen dem Entwurf nach der größ te und schreckendrohendste der Weltgeschichte, wäre sinnlos, wenn er nicht der letzte wäre, das will sagen: wenn er nicht um ein Ideal ginge, dessen Erreichung neue Kriege ausschließt. Wenn nicht hinter ihm die europäische Völkerverbündung steht, wie hinter 1866 die deut scher Verbündung stand.40
Ähnlich beteuerte er im August 1914 gegenüber Delbrück, dass der Sinn des Kriegsgeschehens nur in einer anschließenden „Verbrüderung Europas“ liegen könne und auch in öffentlichen Stellungnahmen verdeutlichte er, dass das Waf fengeschehen als „Arbeit an den Vorformen der ‚Vereinigten Staaten von Euro pa-Amerika‘“ aufgefasst werden müsse.41
37 Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 8.9.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (99)]; noch mals, hier mit Blick auf den Kriegsverlauf, am 6.11.1914 [ebd. (101)]. H ans Delbrück: in: PrJb 158 (1914), 562. Eine frappierend ähnliche Reaktion auf den Artikel Delbrücks lag bei Adolf Harnack vor, vgl. Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik, Tübin gen 2004, 380. 38 Brief Bonus an Delbrück, San Domenico 5.2.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (91)]. 39 Bonus: Dietrich von Bern als deutscher Kämpfer, in: Kunstwart 28/1 (1914), 139–141, 139 f. 40 Bonus: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik, 795 f.; vgl. fast gleichlautend Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 9.8.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (96)]. 41 Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 9.8.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (96)]; ders.: Offener Brief an Herrn Giuseppe Prezzolini, Herausgeber der ‚Voce nuova‘ in Florenz, in: März 8/3–4 (24.10.1914), 70–71; ders.: Ueber Kulturpolitik und Realpolitik, 808.
I. Kriegsbegeisterung und Reformwillen: Die Anfänge des Weltkrieges
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Die Kriegswahrnehmung im Sommer 1914 blieb also teils von vagen Reform ideen, teils von utopischen Kulturraumplänen durchzogen, deutete jedoch die Leitlinien an, unter denen Bonus das „Augusterlebnis“ im weiteren Verlauf des Krieges interpretierte. Im Verbund mit anderen Vertretern des Bildungsbürger tums verband er die neoidealistische Erwartung einer „Läuterung“ der Nation durch den Krieg mit innenpolitischen Reformvorstellungen, die die nationale Integration der Sozialdemokratie in den Vordergrund rückten, sowie einem ge schichtsphilosophischen Bild deutscher Kulturaufgaben. Wie viele Intellektuelle stand er 1914 unter dem suggestiven Einheitserlebnis, aus dem heraus das deut sche Volk der „Träumer“ einer „sehnsüchtig gesuchten Zukunft“ entgegensah.42 Bonus’ Kriegspublizistik 1914/15 erscheint aus heutiger Perspektive als zu tiefst nationalistisch. Die zeitgenössischen Leser von Christlicher Welt und Kunstwart beurteilten die hier veröffentlichte Kriegsdeutung jedoch teilweise anders. So wurde Kritik an Bonus aufgrund seiner mangelnden nationalisti schen Haltung geäußert und ihm vorgeworfen, dass er sich nicht deutlich genug gegen die Feinde Deutschlands geäußert hätte.43 Die Auseinandersetzung um das Für und Wider von Bonus’ Kriegsdeutung lässt sich an den gegensätzlichen Polen von Gottfried Traub und den Schweizer Religiös-Sozialen um Leonhard Ragaz schildern. Traub hatte als einer der profiliertesten Kriegstheologen seiner Begeisterung über die nationale Geschlossenheit im Sommer 1914 in mehreren Andachtstexten in der Hilfe Ausdruck verliehen, in denen er den heiligen Kriegsgeist der Deutschen überhöht hatte.44 An Bonus monierte er, dass dieser nicht laut genug in den verbreiteten Englandhass einstimmen würde.45 Wie vie le Publizisten bewertete er die englische Kriegserklärung als Verrat an den ge meinsamen kulturellen Wurzeln.46 Bonus warnte hingegen davor, die Kriegs hetze in einen zügellosen Hass gegen die Gegner zu übersteigern und protestier te gegen eine euphorisierte „Überheizung der Stimmung“. Gegenüber Traub missbilligte er ein alldeutsches Sendungsbewusstsein, das sich in der Stimmung „ich danke dir Gott daß ich ein Deutscher bin“ niederschlage.47 Das von ihm propagierte „Ideal der Weltherrschaft“ stellte ein Hinterherstreben hinter engli 42
106.
Ders. [als Stolterfoth]: Politik des roten Kopfes, in: Kunstwart 28/2 (1914/15), 106–108,
43 Vgl. auch in der Rückschau: ders.: Die rückflutende Welle, in: Kunstwart 32/2 (1918/19), 5–6, 6: „Ich erhielt damals Briefe von Menschen, die nicht begreifen konnten, wie meine ih nen wert gewesene Vaterlandsliebe, mein ‚Germanismus‘, so zurückhaltend sein könne im Urteil über die Schuld am Kriege, so wenig begeistert für den Krieg selbst.“ 44 Gottfried Traub: Unvergeßlich, in: Die Hilfe Nr. 35 (1914), 1. 45 So in scharfer Form in den Briefen an Bonus, Dortmund 26.8.1914 und 15.9.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_010]. 46 Müller: Die Nation als Wille und Vorstellung, 115. 47 Briefkonzept Bonus an Traub, 31.8.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 14_010].
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schem Imperialismus dar, den Bonus als veräußerliches Machtstreben ablehnte, während Deutschland um „ideelle Güter“ kämpfe.48 Nun müsse unterschieden werden, „was wirklich deutsch ist im Unterschied zu dem, was undeutsch und zum Teil sogar gemein ist“.49 Unter Zustimmung seines kulturprotestantischen Umfeldes betonte er die Notwendigkeit, das Kriegsgeschehen nüchtern und nach politischen Gesichtspunkten zu betrachten.50 Der Krieg sei weder eine Phase für harte Selbstkritik im Inneren noch für taumelhafte, irrationale Kriegs begeisterung.51 Die „jetzt grassierende moralische Entrüstung“ über die Kriegs gegner lenke von den eigenen politischen Fehlstellungen ab, schrieb er an Del brück, dessen „Mahnung zur Mäßigung“ in der Belgienfrage ihm aus der Seele gesprochen war.52 Martin Rade sandte ihm ein Konvolut chauvinistischer Pro pagandaschriften gegen England zur Rezension zu mit der Bemerkung, dass diese „unser Volk in den gleichen Sumpf ziehen“ würden wie der von beiden abgelehnte englische Imperialismus.53 Die Kriegsdeutung der Christlichen Welt wurde allerdings ihrerseits seitens der Schweizer Religiös-Sozialen Leonhard Ragaz und Karl Barth einer scharfen theologischen Kritik unterzogen. Barth warf Rade in einem Brief vom 31. Au gust 1914, der wenig später in der Zeitschrift der Schweizer Religiösen Sozialis ten Neue Wege im Druck erschien, vor, er habe die „absoluten Gedanken des Evangeliums“ außer Kraft gesetzt und statt dessen den Kriegsausbruch als ge schichtliche Stunde verabsolutiert.54 Ähnlich heftigen Widerspruch äußerte der 48 Briefdurchschlag Bonus an Traub, 29.1.1915 [ebd., 14_010]; Brief Bonus an Fräulein Georgi (Aachen), Taufkirchen 19.2.1915 [ebd., 21_002]. Fräulein Georgi war die Tochter des Verlegers von Traubs Christlicher Freiheit, die dieser beauftragt hatte, in seiner Auseinan dersetzung mit Bonus ihre ablehnende Position gegenüber dem Kriegsgegner England zu schildern. 49 Briefkonzept Bonus an Traub, 17.9.1914 [ebd., 14_010]. 50 Martin Rade hatte Aufsatzmanuskripte von Bonus in seinem Marburger Umfeld – Paul Natorp, dem Neutestamentler Wilhelm Heitmüller, Horst Stephan und den Ehefrauen – vor gelesen und an Bonus berichtet, dass dessen Aversion gegen einen „Haß gegen England“ auf Zustimmung traf (Brief Rade an Bonus, Marburg 6.10.1914 [ebd., 03_005]). Vermutlich han delte es sich um den im Folgejahr in Überarbeitung erschienenen Aufsatz: Wer hat Schuld?, in: CW 29 (1915), 457–461, 483–485.514–519. 51 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 6.12.1914 [UB Göttingen, NL Gogarten, 400_60_A (42)]. 52 Briefe Bonus an Delbrück, Taufkirchen 8.9.1914 und 6.11.1914 [StaBi Berlin, NL Del brück (99/101)]. 53 PK Rade an Bonus, Marburg 7.10.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]. Aus dem Kontext lässt sich nicht erkennen, um welche Schriften es sich handelte; eine entsprechende Rezension lehnte Bonus wegen Überarbeitung ab. 54 Vgl. Christoph Schwöbel: Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, Gütersloh 1981, 29; der Brief dort 95–98; vgl. Neue Wege 8 (1914), 429–432.
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Zürcher Theologe Leonhard Ragaz in den Neuen Wegen mit einer „wohlgemein ten Warnung“ an die deutsche Theologie, in der er sich entsetzt er über die Re aktionen des „offiziellen“ Christentums in Deutschland äußerte, das zum deut schen Militarismus und zum Machtdenken im Stile Traubs, Rohrbachs oder Naumanns nur geschwiegen habe.55 Bonus widersprach den Vorwürfen des ihm über Gogarten bekannten Ragaz, mit dem sich eine Debatte um das Verhältnis von Nation und Christentum entspann, die sich bis ins Folgejahr erstreckte.56 Ragaz betonte die Gemeinsamkeit im idealistischen Denken und in der Vereh rung der deutschen Bildungskultur, grenzte sich aber eindeutig vom Imperialis mus ab; sein religiös-sozialer „Reichgottesglaube“ verbiete jede einseitige nati onalistische Stellungnahme. Bonus wiederum betonte, dass die Schweizer als Neutrale kein Verständnis für die Empfindungen der Reichsdeutschen aufbrin gen könnten und sich zudem von der Kriegspropaganda der Entente hätten be einflussen lassen.57 Öffentlich legte er seine Ansichten im Februar 1915 im Kunstwart und in der Hilfe dar.58 Ihm zufolge handelte es sich um ein Missver ständnis, wenn aus der Schweiz die Ansicht verbreitet würde, dass Deutschland 55
Leonhard R agaz: Eine wohlgemeinte Warnung, in: Neue Wege (1914), 386 ff.; ders.: Das Gericht, in: ebd., 298 ff.; ders.: Ueber die Ursache des Krieges, in: ebd., 364 f. Eine Dar stellung der Auseinandersetzung 1914 bietet Brigitte Wiegandt: Krieg und Frieden im Spie gel führender protestantischer Presseorgane, Frankfurt 1976, 203–211; biographisch auf Ragaz bezogen: M arkus M attmüller: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus, Zolli kon 1968, Bd. 2, 200–206. 56 Brief Ragaz an Bonus, Zürich 26.11.1914 sowie die Antwortmanuskripte von Bonus [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_004]; Bonus verhandelte die Auseinandersetzung auch mit Gogarten, vgl. seinen Brief an Gogarten, Taufkirchen 6.12.1914 [UB Göttingen, NL Gogarten, (42)]. Die Differenzen führten dazu, dass ein ausführliches Aufsatzmanuskript, das Gogarten über Bonus verfasst hatte, von Ragaz für die Neuen Wege abgelehnt wurde, vgl. Postkarte Gogarten an Bonus, Bremen 15.9.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.05]. 57 Vgl. die parallele Auseinandersetzung zwischen Ferdinand Avenarius und dem Schwei zer Theologen und Dichter Carl Spitteler, der am 14. Dezember 1914 in Zürich einen Vortrag hielt, in dem er für die Schweizer Neutralität plädierte und sich deutlich vom deutschen Na tionalismus abgrenzte; damit rückte neben der theologischen Auseinandersetzung als zwei tes Thema das Verhältnis der Deutschschweizer zu den Reichsdeutschen in den Blick. Vgl. Carl Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt. Vortrag gehalten in der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914, Zürich 1915; Ferdinand Avenarius: Über die Grenzen. An Carl Spitteler, in: Kunstwart 28/2 (1915), 41–47; vgl. zur Dynamik der Auseinandersetzungen den Briefwechsel zwischen Rade und Paul Wernle: Friedrich Wilhelm K antzenbach: Zwischen Leonard Ragaz und Karl Barth. Die Beurteilung des 1. Weltkriegs in den Briefen des Baseler Theologen Paul Wernle an Martin Rade, in: Zeit schrift für Schweizerische Kirchengeschichte 71 (1977), 393–417. 58 Bonus: Mißverständnisse, in: Die Hilfe (4.2.1915), 75–77; ders.: Die Stunde. An einige Freunde in der Schweiz, in: Kunstwart 28/2 (1915), 112–113; vgl. z. B. auch A rthur Frederking: Militarismus, in: PrBl 47 (1914), 980–985, der eine deutsche Kriegsschuld kategorisch ablehnt und einen deutschen „Militarismus“ als kriegsauslösend bestreitet. Als Verteidigungs
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sich in einem imperialistischen Kampf um die „Weltstellung“ befände, vielmehr ging es in einem „Existenzkampf“ um sein „Lebensrecht“.59 Die idealistische Kriegsdeutung mit ihren Kulturzielen und ihrer euphori schen Sicht auf die Entwicklungsfähigkeit der Nation versuchte erfolglos, einen Mittelweg zwischen nationalem Pathos und selbstkritischer Begrenzung zu ge hen. „Meine Seele“, schrieb Martin Rade Anfang Oktober 1914 an Bonus, sei „ein Kriegschauplatz eigner Art“ geworden; selbst engere Freunde hatten sich aufgrund seiner Haltung zum Krieg distanziert.60
2. Der „Kulturkrieg“ Wie Ernst Troeltsch feststellte, war der Kulturkrieg der Gebildeten ein neues, „durch die moderne Presse ermöglichtes Kriegsmittel“.61 Dazu trug nicht nur die offizielle Proganda bei, die von allen teilnehmenden Staaten während des Krieges ausgebaut und professionalisiert wurde.62 Vielmehr beteiligten sich Journalisten, Verleger und Zeitschriftenredaktionen auch selbständig an der publizistischen „Mobilmachung der Geister“. In zahlreichen Aufrufen und Ge lehrteneingaben sollte die Berechtigung der deutschen Haltung gegenüber dem Ausland nachgewiesen werden. Ein besonders starkes Echo erregte der Aufruf von 93 deutschen Professoren „An die Kulturwelt!“, der eine deutsche Kriegs schuld kategorisch ablehnte, die Neutralitätsverletzung Belgiens abstritt und den deutschen Militarismus zu rechtfertigen suchte.63 Auch Bonus versuchte krieg um den Bestand der deutschen Kultur kann Frederking den Krieg als „heilig“ bezeich nen. Vgl. auch: Wie ein Schweizer mit Herrn Prof. Ragaz abfährt!, in: ebd., 993–993. 59 Die Angriffe führten zu einem zeitweiligen Bruch zwischen Ragaz und Bonus, die sich ab 1925 wieder einander annäherten. Die Enttäuschung über das Unverständnis der Schwei zer für die deutsche Position stellte ein kontinuierliches Thema im Briefwechsel mit Fried rich Gogarten dar. 60 Briefe Rade an Bonus, Marburg 6.10.1914 und 3.2.1915 [ebd., 03_005]. Die Christliche Welt verlor im Laufe des ersten Kriegsjahres etwa 500 Abonnenten, vgl. R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 242. 61 Ernst Troeltsch: Der Geist der deutschen Kultur, in: Otto H intze (Hg.): Deutschland und der Erste Weltkrieg, Berlin 1915, 52–90, 52, vgl. Barbara Besslich: Wege in den „Kul turkrieg“, Darmstadt 2000, 3. 62 Zu Pressearbeit der deutschen Regierung und den amtlichen Propagandaabteilungen vgl. Peter Jungblut: Unter vier Reichskanzlern. Otto Hammann und die Pressepolitik der deutschen Reichsleitung 1890 bis 1916, in: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hg.): Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung, Frankfurt 1994, 101–116; Anne Schmidt: Belehrung – Propaganda – Vertrauensarbeit. Zum Wandel amtlicher Kommunika tionsformen in Deutschland 1914–1918, Essen 2006. 63 Wolfgang von Ungern-Sternberg/Jürgen von Ungern-Sternberg (Hg.): Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Frankfurt 2013.
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nach dem Übergriff auf Belgien, den Kriegsgegnern die deutsche Haltung zu erläutern und seine Auslandskontakte einzusetzen, um Sympathien für Deutsch land zu stärken. Gegenüber dem Herausgeber der italienischen modernistischen Kulturzeitschrift La Voce, dem Florentiner Giuseppe Prezzolini, ließ er in ei nem Offenen Brief im Oktober 1914 im März verlauten, dass das Deutsche Reich in einem Verteidigungskampf stünde und ursprünglich friedliche Absich ten vertreten habe.64 Wütender war eine Abrechnung mit dem französischen Lebensphilosophen Henri Bergson, der wiederum zu Kriegsbeginn Deutsch land den Rückfall in die Barbarei vorgeworfen hatte, in der gleichen Zeitschrift. Bonus attackierte Bergson als Inbegriff der französischen Dekadenz und Wort brüchigkeit; zudem beschuldigte er ihn, sein philosophisches Denken überwie gend aus der deutschen idealistischen Tradition übernommen zu haben.65 Bonus bemängelte, dass es trotz der unübersehbaren Menge an Kriegspubli kationen auf deutscher Seite nicht zu einer entschiedenen Repräsentierung der eigenen Kriegsziele in der Presse kam, was sich vor allem gegenüber den Neu tralen als verhängnisvoll erwies, die, so Bonus, fast ausschließlich auf die an geblich manipulative Berichterstattung der Alliierten angewiesen waren. Die alliierte Presseberichterstattung ließ Bonus als einen „Lügenfeldzug“ Großbri tanniens erscheinen, der die Absicht hatte, die deutsche Kriegsführung vor den Neutralen zu diskreditieren.66 Die offenkundig vergeblichen Versuche der deut schen Regierung, eine effiziente Presselenkung im Inland wie im Ausland zu erreichen und zugleich die deutsche Position wirksam der englischen Propagan da entgegenzustellen, ließen sich auf die langjährige Blindheit der deutschen Bürokratie gegenüber der öffentlichen Meinung als politischem Faktor zurück führen. Der Direktor des sächsischen Statistischen Landesamtes in Dresden, Eugen Würzburger, beklagte sich mehrfach bei Bonus über die Instinktlosigkeit der deutschen Berichterstattung, die auf ausländische Nachrichtendienste zu rückgreifen musste, weil eine entschiedene deutsche Kriegsdarstellung, etwa durch das Auswärtige Amt, fehlte. Vielmehr, so Würzburger, gab die „unge schickte Tagespresse“ die Stellungnahmen der Feinde ungefiltert wieder.67 64
Bonus: Offener Brief an Herrn Giuseppe Prezzolini, Herausgeber der ‚Voce nuova‘ in Florenz, in: März 8/3–4 (1914), 70–71. 65 Ders.: Bergson muß es wissen!, in: März 8/3–4 (1914), 312–314. Vor allem rekurrierte er antisemitisch auf Bergsons ostjüdische Vorfahren: Bergson habe durch seine polemischen Angriffe auf Deutschland versucht, sich als Jude der französischen Öffentlichkeit anzubie dern. Vgl. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, wel tanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2008, 71 (mit weiteren Belegen für ähnliche Angriffe). 66 Ders.: Vom Aufklären und von Karikaturen, in: Kunstwart 28/1 (1914/15), 165–167. 67 Vgl. die Briefe Würzburgers an Bonus, Dresden 5.10.1915 und 15.10.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 02_010].
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onus führte das auf die langjährige „Verachtung der öffentlichen Meinung“ B durch Regierungskreise zurück, die es versäumt habe, eine zuverlässige Infor mationspolitik zu installieren und die Öffentlichkeit zu politischer Urteilsfähig keit zu erziehen.68 Das begründete die publizistische und politische Unerfahren heit vieler Gebildeter, die nun im Krieg nach Orientierung suchten. Für Bonus war es die Aufgabe der „politischen Schriftsteller“ und „Literaten“, in die Ge staltung der öffentlichen Kriegsdeutung und die publizistische Richtigstellung der feindlichen Vorwürfe einzurücken; zugleich lag hier die Begründung seiner eigenen Veröffentlichungen während der Kriegsjahre, sich als geistiger Wegbe reiter der Nation zu betätigen.69 Die Aufgabe für die Gebildeten war es, erläuter te Bonus gegenüber Friedrich Gogarten im Dezember 1914, die Kriegszeit zur Formgebung nationaler Leitbilder zu nutzen: Wie bleiben wir wahr und gerecht in diesem Taumel? Nicht, glaube ich, dadurch, daß wir dieser Phantasietätigkeit, immer neue glänzende Bilder von unserem Volksgeist zu schaffen, entgegentreten, sondern so, daß wir sie leiten. Dafür, daß sie das in diesem Bild aufnehmen, was wirklich edel und gut ist, und sich der Begeiferung der Feinde enthalte.70
Bonus wahrte eine bildungsaristokratische Distanz gegenüber dem offiziellen Kriegsnationalismus. Dabei verstand er sich ausdrücklich nicht als „Realpoliti ker“, sondern als Kulturdeuter, der auf der Ebene einer „Gesinnungspolitik“ argumentierte, die den Menschheitsidealen und dem Geist das Vorrecht vor den Machterwägungen geben sollte und seine Äußerungen in der Christlichen Welt und im Kunstwart bestimmte.71
3. Der deutsche „Weltgedanke“ Die Suche nach einem moralischen Programm für den deutschen Kriegseinsatz richtete sich nicht nur nach außen, sondern führte zu einer intensiven Selbstbe spiegelung als Nation im Inneren. Die gebildete Kriegspublizistik konstruierte einen Antagonismus von verinnerlichter deutscher „Kultur“ und technokra tisch-merkantiler westlicher „Zivilisation“, der sich besonders am Beispiel Eng lands entzündete.72 Während dem feindlichen Ausland wirtschaftliche Oberflä chenideale und kalte Machtinteressen vorgeworfen wurden, schilderten bil 68
Briefdurchschlag Bonus an Würzburger, Taufkirchen 7.10.1915 [ebd., 02_010].
69 Ebd. 70
Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 6.12.1914 [UB Göttingen, NL Gogarten (42)]. Bonus an Delbrück, Taufkirchen 6.11.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (101)]. Vgl. zur „Gesinnungspolitik“ im Kunstwart-Kreis während des Ersten Weltkriegs K ratzsch: Kunstwart, 391. 72 Barbara Besslich: Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000. 71 Brief
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dungsbürgerliche Theoretiker wie Bonus die deutsche Nation als einen Ort der Frömmigkeit und der kritischen philosophischen Selbstkontrolle.73 In dem Maße, in dem den westlichen Kriegsgegnern ein seelenloser „Imperialismus“ nachge sagt wurde, wurde Deutschland zur Verkörperung eines aus der Geschichte ent wickelten, idealistischen Freiheitsverständnisses, das von „Selbstbestimmung“ ausgehe und die „Achtung“ fremder Individuen und Staaten beinhalte.74 Eine solche Argumentation sollte die Berechtigung des deutschen Militäreinsatzes als Freiheitskampf gegen das „Abwürgungsverfahren“ der Entente begründen.75 Deutschland ringe um das gemeinsame Kulturerbe der „germanischen“ Welt, die nach dem Krieg in ihrer ganzen Tiefe wiederentdeckt werden musste. Bonus’ Deutung des Krieges als eines weltgeschichtlichen Kulturkampfes se dimentierte in der Vorstellung von einem deutschen „Weltgedanken“, den er in einem Kunstwart-Aufsatz darlegte, der 1915 auch unter dem Titel Für welchen Weltgedanken kämpfen wir? als Dürerbund-Flugschrift erschien.76 In dieser konstruierte er einen europäischen „Völkerbund“, mit dem er den Frieden und das kulturelle Fortschreiten des Abendlandes sichern wollte. Die Völkerbund pläne waren gegen die Annexionismusvorwürfe der Alliierten gerichtet und sollten unter Beweis stellen, dass es gerade Deutschland war, wo die Rechte der kleinen Nationen gewahrt wurden.77 Deutschland führte nach Bonus’ Ansicht einen stellvertretenden Kulturkampf „für die fortschreitende Entwicklung selbst“.78 Seine Dürerbund-Flugschrift verknüpfte zwei Argumentationslinien, eine neuidealistische Interpretation des Deutschtums als Kulturträger und ein utopienahes Modell einer europäischen Nachkriegsordnung. Zum einen setzte er die „höhere Kulturstufe“ des deutschen Freiheitsdenkens als Weltideal dem nationalistischen Chauvinismus des Westens entgegen. Das 73 Vgl.
aus der Vielzahl an entsprechenden Veröffentlichungen, die vielfach holzschnit tartige Gegenüberstellung bieten: Bonus: Der Geist des Jeremias, in: Neue Rundschau 27/1 (1916), 681–687, 683. Vgl. Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 71–74; Müller: Die Nation als Wille und Vorstellung, 81–86. 74 Bonus: Wider die moralische Sentimentalität, in: März 8/3–4 (August 1914), 375–381; vgl. zum Freiheitsbegriff, der zu einem cantus firmus in den Kriegsaufsätzen wurde ders.: Die Stunde. An einige Freunde in der Schweiz, in: Kunstwart 28/2 (1915), 112–113; ders.: Warum wir jetzt 1813 haben, nicht 1806, in: Kunstwart 28/2 (1915), 219–221; ders.: Volkstum und Christenheit, in: Der Tag, 12.5.1915; ders.: Der Geist Luthers erwacht. Eine schweizeri sche Weissagung, in: CW 30 (1916), 744–754; ders. [T]: Der nationale Gedanke als Gedanke der Menschheitsentwicklung, in: Kunstwart 32/1 (1918), 30. 75 Ebd., 376. 76 Ders.: Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?, in: Kunstwart 28/4 (1915), 74–86 (da nach zitiert), sowie als 144. Dürerbund-Flugschrift zur Ausdruckskultur, München 1915; eine 2. Auflage erschien 1917. 77 Ders.: Die Liebe zu den kleinen Völkern, in: Der Tag, 31.12.1916. 78 Ders.: Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?, in: Kunstwart 28/4 (1915), 74–86, 86.
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idealistisch-menschheitliche „höhere Ideal des Deutschtums“ wurde zu einer universalistischen, die staatlichen Grenzen „des Vaterländchens“ überschreiten den Bildungsidee transzendiert.79 Bonus griff hier Vorstellungen auf, die er als Pangermanismus schon in den Jahren vor Kriegsausbruch entwickelte hatte. Die se erhielten im Kriegsgeschehen besondere Brisanz. Mit Anleihen an Fichte und an einen popularisierten Neuidealismus behauptete er, dass es einem wahrhaften deutschen Vaterlandsgefühl zu eigen wäre, den Wert und die „Echtheit“ anderer Völker zu achten und in dialektischer Spannung den nationalen Eigenwert mit dem Ideal des Weltbürgers zu verbinden.80 Fluchtpunkt dieser Konstruktion war das Organisationsbild der Weltpolitik als spannungsreiches Gegeneinander von starken Kulturgruppen, die die einzelnen Nationen überwölbten. Zum anderen entwickelte Bonus damit eine geopolitische Vision der deut schen Führungsrolle in Europa, die nicht auf Annexionen, sondern auf geistiger Vorherrschaft beruhen sollte. So hatte er gegenüber Delbrück deutlich gemacht, dass eine zukünftige Friedensordnung nur erreicht werden könne, wenn „mög lichst natürliche, völkerpsychologisch dauerhafte Grenzen“ zwischen den euro päischen Mächten gezogen würden, nämlich nach Kulturkreisen.81 Schon längst vor dem Krieg, so Bonus, habe sich eine „deutsch-schweizerisch-österreichisch- holländisch-skandinavisch-angelsächsische Kulturgemeinschaft“ gebildet, die nun vor dem Auseinanderbrechen stand.82 Die zukünftige, deutsche Organisa tion der Weltgemeinschaft schilderte er in Abgrenzung zum französischen Auf klärungsrationalismus und dem englischen Empire als die „germanische Idee“ der zwischenstaatlichen Organisation. Nach dem Vorbild der Schweiz, des Com monwealth, der Vereinigten Staaten oder des Deutschen Reiches von 1870 sollte ein freiwilliger Bundesschluss selbständiger Staaten entstehen.83 Damit stellte Bonus ein Nebenmodell zu der von seinem politischen Vorbild Friedrich Naumann angestoßenen Mitteleuropadebatte auf.84 Naumann hatte 1915 unter dem Titel Mitteleuropa einen umstrittenen Raumordnungsplan für das Ende des Krieges entwickelt, in dem er Vorschläge zu einer politischen Um gestaltung des europäischen Festlandes durch ein Bündnis der kleineren mittelund osteuropäischen Nationen aufgestellt hatte. Es handelte sich dabei nicht um 79
Ebd., 81. Ebd., 82. 81 Brief Bonus an Delbrück, Taufkirchen 6.11.1914 [StaBi Berlin, NL Delbrück (101)]; Bonus plädierte in diesem Brief für eine Aufteilung Belgiens zwischen den Niederlanden, Luxemburg und Frankreich aufgrund der Sprachgrenzen. 82 Ders.: Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?, in: Kunstwart 28/4 (1915), 74–86, 81. 83 Ebd., 84. 84 Naumanns Mitteleuropa wurde im Kunstwart generell positiv aufgenommen, vgl. Wolfgang Schumann: Naumanns Mitteleuropa, in: Kunstwart 29/1 (1915), 212–214; Hermann Ullmann: Mitteleuropa, von Österreich aus gesehen, in: Kunstwart 29/2 (1916), 55–58. 80
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einen Eroberungsplan, sondern um einen wirtschaftspolitischen Bündnisent wurf, der nicht im Sinne einer alldeutschen „Weltpolitik“, aus deren Reihen er hebliche Kritik an Naumanns Modell laut wurde, sondern als Schritt zur Herstel lung einer innereuropäischen „Harmonie“ zu verstehen war.85 Bonus’ Konstruk tion berührte sich mit Naumanns Mitteleuropa-Plänen, richtete sich aber nicht auf wirtschaftliche, sondern kulturelle Raumvorstellungen; sie schnitt zudem nicht den Zusammenhang mit Amerika und dem angelsächsischen Westen ab. Ein weiteres wirkungsvolles Ideenbündel, mit dem sich Bonus auseinander setzte, stellten die „Ideen von 1914“ dar. Diese gingen auf einen volkswirtschaft lichen Kriegsvortrag des Nationalökonomen Johann Plenge zurück und kontras tierten ein deutsches Ordnungsverständnis mit westlich-liberalen Vorstellun gen.86 Bonus’ Suche nach einem deutschen Freiheitsbegriff als Gegenentwurf zur Zivilisation des „Westens“ berührte sich mit diesem einflussreichen Ideen komplex der Kriegsdeutung, der zunächst eine Abkehr vom westlichen Libera lismus bedeutete, waren es doch nach Bonusʼ Wahrnehmung gerade die Libera len, die sich in England und Frankreich „mit dem Schaum vor dem Munde“ als Kriegstreiber betätigten. Mehr noch, die den gegenwärtigen Kriegszustand aus lösenden Wurzelübel „Militarismus, Imperialismus, Nationalismus, Reaktion“ hätten in den liberalen Staaten ihren Ursprung genommen.87 Das in Deutschland stark vorhandene Freiheitsbewusstsein musste daher auf eine andere Anregung zurückgeführt werden als auf die Werte der Aufklärung. Für Bonus trug der deutsche Liberalismus die „Farbe der Reformation“; er begründe weniger ein politisches System, als dass er auf die Wertschätzung der Persönlichkeit und des Individuums hin zu verstehen war. Um dem deutschen Freiheitsgedanken in der Gegenwart Raum zu geben, waren die „westeuropäischen Anklebsel abzustrei 85 Friedrich Naumann: Mitteleuropa, Berlin 1915; vgl. dazu Jürgen Frölich: Friedrich Naumanns ‚Mitteleuropa‘. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000, 245–267; Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 100 f.; vgl. dort auch die Hinweise zu den vergleichbaren Vorschlägen des Berliner Straf- und Völkerrechtlers Franz von Liszt und aus dem Umfeld Hans Delbrücks; ausführlich auch K laus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral, 63–69; im Vergleich zu Max Weber und im Gegenüber zu alldeutschen Vorstellungen vgl. Andreas Peschel: Friedrich Naumanns und Max Webers „Mitteleuropa“, Dresden 2005; aufschluss reich sind die liberaltheologischen Reaktionen von Julius K aftan: Wollen wir wirklich aus Deutschen Mitteleuropäer werden?, Berlin 1916, 9.19 f. oder Otto Baumgarten: Politische Chronik, in: Evangelische Freiheit 16 (1916), 35, die aus konfessionspolitischen Gesichts punkten argumentieren und eine Gefährdung ihres protestantisch-aufgeklärten Kulturideals durch ein südosteuropäisches Näherrücken befürchteten. 86 Johann Plenge: Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915; vgl. Steffen Bruen del: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, Berlin 2001. 87 Bonus: Deutscher und fremder Liberalismus, in: Kunstwart 30/1 (1916), 68–72, 68.
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fen“.88 Auch hier wies Bonus implizit auf Friedrich Naumann hin, indem er in der Annäherung zwischen Linksliberalismus und Sozialdemokratie den Weg erblickte, auf dem das Deutsche Reich nach dem Kriege neu erstehen würde. Deutschland stand, so Bonus’ Interpretation der „Ideen von 1914“, im „Kampf der Moralen“ zwischen ethischem Idealismus und dem Geist des Kapitalismus und war damit an einer historischen Wegscheide angekommen, die bereits in der Refor mationszeit angelegt war. Das mangelnde Verständnis für Deutschland in den westlichen Staaten führte Bonus auf Grundentscheidungen im Wirtschaftssystem und im Freiheitsverständnis zurück, die der Reformationsära entstammten. Die westliche Reformation, die in den Städten West- und Süddeutschlands ihren Aus gangspunkt genommen, den englischen Sprachraum erfasst und sich schließlich bis nach Amerika ausgebreitet hatte, hatte das Individuum mit seinen Freiheits rechten und dem Anspruch auf politische Mitbestimmung in ihr Zentrum gestellt. Freiheit und Gleichheit waren die Grundprinzipien, die die Aufklärung und die Französische Revolution eingefordert hatten; hier lag für Bonus die Wurzel des Kapitalismus. Der wirtschaftsliberale Ruf nach Freiheit hatte das obrigkeitliche Pflichtbewusstsein ausgehöhlt und das soziale Verantwortungsgefühl aufgelöst. Dem „wirtschaftlich Stärkeren“ trat „kein moralischer Anspruch“ durch die Obrig keit mehr entgegen, der die Ausnutzung des Schwächeren abgefedert hätte. Unter einem ununterbrochenen Ölträufeln glatter Freiheit und Gleichheit wuchsen der Kapi talismus und sein staatliches Gegenbild, der Imperialismus, zu riesenhaften Gebilden aus, zu Tyrannen von einer Wildheit, wie sie sich kein früheren Zeitalter hätte träumen lassen. Ihr Kampfmittel war die Freiheitsmoral. Denn wer sich wehrte, brach ja den freien Arbeitsver trag. Es wuchsen Imperien auf, die stets unter sorgfältigster moralischer Einspeichelung Kleinstaat auf Kleinstaat verschluckten oder am Hungerseil schleppten.89
Bonus konstruierte einen von der lutherischen Reformation ausgehenden deut schen Sonderweg, der dem westlichen Liberalismus ein deutsches Freiheitsver ständnis entgegenhielt, das nicht politisch bestimmt wurde, sondern von einem idealistischen Pflichtgedanken und einem romantischen Individualismus ver bunden war. Die deutsche Freiheit bestünde in Abgrenzung zum englischen Zi vilisationsmodell in der Gemeinschaftsbindung und im Wirken für den Zusam menhang des Volkes. Im „kulturell noch sehr schlafenden Norden und Osten“ Deutschlands des 16. Jahrhunderts habe sich „eine sehr herbe, aber erziehungs kräftige Berufs- und Pflichtmoral“ entwickelt, in deren Mittelpunkt nicht die Freiheit des Individuums stand, sondern die auf eine „Neuauffassung der Ge meinschaftsmoral und des Gesellschaftsaufbau“ hinstrebte.90 Gleichwohl hät 88
Ebd., 72. Ders.: Der Kampf der Moralen, in: Kunstwart 30/1 (1917), 53–61.106–108, 55 f. 90 Ebd., 55. Dass Bonus hier in wenigen Sätzen sein über Jahre hinweg verfolgtes, in mit unter scharfen Konflikten durchgefochtenes Ideal der Persönlichkeit und der individuellen 89
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ten die Deutschen durch den ihnen eigenen Frömmigkeitscharakter und in Un terordnung unter den Strom der Gegebenheiten gelernt, dem „eigenen inneren Schritt und Sinn der Entwicklung“ zu folgen und in Sachlichkeit und Berufs arbeit sich dem gemeinsamen Interesse unterzuordnen. Bonus verwies auf Kant, den deutschen Idealismus und besonders auf Fichte, die der deutschen Pflicht moral ihre eigenen Züge gegeben hätten. Diese stand in scharfem Widerspruch zum westlichen Kapitalismus; sie gewann aber Züge eines nationalen Sozialis mus, der in der Gemeinschaft des Volkes einen Schutzort gegen die Gefahren des freien Marktes schuf. Seine Geschichtssynthese lehre, meinte Bonus, den trügerischen, phraseologischen Charakter [zu] durchschauen, zu dem die allgemeine Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeitsthese sich inzwischen entwickelt hatte: unter de ren Herrschaft war, nachdem die Gleichheit vor dem Gesetz errungen war, alles doch wieder auf Vergewaltigung des Schwächeren durch den Stärkeren hinausgekommen, nur jetzt in gesetzlicher Form.91
Als Gegenstück zum westlichen Liberalismus trat Bonus unter dem Eindruck des Krieges und der nationalistischen Welle von 1914 die Flucht in korporative Vorstellungen an und folgte damit einer breiten Anschauung im akademischen Bürgertum, die als Gegenstück zum Kapitalismus einen sozialen „Gemein geist“ forderten.92 Bonus stand mit dieser Sicht nicht alleine da; im Kunstwart hatte etwa der Marburger Philosoph Paul Natorp ganz ähnlich die Ansicht vertreten, dass Deutschland nicht aus Selbstzweck, sondern „um der Menschheit willen“ für einen höheren Kulturgehalt und moralisch-sittliche Kriegsziele kämpfe.93 Ähn liche Töne waren auch von anderen kulturprotestantischen Autoren wie Adolf Harnack, Ernst Troeltsch oder Otto Baumgarten und Adolf Deißmann zu ver nehmen.
Lebensauffassung als undeutsch über Bord warf, fiel dem enthusiasmierten Kriegsautor of fensichtlich nicht auf. 91 Ebd., 58. 92 Vgl. mit zahlreichen Belegen aus der Professorendebatte Steffen Bruendel: Volksge meinschaft oder Volksstaat, 114–125. 93 Vgl. Paul Natorp: Wissenschaftlicher Pazifismus, in: Kunstwart 29/1 (1915), 41–46; ders.: Geschichtsphilosophische Grundlegung für das Verständnis unserer Zeit, in: ebd., 98–102; ders.: Volkstum – Deutschtum, in: ebd., 125–133; im Kontext der Pazifismus-Debat ten vgl. auch ders.: Kritischer Anhang, in: Krieg und Friede. Drei Reden gehalten auf Veran staltung der „Ethischen Gesellschaft“ in München im September 1915 mit einem kritischen Anhang, München 1916, 39–49. Zur gut dokumentierten Publizistik Natorps im Krieg vgl. Nils Bruhn: Vom Kulturkritiker zum „Kulturkrieger“. Paul Natorps Weg in den „Krieg der Geister“, Würzburg 2007; Norbert Jegelka: Paul Natorp. Philosophie, Pädagogik, Politik, Würzburg 1992, 111–142.
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II. „Religion als Wille“: Der Krieg als religiöses Ereignis Protestantische Theologen aller Richtungen beteiligten sich stärker als andere Gelehrtenpolitiker an der Sinngebung nach dem Kriegsausbruch im Sommer 1914.94 Auch wenn von einer einheitlichen „Kriegstheologie“ nicht die Rede sein kann, blieb kaum eine theologische Stellungnahme unberührt von der Sug gestionskraft des „Augusterlebnisses“ 1914.95 Der Kriegsausbruch verstärkte das Bedürfnis nach transzendentaler Klärung, nach Zuspruch und der Bewälti gung von Ängsten sowie nach konkreter seelsorgerischer Begleitung.96 Vielfach entstand der Eindruck, dass der Krieg den oft beklagten Säkularisierungsten denzen entgegengewirkt und eine Stärkung des christlichen Gemeingeistes her beigeführt habe. Der Krieg als existentielle Ausnahmesituation ließ sich zur 94 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Der Geist von 1914 – Zerstörung des universalen Huma nismus?, in: Wolfgang Greive (Hg.): Der Geist von 1914. Zerstörung des universalen Huma nismus?, Rehburg-Loccum 1990, 31–58, 43. 95 Zur Transformation religiöser Symbolbestände während des Krieges vgl. Graf: Die Nation – von Gott erfunden?, 307–310; Wolfgang J. Mommsen: Die nationalgeschichtliche Umdeutung der christlichen Botschaft im Ersten Weltkrieg, in: ebd., 249–261. Die Positionen protestantischer Theologen zum Krieg, den Kriegszielen und der Kriegsgesellschaft fallen wesentlich differenzierter aus, als die Begriffe „Kriegstheologie“ oder „Kriegspredigt“ sug gerieren, vgl. Wolfgang Huber: Evangelische Theologie und Kirche beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: ders. (Hg.): Historische Beiträge zur Friedensforschung, Stuttgart 1970, 134–215; Wolfgang Huber /Johannes Schwerdfeger (Hg.): Kirche zwischen Krieg und Frieden, Stuttgart 1976; auf katholischer Seite Heinrich Missalla: „Gott mit uns“. Die deut sche katholische Kriegspredigt 1914–1918, München 1968; zu den gegensätzlichen Wegen zweier protestantischer Universitätstheologen trotz Stereotypisierungen s. Gunther Brakelmann: Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus, Bielefeld 1974; ders.: Krieg und Gewissen. Otto Baumgarten als Politiker und Theologe im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1991. Eine systematische Auswer tung kirchlicher Zeitschriften oder eine Arbeit zum diakonischen Handeln während des Krieges fehlt bisher. Die zur Friedensdebatte im wilhelminische Protestantismus verdienst volle Arbeit von Brigitte Wiegandt: Krieg und Frieden im Spiegel führender protestanti scher Presseorgane, Frankfurt 1976, geht nur kursorisch auf die Äußerungen im Sommer 1914 ein. Wenig differenzieren K arl H ammer: Deutsche Kriegstheologie (1870–1918), Mün chen 1971; Wilhelm Pressel: Die Kriegspredigt 1914–1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 1967. Zu den patriotischen Überzeichnungen der christlichen Ver kündigung vgl. bereits die zeitgenössischen Arbeiten Otto Herpel: Die Frömmigkeit der deutschen Kriegslyrik, Gießen 1917; Paul Piechowski: Die Kriegspredigt von 1870/71, Leip zig 1917; Franz Koehler: Die deutsch-protestantische Kriegspredigt der Gegenwart. Darge stellt in ihren religiös-sittlichen Problemen und in ihrer homiletischen Eigenart, Gießen 1915. 96 Bonus erfuhr von Martin Rade vom Alltag und den Erfahrungen eines Kriegsseelsor gers. Rade hatte neben seinen Verpflichtungen als Professor die Betreuung von zwei Kriegs lazaretten in Marburg übernommen, vgl. Briefe Rade an Bonus, Marburg 6.10.1914 und 3.2.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus 03_005].
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Berührung des „Menschenwesens mit den Kräften des Heiligen, Großen, über menschlich Gewaltigen“ überhöhen, wie Emil Fuchs – wie Bonus ein von Nau mann inspirierter Theologe aus dem Kreis um die Christliche Welt – gemeinsam mit Bonus zu Pfingsten 1915 im Kunstwart verkündete. Beeindruckt berichtete er von den „Massen“, die sich selbst in den Arbeiterhochburgen Berlins im Au gust 1914 zu Gottesdiensten eingefunden hatten.97 Bonus empfand die Einheit und gefasste Pflichterfüllung, mit der die Bevölkerung auf den Kriegsausbruch zu antworten schien, im Rückblick als ein „Sakrament“.98 Anders als mit seinen geschichtspolitischen Kommentaren rückte Bonus mit seinen religiösen Äußerungen auf dem Feld kulturprotestantischer Kriegsdeu tungen zunehmend an den Rand. Sie zeigen zudem, dass die innerprotestanti schen Richtungskämpfe ungeachtet der Burgfriedens-Bedingungen bald nach Kriegsbeginn wieder an Fahrt aufnahmen.
1. „Bankrott des Christentums“. Der Krieg als religiöse Krise Bonus’ religiöse Zeitdeutung zwischen 1914 und 1918 setzte seine theologiekri tischen Äußerungen seit der Jahrhundertwende fort und beschrieb die Gegen wart als eine durch den Krieg ausgelöste Umbruchsphase. Die Wahrnehmung einer Zäsur und eines Bruches mit der wilhelminischen Bürgerfrömmigkeit herrschte auch in Bonus’ religiös-reformerischem Deutungsnetzwerk vor. Hier entwickelte sich eine Zusammenarbeit zwischen Karl König, Gogarten und Bo nus sowie zwischen Bonus und Johannes Müller. Eine Gemeinsamkeit lag zu nächst in der Ablehnung des als zu seicht empfundenen theologischen Liberalis mus begründet, der in seinem ethischen Rationalismus die Wucht des religiösen Erlebens der Gegenwart nicht einfangen konnte. Für Bonus wie für Gogarten stellte der oberflächliche, patriotische Grundton der liberalen Kriegsgottes dienste eine „Qual“ dar.99 Für Bonus war die „Sentimentalität“ der christlichen Predigt durch die Kriegswirklichkeit überwunden, wie er in der bei Diederichs erscheinenden Tat darlegte.100 Trotz der Ablehnung des Kriegsprotestantismus 97
Bonus/Emil Fuchs: Die deutsche Kirche. Zu Pfingsten, in: Kunstwart 28/2 (1914/15), 122–128, 227 f. 98 Bonus: Soll und Haben unsrer Feindesliebe, in: Kunstwart 28/2 (1915), 55–57. Es scheint sich hierbei um den einzigen Beleg dafür zu handeln, dass Bonus eine explizite Sak ralisierung des Krieges vornimmt. 99 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 19.1.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.05]. Gogarten beklagte sich über Wagner-Übertragungen oder das Deutschland-Lied, das in man chen Bremer Gottesdiensten das Orgelvorspiel ersetzte. Vgl. mit Zustimmung zu Gogartens theologischem Antiliberalismus: Karte König an Bonus, Bremen-Horn 28.12.1915 [ebd., 21_003]. 100 Bonus: Zur neuen Frömmigkeit, in: Die Tat 7/2 (1915/16), 537–549, 545 f.; ähnlich die
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bewirkte der Krieg bei allen eine Eskalation des nationalen Gefühls. Er wurde als schöpferische Gegenwart und als unbedingtes „Jetzt“ wahrgenommen, das nach einer religiösen Entscheidung verlangte, die sich auf die gesamte Lebens wirklichkeit auswirken musste. Für Bonus zwang die historische Situation als Bruch mit dem bisher gültigen Wertesystem dem Einzelnen Bewährungswillen, den Willen zur Fortentwicklung und das Bewusstsein der „Wahl und des Wag nisses“ auf.101 In der durch den Krieg von Grund auf umgeworfenen morali schen und religiösen Stimmungslage zeichneten sich die Vorboten einer „neuen Frömmigkeit“ ab, die für Bonus auf eine „Reformation“ der Traditionskirchen hinauslaufen würde, deren religiöse „Ansatzmöglichkeiten“ zu stärken er sich berufen fühlte.102 „Unsere Stunde“, deutete er die geschichtliche Bedeutung der gegenwärtigen Katastrophe gegenüber Friedrich Gogarten im Dezember 1914, war die „Stunde […] der Geburt“, aus der sich die „vollkommene Gestalt“ einer neuen Kultur erheben würde.103 Indem Bonus den Kriegsausbruch gleichsam als den Kairos einer nahenden religiösen und kulturellen Wendezeit umschrieb, bediente er sich eines sprachlichen Gestus, der vor allem die späteren Krisen theologien der zwanziger Jahre auszeichnete.104 Diese Deutungslinien lassen sich in Bonus’ Umfeld hinein verfolgen. Zwi schen Bonus, Gogarten und Karl König fand ein eifriger Austausch ihrer jewei ligen situationsbezogenen Aufsätze und Neuerscheinungen statt. Gogarten und König hatten in Bremen einen Lesezirkel eingerichtet, in dem sie Bonus-Schrif ten diskutierten.105 Zwischen Gogarten und Bonus bestand eine enge Briefkor respondenz über ihre Kriegswahrnehmung und deren religiöse Konsequenzen, die durch zwei Sommerfrischen Gogartens bei Familie Bonus ergänzt wurde.106 Karl König legte seine Zeitdeutung in einer Serie von Kriegspredigten dar, in Ablehnung kirchlicher „Sentimentalität“ in dem zitierten Brief Gogartens an Bonus (Bremen 19.1.1915 [ebd., 01_061.05]). Dabei handelt es sich um überarbeitete Passagen aus: Religion als Wille, 13–27. 101 Ders.: Zur neuen Frömmigkeit, in: Die Tat 7/2 (1915/16), 537–549, 545 f. 102 Bonus/Fuchs: Die deutsche Kirche. Zu Pfingsten, in: Kunstwart 28/2 (1914/15), 122– 128, 227 f.; ders.: Der Krieg und die neue Frömmigkeit, in: Neue Rundschau 26/2 (1915), 836–846, 843. 103 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 6.12.1914 [Konzept im Nachlass Bonus, 01_061.04; Original UB Göttingen, NL Gogarten (42)]; ähnlich Briefkonzept Bonus an Ragaz, undatiert [LKA Eisenach, NL Bonus 23_002]. 104 Zum Kairos-Begriff in der Theologie der zwanziger Jahre vgl. A lf Christophersen: Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. 105 Es wurden der Meditationsband: Der lange Tag, Heilbronn 1905 und der Die derichs-Band: Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911 gelesen, vgl. Brief Gogarten an Bonus, Bremen 8.6.1916 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.06]. 106 Bei einem gleichzeitigen Bonus-Besuch im Sommer 1916 lernten sich Gogarten und Martin Rade persönlich kennen, vgl. Brief Rade an Bonus, Marburg 5.8.1916 [ebd., 03_005].
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denen er den Krieg als umwerfendes, inneres Erlebnis beschrieb, das den Intel lektualismus und das rationalistische Denken der Vorkriegszeit hinwegfege und reinigend auf die Kultur wirke. Der „heilige Sturm“ würde die Deutschen reli giös in einem neuerlichen Luthergeist einigen.107 König las Bonus’ Kriegsschrift Religion als Wille, die zu Jahresende 1915 im Verlag Eugen Diederichs erschien. Inhaltlich signalisierte er völlige Übereinstimmung, was die religiöse Erneue rung durch den Krieg anbelangte, die er allerdings enger mit dem kirchlichen Christentum verband als Bonus.108 Eng auf Bonus bezogen waren die Kriegs veröffentlichungen Friedrich Gogartens, die sich geradezu als Adaption und Intensivierung der Bonus’schen Gedanken verstehen lassen.109 Gogarten las alle wichtigen Kriegsaufsätze von Bonus, die dieser ihm regelmäßig zusandte. Außerdem beteiligte er sich an der Planung und Konzeption von Religion als Wille.110 In einem Brief vom 23. November 1914 berichtete Gogarten Bonus von seinen Plänen, predigtartig „den deutschen Geist“ in seinen Bezügen zum Christentum und zur Neuzeit darzustellen, um vor diesem Hintergrund das Tremendum des Krieges den „kleinlichen“ Nationalparolen der vaterländischen Presse entgegenzusetzen.111 Ausführlich referierte er über Karl Christian Plan cks Testament eines Deutschen, das – Bonus’ religionshistorischen Theorien nicht unähnlich – eine sich seit dem 19. Jahrhundert vertiefende Trennung zwi schen Christentum und der „wirklichen Bewegung der Geschichte“ um schrieb.112 Während das Christentum sich in einen „abstrakten […] Idealismus“ aufgelöst habe, sei die Bürgerkultur des 19. Jahrhunderts von „Materialismus“ und „Eigenerwerb“ geprägt. Dem gegenläufig habe sich „bei den besten Geis tern die Ahnung eines ganz anderen Weltbildes“ eingestellt, eines der prakti schen und organischen Einheit von Denken und Handeln. Diese religionstheore 107
K arl König: Sechs Kriegspredigten, Jena 1914 (mehrere Folgebände im Jahr 1915), Zitat aus Bd. 4, Jena 1915, 6. Diese Predigtbände waren teilweise aus Predigten und Vorträ gen aus seiner Kirchengemeinde in Bremen-Horn hervorgegangen. 108 Briefe König an Bonus, Bremen-Horn 1. und 28.12.1915 [ebd., 21_003]. 109 Vgl. A ndreas Holzbauer: Nation und Identität, Tübingen 2012, 178.185; ausführlich K roeger: Gogarten, 136–152. Von einer „spürbaren Differenzierung“ Gogartens gegenüber den Vorstellungen von Bonus kann m. E. keine Rede sein, Parallelen und gegenseitige inhalt liche Berührungen ließen sich bis in Formulierungen hinein aufzeigen (ebd., 150). 110 Vgl. Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 15.5.1915: Gogarten habe ihm geholfen, den „Kernpunkt“ herauszuarbeiten [UB Göttingen, NL Gogarten (43)]. Gogarten erhielt das Manuskript im April und begleitete die Bearbeitung bis September 1915, vgl. den Briefwech sel [LKA Eisenach, Nachlass Bonus, 01_061.05]. 111 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 23.11.1914 [LKA Eisenach, Nachlass Bonus, 01_061.04]; vgl. K roeger: Gogarten, 137. Gogarten nahm hier Bezug auf den Aufsatz von Bonus: Dietrich von Bern als deutscher Kämpfer, in: Kunstwart 28/1 (1914), 139–141. 112 Ebd., vgl. K arl C. Planck: Testament eines Deutschen. Philosophie der Natur und der Menschheit, Jena 1912 (im Diederichs-Verlag; die erste Ausgabe war 1881 erschienen).
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tischen Überlegungen waren mit einer an die gemeinsamen Fichtestudien und den Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts erinnernden Wesensaussage über die Deutschen verbunden, die als das „universelle Volk“ in besonderer Weise einen praktischen, auf Weltgestaltung und Lebensführung ausgerichteten Idealismus verkörperten. Als solchem fiel Deutschland der historische Ort zu, sich stellvertretend für die geistig-kulturelle Entwicklung Europas im Krieg zu opfern, womit Gogarten den Bogen zum Kriegsbeginn 1914 geschlagen hatte: das geistig-idealistische Deutschland führte den Krieg Gogarten zufolge „für Europa gegen Europa“, um gegen die materialistisch-ökonomische Zivilisation des 19. Jahrhunderts einer zukünftigen religiös-idealistischen Weltsicht zum Durchbruch zu verhelfen.113 Bonus und Gogarten versuchten gleichermaßen, das Kriegsgeschehen als nationale und religiöse Klärungsphase zu deuten, da bei aber Distanz zum alldeutschen Kriegsnationalismus zu bewahren. Die ge dankliche Nähe zu Bonus spiegelte sich in Gogartens Veröffentlichungen wäh rend des Krieges wider, etwa in einem Artikel im Protestantenblatt 1915, in dem er vom Krieg die Freilegung der menschlichen Willens- und Schaffens kraft und eine Abkehr vom „Maschinendenken“ erwartete, die in die „Schöp fung“ der „deutschen Religion“ einmünden würden. Gegen den chauvinisti schen Nationalismus wollte er wie Bonus zu neuen Organisationsformen der Menschheit vordringen.114 Der Krieg als Schöpfungszeit, eine auf das Volkstum bezogene Frömmigkeit, der Gedanke von der göttlichen Offenbarung im Volk und die Sehnsucht nach tieferer Lebenseinheit flossen auch in seine Tat-Flug schrift Religion und Volkstum aus dem gleichen Jahr ein, bei der Bonus sich als Ratgeber betätigt hatte.115 In der Christlichen Freiheit schließlich erklärte er Bonus zu einem der führenden Wegbereiter deutscher Zukunft, der wie kein anderer Autor „in deutsche Art hineinsehen“ ließe.116 Verbindend war auch die Auseinandersetzung mit den Schweizer Religiös- Sozialen und Leonhard Ragaz, die zwischen Bonus und Gogarten intensiv dis kutiert wurde. Für Bonus machte Ragaz durch seine ablehnenden Äußerungen gegenüber dem deutschen Kriegsprotestantismus den „Eindruck eines morali 113
Ebd. Bonus bedankte sich herzlich für Gogartens Referat, äußerte sich aber skeptisch, ob die Kriegsgegenwart eine breitere Rezeption solcher Gedankengänge zulasse, vgl. Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 6.12.1914 [UB Göttingen, NL Gogarten (42)]. Gleichwohl floss die Fragestellung in seine Aufsätze ein: Wer hat Schuld?, in: CW 29 (1915), 457–461. 483–485.514–519; Schöpfungszeiten, in: Kunstwart 28/2 (1915), 182–184. 114 Friedrich Gogarten: Volk und Schöpfung, in: PrB 14 (1915), 51–54, 55. 115 Ders.: Religion und Volkstum, Jena 1915; die Bitte um ein Gegenlesen: Brief Gogarten an Bonus, Bremen 19.1.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.05]; wie der folgende Brief wechsel ergibt, las Bonus das Manuskript mit großer Zustimmung Anfang Februar. Vgl. K roeger: Gogarten, 141–144. 116 Ders.: Gedanken zur deutschen Zukunft, in: Christliche Freiheit 31 (1915), 385–389.
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schen Eiferers“, dem die erwünschte religiöse Tiefe und das Verständnis für die Lage der deutschen Bevölkerung fehlten. Bonus bedauerte die Trennung zu tiefst, lehnte Ragaz’ „Freiheits- und Demokratiephrase“ jedoch ab.117 Gogarten nahm eine Position zwischen Bonus und Ragaz ein und konnte sich nicht wie Bonus zu einem abschließenden Negativurteil durchringen. Wie Bonus hielt er den „Kampf der Geister“ und das unter dieser Chiffre angedeutete Zerbrechen der abendländischen Kulturgemeinschaft für die eigentliche Kata strophe.118 Vermittlungsversuche, etwa durch den gemeinamen Freund Max Gerber, Pfar rer in Feldis in der Schweiz, ließen die Kontakte zu den Religiös-Sozialen aller dings nicht gänzlich abbrechen.119 Auch ließen sich Hermann K utters Reden an die deutsche Nation als Beleg dafür lesen, dass die deutsche Position im Krieg von Schweizer Seite aus verstanden werden konnte.120 Kutter hatte in diesem 1916 verlegten Diederichs-Band ein idealistisches Programm vorgelegt, das den Vorstellungen von Bonus und Gogarten nicht unähnlich den deutschen Kriegseinsatz als Kampf für eine kommende Menschheitskultur entfaltete.121 Eugen Diederichs war seit Herbst 1914 verlegerisch um die Förderung dieser Bestrebungen bemüht und sah in ihnen einen religiösen Baustein zum Aufbau einer kommenden deutschen Nachkriegskultur. Unter den Kriegsbedingungen verfolgte der Verleger seine religionspolitischen Absichten weiter, eine kirchen freie, der unmittelbaren Gegenwart verpflichtete deutsche Frömmigkeit zu be gründen. Bonus gegenüber bedeutete das, einen nicht „positiv oder katholisch“ verstandenen „‚deutschen Glauben‘“ auszubauen;122 Gogarten ließ er wissen, dass er weiterhin auf eine nachchristlich-mythische Frömmigkeit zielte, die aus dem „alten Kirchenstall“ hinauswies.123 Schließlich ist noch auf Johannes Müller hinzuweisen, auf dessen Elmau Bonus während des Kriegsjahres 1917 mehrere Sommermonate zubrachte.124 117 Briefe Bonus an Gogarten, Taufkirchen 26.9.1915, 26.12.1916 und 26.1.1917 [UB Göt tingen, NL Gogarten (49/53/54)] vgl. K roeger: Gogarten, 153–157. 118 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 19.1.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.07]. 119 Brief Gerber an Bonus, Feldis 6.9.1916 [ebd., 21_005]. Gerber lud Bonus in die Schweiz ein, um in einer persönlichen Begegnung die Differenzen zu klären. Briefe Gerbers wurden zwischen Bonus und Gogarten ausgetauscht: Brief Bonus an Gogarten, 26.12.1916 [UB Göt tingen, NL Gogarten (53)]; Brief Gogarten an Bonus, 19.1.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus 01_061.07]. 120 Brief Bonus an Gogarten, 26.12.1916 [UB Göttingen, NL Gogarten (53)]. 121 H ermann Kutter: Reden an die deutsche Nation, Jena 1916; wie Bonus Gogarten mit teilte, war der Titel, der sich auf Fichtes Reden bezog, von Diederichs festgelegt worden. 122 Brief Diederichs an Bonus, Jena 14.12.1914 [LKA Eisenach, NL Bonus, 06_006]. 123 Brief Diederichs an Gogarten, in: Briefe, 251 f.; vgl. K roeger: Gogarten, 141. 124 Vgl. den Bericht im Brief Bonus an Gogarten, 9.8.1917 [UB Göttingen, NL Gogarten, (55)] sowie die Korrespondenz zwischen Bonus und Müller 1916/17 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_006].
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Auch Müller begleitete die Entstehung von Bonus’ Kriegsschrift Religion als Wille und bemühte sich, Bonus durch Vermittlung bei seinem Hausverleger C.H. Beck bei der Verlagssuche zu unterstützen.125 Die bei Müller zum Aus druck kommende Kriegsfrömmigkeit – in ihrer eigenen sprachlichen Fassung als Kampf um die Bewusstseinskultur – besaß parallele Züge zu Bonus’ Kriegs programm, wenn sie etwa das Geschehen als Kulturkampf schilderte, dabei aber bemüht war, gegenüber Hassparolen die „sachliche Bedingtheit“ der deut schen Kriegsziele zu betonen.126 Wie bei Bonus fand sich auch bei ihm die Er wartung einer kulturellen und religiösen „Wiedergeburt“ durch den Krieg, der zumal in den ersten Kriegsjahren als ungerechtfertigter Vernichtungsfeldzug gegen Deutschland verstanden wurde.127 Gemeinsam war beiden, dass der Krieg als das große Erlebnis wahrgenommen wurde, von dem die Einzelexis tenz mitgerissen wurde, um ganz im Gegenwartsgeschehen und der seelischen Erhebung des Volkes aufzugehen.128 Die emotionalen und kulturellen Auswirkungen des Krieges hatten für Bonus ein Überdenken aller bisherigen Positionen notwendig gemacht, seine eigenen religiösen Aussagen der Anfangszeit nicht ausgenommen. Die Gegenwart war durch eine unübersichtliche Gemengelage aus Abbrüchen und Neuansätzen ge kennzeichnet.129 Der Krieg stellte für Bonus ein evolutives Durchgangsstadium Die Verlegersuche für diesen Band, den Bonus eigentlich mit Zur neuen Frömmigkeit überschreiben wollte, stellte sich recht kompliziert dar. Trotz freundlicher Aufforderungen zog Bonus es vor, seinen Text nicht bei Diederichs erscheinen zu lassen, weil ihm dessen Honorarvorstellungen nicht zusagten. Hinzu kam, dass ihm Diederichs’ Buchhandelswer bung für seine Bücher nicht ausreichte, vgl. Brief Bonus an Müller, Taufkirchen 20.5.1915 sowie dessen Antwort, Elmau 2.6.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003]. Müllers Versu che, das Buch bei dem Münchner Verlag C.H. Beck unterzubringen, scheiterten an Bonus’ Honorarvorstellungen. Oskar Beck bot eine Auflage von 2000 Exemplaren an, was ange sichts der kriegsbedingten „Depression im Buchhandel“ ein großzügiges Angebot war. Dabei schätzte er die Marktchancen für Bonus’ Entwurf nur als gering ein (vgl. Brief Oskar Beck an Müller, München 8.6.1915 [ebd.]). Beck hielt angesichts der Realitäten im Sommer 1915 und der bereits vorliegenden inflationären Kriegspublizistik den Markt für erschöpft; außer dem teilte er die von Bonus behauptete erneuernde Wirkung des Krieges nicht: „In dem Deutschland nach dem Krieg soll alles anders werden. Auch mit dem kühnsten Idealismus wird man nicht im stande sein, da immer mitzugehen“ (ebd.). 126 Johannes Müller: Die sachliche Bedingtheit der Kriegsziele, in: Grüne Blätter 1915/16, 77–83. Zu Müllers Kriegsdeutung vgl. H arald H aury: Von Riesa nach Schloß El mau, 183–186. 127 Johannes Müller: Der Krieg als Schicksal und Erlebnis, München 1915, 2. 128 Ders.: Wie soll sich der Christ zum Kriege stellen?, in: Grüne Blätter 1914, 180. 129 Briefkonzept Bonus an Wolfgang Schumann, 30.3.1916 [ebd., 11_005]. Schumann hat te Bonus zuvor aufgefordert, für den Kunstwart eine Sammelrezension über „Neue Bestre bungen in der protestantischen Theologie“ zu verfassen, was Bonus aufgrund der unüber 125
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dar, das auf etwas von Grund auf „Neues“ hinauslaufen musste; er wäre sinnlos, wenn nicht eine „neue Menschheit“ das Entwicklungsziel des Kriegs bildete.130
2. Die „neue Frömmigkeit“ im Krieg: Bonus’ Interpretation des Kriegsgeschehens Bonusʼ religiöse Veröffentlichungen zwischen 1914 und 1918 waren ein Versuch, seine Theorien vom „Kriegserlebnis“ aus neu zu fassen.131 In ihnen lässt sich eine semantische Verschiebung beobachten, die in seinen religiösen Texten in Frie denszeiten bereits angelegt war, nun aber deutlich in den Vordergrund rückte. Seine Äußerungen griffen Motive der biblischen Sprache auf, lösten diese aber aus ihrem Zusammenhang und übertrugen sie auf den geschichtlichen Werde gang der Nation. Plakativ kam das in seinen Andachtstexten zum Tragen, etwa wenn er die neutestamentlichen Himmelfahrtsberichte auf einen evolutiven Zu kunftswillen hin deutete oder den Pfingstgeist zum Begründer einer verjüngten Nachkriegskultur werden ließ: „Der Geist kann aus Blut und Trümmern neues Leben schaffen.“132 Kriege, erklärte Bonus 1915 im Kunstwart, stellten verdichte te „Schöpfungszeiten“ dar, in denen sich die geschichtliche Entwicklung und die Ausformung der „Volksseele“ beschleunigten.133 In seiner Deutung wuchs sich der Krieg als kulturnotwendiger Schaffensakt zu einem Fanal der Weltgeschichte und einem Gottesgericht über die deutsche Geschichte aus. Die Kriegsgegenwart zwinge dazu, den wesenhaften „Volksgehalt“ jeder Nation offenzulegen;134 nun würde unter dem Zwang der Ereignisse die innere kulturelle „Tendenz“ eines je den Volkes zum Vorschein treten.135 Wenn Bonus damit die religiös-nationale Entwicklungsfähigkeit auch anderen Nationen zusprach, blieben seine Veröffent lichungen doch darauf zentriert, den „Glauben“ an die Zukunft und die Sendung der deutschen Nation zu untermauern, wie er in der von Adolf Grabowsky heraus schaubaren Gegenwartslage ablehnte. Bonus bezog sich auf seine Bände Zwischen den Zeilen, die er nicht mehr für zeitgemäß hielt. 130 Bonus: Zur neuen Frömmigkeit, in: Die Tat 7/2 (1915/16), 537–549; vgl. zu dem noch konturlosen, im Krieg neu zu schaffenden Kulturmenschen auch die Andeutungen in ders.: Religion als Wille, Jena 1915, 122. 131 Brief Bonus an Johannes Müller, Taufkirchen 20.5.1915 [ebd., 21_003]. 132 Ders.: Himmelfahrt, in: Kunstwart 30/3 (1917), 164–166; ders.: Komm zu uns nieder, Schöpfergeist, in: ebd., 189–191. 133 Ders.: Schöpfungszeiten, in: Kunstwart 28/2 (1915), 182–184. 134 Aus der Vielzahl an Belegen sei eine Passage aus seinem Kriegsbuch angeführt: Reli gion als Wille, 113: „Der Krieg ist […] eine Prüfung an Haupt und Gliedern. Er verjüngt oder stößt in den langen Schlaf“, aus dem die Völker entweder gestärkt erwachen oder „ausge löscht“ werden. 135 Ders.: Zur neuen Frömmigkeit, in: Die Tat 7/2 (1915/16), 537–549, 545.
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gegebenen, reformkonservativen Monatsschrift Das neue Deutschland deutlich machte. Vor seinem schöpfungstheologischen Prospekt wurde „der Wille zur Volkseinheit und -einigkeit bis in den innersten religiösen Grund hinein“ zum Inhalt der Frömmigkeit im Krieg.136 Insofern konnte Bonus zu Kriegsbeginn sei ne Konstruktion eines „deutschen Gottes“ erneuern, mit der die religiösen und nationalen Sehnsüchte der deutschen Nation sanktifiziert wurden.137 Darin, dass Volkstum und Gottheit eng aufeinander bezogen würden, äußerte sich die schöp ferische und auf Zukunft gerichtete Seite des Krieges.138 Bonus hatte seit Kriegsbeginn versucht, seinem evolutionistischen Credo in einem ausführlicheren Entwurf Konturen zu verleihen. Ende 1915 brachte er sein Kriegsbuch Religion als Wille heraus, in dem er eine Prognose über die vom Krieg ausgelösten religiösen Entwicklungen zu liefern suchte. Seine vierte im Diederichs-Verlag erschienene Schrift deutete den Krieg als Motor der ge schichtlichen Entwicklung entlang zweier gedanklicher Linien aus; sie wurde von mehreren gut platzierten Aufsätzen in der Neuen Rundschau, der Tat und der Tageszeitung Der Tag begleitet.139 Erstens formulierte Bonus einen scharfen Bruch gegenüber dem bürgerlichen Vorkriegsprotestantismus, dessen Ober flächlichkeiten in den Kriegsnöten zu tage traten. Der Krieg habe den „Bankrott des Christentums“ in seiner kirchlichen Form offenbart; wer nun noch den christlichen Reden von Gottesliebe und Demut folge, gebe sich der „Trägheit“ oder dem „Schlendrian“ hin.140 Den Krieg konstruierte er als geschichtliches Offenbarungsgeschehen, in dem der Mensch dem deus absconditus begegnete. Angesichts der Härte und der sinnlosen Grausamkeit des Krieges sei der Mensch 136 Ders.: Die unbewußte Religion, in: Das neue Deutschland 3 (1915), 293–296; ders.: Die Moral und die politische Notwendigkeit, in: ebd., 122–126. 137 Ders.: Mißverständnisse, in: Die Hilfe (4.2.1915), 75–77, Zitate 76. 138 In der Auseinandersetzung mit Ragaz sekundierte Wilhelm Stapel Bonus in der Christlichen Welt, indem er darlegte, warum er „zum deutschen Gott bete“, indem er Volkheit, Volkswillen und Volksseele zu göttlichen Gesetzen erklärte. Das deutsche Volk wurde weit über Bonus’ Intentionen hinaus zu dem entscheidenden Instrument des göttlichen Heilsplanes verklärt. Wilhelm Stapel: Warum ich nicht zu Gott, sondern zum deutschen Gott bete, in: CW 29 (1915), 71–72. Zur Volksnomostheologie vgl. Wolfgang Tilgner: Volks nomostheologie; spezifisch zu Wilhelm Stapel Jan Rohlfs: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 2, Tübingen 1997, 400–402. 139 Diederichs versuchte, die Diskussionswirkung des Buches durch ein im Buchhandel und in seiner Tat verbreitetes Flugblatt zu unterstützen, das ähnlich wie ein Thesenpapier die Hauptinhalte des Bandes zusammenfasste (vgl. PK Bonus an Gogarten, Taufkirchen 13.9. 1915 [UB Göttingen, NL Gogarten (48); ein Exemplar liegt vor in: UB Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus]. 140 Bonus: Religion als Wille, 35.50; ders.: Der Krieg und die neue Frömmigkeit, in: Neue Rundschau 26/2 (1915), 836–846; in einer brieflichen Zusammenfassung: Briefdurchschlag Bonus an Oskar Beck, Taufkirchen 6.3.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003].
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der Gegenwart auf „die Seite der Gottheit“ geworfen, die zur Entscheidung und schöpferischen Selbstüberhebung über die Wirklichkeit zwinge. Tod und Ge walt verwiesen den Menschen in aller Deutlichkeit und Härte auf Gott als evo lutive Schöpfungskraft. Im Krieg begegne der Mensch der Gottheit als „Allwil le“ und könne er sich selbst als Teil in den „großen Willenstrom, der nur Leben kennt“, einordnen. Er war für Bonus die Offenbarung des schöpferischen „Welt willens“, in den sich der „Einzelwillen“ hineinstellen müsse, um zum Teil des Schöpfungsgeschehens zu werden. Bonus’ schon in Vorkriegszeiten gegenüber den Moderneerfahrungen entfal tetes Persönlichkeitsideal fand im Krieg seine Zuspitzung. Wie in seinen Vor kriegsschriften ging er von der Willenhaftigkeit des Menschen als Persönlich keit aus, die sich in der Religion über das Dasein in der „genagelten und genie teten Wirklichkeit“ seiner zivilisierten Umwelt hinaus erhebe und zum Schöpfer würde. Er entfaltete einen heroischen Subjektgedanken, der die kraftvolle Tat und die mutige Entscheidung des Einzelnen zum religiösen Ereignis erhob. Sein heroisierender Dezisionismus sollte den Subjektcharakter des Einzelnen im un überschaubaren und steuerlosen Geschichtsverlauf sichern. Das individuelle Wagnis und die individuelle Tat sollten Lebenssinn gegen die kalten Zwänge der Zivilisation vermitteln.141 Gerade im Krieg hielt Bonus es für notwendig, das Leben in seiner vitalistisch verstandenen Dimension als grausam zu erfassen und ihm darin Sinn zu geben. Diesen verlegte er nun zunächst ganz auf die Seite des Individuums, das Sinnhaftigkeit darin erfahre, sich „schaffend und […] als Mitschöpfer“ zu fühlen und sein „Lebenswerk als Offenbarung“ zu ver stehen.142 Das Einstimmen auf den Schöpferwillen und die willenhafte Ausrich tung auf die Entwicklung waren es, die nach Bonus’ Sicht den Kern der kom menden Frömmigkeit ausmachten. Zweitens stellte er den Krieg als einen Klärungsprozess dar, in dem der deut sche „Volksgeist“ an Profil und Deutlichkeit gewinnen sollte.143 Dazu bezog er sich auf die bildungsbürgerlich-protestantische Traditionslinie von Luther, Her der, Goethe und Fichte, wobei Luther als Archetypus der deutschen religiösen Identität galt. Gegen den kritischen Geist der Renaissance, gegen die nivellie renden Werte der Aufklärung, auch gegen den Religionskritiker Nietzsche rückte Luther in Bonus’ Kriegsschrift zum „geistigen Vater nicht der evangeli schen Kirche allein, sondern des neuen Deutschlands überhaupt“ auf.144 Es war eine dreifache Bezugnahme auf den Reformator, die ihn zu der Überzeugung 141 Vgl. zur diesem Gedankengang als ein Charakteristikum der nationalprotestantischen Kriegsdeutung Graf: Der Geist von 1914, 46. 142 Bonus: Religion als Wille, 63.49 f. 143 Ebd., 77 f.93. 144 Ebd., 106 f.
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kommen ließ, dass sich Luthers Kulturwirkung im Weltkrieg zur Klärung des deutschen Nationalbewusstseins eignen würde. Zum einen hatte Luther im Ge gensatz zum späteren Liberalismus das „Prinzip aller wahren Freiheit“ in der „Idee von der Freiheit des Christenmenschen“ begründet, die Bonus als freie, pflichtbeseelte Gemeinschaftseinordnung des Einzelnen deutete.145 Zum zwei ten nahm er die Reformation als Ursprung des deutschen Idealismus in An spruch, der für Bonus im sittlichen „Ernstnehmen“ bestand; Wissenschaftsgeist und philosophische Gedankenschwere waren hier die Auswirkungen. Und schließlich hatte das lutherische Gemeinschaftsideal den Weg zu einem deut schen, nicht revolutionären Sozialismus geebnet. In dem an Luther anknüpfen den Weg der deutschen Kultur erblickte Bonus das Zukunftsprinzip der „Welt organisation“, nun religiös begründet, das sich im freiheitlichen Nebeneinander von in respektvoller Spannung gegenüberstehenden Volkspersönlichkeiten rea lisieren würde. Er hatte damit eine Begründung für einen idealistischen Natio nalismus geliefert: „Wir dürfen […] wieder das Volkstum betonen als die eigent liche, wohlorganisierte, feststehende, natürliche Grundlage aller Gedanken, die auf eine Organisation der Menschheit gehen“.146 Bonus’ Lutherdeutung berührte sich in ihrer Betonung von Organisation und kriegssozialistischem Gemeinschaftsgeist mit den „Ideen von 1914“, ohne diese explizit zu nennen. Sie knüpfte auch an die mit Gogarten anhand Plancks Testament eines Deutschen entwickelte Vorstellung einer universellen historischen Bedeutung des deutschen Kriegseinsatzes als einer für den Kulturfortschritt Europas ausgefochtenen Mission an. In Vorbereitung des Lutherjahres 1917 er neuerten Bonus und Gogarten in Verbindung mit Karl König diese Deutungs linien im Blick auf den Reformator noch einmal. Gogarten und König hatten im Sommer 1917 begonnen, als Gegenstück zu der ihnen zu „theologischen“ Luthe rausgabe Rades einen eigenen Entwurf zusammenzustellen.147 Unter Mitarbeit von Bonus erschien diese Auswahl als Einleitung des Reformationsheftes im Kunstwart 1917.148 Die spätere Wende Gogartens zur dialektischen Theologie zeichnete sich in dieser Lutherauswahl noch nicht ab, die ganz ohne Sündenund Rechtfertigungstheologie auf das schaffende Gotteswort, den schöpferi 145
Ebd., 108.119 f. Ebd., 82. 147 M artin R ade: Luther in Worten aus seinen Werken, Berlin 1917; vgl. Brief Gogarten an Bonus, Bremen, 26.8.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.07]: Rades Auswahl sei „viel zu theologisch“ und habe „nicht genügend Witterung für die ganz neuen u. eigentlich treibenden, aber nur blitzartig aufleuchtenden Gedanken Luthers“; diese unterschwellig er kennbare Dimension der Luther’schen Theologie zu haben wäre die Aufgabe der mit König erarbeiteten Gegenauswahl. 148 Friedrich Gogarten, Lutherworte, in: Kunstwart 31/1 (1917), 77–83. 146
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schen Glauben und das Leben als Erhebung aus den Daseinszwängen verwies.149 Sie führte weg von den spekulativen „Geschichtsphilosophien“ der ersten Kriegsjahre zum religiösen Erleben als solchem.150 Auch wenn Luther als spezi fisch deutscher Reformator dargestellt wurde, unterschied sich diese Lutherdeu tung von den nationalprotestantischen Traditionslinien, die in Luther den Urhe ber einer deutsch-protestantischen Kulturblüte erblickt hatten. Sie hatte einer seits das Ziel, gegenüber dem Kirchlich-„Abgedroschenen“ wieder den „vollen Klang“ der religiösen Sprache Luthers zu erheben, war aber auch voll Bewun derung dafür, „wie tief Luther den Gedanken der Ordnung gedacht hat“, wie Gogarten Bonus mitteilte, versuchte also in Luther Anknüpfungspunkte für ein gegen den Wilhelminismus gerichtetes Frömmigkeits- und Gesellschaftsideal zu finden.151 Einig war man sich darin, dass mit Luther jeder Anklang an „Knechtseligkeit“ zu vermeiden war.152 Ähnlich wie Bonus betonte Gogarten die Bedeutung des Kriegssozialismus als Erbe der lutherischen Sozialethik, die die „Verantwortlichkeit“ des Einzelnen für das Gesamt gepredigt habe.153 König ließ seine nationale Lutherdeutung in einen Diederichs-Band Vom Geiste Luthers des Deutschen einfließen, der ihm von Heinrich Weinel vermittelt die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät Jena einbrachte.154 Bonus selbst verfasste für das Reformationsjahr einen zweiteiligen Lutheraufsatz, der im Kunstwart als ausführlichster Beitrag neben Stellungsnahmen von Ernst Tro eltsch, Paul Natorp, Ferdinand Tönnies und Heinrich Weinel erschien. Er stellte Luther als „Vollender und Neuanfänger“ an den Übergang von Mittelalter und Neuzeit, an dem der Reformator das Erbe der deutschen Mystik eingefangen und als „Anfänger einer Zukunft“ mit einem neuen Ordnungsverständnis ver bunden habe.155 Luther wurde nicht, wie etwa bei Troeltsch, dem Beginn des modernen Protestantismus vorgeordnet, sondern zum Vorboten des sich erst in 149 Zwischenüberschriften wie „Schaffender Glaube“ oder „Aus ewigem Grunde leben“ deuteten darauf hin, dass hier Luther ganz im Bonus’schen Sinne gelesen wurde. Die nach K roeger (Gogarten, 177–184) mit dem Lutherstudium 1916/17 beginnende theologische Wende Gogartens lässt sich hier m. E. noch nicht erkennen. 150 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 19.1.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.07]. 151 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 16.8.1917 [ebd., 01_061.07]. 152 Brief Bonus an Gogarten, 23.8.1917 [UB Göttingen, NL Gogarten (56)]. 153 Gogarten: Die Reformation und der soziale Gedanke, in: Die Reformation und wir. Ein Bekenntnis zu evangelischem Deutschtum, Wilhelmshaven 1918, 88–103. 154 K arl König: Vom Geiste Luthers des Deutschen, Jena 1917. Die Verleihung des Dok torgrades erfolgte unter Anerkennung von Königs Arbeit für einen freien, volkskirchlichen Protestantismus in der nach Kriegsende begründeten Thüringischen Landeskirche ausdrück lich unter Verweis auf dieses Buch, vgl. Brief Weinel an König, Jena 12.3.1921 sowie den weiteren, die Promotion begründenden Briefwechsel [LKA Eisenach, NL König, 81_003]. 155 Bonus: Vollender und Neuanfänger, in: Kunstwart 31/1 (1917), 115–120.146–149.
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der Gegenwart erhebenden Ordnungsbegriffs erklärt. Luther und die deutsche Reformation zeichneten sich nach Bonus’ Ansicht durch die „einfache mythi sche Grundstellung, die scharfe Wendung zu geschichtlicher Kulturarbeit, das rein sachlich gearbeitete Gemeinschafts- und Staatsideal“ aus, womit für Bonus die Sonderstellung der Reformation als eigenständigem deutschen Freiheits gedanken in religiöser wie staatlicher Dimension begründet war.156
3. Reaktionen auf Bonus’ Kriegstheologie Bonus’ Äußerungen erschienen in einer Phase, in der sich die Spannungen zwi schen liberalem und konservativem Protestantismus trotz der innerkirchlichen Waffenruhe im Kriegszustand wieder vermehrten. Sie trugen zu einer Vertie fung der Auseinandersetzungen bei; theologiegeschichtlich verweisen sie auf die Uneinheitlichkeit protestantischer Theologien während der Kriegsjahre. Das Umfeld der Christlichen Welt rezipierte Bonus als einen aus den eigenen Reihen stammenden Vertreter des Kunstwart-Geistes und der Anliegen von Eugen Die derichs und bezog sich dabei vorrangig auf den dort angesiedelten nationalkul turellen Idealismus. So stellte etwa Hermann Mulert anläßlich einer Rezension von Gogartens Flugschrift Religion und Volkstum die Verbindung zu Bonus her, der wie Fichte und Lagarde eine nationale Erneuerung durch eine Hinwendung zu Idealismus und Innerlichkeit anstrebe. Bonus und Gogarten wurden als Reli gionsdeuter beurteilt, die trotz der allgemeinen Kriegsemphase der Erkundung des religiösen Erlebens den Vorrang vor den politischen Ereignissen gaben und sich in der Ablehnung „nationalistischer Hassespredigt“ vereinigten.157 Im Sommer 1915 brachte Mulert unter dem Titel Der Christ und das Vaterland eine ausführliche Positionsbestimmung zum Verhältnis von Patriotismus und Chris tentum heraus, die eine Grundsatzbetrachtung zu der im Krieg virulent gewor denen Beziehung von Christentum und Volkstum enthielt.158 Aus Vorlesungen im ersten Kriegssemester an der Universität Berlin hervorgegangen, lieferte Mulerts Buch eine erste intensivere Darstellung völkisch-religiöser Strömungen 156
Ebd., 148; vgl. zu dieser Sichtweise in der Auseinandersetzung mit Leonhard Ragaz: Der Geist Luthers erwacht. Eine schweizerische Weissagung, in: CW 30 (1916), 744– 754. Gogarten übermittelte Bonus die völlige Zustimmung zu seinem Reformationsaufsatz, den er „sehr gerne“ habe (Brief Gogarten an Bonus, 16.8.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.07]). 157 H ermann Mulert: Religion und Volkstum. Eine Auseinandersetzung mit Gogarten, Lippert und Scheler, in: CW 29 (1915), 636–641. 158 Ders.: Der Christ und das Vaterland, Leipzig 1915, 104–106. Mulert hatte sich beson ders mit Lagarde ausführlich befasst, vgl. ders.: Paul de Lagarde, Berlin-Schöneberg 1913. Mulert wies Bonus brieflich auf das Erscheinen seines Buchs hin (Brief Mulert an Bonus, Berlin 18.9.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003]). ders.:
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aus protestantischer Feder.159 Der völkische Antisemitismus sowie die Bemü hungen um eine vom Christentum abgelöste deutsche Religionsform markierten eine Rezeptionsgrenze, die Mulert nicht zu überschreiten bereit war, doch wa ren auch Anknüpfungsmöglichkeiten insofern gegeben, als Mulert völkischen Autoren wie Friedrich Lange ein patriotisches Streben nach „idealer Gesin nung“ zuschrieb, das er für förderlich für die sittliche Erneuerung der Nation hielt.160 Eine Partikularisierung des Weltchristentums in Nationalchristentümer und die Rede von einer „deutschen Religion“ hielt er jedoch ebenso für Fehl wege wie rassentheoretische Begründungszusammenhänge einer spezifisch „deutschen Frömmigkeit“. Von einer Verknüpfung von Deutschtum, Reforma tion und christlicher Volkskultur als „deutsches Christentum“ ließ sich nur im Sinne einer historisch ableitbaren Verbindungslinie sprechen. Bonus’ Theorien wurden in diesem Zusammenhang relevant, von Mulert aber ausdrücklich von dem Stichwort der Germanisierung und von völkisch-nationalreligiösen Rezep tionsmustern abgelöst. Vielmehr bezog er sich auf dessen Glaubensverständnis als einer schöpferisch-heroischen Lebenshaltung, die Mulert als neuprotestanti sches Gedankengut auch bei Johannes Müller wiederfand.161 Im Ideal einer brei ten, sich durch Gemeinschaftswerte und patriotischen Geist auszeichnenden „Volkskirche“ berührte er sich mit Bonus’schen Gedankenreihen. Eine ähnliche Stellung wie Mulert angesichts der neuerwachten Kriegsfrömmigkeit nahm eine Broschüre über Das deutsche Christentum im Kriege von Martin Schian ein, die Bonus’ Anliegen gegenüber der germanisierenden Neureligion des Wagnerianers Ernst von Wolzogen abgrenzte. Auch hier traf man auf eine kriegstypische Mischung von deutschem Idealismus und Christentum, obwohl Schian eine religiöse Überhöhung des Krieges und den Gedanken einer beson deren Sendung Deutschlands zurückwies.162 Besonders Bonus’ Kriegsbuch Religion als Wille hatte eine polarisierende Wirkung. Von kulturprotestantischer Seite erhielt es überwiegend außerhalb der theologischen Fachorgane zustimmende Besprechungen, die sich vorrangig auf Bonus’ Verarbeitung des „Geistes von 1914“ und die Ankündigung einer nationalkulturellen Selbstklärung bezogen.163 Friedrich Niebergall etwa signa 159 Ebd., 106–115. Mulert führte als völkische Autoren Friedrich Lange, Theodor Fritsch, Otto Sigfrid Reuter, Oskar Michel und Wilhelm Schwaner jeweils mit einer kurzen Charak terisierung und Nennung ihrer Hauptwerke auf. 160 Ebd., 106. 161 Ebd., 218 f. Mulert bezog sich neben Bonus und Müller noch auf Julius Burggraf, Paul Graue, Max Christlieb, Sigismund Rauh und Friedrich Gogarten. 162 M artin Schian: Das deutsche Christentum im Kriege, Leipzig 1915, 46.51. 163 Die Rezensionsmappen des Diederichs-Verlages verzeichnen insgesamt 47 Rezensio nen des Werks [UB Jena, NL Diederichs, Rezensionsmappen Arthur Bonus].
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lisierte in der Deutschen Literaturzeitung dahingehend Zustimmung, dass der Krieg eine Religion „ohne sittliche Heuchelei“ erfordere. Wichtiger war ihm Bonus’ Darstellung der Reformation als Symbol für ein deutsches Freiheits ideal, mit dem das Deutschtum einen Beitrag zur „Entwicklung zur Höhe der Welt“ geleistet habe.164 Auch ein pazifistisch gesonnener liberaler Theologe wie der Berliner Pfarrer Walther Nithack-Stahn konnte sich auf Bonus’ Entwurf ein lassen. Die von Bonus angedeutete „germanische Religion der persönlichen Freiheit und sozialen Organisation“ registrierte er mit Zustimmung; er teilte Bonus’ Ansicht, dass die „kommende Menschheitsreligion“ „deutsch-national“ bestimmt sei.165 Die von Bonus aufgezeigten Kulturaufgaben des deutschen „Volksgeistes“ wurden auch in kürzeren Buchanzeigen von Hermann Mulert166 und Heinrich Scholz167 positiv angesprochen. Theologische Zeitschriften wie die Christliche Welt oder die Theologische Literaturzeitung hingegen lenkten den Blick eher kritisch auf Bonus’ Religionsverständnis und äußerten sich ab lehnend zu seinem Dezionismus und der kriegerischen Willensmetaphysik. Für den Augustinus-Forscher Wilhelm Thimme hatte Bonus richtig erkannt, dass die kirchliche Auffassung einer „Religion weichherziger Liebesmoral“ den christlichen Glaubensbegriff nur unzureichend einfangen konnte. Zugleich hat te Bonus selbst in seinen Augen durch bloß „flüchtige“ Verweise auf den deut schen „Idealismus“ und aufgrund seiner einseitig religionspsychologischen Wahrnehmung der Religion als heroisches Wagnis ein „Zerrbild“ des gegen wärtigen Protestantismus geliefert.168 Ähnlich ablehnend äußerte sich der hessi sche Pfarrer Otto Herpel in der Christlichen Welt, der Bonus allerdings „Spür sinn“ für die psychologischen Grundkräfte des religiösen Erlebnisses zu 164 Friedrich Niebergall: Rez. Religion als Wille, in: Deutsche Literaturzeitung 38 (22.9. 1917), 1183 [ebd.]. 165 Walther Nithack-Stahn: Rez. Religion als Wille, in: Vossische Zeitung (Morgen- Ausgabe v. 4.2.1916); vgl. ähnlich ders.: Rez. Religion als Wille, in: Das literarische Echo, 15.3.1916 [beides ebd.]. Zu Nithack-Stahn vgl. Philippe A lexandre: Liberté du chrétien et progrès de la civilisation. L’engagement pacifiste dans le milieu protestant allemand à l’épo que de Guillaume II, in: Michel Grunewald (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, Bern 2008, 207–237, 213 f. 166 H ermann Mulert: Rez. Religion als Wille, in: Die Hilfe Nr. 43 (26.10.1916), eine Kurz anzeige unter der Rubrik „Büchertisch“ [ebd.]. 167 H einrich Scholz: Rez. Religion als Wille, in: Tägliche Rundschau (Morgen-Ausgabe v. 28.11.1915) [ebd.]. Zu Scholz vgl. A rie L. Molendijk: Aus dem Dunklen ins Helle. Wissen schaft und Theologie im Denken von Heinrich Scholz, Amsterdam 1991; als Kriegsschriften von Scholz mit thematischer Berührung vgl. ders.: Der Idealismus als Träger des Kriegsge dankens, Gotha 1915; ders.: Der Krieg und das Christentum, Gotha 1915; beides entstanden als Perthes’ Schriften zum Weltkrieg, Bde. 3 und 7. 168 Wilhelm Thimme: Rez. Religion als Wille, in: ThLZ 41 (1916), 255–256. Zu Thimme vgl. Achim K rümmel: Art. Thimme, Wilhelm, in: BBKL 11 (1996), 1231–1233.
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sprach.169 Letzteres betonte auch der freireligiöse Bildungsreformer Otto Kiefer, ein Egidyaner, der Bonus’ Buch von der üblichen pastoralen Weltkriegsliteratur abhob und ihm zusprach, seine Darstellung des religiösen Erlebens stimme mit dem „Kern des Christentums mehr überein als Durchschnittgläubige ahnen“.170 In konservativen und pietistischen Blättern wurden seine Äußerungen als un geklärte Reaktionen auf das „völkische Hochgefühl“ der Kriegstage wahrge nommen.171 Der der Jugendbewegung nahestehende Theologe Eberhard Arnold besprach Bonus’ Schrift im Zusammenhang einer ausführlichen Darstellung der deutschreligiösen Literatur in der Zeitschrift Die Furche.172 Hier wurde Bonus als ein Diederichs-Autor wahrgenommen, den Arnold von völkisch-reli giösen Vordenkern wie Theodor Fritsch, Wilhelm Schwaner oder Chamberlain abgrenzte, da dieser „mit ungleich größerer Kraft und mit tief empfundenem, religiösem Bewußtsein“ nach „deutscher Religion“ suchen würde. In diesem Kontext verglich er Bonus mit dem religiösen Idealismus Rudolf Euckens. Ar nold äußerte Verständnis für Bonus’ Bestrebungen, nicht ein „Christentum mi nus einige Dogmen“ zu schaffen, sondern sich dem Kern des religiösen Erle bens zu nähern; das würde aber nur ein „lebendiges Christentum“ ermöglichen. Auch ein Band in der Reihe Biblische Zeit- und Streitfragen zum Verhältnis von deutschem Glauben und christlichem Bekenntnis verwies auf Bonus und bezog seine Äußerungen zutreffend auf die Ideenwelt Paul de Lagardes.173 Wie Lagar de, Ernst Troeltsch oder Friedrich Lienhard strebe Bonus nach einer „Verjün gung des deutschen Wesens aus seinen Tiefen“, zu der für den Rezensenten aber auch eine christliche Erneuerung notwendig war.
169 Otto H erpel: Rez. Religion als Wille, in: CW 29 (1915), 1049–1050. H erpel gab wäh rend des Krieges eine kritische Übersicht über die patriotische Kriegslyrik heraus: Die Fröm migkeit der deutschen Kriegslyrik, Gießen 1917. 170 Otto K iefer: Rez. Religion als Wille, in: Berliner Tageblatt (Morgen-Ausgabe v. 28.2.1916) [ebd.]. 171 K arl Gombel: Naturmacht oder sittliche Macht?, in: Deutsch-Evangelisch 7 (1916), 451–459. Gombel war in der gleichen Zeitschrift als Chamberlain-Rezensent hervorgetreten: ders.: Houston Stewart Chamberlain und das Alte Testament, in: Deusch-Evangelisch 2 (1910), 649–663; vgl. J. Genähr: Rez. Religion als Wille, in: Kirchliche Rundschau für die Gemeinden Rheinlands und Westfalens 31 (1916), 21–23. 172 Eberhard A rnold: Aus der Kriegsliteratur. Die neue deutsche Religion, in: Die Fur che. Evangelische Monatsschrift für das geistige Leben der Gegenwart 6 (1916), 270–274, zu Bonus 273 f. Arnold gehörte nach dem Krieg zu den Begründern der jugendbewegten Neu werk-Bewegung; zu Arnold und dem Vogelhof vgl. M arkus Baum: Eberhard Arnold. Ein Leben im Geist der Bergpredigt, Schwarzenfeld 2013. 173 Johannes M eyer: Deutscher Glaube und christliches Bekenntnis, Lichterfelde 1915, 183 f.; vgl. Lic. Lauerer: Rez. Religion als Wille, in: Theologisches Literaturblatt 37 (1916) [ebd.].
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Bonus’ Nationaltheologie und sein psychologisierendes Glaubensverständnis verhalfen seinen Veröffentlichungen vor dem Hintergrund der sich seit 1916 wieder verstärkenden innerprotestantischen Konflikte zu einem erhöhten Be kanntheitsgrad. Dafür sorgten die Angriffe des westfälischen Generalsuper intendenten Wilhelm Zoellner, die der liberalen Theologie insgesamt galten, dabei aber Bonus als ein Beispiel für die Verwirrung theologischer Urteilsprin zipien innerhalb des freien Protestantismus anführten. Zoellner hatte die Ge gensätze auf die „rabiate Formel“ zugespritzt, dass sich in den evangelischen Kirchen „zwei entgegengesetzte Religionen“ gegenüberstünden.174 An Johan nes Müllers Kriegsreden und Bonus’ Religion als Wille exemplifizierte er, dass sich im Umfeld des freien Protestantismus eine individualistische Frömmigkeit herausgebildet hatte, die keinen Bezug mehr zu Jesus Christus aufwies und da mit nicht mehr als christlich gelten konnte.175 Schon 1914 war die Formel von „zwei Religionen“ als Nachwirkung der Fälle Jatho und Traub in der Christ lichen Welt debattiert worden, nachdem der Kieler Generalsuperintendent Theodor Kaftan auf grundlegende Differenzen im christologischen Verständnis und der Ekklesiologie zwischen dem konservativen Luthertum und der theo logischen „Linken“ verwiesen hatte.176 Dabei wurde auf die etwa von Ernst Troeltsch formulierte Scheidung von Alt- und Neuprotestantismus zurückge griffen.177 Zoellner erneuerte diese Gegenüberstellung auf der Sommersitzung der Allgemeinen Lutherischen Konferenz im August 1916 im Zuge der Neu ordnungsdebatten der evangelischen Kirchen für die Zeit nach dem Krieg. Die Kriegsfrömmigkeit hatte nach Zoellners Ansicht die „Kluft“ zwischen Be kenntnischristentum und Gebildetenfrömmigkeit eher vertieft als diese ein zuebnen. Bonus’ Kriegsschrift galt ihm als Beispiel einer christentumsfreien Mystik, die eine kirchliche Rückanbindung nur noch in ihrer Forderung einer neureligiösen „Umdeutung“ das Christentum besaß und den Geist des Neuen Testaments völlig verfehlte. Konsequenterweise empfahl Zoellner die Ausglie 174 So der verärgerte Bericht von Wilhelm H errmann: Zöllners Reformvorschlag, in: CW 30 (1916), 743–744. 175 Wilhelm Zoellner: Der Zwiespalt in der Kirche und ein Versuch zu seiner Lösung, in: AELKZ 49 (1916), 782–788.802–808, 784–787; Zoellner bezog sich auf: Johannes Müller: Reden über den Krieg, Bd. 5: Der Krieg als religiöses Erlebnis, München 1916. Neben Reli gion als Wille bezog Zoellner sich kenntnisreich auf den Bonus-Band Vom neuen Mythos. 176 Vgl. Theodor K aftan: Zwei Religionen? Ein Wort zur Klärung, in: AELKZ 47 (1914), 437–443 sowie ders.: Unsere Antwort zu den Stimmen aus dem anderen Lager über die ‚Zwei Religionen‘. Eine Replik, in: ebd., 698–704: in der Christlichen Welt wurde die Diskussion als offener Briefwechsel zwischen Kaftan und Rade geführt: CW 28 (1914), 526–527.586– 590.729–731.750–753.828–830. 177 Dazu v. a. M artin R ade: Zwei Religionen? Offner Brief an Herrn Generalsuperinten denten D. Theodor Kaftan in Kiel, in: CW 29 (1914), 586–590.
II. Der Krieg als religiöses Ereignis
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derung des freien Protestantismus aus der Landeskirche und die Begründung von liberalen Minoritätsgemeinden außerhalb der bekenntnisorientierten „Kir che der Gläubigen“.178 Zeichnete sich hier einerseits die Auflösung des kirchlichen „Burgfriedens“ unter den sich verschärfenden Kriegsbedingungen ab, stellten solche Stellung nahmen für den Religionspolitiker Bonus ein Problem dar, sprach er doch bei aller Überspitzung ein religiöses Spektrum an, das sich noch immer auf den kirchlichen Protestantismus bezog. Dank Zoellner, so Martin Rade, wurde Bonus nun häufig als theologischer Problemfall „durch die kirchliche Presse gezogen“ und neben Johannes Müller, Jatho und Traub zum Exponenten einer außerkirchlichen Religiosität erklärt.179 Auch Gogarten fiel in Einzelfällen sol chen Angriffen zum Opfer.180 Belastender war es, dass aus dem kulturprotes tantischen Lager durch den Grazer Gymnasialprofessor Karl Sapper Ablehnung laut wurde, der ähnlich wie Zoellner Bonus und Müller als Repräsentanten einer modernen, individualistischen Frömmigkeitsrichtung aufführte und Bonus’ Vorstellungen als „nicht mehr christlich“ bezeichnete.181 Zoellner wie Sapper lehnten Bonus’ Glaubensverständnis ab, das den Kern des religiösen Gesche hens als Erlebnis und als seelischen Vorgang fasste. Eine christologische Di mension fehlte dieser Theologie fast völlig, in der Jesus nicht mehr als Heils mittler, sondern als exemplarisches historisches Vorbild für die Möglichkeit ei nes schöpferischen Erfasstwerdens des heroischen Einzelnen fungierte. Bonus verwahrte sich allerdings gegen diese Aussonderungen aus dem Christentum. Seiner Klarstellung in der Christlichen Welt zufolge wollte er nichts anderes als „den Geist des biblischen Christus“ in die Sprache und die Weltempfindung der Moderne übersetzen. Ihm war es um die christliche Glaubenshaltung zu tun, die 178
Wilhelm Zoellner: Der Zwiespalt in der Kirche und ein Versuch zu seiner Lösung, 808. Zoellners „Sturmvortrag“ wurde auch in der EKZ 90 (1916), Nr. 40–41 sowie mehrmals im Kirchlichen Jahrbuch aufgegriffen, vgl. ders.: Probleme und Aufgaben in: KJ 42 (1915), 1–16; dort 5 f. zu Bonus, der das Christentum völlig ablehne. Zur kirchenrechtlichen Dimen sion der Verhandlungen vgl. Sun-Ryol K im: Die Vorgeschichte der Trennung von Staat und Kirche, 236 f. 179 Rade leitete entsprechende Artikel und Besprechungen an Bonus weiter und gab der Auseinandersetzung in der Christlichen Welt Raum (Postkarten Rade an Bonus, Marburg 20.1.1917 und 26.1.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]). 180 Brief Bonus an Gogarten, 26.12.1916 [UB Göttingen, NL Gogarten (53)] unter Bezug nahme auf eine Rezension des Diederichs-Bandes von Walter Lehmann: Deutsche Fröm migkeit, Jena 1917 in der Kreuzzeitung. Gogarten wollte Bonus sekundieren, der ihm von Rades Einschätzung und der wachsenden Empörung in den Kirchenzeitungen berichtete (Brief Bonus an Gogarten, 26.1.1917 [ebd. (54)]; Brief Gogarten an Bonus, Bremen 6.3.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.07]). 181 Karl Sapper: Der Werdegang des Protestantismus in vier Jahrhunderten, München 1917, 341 f.
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er als die „Religion des freiwandelnden Geistes“ verstand.182 Gogarten pflichte te dem bei; ihm zu folge kam bei Sapper die „theologische Oberflächlichkeit vulgaris“ der liberalen Theologie zu Ausdruck, die aufgrund ihrer historisti schen Verankerung die von ihm und Bonus erstrebte Neufassung des Christen tums als intensives Erlebnis nicht nachvollziehen konnte.183
III. „Sachliche Staatsgestaltung“ und nationaler Sozialismus: Reformvorschläge am Ende des Krieges Im Kriegsjahr 1916 hatte sich der deutschen Öffentlichkeit gezeigt, dass die in Folge des „Augusterlebnisses“ geschlossene Deutungsgemeinschaft im Bil dungsbürgertum nicht von Dauer war und die als „Burgfrieden“ bezeichnete Geschlossenheit, unter der die konfessionellen, politischen und sozialen Gegen sätze beigelegt schienen, auf einer Fiktion beruhte. Mit dem stockenden Front geschehen und in den Auseinandersetzungen um den inneren Neubau des Reiches in der Zeit nach dem Krieg begannen die schon vor Kriegsausbruch vorhandenen gesellschaftlichen Gegensätze wieder aufzubrechen. Das Bil dungsbürgertum zerfiel in polarisierende Lager, die zumeist mit Klaus Schwabe typisierend als annexionistische Imperialisten und eher reformorientierte Nau mannianer charakterisiert werden, wobei diese Zweiteilung bezüglich der von den Gebildeten entwickelten innenpolitischen Ordnungsvorstellungen deutlich zu differenzieren ist.184 Unzweifelhaft bewirkten die Gegensätze eine Politisie rung im bürgerlichen Spektrum, die sich auch am Umfeld von Bonus beobach ten lässt. Die „Politik der Diagonale“, mit der die Regierung unter Reichskanz ler Theobald von Bethmann Hollweg zwischen den politischen Lagern zu ver mitteln suchte, geriet von verschiedenen Seiten aus unter Druck. Neben Reformforderungen formierte sich von rechts eine scharfe Kritik am Reichs
182 Bonus: Erklärung, in: CW 31 (1917), 156; ders.: Die ‚andre Religion‘, in: ebd., 339– 345; K arl Sapper: Gegenerklärung, in: ebd., 156–157. 183 Brief Gogarten an Bonus, Bremen 6.3.1917 [ebd.]; Bonus hatte ihm seine Gegenerklä rung zur Begutachtung vorgelegt. 184 K laus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral, Göttingen 1969; ders.: Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus in der deutschen Professorenschaft im Ersten Weltkrieg, in: VfZG 14 (1966), 105–138; Gottfried Niedhart: Kriegsende und Friedensord nung als Problem der deutschen und internationalen Politik 1907–1927, in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg, München 1974, 178–190, vgl. aber die Diskission bei Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat: Die „Ideen von 1914“ und die Neu ordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2001; M arcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000.
III. „Sachliche Staatsgestaltung“ und nationaler Sozialismus
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kanzler, in der sich tonangebend der Alldeutsche Verband hervortat.185 Wie Martin Rade Bonus mitteilte, nahm er als Linksliberaler im Frühherbst 1916 eine schwere innenpolitische „Krisis“ wahr, die durch die heftige Propaganda gegen den Reichskanzler mitunter „beängstigende Dimensionen“ annahm.186 Ende November 1916 brachte er die gegensätzlichen Positionen, die auch inner halb der liberalen Parteien zu bemerken waren, auf die knappe Formel: „Hie U-Boot-Leute, dort Pazifisten!“187 Im Laufe des Jahres 1917 verfestigten sich diese Gegensätze. Als Sprachrohr einer radikalnationalistischen Opposition wurde im August 1917 die ‚Deutsche Vaterlandspartei‘ gegründet, die mit hohem propagandistischen Aufwand und einiger Resonanz im protestantischen Kleinbürgertum einen annexionistischen Siegfrieden herbeiführen wollte.188 Im Dezember 1917 formierte sich daraufhin im ‚Volksbund für Freiheit und Vaterland‘ eine Gegenbewegung, die die hyper nationalistische Agitation eindämmen wollte und für eine Wahlrechtsreform in Preußen und einen Verständigungsfrieden eintrat.189 Mit Hans Delbrück, Ernst Troeltsch, Lujo Brentano, Friedrich Meinecke, Gerhard von Schulze-Gävernitz, Alfred und Max Weber, Theodor Heuss, Otto Baumgarten und Adolf Harnack sympathisierten oder beteiligten sich zahlreiche Professoren und Publizisten an der Arbeit des Volksbundes, die schon im Evangelisch-sozialen Kongreß koope riert hatten. Auch Ferdinand Avenarius war 1917 dem Vorstand des Volksbundes für Freiheit und Vaterland beigetreten, dessen Zielsetzungen im Kunstwart an klangen.190 Obwohl auch in diesem Bündnis ein prägnant formulierter Nationa lismus dominierte, trat nun die Frage nach der staatlichen Zukunft und einer 185 Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die Regierung Bethmann Hollweg und die öffentliche Meinung 1914–1917, in: VfZ 17 (1969), 117–159; Edgar Hartwig: Alldeutscher Verband (ADV) 1891–1939, in: Dieter Fricke: Die bürgerlichen Parteien, Bd. 1, 1–16; Heinz H agenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997. 186 Postkarte Rade an Bonus, Marburg 20.9.1916 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]; vgl. auch seine Stellungnahme: Politische Extravanganzen. 7. Zur äußeren und inneren Lage, in: CW 30 (1917), 839–844. 187 Postkarte Ewald Stier an Rade, Marburg 21.11.1916, Rade hatte die Karte mit Ergän zungen an Bonus weitergeleitet; dort das Zitat [ebd.]. 188 Zur sozialgeschichtlichen Einordnung der Vaterlandspartei s. H einz H agenlücke: Deutsche Vaterlandspartei, 188 ff.; H ans-Ulrich Wehler: Wilhelminischer Honoratioren klüngel oder protofaschistische Massenbewegung: Die ‚Deutsche Vaterlandspartei‘ von 1917/ 18, in: ders.: Politik in der Geschichte, München 1998, 172–177; Steffen Bruendel: Volksge meinschaft oder Volksstaat, 149 f. 189 Robert Ullrich: Volksbund für Freiheit und Vaterland (VFV). 1917–1919, in: Dieter Fricke: Die bürgerlichen Parteien, Bd. 2, 794–798; Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volks staat, 150 f. 190 Avenarius: In Sachen der Alldeutschen und auch in eigner Sache, in: Kunstwart 32/1 (1918), 107–109.
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möglichen innenpolitischen Reform in den Vordergrund.191 Jetzt wurde eine „Zeitenwende für unser Vaterland“ in Form von Mitbestimmungsrechten und Formen der bürgerlichen Beteiligung eingefordert.192 Auch Bonus empfahl, die „Sprungbereitschaft“ für politische Veränderungen aufzubringen.193 Von der zweiten Jahreshälfte 1916 an äußerte er sich im Kunstwart verstärkt politisch- gesellschaftlich. Seine Stellungnahmen deuten auf eine wachsende politische Mobilisierung in der zweiten Hälfte des Weltkrieges hin, aus der eine teilweise Revision seiner nationalistisch-religiösen Vorstellungen aus den ersten Kriegs jahren hervorging, durch die seine kulturellen Ideale zwar nicht verdrängt, nun aber mit Nachdruck als Reformansätze gegen den tatsächlichen Zustand der deutschen Gesellschaft eingesetzt wurden. Die idealistisch-religiöse Deutsch tumsemphase blieb erhalten, eine Sozialreform jenseits des Kapitalismus, die patriotische erzieherische Verständigung mit dem „Osten“, das Recht der natio nalen Minderheiten im Deutschen Reich und der „Volksstaat“ wurden die The men, für die er als Redakteur im Kunstwart mit Nachdruck warb, der nun zu seiner fast ausschließlichen Publikationsplattform wurde.194 Angesichts der inneren Differenzen knüpfte Bonus an den vermeintlich über parteilichen Einheitsgeist des Sommers 1914 an, indem er darum warb, die „Trennung in ‚Reichsfreunde‘ und ‚Reichsfeinde‘“ nicht erneut aufbrechen zu lassen. Die Bildung eines „gesicherten Kultur-Deutschlands“ in den Händen der geistigen Eliten, im Sinne einer idealistischen Reform der Nation jenseits von chauvinistischen Parolen stellte in seinen Augen das Gebot der Stunde dar.195 Im Zuge der innenpolitischen Reformdebatten wies Bonus nachdrücklich die „Klassen- und Standes-, Willkür- und Bevormundungspolitik“ des wilhelmini schen Deutschlands ab, die dem Ansehen im Ausland schadete, aber mehr noch den inneren Gemeinschaftsgeist aufzulösen drohte. Der Ausschluss ganzer Volkskreise und Parteien von der Staatspolitik, so Bonus, führte zu Distanz gegenüber dem deutschen Staat; durch den „widerwärtigen Tonfall“ der „preu ßischen Schneidigkeit“ wurde ein unpolitischer Untertanengeist zementiert, den es rasch zu überwinden galt. Die polnischen und dänischen Minderheiten im Staat mussten gleichberechtigt werden; das Elsass musste verfassungsrechtlich 191
Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, 227–232; K ratzsch: Kunstwart, 365. [Anonym], Zeitenwende für unser Vaterland, in: Kunstwart 30/4 (1917), 129–131; ähn lich Wolfgang Schumann: ‚Neuorientierung‘ als Schlagwort und als Sache, in: Kunstwart 30/2 (1917), 61–66; vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 238 f.; K ratzsch: Kunstwart, 387. 193 Bonus: Kraft zur Schicksalsgestaltung, in: Kunstwart 30/3 (1917), 27–29. 194 Ders. [T]: Zur Frage des Parlamentarismus, in: Kunstwart 32/1 (1918), 126. 195 Avenarius: Zur Lage, in: Kunstwart 32/1 (1918), 29 (Avenarius veröffentlicht einen Bonusbrief). 192
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auf den gleichen Stand wie die anderen Bundesstaaten gebracht werden.196 Statt militaristischem „Zähnefletschen“ und „Realpolitik“ waren jetzt Reformen im Inneren notwendig.197 Diese durften nicht in eine „Scheindemokratie“ auslau fen, sondern mussten durch „sachgemäße Staatsgestaltung“ zu einer nachhalti gen Verbesserung der Lage Deutschlands führen.198 Bonus wies bei diesen Erwägungen auf die Deutschlandwahrnehmung in der alliierten Propaganda hin, nach der das Reich als ein auf Weltmachtgeltung drängender, militaristischer Obrigkeitsstaat dargestellt wurde. Seine Refor mideen gruppierten sich entsprechend um zwei Themenbereiche, nämlich die Abwehr des alldeutschen Nationalismus und die anstehende staatliche Neufor mung mit dem Kriegsende vor Augen. Im Kunstwart-Sinn plädierte er für eine Einschränkung des aggressiven Nationalismus und der mit ihm verbundenen Siegfriedenspolitik, die vor einer weiteren bewaffneten Eskalation nicht zu rückschreckte. Die sich verstärkende alldeutsche Propaganda, die mehr und mehr als übersteigerte „Kriegspsychose“ empfunden wurde, lehnte er unter ei ner doppelten Begründung ab.199 Erstens würden der dringend notwendige Ver ständigungsfrieden und die Versuche, Verhandlungen mit den Alliierten zu be ginnen, aufgrund der überzogenen nationalistischen Forderungen nach einer annexionistischen Vergrößerung des Deutschen Reiches völlig unmöglich ge macht werden. Das wog umso schwerer, als zu Jahresende 1916 Hoffnungen bestanden, dass ein baldiges Kriegsende in Sicht war.200 Zweitens bestanden anders als zu Kriegsbeginn inzwischen grundsätzliche ethische Bedenken.201 196
Bonus: Auslandsdeutsche, in: Kunstwart 30/4 (1917), 185–188; ders.: Für und wider die Alldeutschen. Auch ein Beitrag zur Abrechnung, in: ebd., 32/1 (1918), 100–101; ders. [T]: Elsaß-Lothringen als Bundesstaat, in: ebd., 31/3 (1918), 16–18; ders. [T]: ‚Recht oder Unrecht – mein Vaterland‘, in: ebd., 155–156. 197 Ders.: Auslandsdeutsche, in: Kunstwart 30/4 (1917), 185–188. 198 Ders.: Sachliche Staatsgestaltung als Deutschlands Parole für die Völkerzukunft, in: Kunstwart 30/3 (1917), 97–100. 199 Postkarte Ewald Stier an Rade, Marburg 21.11.1916 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]. 200 Postkarte Rade an Bonus, Frankfurt 5.12.1916 [ebd.]. Rade berichtete optimistisch über die von den Pazifisten Ludwig Quidde und Hellmut von Gerlach initiierte Gründung der Zentralstelle für Völkerrecht in Frankfurt, der er beigewohnt hatte; vgl. dazu K arl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt 1988, 125 f. Das am 12. Dezember 1916 veröffentlichte Friedensangebot der Mittelmächte dürfte die Friedenserwartungen noch verstärkt haben. 201 Bonus: Der Wille zum Verständnisfrieden, in: Kunstwart 31/1 (1917), 162–163. Aus drücklich machte er 1919 Vaterlandspartei und Alldeutschtum für die Verhinderung eines frühen Verständigungsfrieden verantwortlich: „Seit der Weltkrieg von unsern Alldeutschen aus dem Verteidigungskrieg, der er gewesen war, in einen Eroberungskrieg umgearbeitet war, gab es keine Möglichkeit, zu einem vernünftigen Frieden zu kommen. Zwar die übergro ße Mehrheit im Volke mitsamt der leider schwachen Regierung wollte den Verständigungs
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Die Parolen von „Blut, Eisen und Gewalt“ hatten als sittlich minderwertig zu gelten und widersprachen dem Selbstbild, sich gegen einen ungerechtfertigten Feindangriff zur Wehr zu setzen.202 Die „falschpatriotische Radaumacherei“ der Alldeutschen lag quer zu seinem Idealbild einer Kulturnation.203 Besonders der zu Jahresbeginn 1917 gegen die Entente-Staaten erklärte U-Bootkrieg er füllte Bonus’ Umfeld mit Besorgnis, weil dadurch nur eine Verlängerung und Ausweitung des Krieges zu befürchten war.204 Aufgrund der Kriegstreiberei der Alldeutschen, die im Parteikonservatismus und der Vaterlandpartei einen poli tischen Arm besassen, rückte der „Zwangscharakter des deutschen Systems“ insgesamt in den Blick, der politische und soziale Reformen unmöglich mach te.205 Diese Haltung setzte sich endgültig nach der russischen Revolution und dem Friedensschluss von Brest-Litowsk Anfang 1918 durch. Deutschland dürfe nun nicht weiter militärische Ziele verfolgen, sondern müsse auf friedlichem Wege „moralische Eroberungen“ machen und durch seine politischen Ideen für sich werben.206 Zunehmend rückte nun die Frage nach der staatlichen Neuorganisation Deutschlands ins Zentrum seines Interesses. Für Bonus war das Reich kein rei ner Obrigkeitsstaat, vielmehr besaß es mit der Wehrpflicht, der Überparteilich keit des Beamtentums, der seit Bismarck bestehenden Sozialgesetzgebung, der Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden sowie schließlich der Gewerk schaftsorganisation wesentliche Strukturen, die den parlamentarischen Ausbau der Monarchie zum Volksstaat möglich machten.207 Aus einer langsamen Zu rückdrängung des obrigkeitlichen Gouvernementalismus und der Öffnung der bürokratischen Eliten sollte die Bevölkerung die politische Reife gewinnen kön frieden, die Eroberungswütigen, die ‚Siegfriedens‘-leute, machten ihn aber unmöglich“ (ders.: Strafe, in: ebd., 32/3 (1919), 84). 202 Ders.: Für und wider die Alldeutschen. Auch ein Beitrag zur Abrechnung, in: Kunst wart 32/1 (1918), 100–101; vgl. ähnlich die Haltung von Ferdinand Avenarius: In Sachen der Alldeutschen und auch in eigner Sache, in: ebd., 107–109 203 Ders.: Christliches und ‚Christliches‘, in: Kunstwart 29/3 (1916), 193–197. 204 Postkarten Rade an Bonus, Marburg 20.1.1917 und 2.2.1917 [ebd., 03_005]; sehr ähn lich auch die Einschätzung von Diederichs: er „schaue etwas pessimistisch auf den Fortgang des Krieges. Das Ende ist noch gar nicht abzusehen und da die Soldaten ihn nicht zu Ende führen können, wird er wohl nur durch die grosse allgemeine wirtschaftliche Not zu Ende kommen und die wird erst im nächsten Jahr schlimm einsetzen, sodass die bisherige Situa tion ein Kinderspiel gegenüber dem kommenden Zusammenbruch aller Lebensverhältnisse sein wird” (Brief Diederichs an Bonus, Jena 16.6.1917 [ebd., 06_006]). 205 Ders.: Der Zwangscharakter des deutschen Systems, in: Kunstwart 30/4 (1917), 219– 221; ders. [T]: Worum kämpft man?, in: ebd., 31/1 (1917), 165–166. 206 Ders. [T]: ‚Moralische Eroberungen‘, in: Kunstwart 32/1 (1918), 128–129. 207 Ausdrücklich erwähnt in: ders.: Sachliche Staatsgestaltung als Deutschlands Parole für die Völkerzukunft, in: Kunstwart 30/3 (1917), 97–100, 98 f.
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nen, sich politisch selbst zu bestimmen.208 Auch wenn noch ein erzieherischer Nachholbedarf festzustellen war, sah er den einzig gangbaren Weg in einer durch Wahl legitimierten „Parteiregierung“.209 Wohlverstanden äußerte Bonus sich hier nicht als Befürworter einer modernen Demokratie nach westlichem Vorbild, vielmehr stellte für ihn der parlamentarische Ausbau ein „vorläufig notwendiges Übel“ und ein Übergangsstadium dar.210 Darin allerdings war „vom Westen“ zu lernen, dass demokratische Strukturen und ein starkes Natio nalbewusstsein keine Gegensätze bildeten.211 Den „Herren rechts“ empfahl er daher, sich den ab 1917 verstärkenden Forderungen nach Abschaffung des preu ßischen Dreiklassenwahlrechts nicht zu verweigern.212 In seinen politischen Stellungnahmen bekannte sich Bonus selbst zu einer „sachlichen Staatsgestaltung“, die er nachdrücklich von einem als westlich apo strophierten, wirtschaftlich ausgerichteten Liberalismusverständnis geschieden wissen wollte, das er als Einfallstor des „Manchesterkapitalismus“ verurteil te.213 Sein Parlamentarismus zielte darauf, die „Hemmungen und Bevormun dungen“ schleunigst abzubauen, die einer politischen Bürgerbeteiligung entge genstanden, einschließlich des preußischen Wahlrechts. Dieses Ideal ließ sich angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse politisch nur durch eine engere Zusammenarbeit von „linkem Flügel des Liberalismus“ und „sachlichem Soci alismus“ realisieren.214 Die Sozialdemokratie hatte sich in seinen Augen zur Hoffnungsträgerin entwickelt, weil sie im Gegensatz zu den Rechtsparteien sachlich und ernsthaft an Reformen und Volkseinheit arbeitete. Den Reden des Würzburger SPD-Parteitags im Oktober 1917, auf dem die Delegierten ihre Ent rüstung über den Nationalismus der Vaterlandspartei zur Ausdruck gebracht hatten und ihr vorwarfen, den eigentlichen Zerstörer der im Krieg verlangten Volkseinheit darzustellen, pflichtete Bonus bei.215 Gegenüber dem westlich- 208 Ders. [T]: In Sachen der ‚Unbegreiflichkeiten‘, in: Kunstwart 31/3 (1918), 119–120 mit der scharfen Kritik: „Es fehlt in der Masse der Preßleute wie der Parlamentarier, der Heeres angehörigen wie der Regierungsbeamten, es fehlt bei der Mehrzahl vom Proletarier bis zum Fürsten im ganzen Volk. […] es braucht praktische Übung des politischen Sinns.“ 209 Ders. [T]: Politische Heiligtümer?, in: Kunstwart 31/3 (1918), 156. 210 Ebd. 211 Ders. [T]: Lernen ist leicht, das richtige lernen ist schwer, in: Kunstwart 31/3 (1918), 69. 212 Ders. [T]: Nie aus Eigennutz sich auf die schlechtere Seite stellen, weil der Gegner sich bereits auf die bessere gestellt hat, in: Kunstwart 31/4 (1918), 118. 213 Ders.: Sachliche Staatsgestaltung als Deutschlands Parole für die Völkerzukunft, in: Kunstwart 30/3 (1917), 97–100. 214 Brief Albrecht an Bonus sowie entsprechendes Antwortkonzept, wohl 1917 [LKA Ei senach, NL Bonus, 21_005]. 215 Bonus [T]: Psychologisch-kulturelle Merkwürdigkeiten, in: Kunstwart 31/2 (1917/18), 50 (Januar 1918). Vgl. die Ansicht H ans Delbrücks, die rechten Organe seien die eigentlichen
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kapitalistischen Liberalismus verkörperte sie „das soziale Ideal der Zukunft“.216 Eine Rücknahme seiner kulturnationalistischen Grundeinstellung war mit die sen Reformüberlegungen nicht verbunden. An die Sozialdemokratie gerichtet sprach er die Empfehlung aus: „Eine Richtung, die freiheitliche Reformen, Frie densbereitschaft und Völkerbund verfechten will, muß sich gerade als national unbedingt und unbeschränkt zuverlässig vor ihrem eigenen Volke bewähren.“217 Bereits 1915 hatte sich dieser Gedanke abgezeichnet, als er im Kunstwart von seinem Freund Paul Göhre berichtete. Dass sich dieser als sozialdemokratisches Reichstagsmitglied spontan zum Fronteinsatz nach Russland gemeldet hatte, war für Bonus ein Signal für eine patriotische Wendung der ehemals als ‚Reichs feind‘ ablehnten Arbeiterbewegung.218 Die Sozialdemokratie hatte sich in Bo nus’ Augen durch ihren Beitrag zum Krieg und zum „Burgfrieden“ weiterent wickelt. Mit dem Beispiel Göhres griff er auf seine Phase als Naumannianer zurück, dessen schon vor der Jahrhundertwende geteiltes Ideal eines „nationa len Sozialismus“ sich nun zu verwirklichen schien: Der Krieg habe „den Sozia lismus nationalisiert“, wie er „uns alle unendlich sozialisiert“ habe.219 Nach der russischen Oktoberrevolution setzte er große Erwartungen auf Göhre, die deut sche Sozialdemokratie nicht auch in ein revolutionäres Fahrwasser geraten zu lassen.220 Unter dem Eindruck des Kriegssozialismus und der Debatten um eine „deutsche Freiheit“ bezog er sich auf einen künftigen Staatssozialismus als spe zifisch deutsches Organisationsprinzip, das er dem Liberalismus der Enten te-Staaten entgegenstellte. Damit erneuerte er den Freiheitsbegriff, den er im Rahmen der Debatten um die „Ideen von 1914“ gewonnen hatte, übertrug aber das korporatistische Gemeinwohlideal auf eine auf den deutschen Staat bezoge ne Form des Sozialismus.221 In der Synthese einer „Konservatismus und Sozial Urheber der „Zwietracht“ durch ihre Beschuldigung gegen die Sozialdemokraten, als „Reichsfeinde“ aufzutreten (PrJ 170 (1917), 154). 216 Ders. [Taufkirchner]: Zum Ideenkampf, in: Kunstwart 31/2 (1917/18), 51–52. 217 Ders. [T]: Der nationale Gedanke als Gedanke der Menschheitsentwicklung, in: Kunstwart 32/1 (1918), 30. 218 Göhre war im Januar 1915 als Unteroffizier zum Landsturmersatzbattaillon nach Baut zen einberufen worden, vgl. Feldpostkarte Göhre an Bonus, Bautzen 31.1.1915 [ebd., 21_002]; kurz zuvor hatte er Bonus noch in Taufkirchen besucht (vgl. die Postkarten Göhres an Bonus vom 31.12.1914 und 12.1.1915 [ebd.]); Göhre bedankte sich im Mai 1915 zustimmend für die Zusendung von Bonus’ Aufsatz (Brief Göhre an Bonus, Truppenübungsplatz Hammerstein 10.5.1915 [ebd.]). 219 Bonus: Einer als Beispiel. Paul Göhre, in: Kunstwart 28/2 (1914/15), 183–185, 185. 220 Brief Bonus an Rade, Taufkirchen 10.12.1917 [UB Marburg, NL Rade]. Bonus kündig te Rade einen Besuch Göhres in Taufkirchen an, bei dem die innenpolitische Stellung der Sozialdemokratie verhandelt werden sollte. 221 Ders.: Sachliche Staatsgestaltung als Deutschlands Parole für die Völkerzukunft, in: Kunstwart 30/3 (1917), 97–100, 97 f.
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demokratie verbindenden […] Gesinnung“ war für ihn der Zukunftsweg zu su chen.222 Im Kunstwart verwies er auf den liberalen Staatsrechtler Hugo Preuß, ein Mitglied der ‚Fortschrittlichen Volkspartei‘, der seit 1915 in verschiedenen Ver öffentlichungen die Abkehr vom deutschen Obrigkeitsstaat und eine Parlamen tarisierung des Kaiserreichs gefordert hatte.223 Preuß’ Überlegungen stießen im Kunstwart und auch bei einigen Vertretern des Kulturprotestantismus auf deut liche Zustimmung; Wolfgang Schumann hatte eine innenpolitische Neuorien tierung und eine Stärkung des Reichstags befürwortet;224 auch Adolf Harnack und Ernst Troeltsch, die sich 1917 noch als Vertreter des deutschen Freiheits gedankens geäußert hatten, hielten es nun für klüger, sich der westlichen De mokratieidee nicht zu verschließen.225 Bonus hielt Preuß bei grundsätzlicher Zustimmung vor, dass dieser den Widerstand gegen ein westliches Demokratie modell in der deutschen Bevölkerung unterschätzen würde. Die kräftigsten An sätze einer Politisierung gingen in Deutschland von der Sozialdemokratie aus; die gut organisierte sozialdemokratische Bewegung war für ihn ein Beleg, dass von der Arbeiterschaft am ehesten Impulse zu einer politischen Willensbildung zu erwarten wären. „Organisation“ und „organische Entwicklung“ waren die Stichworte, unter denen seine Reformüberlegungen firmierten. Wenn Bonus also grundsätzlich für Mitbestimmungsformen warb und einen „Volksstaat“ forderte, um den Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches zu überwinden, blieb er un ter dem Primat der Kulturpolitik weiterhin eher korporativen Ordnungsmodel len verhaftet.226 Im Kulturkampf der „Völkergedanken“ würde der deutsche 222
Ders.: Der Kampf der Moralen, in: Kunstwart 30/2 (1917), 53–61.106–108, 57 f. Ders.: Sachliche Staatsgestaltung als Deutschlands Parole für die Völkerzukunft, in: Kunstwart 30/3 (1917), 97–100; Erwähnung fanden die Schriften von Hugo Preuss: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915; ders.: Obrigkeitsstaat und großdeutscher Gedanke, Jena 1916; zur Diskussion um den „Volksstaat“ vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 240–245. Gogarten hatte Bonus im September 1915 auf dieses Buch hingewiesen, es scheine ihm „sehr gut. Ruhig, ganz ohne Hurrah, mit viel nüchterner Liebe“ (Postkarte Gogarten an Bonus, Bremen 15.9.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.05]). 224 Wolfgang Schumann: Das deutsche Volk und die Politik, in: Kunstwart 30/2 (1917), 61–66, vgl. K ratzsch: Kunstwart, 385 f. 225 Ernst Troeltsch: Freiheit und Vaterland. Eröffnungsrede des ‚Volksbundes für Frei heit und Vaterland‘ in seiner Berliner Versammlung vom 7. Januar 1918, in: K laus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, 201– 218; vgl. dagegen die Beiträge von Troeltsch und Harnack in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, Gotha 1917; zu Harnacks Äußerungen vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 240–245. 226 Bonus [T]: Vom ‚Obrigkeitsstaat‘, in: Kunstwart 31/3 (1918), 151; ders. [T]: Zur Frage des Parlamentarismus, in: ebd., 32/1 (1918), 126; ders.: Realpolitik und Kulturpolitik, in: ebd., 30/2 (1917), 245–247. 223
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Weg eines nationalen Sozialismus den Sieg erringen, war seine Prophezeiung am Ende des Krieges.227 Die Möglichkeit, diesen politischen Neuansätzen erzieherisch zu einer kon kreteren Gestalt zu verhelfen, ergab sich für Bonus im Umfeld von Eugen Die derichs. Einen ihrer Vorboten sah er in der „neuen Jugend“, also den Gruppie rungen des Wandervogels und der „Freideutschen Jugend“, die in Diederichs einen verlegerischen Förderer gefunden hatten.228 Diese hatte sich am 11. und 12. Oktober 1913 unter der Beteiligung der Bonus nahestehenden Publizisten Ferdinand Avenarius, Eugen Diederichs und Gottfried Traub auf dem Hohen Meißner gegründet, wie andere Reformbewegungen auch in der Ablehnung ei nes als mangelhaft und dekadent empfundenen gegenwärtigen Zeitalters sowie in den Augen Diederichs’ als Gegenpol zu den für verlogen gehaltenen bürger lichen Patriotismus.229 Für Bonus war in der Jugendbewegung ein notwendiges Korrektiv zu der versachlichten Gegenwart erwacht, dem er ein wichtiges Zu kunftspotential beimaß.230 Im März 1915 umwarb ihn der zum linken Flügel der Freideutschen Jugendbewegung zählende Diederichs-Autor Ernst Joel, sich an der kurzlebigen Zeitschrift Der Aufbruch zu beteiligen, die Joel als Organ einer entstehenden „sozialen Jugend-Bewegung“ anpries.231 Die Zeitschrift berief sich auf die idealistische Philosophie der Tat, knüpfte an Lagarde, Fichte und Nietzsche an und richtete sich gegen den Nationalismus der Gebildeten.232 Sie wurde aber schon bald auch aus den Reihen der Jugendbewegung selbst auf 227
Ebd., 99. Ders.: Der Wanderer zwischen beiden Welten, in: Kunstwart 30/1 (1916), 277–280 (Rezension des gleichnamigen Buchs von Walter Flex). 229 H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 76 f. Zur Bildung der ‚Freideutschen Jugend‘ im Kontext des Meißner-Festes vgl. A. Messer: Die freideutsche Jugendbewegung. Ihr Ver lauf von 1913–1923, Langensalza 1924; Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962, 44–51; Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920, Köln 1988; Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster 1989, 56–87; zum Meißner-Fest vgl. die Dokumenta tion Winfried Mogge/Jürgen R eulecke (Hg.): Hoher Meißner 1913. Der erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988. 230 Bonus verteidigte die ‚Freideutsche Jugend‘ etwa gegenüber Friedrich Gogarten, der angesicht des Meissner-Treffens über die „Orgie von Phraseologie“ und über Avenarius in „mittelalterlicher Patriziertracht“ gespottet hatte (Gogarten an Bonus, 14.10.1913 [LKA Eise nach, NL Bonus, 01_061.03], vgl. K roeger: Gogarten, 43, Anm. 14); Gogarten hatte keine Berührung mit der Vorkriegsjugendbewegung. 231 Brief Joel an Bonus, 3.3.1915 [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_003]. Zu Joel und der Zeitschrift Der Aufbruch im Kontext von Diederichs’ Verlagspolitik vgl. Heidler: Der Ver leger Eugen Diederichs, 398–401. 232 Vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 400. 228
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grund der daraus gezogenen sozialistischen Konsequenzen attackiert und durch die Zensur verboten. Bonus störte der politische Drang des Blattes nicht, wohl aber die ihm zu unausgegoren erscheinenden „Studentenphilistereien“ und der Nietzsche-Gestus seiner Autoren.233 Vermittelt von Paul Natorp und unter reger Anteilnahme Martin Rades nahm er vom 27. September bis zum 4. Oktober 1917 an der ersten „Freideutschen Woche“ auf dem Solling teil, auf der über die kommende „Weltanschauung des Deutschtums“ debattiert werden sollte.234 Auch hier trat Eugen Diederichs als Förderer auf.235 Der Mediziner Knud Ahlborn, der schon den Hohen Meißner 1913 als „Anti-Fest“ gegen den wilhelminischen Reaktionsgeist verstanden hat te und zu den Begründern der „Freideutschen Jugend“ gehörte, suchte Bonus als Vertreter einer nicht-chauvinistischen Volkstumsbewegung in die Gestaltung des Jugendtreffens einzubinden.236 Die dem ungezwungenen Austausch und der freien, von akademischen Prinzipien unabhängigen Selbstbildung gewidmeten Tagungen wurden überwiegend von Studenten besucht; sie dienten der Vernet zung unter den verschiedenen jugendbewegten Gruppen und wurden von Musik und Kunstvorträgen sowie von wissenschaftlichen Reden begleitet. Paul Natorp hielt einen Vortrag über „Die deutsche Seele“, Wilhelm Stapel sprach über Luther, Bonus schließlich über die deutsche Religion.237 Diskutiert wurden die 233 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 26.9.1914 [UB Göttingen, NL Gogarten (49)]; Bonus bezog sich auf die lebensreformerischen Aussagen und die in einem Artikel zu Tage tretende „Pubertätsphilosophie über Mann und Weib“. Die gegen Joel hervorgebrachten an tisemitischen Angriffe spielten bei Bonus keine Rolle (dazu Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 106). 234 Laut Rade würde Bonus dort auf gemeinsame „Freunde“ treffen (Briefe und Postkarte Rade an Bonus, 24.7.1917, 26.9.1917 und 23.11.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]); Eugen Diederichs hatte sein Kommen gegenüber Bonus angekündigt (Brief Diederichs an Bonus, Jena 25.8.1917 [ebd., 06_006]) wie auch Friedrich Gogarten (Brief Gogarten an Bonus, Bremen 16.8.1917 sowie die Antwort, Taufkirchen 23.8.1917 [ebd., 01_061.07/UB Göttingen, NL Gogarten (56)]). Vgl. zur Freideutschen Woche die Planungen mit Knud Ahlborn und Paul Natorp in den Sommermonaten 1917 ([ebd., 21_005 und 21_006]) sowie Ulrich Linse: Die entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler- und Studentenbe wegung, Frankfurt 1981, 47; Werner K indt: Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 2, Düsseldorf 1968, 600; Nobert Jegelka: Paul Natorp, 189; Nils Bruhns: Vom Kulturkritiker zum „Kulturkrieger“: Paul Natorps Weg in den „Krieg der Geister“, Würzburg 2007, 52–56. Der Solling war ein reformpädagogisches Landschulheim bei Holzminden. 235 H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 76. 236 Vgl. den sehr umfangreichen Briefwechsel Bonus’ mit Knud Ahlborn im Sommer 1917 über die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung des Vortrages [LKA Eisenach, NL Bonus, 21_005]. 237 Vgl. den Bericht von K nud A hlborn: Die erste Freideutsche Woche (27. Sept.–2. Okt.), in: Freideutsche Jugend 3 (1917), 390–392; zu Bonusʼ Einschätzung s.: Von der freideutschen Jugend, in: Kunstwart 32/4 (1919), 171–175. Rade erbat sich Bonus’ Vortrag für die Christli-
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„Menschheitsaufgaben“ des Deutschtums über den Krieg hinaus, das Verhältnis von Nationalerziehung und dem auf der Tagung deutlich werdenden Bedürfnis nach Frieden.238 In diesem Kreis ging es, wie Bonus im Rückblick erklärte, um die „Aufräumung und Vorbereitung des Bodens“, auf dem der deutsche Staat nach dem Kriege neu erbaut werden müsste;239 es wurde über Völkerverständi gung, deutsche Identität und die Suche nach einer neuen Gesellschaftsordnung jenseits autoritärer Muster debattiert.240 Ahlborn erinnerte sich Anfang der zwanziger Jahre an Bonus’ Vortrag, er habe „das Bewußtwerden des religiösen Grundzuges der Jugendbewegung“ und das „Ungestüm“ der Freideutschen in der Nachkriegszeit befördert.241 Vor dem Hintergrund der disparaten politischen Situation entwickelte Die derichs, seiner Rolle als Kulturverleger entsprechend, mehrere Initiativen, um die reformbewussten geistigen und politischen Eliten in die Formierung der deutschen Nachkriegskultur einzubinden. Im Januar 1917 schrieb er an Bonus und bat ihn um Stellungnahme zu zwei Ideen, die ganz auf der Linie seines Verlagsprogrammes lagen. Zum einen forderte er Bonus zur Beteiligung an ei ner für Pfingsten 1917 geplanten Sondernummer der Tat zum Reformationsjubi läum auf, mit der er die schon vor dem Kriegsausbruch projektierte „Weiterfüh rung der Reformation“ vorantreiben wollte.242 Nach der programmatischen Ein che Welt, dieser hoffte allerding auf die Möglichkeit einer separaten Publikation im Die derichs-Verlag (Brief Rade an Bonus, 23.11.1917 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_005]; Brief Diederichs an Bonus, Jena 29.10.1917 sowie Bonus’ Antwort, 2.11.1917 [ebd., 06_006]). Der abschließende Teil von Bonus’ Vortragsreihe, die er vor Angehörigen der Freideutschen Ju gend in München Anfang 1918 ein zweites Mal hielt, erschien schließlich unter dem Titel: Die Schöpfung, in: Die Tat 17/1 (1925), 576–590. Darin entfaltete er seine Lehre von der Re ligion als eigenständiger, in der Seele geschaffener Wirklichkeit. 238 K nud A hlborn: Die erste Freideutsche Woche (27. Sept.–2. Okt.), 391. 239 Bonus: Zur freideutschen Woche, in: Die Tat 9/2 (1918), 895–896, 895. 240 Zur Völkerverständigung vgl. Ahlborns Bericht; dagegen aber auch den Verriss der Veranstaltung und besonders von Bonus’ Vorlesungsreihe durch einen Teilnehmer: „Natorp war zu augenblickfremd, Stapel ließ ein Soll zu sehr das ganze Lebensgebiet ausfüllen und Bonus verlor sich in die Tiefe und Breite des subjektiven Erlebens“ (H arald Schultz- Hencke, Die erste ‚freideutsche Woche‘ am Solling, in: Die Tat 9/2 (1917/18), 807–808). Bonus war dem Rezensenten zu blass und zu „theologisch“, was diesen wiederum entrüstete. Schultz-Henckes Reaktion monierte an den Verhandlungen am Solling, dass diese nicht ge nügend aus dem „Soll“ der Gegenwart heraus auf Handlungsanweisungen für die Zukunft drängten. Indem sie die historisch-intellektualistischen Gedankengänge von Natorp und Bonus für von Grund auf veraltet und überholt hielten, verwiesen seine Äußerungen bereits auf die weltanschaulichen Generationenkonflikte der Weimarer Republik. 241 K nud A hlborn: Zur Geschichte der Bewegung, in: Freideutsche Jugend 8 (1922), 22– 24, 24. 242 Brief Diederichs an Bonus, Jena 8.1.1917, mit der Anlage: Eugen Diederichs: Editions plan des Reformations-Sonderheftes der Tat, Mai 1917 ([ebd., 06_006]).
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leitung „Wir protestieren“, die unter Bezugnahme auf den Verlagspatron Paul de Lagarde eine Abgrenzung gegenüber einer theologisch-historistischen Religi onsauffassung zum Ausdruck bringen sollte, beabsichtigte Diederichs, anhand einer Artikelsammlung seiner Verlagsautoren die Grundzüge einer idealis tisch-deutschen Frömmigkeit darzustellen.243 Hinzukommend war eine Umfra ge geplant, in der bekannte, überwiegend theologische Autoren ihre Stim mungsbilder zur derzeitigen religionspolitischen Lage in Deutschland abgeben sollten. Gedacht war etwa an Rudolf Eucken, Ernst Troeltsch, Gottfried Traub, Adolf Harnack, Hermann Kutter und Leonhard Ragaz, Friedrich Niebergall und Houston Stewart Chamberlain.244 Die „Reformationsnummer der Tat“, zu der Bonus einige Passagen aus Vom neuen Mythos beisteuerte, während er mit seiner Lutherdeutung im Kunstwart blieb, bildete die religiöse Seite von Diederichs weiterreichenden Reformbestre bungen zwischen Nationalkultur und Staatstheorien ab.245 In enger Verbindung mit dem Tat-Heft stand für Diederichs der „Plan eines allgemeinen Kulturkon gresses zu Pfingsten“ 1917, den er Bonus gleichfalls mit der Bitte um Kommen tierung als Erstentwurf vorstellte und der bei diesem auf Anklang traf.246 Die Kulturtagung sollte „im Pfingstgeiste“, also in gehobenem Zukunftston stattfin den und eine „Formulierung dessen, was eigentlich der deutsche Geist ist“ bieten und diesen zudem gegenüber der Presse im „neutralen Ausland“ manifestie ren.247 Das ursprünglich von Diederichs konzipierte Programm sah eine weitge fasste Debatte über „Deutschlands innere Friedensziele“ vor, zu der als Vortrags redner ursprünglich bekannte Gelehrte und Politiker wie Hugo Preuß, Adolf Damaschke, Friedrich Naumann und Gottfried Traub beitragen sollten, daneben Theater- und Tanzaufführungen. An der eigentlichen Tagung auf der thüringi schen Burg Lauenstein vom 29.–31. Mai 1917, die durch den Eklat um Max Webers Anklagen „gegen den Kaiser und seine Umgebung“ und die Auseinan dersetzungen mit Max Maurenbrecher berühmt geworden ist, nahmen etwa 50 Personen teil.248 Es ging um eine vertrauliche Besprechung über „Sinn und Auf 243 Ebd.
244 Ebd.
245 Ebd.;
Bonus: Vom neuen Mythos, in: Tat 9/1 (1917), 205–214. mit Anlage: Eugen Diederichs: Planung für die 1. Lauensteiner Kulturtagung, Pfingsten 1917 (erster Entwurf) [ebd., 06_006]; vgl. Brief Diederichs an Bonus, Jena 3.2.1917 [ebd.], in dem Diederichs sich für Bonus’ „Besprechung zu dem Kultur-Kongress-Pro gramm“ bedankt. 247 Ebd. 248 Bonus erhielt die Einladung durch einen Rundbrief von Diederichs, 11.5.1917, als An lage: Einladung zur Kulturtagung [ebd., 06_006]. Vgl. den Bericht der Tagung bei: Gangolf Hübinger: Eugen Diederichs Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geisteskultur. Anhang: Protokoll der Lauensteiner Kulturtagung Pfingsten 1917, in: Wolfgang J. Mommsen 246 Ebd.
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gaben unserer Zeit“, die, wie es im Einladungstext hieß, durch Verhandlungen über Fragen „der inneren und auswärtigen Politik, Steuerreform, Soziale Fragen, Erziehungsfragen“ ergänzt werden sollte. Diederichs zielte auf die geistige Vor bereitung der zukünftigen Entwicklung Deutschlands und die Ausarbeitung von innenpolitischen Konzepten für den Wiederaufbau nach dem noch nicht abseh baren Kriegsende. Insofern diese politischen Ideen sich mit nationalkulturellem Pathos verbanden, trafen sie auch bei Bonus auf Zustimmung. Die Verbindung von „öffentlichem Geist“ und „Organisation“, von einer den wirtschaftlichen Interessen vorgeordneten idealistischen Gesinnung bei gleichzeitigen sozial reformerischen Absichten, die Diederichs’ Tagungsprogramm vorlegte, ent sprach gemeinsamen Forderungen.249 Aus den Tagungen eine enge, bildungsbür gerliche Zusammenarbeit heranwachsen zu lassen, wie Diederichs sich erhoffte, schlug allerdings fehl. Die Lauensteiner Tagung brachte führende Kulturkritiker und Sozialwissenschaftler, Volksbildner, Künstler und Politiker in der Ausein andersetzung um die Neuorientierung Deutschlands zusammen, sie manifestier te zugleich an der Kontroverse zwischen Max Maurenbrecher und Max Weber das im Grunde schon im Vorjahr erreichte Ende des „intellektuellen Burgfrie dens“.250 Diederichs setzte seine Planungen mit einer weiteren Tagung im Herbst 1917 fort; eine dritte Tagung, die den Themen Jugend und Lebenserneuerung gewidmet war, fand Pfingsten 1918 mangels breiterer Resonanz nur in einem inoffiziellen Rahmen statt. Bonus sollte den „Schlußvortrag der Tagung“ halten, die das Erlebnis, Lebensreform und Volkserziehung zum Inhalt hatte und über wiegend von Teilnehmern der Jugendbewegung frequentiert wurde.251 Zusammenfassend lässt sich Bonus als ein Repräsentant des „Geistes von 1914“ betrachten, der geistige Kriegsziele konstruierte und den eigentlichen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, 259–271; Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 91–98; zu Webers Vor trag M arianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, 609; Theodor Heuss: Erinnerungen 1905–1933, 215; vgl. auch die zeitgenössischen Berichte von Heinrich K ähler: Lauensteiner Kulturtagung, in: Tat 9 (1917/18), 564–566; K arl Bröger: Lauensteiner Worte, in: ebd., 728–729. 249 Eine ‚Tagung‘ in Lauenstein, in: Kunstwart 31/1 (1917), 138. 250 Hübinger: Eugen Diederichs Bemühungen um die Grundlegung einer neuen Geistes kultur; vgl. zu Diederichs’ Ablehnung von Maurenbrechers „Staatsgesinnung“ Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 79–81. 251 Briefkonzept Bonus an Gogarten, 23.4.1918 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.08]; vgl. Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 98. Bonus’ Vortrag musste aufgrund einer Er krankung von seiner Tochter Helga ausfallen, die zu Kriegsende über einen längeren Zeit raum hinweg in einem Münchner Sanatorium untergebracht wurde, vgl. zu den familiären Umständen den Briefwechsel zwischen den Familien Bonus und Rade (besonders Brief Bonus an Rade, Taufkirchen 10.12.1917 [UB Marburg, NL Rade]). Rade unterstützte den Klinikaufenthalt finanziell; Helga Bonus war sein Patenkind.
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Kriegsschauplatz in den Bereich kultureller Einflusssphären verlagerte. Wie die überwiegende Mehrheit des Bildungsbürgertums legitimierte er den Frontein satz als Kulturkrieg. Der Kampf wurde um das Wesen des Deutschtums gefoch ten, Annexionsgebiete nicht in geographischen Dimensionen, sondern durch die Weltgeltung des deutschen Idealismus erschlossen. Rassistischen und alldeut schen Kriegsbegründungen gegenüber verhielt er sich kritisch. Wenn Bonus einerseits für bürgerliche Mitbestimmungsrechte und gegen die alten Macht eliten des Kaiserreichs Stellung nahm, so blieb andererseits die Nation als „Kul turgröße“ im Zentrum seiner Ideen.252 Sein Ziel war es, „Staatsform“, „Leben“ und „Kultur“ miteinander zu vermitteln und die „Gesinnung“ des Einzelnen entsprechend zu formen.253 Die hier verhandelten Ideen stellten keine „antimodernistische Alternative“ zu den demokratischen Vorstellungen des Westens dar, sondern wollten ein Ord nungsmodell schaffen, das sich subjektiv als modern verstand.254 Hier standen zum Kriegsende hin unterschiedliche Perspektiven nebeneinander. Ernst Troeltsch etwa begrüßte die Ansätze einer westlichen Demokratisierung. Arthur Bonus und andere blieben eher verhalten und suchten nach einer Fortsetzung der korporativen und sozialistischen Ideen des Kriegsbeginns, die Gemeinwohlorientierung und Kulturstaatlichkeit miteinander verbunden sahen. Mitunter wurde dabei auf das Repertoire eines nationalen Sozialismus im Sinne der Naumann-Bewegung zu rückgegriffen. Der Kriegsverlauf hatte bewiesen, dass sich die wilhelminische Monarchie mit ihren Eliten überlebt hatte, so dass die sich abzeichnende Parlamen tarisierung begrüßt wurde. Gleichwohl stellte sie nur ein notwendiges Übergangs stadium dar, dem eine weitere politische Entwicklung folgen musste.255
IV. Von der Revolution zur Republik 1. Für einen „nationalen Sozialismus“: Die Revolution als politischer Neuanfang Arthur Bonus’ Position in den keineswegs eindeutig verlaufenden Nachkriegs fronten nahm disparate Einflüsse auf und stellte einen Versuch dar, weder reak tionär noch rein utopistisch zu sein. Die Gründungsphase der Republik war von 252
Bonus: Parteinehmen?, in: Kunstwart 32/1 (1918), 134. Ebd., 99. 254 Wolfgang J. Mommsen: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen ‚Sonder wegs‘ der Deutschen, in: ders. (Hg.): Nation und Geschichte, München 1990, 87–105; Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat, 115. 255 Bonus [T]: Politische Heiligtümer?, in: Kunstwart 31/3 (1918), 156. 253
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ausserordentlicher intellektueller Erregung und einer radikalen Aufbruchs dynamik gekennzeichnet, in der gegensätzliche politische, ideologische und lebensreformerische Gestaltungsentwürfe aufeinandertrafen. Wie bei vielen Intellektuellen lösten die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und die Abdankung des Kaisers auch bei Bonus hochgespannte Hoffnungen auf verän derte kulturelle Gestaltungsbedingungen aus. Mit der Ausrufung von Friedrich Ebert zum Reichskanzler hatte sich die in der deutschen Öffentlichkeit über lange Jahre hinweg als „reichsfeindlich“ gebrandmarkte Sozialdemokratie an die Spitze der Revolutionsbewegung gestellt, um diese geordnet in parlamen tarische Bahnen lenken zu können. Die Verarbeitung der Kriegsniederlage, die Integration der Frontrückkehrer, die Aushandlung von Friedensbedingungen und die krisenhafte Normalisierung der Kriegswirtschaft setzten den demokra tische Aufbau von Anfang an erheblichen Belastungen aus. Enttäuschung von links, etwa unter den Arbeiterräten oder im Spartakusbund, und Anfeindung von rechts bedeuteten eine Belastungsprobe, die zu immer wieder offensiv und gewaltsam ausgetragenen politischen Lagerkämpfen führte.256 Weder Bonus’ Briefwechsel noch seine publizierten Aussagen lassen einen Zweifel daran zu, dass er den revolutionären Aufbruch der Jahreswende 1918/19 begrüsste. Das Ende von Krieg und Kaiserreich wurde als historische Zäsur und als kultureller Bruch mit der wilhelminischen Ära erlebt, der mit einer Verdich tung der schon zu Kriegszeiten im Umfeld des Kunstwarts geweckten Reform hoffnungen beanwortet wurde, die Bonus, seinen Vorstellungen einer Verbin dung von Sozialismus und Nation im Sinne Naumanns folgend, auf einem drit ten Weg aus republikanischen Volksstaatstheorien und einem nichtmarxistischen Volkssozialismus zu erreichen suchte.257 Schon die Reformvorhaben Max von Badens, des letzten Reichskanzlers, die eine Stärkung des Reichstags bewirkt hätten, beurteilte er, vergleichbar mit Intellektuellen wie Ferdinand Avenarius
256 Vgl.
Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik, Stuttgart 2008; Sönke NeWeltkrieg und Revolution, Berlin 2008, S. 145–163; zur neueren Diskusion vgl. die Beiträge in A lexander Gallus: Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010. 257 Die Titelvignette der ersten Kunstwart-Ausgabe nach Revolution und Kriegsende im November 1918 verstärkte die Wahrnehmung eines tiefgreifenden Bruchs. Sie zeigte vier schwarze, posaunenblasende Engelgestalten mit ikonographischen Bezügen zu christlichen Gerichts- und Apokalypsedarstellungen. Hinzu trat eine Jugendstil-Graphik des Schweizer Künstlers Hans Eggimann unter dem Titel „Erlösung“, die einen Trauerzug in einem von ei nem Kruzifix überragten Tempelbezirk darstellte. Mit Gerichts- und Auferstehungssymbolik eröffnete Avenarius auch das Folgeheft unter Verwendung eines Goethe-Verses: Stirb und werde!, in: ebd., 105–106. Ein „Eintauchen in die Glut apokalyptischer Erwartungen“ beob achtete auch M artin R ade: Glaube an Gott, und glaube an dein Volk!, in: CW 32 (1918), 462–463. itzel:
IV. Von der Revolution zur Republik
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oder Martin Rade, als einen „Weg ins Freie“.258 Gemeinsam mit Avenarius stell te er die Revolution von 1918 in eine Linie mit den Ideen der „Paulskirche“ von 1848 und befürwortete die „Knospenträume“ eines parlamentarischen Neube ginns.259 Die Novemberereignisse 1918 machten es erforderlich, sich entschlos sen dem „Neubau“ eines deutschen Staatswesens zuzuwenden, den Bonus als die sachgemäße Konsequenz der kulturkritischen Kunstwart-Arbeit seit Kriegs beginn betrachtete.260 Sowohl im Kunstwart als auch im Umfeld der Christ lichen Welt wurde der Zusammenbruch als Schicksalsstunde gedeutet, die den Raum für eine kulturelle und staatliche Neugeburt eröffnete.261 Für Martin Rade etwa war „ein neuer Tag“ angebrochen, der seine liberalprotestantischen Leser vor veränderte Aufgaben im staatlichen wie im kirchlichen Bereich stell te, deren Bewältigung im Geiste der deutschen Kultur und mit dem „echten Idealismus“ eines Immanuel Kant möglich schien.262 In umfassender Perspekti ve deutete Bonus die Revolution als einen Gegenschlag gegen die „Entseelung des Lebens“ in der Moderne.263 Von einem „Rückzug auf den kulturellen Bereich“ als Antwort auf die politi schen Herausforderungen konnte keine Rede sein.264 Die Überzeugung, durch Parlamentarisierung und behutsame Sozialisierung die deutsche Misere über winden zu können, verband auch differierende innenpolitische Zielvorstel lungen, die bei kulturprotestantischen Gebildetenpolitikern wie Rade, Ernst 258
Bonus: Der Weg ins Freie, in: Kunstwart 32/1 (1918), 32–33. Bonus/Avenarius: Um Kaiser und Könige, in: Kunstwart 32/1 (1918), 148–165. 260 Bonus: Die Umlerner, in: Kunstwart 32/1 (1918), 161–162. Zur Kunstwart-Publizistik in den Nachkriegsjahren vgl. K ratzsch: Kunstwart, 398–426. 261 Die Geburtsmetaphorik – im Konflikt mit den Schweizer Religiös-Sozialen auf den „Geist von 1914“ als Beginn des Kriegssozialismus bezogen – griff Bonus in einer Weih nachtsandacht im Kunstwart zu Jes 9,2 auf: ders.: Weihnacht 1918, in: Kunstwart 32/1 (1918), 169–172. 262 R ade: Glaube an Gott, und glaube an dein Volk!, in: CW 32 (1918), 462–463; ders.: Das Gebot der Stunde, in: CW 32 (1918), 436–437 (auch abgedruckt in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (Nr. 529 v. 16.10.1918); vgl. zu Rades Wahrnehmung auch sein Resü mee gegenüber Bonus: „wir leben in Unruhe, aber die neue Zeit hat uns viel Gutes gebracht“ (Postkarte Rade an Bonus, Marburg 2.5.1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_006]). 263 Bonus: Was treibt bei den Unabhängigen?, in: Kunstwart 33/3 (1920), 131–132. Diese Position entwickelte er nach Diskussionsveranstaltungen zwischen freideutschen Studenten vertretern und Mitgliedern der USPD in München, zu denen der Philosophiestudent Mein hard Hasselblatt als Wortführer des sozialistischen Flügels der freideutschen Jugend eingela den worden war. Neben Hasselblatt trat auch Knud Ahlborn während der Revolutionsmonate 1918 in die USPD ein, was Bonus sehr beeindruckte. Ahlborn, Hasselblatt und Bonus hatten sich auf der Solling-Tagung im Oktober 1917 kennengelernt. Vgl. zu den politischen Einstel lungen der Freideutschen Wolfgang R. K rabbe: Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993. 264 Vgl. K ratzsch: Kunstwart, 399. 259
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Troeltsch, Otto Baumgarten oder Wilhelm Bousset liberale Züge annahm und ein dezidiert parteipolitisches Engagement in der DDP ermöglichte. Bonus’ pu blizistisches Umfeld im Kunstwart verblieb eher in der Kommentatorenrolle, verbindend war die Ablehnung militaristischer „Großmäuligkeit“, die Befür wortung eines republikanischen Umbaus, die Bereitschaft zur Akzeptanz der Sozialdemokratie.265 Bonus proklamierte angesichts der fürstlichen Abdankun gen, dass die Republik die eigentlich „germanische Staatsform“ darstelle und man sich durch parlamentarische Formen dem eigenen Wesenkern annähern würde.266 Avenarius erklärte ausdrücklich, dass eine „Entpolitisierung“ des Kunstwarts nach den Kriegsjahrgängen für ihn als redaktionelle Leitlinie nicht in Frage kam, sondern die politische Volkserziehung weiterhin den editorischen Grundsatz bilden sollte.267 Die Selbsteinordnung, als überparteiliche „Kultur politiker“ wirken zu wollen, bedeutete also keine Verweigerungshaltung in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit, sondern die Selbst beauftragung, als gebildete „Kulturforderer“ die verfassungsmäßige Weiterent wicklung durch „sachliche Erwägung“ zu unterstützen und die dafür notwendi ge staatsbürgerliche „Gesinnung“ zu schaffen.268 Avenarius wie Bonus hielten eine „Sozialisierung“ als politischen Gesellschaftsentwurf für geboten und wollten die „Verhetzung“ unter den Parteien abwehren.269 Um diese Zielsetzung im Kunstwart redaktionell zu verankern, beauftragte Avenarius Bonus als Re daktionsmitglied, durchlaufend „Aufsätze mit politisch-ethischen Zielen“ zu verfassen, die er neben von Ernst Troeltsch erbetene Kommentare über „prakti sche Politik“ stellte.270 Die sensiblen Wahrnehmungen der innenpolitischen und mentalen Herausforderungen, die die aus diesen Kommentaren hervorgegange nen berühmten Berliner „Spectator-Briefe“ Troeltschs im Kunstwart brachten und die ein Zeugnis für die Demokratiefähigkeit kulturprotestantischer Intel lektueller darstellten, wurden auf Redaktionsebene mit Bonus’ deutungshalti gen politisch-historischen Visionen gepaart, der die Debatten um den Friedens schluss und die staatliche Neuordnung als Kulturfrage behandelte. Bonus erhielt als bekannter nationalkultureller Theoretiker den Auftrag, „mit rechts nach Verständigung [zu] suchen“ und die sich neu formierenden nationalistischen 265
Bonus [Taufkirchner]: Die Großmäuligkeit, in: Kunstwart 32/2 (1919), 174. Bonus/Avenarius: Um Kaiser und Könige, in: Kunstwart 32/1 (1918), 148–165; Bonus verweist zurück auf seinen Vorkriegsaufsatz: Das Bekenntnis des Bürgers, in: März 4/4 (1910), 261–262, vgl. auch ausführlich ders.: Konservatismus und Sozialismus. Zwei konser vative Stimmen, in: Kunstwart 33/3 (1920), 357–365.398–402. 267 Avenarius: Von den neuen Jahrgängen, in: Kunstwart 32/4 (1919), 271–272. 268 Bonus: Parteinehmen? in: Kunstwart 32/1 (1918), 134; ders.: Die alte Kampfesweise. Auch in eigener Sache, in: ebd., 32/3 (1919), 18–20. 269 Avenarius: An unsere Leser, in: Kunstwart 33/2 (1920), 241–242. 270 Brief Avenarius an Bonus, Dresden 8.4.1920 [LKA Eisenach, NL Bonus, 11_007]. 266
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Gruppierungen über „begangene Fehler aufzuklären“.271 Seine Kunstwart-Pub lizistik in den Weimarer Anfangsjahren, zu der etwa Martin Rade große Zu stimmung signalisierte, diente also der nationalistischen Neubesinnung.272 Der Neuaufbau sollte durch „volkeinigende“ Arbeit und „überparteiliche Betrach tungen“ unterstützt werden.273 Die Volkwerdung als kulturelle Identitätsfindung und inneres Erziehungsprogramm erhielt Priorität vor der Tagespolitik, um eine neue Gesinnung im neuen Staat zu schaffen.274 Die bildungsbürgerliche Publizistik im Umfeld des Kunstwarts blieb auch nach Kriegsende ihrem nationalkulturellen Koordinatensystem verhaftet, fügte diesem aber die Bereitschaft hinzu, die anvisierten Aufbauleistungen den ver änderten innenpolitischen Bedingungen anzupassen. Nach der fehlgeleiteten militärischen hatte 1918 die innerliche, sittliche Erhebung der Nation zu erfol gen. Trotz der Niederlage war der patriotische Glaube an die deutsche Kultur nation ungebrochen, die nach Bonus’ Ansicht unverschuldet und gegen ihre ei gentlichen inneren Anlagen in den Krieg geraten war.275 Nach dem staatlichen Zusammenbruch wurde an den überhistorischen Wert des „Volkes“ als Träger von Kultur und Gemeinschaft erinnert. Vor diesem Hintergrund stellte nicht der militärische oder wirtschaftliche Zusammenbruch die hauptsächliche Gefahr dar, sondern der moralische.276 Der militärische Untergang hatte gleichsam die Voraussetzung geschaffen, nun ohne Waffen im abendländischen „Ideenkampf“ den Sieg davontragen zu können und einen völligen Neuaufbau der Nachkriegs gesellschaft zu beginnen.277 Bonus betrachtete die mit Kriegsende einsetzenden inneren Auseinandersetzungen um die Parlamentarisierung als eine Fortset zung der inneren, sittlichen Kriegsziele des Deutschen Reichs, das um die „Idee 271
Brief Avenarius an Bonus, Dresden 2.3.1920 [ebd.]. Brief Rade an Bonus, Marburg 29.6.1920 [ebd., 03_006]. 273 So die Eigenprogrammatik: Briefkonzept Bonus an Avenarius, Taufkirchen 11.4.1920 [ebd., 11_007]. 274 Bonus: Die Umlerner, in: Kunstwart 32/1 (1918), 161–162; ders.: Was kommt?, in: ebd., 33/3 (1920), 55–58; die Fichte-Rezeption erneuernd ders.: Was bedeutet uns Fichte? Ein Bei trag über Jugend und Alter als Lebens- und Weltprinzipien, in: Die Tat 19/1 (1927/28), 87–97. Vgl. zu vergleichbaren Programmatiken im Umfeld der „konservativen Revolution“ am Bei spiel Wilhelm Stapels Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1818–1933, Berlin 1996, 77–81. 275 Z. B. vor dem Hintergrund der Friedensverhandlungen Bonus [Taufkirchen]: Vom Schachern, in: Kunstwart 32/3 (1919), 83; ders.: Strafe, in: ebd., 84; ders.: Wer sind ‚wir‘?, in: ebd., 97–100. 276 Ders.: Was nun?, in: Kunstwart 32/1 (1918), 137–139. 277 Ebd. Ähnlich äußerte sich auch Johannes Müller, der wie Bonus in einer möglichen Entindustrialisierung und der Stärkung handwerklich-bäuerlicher Siedlungen einen Weg aus dem mammonistischen Geist der Vorkriegsjahre sah, vgl. Johannes Müller: Deutschlands Schicksal, in: Grüne Blätter 1919, 30, vgl. Harald Haury: Von Riesa nach Schloß Elmau, 186. 272
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sowohl der sozialen wie der nationalen Befreiung“ gefochten habe.278 Der Kunstwart schwor sich nicht auf Durchhalteparolen ein, sondern darauf, das „ethische Aufblühen“ der Nation zu fördern und dadurch die kulturelle „Erneu erung“ zu bewirken.279 Eine ähnliche Klammer setzte etwa Ernst Troeltsch, der dafür warb, die „ethische Gesamterneuerung“ Deutschlands auf ein „wahrhaf tes Nationalgefühl“ zu gründen.280 Bonus reaktivierte dazu die Erinnerungen an das „Augusterlebnis“ von 1914 und forderte angesichts der harschen innen politischen Konflikte dazu auf, „die große Einigkeit der ersten Kriegszeit“ wie derherzustellen.281 Eine Verlängerung des „Geistes von 1914“ stellte auch die Bewertung des Sozialismus dar, die sich auf den Kriegssozialismus zurückbezog. Bonus gehör te zu den Stimmen im Kunstwart, die energisch für die Sozialdemokratie als Trägerin des gesellschaftlichen Ordnungsgedankens der Zukunft eintraten, de ren Weg einer langsamen, nichtrevolutionären Weiterentwicklung des deut schen Regierungssystems es zu unterstützen galt. Hinter dem Eintreten für den Sozialismus stand weniger ein parteipolitisches Bekenntnis als eine Weiterfüh rung des ethischen Sozialismus seit der Vorkriegszeit. Die revolutionären For derungen des „Spartakus“ wurden ebenso scharf abgelehnt wie eine Nach ahmung der russischen Revolution. Den spartakistischen „Romantikern der Revolution“ bescheinigte Bonus ehrliche Ideale, warnte aber vor einer „Ver zweiflungspolitik“ nach russischem Muster, die Deutschland kulturell und wirt schaftlich an den Rand der Existenz drängen und zum „Kampfplatz zwischen Ost und West“ werden ließ.282 Der Kunstwart suchte nach einer Position zwi schen Radikalismus und Reaktion.283 Bonus proklamierte einen „wahren Sozi alismus“, der auf Luther und die deutsche Freiheit zurückgriff und sich streng von marxistisch-materialistischen Klassenkampfidealen unterschied; Ideen statt materieller Güter waren sein Inhalt.284 Wolfgang Schumann, Avenarius’ 278 Ebd. 279
Avenarius: Von den neuen Jahrgängen, in: Kunstwart 32/4 (1919), 271–272. Ernst Troeltsch: Links und Rechts, in: Kunstwart 32/2 (1919), 167–170. 281 Bonus: Unsere Trümpfe und die neue Ordnung, in: Kunstwart 32/1 (1918), 75–78; vgl. mit ähnlicher Deutung Avenarius: Das deutsche Bewußtsein, in: ebd., 73–75; mit Anbindung an 1914 als „heilige deutsche Zeit“ Eduard Spranger: Treue gegen Wahrheiten, in: ebd., 32/2 (1919), 107–109. 282 Bonus: Tragik, in: Kunstwart 32/2 (1919), 33–35; ders.: ‚Das eben ist der Fluch…‘, in: ebd., 22–23; ders.: Die andere Seite des Spartakus, in: ebd., 138–143 sowie besonders ders.: Die Ausbreitung der Spartakusgesinnung, in: ebd., 122–123 283 Ders. [Taufkirchner]: Schein-Radikalismus und Reaktion, in: Kunstwart 32/3 (1919), 203–204. 284 Ders.: Sammlung in antikapitalistischer Front, in: Das neue Deutschland 9 (1919/20), 269–272; ders.: Der Sozialismus als materialistische Weltanschauung, in: Kunstwart 33/3 280
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Stiefsohn, trat 1918 in die SPD ein und knüpfte an die von Walther Rathenau konzipierte, durchgeplante Kriegswirtschaft als Vorbild einer Sozialisierung an.285 Avenarius selbst sprach von der Herbeiführung einer „sozialen Kultur“ und verband seine Ablehnung von kapitalistischer Gewinnsucht und „Revolu tionsgaunertum“ mit einer Polemik gegen kommerzialisierte Kulturangebote wie das Kino.286 Das Ablegen der mammonistischen Gier und des kulturlosen Egoismus waren zivilisationskritische Parolen, die sich über den Krieg hindurch erhalten hatten. Paul Natorp charakterisierte diese Bestrebungen als „Sozial idealismus“, durch den die Führungsrolle der Gebildeten gegenüber dem Volk in Form gemeinsamer genossenschaftlicher Zusammenarbeit gewahrt werden sollte.287 Ein antikapitalistischer Grundton herrschte in diesen Debatten vor, in denen konkrete wirtschaftliche Reformmodelle durchaus zur Kenntnis genom men wurden, aber die Erzeugung von „Gemeinschaftsgefühl“ und „Gesinnung“ eine ebenso wichtige Bedeutung erhielt.288 Bonus pflichtete Paul Natorp bei, als dieser ein „Bildungsparlament“ vorschlug, mit dem er neben dem politischen „Parteienparlament“ einen steuernden Ort der „echten Idee“ etablieren wollte.289 Die Sympathien für einen ethischen Gebildetensozialismus kamen auch in konkreten Kontaktaufnahmen zum Ausdruck. Bonus trat nach der Ausrufung der Münchener Räterepublik im November 1918 dem örtlichen ‚Rat der geisti gen Arbeiter‘ bei, dem etwa auch Lujo Brentano, Heinrich Mann, Gustav Land auer und Ricarda Huch angehörten. Damit schloss er sich einer eher moderaten Intellektuellenversammlung mit liberalem, teilweise bürgerlichem Hintergrund an, die sich mit den Arbeitern gegen die „Zwangsherrschaft des Kapitalismus“ solidarisieren wollte.290 Vergleichbare Überzeugungen vertrat das ‚Ordenskom (1920), 179–181; ders. [T], ‚Bibel des Sozialismus‘?, in: ebd., 223; ders.: Mehr Güter oder höhere Güter?, in: ebd., 233–236. 285 Wolfgang Schumann: Um den Sozialismus 4, in: Kunstwart 33/3 (1920), 254–257; vgl. K ratzsch: Kunstwart, 411; zu Schumanns Entwicklung nach 1918 ebd., 436–439. Der Artikel gehörte zu einer längeren Diskussion über den Sozialismus, die der Kunstwart in der zweiten Jahreshälfte 1920 abdruckte. 286 Avenarius: Soziale Kultur, in: Kunstwart 33/2 (1920), 49–52. 287 Paul Natorp: Was sollen wir denn tun?, in: Kunstwart 33/2 (1920), 242–249; ähnlich Bonus: ‚Intellektuelle‘ im Sozialismus, in: ebd., 32/3 (1919), 172–174. 288 Vgl. K ratzsch: Kunstwart, 411; Bonus: Mehr Güter oder höhere Güter?, in: Kunstwart 33/3 (1920), 233–236. 289 Bonus: Ein Bildungsparlament?, in: Kunstwart 32/3 (1919), 225–227. Natorp hatte 1919 in der Frankfurter Zeitung und im Kunstwart aufgerufen, zusätzlich zum Reichsparla ment eine „doppelte Sachverständigen-Vertretung“ der Wirtschaft wie der „Geistespflege“ aufzubauen: Ein Weg zur Rettung, in: Kunstwart 32/3 (1919), 100–107. 290 So eine programmatische Selbstbeschreibung, zitiert aus: M artin H. Geyer: Verkehr te Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914–1924, Göttingen 1998, 78; vgl. Wolfgang Zorn: Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundes
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mando Deutschland‘ der ‚Weltliga der geistigen Arbeiter‘, die Bonus etwa zeit gleich eine Mitgliedschaft anbot.291 Avancen kamen auch von Rechts, etwa durch den Edelanarchisten Willy Schlüter, der vor dem Krieg im Kreis um Wil helm Schwaners Volkserzieher eine eigenständige Mischung aus völkisch-reli giösen, ariosophischen und siedlungstheoretischen Gedanken vertreten hatte und Bonus für die Beteiligung an einem „Deutschen Heimatbund“ werben woll te.292 Schlüter stellte sich Bonus als Vertreter eines „Tat-Denkens“ vor, das in universalem Sinne auf „Emportüchtigung“, „Emporgeistigung“ und „Empor menschlichung“ und damit auf die Schaffung eines neuen Menschheitsgedan kens ausgerichtet war.293 Die Beschwörung des Gestaltungswillens und der geistig-politischen „Tat“, die einen Kulturneubau nach dem Zusammenbruch einleiten würde, zog sich nach der Revolution durch die Intellektuellendiskurse aller politischen Lager hindurch.294 Die neuen Leitbilder auch der revolutio när-intellektuellen Linken verbanden sich noch mit den Feindkonstruktionen des Weltkrieges, wenn die gebildeten Nachkriegssozialisten proklamierten, dass „Deutschlands Stärke“ bei seinen „geistigen Leistungen“ und abseits von „Militärdrill“ und „englandähnlichem Krämergeist“ liegen würde.295 Diese Aussagen lagen ganz auf Bonus’ Linie, für den die Deutschen sich gegenüber land, München 1986, 149; Lujo Brentano: Mein Leben im Kampf um die soziale Entwick lung Deutschlands, Jena 1930, 353 f. Vgl. Briefdurchschlag Bonus an den „Rat geistiger Ar beiter“, Taufkirchen 15.11.1918 [LKA Eisenach, NL Bonus 21_003]. 291 Brief Jakob an Bonus, München 1918 [ebd., 24_002]. 292 Schlüter erhoffte sich von Bonus auch persönliche und finanzielle Unterstützung so wie die Förderung durch Aufnahme in das Kunstwart-Netzwerk. Er kenne keinen gegen wärtigen Denker, der ihn innerlich so befruchtet habe wie Bonus (Brief Schlüter an Bonus, Zehlendorf 10.5.1918; [ebd., 26_006]). Bonus verhielt sich eher distanziert, was Schlüter mit seitenlangen brieflichen Tiraden beantwortete: „Dass Sie meine Aufgabe, die meine von Gott mir verliehene SENDUNG mir spendet, nicht schauen, ist Ihre Schwäche, nicht meine Schuld” (Brief Schlüter an Bonus, Zehlendorf 28.8.1919; Antwortbrief Bonus an Schlüter, 4.9.1919 [ebd.]). Zur Unterstützung Schlüters animierte Bonus Gogarten zu einer Rezension, die dieser aber ablehnte, weil er Schlüters Bücher thematisch zu „mühsam“ fand (Brief B onus an Gogarten, Elmau 8.7.1919 [UB Göttingen, NL Gogarten, (63)]/Brief Gogarten an Bonus, Stelzendorf 6.3.1920 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.10]). 293 Willy Schlüter: Empor-Menschlichung. Einführung in das deusche Tat-Denken, Dresden 1919, 7. Während Bonus sich mit Schlüter in einer Mischung aus Faszination und Ablehnung auseinandersetzte, lehnte er völkisch-religiöse Kontaktaufnahmen rundum ab, weil er diese für eine unhistorische Übersteigerung hielt, vgl. etwa die Reaktion auf ein Flug blatt von Hermann Stephanie: Zur religiösen Frage der Gegenwart, Sontra 1918 (Deutsch gläubige Flugblätter 2) (Briefkonzept Bonus, Taufkirchen 27.7.1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_005]). 294 Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignung in Deutschland 1918–1933, München 2008, 273. 295 Brief Jakob an Bonus, München 1918 [ebd., 24_002].
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dem westlichen Liberalismus als „sozialistische Vorkämpfer für eine neue Welt ordnung“ betätigten.296 Damit war die Frage einer Neuorientierung zwischen Ost und West verbunden, die durch die demütigenden Friedensbedingungen der Alliierten an Gewicht gewann. Während Ernst Troeltsch oder Paul Rohrbach nach einer ausgleichenden Positionierung in der „Mitte“ strebten und sich im Kunstwart für eine Annäherung an die westlichen Kriegsgegner aussprachen, um einen gemeinsamen Riegel gegen die Ausweitung des Bolschewismus bil den zu können, propagierte Bonus den nationalen Sozialismus als eigenstän digen deutschen Ordnungsgedanken, den er von den Idealen der russischen Re volution und dem westlichem „Quadratkilometerimperialismus“ abgegrenzt wissen wollte.297 In den „jugendlichen“ Revolutionsvölkern Osteuropas fand er das gestalterische Zukunftspotential, eine neue Gesellschaftsordnung vorzu bereiten, weswegen er zur Bildung einer „internationalen sozialistischen Front“ aufrief.298 Versuche, Bonus in eine antirepublikanische „nationale Front“ einzubinden, blieben hingegen erfolglos. Mit diesem Ansinnen wandte sich Friedrich von Fal kenhausen, zuvor Reichskommissar für die besetzten Ostseegebiete, im Dezem ber 1918 an Bonus, um für Sympathien für die kurz zuvor begründete Deutsch nationale Volkspartei als einer nationalen Sammlungspartei zu werben.299 Bonus erklärte seine grundsätzliche Sympathie für die Anliegen des Konserva tismus, die im Dreieck von Sozialpaternalismus, nationaler Gesinnung und star kem Kulturstaat lagen, dessen Verwurzelung im Wilhelminismus er aber ab lehnte. Dementsprechend bekannte er sich gegenüber Falkenhausen zu einem entschiedenen Nationalismus, den er aber gegenüber alldeutschen Parolen als idealistischen Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Nation verstanden wissen wollte. Von der DNVP ging die Gefahr aus, die gleiche spaltende Wir 296
Bonus: Ein Unterschied, in: Kunstwart 33/3 (1920), 175. Ders.: In Sachen der deutschen ‚Orientierung‘, in: Kunstwart 33/1 (1919), 87–89; ders. [T-r]: Neues zur östlichen Orientierung, in: ebd., 33/2 (1920), 130–132; ders.: Immer wieder: West oder Ost!, in: ebd., 33/3 (1920), 319–320; Ernst Troeltsch: Sozialismus, in: ebd., 33/2 (1920), 97–207; Paul Rohrbach: Ostpolitik, in: ebd., 32/3 (1919), 14–16.64–67 sowie ebd. 32/4 (1919), 53–56; vgl. K ratzsch: Kunstwart, 406 f.; dass sich Deutschland zwischen den Polen von „Entente-Kapitalismus und Bolschewismus“ behaupten müsse, nahm auch roeltsch wahr: Die geistige Revolution, in: ebd., 34/1 (1921), 227–233, 227. T 298 Bonus/H ermann Graf K eyserling: Die Aufgabe, in: Kunstwart 33/1 (1919), 145–150. 299 Brief Falkenhausen an Bonus, 17.12.18 [LKA Eisenach, NL Bonus, 04_013]. Zur Gründung am 24.11.1918 und politischen Ausrichtung der DNVP sowie ihrer Wirkung vgl. Werner Bergmann: Deutsch-Nationale Volkspartei, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012, 191–197; M aik Ohnezeit: Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011. 297
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kung auszuüben wie der alldeutsche Nationalismus und die Vaterlandspartei im letzten Kriegsjahr: Dies Vaterland darf und durfte nicht zur Parteisache gemacht werden. Sie wissen garnicht, was die Agitation der „Vaterlandspartei“ für nicht wieder gut zumachende Schäden gestiftet hat.300
In der Bewertung der jungen Republik ließ sich keine Schnittmenge finden. Bonus warf den Nationalkonservativen der Weimarer Frühphase vor, dass diese mit ihrer Obstruktionspolitik den „Verzweifelungskampf“ der Revolutions regierung zwischen Freikorpsgeist und Reparationsforderungen noch weiter erschwerten.301 Im Kunstwart und der Allgemeinen Zeitung griff er die Alldeut schen und die DNVP an, weil diese sich in der gleichen Weise wie in der Vor kriegszeit als Hemmschuh für die freie staatliche Entwicklung betätigen wür den.302 Dazu wies er auf die soziale Reformära der 1890er Jahre zurück, in der der Konservatismus alle Reformansätze mit seinen „Zerschmetterungs- und Zuchthausreden“ unterbunden und sich zur Interessenpartei der Besitzenden aufgeschwungen habe.303 Die Kontinuitätslinie erwies sich in Bonus’ Augen während des gescheiterten Kapp-Putsches vom 13. März 1920 als richtig, an dem sich neben anderen auch Gottfried Traub und Friedrich Karl von Falken hausen als Mitverschwörer beteiligten. Bei diesem auf gekränkten Nationalstolz und ungerechte Friedensbedingungen zurückgeführten Umsturzversuch waren „fanatische Idealisten“ von Rechts am Werk, denen gegenüber Bonus im Kunstwart noch einmal die Notwendigkeit betonte, eine wirkliche „soziale Erneue rung“ durchzuführen.304 Bonus und Rade hielten um der Festigung des neuen Staates willen ein hartes Durchgreifen gegen die Drahtzieher des Putsches – „Traub u.[nd] Genossen“, „Ludendorff u.[nd] Westarp“ – für berechtigt, damit diese nicht „obenauf bleiben“ würden.305 Um Bonus’ politische Stellung auf dem hoch divergenten Feld ideologischer Neuansätze nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verorten zu könne, lässt sich auf zwei konservative Entwürfe verweisen, die er im Kunstwart rezensierte. Dabei handelte es sich zum einen um die 1919 veröffentlichte antidemokratische Kampfschrift Preußentum und Sozialismus des Kulturphilosophen Oswald 300
Briefkonzept Bonus an Falkenhausen, 18.12.1918 [ebd.]. Briefkonzept Bonus an Falkenhausen, 12.12.1919 [ebd.]. 302 Bonus [tz]: Die alte Kampfesweise, in: Allgemeine Zeitung (Nr. 4 v. 7.1.1919) [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_005] 303 Ders.: Die alte Kampfesweise. Auch in eigener Sache, in: Kunstwart 32/3 (1919), 18–20. 304 Ders.: Bemerkungen nach dem ‚Staatsstreich‘-Versuch, in: Kunstwart 33/3 (1920), 85–88; ders.: Was kommt?, in: ebd., 55–58. 305 Brief Rade an Bonus, Marburg 29.6.1920 [ebd., 03_006]; Bonus: Bemerkungen nach dem ‚Staatsstreich‘-Versuch, in: Kunstwart 33/3 (1920), 85–88. 301
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Spengler.306 Spengler umschrieb in diesem von Verachtung für die Revolution erfüllten Manifest einen nationalen Sozialismus in einem autoritären Führer staat, den er als deutsch-preußisches Kulturideal den als dekadent abgelehnten westlichen Werten entgegensetzte. Sowohl der revolutionäre Sozialismus der Arbeiterbewegung als auch der liberale Parlamentarismus wurden entschieden abgelehnt. Bonus teilte Spenglers Bewertung des deutschen „Pflichtmenschen“ mit seiner Eingebundenheit in das Ganze des Staatswesens sowie seine anti liberale Kapitalismuskritik.307 Spenglers autoritärer „Kopf-durch-die-Wand“Politik und seinem Militarismus konnte Bonus hingegen nichts abgewinnen. Für ihn waren es der revisionistische Flügel der Sozialdemokratie und die Nau mann-Bewegung, die in Weiterführung des Kriegssozialismus einen sozialen Nationalstaat als zukünftige Staatsform vorbereitet hatten.308 Zum anderen wies Bonus auf den Entwurf des neukonservativen Journalisten Adam Röder Der deutsche Konservatismus und die Revolution hin, eine Au ßenseiterposition im konservativen Spektrum, die dezidierte Kritik an einer Übersteigerung des Konservatismus ins Völkische und Rechtsradikale übte.309 In Röders kulturkonservativer Versuch, das nationale Machtstreben „mit über nationalem und idealem Gedankengut zu rechtfertigen, zu veredeln und zu bän digen“, sah Bonus den Weg zu einer zukünftigen Staatsgesinnung eher vorge zeichnet als bei Spengler.310 Er strebte einen „religiös-ethischen Konservatis mus“ an, der statt in Untergangsmetaphorik zu verfallen wirkliche Ansätze zu 306 Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus, München 1919; dazu vgl. H ans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933, Berlin 1998, 370 f.; Heinz Dieter K ittsteiner: Oswald Spengler zwischen ‚Untergang des Abendlandes‘ und ‚Preußischen Sozialismus‘, in: Wolfgang H ardtwig/Erhard Schütz (Hg.): Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, 309–330. 307 Bonus: Furchtlosigkeit, Wahrheit, Takt, in: Kunstwart 33/3 (1920), 206–209; ders.: Konservatismus und Sozialismus. Zwei konservative Stimmen, in: ebd., 357–365.398–402 sowie ders.: Alters- und Jugendurteil. Nach einem Vortrag vor der ‚Freideutschen Jugend‘, in: ebd., 33/2 (1920), 145–151. 308 Bonus verwies auf den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Paul Lensch, der 1917 den Kriegssozialismus als politisch-soziales Einheitsmodell entfaltet hatte: Paul Lensch: Drei Jahre Weltrevolution, Berlin 1917; zu diesem vgl. Rolf Peter Sieferle: Die Geburt des nationalen Sozialismus im Weltkrieg. Paul Lensch, in: ders.: Die Konservative Revolution, Frankfurt 1995, 45–73. 309 A dam Röder: Der deutsche Konservatismus und die Revolution, Gotha 1920; Bonus: Konservatismus und Sozialismus. Zwei konservative Stimmen, in: Kunstwart 33/3 (1920), 357–365.398–402. 310 So die Charakterisierung des Kulturkonservatismus bei Rüdiger vom Bruch: Welt politik als Kulturmission, Paderborn 1982, 41–57; vgl. Dietrich Mende: Kulturkonservatis mus und konservative Erneuerungsbewegung, in: H ans Thierbach (Hg.): Adolf Grabowsky. Leben und Werk, Köln 1963, 116–120.
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„innerer Verjüngung“ förderte.311 Der Liberalismus hatte als Zukunftsprinzip ausgedient. Für Bonus blieb die Erneuerung Deutschlands ein Ziel, das sich wie eine Neugeburt nach dem Zusammenbruch ergeben würde. In einem „Pfingsttraum“ malte er die neue Gesellschaftsordnung aus, die in dem am Boden liegenden Deutschland entstehen würde und in Zukunft ohne Kapitalismus und Schwer industrie auskommen würde. Von dort aus würde die „Heilung“ des zerstörten Europas beginnen. Von der „Peripherie“ aus sollte Deutschland durch die Sammlung der „Idealisten aus allen Parteien“ erneuert werden: die innere, geis tige Entwicklung der Nation behielt auch unter den veränderten Bedingungen den Vorrang vor der politischen Pragmatik.312 Die Begeisterung für den von Bonus enthusiastisch befürworteten nationalen Sozialismus blieb nicht unwi dersprochen. Der Kunstwart-Redakteur Wolfgang Schumann deutete an, Bonus habe jeglichen „Wirklichkeitssinn“ verloren und ziele auf ein Kulturideal, das mit den konkreten Zielen und Nöten der sozialdemokratischen Politik wenig zu tun habe.313 Ähnlich reagierte Erich Foerster als einer der entschiedenen, poli tisch aktiven Liberalen aus dem Kreis um die Christliche Welt. Er hielt es für eine Fehleinschätzung, nach dem Krieg eine europäische Neuordnung unter so zialistischen Vorzeichen und unter der Führung Deutschlands anbahnen zu wol len. Ein solches Vorhaben hätte nicht den gewünschten Ausgleich, sondern die völlige wirtschaftliche und politische Isolation herbeigeführt, waren die westli chen Staaten in Foersters Augen doch „antisozialistisch“ eingestellt.314 In Foersters Augen war eine wirksame „Sozialreform“ notwendig, während er die von Bonus betriebene utopische Überhöhung des Sozialismus als Mittel zur Überwindung der Kulturkrise für einen Irrweg hielt.315 311 Bonus: Konservatismus und Sozialismus. Zwei konservative Stimmen, in: Kunstwart 33/3 (1920), 357–365.398–402; vgl. die ablehnenden Äußerungen zu Spengler in ders.: Furchtlosigkeit, Wahrheit, Takt, in: ebd., 33/3 (1920), 206–209, wo Bonus die sozialdemokra tische Ausrufung der Republik gegen Spengler verteidigt. In Auseinandersetzung mit Kurt Breysig: Kulturgeschichte der Neuzeit, und Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Wien 1918) kritisierte Bonus die Weltuntergangsstimmung Spenglers, die er für einen „Marktschlager“ hielt. Der Kulturpessimismus Spenglers schien ihm durch ein neues Be wusstsein der „Jugend“ überholt zu sein: Statt „mit Anstand mitzualtern“ gelte es, eine neue Kultur mit vorzubereiten: ders.: Alters- und Jugendurteil. Nach einem Vortrag vor der ‚Frei deutschen Jugend‘, in: Kunstwart 33/2 (1920), 145–151. 312 Ders.: Wirklichkeitsfern? Ein Pfingsttraum, in: Kunstwart 33/3 (1920), 145–152. 313 Briefe Schumann an Bonus, 1.4.1920 und 20.4.1920 [LKA Eisenach, NL Bonus, 22_004]. 314 Brief Foerster an Bonus, Frankfurt 16.12.1919 [ebd., 24_001]; vgl. auch Briefkonzept Bonus an Rade, 16.2.1920 [ebd., 03_006], in dem er von Foersters Widerspruch berichtet. 315 Ebd., Foerster erklärte, der Sozialismus stelle nur ein „Wirtschaftssystem“ dar, was Bonus am Rand mit einem „Nein!“ quittierte.
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Mit seinem antirevolutionären, nationalen Sozialismus scheint sich Bonus in den Revolutionsjahren der Weimarer Republik zu den „linken Leuten von rechts“ (Kurt Hiller) zählen zu lassen, die ebenso antiliberal wie antikommunis tisch eine Zusammenarbeit zwischen den Parias der europäischen Staatenord nung Deutschland und Russland zu erreichen versuchten und zugleich einen eigenständigen politischen Weg Deutschlands propagierten.316 Das positionelle Spektrum reichte von nationalbolschewistischen Ideologen wie Ernst Niekisch, Vertretern des neuen Nationalismus wie Max Maurenbrecher, der einen „Deut schen Sozialismus“ forderte, bis hin zu Ernst Jüngers Ankündigung einer Nati onalen Revolution.317 Durch die Verschmelzung von rechtem und linkem Ge dankengut, mit der diese Krisendenker die Gegenwartslage und die politische Situation der Republik deuteten, wirkten sie einflussreich auf die gesellschaftli chen Einstellungen im protestantischen Bildungsbürgertum.318 In der Abkehr vom Liberalismus, den er vor dem Krieg noch für ein ausbaufähiges, notwendi ges funktionales Segment der Bürgergesellschaft hielt, in der Verbindung von Volkstum und ethischem Gesinnungssozialismus, sowie in der Forderung nach „Heilung“ der kapitalistischen Wirtschaftsordnung berührte sich Bonus mit den Anliegen der Konservativen Revolution der zwanziger Jahre.319 Die Forderung einer Politik, die das „Volksganze“ an die Stelle von Einzel- und Gruppeninter essen stellen und durch ein „rechtes Führertum“ den Parteienpluralismus mit telfristig überwinden sollte, rückte ihn in den Bereich der antidemokratischen Kräfte der Weimarer Republik.320 Auch die Aufgabenstellung, durch nationale Erziehung zu deutscher Gesinnung ein neues Deutschland vorzubereiten, ge hört in diesen Horizont. Es erscheint daher konsequent, wenn Wilhelm Stapel als prägende Figur der jungkonservativen Bewegung und des neurechten „Juni- Klubs“ Bonus 1927 sein Bedauern darüber aussprach, dass dieser „keinen An schluß an unsern Kreis genommen“ habe.321 Bonus bewahrte aber zunächst
316 Otto -Ernst Schüddekopf: Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Min derheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960; kritisch Louis Dupeux: „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985. 317 Zu diesem Spektrum vor dem Hintergrund der protestantisch-theologischen Auseinan dersetzung vgl. H artmut Ruddies: Flottierende Versatzstücke und ideologische Austausch effekte. Theologische Antworten auf die Ambivalenz der Moderne, in: M anfred Gangl/ Gérard R aulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Frankfurt 2007, 61–78. 318 Ebd., 67. 319 Bonus: Wirklichkeitsfern? Ein Pfingsttraum, in: Kunstwart 33/3 (1920), 145–152. 320 Briefkonzept Bonus an Falkenhausen, 12.12.1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 04_013]. 321 Brief Stapel an Bonus, 2.3.1927 [ebd., 23_002].
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istanz sowohl zu Stapel als auch zu den Jungkonservativen, die ab 1929 unter D Hans Zehrer der Diederichs-Zeitschrift Die Tat zu neuem Erfolg verhalfen.322 Der Aufladung von Bonus’ politisch-religiöser Prophetie mit nationalisti schem Geist im Sinne der konservativen Revolution standen seine aus dem freiprotestantischen Umfeld gewonnenen Prägungen entgegen. Mit Johannes Müller und anderen Elmau-Pilgern war er sich einig in der Ablehnung des „greulichen Rassismus“ und der „patriotischen Überheblichkeit“ der Kriegsjah re.323 Die rechte „Hetze“ gegen die Republik, wie sie etwa Gottfried Traub in den Eisernen Blättern betrieb, wurde als Gefährdung der nationalen Zukunft angesehen.324 Die politischen Probleme der Gegenwart leitete er aus der „natio nalistischen Wut gegen das eigene Volk“ ab, deren Wirksamkeit als Spaltpilz er für bedrohlich hielt.325 Demgegenüber wurden im Kunstwart die Versuche Mar tin Rades oder Heinrich Hermelinks, sich im republikanischen Geist gegen die Nationalisierung der Studentenschaft zu richten, als vorbildlich dargestellt.326 Das Deutschland, „wie es Alldeutsche, Imperialisten und Kapitalisten“ wollten, war in Bonus’ Augen im Krieg untergegangen. Die Verbindung von „Kultur patriotismus und Heimatgefühl“ als politische Mission des Nachkriegsdeutsch tums, wie Bonus es 1919 gemeinsam mit dem Philosophen und Religionsschrift steller Hermann Graf Keyserling auf eine Formel brachte, machte die Anbin dungen an völkische wie an linksintellektuelle Entwürfe gleichermaßen möglich.327
322 Vgl. Edith H anke/Gangolf Hübinger: Von der ‚Tat‘-Gemeinde zum ‚Tat‘-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geis ter, München 1996, 299–334; Bonus: Die Tat. Unabhängige Monatsschrift, in: CW 46 (1931), 666–668. 323 Brief Rudolf Hermes an Bonus, Hamburg 24.6.1919 [ebd., 24_002]; Hermes war Pfar rer in Hamburg und Mitglied der „Freunde der Christlichen Welt“ . 324 Brief Hermes an Bonus, Hamburg 19.9.1919 [ebd.]; Hermes schickte Bonus Ausschnit te aus den Eisernen Blättern als Beleg zu. 325 Bonus: Der Sozialismus als materialistische Weltanschauung, in: Kunstwart 33/3 (1920), 179–181 326 Ders.: Studenten- und Arbeiterschaft, in: Kunstwart 33/3 (1920), 215. 327 Ders./H. Graf K eyserling: Die Aufgabe, in: Kunstwart 33/1 (1919), 145–150. Bonus wirbt für die Schrift von K eyserling: Deutschlands wahre politische Mission, Darmstadt 1919. Die Verbindung zu Keyserling war über Johannes Müller und die Elmau vermittelt (Brief Müller an Bonus, 16.4.1919 [ebd., 04_045]).
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2. „Zur religiösen Krise“. Zwischen Gogarten und Religiösem Sozialismus Die Gründung der Weimarer Republik markiert auch eine theologiegeschicht liche Zäsur. Für viele jüngere Theologen verdichtete sich die Erinnerung an den Krieg wie für Bonus und sein Umfeld zu einem wirkmächtigen Symbol für das Überlebtsein der wilhelminischen Bürgerkultur und ihrer Theologien. Die K ritik am Gewesenen mündete in zahlreichen Aufbruchs- und Orientierungs versuchen ein, die sich in einem Kaleidoskop unterschiedlicher Positionen und Abgrenzungen niederschlugen. Im religiösen Sozialismus, aber auch von völki schen oder junglutherischen Gruppierungen wurden Ansätze von „politischen Theologien“ formuliert, die auf eine Abrechnung mit dem liberal-bürgerlichen Wertesystem zielten und sich im Laufe der Weimarer Jahre zunehmend polari sierten. Hinzu trat die auch von nichttheologischen Intellektuellen geäußerte Wahrnehmung einer Kulturkrise, die innerhalb der kirchlichen Landschaft kei neswegs ausschließlich, aber besonders wirkungsvoll von Karl Barth, Friedrich Gogarten und den Anhängern der „Dialektischen Theologie“ angesprochen wurde. Ernst Troeltsch zufolge war neben den politischen Umbruch die „geistige Re volution“ getreten, die den Bereich des religiösen Leben am tiefsten erfasst hat te. Wie er 1921 als geistesgeschichtliches Resümee über die ersten Weimarer Jahre im Kunstwart ausführte, artikulierte sich ein neues, auf „Gemeinschaft und Verinnerlichung“ ausgerichtetes Bedürfnis nach elementarer Frömmigkeit, das den Rationalismus und die historisch-kritische Verankerung der akademi schen Theologie ablegen wollte und damit besonders für den kirchlichen Pro testantismus eine Herausforderung darstellte.328 Der Ruf nach Eindeutigkeit, nach weltanschaulicher Synthese und individuell-wertender „Stellungnahme“ ist theologiegeschichtlich als „antihistoristische Revolution“ bezeichnet wor den.329 Er ging aus von dem Begehren nach einem unanfechtbaren Ort über der Geschichte, von dem aus ein Urteil ohne historische Relativierung möglich sein sollte, der das Handeln, Denken und Urteilen des Einzelnen über den weltan schaulichen Pluralismus der Moderne heraushob. Das Ineinander von kulturkritischen Zweifeln an der Bewältigungsfähigkeit der Moderne, von einer Suche nach einer als grundlegend neu empfundenen 328
Ernst Troeltsch: Die geistige Revolution, in: Kunstwart 34/1 (1921), 227–232. Graf: Die ‚antihistoristische Revolution‘ in der protestantischen Theologie der zwan ziger Jahre, in: ders. (Hg.): Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 111–138; Kurt Nowak: Die ‚antihistoristische Revolution‘. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientie rung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: R enz/Graf (Hg.): Umstrittene Moderne, Gütersloh 1987, 133–171. 329
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Theologie und dem Bedürfnis nach sozialer Wirksamkeit rückte auch in Bonus’ Umfeld parallel zu seiner politischen Publizistik zu einem prägenden Thema der Jahre nach 1918 auf. Dabei wurde die schon vor dem Krieg begonnene Hervorhebung des Schöpferisch-Erlebnishaften vertieft, die Ablehnung der liberalen Theologie wiederholt und im religiösen Sozialismus nach einer ver gemeinschaftenden Wirkung gesucht. Gogarten fasste das Verbindende im Literatur-Ratgeber des Dürerbundes von 1919 unter der Überschrift die „neue religiöse Bewegung“ zusammen.330 Deren Bestrebungen hoben sich von der „li beralen Theologie und ihrer Religion“ ab, sahen sich nicht „an die Historie“ gebunden, sondern richteten sich in Abwehr des „Intellektualismus“ auf „Un mittelbarkeit“, „Persönlichkeiten“ und das individuelle „Erleben“.331 In seinem Münchner Umfeld traf Bonus als bekannter Religionsintellektuel ler aus dem Kreis der Christlichen Welt auf die Einflüsse jüngerer Theologen, die sich an einer religiösen Überwindung der festgestellten Kulturkrise abarbei teten. In den Münchner Revolutionswirren 1918/19 und der kurzlebigen, durch den Einmarsch von Freikorps zerschlagenen Räterepublik stießen spannungs reiche Einflüsse vom völkischem Nationalismus bis zum radikalen Kommunis mus aufeinander.332 1919 trat der von Friedrich Rittelmeyer und der Blumhardt schen Reich-Gottes-Predigt beeinflusste Theologe Georg Merz an Bonus heran, der über Johannes Müller und den Diederichs-Verlag auf ihn gestoßen war und wie Bonus in der Nachkriegszeit nach religiös-sozialen Neuansätzen suchte.333 Merz hielt im Juni 1919 einen Vortrag auf der bayrischen Pastoralkonferenz über Religiöse Ansätze im modernen Sozialismus, der auf erheblichen Wider willen bei der konservativen lutherischen Pfarrerschaft stieß, von Bonus aber enthusiastisch als Vorzeichen des religiösen Aufbruchs begrüßt wurde.334 Über 330
Friedrich Gogarten: Die neue religiöse Bewegung, in: Wolfgang Schumann (Hg.): Literarischer Ratgeber des Dürerbundes, München 1919, 381–386, 381 f. Gogarten hatte die sen Text schon während des Krieges ab 1916 verfasst, vermutlich, nachdem Bonus gegenüber Schumann seine Beteiligung abgesagt hatte, weil er sich angesichts der unklaren religiösen Umbruchssituation zu einer synthesehaften Berichterstattung nicht in der Lage sah (s. o., Bonus fragte im März 1919 noch einmal nach dem Referat: Brief Bonus an Gogarten, Tauf kirchen 15.3.1919 [UB Göttingen, NL Gogarten (61)]). 331 Ebd., 381 f. 332 Bonus’ Krisenwahrnehmung steigerte sich angesichts der Münchner revolutionären Auseinandersetzungen um die Niederschlagung der Räterepublik, wie er Gogarten berichte te: „Erbarme sich Gott unseres armen kranken Volkes, nun zerstreiten sich auch die Arbeiter unter einander. […] ich muß täglich neu versuchen, mein nötiges Quantum Zukunftshoffnung zusammen zu scharren” (Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 3.4./15.4.1919 [ebd. (62)]). 333 So im Rückblick: Brief Merz an Bonus, 24.3.1928 [LKA Eisenach, NL Bonus, 23_001]; zum Umfeld biographisch zu Merz: M athias M. Lichtenfeld: Georg Merz. Pastoraltheologie zwischen den Zeiten, Gütersloh 1997, 118–124. 334 Bonus: Verschiedenes. Religiöse Ansätze im modernen Sozialismus, in: CW 33 (1919),
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Merz kam Bonus in Kontakt mit Karl Barth, der ihn mehrfach in Taufkirchen besuchte, wo die erste Auflage des berühmten Römerbriefs diskutiert wurde.335 Auch Otto Piper, später Systematikprofessor in Göttingen und Münster, wandte sich an Bonus, von dem er Aufschlüsse angesichts der grundlegenden Erosion des Christentums in der Gegenwart erwartete.336 Mit Piper und Merz beteiligte sich Bonus an dem von Rittelmeyer in München begründeten „Protestantischen Laienbund“ als einer liberalprotestantischen Vereinigung, deren „rationalisti sche Unterbauung“ Bonus „durch eine religiös tiefere zu ersetzen“ gedachte.337 Es waren vor allem Theologen, die wie Friedrich Gogarten während ihrer Stu dienzeit mit dem historisch-kritischen Liberalismus in Berührung gekommen waren, während des Krieges aber zunehmend davon abrückten und von der Jugendbewegung oder den Diederichs-Theologien geprägt danach strebten, die religiöse Lebensmacht des Christentums gegen die Zivilisationskälte und die Umbrüche der Nachkriegsgesellschaft zu erneuern.338 Barth, Merz, Piper und Gogarten hatten sich im September 1919 auf der ersten Gründungsversamm lung der Religiös-Sozialistischen Vereinigung in Deutschland in Tambach ken nengelernt.339 Auch Eugen Diederichs hatte an dieser Tagung teilgenommen.340 Wie Wilhelm Stapel im Deutschen Volkstum beschrieb, wurde hier innerhalb der Nachkriegstheologie eine religiöse Suchbewegung erkennbar, die sich der Freilegung des „unmittelbaren Lebens“ gewidmet hatte, die Stapel unscharf mit 677–678. Bonus rezensiert: Georg Merz: Religiöse Ansätze im modernen Sozialismus, Mün chen 1919. 335 Postkarte Barth an Bonus, 3.1.1921 [ebd., 14_007]. Für Barth war Bonus ein „trefflich mürrisch-vergnügter Einsiedler in einer Bauernhütte“, von dessen religiösem Umfeld er al lerdings bald Abstand nahm (Brief Barth an Thurneysen, 19.2.1920, Briefwechsel Barth-Thur neysen, 367 f.). 336 Brief Piper an Bonus, München 27.10.1918 [ebd., 22_002]. Zwischen Bonus und Piper entwickelte sich eine Freundschaft, die auch dessen Emigration über England in die USA überdauerte. In Taufkirchen war er ein häufiger Gast, obwohl Bonus gegenüber Gogarten zunächst die rationalistische „Leere seine[r] religiösen Grundposition“ bemängelte, dieses Urteil aber bald revidierte (Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 15.3.1919 [UB Göttingen, NL Gogarten (61)]). Zu Piper vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: ders. (Hg.): Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 329–341. 337 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 3.4.1919 [ebd. (62)]. Zu dieser Vereinigung vgl. die kurze Bemerkung bei M athias M. Lichtenfeld: Georg Merz, 120. 338 Zu Pipers Verhältnis zur Jugendbewegung vgl. ders.: Jugendbewegung und Protestan tismus, Rudolstadt 1923; Otto Pipers 1920 in Göttingen abgeschlossene Dissertation zum religiösen Erleben betraf eine Fragestellung, die auch Bonus höchstgradig interessierte: Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermacherschen Reden über die Religion, Göttingen 1920. 339 Vgl. K roeger: Gogarten, 202–205; die Einladung in CW 33 (1919), 532.577. 340 Vgl. Brief Diederichs an Hermann Kutter, in: M ax Geiger: Hermann Kutter in seinen Briefen, München 1983, 408 f.
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den Namen Johannes Müller, Hermann Kutter, Friedrich Gogarten und Arthur Bonus verknüpfte.341 Es lassen sich zwei ideengeschichtlich wichtige Positionsbildungen unter scheiden, die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik gleichermaßen Fas zination auf Bonus ausübten, erstens nämlich der religiös-politische Aufbruch im religiösen Sozialismus, zweitens die Erörterung der „religiösen Krise“, auf die Bonus von der dialektischen Theologie Karl Barths und Friedrich Gogartens kurzzeitig Lösungsansätze erwartete. Beide Bewegungen entstanden in enger Affinität und Zuordnung im Gegensatzgefühl gegen den kirchlichen Konfessio nalismus und die Spielarten bürgerlich-liberaler Theologie, entwickelten sich jedoch bald in erkennbar verschiedene Richtungen weiter:342 Bonus blieb hier ein Randsiedler, der aus den antiliberalen Aufbrüchen besonders in ihrer ex pressionistischen Frühphase zeitweilig die erwartete Umformung des Christen tums hervorgehen sah. In den um Gogarten, Barth sowie die Religiösen Sozia listen entstehenden „Gruppen und Kreisen“ sah er einen „großen Fortschritt“.343 Im religiösen Sozialismus fand Bonus eine Bewegung vor, die in propheti schem Gestus auf eine christlich-sozialistische Erweckung vom Geiste der Bergpredigt her ausgerichtet war.344 Schon in den Vorkriegsjahren waren die Schweizer Ansätze zum religiösen Sozialismus vor allem um Leonhard Ragaz von Gogarten und Bonus im Umfeld der Christlichen Welt diskutiert worden. Auch Diederichs hatte mit Hermann Kutter einen religiös-sozialistischen Autor gefördert und rechnete sich diesem Spektrum zu. Nach 1918 verlegte er weiter hin Schriften von Religiösen Sozialisten, zu denen er auch Friedrich Gogarten zählte, als einen Beitrag zu der von ihm erhofften sozial orientierten „Laien religion“.345 Von dieser Richtung her kam auch Bonus’ Interesse an der sich neu formenden Gruppierung. Wie er Gogarten mitteilte, erwartete er, dass „aus re gerem Gemeinleben“ in den religiös-reformerischen Kreisen „etwas Neues wachsen kann“.346 Georg Merz’ 1919 veröffentlichtes Manifest über Religiöse Ansätze im modernen Sozialismus enthielt Thesen, die sich mit Bonus ethisch-so zialem Programm eng verbinden ließen. Merz forderte eine Abkehr der Kirchen 341
208.
Wilhelm Stapel: Vom ‚unmittelbaren‘ Leben, in: Deutsches Volkstum 23 (1921), 203–
342 Vgl. die Darstellung von K roeger: Gogarten, 204 f., der diverse Belege für die Identi fikation der Dialektiker mit den Religiös-Sozialen in der Frühphase versammelt. 343 Postkarte Bonus an Gogarten, Taufkirchen 12.10.1920 [UB Göttingen, NL Gogarten (72)]; Bonus betonte hier gegenüber Gogarten allerdings seine Beobachterposition. 344 Vgl. Georg M erz: Freundschaft mit Albert Lempp, in: 125 Jahre Chr. Kaiser Verlag München, München 1970, 30–41, 32 f. 345 Vgl. H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 305 f.; hinzuweisen ist besonders auf die Tat-Flugschrift von Carl Mennicke: Proletariat und Volkskirche, Jena 1920. 346 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 3.4.1919 [ebd. (62)].
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von den bürgerlichen Parteien und eine Hinwendung zur Arbeiterbewegung und den „Lebensfragen des Volkes“, er sah das Christentum in der Rolle, dem Ge meinschaftserleben des Sozialismus eine religiös-ethische Unterfütterung zu geben; vor allem aber schienen durch die Revolution die theologischen „Prinzi pienfragen“ in Bewegung gekommen zu sein.347 Für Bonus kam im religiösen Sozialismus eine Frömmigkeit für die „prophetisch Gerichteten“ zum Vorschein, in der sich scharfer „Protest gegen die seelenlose Zeit des Kapitalismus und der Maschine“ ausdrückte. Die Religiös-Sozialen belegten, dass es mit der Herr schaft des „Verstandestums“ in der Theologie vorbei war und an seine Stelle eine Tatreligion trat, die er schon in seinen christlich-sozialen Anfängen erstrebt hat te. In Merz’ Ausführungen zeichnete sich für Bonus eine die Kirchentradition überwindende „Religion von heroischer Wucht oder versunkener Tiefe“ ab.348 In den dem revisionistischen Flügel der SPD zuzurechnenden Sozialistischen Monatsheften versuchte Bonus, die Verbindungslinien zwischen christlichen und sozialistischen Anliegen nachzuzeichnen. Die Religionsfeindschaft von Marx bis Lenin rührte seiner Ansicht nach aus der im Weltkrieg zuletzt hervor getretenen Verwendung des Christentums als „das religiöse Opium“ her, wäh rend er im Stile Naumanns die Nähe des revolutionären Glaubens der Sozialisten zu der ursprünglichen christlichen Reich-Gottes-Predigt und dem herrschafts überwindenden Zeiterlebnis der ersten Christen betonte. Deren grundstürzen des eschatologisches Bewusstsein und „kräftig religiöse Gesinnung“ wiederzu gewinnen würde auch der sozialistischen Revolution zum Erfolg verhelfen.349 Das kulturprotestantische Spektrum um die Christliche Welt zeigte insge samt ein hohes Interesse an den religiös-sozialistischen Bewegungen, kam doch in der „Polarität von sozialer Botschaft und Krisis der Kultur“ das Spezifische der Weimarer Umbruchslage zum Ausdruck.350 Martin Rade förderte entspre chende Ansätze in seiner Zeitschrift nach Kräften, die aus seiner Sicht eng mit den christlich-sozialen Idealen der Vorkriegszeit verknüpft waren. Die Bedeu tung der Religiösen Sozialisten, erklärte er auf der Versammlung der Freunde 347 Vgl.
Georg Merz: Thesen zum Thema der Pastoralkonferenz 1919. Die religiösen An sätze im modernen Sozialismus, in: Korrespondenz-Blatt 44 (1919), 176, zitiert bei Mathias M. Lichtenfeld: Georg Merz, 121. 348 Bonus: Verschiedenes. Religiöse Ansätze im modernen Sozialismus, in: CW 33 (1919), 677–678. Bonus nutzte die Gelegenheit, um auf seine eigenen christlich-sozialen Wurzeln im Kontext der Christlichen Welt hinzuweisen, die für ihn eine Kontinuitätslinie zur Nach kriegszeit bedeuteten. 349 Ders.: Einige Bemerkungen über das Verhältnis der Religion zur Revolution, in: Sozi alistische Monatshefte 25 (1919), 714–720, 714; Bonus zitiert Lenin: Staat und Revolution, Berlin 1918, 70. 350 H ans H artmann: Die religiöse Krisis, in: CW 35 (1921), 754–758–789–794, 754.
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der Christlichen Welt in Eisenach 1921, sei von allen Seiten aus anerkannt.351 Vor diesem Hintergrund und in Konsequenz seiner im Kunstwart dargelegten Bewertung des Sozialismus als nationalem Zukunftsprogramm trat Bonus im Juni 1919 dem von Berlin aus begründeten „Bund neue Kirche“ bei, einer Ver einigung von der Christlichen Welt zuzurechnenden Berliner Geistlichen, als deren Initiator der Charlottenburger Pfarrer Karl Aner auftrat und die sich bald mit anderen Gruppierungen in der „Religiös-Sozialistischen Vereinigung“ zu sammenschloss.352 Das Bündnis repräsentierte nicht ausschließlich die kompro mißlose Annäherung an den religiösen Sozialismus, sondern unterstützte auch die von linksliberalen Demokraten wie Naumann aufgestellten sozialreformeri schen Ideale und die Gründung einer breiten, demokratisch verfassten Volks kirche. Es wollte Völkerversöhnung mit „volksstaatlich-sozialistischen Idealen“ und Verfassungstreue verbinden.353 Bonus kam die Verbindung von Kirchen reform und Sozialismus ebenso entgegen wie Karl Aners scharfe Verurteilung der nationalistischen „Revancheapostel“ Traub und Mumm.354 Mit dem Aufbruch der dialektischen „Krisentheologien“ um Barth und Go garten ist ein zweiter Einfluss benannt, der sich in den persönlichen Verbindun gen zunächst eng mit den Religiösen Sozialisten berührte, sich aber bald nicht ohne Konflikte als eigenständiges theologisches Unterfangen herausbildete. Bonus sah in den frühen Äußerungen der dialektischen Theologie die Vorboten eines religiösen Denkstils, der sich von den Sprachformen der liberalen Vorgän ger nachdrücklich verabschieden würde. Gogarten gegenüber beklagte er im April 1919 die „Senilität“ der bisherigen Theologien, gegenüber denen die Viel falt an Neuansätzen noch keine durchbrechende Gestalt angenommen hatte.355 Ein Loskommen vom „wissenschaftlichen Sinn der Zeit“ erschien ihm wün schenswert, wobei es ihm schwerfiel, zum Ausdruck zu bringen, was „wir mit 351
An die Freunde (Nr. 71 v. 10.11.1921), 773; vgl. M artin R ade: in: CW (1921), 196. Brief Aner an Bonus mit Gründungsaufruf „Bund neue Kirche“, Berlin 1.6.1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 24_001]. Die Gruppierung war aus einer Berliner theologischen Min derheitengruppierung, der „Losen Vereinigung evangelischer Friedensfreunde“ hervorge gangen, die sich im Anschluss an die von Aner und Nithack-Stahn initiierte Friedenserklä rung deutscher Protestanten im Oktober 1917 gebildet hatte; vgl. M atthias Wolfes: Kirchen reform und demokratischer Staat. Eine Untersuchung zum kirchenpolitischen und politischen Wirken liberaler Theologen am Beispiel des Berliner Pfarrers Karl Aner (1879–1933), in: JBBK 63 (2001), 129–148, 143–145. Gottfried Mehnert: Evangelische Kirche und Politik 1917–1919. Die politischen Strömungen im deutschen Protestantismus von der Julikrise 1917 bis zum Herbst 1919, Düsseldorf 1959, 205; Paul Tillich: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), Berlin 1999, 259. 353 M atthias Wolfes: Kirchenreform und demokratischer Staat, 144. 354 Brief Aner an Bonus, Berlin 8.9.1919, anbei Rundschreiben „An die Mitglieder des Bundes Neue Kirche“, Berlin 1.9.1919 [ebd., 24_001] 355 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 3.4.1919 [UB Göttingen, NL Gogarten (62)]. 352
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tieferer innerer Bestimmung als letzte Wahrheit empfinden,“ wie er Gogarten eingestand.356 Dieser hingegen zeigte wachsende Zweifel an den gemeinsamen religiös-reformerischen Wurzeln, die er am Beispiel Johannes Müllers zum Ausdruck brachte. Gegenüber Müllers psychologisierender Seelenlehre und Bonus’ ekklesiologiefreier Mystik gewann für ihn nun die Frage nach dem „We sentlichen der Kirche“ an Bedeutung.357 In den alten „Dogmen“, schrieb er an Bonus, fand er mehr „Unmittelbarkeit“ und „Wucht“ als in der religionspsycho logischen Innenschau Müllers.358 Diese beginnende Rückführung aus dem Indi vidualchristentum Müllers, Bonus’ und Königs zu einer biblisch verankerten Theologie verstärkte zunächst seine Anfragen an den kirchlichen Protestantis mus: „Irgend etwas wie eine Kirche ist uns nötig wie das liebe Brot. Aber diese Kirche ist hoffnungslos.“ Gogarten verharrte weiterhin in seinem „Ekel vor je dem religiösen Werk irgend welcher modernen Färbung“, sah jedoch, wie er Bonus mitteilte, in der Gegenwart eine „Zwischenzeit“, die auf eine theologi sche Neubegründung hindeutete.359 So etwas wie eine „Offenbarung“ stellte die Begegnung mit der Theologie Karl Barths dar.360 Gogarten ließ 1920 in der Christlichen Welt zwei berühmt gewordene Pro grammartikel erscheinen, in denen er zunächst einen markanten Bruch mit den theologischen Traditionen der Vorkriegstheologie formulierte. In „Zwischen den Zeiten“, im Juni 1920 publiziert, brachte er in einem fast expressionisti schen Duktus seine Erschütterung über die „Zersetzung“ der modernen Bil dungskultur bis in den „Gottesgedanken“ hinein zum Ausdruck. Der Artikel stellte eine glatte Absage an die religiös-kulturelle Welt der modernen Theolo gie dar und forderte eine radikale Neubesinnung auf das „Fragen nach Gott“ 356 Brief Bonus an Gogarten, Taufkirchen 26.7.1919 [ebd. (64)]. Bonus gab gegenüber ogarten zu, dass er trotz Hang zu „prophetischer Rede“ damit rang, die „Klippe“ in das G religiös Unmittelbare zu umschiffen. 357 Briefe Gogarten an Bonus, Stelzendorf 21.3.1919, 3.4.1919, 19.7.1919, 28.8.1919 und besonders 6.3.1920 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.09/10]. Eine über Bonus vermittelte Einladung nach Elmau schlug Gogarten aus. An Müller wurde ihm seine Abneigung gegen eine psychologisierende Religionsbetrachtung und eine auf menschliche Seelenzustände be zogene Verkündigung deutlich, gegen die er „seit Langem“ ein Unbehagen hegte, weil diese sich strukturell nicht von den Anliegen der liberalen Theologie unterschied. Gogarten hatte sich intensiver mit Müller beschäftigt, weil Bonus von ihm einen Kunstwart-Aufsatz über diesen erbeten hatte (Brief Bonus an Gogarten, 15.3.1919 [UB Göttingen, NL Gogarten (61)]. 358 Brief Gogarten an Bonus, Stelzendorf 19.7.1919 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.09]. 359 Brief Gogarten an Bonus, Stelzendorf 6.3.1920 [ebd., 01_061.10]. Gogarten hatte den zitierten Brief über ein Vierteljahr vor sich hergeschoben, weil er Bonus „extensiv u.[nd] in tensiv […] so unendlich vieles zu sagen“ habe. 360 Brief Gogarten an Bonus, Stelzendorf 29.6.1920 [ebd., 01_061.10]; eine erste persönli che Begegnung zwischen Barth und Gogarten erfolgte in Tambach im Herbst 1919, vgl. K roeger: Gogarten, 206 f.
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ein. Martin Rade lud Gogarten als Reaktion auf sein Pronunziamento ein, am 30. September 1920 auf der Wartburg in Eisenach vor der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt einen Vortrag über die „Krisis der Kultur“ zu halten, der wenige Wochen später abgedruckt wurde.361 Auch hier formulierte Gogarten einen Bruch mit der neuprotestantischen Theologie wie mit der mo dernen Kultur und stellte einen scharfen Gegensatz zwischen einer weltimma nenten philosophischen oder historischen Betrachtung und der „Begegnung Gottes“ auf. Die momenthafte Gottesbegegnung führe zu einem „totalen Ent werten der Welt“ und zu einem entschiedenen „Nein“ gegenüber jeder moder nen „Kulturreligion“.362 Gogarten stieß damit eine Aufbruchstheologie an, die sich mit den ähnlich grundstürzend gelagerten Ansätzen des Schweizer Pfarrers Karl Barth verband. Sie entfaltete unter der jüngeren Theologengeneration – zur Überraschung der älteren, liberalen Theologen wie Martin Rade – eine erhebliche Wirkung und schien die Versuche des modernen Protestantismus weitgehend ins Abseits zu drängen.363 Gogarten und Barth erreichten auch das Diederichs-Spektrum, wo ihre Texte als Durchbruch der „radikalen Reformer“ wahrgenommen wurden, die nun das „Schicksal des Protestantismus in der Hand“ hätten.364 Entsprechend beeindruckt von den frühen Stellungnahmen Barths und Gogartens äußerte sich Bonus, der sie zunächst publizistisch zu unterstützen suchte. Im Kunstwart zeigte er die 1919 erschienene erste Auflage von Barths Römerbrief an, aller dings unter dem eigenen Stichwort der „religiösen Krise“. Barth stand für ihn für die Abkehr von einer bürgerlichen „Religion von 11 bis 12“. Gegen jeden Bezähmungsversuch in eine Kulturfrömmigkeit habe sein Buch auf die grund legende existentielle „Beunruhigung“ durch das Religiöse zurückverwiesen, das als gewaltiges Erlebnis der „Ergriffenheit, Überwältigung“ und als „Begeg nung mit dem Unendlichen“ zu erfahren sei. Barth und Gogarten wurden von Bonus als Zeichen für ein wachsendes Bedürfnis am „Gottindergegenwart erleben“ gelesen; ihre Absage an die Verbindung von Christentum und Kultur 361 Gogarten: Die Krisis der Kultur, in: CW 34 (1920), 770–777.786–791. Zur Argumen tation und den Entstehungsbedingungen beider Aufsätze ausführlich K roeger: Gogarten, 216–233; vgl. auch Hermann Fischer: Christlicher Glaube und Geschichte, Gütersloh 1967, 70 f. 362 Ebd, 787. 363 Brief Rade an Bonus, Marburg 19.3.1923 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_002]: „Un glaublich, was dieser Gog.[arten] (und auch Karl Barth) die Jugend anzieht.“ 364 H eidler: Der Verleger Eugen Diederichs, 306 (Zitat aus einer Werbeanzeige); vgl. den Bericht Diederichs’ in der Tat, in dem der Verlagsautor Gogarten als neuer Stern am religiö sen Firmament vorgestellt wird; Diederichs gibt Passagen eines Zeitungsartikels des Schrift stellers Wilhelm Schäfer wieder, der Gogarten mit dem thesenhämmernden Luther vergleicht (Eugen Diederichs: Friedrich Gogarten, in: Tat 12/2 (1920/21), 712–713, 712).
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schien auf der Linie der eigenen Schriften zu liegen.365 Gogarten gegenüber machte er deutlich, dass die neuen Ansätze einen tiefen Eindruck hinterlassen hatten. In der Differenzierung von Religion und Kultur schien eine „Verwandt schaft zu eigenen Gedankengängen“ vorzuliegen.366 Außerdem würde hier end lich „die allein wichtige Hauptfrage aller Religion gestellt“ werden, nämlich die nach der Begegnung des Menschen mit Gott.367 Gogarten äußerte sich enthu siastisch, dass nun endlich eine kirchliche Umformungsbewegung „im Gang“ sei, die die eigentlich „theologische Arbeit“ befreit habe, nachdem er sich vorher fast zum „Kulturphilosophen“ gewandelt habe.368 Während Barth und Gogarten die Trennung von ihren kulturprotestantischen Wurzeln vollzogen und sich ab 1923 mit Zwischen den Zeiten ein eigenes Forum schufen, sah Bonus die Entwicklungen in Verbindung zu den Anliegen Rades und der Christlichen Welt sowie im Lichte seiner eigenen religiösen Vorstellun gen. Er habe, schrieb er anlässlich des Wartburgvortrages nach Eisenach, das „Gefühl der Gemeinschaft“, dass Gogarten die Sache der Theologen um Rade weitertreiben würde.369 Für Bonus stand an den Neuerungsversuchen die Prob lemanzeige im Vordergrund, dass sich unter den modernen Zivilisationsschich ten das religiöse „Urerlebnis“ nicht mehr unverstellt erreichen ließ, worin sich die seit der Jahrhundertwende präsente Fragestellung fortsetzte.370 Obwohl Bonus Gogartens Wartburgrede durch ihre grundkritische Ausrichtung als Sturmvortrag gegen ein kompromißbereites Kulturchristentum als etwas Ver bindendes empffand, monierte er schon im Vorfeld, dass der neuen Theologie eine „entschlossene Weltlichkeit“ gut anstünde.371 Nachdem Gogartens „Krisis 365
Bonus: Zur religiösen Krise, in: Kunstwart 34/1 (1920/21), 354–356. Brief Bonus an Gogarten, Elmau 21.5.1920 sowie noch einmal nach intensiverer Lek türe des Römerbriefes Elmau 24.6.1920 [UB Göttingen, NL Gogarten (65/68)]; Barth hatte ihn vorher besucht und das Gespräch hatte die Gemeinsamkeiten verstärkt. 367 Postkarte Bonus an Gogarten, Taufkirchen 12.10.1920 [ebd. (72)]); in der Formulie rung klingt der Gogarten-Aufsatz „Zwischen den Zeilen“ nach. 368 Brief Gogarten an Bonus, Pratteln bei Basel 27.10.1920 (von einem Besuch bei Barth aus) und Stelzendorf 21.12.1920 [LKA Eisenach, NL Bonus, 01_061.10]. 369 Postkarte Bonus an Gogarten, Poststempel 7.11.1920 [UB Göttingen, NL Gogarten (71)]. Gogartens Bericht von seinem Wartburg-Vortrag 1920 deutet darauf hin, dass es die Bonus und ihm nahestehenden Theologen Karl König und Paul Jaeger waren, die in der Dis kussion Gogarten „sekundiert“ hatten, während die Professoren „verstummt“ seien (Brief Gogarten an Bonus, ohne Datum [LKA Eisenach, Nachlass Bonus, 01_061.10]). Angesichts der generellen Zustimmung Bonus’ war Gogarten enttäuscht, dass dieser sich zunächst nur zögerlich über den Wartburgvortrag äußerte (Brief Gogarten an Bonus, Stelzendorf 21.12.1920 [ebd.]). 370 Brief Bonus an Gogarten, Elmau 29.5.1920 [UB Göttingen, NL Gogarten (nicht pagi niert)]. 371 Postkarte Bonus an Gogarten, Taufkirchen 12.10.1920 [ebd. (72)]. 366
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der Kultur“ in der Christlichen Welt erschienen war, versuchte er diesem zu verdeutlichen, dass das radikale Abschneiden der Verbindungslinien zwischen Kultur und Christentum in eine Abstraktion einmünden müsste. Wenn Gogar ten das Gotterleben als Heraustreten aus dem Weltlichen bestimmte, musste dem als Gegenbewegung eine Rückführung des religiösen Moments in die Wirklichkeit beiseite gestellt werden. Er selbst hatte dafür den Entwicklungs begriff in einer psychologisierenden Wendung aufgegriffen, indem er das reli giöse Erleben als Gericht und Sündenerkenntnis gefasst hatte, aus der heraus sich das Individuum geläutert und als Überwinder seinem diesseitigen Beruf zuwenden konnte. Gogartens Aufsatz bot eine „reine Negation“ der bisherigen Theologietradition an, schien aber keine neuen Entwicklungs- und Gestaltungs möglichkeiten aufzuzeigen.372 Im Umfeld der Christlichen Welt wurden Barths und Gogartens Anfänge in tensiv und mit polarisierten Stellungnahmen debattiert.373 Diese Auseinander setzung betraf auch Bonus insofern, als die von Gogarten stark gemachte Tren nung von Christentum und Religion und sein Angriff auf das liberale Kul turchristentum zu dem bekannten Bonus’schen Thesenrepertoire gehörten. Für den Kreis um Rade galt Bonus gleichsam als der „Vater Gogartens“, wie Rade mehrfach an Bonus schrieb, und als Urheber einer aus dem Diederichs-Verlag hervorgegangenen Neutheologie, die eine radikale Gegenposition zu den etab lierten Frömmigkeitstraditionen einnahm.374 Den Zeitgenossen fiel die Einord nung der Entwürfe Gogartens nicht leicht, die von Etikettierungen als Marcion redivivus bis zu einem neuen Kierkegaard reichten; Gogarten war zudem zu sehr auf Konfrontation und Durchsetzung seiner Ideen aus, als dass eine Ver ständigung gelingen konnte.375 Aus diesem Grunde suchte Rade Bonus in seine Zeitschriftenpolitik einzubinden und ihn zu einer Stellungnahme gegenüber Gogartens Theologie sowie zu Vorträgen in Marburg und Eisenach zu drängen. Bonus ließ sich zögerlich für eine „Sympathieerklärung“ gewinnen, die – ähn lich wie sein Kunstwart-Artikel über Karl Barth – zunächst positiv die durch die Dialektiker bewirkte religiöse Neubelebung hervorhob. Ihm sei „zu Mute, wie einem, der ein Leben lang in der Asche stocherte, zu Mute sein mag, wenn er zu
372
Briefkarte Bonus an Gogarten, Taufkirchen 26.12.1920 [ebd. (73)]. Ausführliche Belege und Textpassagen bietet K roeger: Gogarten, 337–379. 374 Briefe Rade an Bonus, Marburg 12.10.1921 und 19.3.1923 [LKA Eisenach, NL Bonus, 03_006 und 12_002]. 375 Rade schilderte Bonus unter großer Enttäuschung seine Bemühungen um eine kon struktive Auseinandersetzung mit den dialektischen Theologen, die weder inhaltlich noch auf sprachlich-kommunikativer Ebene gelang (v. a. Brief Bonus an Rade, Marburg 12.10.1921 [ebd., 03_006]). 373
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bemerken glaubt, daß irgendwo Funken stieben.“376 Dass Gogarten wie er selbst der „Parole ‚Versöhnung von Religion und Kultur‘“ eine Ende zu machen und das „sentimentale Liebe-Herr-Jesustum“ der konfessionellen Theologien und die „Kulturseligkeit“ der Vorkriegszeit zu überwinden beabsichtigte, führte er als Gemeinsamkeit auf. Bonus zufolge befand man sich in einem Übergangs stadium: Ein „Nein“ zu dem Bisherigen war ausgesprochen, aber das „Ja“ einer neuen religiös-kulturellen Schöpfung noch nicht gefunden worden.377 Die anfängliche Schnittmenge verschmälerte sich in dem Maße, in dem Gogarten zu einer eigenen theologischen Sprache fand. Je deutlicher sich das Umfeld Barths und Gogartens als eigenständiges Theologennetzwerk etablierte, desto klarer wurden auch theologische Grenzlinien und Differenzierungen sichtbar. Zu einem Bruch kam es erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jah re;378 zunächst traf man sich auf unverfänglicherem Terrain, etwa indem mit Martin Buber das Verhältnis von Weltreligion und Mystik diskutiert wurde.379 Doch bald gehörte Bonus zu denjenigen, die sich von dem stürmerisch-prophe tischen Gestus der neuen Richtung, die sich in allem von der theologischen Tra dition ablösen wollte, überrollt fühlten. Gegenüber Gogarten gab er Gespräche wieder, in denen vor „Überheblichkeit“ gewarnt und das unverständliche „Ras seln der dialektischen Maschine“ beklagt wurde.380 Doch zeigten sich auch grundlegende inhaltliche Differenzen, die sich nicht überbrücken ließen. Das betraf etwa Gogartens „christliche Geschichtsmetaphysik“, die Bonus mit Otto Piper diskutierte; Gogarten konstruiere zu eng gefasst „Geschichte von der Schöpfung aus“.381 Wiewohl beide „Verwandtes“ in Gogartens Ausführungen spürten, fanden sie zu viel „Dogmatisches“ darin und einen Ausschließlich keitsanspruch, der Bonus an die „Erstanmeldung […] einer neuen Orthodoxie“ erinnerte.382 An der dialektischen Theologie begrüßte er die antiliberale Rich 376
Bonus: Gogarten, in: CW 36 (1922), 58–61, 61.
377 Ebd.
378 Dabei
spielte auch persönliche Betroffenheit eine Rolle; so warnte Bonus Gogarten, dass er in der Auseinandersetzung mit theologischen Gegnern etwas „Giftiges, fast Zänki sches im Ton“ annehmen würde (Brieffragment Bonus an Gogarten, ohne Datum [UB Göt tingen, NL Gogarten (75)]). 379 Bonus arrangierte im Frühjahr 1922 eine Begegnung in Heppenheim (Brief Rade an Bonus, Marburg 19.3.1923 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_002]; Brief Bonus an Gogarten, Hombach b. Harz, 24.6.1922 [UB Göttingen, NL Gogarten (76)]); Bonus: Glossen zu aller hand Büchern. Russisches, Deutsches, Jüdisches, Griechisches, in: CW 36 (1922), 140–144. 380 Postkarte Bonus an Gogarten, Lengenfeld 18.5.1924 [UB Göttingen, NL Gogarten (78)]. 381 Briefe Piper an Bonus, Göttingen 18.2.1917 und 18.6.1928 [LKA Eisenach, NL Bonus, 23_002]. 382 Brief Piper an Bonus, Göttingen 18.2.1927; Antwortkonzept von Bonus, undatiert [ebd., 23_002].
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tung, hielt aber die Betonung der Diastasen zwischen Gott und Mensch, des Gegensatzes zwischen theologischer und weltlicher Rede für überzogen. An Gogarten schrieb er: Ich stehe darin ganz auf Eurer (Barth usw.) Seite, daß Ihr das Verhältnis zur Gottheit erst einmal wieder von der modern liberalen Anpöbelung befreien und ihr die alttestamentliche Herbigkeit zurückgeben wollt, auf der erst die neutestamentliche Gottesfreundschaft richtig steht.383
Jedoch mit Kierkegaard das „Paradox“ im Verhältnis zwischen Gott und Mensch herauszustellen funktioniere nur, wenn es eine Berührung zwischen der „Gott heit“ und dem „Geschöpflichen“ gab. Neben der „Strenge, Herbigkeit, Sprödig keit“ gehörte in Bonus’ Augen auch die Erfahrung der „Liebe, ja Süßigkeit“ zum Gotteserlebnis, wie er in Anklängen an seine Mystikrezeption ausführte. Die von der dialektischen Theologie betonte völlige Andersartigkeit Gottes und seine „Fremdheit“ erzeuge in der Konsequenz einen neuen Rationalismus, weil die theologische Verständigung erneut auf Konstruktion und Abstraktion ge wiesen sei.384 Bonus äußerte sich Ende der zwanziger Jahre in zwei scharfen Rezensionsaufsätzen über Gogarten, in denen er ihm in der Quintessenz vor warf, die angefeindeten moderntheologischen Ansätze nicht abgelegt, sondern „durch ältere ersetzt“ zu haben und damit hinter den Diskussionsstand der libe ralen Theologie zurückgefallen zu sein.385 Ein publizistisches Eingreifen in die theologische Auseinandersetzung, wie es Bonus in der Christlichen Welt um die Jahrhundertwende mit polarisierender Wirkung möglich war, gelang ihm in der Zwischenkriegszeit allerdings nicht mehr. Das lag nicht nur an der gewandelten Gesprächssituation im Protestantis mus und der zunehmenden Pluralisierung der „vagierenden Religiosität“ in der Weimarer Republik, in der zahlreiche fromme Neuerer die Bühne betraten. Bonus hatte mit erschwerten Produktionsbedingungen zu kämpfen. Seine Exis tenz als freier Literat war nicht länger finanzierbar und seine Redaktionsstelle beim Kunstwart lief aus. Es gab verschiedene unterstützende Versuche, Bonus auf eine Bibliothekarsstelle zu hieven; beachtlich war, dass sogar die Rückkehr in eine Pfarrstelle erwogen wurde.386 383
Brieffragment Bonus an Gogarten, ohne Datum [UB Göttingen, NL Gogarten (75)]. Ähnlich lautete das Urteil von Karl König, nach dem Gogarten eine von der Theologie ausgehöhlte Religiosität verkündige (Brief König an Bonus, Huflar 8.3.1932 [LKA Eisenach, NL Bonus, 23_001]). 385 Bonus: Zu Gogartens Bekenntnisbuch, in: Die Tat 19/2 (1928), 818–832, 827; ders.: Die Ich-Du-Haftigkeit des Menschen und seine innere Einheit, in: CW 42 (1928), 646–649. 386 Diederichs wies Bonus auf die Möglichkeit hin, in der neu geformten, als politisch und weltanschaulich offen geltenden Thüringischen Landeskirche ein Landpfarramt zu erhalten (Briefe Diederichs an Bonus, Herbst 1920 [ebd., 22_003]). Auch Julius Kaftan wurde mit 384 Ebd.
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Bonus entschied sich schließlich für die Tätigkeit als Lehrer an einem Land erziehungsheim. Von 1921 an unterrichtete er Latein und Religion an der Oden waldschule in Heppenheim,387 ab 1923 wirkte er recht zurückgezogen als Schul seelsorger am Landerziehungsheim Schloss Bischofstein.
entsprechendem Interesse angefragt, wie sich aus einem Antwortschreiben vermuten lässt (Brief Kaftan an Bonus, 23.1.1921 [ebd., 14_007]). 387 Unter Anteilnahme und Förderung von Ferdinand Avenarius (Brief Avenarius an Bonus, 7.12.1920 [ebd., 22_003]).
Siebtes Kapitel
Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick Um den Durchgang durch das Werk von Arthur Bonus abzuschließen, ist hier noch einmal auf den eingangs angedeuteten Horizont zurückzukommen, unter dem Bonus als Vorreiter der deutschchristlichen Theologien der 1930er Jahre betrachtet wird. Die Umwälzungen des Jahres 1933 bedeuteten für den Kreis um die Christ liche Welt eine erhebliche Verunsicherung.1 Unter den gewandelten Machtver hältnissen in Staat und Kirche schien das Daseinsrecht der um Martin Rade gescharten liberalen Theologen bedroht: „Unsre Gruppe“, so gab Martin Rade stellvertretend die Stimmung seiner kulturprotestantischen Gesinnungsgenos sen wieder, fühlte sich „klein und schier ohnmächtig“.2 Im Aufkommen des Nationalsozialismus schlug sich aus der Sicht mancher demokratisch gesinnter Kulturprotestanten eine „Weltkrise des Liberalismus“ nieder, die sich nicht nur 1
Für die Darstellung der kulturprotestantischen Auseinandersetzung mit dem National sozialismus und dem Auseinanderbrechen der Weimarer Demokratie ist nach wie vor auf die Arbeiten zurückzugreifen von: Friedrich Wilhelm Graf: ‚Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen‘. Liberaler Protestantismus und ‚Judenfrage‘ nach 1933, in: Jochen-Christoph K aiser /M artin Greschat (Hg.): Der Holocaust und die Protestanten, Frankfurt 1988, 151–185; Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, Weimar 1988, 283– 287; aufschlussreich aus theologiegeschichtlicher Perspektive anhand von Einzelbiographien ist: M atthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt, Berlin 1999. Eine Be wertung wurde bereits seit Anfang der 30er Jahre versucht. Martin Rade sah in der nationa listischen Begeisterung einen Generationenunterschied. Ein Theologie-Student und SA-Mit glied hatte ihm berichtet, dass „etwa 90 Prozent der evangelischen Theologen mit dem Par teiabzeichen der Nationalsozialisten im Kolleg erschienen“. Das politische Erproben der jüngeren Generation konnte er gutheißen, allerdings hoffte er gegenüber der militaristischen Stimmung vieler NS-Studenten auf baldige Einsicht (Unsere Söhne, in: CW 1930). Auch eine Gesamteinschätzung der Pfarrerschaft wurde versucht: „Die protestantische Pfarrerschaft geht zwar nicht am Nationalsozialismus vorüber, aber sie kommt nicht zu einem einheitlichen Ergebnis. Die Einen gehen freudig in der neuen Bewegung mit und glauben an Deutschlands Seelenrettung durch den Nationalsozialismus. Die Anderen (z. B. die religiösen Sozialisten) lehnen ihn ab, wieder andere erkennen Wertvolles an, stoßen sich aber an den Formen des Kampfes. Im Ganzen ergibt sich eher eine Hin- als eine Abgeneigtheit“ (H ans Eberhard Friedrich: Nationalsozialismus, in: CW 45 (1931), 406–410.471–474.553–559.617–620, 619). 2 M artin R ade: Weihnachten 1933 im Heim, in: AdF (Nr. 110 vom 25. November 1933), 1101–1102, 1102.
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Siebtes Kapitel: Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick
auf die politische Sphäre beschränkte.3 Der Auftrieb der radikalen Republik gegner von rechts und links, durch die Wirtschaftskrise beschleunigt, und die von ihr ausgelöste soziale und persönliche Desorientierung wiesen auf einen Zerfall des Bürgertums und der liberalen Werte hin. Mit Recht befürchtete man, dass das Ideal des nationalen Rechts- und Kulturstaates, das nicht ohne Ambi valenzen in den Weimarer Jahren als „Vernunftrepublikanismus“ verfolgt wor den war, unter den Realitäten des NS-Regimes zerfiel. Die Christliche Welt wies schon zu Beginn des Jahres 1933 auf Rechtsüber griffe und Gewalttaten des neuen Regimes hin. Nach dem antisemitischen Boy kott vom 1. April 1933 wurde den politisch unterstützten Feindlichkeiten gegen über Juden von einigen ihrer Autoren widersprochen. Liberal und demokratisch ausgerichtete Theologen wie der Kieler Theologieprofessor Hermann Mulert stellten deutlich die Frage, „ob die politische Diktatur und protestantische Ge wissensfreiheit zusammen bestehen können“.4 Am 4. und 5. Oktober 1933 trafen sich die ‚Freunde der Christlichen Welt‘ zu ihrer jährlichen, im vertrauten Kreis abgehaltenen Versammlung, diesmal mit dem Ziel, sich mit den kirchlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen des nationalsozialistischen Staates auseinanderzusetzen.5 Dabei stand die Frage zur Debatte, welche Anknüpfungspunkte zwischen der eigenen, moderntheologi schen Tradition und den Aufbrüchen der Deutschen Christen und der Beken nenden Kirche bestanden.6 Angesichts der kirchenpolitischen Zerwürfnisse, die 3 So der Titel eines in der Christlichen Welt wiederholt angezeigten Buches von Eberhard K autter: Deutschland in der Weltkrise des Liberalismus, Stuttgart 1933; zur wiederholten Problematisierung durch R ade vgl. z. B.: Der Liberalismus, in: CW 45 (1931), 77–79; ders.: Schlagwort Liberalismus, in: ebd., 51 (1937), 343–345. Der publizistische Spielraum für die liberalen Eliten war in der Anfangsphase des NS-Staates relativ breit. Die Hilfe als protestan tisch-liberales Führungsblatt konnte beispielsweise recht ungehindert veröffentlichen, zog sich allerdings auf einen kulturnationalen Standpunkt zurück (vgl. Jürgen Fröhlich: Die Umformung des deutschen Seins erlaubt keine passive Resignation. Die Zeitschrift ‚Die Hil fe‘ im Nationalsozialismus, in: Christoph Studt (Hg.): „Diener des Staates“ oder „Wider stand zwischen den Zeilen“. Die Rolle der Presse im „Dritten Reich“, Münster 2007, 115–129; Eric Kurlander: Living with Hitler, New Haven 2009). 4 H ermann Mulert: Unsere deutschen evangelischen Volkskirchen und die Gegensätze der politischen Parteien, Görlitz o.J., 13–15; vgl. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und Wei marer Republik, Weimar 1988, 283. 5 Vgl. die Tagungseinladung in: AdF (Nr. 109 vom 15. August 1933). An der Tagung, die vom 2.–3. Oktober im Vereinshaus der CW in Friedrichroda stattfand, nahmen laut Liste insgesamt 63 Personen teil, wobei auffällt, dass kein Mitglied der Kirche der Altpreußischen Union zugegen war. Das war wahrscheinlich durch die Auseinandersetzungen bedingt, die es nicht opportun erschienen ließen, als Vertreter des liberalen Protestantismus wahrgenom men zu werden. 6 Bereits das Jahresthema 1931 – „Macht und Ehre“ – hatte auf die politischen Umwäl zungen und den erregten Nationalismus reagiert. Das allgegenwärtige Gerede über Macht
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das Erstarken der Deutschen Christen und die von ihnen unterstützten kirchli chen Einigungsversuche ausgelöst hatten, sowie aufgrund der positionellen Un klarheit gegenüber dem neuen Regime besann man sich auf Arthur Bonus als einen Theologen aus den eigenen Reihen,7 der wie kein anderer als Vorbote ei ner „deutschen Theologie“ bewertet wurde und der die Entwicklung der Christlichen Welt von ihrer Frühzeit an begleitet hatte. Ließ sich „von Arthur Bonus zu Alfred Rosenberg“ eine Entwicklungslinie ziehen, wie der Untertitel eines Vor trags andeutete, der den Autor der Christlichen Welt neben den Großideologen eines weltanschaulich begründeten, rassentheoretisch ausgeformten National sozialismus stellte?8 Die beiden Redner kamen hier zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Für den Gothaer Superintendenten Friedrich Burbach hatten sich die Bedingun gen, unter denen in der Gegenwart nach einer „deutschen Religion der Zukunft“ gesucht werden konnte, bereits durch den Weltkrieg grundlegend verändert: „Die Fronten sind […] andere geworden.“9 Das Anwachsen völkischer Bestre und Ehre bot für Rade den Anlass, dieses Thema gezielt zur Auseinandersetzung mit der politischen Rechten zu wählen: „Deutschnationale und Nationalsozialisten, besonders wenn sie Theologen sind […], werden wir besonders begrüßen“. Als Redner waren Johannes Kübel, Werner de Boor und Ernst Bizer eingeladen. Vgl. zur Tagung die Einladung und die Hinwei se von M artin R ade: Unsere Herbstzusammenkunft Friedrichroda 5.–7. Oktober, in: AdF (Nr. 101 vom 6. Juli 1931), 1044–1046, 1045; ders.: Zum 5. bis 7. Oktober, in: ebd. (Nr. 102 vom 25. August 1931), 1047–1049; dem Tagungsbericht und der Wiedergabe der Diskussion war die folgende Nummer der Mitteilungen An die Freunde gewidmet (Nr. 103 vom 4. De zember 1931). Auf der im Folgejahr 1932 in Görlitz stattfindenden Mitgliederversammlung hielt Herbert Grabert einen Vortrag über „Nationalsozialistische Jugend und Christliche Welt“ (Bericht in: ebd., Nr. 107 vom 18. November 1932, 1088). Grabert war zwischen 1930 und 1933 Redaktionsmitglied der Christlichen Welt (vgl. R athje: Die Welt des freien Protes tantismus, 470–472; Ulrich Nanko: Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, 56). 7 Noch in der letzten veröffentlichten Mitgliederliste wird Bonus geführt, vgl. das Mittei lungsblatt An die Freunde (Nr. 84 v. 25. September 1926), 966. 8 Vgl. R athje: Die Welt des freien Protestantismus, 432–434. Der dritte Redner Erwin Langner hatte von der Veröffentlichung seines Vortrags abgesehen und verwies auf seine von der Landesgemeinde der Deutschen Christen Thüringens herausgegebene Broschüre: Die kirchliche Entscheidung von heute (Weimar 1933). Langner war vom Herbst 1933 an stellvertretender Vorsitzender der lutherischen Vereinigung Thüringens, zur der sich alle nicht deutschchristlichen Gruppen des Thüringer Landeskirchentages (das landeskirchliche Synodalorgan) zusammengeschlossen hatten, vgl. Kurt Meier: Der Evangelische Kirchen kampf, Bd. 1, Göttingen 1984, S. 473. 9 Fritz Burbach: ‚Germanisierung des Christentums‘ (Von Arthur Bonus zu Alfred Rosenberg). Thesen zu dem am 3. Oktober in Friedrichroda auf der Versammlung der ‚Freun de der Christlichen Welt‘ gehaltenen Vortrag, in: CW 47 (1933), 1128–1133, 1130. Burbach wurde 1933 als Nachfolger von Emil Fuchs in den Vorstand der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt gewählt. Vorher gehörte er dem Vorstand des Bundes für Gegenwart schristentum an, von dem sich die Freunde der Christlichen Welt 1930 lösten (vgl. M artin
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bungen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918/19 offenbarte einen „Hunger nach Autorität, nach dem Absoluten“, dem die kulturprotestantische Vorkriegstheologie keine Nahrung bieten konnte. Auch wenn sich Bonus als Vorkämpfer einer „Germanisierung des Christentums“ ablehnend gegenüber „kirchlicher Frömmigkeit“ geäußert hatte, erschien er ihm eher als ein Vertreter der Krisentheologien der Jahrhundertwende. Hinweise auf die neue Geisteshal tung ließen sich in Bonus’ Schriften gleichwohl finden, weil dieser eine „heldi sche […] Form des Lebens“ vertreten hatte. Unüberhörbar klang aus Burbachs Ausführungen seine Begeisterung für die „religiöse Erweckungsbewegung“ der Deutschen Christen hindurch, der er zutraute, einen kirchenfeindlichen Na tionalismus ebenso wie eine bekenntnisorientierte Neuorthodoxie zu überwin den und im „Arbeitsprogramm […] eines wahrhaft deutschen Christentums“ die nationale Volkskirche im neuen Staat zu erbauen. In der religiös begründeten Einheit von Volk und Kirche lag für Burbach die Zukunftsoption für den kirch lichen Liberalismus. Indem er für einen „deutschen Idealismus“ plädierte und einen auf die nationale Zukunft ausgerichteten „Kirchengeist“ einforderte, stellte er die Anknüpfungspunkte zwischen Bonus und der Gegenwart heraus. Der Vortrag des Marburger Studienrats Hans Weichelt repräsentierte ein dis tanzierteres Verhältnis zu den neuen Machtverhältnissen in Staat und Kirche. Für ihn stellte Bonus kein Vorbild für einen „germanisch-christlichen Synkre tismus“ dar, wohl aber den Versuch, das „Männliche“ im Protestantismus zu entdecken und ihn zur Grundlage von starker „Persönlichkeit“ und diesseitsbe zogener Frömmigkeit werden zu lassen.10 Eine rassenideologisch verbrämte Na tionalreligion hatte Bonus nicht vorbereitet, so Weichelt, vielmehr war er den Religionsdebatten um die Moderne verpflichtet: Vor diesem Hintergrund stellte er ihn als Begründer einer Kulturtheologie mit kosmopolitischem Anspruch dar: Zwischen Bonus und den „Deutschen Christen“ besteht kein äußerer Zusammenhang: er ist in ihren Kreisen unbekannt. Aber auch kein innerer. Dazu ist beider Stellung zu Volk und Kirche zu verschieden. Bonus liebt sein Volk […] Aber das Volk ist nicht der letzte Horizont, R ade: Unmaßgebliches für den Freundeskreis zur jetzigen Stunde, in: AdF (Nr. 98 vom 25. November 1930), 1036–1037. 10 So der Bericht von R ade: Tagung der Freunde der Christlichen Welt, in: AdF (1933), 1102–1104 als Zusammenfassung der Ausführungen H ans Weichelts. Der Vortrag erschien als: Arthur Bonus und die ‚Germanisierung des Christentums‘, in: ZThK 42/43 (1934), 167– 189. Weichelt war seit den späten 1890er Jahren Mitarbeiter der Christlichen Welt, vgl. seine Stellungnahme zu Rades Zeitschrift als Rückgrat einer modernen Theologie anlässlich des Herausgeberwechsels 1932 an Hermann Mulert: An Martin Rade, in: CW 46 (1932), 37–39. Gleichzeitig und in gegenseitiger Wahrnehmung mit Arthur Bonus hatte er sich mit Nietz sche und der Frage nach der Moderne auseinandergesetzt: Der moderne Mensch und das Christentum, Tübingen 1901; dazu s. u.
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und die Zukunftsvision von Bonus sieht als überragende Idee die Organisation der Mensch heit.11
Die hier zutage tretenden Ambivalenzen finden sich im Werk von Arthur Bonus und spiegeln zugleich die Zerrissenheit der liberalen Theologie in den dreißiger Jahren wieder, die zwischen neuidealistischer Akzeptanz des völkischen Staats und distanzierterten Wahrnehmungen schwankte.12 Die Diskussion um Arthur Bonus war Ausdruck einer heftigen Auseinandersetzung um den Kurs der Christlichen Welt zwischen Kirchenkampf, der kirchlichen Einführung des „Arierparagraphens“ und der Bewertung des neuen Regimes.13 Für Hermann Mulert, seit Januar 1932 als Nachfolger Rades Schriftleiter der Christlichen Welt, wurde „das Dritte Reich 1933“ durch eine ähnlich gespannte „religiöse Erregung“ begleitet wie die Reichsgründung 1871. Mulert bemerkte, dass nicht wenige Freunde der Christlichen Welt in der Anfangsphase der Bewegung „Deutsche Christen“ wurden, sich aber bald wieder von ihnen abkehrten. Man che der von den Deutschen Christen vertretenen Ideale schienen vergleichbar 11
Zitiert aus Rades Tagungsbericht, 1103. Nachgang der Jahresversammlung in Friedrichroda Anfang Oktober 1933 kamen die um Frankfurt angesiedelten Leser der Christlichen Welt einen guten Monat später am 15. November zu einer Nachbesprechung zusammen, über die Rade im internen Mitteilungsblatt An die Freunde berichtete. Während die eigentliche Tagung nur knapp mit einem Vortrags protokoll gewürdigt wurde und Rade auf die sonst penibel dokumentierten Aussprachen ver zichtete, enthält dieser kleine Bericht deutliche Hinweise darauf, wie besorgniserregend die Situation in Kirche und Politik empfunden wurde. Der für die Christliche Welt programma tische Verzicht auf kirchenpolitische Wirksamkeit zugunsten einer volkskirchlich-national kulturellen Inklusion wurde gegenüber den nationalsozialistischen Christen erneuert, auch wenn Rade nicht übersah, dass dem Kreis damit weltanschauliche Gegensätze zugefügt wur den, die sich durch theologische Reflektion nicht überwinden lassen würden: „Ich kann auf Grund unsrer Geschichte nur sagen: wir weisen niemanden aus unsrer Mitte, der in unsrer Zeit mit uns verkehren, mit uns sich austauschen will. Wir haben Deutsche Christen auch unter unsern Mitgliedern. Das Verhältnis zu ihnen ist je nach Gegenden und Personen ein ganz verschiedenes. Wir fragen nicht nach Parteien. […] Auch wer sich zu der Deutschen Glaubensbewegung hingezogen oder hingehörig fühlt, ist darum nicht automatisch von uns ausgeschlossen. Es sind Christen genug darunter. […] Es hat gar keinen Sinn, sich mit Exklu sionen zu befassen. Derlei haben wir durch all die 47 Jahre nicht betrieben und werden es nicht jetzt anfangen.“ Mit Blick auf die zu erwartenden Spannungen fügte er lapidar hinzu: „Peinliche Momente sind nicht ausgeschlossen […]“ (M artin R ade: Ueber örtliche Zusam menkünfte der Freunde, in: AdF (Nr. 110 vom 25. November 1933), 1110–1112, 1112). 13 Auch das Protestantenblatt versuchte, mit Verweisen auf Bonus die eigene Position in den religiösen Auseinandersetzungen der 1930er Jahre zu bestimmen. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist der vermutlich von Wilhelm Schubring verfasste Aufsatz: Arthur Bonus, in: Protestantenblatt (Nr. 43, 27.10.1935), 682–683 [LKA Eisenach, NL Bonus, 20_011]. Die Deutschen Christen und erst recht die Deutsche Glaubensbewegung hätten „die Linie nicht innegehalten, die Bonus gewollt“ habe, nämlich die Weiterentwicklung des Christentums in einen „Heroismus“. 12 Im
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mit denen, „die man früher bei den Freunden evangelischer Freiheit und sonsti gen Vertretern des ‚Kulturprotestantismus‘ fand“.14 Überblickt man die Reaktionen im kulturprotestantischen Milieu auf die sich in der Endphase der Weimarer Republik beschleunigende Krise des parlamen tarischen Modells, auf die sich zuspitzende Auseinandersetzung um die erstar kende „nationale Opposition“ und auf den in der Öffentlichkeit entfachten An tisemitismus, dann ergibt sich ein diffuses Bild. Die Orientierungsdebatten um Arthur Bonus offenbaren ein weitreichendes Unvermögen, sich dem ideologi schen Anspruch des Nationalsozialismus wirksam entgegenzustellen. Das lässt sich einerseits mit der organisatorischen Zersplitterung des Kulturprotestantis mus begründen, der seit dem 19. Jahrhundert auf eine Vielzahl teilweise kon kurrierender Vereinigungen und lokaler Gruppierungen verteilt war. Doch las sen sich andererseits auch theologische Gründe nennen. Kurt Nowak und Friedrich Wilhelm Graf haben in ihren Forschungen zu den theologischen Umbrüchen der späten 1920er Jahre verdeutlicht, wie stark der Kulturprotestantismus seinen Vorstellungen einer homogenen Kultur verhaftet blieb, die protestantisches Christentum und Nation ineinanderfügte.15 In der Christlichen Welt, mehr noch im Protestantenblatt und in den regionalen Zeit schriften kamen neben den republikanischen Kulturprotestanten auch Vertreter der politischen Rechten und Theoretiker einer Synthese von liberaler Christ lichkeit und völkischer Weltanschauung zu Wort.16 Es gab Liberale, die via Ge schichtstheologie und religiöser Sinngebung zur Stärkung der „deutschen Revo lution“ und zur Homogenität der Volksgemeinschaft durch ein germanisiertes Christentum beitragen wollten. Hier wurde das kulturprotestantische Ideal des christlichen Kulturstaats auf den neuen Staat angewandt, dabei aber Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung wie Antipluralismus, Antiliberalis mus und rassistischer „Homogenitätsglauben“ akzeptiert.17 Eine Teilopposition, die sich besonders gegen die Rechtsverletzungen und das gewaltsame Vorgehen des Nationalsozialismus richtete, wurde mit partieller Regimebejahung gekop pelt. Ein wichtiges Motiv, das die Christliche Welt bereits in ihren Anfängen geprägt hatte, blieb es, Gesprächsfähigkeit für alle Formen moderner Bildungs religiosität zu bewahren und diese in eine offene Volkskirche zu integrieren.18 Das galt auch gegenüber neureligiös-völkischen Religionsansätzen wie der 14 H ermann Mulert: Kirchliche Lehren des Jahres 1933, in: CW 48 (1934), 12–18, Zitate 14 und 18. 15 Kurt Nowak: Kulturprotestantismus und Judentum in der Weimarer Republik, Göttin gen 1991. 16 Graf: ‚Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen‘, 165–168. 17 Ebd., 166. 18 Ebd.
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‚Deutschen Glaubensbewegung‘ um Jakob Wilhelm Hauer, die seit Juli 1933 als kirchenloses Form eines freien, germanischen Glaubens auftrat, deren Motiv lagen als soziales und als religiöses Phänomen unter den neuen ideologischen Bedingungen mit Interesse verfolgt wurden.19 Gegenüber dem rasseideologi schen Menschenbild der völkischen Religionsentwürfe wurde allerdings Dis tanz gewahrt. Trotzdem blieben Argumentationsmuster aktiv, die bereits im Kaiserreich entwickelt worden waren, dass nämlich das Deutschtum durch den Protestantismus seine Begrenzung und Vertiefung erfuhr und der neue Staat erst durch eine Christianisierung zu einer wirklichen Volksgemeinschaft finden würde.20 Für Graf stellten die uneindeutigen Reaktionen auf den Nationalsozia lismus eine Radikalisierung der Einstellungen dar, die das liberalprotestanti sche Milieu schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt hatten.21 Die knir schenden Auseinandersetzungen um Bonus entsprechen diesem Bild. Sie ver weisen auf die weltanschaulichen Ambivalenzen in der Positionierung gegenüber dem Nationalsozialismus und den Deutschen Christen. Gegen innerkirchliche Anfeindungen wurde auf das nationalreligiöse Potential verwiesen, das im Kul turprotestantismus bereits im Wilhelminismus vorhanden war. In diesem Sinne ließ sich vor dem Hintergrund der kirchlichen Neuordnungsdebatten nach 1933 darauf verweisen, dass man in Bonus den geeigneteren geistigen Kandidaten für das Amt das „Reichsbischofs“ in den eigenen Reihen gefunden hätte anstel le des eigentlichen Amtsinhabers, des nationalsozialistischen Pfarrers Ludwig Müller.22
I. „Großmäuligkeit“. Zur politischen Positionierung 1932/33 Bonus’ briefliche Diskussion mit drei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Martin Rade, Karl König und Wilhelm Stapel ab 1932 macht es möglich, seine Stellung zum Nationalsozialismus im Kontext seines Umfeldes mit seinen di vergierenden Einschätzungen genauer zu konturieren. Als die NSDAP als zweitstärkste Fraktion nach der SPD aus den Reichstagswahlen im September 1930 hervorging, gab Bonus gegenüber Martin Rade seine Interpretation der 19 Dazu
s. besonders Ulrich Nanko: Die Deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993; mit Blick auf Jakob Wilhelm Hauer ders.: Deutsche Gottschau, 1943. Eine Religionsstiftung durch einen deutschen Religionswissenschaftler, in: Peter Antes (Hg.): Die Religion von Oberschichten, Marburg 165–179. 20 Vgl. Graf: ‚Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen‘, 167. 21 Ebd., 153. 22 Fritz Werner: Arthur Bonus, in: CW 48 (1934), 63–68, 64. Es handelt sich um einen Gratulationsartikel zu Bonus’ siebzigstem Geburtstag.
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Wahlergebnisse wieder. Die Nationalsozialisten hatte er aufgrund ihrer „Groß mäuligkeit und Verworrenheit“ nicht wählen können, obwohl er in ihnen Über zeugungen wiederzuerkennen glaubte, die Friedrich Naumann im eigenen La ger verkörpert hatte.23 Rade hielt die NSDAP-Mitglieder für „Rowdies und hoh le Köpfe“ und berichtete Bonus entsetzt von den Übergriffen auf jüdische Studenten an der Berliner Universität, allerdings hoffte er darauf, dass sich der nationalsozialistische Radikalismus durch eine politische In-die-Pflichtnahme abschwächen würde. Der politische Erfolg und die konkrete Ämterübernahme würden zu einer Bezähmung der NS-Bewegung beitragen.24 Einig waren sich beide in der Ablehnung der nationalsozialistischen Rassenlehre und der Einfüh rung des Arierparagraphen.25 Die Entlassungen jüdischer Hochschullehrer be deute „Unmenschliches“, schrieb Rade an Bonus; die Bereitwilligkeit in Recht sprechung, Universität und Kirche, sich auf die neuen Machtverhältnisse einzu lassen und demokratische oder rechtsstaatliche Grundsätze ad acta zu legen, stellte sich ihm als gesellschaftliche Katastrophe dar. Schwer zu ertragen, so Rade, war 1. das Versagen der Kirche angesichts der Judenverfolgung; 2. das Versagen der Professoren gegenüber der Vergewaltigung der wissenschaftlichen Frei heit, 3. das Versagen des Richterstandes gegenüber der Abschaffung des Rechts.26
Allerdings erkannte Bonus die Anliegen des Nationalsozialismus insofern als berechtigt an, als dass sich hier angesichts von „Krise, Not und Verfall“ ein „neues Zukunftsbild“ abzeichnete. Die „wirklich positiven Anregungen“ der NSDAP lagen für ihn in der Ermöglichung eines nationalen „Neubaus“.27 Im mer wieder bezog Bonus sich dabei auf Friedrich Naumann und den National sozialen Verein, in dem er nach wie vor aufgrund der Verbindung von nationaler Stärke und sozialer Integration ein gesellschaftspolitisches Zukunftskonzept erblickte. Gegenüber Rade betonte er, dass die religiös-soziale Verbindung von 23 Briefe von Bonus an Rade, 6.10.1930 und die Antwort Rades an Bonus, 14.11.1930 [LKA Eisenach, NL Bonus, 12_003]. Bonus hatte die SPD gewählt, während er zuvor Wähler der liberalen Staatspartei gewesen war (Briefkonzept Bonus an Rade, undatiert [ebd.]). 24 Ebd. 25 Vgl. die Briefe Rades an Bonus, 28.9.1933 und 22.7.1934 [ebd., 12_003]. Rade berichte te von den Konsequenzen, die die „Hitler-Katastrophe“ und die antisemitische Politik der Nationalsozialisten auf seine Familie hatte. Da sein Sohn Gottfried mit einer Jüdin verheira tet war, mussten beide in die Schweiz emigrieren. 26 Brief Rade an Bonus, Hohemark 1.5.1933 [ebd., 12_003]; Rade berichtete Bonus ent setzt vom Selbstmord des jüdischen Sprachwissenschaftlers Hermann Jacobsohn, dem eine Amtsentlassung gedroht hatte; das Vereinshaus der Freunde der Christlichen Welt in Fried richsroda wurde NS-Verfolgten zur Verfügung gestellt. 27 Bonus: Die Tat. Unabhängige Montatsschrift, in: CW (1932), 666–668.
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Nation, Religion und Sozialismus zu den gemeinsamen politischen Ursprüngen in den 1890er Jahren gehört hatte.28 In diesem Sinne hielt er den „moralischen Boykott“ der Rechtsparteien gegen die Sozialdemokratie für grundfalsch.29 Schon 1925 hatte er den Nationalsozialismus als potentiellen Erben der Nau mannbewegung wahrgenommen, ihm aber vorgeworfen, dass er diesem Vorbild durch seinen „muffigen und kleinlichen Antisemitismus“ nicht gerecht würde.30 Grundsätzlich begrüßte er hingegen, dass sich die Hitlerpartei als kommende, „völkische“ Sammlungsbewegung auf die Naumann’sche Verbindung von „na tional“ und „sozial“ berief.31 Auch Karl König unterzog die NSDAP einer Deutung, die von dem National sozialen Verein Friedrich Naumanns ausging, dessen Integrationsparole von sozialem Ausgleich bei nationaler Stärke für ihn die alleinige „Möglichkeit neu er deutscher Zukunft“ darstellte.32 König bewertete das Weimarer „System“ als „gut geölten Apparat“, dem die politische Persönlichkeit fehlte.33 Diese lag in Hitler vor, dem, wie König gegenüber Bonus schilderte, die Jugend und die Ar beitermassen zuflogen.34 Gegen das Kabinett des Zentrumspolitikers Heinrich Brüning sollte Hitler nach Königs Ansicht mit Unterstützung der Rechten einen staatspolitischen „Schulkurs“ absolvieren, der ihn befähigen würde, die Weima rer Parteienvielfalt durch eine autoritäre Bewegung zu ersetzen.35 Die bürgerli chen „Mittelparteien“ hatten sich in seinen Augen überlebt und gingen ihrem langsamen Untergang entgegen. Die Hitlerbewegung sollte nach Königs Ansicht durch die Übernahme politischer Verantwortung gezwungen werden, ihre „Phraseologie“ abzulegen und ihren Radikalismus gegen tatsächliche politische Gestaltung auszutauschen.36 „Das Perpendikel schlägt nach rechts aus, die Frei heit schlägt um in die Sucht nach Bindung“, wie seine lapidare Einschätzung lautete.37 Nach dem Staatsstreich in Preußen am 20. Juli 1932 und der Einset zung Franz von Papens zum Reichskommissar zeichnete sich die Entmachtung der Parlamentsparteien zumindest im Freistaat Preußen ab. Bonus teilte Königs Ansichten nicht; für ihn war das Bündnis der Konservativen mit Hitler – von 28 Briefkonzept Bonus an Rade (Antwort auf einen Brief Rades vom 6.10.1933) [ebd., 12_003]. 29 Briefkonzept Bonus an Rade, 20.3.1933 [ebd., 12_003]. 30 Bonus: Lagarde, in: Die Hilfe 31 (Nr. 5 v. 1.3.1925), 116–117. 31 Ders. [Pseudonym Hinkepott]: Von unseren Nationalisten, in: Die Tat 17/2 (1925/26), 612–616. 32 Brief König an Bonus, Huflar 8.3.1932 [ebd., 23_001]. 33 Brief König an Bonus, Huflar 5.2.1932 [ebd.]. 34 Brief König an Bonus, Huflar 8.3.1932 [ebd.]. 35 Briefe König an Bonus, Huflar 26.4.1932 und 11.8.1932 [ebd.]. 36 Brief König an Bonus, Huflar 11.8.1932 [ebd.]. 37 Brief König an Bonus, Huflar 23.6.1932 [ebd.].
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dem „schmählichen Antisemitismus“ der Nationalsozialisten abgesehen – ein Rückfall in eine „Junkerherrsch.[aft] vorkrieglichen Kalibers“; nach seiner „pri mär kulturpolitisch“ motivierten Haltung stellten die „blutrünstigen Parolen“ des rechten Lagers eine moralische Zumutung dar; vor allen Dingen aber be fürchtete er, dass durch die Unterdrückung der Sozialdemokratie kulturelle Stagnation und politische Unfreiheit folgen würden.38 Bonus und König verband ein schroffer Antikapitalismus, den die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeits losigkeit um 1930 noch verstärkt hatten; sie zogen aus ihren Beobachtungen jedoch entgegengesetzte Konsequenzen. Bonus suchte den Zukunftsweg in ei nem nationalen Ausbau der Sozialdemokratie, König wandte sich dem autoritä ren Herrschaftsstil des Nationalsozialismus zu. Die bürgerliche Hoffnung, wie sie etwa von Gertrud Bäumer in der Hilfe zum Ausdruck gebracht und von König und Bonus diskutiert wurde, durch die Einbindung in die politische Alltagsarbeit eine „Läuterung“ der NSDAP zu bewirken, erwies sich als trügerisch.39 Die politischen und gesellschaftlichen Realitäten ab 1932 verdeutlichten Bonus, dass sich seine Erwartungen an einen nationalen Sozialismus und eine kulturelle Erneuerung unter der NSDAP nicht realisieren lassen würden. Dass die NS-Bewegung nicht an einer kulturellen Integration kritischer Intellektuel ler interessiert war, sondern gegnerische Künstler marginalisierte und mit Ar beitsverboten belegte, zeigte sich etwa an der befreundeten Malerin und Bild hauerin Käthe Kollwitz, die als international bekannte Künstlerin 1933 ge zwungen wurde, die Preußische Akademie der Künste zu verlassen und ihre Professur niederzulegen. Bonus plädierte in einem Verteidigungsaufsatz, der in der Christlichen Welt erschien, für Kollwitz und die Freiheit der Kunst und ver suchte auf die aus seiner Sicht unpolitische Ausrichtung ihrer Arbeit hinzuwei sen. Ein Versuch, diese Apologie in Wilhelm Stapels Deutschem Volkstum als einer führenden, dem Nationalsozialismus bekanntermaßen aufgeschlossenen Zeitschrift unterzubringen, scheiterte und führte Bonus den totalitären Charak ter der NS-Ideologie vor Augen. Auch Stapel teilte mit Bonus den Rückbezug auf die gemeinsame nationalsoziale Vergangenheit, die sich auch auf den Kunstwart und die Christliche Welt erstreckte.40 Für Stapel markierte der Erste Welt krieg die Wasserscheide, von der an er mit dem ethischen Sozialismus und den Kulturzielen der bürgerlich-protestantischen Reformer nicht mehr mithalten wollte. Die in den Kreisen um Avenarius und Rade gegen Kriegsende vollzoge 38 Briefkonzept Bonus an König, undatiert (durch die Bezugnahme auf den „Preußen streich“ auf Juli 1932 datierbar) [ebd.]. 39 Ebd.; aus Königs Sicht: Brief an Bonus, Huflar 11.8.1932 [ebd.]; zu Bäumer und anderen Liberalen in den 1930er Jahren vgl. Eric Kurlander: Living with Hitler, New Haven 2009. 40 Brief Stapel an Bonus, Hamburg 2.3.1934 [ebd., 24_006].
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ne Wendung zu demokratischen Reformen, Liberalismus und einer europäi schen Verständigung war für ihn ein Trennungsgrund: Aber ich nahm das Nationale und Soziale härter und radikaler als einige Führer der der natio nalen Sache im „Fortschritt“ enteilenden Naumannianer. So wurde ich denn bald als ein Mensch, der nicht nur „national“, sondern „nationalistisch“ gesonnen war, untragbar für die Zeitschrift, die zum Pazifismus überlief.41
Für Stapel erforderte der Aufbau des nationalsozialistischen Staatswesens ein eindeutiges Bekenntnis zur Nation, was es ihm unmöglich machte, sich für Koll witz als Vertreterin der „politischen Gegenseite“ einzusetzen.42 Bonus würde immer noch „liberal“, ja „links“ denken und damit das Wesen des National sozialismus verkennen. Der „gegenwärtige Staat“ sei kein „bürgerlicher Rechts staat“ mehr, teilte Stapel ihm mit, sondern „ein totaler und aktivistischer Staat“, in dem sich keine Haltung mehr als „unpolitisch“ bezeichnen lasse. Während ein liberaler Staat im künstlerischen wie im politischen Feld eine „Opposition“ zu lasse, war das im „totalen Staat“ der Nationalsozialisten nicht mehr möglich.43 Bonus geriet als Mitglied der ‚Freunde der Christlichen Welt‘ in Konflikt mit den totalitären Ansprüchen der NS-Bewegung. In Martin Rades engerem Um feld war man sich ab 1932 bewusst, einen liberalen Gegenkurs zur antidemokra tischen Gesamtlage zu fahren. Im Redaktionskreis wurde die Zeitschrift zuneh mend als gefährdet empfunden, da sie strengen Zensurmaßnahmen unterworfen war. Hermann Mulert, in dessen Hände die Schriftleitung seit 1932 übergegan gen war, empfahl Bonus mehrmals die Kürzung seiner Artikel oder wies sie aufgrund zensorischer Befürchtungen zur Gänze ab.44 Mulert hatte die Redak tionsaufgabe als demokratisch und liberal gesonnener Theologe übernommen, was sich angesichts der theologischen und gesellschaftlichen Traditionslinien der Zeitschrift als schwierig darstellte. Rade sah in ihm einen höchst zuverläs sigen Nachfolger, der seine liberalen Standpunkte teilte.45 Die distanzierte Hal tung der Christlichen Welt gegenüber dem Dritten Reich wurde durch die Ge stapo 1934 mit Hausdurchsuchungen in Rades Wohnung und im Redaktions büro sowie der Beschlagnahmung einiger Zeitschriftennummern beantwortet.46 41
Brief Stapel an Bonus, Hamburg 16.6.1933 [ebd.].
42 Ebd. 43
Brief Stapel an Bonus, Hamburg 23.6.1933 [ebd.]. Briefkarte Mulert an Bonus, Kiel 26.4.1932 [ebd., 23_001]; Brief Mulert an Bonus, Kiel 28.4.1933 [ebd., 23_004]. 45 Rade betonte gegenüber Bonus die Gemeinsamkeiten mit Mulert, „Er steht zur neusten politischen Wendung so wie wir, höchstens noch ablehnender“ (Brief Rade an Bonus, Hohe mark 24.5.1933 [ebd., 12_003]). 46 Postkarte Rade an Bonus, Hohemark 26.3.1934 [ebd., 12_003]; die Äußerung zu den Freunden der Christlichen Welt schrieb Rade auf Latein. 44
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Im Juli 1934 musste Rade zudem mit 35 weiteren „suspekten Professoren Mar burgs“ einen Fragebogen über seine politische Zuverlässigkeit ausfüllen, was ihm seine politische Mißliebigkeit weiter verdeutlichte.47 Wie Rade Beate Bonus mitteilte, wurde sein Haus immer mehr zu einer Anlaufstelle für vom „Dritten Reich“ verfolgte oder marginalisierte Personen.48 Bei den Hausdurchsuchungen waren angeblich auch Briefe von Bonus mit abfälligen Bemerkungen über Hit lers Mein Kampf gefunden worden. Bonus verfasste ein Rechtfertigungsschrei ben gegen den Verdacht „antinationaler Einstellung“, das er dem örtlichen NS-Landrat vorlegte, um sich als Vorreiter des „nationalen Gedankens“ zu prä sentieren.49 Im privaten Briefwechsel mit Martin Rade, aber auch gegenüber der Familie von Otto Piper, die aufgrund der antisemitischen Rassengesetzgebung in die Emigration gezwungen wurde, brachte er hingegen seine Skepsis zum Aus druck, ob das Dritte Reich die Erfüllung der nationalkulturellen Hoffnungen bringen würde: „Die sogenannten ‚Erfüllungen‘ pflegen anders auszusehen, als man sichs denkt.“50 Insbesondere die NS-Rassenideologie stellte für Bonus ei nen Widerspruch zu seinem Ideal einer deutschen Bildungskultur dar. Gegen über Wilhelm Stapel beklagte er die Allgegenwart eines rassistisch begründeten Antisemitismus. Der „neue Fund der Rassenkunde“ treibe „wie Dynamit unser Volk auseinander und wider einander“. Der Stapel’schen Volksnomostheologie, die Nation, Rasse und Staat als göttliche Setzungen eng umklammerte, stellte er die historische Genese der Völker gegenüber, zu der die Aufnahme unterschied licher Einflüsse als „Blutmischung“ gehörte: Wenn etwas in diesen Dingen von Gott ist, so scheint es mir das Volk zu sein, dem Gott eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame geschichtliche Aufgaben gab.51
Stapel ließ sich von solchen Einwänden in seiner antisemitischen Grundhaltung nicht beirren, sondern wies Bonus auf seine Hetzschrift über die Gefährlichkeit und Kulturlosigkeit des Judentums von 1928, Antisemitismus und Antigermanismus, hin.52 Bonus blieb jedoch den seit der Jahrhundertwende gültigen Refe 47
Rade führte Bonus sein politisches „Sündenregister“ vor: „Nationalliberal, nationalso zial, Deutsche Fortschrittspartei, Demokratische Staatspartei. Reichsbanner Schwarzrot gold, Pazifist“ (Brief Rade an Bonus, Hohemark 5.7.1933 [ebd., 12_003]). 48 Briefabschnitt Rade an Beate Bonus, undatiert [ebd., 12_003]. 49 Brief Bonus an Landrat von Christen, Lengenfeld 24.3.1934 [ebd., 25_011]. Die entspre chenden Bemerkungen über Hitler konnte ich nicht belegen. 50 Briefe Elisabeth und Otto Piper, 23.1.1934 und 26.1.1934; Briefkonzept Bonus an Fami lie Piper [ebd., 20_031]. 51 Briefdurchschlag Bonus an Stapel, Lengenfeld 8.3.1935 [ebd., 24_006]. 52 Brief Stapel an Bonus, 18.1.1935 [ebd.]; vgl. Wilhelm Stapel: Antisemitismus und An tigermanismus. Über die seelischen Probleme der Symbiose des deutschen und jüdischen
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renzpunkten von Volk und Kultur verhaftet, während er die für die NS-Ideolo gie wesentliche semantische Verschiebung hin zu „Rasse“ nicht mitvollzog.
II. Verbindungen zu deutsch-christlichen und deutschgläubige Gruppierungen Trotz dieser weltanschaulichen Distanzierungen waren es vor allen Dingen völ kisch-nationalsozialistisch orientierte Gruppierungen, die nach 1933 sich unter dem Eindruck des neuen nationalen Staats auf Arthur Bonus als Kronzeugen einer völkischen Theologie beriefen. Die Deutschen Christen entdeckten seine Schriften als Beleg für die langfristige und produktive Auseinandersetzung der evangelischen Theologie mit dem völkischen Gedanken, ja geradezu als Urhe ber eines radikalen und religiös verbrämten Nationalismus. Entsprechend wur de er nach seinem Tod am 9. April 1941 in Nachrufen als „Vorkämpfer des nor dischen Gedankens“ und als ein „Erwecker des deutschen Glaubens und Bahn brecher der völkischen Ideologie“ gefeiert, dessen Werk auf eine Neuentdeckung in der „Geistesschlacht um das innerste Fundament unseres Lebens“ harrte.53 Die Zeichen der neuen Zeit äußerten sich in zahlreichen Anknüpfungsversu chen. Der christlich-soziale Pfarrer August de Haas bat um Abdruckgenehmi gungen für seine als Sammlung von Flugschriften christlicher Deutscher kon zipierte Schriftenreihe Kämpfende Kirche;54 verschiedene Vortragseinladungen folgten, etwa zur Leipziger Arbeitsgemeinschaft deutsch-christlicher Pfarrer; zugleich wurde die Bitte an Bonus gerichtet, orientierend zu verdeutlichen, wie sich seine Überzeugungen zu den deutsch-christlichen Gruppierungen verhiel ten.55 Die Erwartungen an eine neuerliche Äußerung von Bonus zur Germani sierung und an einen schriftstellerischen Erfolg im Rahmen des Nationalsozia lismus waren recht groß. Hatte Bonus um die Jahrhundertwende, als er seine Volkes, Hamburg 1928. Eine weitere antisemitische Publikation Stapels erschien 1937 in der Schriftenreihe des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands: ders.: Die litera rische Vorherrschaft der Juden in Deutschland 1918 bis 1933, Hamburg 1937 (an Bonus mit geteilt: Brief Stapel an Bonus, Hamburg 17.2.1937 [ebd.]). Bonus kannte Stapels antisemiti sches Schrifttum nicht, wie dieser verärgert feststellte. 53 H erbert von H intzenstern: Arthur Bonus. Weg, Wille und Werk, in: Volk im Werden 10 (1942), 1–12, 1; ders.: Abschied von Arthur Bonus, in: Die Nationalkirche 16 (1941), 109. Hintzenstern war Mitarbeiter im Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, für dessen nationalsozialistischrassenk undliche Darstellung der Religionsgeschichte er Bonus reklamierte. 54 Brief de Haas an Bonus, Göttingen 31.7.1935 [ebd., 23_004]. 55 Brief Gerhard Häusler an Bonus, Leipzig 26.2.1938 [ebd., 23_004]. Häusler war Pfarrer an der Leipziger St.-Jakob-Kirche.
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Thesen veröffentlichte, eine scheinbar singuläre Position eingenommen und noch wie ein „Profet in der Wüste“ gearbeitet, schienen seine Vorstellungen „neuerdings viel zeitgemässer als früher“ zu wirken und der verbreiteten völki schen Stimmung zu entsprechen.56 So kam das Gerücht auf, Bonus sei „von hoher Stelle beauftragt worden, die Grundlinien einer deutschen Religion zu entwerfen“, was allerdings seiner tatsächlichen Stellung in der ideologischen Gemengelage der 1930er Jahre nicht entsprach.57 Heinrich Meyer-Benfey, Ver fasser der Lemmata zu Arthur Bonus im Handlexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart, der seine literarische Entwicklung freundschaftlich verfolgte, bedauerte, dass Bonus’ Name in den Ideologiedebatten um Christen tum, Deutschtum und Nationalsozialismus in den Anfangsjahren des ‚Dritten Reiches‘ viel seltener vorkam als erwartet.58 Besonders deutlich waren die Versuche seitens der Thüringer Kirchenbewe gung Deutsche Christen, ihn als Vorreiter der eigenen Vorstellungen in die Ver kündigung eines nazifizierten Christentums einzubinden. Diese wurden von Karl König vorangetrieben, der 1934 zum Thüringer Kirchenrat berufen wor den war und sich entschlossen für die Förderung von Bonus’ Schriften einsetz te. Auf sein Einwirken hin wurde Bonus 1938 von Siegfried Leffler und dem Landesbischof Martin Sasse zum Ehrenmitglied der Thüringer Kirchenbewe gung berufen. Bonus, der seinen Lebensabend als ehemaliger Religionslehrer und Hausseelsorger des Reformgymnasiums auf Schloss Bischofstein bei Len genfeld verbrachte, nahm diese Ehrung allerdings nicht selbst entgegen und wollte mit ihr keine Konsequenzen verbinden.59 56
Brief Pfarrer a.D. H. Kötzschke an Bonus, Berlin, undatiert (nach 1935 [ebd.]). Brief Mulert an Bonus, Kiel 20.1.1935 [ebd.]. 58 Brief Meyer-Benfey an Bonus, Hamburg 20.1.1934 [ebd., 20_031]. 59 Tatsächlich zeigte Bonus bereits deutliche Zeichen altersbedingter Demenz, wie aus dem intensiven Briefwechsel zwischen Rade und Beate Bonus deutlich wird. Wie Beate Bo nus dem Ehepaar Rade berichtete, wurde die Ehrung durchaus als Belastung empfunden. Sie versuchte gegenüber der thüringischen Kirchenleitung deutlich zu machen, daß man „nicht so glatt und mit Stumpf und Stiel sich von ihnen als einen der ihren könnte in die Tasche stecken lassen“ (Brief Beate Bonus an Rade, Bischofstein, 19.11.1938 [UB Marburg, NL Rade]). Der von Beate Bonus niedergeschriebene Dankesbrief an Oberregierungsrat Sieg fried Leffler versuchte, unter Verweis auf sein Alter eine Mitarbeit abzulehnen, ohne die Verbindung zu trennen: „Zwar wird es Ihre Billigung vielleicht nicht haben, dass wir unsere althergebrachte Lebensform als Eigenbrötler auf das Verhältnis zu den Kirchenstreitigkeiten ausdehnen; und abseits stehen. Doch hat mein Mann sein Werk getan, er ist müde. Was mich betrifft, so habe ich durch Arthur Bonus alles gewonnen, was ich brauche, um mich unmit telbar dahin zu wenden, wo wir über uns Kräfte spüren, die uns wachsen machen. Falls es nötig ist, dass dies Wachstum durch Feindschaft und Bruderkrieg hindurchmuss, so mag es Einzelnen, deren Fuss schon an die Lebensgrenze rührt, doch vergönnt sein, sich nur an das zu halten, was im überlieferten Christengut von Liebe handelt.“ In Hektographie ging dieses 57
II. Verbindungen zu deutsch-christlichen und deutschgläubige Gruppierungen
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Karl König bemühte sich gleichzeitig um eine weitere Ehrung, nämlich um die Verleihung einer Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät Jena an Bonus. Umstandslos wurde in der Begründung der Bogen von Bonus’ Werk zu der gegenwärtigen deutschchristlichen Theologie geschlagen: „In den Schrif ten von Arthur Bonus liegt meines Erachtens ein Lebenswerk vor, daß wir Thü ringer Deutsche Christen als unser Erbe anzutreten die Pflicht haben, und […] auch anzutreten im Begriffe stehen.“60 Die Germanisierungs-These trat hier in einer auf eine antisemitische Interpretation hin radikalisierten Zusammen fassung auf, die weit über Bonus’ ursprüngliche Intentionen hinausging. König verstand sie als Befreiung der „christlichen Religion“ von „jenen Elementen, mit denen sie sich im Laufe ihrer Geschichte von Juda über Hellas und Rom her derartig verbunden hat, dass sie uns, je deutscher wir wieder fühlen lernten, nur um so fremder zu werden begann“.61 Die Avancen der Thüringer Deutschen Christen speisten sich aus einer dop pelten Motivlage. Zum einen musste die theologisch mit zahlreichen Problemen und Ungereimtheiten behaftete völkische Umformung des Protestantismus ge genüber dem Protest seitens bekenntnisorientierter Gruppierungen durchge setzt, zum anderen gegenüber dem totalitären Anspruch der NS-Ideologen ver teidigt werden, die nach dem Scheitern der nationalsozialistischen Kirchenpoli tik 1933/34 keineswegs bereit waren, christliche Seitenäste zu akzeptieren. Die Deutschen Christen konnten kaum auf ein ausgefeiltes theologisches Programm zurückgreifen. Sie verstanden sich als Transformationsbewegung, die im akti vistischen Sinne evangelische Kirche und nationalsozialistische Volksgemein schaft miteinander verbinden wollten. Theologische Vordenker der 1930er Jah re wie Friedrich Gogarten oder Emanuel Hirsch hatten ein gespanntes Verhält nis zu den deutsch-christlichen Führungsriegen und verloren nach der anfänglichen Begeisterungsphase rasch an theologischem Einfluss oder distan zierten sich selbst von den kirchlichen Nationalsozialisten. Wie die Forschun gen von Doris Bergen oder Manfred Gailus eindrucksvoll zeigen, bedeutete der kirchenpolitische Gewichtsverlust der deutsch-christlichen Kirchenbewegun gen und ihre zunehmende Fraktionierung keineswegs, dass das in ihnen ver Schreiben auch an Martin Rade (Brief Beate Bonus an Leffler, Bischofstein 28.10.1938 [ebd.]). 60 Briefkonzept Karl König an die Theologische Fakultät Jena, undatiert, Kopie [LKA Eisenach, NL Karl König, 80_020]. Königs Bemühungen um Verleihung einer Ehrendoktor würde wurden von Beate Bonus nicht nur als ideelle Würdigung von Bonus’ Lebenswerk, sondern auch angesichts der bedrängten finanziellen Situation der Familie begrüßt, weil sich daraus möglicherweise die Gewährung eines Ehrensolds ableiten ließ (Brief Beate Bonus an König, 6.2.1938 [ebd., 78_028]). 61 Ebd., 1.
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Siebtes Kapitel: Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick
sammelte religiös-ideologische Positionsspektrum nicht weiterhin zwischen den unterschiedlichen protestantischen Frömmigkeitsformen weiterbestand. Zudem hatten deutschchristliche Vertreter wichtige Positionen in den Kirchen leitungen mehrerer Landeskirchen besetzen können. Die Thüringische Landes kirche stellte hier insofern einen Sonderfall dar, als dass sich an der Theologi schen Fakultät der NS-Musteruniversität Jena und in der Eisenacher Landes kirchenleitung mit dem Neutestamentler Walter Grundmann, dem Systematiker Hans Erich Eisenhuth oder dem Praktischen Theologen Wolf Meyer-Erlach ei nige Theologen installiert hatten, die nicht aufgrund ihrer intellektuellen Profi liertheit, sondern aufgrund ihres eindeutigen und energischen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus eine bestimmende ideologische Position erlangt hat ten und in Thüringen zeitweilig politische Förderung erhielten. Der Thüringer Landeskirchenrat ordnete zur einheitlichen ideologischen Formung seiner Pfar rerschaft im Frühjahr 1938 Pflichtkonferenzen an, auf denen „die Frage der Germanisierung des Christentums zu behandeln“ sei.62 Den Geistlichen in der Thüringischen Landeskirche wurde damit die Lektüre von Schriften von Bonus und Lagarde sowie von Karl König verpflichtend verordnet, die als Vorbilder einer in das Nationale transformierten Frömmigkeit bewertet wurden. Die anti rationalistische Ausrichtung von Bonus’ Verkündigung und ihre vitalistisch- erlebnisreligiöse Grundierung bot Anknüpfungspunkte, die sich mit den Anlie gen der auf Rassen- und Volksgemeinschaft ausgerichteten deutsch-christlichen Tat-Religion verbinden ließen. Auch Bonus’ Abwertung der akademischen Theologien und die Aktualisierung der schöpferischen Erfahrung als eigentli che Substanz der Religion traf sich mit deutsch-christlichen Inhalten, was sich in der Anordnung widerspiegelte, die Pfarrkonvente zur Auseinandersetzung mit dem „Historismus“ zu nutzen.63 Die Thüringische Pfarrerschaft nahm diese Versuche der ideologischen Inbeschlagnahme nicht widerspruchlos hin, wie ein Thesenpapier des Jenaer Studentenpfarrers Otto Alexander Dilschneider zeigte, der sich gegen den vom Landeskirchenrat über die Zwangskonferenzen ausge übten „geistlichen Terror“ verwahrte und darauf hinwies, dass es kirchenrecht lich nicht Sache der Kirchenleitung war, die Verkündigung der einzelnen Predi ger zu beeinflussen.64 Die hoch subjektiven und vorrangig über die Negation der bestehenden Traditionslandschaft argumentierenden Entwürfe von Bonus und 62 Rundschreiben Landeskirchenrat, Eisenach 30.1.1938 (Abschrift an Eugen-Diederichs- Verlag, Eisenach 18.2.1938 [UA Jena, Nachlass Diederichs, Rezensionsmappen Bonus]). 63 Ebd. 64 Rundschreiben Dilschneider „Zur theologischen Information“, undatiert [LKA Eise nach, NL Bonus, 20_004]. Dilschneiders Thesenblatt gab in knapper Zusammenfassung Hauptgedanken von Bonus und Lagarde mit kurzer theologiehistorischer Einordnung wieder und kam zu dem Schluss, dass sich trotz Gemeinsamkeiten und der antisemitisch-antihisto
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Lagarde wurden zudem nicht als Grundlage wahrgenommen, von der aus es zu einer theologischen „Befriedung und Klärung der Lage“ kommen konnte.65 In den Anfangsjahren der NS-Herrschaft zwischen 1932 und 1935 versuchte auch die deutsch-gläubige Bewegung um Jakob Wilhelm Hauer, Bonus als einen geeigneten Vertreter geteilter Vorstellungen für sich zu gewinnen.66 Anknüp fungspunkte in diese Richtung ergaben sich aus den gemeinsamen Wurzeln in der Jugend- und Lebensreformbewegung sowie den Aufbruchstheologien der 20er Jahre. Bonus hatte durch Vermittlung von Rades Redaktionsmitarbeiter Herbert Grabert 1932 bei einem Treffen der ‚Theologischen Gilde‘ der Könge ner neben Emil Fuchs und Kurt Leese einen Vortrag gehalten.67 Bei dem ‚Bund der Köngener‘ handelte es sich um einen religiös-nationalistischen Ableger der Jugendbewegung, in dem sich verschiedene, nur teilweise völkische Versuche einer religiösen, überkonfessionellen Erweckung des Deutschtums sammelten. Hauer, der einen Lehrstuhl für Religionswissenschaften an der Universität Tübingen innehatte, versuchte gezielt, an das liberalprotestantische Lager anzu knüpfen und stellte den Kontakt zu mehreren freiprotestantischen Theologen des Kaiserreichs her. Bonus gegenüber benannte er als Mitarbeiter der Könge ner Anliegen den ehemaligen Pfarrer Christoph Schrempf, Marianne Weber, die literarisch aktive Witwe Max Webers, und die religiöse Schriftstellerin Anna Schieber, drei Namen also, mit denen an die gemeinsame Herkunft aus dem freien Protestantismus angeknüpft wurde.68 Für Hauer war Bonus also zunächst ein Repräsentant des liberal-religiösen Lagers, dem er ein Betätigungsfeld außerhalb der Kirche anbieten wollte.69 1930 hatte Hauer ihn um Mitarbeit in ristischen Tendenz Lagardes aus beiden Entwürfen eine einheitliche deutsch-christliche Po sition kaum gewinnen lassen würde. 65 Ebd. 66 Vgl. zu den Berührungspunkten zwischen Hauer und Bonus H iroshi Kubota: Reli gionswissenschaftliche Religiosität und Religionsgründung, Frankfurt 2005, 89–91. 67 Tagungsbericht in: Kommende Gemeinde 4 (Heft 5/6 vom Dezember 1932). Bonus hat te 1924 H auers Dissertation: Die Anfänge der Yogapraxis (Berlin 1922) in der Christlichen Welt rezensiert (Bonus: Indisches, in: CW 38 (1924), 383–385), knüpfte hieran allerdings nicht noch einmal an. Im Anschluss an den Ersten Weltkrieg verfolgte Bonus freie, pantheis tische Vorstellungen und beschäftigte sich intensiv mit indischen Religionen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: ders.: Vom heiligen Tanz, in: Kunstwart 37/1 (1923/24), 43–46. 68 Brief Hauers an Bonus, 1. Dezember 1930 [BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 34, Bl. 93]. Zu Anna Schieber vgl. die Würdigung von M arie Luise Enckendorff: Die Dichterin Anna Schieber, in: Kommende Gemeinde 3 (1931), 27–36. 69 Zu dieser Einschätzung kommt auch H iroshi Kubota: Religionswissenschaftliche Reli giosität, 91. Gegenüber anderen Liberalprotestanten, die im Aufkommen des Nationalsozia lismus mit einer freien, germanischen Religiosität sympathisierten, machte Hauer die Mitar beit interessant, indem er auf Bonus und Kurt Leese als Mitstreiter verwies, so etwa gegen über Hermann Mandel (ebd., 187).
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Siebtes Kapitel: Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick
seiner freireligiösen Zeitschrift Kommende Gemeinde gebeten.70 Bonus galt ihm als ein Vorbild für seine eigene Anschauung, dass eine religiöse Germani sierung im Sinne einer aktualisierenden Auflösung des Christentums eine dringende kulturelle Notwendigkeit darstellte. Hauer beabsichtigte, mit Bonus’ Hilfe klar [zu] machen, dass das Christentum zwar eine Religion innerhalb des deutschen Geistes lebens ist, aber nicht mehr als das und dass das kirchlich-dogmatische Christentum richtig betrachtet eben eine Sekte ist, die in merkwürdiger Illusion den Anspruch erhebt, das gesam te religiöse Leben unseres Volkes zu betreuen.71
Hauer versuchte ab 1932 verstärkt, ein institutionalisiertes deutschgläubiges Gegengewicht zum kirchlichen Christentum zu schaffen. Für dieses Ansinnen warb er um Bonus und bat ihn, sich an der Sammlung einer „junggermanischen Bewegung“ zu beteiligen.72 Vergleichbare Versuche, den flottierenden Religi onsprojekten der völkischen Bewegung eine feste Form zu geben, bestanden seit der Spätphase des wilhelminischen Kaiserreichs und vermehrten sich in den weltanschaulichen Polarisierungen der Weimarer Jahre. Im Mai 1932 war der Publizist Georg Groh, Herausgeber der völkisch-religiösen Zeitschrift Rig und ein Mitstreiter Hauers, an Bonus herangetreten, um eine „Genossenschaft“ zur Förderung einer deutschen Frömmigkeit zu gründen.73 Bonus erhoffte sich aus diesen Vorhaben eine Wiederbelebung der ethisch-nationalkulturellen Dis kussionsgemeinschaft, die ihm der Kunstwart oder der Diederichs-Verlag gebo ten hatten und auf die er nach dem Tod der jeweiligen Herausgeberpersönlich keit keinen Zugriff mehr hatte.74 Ging es zunächst um ein loses „Treffen der 70 Briefe Hauer an Bonus, Tübingen 29.10.1930 und 1.12.1930 [LKA Eisenach, NL Bonus, 19_005/BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 34 (93)]. Bonus sollte außerdem einen Vortrag bei einer Köngener Arbeitswoche über das Thema „Der germanische Geist und das Christentum“ hal ten, was jedoch nicht stattfand. Zwischen 1932 und 1934 publizierte Bonus mehrfach in Hau ers Zeitschriften: Vom Germanischen Glauben, in: Kommende Gemeinde 4 (Heft 1/2 vom April 1932), 62–79; ders.: Zur Bekämpfung der Gottlosenbewegung, in: ebd., 4 (Heft 5/6 vom Dezember 1932, 101–103; im Nachfolgeorgan der germanisch-deutschen Glaubensbewegung erschien: ders.: Verdeutschung der Religion, in: Deutscher Glaube 1 (Heft 2 vom Hornung [Februar] 1934), 57–60; ders.: Eine Goethefälschung, in: ebd., 1 (Heft 9 vom Scheiding [Sep tember] 1934), 414–416. 71 Brief Hauer an Bonus, Tübingen 26.5.1932 [LKA Eisenach, NL Bonus, 19_005/BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 76 (7)]. 72 Ebd. Hauer bat Bonus darüber hinaus um literarische Unterstützung für eine Vorlesung über „Die Junggermanische Bewegung der Gegenwart im Zusammenhang mit der indo germanischen Glaubensbewegung“, die er im Sommersemester 1933 hielt; vgl. Horst Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Reli gionswissenschaft an der Universität Tübingen, Stuttgart 1999, 322. 73 Brief Groh an Bonus, Schweinfurt 12.5.1932 [LKA Eisenach, NL Bonus, 22_005]. 74 Brief Bonus an Groh, Lengenfeld 21.4.1932 [ebd.].
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Bünde“ zu wechselseitiger Abstimmung, schien sich im Frühjahr 1933 die Ge legenheit zu bieten, die diversen freireligiösen und nationalen Verbindungen enger miteinander zu verzahnen, um sich organisatorisch gegenüber der sich im Aufbau befindlichen evangelischen „Reichskirche“ abgrenzen zu können.75 Hauer zielte darauf, für die freireligiösen und völkischen Gemeinschaften die „Anerkennung bei der jetzigen Regierung“ als konfessionsartiges Gebilde durchzusetzen.76 Eine „Deutsche Kirche“ oder eine „germanisch-deutsche Glaubensbewegung“ sollte neben die Konfessionskirchen gestellt werden, um den Frei- und Deutschreligiösen ähnliche Rechtsmöglichkeiten zu bieten wie den Mitgliedern der christlichen Kirchen. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass eine artgemäße „eigene Religion“ das „angenommene Christentum“ als fremde Mischreligion ersetzen musste.77 Die Gründungsversammlung der sich kurz darauf wieder spaltenden Germa nisch-deutschen Glaubenbewegung fand am 29./30 Juli 1933 auf der Wartburg statt.78 Bonus zeigte sich von Hauers Anliegen beeindruckt, stimmte der Erwar tung zu, dass eine engere Verbindung der germanisierend-freireligiösen Grup pen angesichts der öffentlichen Dominanz durch die Kirchen eine Stärkung bedeuten würde und teilte auch Hauers Überzeugung, dass sich die in Deutsch land mehrheitlich anzutreffende religiöse Weltsicht nicht mit den kirchlichen Konfessionen deckte.79 Sich an einer Bewegung der „deutschen Frommen“ zu beteiligen, schloss Bonus unter Verweis auf seine konfessionsfreie Religiosität nicht kategorisch aus. Im jesuanischen Sinne komme es „nicht auf das Christen tum oder Nichtchristentum“ an, sondern auf die lebendige Gottesbegegnung, die auch von der Hauer-Bewegung ermöglicht werde.80 Eine aktive Beteiligung lehnte er jedoch ab, nicht nur aus kirchenpolitischer Abstinenz.81 Vielmehr hielt 75
Brief Hauer an Bonus, Tübingen 18.5.1933 [ebd., 19_005].
76 Ebd.
77 Vgl. zur Programmatik der Neugründung, die schon in der Anfangsphase inhaltliche Spannungen erkennen ließ, die im Frühling 1933 für die „vorbereitende Geschäftsstelle der deutschen Kirche“ versandten Ausführungen von H ans Fuchs: „Die Vollendung der nationa len Erhebung durch religiöse Erneuerung“ und den Aufruf: „An die Männer und Frauen einer germanisch-deutschen Glaubensbewegung“ [ebd., 19_005]. 78 Vgl. den Aufruf: „An die Männer und Frauen einer germanisch-deutschen Glaubensbe wegung“ sowie den Gründungsaufruf Hauers, Tübingen 17.6.1933 [ebd.]. 79 Briefe Bonus an Hauer, Lengenfeld 29.5.1932 und 13.6.1933 [ebd./BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 37 (20)]. 80 So ein nichtveröffentlichtes Manuskript „Über die ‚deutsche Glaubensbewegung‘“, das Bonus 1934 erfolglos in der Christlichen Welt zu veröffentlichen versuchte [ebd., 34_070]; aufgrund seiner Betonung eines freien, überkonfessionellen Christentums lehnte aber auch Herbert Grabert für den Deutschen Glauben ab (Brief Grabert an Bonus, 30.4.1934 [ebd., 12_003]). 81 Brief Bonus an Hauer, 24.6.1933 [LKA ebd., 19_005/BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 53
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Siebtes Kapitel: Gefolgschaft und Ablehnung. Ein Ausblick
er die antikirchliche Zuspitzung, die die Glaubensbewegung annahm, für einen geschichtlichen Bruch, lieber wollte er eine organische Weiterentwicklung des Christentums in den Bahnen der Nation abwarten.82 Für ihn stellte die gleich sam artifizielle Erzeugung einer Religion ein ahistorisches „Herumschweben im geschichtlichen Himmelblauen“ dar.83 Hier konnte ihm ein nationalsozialis tischer Christ wie Wilhelm Stapel beipflichten: Wenn der Mensch anfängt, sich mit dem traurigen Geschäft der Menschheitserlösung zu befassen, dann kommen dabei bloss „Glaubensbewegungen“, wildgewordene Professoren, germantische [sic!] Sektierer und Psychopathen aller Art heraus.84
Bonus votierte für einen Verbleib in der Kirche und prognostizierte den „Kra kehlverbänden“ einer nationalistischen „Rassenkirche“ eine nur kurze Dauer. Seine Idealvorstellung blieb die aus den christlichen Kirchen hervorwachsende, überkonfessionelle und nationale „Volkskirche“.85 Der völkischen Religion „nach Art der Ludendorffs“ fehlte ein eigentlicher, idealistischer Inhalt, wäh rend die neuidealistische, auf Goethe und Nietzsche bezogene Bildungsreli giosität, die Herbert Grabert vertrat, ihm zu konstruiert erschien, wobei er die Gemeinsamkeit im Kampf gegen die „Intellektualisierung der Religion“ beton te.86 Letzterer sowie der volksmissionarische Anspruch, die religiös-moralische Einigung der Nation zu bewirken, stellten die entscheidenden Verbindungs stücke zwischen Bonus und den nationalsozialistisch motivierten Religions projekten dar. Bonus’ Bemühungen, im Nationalsozialismus noch einmal literarisch an sei ne Germanisierungsthese anzuknüpfen, gestalteten sich als kompliziert. Durch Wilhelm Stapel, der über einen gewissen Einfluss bei der Hanseatischen Verlag sanstalt verfügte, versuchte er über seine Saga-Rezeption auf dem NS-Buch markt Fuß zu fassen.87 Obwohl etwa deutsch-christliche Rezensionen seine Be (20)]; Briefkonzept Bonus an Grabert, undatiert [ebd., 23_003]. 82 Bonus: Freundschaftliche Bedenken zur ‚Deutschen Glaubensbewegung‘, in: Deut sches Volkstum 37/2 (1935), 745–756, vgl. seinen Brief an Hauer, Lengenfeld 1.11.1933 [LKA Eisenach, NL Bonus 23_004/BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 53, Bl. 24]. 83 Briefdurchschlag Bonus an Dr. Hans Fuchs, Lengenfeld 1.2.1934 [LKA Eisenach, NL Bonus, 23_003] als Antwort auf die Zusendung einer Mitgliedskarte mit der Aufforderung zum Kirchenaustritt. 84 Brief Stapel an Bonus, Hamburg 31.10.1935 [ebd., 24_006]. 85 Brief Bonus an Hauer, Lengenfeld 1.11.1933 [ebd., 23_004/BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 53 (24)]. 86 Brief Bonus an Groh, Lengenfeld 21.4.1932 [LKA Eisenach, NL Bonus, 22_005]; Brief durchschlag Bonus an Grabert, Lengenfeld 8.10.1935 [ebd., 23_003]; Bonus bezieht sich auf die ihm zugesandte Arbeit von Herbert Grabert: Der protestantische Auftrag des deutschen Volkes, Stuttgart 1936. 87 Es erschien: Bonus: Nordgermanische Balladen der Frühzeit, Hamburg 1937.
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arbeitung der Saga-Stoffe als „dritte Offenbarungsquelle des germanischen Geistes“ kanonisierten und damit ihre ideologische Bedeutung stärkten, wur den sie von parteinahen Kulturorganen aufgrund ihres religiösen und archai sierenden Duktus verrissen.88 Für Bonus war das ein weiterer Grund, eine miß trauische Haltung gegenüber dem Regime einzunehmen. In das „NS Pro gramm“, so schrieb er dem Unterstützer Karl König, könne er kaum noch „Vertrauen“ stecken, da seinem germanischen Kulturideal nichts als eine „Schimpforgie“ entgegengebracht würde.89 Über Wilhelm Stapel und über Jakob Wilhelm Hauer versuchte er erfolglos, eine Sammlung von Schulandachten zu publizieren, die er auf Schloss Bischof stein gehalten hatte. Auch Martin Rade setzte sich für ihn ein. Doch obwohl er Bonus als eine Art „Wegbereiter“ der neuen Frömmigkeit im Nationalsozialis mus bewarb, konnte er nur von Absagen berichten.90 Der „alte Freundeskreis von Arthur Bonus“, so der Verleger Felix Meiner, würde immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.91 Das Bemühen, als völkischer Religionsdeuter zu reüssieren, traf angesichts seiner tatsächlichen kulturprotestantischen Ver gangenheit nicht auf Gegenliebe, sondern ließ Bonus als Vertreter der nunmehr überwundenen Anschauungen des Kaiserreiches erscheinen. Kontaktversuche zu nationalsozialistischen Einrichtungen – der Reichsschrifttumskammer und Alfred Rosenberg – blieben unbeantwortet.92 Als der Band schließlich 1938 mit massiver Unterstützung von Karl König im Eigenverlag der Thüringer Deut schen Christen erschien, war Rade entsetzt: „unter die Thüringer DC bist du geraten. Welch ein Weg Arthur Bonus!“93 88 Eine ausgiebige Darstellung würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Überlieferungslage zu Bonus’ Publikationen in den 1930er Jahren im Eisenacher Nachlass ist sehr ergiebig. Zitate aus: Heinz Dungs: Spiegel der deutschen Seele, in: Deutsches Christen tum (30.10.1938) [ebd., 14_012]. Als kritische Rezension: Jakob Wilhelm H auer: in: Deut scher Glaube. Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung (1937) [ebd., 20_015]. Die Nationalsozialistischen Monatshefte bezeichneten den Band als „Mißbrauch am Germanischen“ [ebd., 20_016]. Der Callwey-Verlag brachte eine Neuauflage des Isländer-Buches, das wiede rum auf positive Aufnahme stieß (vgl. die Rezensionsmappe im Nachlass [ebd., 15_048]). 89 Brief Bonus an Karl König, 6.2.1938 [LKA Eisenach, NL Karl König, 78_028]. 90 Brief Rade an Bonus, 16.11.1933 [ebd., 12_003]. 91 Brief Meiner an Rade, Leipzig 7.9.1933 [ebd., 12_003]. 92 Briefkonzept Bonus an Rosenberg, 8.6.1935 [ebd., 01_013]. 93 Brief Rade an Bonus, 1.5.1938 [ebd., 12_003]. Vgl. Bonus: Von Tod und Tapferkeit. Neue Besinnungen über deutschen Glauben, Weimar 1938. Dieser Band behandelte isländi sche Sagas, Beispiele aus der modernen Literatur, etwa von Dostojewski oder Gerhard Hauptmann und griff religiöse Texte der Weltreligionen auf. Im Vorwort nahm Bonus auf die Gegenwart Bezug, die ihm als „Wahrtraum“ und somit als Erfüllung der weltanschaulichen Prognosen erschien, die er kurz vor der Jahrhundertwende aufgestellt hatte. Diese Bemer kung bezog sich jedoch auf den Konflikt zwischen dem modernen Materialismus, dem Chris
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Bonus schwankte zwischen Zustimmung und Ablehnung. In einem unveröf fentlichten Manuskript blickte er auf seine Vergangenheit als Religionsschrift steller zurück und ließ dabei seine Enttäuschung über die Veralltäglichung der nationalen Revolution und das Ausbleiben einer nationalreligiösen Wende durchblicken. Er, der „vor vierzig Jahren die Losung vom Deutschen Glauben“ ausgegeben hatte, sah nun sein „religiöses Herz gebrochen“.94
tentum und einer noch zu schaffenden deutschen Kulturreligion, die ihm im Nationalsozia lismus nicht eingelöst schien. Weiterhin erschien im gleichen Jahr im gleichen Verlag eine Werkauswahl, eingeleitet von dem DC-Theologen Rudolf Grabs: Arthur Bonus. Aus schaffender Seele, Weimar 1938. 94 Ungedruckte Rezension zu: H erbert Grabert: Der protestantische Auftrag des deut schen Volkes, Stuttgart 1936 [LKA Eisenach, NL Bonus, 34_069].
Achtes Kapitel
Zusammenfassung Diese Untersuchung hat einen religiösen Außenseiter in den Fokus des Interes ses gestellt und sich streckenweise außerhalb der Hauptpfade der Theologie geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik bewegt. Arthur Bonus hinterließ kein bleibendes theologisches Erbe und hat keine Schule begründet, vielmehr kam er von einer Randposition aus zu scharfen Angriffen auf Kirche und bürgerliche Kultur. Doch ließ sich mit der Schwerpunktverlagerung auf eine religiöse Randfigur ein Unterstrom in der Geschichte des Protestantismus sichtbar machen, der in der Forschung zur Intellektuellen- und Religions geschichte des Kaiserreiches zumeist ausgeblendet bleibt. Im Mittelpunkt von Bonus’ Wirken stand der Kampf für ein freies, schöpfe risches religiöses Erleben und gegen die institutionelle Festlegung der Konfes sionskirchen. Er verstand sich zeitlebens als Förderer einer Minderheiten strömung, die den Protestantismus von Grund auf erneuern wollte. Er rebellier te gegen den theologischen Liberalismus, gegen die Verwissenschaftlichung und Objektivierung der Religion durch die Theologie, sowie gegen Bürgerk ultur und den wilhelminischen Obrigkeitsstaat. Es ging ihm um nichts geringeres als eine deutsche „Kulturrevolution“ auf der Grundlage eines von Grund auf erneu erten protestantischen Christentums, das als „neuer Mythos“ an die Bedürfnis landschaft der Moderne anzupassen war.1 In der Rückschau gingen seine hoch gesteckten Erwartungen nicht in Erfüllung. Die von Bonus im Konzert mit anderen Religionsreformern vertretenen reli giösen Vorstellungen gehören in den Komplex der von Thomas Nipperdey so bezeichneten „vagierenden Religiosität“, die sich bei ihm als Weiterentwicklung des Christentums über die kirchlichen Grenzen hinaus darstellte.2 Neben pro minenten, aus dem Kulturprotestantismus hervorgegangenen Gestalten wie Gustav Frenssen, Karl König oder Johannes Müller, aber auch einem Verleger wie Eugen Diederichs lässt er sich als Repräsentant einer für seine Generation vielfach als typisch empfundenen neuen religiösen Orientierung wahrnehmen, den weniger eine vertiefte Kirchlichkeit als vielmehr das „Suchen“, der „‚Schrei‘ 1
Graf: Das Laboratorium der religiösen Moderne, 254. Nipperdey: Religion im Umbruch.
2 Vgl.
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Achtes Kapitel: Zusammenfassung
nach ‚Gott‘“ in einer kulturkritisch betrachteten, für materialistisch und ober flächlich gehaltenen Zivilisation antrieb.3 Er war Teil einer um 1900 anschwel lenden „Welle“ neureligiöser Autoren, die am Rande des liberalen Protestantis mus auf eine geistige Neuformung hinarbeiteten, sich dabei auf die Traditionen der Mystik zurückbezogen und ein vertieftes Weltempfinden durch „Willenhaf tigkeit“ erreichen wollten.4 An die Stelle der Theologie als einer an Vernunft und Bekenntnis orientierten Glaubensreflektion sollte eine erfahrungsbezogene und versubjektivierte Suche nach dem religiösen „Erlebnis“ treten. Schrittweise erweiterte er den christlichen Deutungsrahmen um völkisch-religiöse, germa nenmythische und sozialdarwinistische Elemente und rief nach einem noch zu schaffenden deutschen Stil. Bonus bemühte sich um eine Umformung der aus dem Christentum gewachsenen religiösen Wurzeln zu einer unmittelbaren und persönlichen Gottesbeziehung, die seiner Ansicht nach im konservativ gepräg ten Protestantismus und in einer rationalisierten Industriegesellschaft nicht mehr möglich war. Im Hintergrund stand dabei das Bedürfnis, den als Krise empfundenen religiösen Abbruchprozessen mit einer Fortschreibung des Chris tentums als neuem „Mythos“ in der Moderne entgegenzuwirken. Als Pfarrer und religiöser Publizist gehörte Arthur Bonus zu den Autoren im wilhelminischen Kaiserreich, an denen sich zeigen lässt, wie sehr die Diskurse um die religiösen Grundlagen des Christentums um die Jahrhundertwende auch Grundlagendiskurse um die sozialen und kulturellen Bedingungen der moder nen Gesellschaft waren. Ausgehend von dem Versuch, Religion unabhängig von den Vorgaben der christlichen Bekenntnisschriften als ein eigenes Gebiet der menschlichen Welterkenntnis zu bestimmen, fragte Bonus nach ihrer gesell schaftlichen Rolle und ihrem Zusammenhang mit Kultur und Nation. Darin ver band er eine kritische Sicht auf die Moderne als einem Umbruchszeitalter, aus dem, wie Bonus hoffte, eine nationale religiöse Erneuerung hervorgehen würde. Bonus sah darin eine Fortsetzung der Reformation, in der schon einmal – so seine Sichtweise – Religion und Kultur in einem „deutschen Glauben“ zusam mengeflossen waren. Bereits in Bonus’ frühen Veröffentlichungen lässt sich nachweisen, dass er das Ineinssetzen von Gegenwartskritik und religiöser Zukunftshoffnung als na tionales Religionsprogramm verstand. Damit gehörte er zu den einflussreichen Stimmen im Kulturprotestantismus, die sich dem erstarkenden Nationalismus im wilhelminischen Kaiserreich öffneten. Unter der Formel einer „Germanisie rung des Christentums“ ließen sich einzelne Themenstellungen der völkischen 3
Ferdinand K attenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, Bd. 1, Giessen 1934, 101. 4 Ebd.
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Weltanschauung in den kulturprotestantischen Diskurs einspielen. Zu den von seinem theologischen Umfeld bereitwillig aufgegriffenen Ideen gehörten Bonus’ Forderung nach einer Übersetzung und Akkomodation des Christen tums an den Zeitgeist, sein Ruf nach Überwindung des Intellektualismus in der protestantischen Theologietradition durch Erlebnis und Leben, schließlich die Hoffnung, zu einem als nationale Kulturbewegung gestärkten Neuprotestantis mus zu kommen, der die soziale Zerworfenheit der wilhelminischen Gesell schaft zu überbrücken in der Lage war. Damit besaßen seine Überlegungen auch eine politische Dimension. Seine polemischen Attacken auf den religiösen und den politischen Liberalis mus stießen keineswegs überall auf Verständnis. Theologen wie Adolf Harnack oder Julius Kaftan gingen zu Bonus’ Versuchen, eine religiöse Revolution zu entfachen, deutlich auf Distanz. Die gedankliche Verknüpfung von Deutschtum und Religion überzeugte jedoch viele seiner protestantischen Leser, weil sie ein einheitliches Ethos gegen die Desintegrationsprozesse im Kaiserreich zu stellen versprach. Sie schien die Verheissung zu erfüllen, Christentum und Kultur vor dem Horizont der Gegenwart aufs Neue miteinander zu verbinden. Die kultur protestantische Utopie einer Synthese von Christentum, Kultur und Staatlich keit fand hier ihren Niederschlag. Sie war von der Hoffnung begleitet, das Christentum gegen Verfallserscheinungen und die spürbaren Tendenzen einer ästhetischen Bildungsreligiosität wieder unter den Gebildeten zu verankern. Ein kritischer Geist wie Otto Baumgarten konnte daher Arthur Bonus’ Überlegun gen, die Anliegen des Christentums in die Vorstellungswelt der Moderne zu übersetzen, „Genialität“ zusprechen.5 Mit der Bezugnahme auf das Volk wurde der Kulturstaatsutopie allerdings schärfer als in den 1860er Jahren ein nationalistischer Impetus mit Ausschließ lichkeitscharakter verliehen. Die von Bonus wesentlich mitinitiierte Rückbin dung deutscher Identitätskonstrukte an die vermeintlich heile, als geschlossene Einheit ausgemalte Dorfwelt und der Bezug auf eine heroisch gedeutete germa nische Vergangenheit gehörten zu den Themen, die im bildungsbürgerlichen Diskurs über die völkische Bewegung hinaus Anklang fanden. Der dichotomi sierte Denkstil, der in scharfen Oppositionsfiguren zwischen Deutschem und Fremdem, Eigenem und Anderem, auch zwischen Modern und Orthodox unter schied, eignete sich zur vereinfachenden Strukturierung einer sich zunehmend diversifizierenden Gegenwart. Die auch von kulturprotestantischen Autoren häufig wiederholte Aufforderung, dem deutschen Reiche eine „Seele“ zu verlei 5
Otto Baumgarten: Predigt-Probleme, 100 f., diese Aussage bezog sich auf Bonus’ Arti kel: Etwas über religiöse Erziehung. Zur Germanisirung des Christentums 4, in: CW 13 (1899), 125–127.
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hen oder diese aus den angeblichen Wurzeln der Vergangenheit wiederzubele ben, lässt sich als Reaktion als gesellschaftspolitisches Einheitsprogramm deu ten. Bonus’ in der Christlichen Welt genauso wie im Kunstwart erhobene Forde rung nach deutscher Bildung und deutscher „Kulturarbeit“ verweist auf eine Schnittmenge, die in der Suche nach einer einheitlichen Kultur für die Moder nen liegt. Mit dem von Stefan Breuer vorgeschlagenen Konzept der „Interferenzen“ lässt sich im Streben nach nationaler Kultur und einem verdeutschten Christen tum ein gemeinsames Anliegen von Bonus und der völkischen Bewegung wahr nehmen. Er partizipierte an den um die Jahrhundertwende anwachsenden Be strebungen um eine „deutsche Religion“ oder ein germanisiertes Christentum, allerdings ohne diese Überlegungen in einem klar völkischen Kontext zu veran kern. So finden sich bei ihm trotz der verbreiteten Hypostasierung des Volkes als überzeitlicher Kultur- und Geschichtsgemeinschaft auch nur wenige An klänge an die völkischen Rassendiskurse und an den aggressiven Antisemitis mus. Seine kulturprotestantischen Leser verhielten sich solchen Ideenkonstruk tionen gegenüber eher ablehnend. Den Ausgangspunkt von Bonus’ Wirken bildete das moderntheologische Netzwerk um Martin Rade und die Zeitschrift Die Christliche Welt. Hier erleb te Bonus ab 1890 eine Theologie, die den Anspruch hatte, die Moderne im Licht des Christentums zu deuten und zu durchdringen und dies im Kontakt mit der wissenschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit. Die christliche Bekenntnistradition war an das Bewusstsein der Gegenwart anzupassen. Im Apostolikumstreit 1892 zeigte sich, wie umstritten eine solche freiere Sicht auf den Protestantismus in der verfassten Kirche war und wie massiv der orthodoxe Widerstand ausfiel. Zeitgleich bestätigte ihm die Auseinandersetzung mit Schriften von Kierke gaard, Schrempf und Egidy die Ansicht, dass man das christliche Erlebnis nicht als Lehre umschreiben, sondern als seelische Bewegung erfassen müsse. Bonus sprach von einer neuen Glaubenslehre, deren Entwicklung als einer christlichen Seelenkunde er empfahl. Seine Verkündigung ging von dem Streben nach „Ret tung der Persönlichkeit“ aus: Ihm ging es darum, das „Ich“ als handlungsmäch tige Einheit vor den Herausforderungen der Moderne zu bewahren. Letztlich stellte Bonus sowohl im bildungsbürgerlich-kulturreformerischen als auch im (kultur-)protestantischen Lager eine Außenseiterfigur dar, die allerdings viel fältig mit den verschiedenen Gruppierungen und ihren Publikationsorganen verbunden war und ihre Ansichten dadurch wirkungsvoll in den Diskurs ein flechten konnte. Im Umfeld von Christlicher Welt und Nationalsozialem Verein entstand Bonus’ Prognose, dass eine „Germanisierung des Christentums“ den Ausweg aus den Aporien und Fehlstellungen des Protestantismus am Ende des 19. Jahr
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hunderts darstellen würde. Sie sollte eine einheitliche, gleichermaßen nationale und soziale Gestalt des Protestantismus erzeugen. Bonus’ Äußerungen verwei sen auf den hohen Politisierungsgrad von Teilen des kulturprotestantischen Spektrums bereits vor der Jahrhundertwende. Seine 1896 anonym erschienene Schrift Von Stoecker zu Naumann markierte einen Weg, der vom konserva tiv-kirchlichen Protestantismus wegführte und in einer deutschen religiösen Bewegung Zukunft suchte. Ein heroischer, bekenntisfreier Christusglaube wür de die sozialen und weltanschaulichen Gegensätze im Kaiserreich überkuppeln. Bonus forderte ein „Tatchristentum“, das sich wirksam in die sozialen Konflikte der Jahrhundertwende einbringen würde. Begünstigt wurden diese Ansichten durch die Wahrnehmung, dass sich die christliche Theologie in der Krise befand. Den Ausgangspunkt dieser Überle gungen bildete eine teilweise drastisch formulierte Säkularisierungsthese, die sich inhaltlich mit parallelen Diagnosen der modernen Theologie, zumal von Ernst Troeltsch, überschnitt. Beide nahmen die Erosion einer christlich gepräg ten Kultur wahr und beobachteten die an ihre Stelle tretenden „Religionssurro gate“, die allerdings den Platz der tief verankerten kirchlichen Überzeugungen nicht auszufüllen vermochten. Für Bonus war das kirchliche Christentum zu einer „Fremdreligion“ geworden, die nicht länger zu den religiösen Empfinden der Gegenwart passte und von der keine soziale Wirkung mehr ausging. In der als praktisch-empirisch gedeuteten Gegenwart war für das theoretische Gedan kengebäude der christlichen Theologie kein Platz mehr. Der Darwinismus und die Entwicklungslehre hatten in Bonus’ Augen die Metaphysik und die aus der Antike herrührenden Grundlagen der abendländischen Philosophie erschüttert. Hier wurde ein Nachfolger gesucht, den Bonus in einer Umschreibung des Chris tentums in einen machtvollen Ich-Glauben gekommen sah. Ausführlich entfal tete er diesen Gedankengang 1897 in seinem Buch Deutscher Glaube, in dem er ein verdeutschtes Christentum mit scharfen kulturkritischen Akzenten als über konfessionelle, nationale Frömmigkeit darstellte. 1899 griff er den Germanisie rungs-Begriff noch einmal in einer Aufsatzreihe in der Christlichen Welt auf, in der er sie als religionsgeschichtliche Konsequenz aus der Entwicklungslehre wiederholte. Um das Auseinanderdriften von Christentum und modernem Geist zu verhindern, hielt er eine Neuformulierung der christlichen Kerngedanken für notwendig. Nach einer Phase der philosophischen Hellenisierung des Christen tums und seiner Romanisierung im Katholizismus erwartete er nun seine ent sprechende Umwertung durch den Anbruch einer deutschen Kulturepoche. Bonus bezog sich auf Nietzsche, wenn er die Grunddifferenz zwischen Kultur und Christentum betonte. An Paul de Lagarde lehnten sich seine nur noch lose auf das Christentum bezogenen Vorstellungen einer nationalen Religion an.
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Wie bei Lagarde hatte die nationale Religion nicht nur einen innerlichen Cha rakter als überchristliche Frömmigkeit. Sie war politisch zu verstehen und galt als der entscheidende Ankerpunkt, um eine nationalkulturelle Neubelebung zu gewährleisten. Bereits im Kreis der Christlichen Welt und durch den sozialpoli tischen Umschwung im Bürgertum ab 1890 hatte Bonus ein Reformbewusstsein gewonnen, das er bis über den Ersten Weltkrieg hinaus weitertrug. Für Bonus rückte nicht nur eine ethisch reflektierbare Frage nach den Grundlagen und Be dingungen des christlichen Sozialhandelns in den Blick, sondern ein fundamen taler Anspruch des „deutschen Sturmgottes“ wie auch der Reformation an das evangelische Kirchentum. Im Zuge der christlich-sozialen Bemühungen ent stand bei ihm das Ideal einer einigenden nationalen Bewegung. Als politischer Reformverein verkörperte ab 1896 der Nationalsoziale Verein Friedrich Nau manns in Bonus’ Augen idealtypisch die Realisierbarkeit einer solchen nationa len wie religiösen Ausrichtung. An solchen Vorstellungen trat der schwierige Weg der Naumann-Bewegung hervor, sich zu einer liberalen Gruppierung zu entwickeln. Bonus repräsentierte ein religiös-aktivistisches Segment innerhalb dieser Gebildetenbewegung, das versuchte, Protestantismus, Flottenimperialis mus und Sozialreform miteinander zu verbinden. Bereits vor dem Ersten Welt krieg ließ sich hier das Konzept einer soziale Spannungen überkuppelnden „Volksgemeinschaft“ formulieren. Noch in den zwanziger Jahren wies er auf Naumann als Vorbild für den Zusammenschluss von Sozialreform, bürgerlicher Politik und religiöser Kultur hin. Je mehr sich in den bürgerlichen Diskursen die Kritik am wilhelminischen Regierungsstil und an der Person des Kaisers ver dichtete, um so deutlicher suchte Bonus nach einer Neubelebung des Liberalis mus, den er jedoch anknüpfend an seine nationalsoziale Phase als religiös- kulturelle Bewegung gegen den Konservatismus zuspitzen wollte. Der Ort, wo Bonus wirken konnte, waren Zeitschriften. Vom Kunstwart und der Christlichen Welt aus erschloss er sich als Kulturkritiker und Vertreter einer modernen religiösen Bewegung ein breites Spektrum an bürgerlich-reformeri schen Publikationen. Er veröffentlichte im März, in der Zukunft, in der Neuen Rundschau oder den Preußischen Jahrbüchern und popularisierte hier die An liegen der modernen Theologie, wie er sie sah, in scharfer Opposition gegenüber der Orthodoxie und der kirchlichen Mehrheit. Dabei nahm er freilich einen zu nehmend exzentrischen Standpunkt ein. Deutlich über den kulturprotestanti schen Rahmen hinaus wies seine Beteiligung am Streit um Carl Jatho und die kirchlichen Disziplinarfälle kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Hier entwickelte er die Idee einer „Volkskirche“ als Gesamtheit der religiösen Vorstellungen der Nation. Die Konfessionskirchen waren seiner Ansicht nach durch die geis tig-kulturelle Entwicklung der gesamten Nation zu überwinden.
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Bonus versuchte gezielt, die religiöse Sprache der Jahrhundertwende auszu dehnen. Sein Werk verweist auf die Schwierigkeit, die religiösen Semantiken der Jahrhundertwende ohne Einbeziehung ihres theologischen und sozialen Kontextes zu erschließen. Bonusʼ Verkündigung geschah konsequent in einem hohen Ton, der das fromme Bewusstsein mit Begriffen wie „Kampf“, „Über windung“, „Männlichkeit“ und Heroismus zu erfassen suchte. Damit grenzte er sich zunächst vom Predigtton seiner konservativen Kollegen wie auch vom mo ralisch-sittlichen Duktus liberaltheologischer Vorträge ab. Die von ihm ge brauchten Metaphern hatten über die neureligiösen Kreise um die Jahrhundert wende hinaus Konjunktur, denn sie eigneten sich zur emphatischen Umschrei bung des religiösen Erlebens als einer individuell und nicht institutionell verankerten Wirklichkeit.6 Die sich hier andeutenden Sprachformen wären in Verbindung mit gender- und Rollenzuweisungen der Jahrhundertwende in ihren konfessionspezifischen Ausprägungen, aber auch mit Blick auf Vorstellungen von Haltung, Herrschaft und Mission im imperialistischen Diskurs weiter zu untersuchen. Bonus fasste darunter die Loslösung von moralischen Engführun gen der protestantischen Verkündigung, zielte auf die Willenhaftigkeit und das „Über-sich-Hinauskommen“ der Persönlichkeit in ihrer Abgrenzung von Ge schichte und Natur und schließlich auf die Beschreibung der Frömmigkeit als Gottessohnschaft, mit der er den Einzelnen als Selbstschöpfer ins Gegenüber zur Welt setzte. Eine besondere Virulenz entfaltete seine publizistische Tätigkeit im Ersten Weltkrieg. Im Kunstwart und der Zeitung Der Tag schrieb Bonus die Ideen von 1914 als Gegenentwurf einer deutschen Gesellschaftsordnung fort. Im Einklang mit Teilen seines liberalprotestantischen Netzwerkes, aber im Gegensatz zur Mehrheit des wilhelminischen Bürgertums distanzierte er sich 1916/17 von einer Siegfriedenpolitik, blieb aber zu Kriegsende ein scharfer Kritiker der Sieger mächte und des Versailler Vertrages. Als Abrechnung mit den konservativen Werten des Wilhelminismus begrüsste er die Novemberrevolution und die Ein führung der Republik, ohne freilich zu einem wirklichen Demokraten zu wer den. Zeitweilig empfahl er einen deutschen Sozialismus unter Führung der Ge 6 Als Beispiel lässt sich auf die zwischen 1900 und 1906 erschienenen Modernen Flugblätter für männliches Christentum Artur von Broeckers verweisen. Diese ausgesprochen dem moderntheologischen Spektrum zuzuweisenden Kleinschriften behandelten ethische Grundthemen, zielten auf die Auseinandersetzung mit dem Freidenkertum und der Natur wissenschaft und beabsichtigten mit Fragestellungen wie „Arbeiteradel“ oder „Ist das Christent um etwas für den aufstrebenden Arbeiter?“, apologetisch im sozialdemokratischen Milieu zu wirken. Vgl. auch Leonhard R agaz: Männliches Christentum, Zürich 1900; zu Ragaz’ Theologie vgl. Christiane Dannemann: Die Reich-Gottes-Vorstellung im Religiösen Sozialismus. Leben und Werk von Leonhard Ragaz, Darmstadt 1987.
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bildeten als integratives Gesellschaftsmodell, dem er aber zunehmend autoritäre Züge verlieh. Die wechselseitige Faszination, die ihn mit Friedrich Gogarten und dem Aufbruch der dialektischen Theologie verband, weist eher auf ein tief emp fundenes Krisen- und Aufbruchsgefühl hin als auf eine theologische Urheber schaft, obwohl diese ihm im Umfeld der Christlichen Welt nachgesagt wurde. Trotz seiner gleichzeitig exponierten wie marginalen Rolle blieb Bonus bis zum Ende seiner Schaffenszeit dem Protestantismus der Christlichen Welt ver pflichtet. Sein Beispiel zeigt, wie vielfältig und uneinheitlich die weltanschauli chen Optionen in diesem Segment des deutschen Protestantismus blieben. Hier lassen sich noch deutliche Forschungsdesiderate feststellen. Welche Rolle spie len die unterschiedlichen Einflüsse der Jugendbewegung und der konservativen Revolution in diesem Kreis? Welche Position nehmen Theologen und Religions wissenschaftler wie Kurt Leese oder Jakob Wilhelm Hauer in den liberaltheolo gischen Zirkeln ein? Auch hier galt die Verbindung von Deutschtum und idea listisch verstandenem Gottesglauben als Vorbedingung für eine „moderne Reli gion“, wie sie Arthur Bonus ähnlich vertrat; zugleich wurde diese als „arteigen“ verstanden.7 So versuchte Heinrich Weinel 1933, die deutschvölkischen Theolo gien mit dem Argument zu umarmen, es ginge ihnen um theologische Wahrhaf tigkeit, um einen verinnerlichten religiösen Zugang und eine historisch verifi zierte Stellung gegenüber dem Dogma.8 Den Versuchen der Deutschen Christen wie Jakob Wilhelm Hauers nach 1930, an sein Werk und den Germanisierungsbegriff anzuknüpfen, stand Bonus unentschlossen gegenüber. Einerseits besassen die religiösen Weltanschauungs entwürfe im Nationalsozialismus in ihrem Bewegungscharakter vergleichbare Motive. Sie richteten sich auf das Volk als verbindlicher Gemeinschaft, wollten soziale Gräben überwinden und forderten eine aktivistische Frömmigkeit, die Glauben als Handlungsappell auf die Nation bezog. Den totalitären, antisemiti schen Kern des Nationalsozialismus teilte Bonus andererseits jedoch nicht. Sein nationaler Idealismus und die Germanisierungsforderung gehören gleichwohl in den Horizont dieser Ideologien.
7 Vgl. Kurt Leese: Das Problem des „Arteigenen“ in der Religion, ein Beitrag zur Ausein andersetzung mit der Deutschen Glaubensbewegung, Tübingen 1935; vgl. Anton K nuth: Der Protestantismus als moderne Religion. Historisch-systematische Rekonstruktion der religi onsphilosophischen Theologie Kurt Leeses (1887–1965), Frankfurt 2005. 8 H einrich Weinel: Die deutsche Reichskirche, in: CW 47 (1933), 416.
Anhang
Kurzlebenslauf Arthur Bonus 1864 geb. Rittergut Neu-Prussy (Westpreußen) 1871 Übersiedlung nach Berlin 1874 Friedrich-Wilhelms-Gymnasium (Berlin) 1885 Immatrikulation Theologische Fakultät (Berlin) 1888 Exmatrikulation Theologische Fakultät (Berlin) 1888 Stipendiat der August-Twesten-Stiftung (2 Jahre) 1889 Erstes Theologisches Examen 1890 Zweites Theologisches Examen 1890 Predigerseminar (Wittenberg) 1893 Hilfsprediger in der Arbeitergemeinde Luckenwalde 1895 Pfarrer und Schulinspektor, Groß Muckrow (Niederlausitz) 1895 Heirat mit Malerin Emma Beate Jeep (1865–1954) 1895 Erste Buchveröffentlichung: Zwischen den Zeilen 1896 Anonyme Veröffentlichung: Von Stöcker zu Naumann. Ein Wort zur Germanisierung des Christentums 1897 Geburt der Tochter Helga 1897 Veröffentlichung Deutscher Glaube. Träumereien aus der Einsamkeit 1898 Veröffentlichung von zwei Andachtssammlungen: Der Gottsucher. Hymnen und Gesichte; Zwischen den Zeilen. Noch was für besinnliche Leute 1901 Geburt des Sohnes Heinz Berthold 1902 Erster Diederichs-Band: Religion als Schöpfung 1902 Erstes Pensionierungsgesuch 1903 Brandunglück 1904 Ausscheiden aus dem Pfarrdienst 1904 freier Schrifsteller (Dresden) 1904 schulreformerische Schrift: Vom Kulturwert der deutschen Schule 1905 Andachtsband: Der lange Tag. Meditationen 1906 Übersiedlung nach San Domenico di Fiesole (Florenz) 1907 Erscheinen des Isländerbuches bei Kunstwartverlag Callwey 1908 Sammlung von Volkstexten: Rätsel 1909 Volkstexte: Deutsche Weihnacht sowie die „sozialpsychologische“ Studie: Die Kirche 1911 Texte zum „Fall“ Jatho: Wider die Irrlehre des Oberkirchenrats 1911 Beginn der Diederichs-Reihe Zur religiösen Krisis: Zur Germanisierung des Christentums und Vom neuen Mythos 1912 Diederichs-Band: Religiöse Spannungen 1914 Rückkehr nach Deutschland (Taufkirchen bei München) 1915 Kriegsbuch bei Diederichs: Religion als Wille 1915 Dürerbund-Flugschrift: Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?
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Anhang: Kurzlebenslauf Arthur Bonus
1917 Mitarbeit in der Redaktion des Kunstwart 1921 Latein- und Religionskurse an der Odenwaldschule (Heppenheim) 1923 Religionsunterricht und Schulseelsorge am Landerziehungsheim Schloss Bischof stein 1925 Kunstband: Das Käthe Kollwitz-Werk 1938 Andachtsband im Verlag der Deutschen Christen: Von Tod und Tapferkeit 1941 Tod auf Schloss Bischofstein
Quellen- und Literaturverzeichnis Die Abkürzungen folgen, soweit möglich, dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), zusammengestellt von S. Schwertner, Berlin 21994. – Zur einfache ren Auffindung wird im untenstehenden Literaturverzeichnis nicht zwischen Quellen und Sekundärliteratur unterschieden. Um die Literaturangaben nicht unnötig auszudehnen, wer den im Anmerkungsapparat angegebene Zeitschriftenbeiträge bis 1918 nur in Einzelfällen aufgelistet.
I. Unveröffentlichte Quellen Badische Landesbibliothek Karlsruhe Nachlass Paul Jaeger Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Nachlass Friedrich Naumann Bundesarchiv Koblenz Nachlass Gottfried Traub Nachlass Jakob Wilhelm Hauer Evangelische Kirche in Mitteldeutschland – Landeskirchenarchiv Eisenach Nachlass Arthur Bonus Nachlass Herbert von Hintzenstern Nachlass Karl König Friedrich Ebert Stiftung. Archiv der sozialen Demokratie Bonn Nachlass Paul Göhre Landeskirchenarchiv Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Berlin Bestand 14/1438, Disziplinarverfahren gegen Geistliche 1903–1927 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Nachlass Friedrich Gogarten Staatsbibliothek Berlin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Haus Unter den Linden Nachlass Adolf von Harnack Nachlass Hans Delbrück
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Universitätsbibliothek Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Nachlass Gustav Frenssen Universitätsbibliothek Marburg Nachlass Martin Rade
II. Zeitschriften An die Freunde: vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen (1903– 1934) Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche (ab 1908: Deutsches Christentum) (1.1906–5.1911) Christliche Freiheit. Blätter für eine evangelische Volkskirche (24.1908–45.1929, vorher: Evangelisches Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen) Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft (1.1903–6.1911) Der Kunstwart. Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben (1.1887/88–45.1931/32 mit wechselnden Titeln) Der Protestant. Evangelisches Gemeindeblatt (1.1897–5.1901) Deutsches Protestantenblatt (6.1873–34.1901, ab 1901: Protestantenblatt) Die Christliche Welt. Evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände (1.1886/87–55.1941) Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst (1.1895–45.1939) Die Tat. Deutsche Monatsschrift (1.1909/10–30.1938/39) Die Zeit. Nationalsoziale Wochenschrift (1896–1925) Freie Bühne für modernes Leben (1.1890 mit wechselnden Titeln, ab 1894: Neue deutsche Rundschau) März. Eine Wochenschrift (1.1907–11.1917) Patria. Jahrbuch der Hilfe (1901–1908) Preußische Jahrbücher (1.1858–40.1935) Protestantische Monatshefte (1.1897–25.1921) Theologische Rundschau (1.1897/98–20.1917) Wartburgstimmen. Halbmonatsschrift für das religiöse, künstlerische und philosophische Leben des deutschen Volkstums und die staatspädagogische Kultur der germanischen Völ ker (1.1903–6.1907/08, ab 1905: Deutsche Kultur)
III. Bibliographie Arthur Bonus Diese Übersicht kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, zu unübersichtlich ist die Streuung von Bonus’ Veröffentlichungen und zu vielfältig die Zeitschriftenlandschaft des Kaiserreichs. Hilfreich zur Erschließung seines publizistischen Werkes sind mehrere Publikationslisten und Belegsammlungen in seinem Nachlass, insbesondere eine – leider un vollständige – Übersicht, die Bonus in den 1930er Jahren angefertigt hat, die man gleichsam als eigenen Rechenschaftsbericht wahrnehmen kann [LKA Eisenach, Nachlass Bonus, 26_040]. Wechselnde Untertitel werden in dieser Auflistung nicht angegeben.
III. Bibliographie Arthur Bonus
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1891 „Schwalb“, in: Christliche Welt 5 (1891) 746–750
1892 „Jesaja 42,1–8“, in: Christliche Welt 6 (1892) 589–590, 613–616, 637–639 „Zum Wittenberger Fest“, in: Christliche Welt 6 (1892) 964–967
1893 „Zur richtigen Beurteilung Schrempfs“, in: Christliche Welt 7 (1893) 236–237 „Gott in Christus“, Christliche Welt 7 (1893) 970–971 „Christenfreude“, in: Christliche Welt 7 (1893) 825–826.873–875 „Der Gedanke einer göttlichen Offenbarung“, in: Christliche Welt 7 (1893) 942–943 [X], „Weihnachtsmärchen für die deutsche Kirche“, in: Christliche Welt 7 (1893) 1243–1245
1894 „Christus ein Lehrer?“, in: Christliche Welt 8 (1894) 121–124 „Subjektivismus“, in: Christliche Welt 8 (1894) 26–30.50–54 „Glaubensgewißheit“, in: Christliche Welt 8 (1894) 269–272 „‚Erfahrung‘“, in: Christliche Welt 8 (1894) 318–321 „Verschiedenes. Zweifelhafte Lektüre für Jugend und Volk“, in: Christliche Welt 8 (1894) 627–629 „Von den Nebeln, die die Sonne suchten“, in: Christliche Welt 8 (1894) 1082 „Die Schöpfung der Seele“, in: Christliche Welt 8 (1894) 1089–1090 „Kleinste sind Größte. Eine Weihnachtsgrübelei“, in: Christliche Welt 8 (1894) 1224–1227 „Die alte Turmuhr. Wahrhaftige und erstaunliche auch erschröckliche aber doch tröstliche Beschreibung des Zustandes unsrer christlichen Glaubenslehre in den deutschen evangeli schen Landeskirchen. Ein Sylvesterumblick“, in: Christliche Welt 8 (1894) 1249–1252
1895 Zwischen den Zeilen. Dies und das für besinnliche Leute. Eine Sammlung kurzer erbaulicher Betrachtungen, Heilbronn 1895 (41900) „Die Kinder der ewigen Heimat“, in: Christliche Welt 9 (1895) 145–147.169–171.193–196 „Der Heliand“, in: Christliche Welt 9 (1895) 329–331.344–346 „Lucifer“, in: Christliche Welt 9 (1895) 494–495 „Die Treppe der Luisetta“, in: Christliche Welt 9 (1895) 714–715 „Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“, in: Christliche Welt 9 (1895) 752–756 „Die Perlschnur“, in: Christliche Welt 9 (1895) 786–787 „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“, in: Christliche Welt 9 (1895) 946–950 „Gottes Weihnachtsgeschenk“, in: Christliche Welt 9 (1895) 1211–1213 [Anonym]: „Sylvesterrede des Oberpfarrers Altmann an seinen Vikar“, in: Christliche Welt 9 (1895) 1240–1242
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Quellen- und Literaturverzeichnis
„Wie die ‚Hilfe‘ zu einer Bibelstundenvorbereitung geholfen hat“, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 6 vom 10. Februar, S. 3 „Allerlei. Noch einmal der Schnee“, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 13 vom 31. März, 7 „Allerlei. Ein böser Traum“, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 16 vom 21. April, 7 „Allerlei. Was das heißt: konservativsch und sozialdemokratsch“, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 28 vom 14. Juli, 7 „Allerlei. Im Regen“, in: Die Hilfe 1 (1895), Nr. 35 vom 1. September, 6–7
1896 [Anonym] Von Stöcker zu Naumann. Ein Wort zur Germanisierung des Christentums, Heil bronn 1896 „Glauben ist Schaffen“, in: Christliche Welt 10 (1896) 10–12 „Es ist mein Amt nicht“, in: Christliche Welt 10 (1896) 184–185 „‚Christlich-sozial‘ und ‚Politische Pastoren‘. Zu Göhres Buch über die evangelisch-soziale Bewegung“, in: Christliche Welt 10 (1896) 542–545 „Märchen in der Kirche“, in: Christliche Welt 10 (1896) 703–704 „Arbeiten und nicht verzweifeln“, in: Christliche Welt 10 (1896) 787–788 „Der Kern der Wunderfrage“, in: Christliche Welt 10 (1896) 796–800 „Märchen in der Kirche“, in: Christliche Welt 10 (1896) 819–824 „Luther, Christliche Sozialpolitik, Innere Mission“, in: Christliche Welt 19 (1896) 876–880 „Aus dem Leben eines Dorfpfarrers“, in: Christliche Welt 19 (1896) 1165–1168 „Schützenfeste“, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 9 vom 1. März 1896, 4–5 „Sozialismus des inneren Lebens“, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 10 vom 8. März; Nr. 11 vom 15. März; Nr. 12 vom 22. März; Nr. 14 vom 5. April; Nr. 15 vom 12. April; Nr. 16 vom 19. Ap ril; Nr. 32 vom 9. August; Nr. 34 vom 23. August „Allerlei. Ernst Moritz Arndt“, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 32 vom 9. August, 6 „Christlich-sozial“, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 39 vom 27. September, 2–3 „Allerlei. Was ist Freude?“, in: Die Hilfe 2 (1896) Nr. 48 vom 29. November, 7 „Shylock. Zur Judenfrage. Acht Briefe an eine Jüdin“, in: Preußische Jahrbücher 83 (1896) 414–437 Rez. „Eduard von Hartmann, Tagesfragen, Leipzig: Hermann Haacke, 1896“, in: Deutsche Literaturzeitung 17 (1896) 46–49 „Theologie und Religionswissenschaft“, in: Deutsche Literaturzeitung 17 (1896) 993–1000 „Die Lichtstube. Eine Volksrede für die Spinte. Mitgeteilt von Arthur Bonus“, in: Das Land 4 (1896) 186–189
1897 Deutscher Glaube. Träumereien aus der Einsamkeit, Heilbronn 1897 (21901) „Ewiges Leben“, in: Christliche Welt 11 (1897) 793 [Fritz Benthin]: „Aus der religiösen Bildersprache“, in: Christliche Welt 11 (1897) 810–811 „Tischreden Jesu“, in: Christliche Welt 11 (1897) 841–844 [Fritz Benthin]: „Die Stilbarbaren“, in: Christliche Welt 11 (1897) 952–956 „Von der modernen Bildung“, in: Christliche Welt 11 (1897) 965–968
III. Bibliographie Arthur Bonus
561
[F.B.:] „Brief an die Mutter eines verlorenen Sohnes“, in: Christliche Welt 11 (1897) 1086– 1088 „Stilbarbaren. Eine unfreiwillige Fortsetzung“, in: Christliche Welt 11 (1897) 1113–1118 „Ein Adventsgebet auf Weihnacht“, in: Christliche Welt 11 (1897) 1186–1188 „Der Umsturz der Herren“, in: Die Wahrheit. Halbmonatsschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens 8 (1. Juniheft 1897=89. Heft) 129–135 „Der barmherzige Samariter“, in: Die Wahrheit 8 (1897=96. Heft) 367–369 „Die Irrtumslosigkeit der heiligen Schrift“, in: Der Protestant 1 (1897) 682–683 „Geschichte der Parteien der vernünftigen Leute“, in: Der Protestant 1 (1897) 822–824
1898 Der Gottsucher. Hymnen und Gesichte, Heilbronn 1898 Zwischen den Zeilen. Noch was für besinnliche Leute, Bd. 2, Heilbronn 1898 (21901) / Perino, Adolf / Schian, Martin, Der moderne Mensch und das Christentum. Skizzen und Vorarbeiten I. Tübingen 1898 (Hefte zur Christlichen Welt 34/35) [Fritz Benthin], Pedanten und Philister. Dieses Stück ist nicht für Unterprimaner und Leser des Reichsboten oder der Luthardtschen Kirchenzeitung, Christliche Welt 12 (1898) 136– 137 „Ein Kunstwerk? Der Segen der Sünde. Geschichte eines Menschen. Von Jeannot Emil Frei herr von Grotthus, (Stuttgart 1898),“, in: Christliche Welt 12 (1898) 448–449 „Die Reise ins Negativ“, in: Christliche Welt 12 (1898) 578–581 „Glaube und Theologie“, Christliche Welt 12 (1898) 737–738 „Dein Wille geschehe“, Teil 1: Christliche Welt 12 (1898) 817–818; Teil 2: 841–842; Teil 3: 865 „Ästhetische Randglossen“, Christliche Welt 12 (1898) 973–978 „Verantwortung“, in: Christliche Welt 12 (1898) 1001 „‚Glaubst du, daß Gott um deines Gebetes willen seinen Weltplan ändert?‘“, in: Christliche Welt 12 (1898) 1095–1097 Rez. Waldesrauschen. Erlebtes und Erlauschtes und Waldemar Frey, Basel 1898, in: Christli che Welt 12 (1898) 1123–1124 Rez. Die drei Getreuen, Roman von Gustav Frenssen, Berlin 1898, in: Christliche Welt 12 (1898) 1192–1195 Rez. Neue Christoterpe. Ein Jahrbuch, hg. von Max Vorberg, Bremen 1899, in: Christliche Welt 12 (1898) 1198–1199 „Thatenfrühling“, in: Kunstwart 11/2 (1898) 60–61 [Franz Brand]: „Unter den Geistern der sieben Embryonen Zarathustras (Gedichte u. Sprüche Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1868)“, in: Preußische Jahrbücher 92 (1898) 385–396 „Die Geister der sieben Embryonen Zarathustras“ in: Preußische Jahrbücher 93 (1898) 94– 101 Rez. Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild von Hans Gallwitz, in: Preußische Jahrbücher 93 (1898) 132–141 „Aus der schönen Literatur“, in: Theologische Rundschau 1 (1898) 480–492 „Aus der schönen Literatur, II“, in: Theologische Rundschau 1 (1898) 521–532
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1904 Vom Kulturwert der deutschen Schule, Jena 1904 [Fritz Benthin]: „Vom Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis“, in: Christliche Welt 18 (1904) 1–2 „Komödie“, in: Christliche Welt 18 (1904) 65–66 „Verschiedenes. Zensurpsychologisches“, in: Christliche Welt 18 (1904) 115
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1906 „Eine Bekehrungsgeschichte aus alter Zeit“, in: Christliche Welt 20 (1906) 433–437.467–473 [Georg Stolterfoth]: „Literaturbriefe“, in: Christliche Welt 20 (1906) 745–748.831–836.1192– 1198 „Kunstwerk und Privatbrief“, in: Preußische Jahrbücher 124 (1906) „Etwas über Island“, in: Preußische Jahrbücher 124 (1906) 433–450 „Henrik Ibsen und die Isländergeschichte“, in: Preußische Jahrbücher 126 (1906) 424–448
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1907 Isländerbuch. I.–II.: Sammlung altgermanischer Bauern- und Königsgeschichten; Isländer buch III.: Mit einer Beilage von Andreas Heusler. Einführungs- und Ergänzungsband. Be deutung altisländischen Prosaschrifttums, München 1907 „Einige Anmerkungen zur religiösen Krisis. 1. Die Erlösung von der Persönlichkeit“, in: Christliche Welt 21 (1907) 513–519 „Verschiedenes. Kleine Mitteilungen“, in: Christliche Welt 21 (1907)532 „Verschiedenes. Unkultur“, in: Christliche Welt 21 (1907) 730 „Verschiedenes. Die Wikinger“, in: Christliche Welt 21 (1907) 977–978 „Anmerkungen zur religiösen Krisis. Zweite Folge: Vom Theologentum“, in: Christliche Welt 21 (1907) 1103–1109 „Bücher und Schriften für den Weihnachtstisch. Waltharilied. Der arme Heinrich. Lieder der alten Edda“, in: Christliche Welt 21 (1907) 1230 [Georg Stolterfoth:] „Literaturbriefe“, in: Christliche Welt 21 (1907) 132–137.178–175.350– 352.526–530.564–568.593–596.647–649.723–728.1138–1141.1148–1190
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Quellen- und Literaturverzeichnis
1921 „Was hat der Buddhismus noch zu geben?“, in: Kunstwart 35/1 (1921/22) 6–11.72–76 „Der erste Brudermord. Eine ‚Ehrenrettung‘ Kains“, in: Kunstwart 35/1 (1921/22) 325–330
1922 „Gogarten“, in: Christliche Welt 36 (1922) 58–61 „Glossen zu allerhand Büchern“, in: Christliche Welt 36 (1922) 650–654 /Beate Bonus: „König Olafs Zweifel“, in: Christliche Welt 36 (1922) 940–944 „‚Staatbildende Kraft?‘“, in: Kunstwart 35/2 (1922) 345–347
1923 [Stolterfoth]: „Der Hund als Kulturzeichen“, in: Kunstwart 36/1 (1923) 176 „Vom heiligen Tanz“, in: Kunstwart 37/1 (1923/24) 43–46 „Eindrücke vom Mainzer Kongreß des Bundes entschiedener Schulreformer“, in: Die Tat 14/2 (1922/23) 611–618
1924 „Indisches“, in: Christliche Welt 38 (1924) 383–385 „Isländergeschichten“, in: Kunstwart 38/1 (1924) 121–124 „Lagarde“, in: Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 1.3.1925, S. 116–117 „Wissenschaft und Weltanschauung“, in: Hilfe (Nr. 12 v. 16.6.1924) 202 „Deutsche Art?“, in: Die Hilfe, 1.7.1924, Nr. 13, S. 228–229 „Vorwissenschaftliche Wissenschaft“, in: Die Tat 16/1 (1924) „Radikale Religiosität“, in: Die Tat 16/2 (1924/25) 541–542 „Eine Frage des wissenschaftlichen Stils“, in: Die Tat 16/2 (1924/25) 707–709
1925 Das Käthe Kollwitz-Werk. Mit einführendem Text von Arthur Bonus mit 153 Bildtafeln, Dresden 1925, wenigstens zwei weitere Auflagen 1930 und 1935 „Chinesische Weise“, in: Kunstwart 38/2 (1925) 78–81 „Lagarde (Rezension zu Paul de Lagarde, Deutsche Schriften [hg. von Paul Fischer], I–II, München 1924)“, in: Die Hilfe (1.3.1925) 116–117 „Monarchismus von Natur?“, in: Die Tat 17/1 (1925) 135–136 „Was nun? Zwei Gespräche“, in: Die Tat 17/1 (1925) 207–210 „Zur Verständigung zwischen morgen- und abendländischem Idealismus“, in: Die Tat 17/1 (1925) 295–301 „Die Schöpfung“, in: Die Tat 17/1 (1925) 576–590 [Hinkepott]: „Von unseren Nationalisten“, in: Die Tat 17/2 (1925/26) 612–616
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[Hinkepott]: „Der kochende Topf am Brenner“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur
1926 „Atheistische Mystik“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur, 17/2 (1926) 939–945
1927 „Allgegenwart Gottes“, in: Christliche Welt 41 (1927) 881–882 „Alte Chroniken“, in: Kunstwart 40/1 (1926/27) 312–317 „Was bedeutet uns Fichte? Ein Beitrag über Jugend und Alter als Lebens- und Weltprinzipi en“, in: Die Tat 18/1 (1927) 87–97 „Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur“, in: Die Tat 18/2 (1927) 921
1928 „Zum Idealismusstreit“, in: Christliche Welt 42 (1928) 316–318 „Soll ein junger Mensch Ideale haben?“, in: Christliche Welt 42 (1928) 353–354 „Gesetz und Freiheit“, in: Christliche Welt 42 (1928) 449–450 „Ächtung des Krieges?“, in: Christliche Welt 42 (1928) 498–500 „Warum versagt die christliche Liebe?“, in: Christliche Welt 42 (1928) 546–548 „Wenn ich dir dankbar bin, was gehts dich an!“, in: Christliche Welt 42 (1928) 593–594 „Die Ich-Du-Haftigkeit des Menschen und seine innere Einheit“, in: Christliche Welt 42 (1928) 646–649 Rez. „Askan Schmitt: Wie sie vielleicht sprachen. Möglich Gespräche möglicher Zeitgenos sen Jesu“, in: Christliche Welt 42 (1928) 676 „Isländisches“, in: Christliche Welt 42 (1928) 965–968.1031–1033 „Abendrot“, in: Die Tat 19/1 (1927/28) 469 „Zu Gogartens Bekenntnisbuch“, in: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kul tur, 19/2 (1928) 818–832 „Australische Totemgesänge“, in: Aus unbekannten Schriften. Festgabe für Martin Buber zum 50. Geburtstag, Berlin 1928, 14–19
1929 „Jon Svensson“, in: Christliche Welt 43 (1929) 397–399 „Preußische Pflichtreligion. Bei Gelegenheit einer neuen Bücherreihe“, in: Christliche Welt 43 (1929) 399–400 „Von Aberglauben und Volksreligion“, in: Christliche Welt 43 (1929) 528–531 „Amerikanisches“, in: Die Tat 21 (1929/30) 397–400
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Quellen- und Literaturverzeichnis
1930 „Weltstimmen“, in: Christliche Welt 44 (1930) 299–300
1931 „Weltstimmen“, in: Christliche Welt 45 (1931) 42 „Bemerkungen zu den Naturreligionen“, in: Christliche Welt 45 (1931) 568–570 „Jugenderinnerungen“, in: Christliche Welt 45 (1931) 818 „Vom germanischen Glaube“, in: Kommende Gemeinde Januar 1931, 62–79 „Persönliches zur Bedeutung der altisländischen Literatur“, in: Rig 6 (1931) 74–83
1932 „Frobenius und Spengler“, in: Christliche Welt 46 (1932) 402–407 „Noch ein Volkslied“, in: Christliche Welt 46 (1932) 523 „Die Tat. Unabhängige Montatsschrift“, in: Christliche Welt 46 (1932) 666–668 „Fragment von deutscher Theologie“, in: Christliche Welt 46 (1932) 1027–1028 „Zur ‚Bekämpfung der Gottlosenbewegung‘“, in: Kommende Gemeinde 4 (Dezember 1932) 101–103
1933 „Tod und Auferstehung“, in: Christliche Welt 47 (1933) 290–292 „Mechanisierung“, in: Christliche Welt 47 (1933) 741 „Geschichte eines Denkmals“, in: Christliche Welt 47 (1933) 845–847 Rez. Clara Nordström, „Kajsa Lejondahl“, in: Christliche Welt 47 (1933) 1150–1151
1934 „Der Traum von der Wahrhaftigkeit“, in: Christliche Welt 48 (1934) 545–546 Rez. Franz Bauer, „Wir zeichnen biblische Erzählungen des Altes Testaments“, in: Christli che Welt 48 (1934) 663–664 Rez. Hindenburg, „Aus meinem Leben“, in: Christliche Welt 48 (1934) 1005 Rez. Friedrich Natorp, „Grundlagen künstlerischer Erziehung“, in: Christliche Welt 48 (1934) 1102–1103 „Eine Goethefälschung“, in: Deutscher Glaube (Heft 9, 1934)
1935 „Freundschaftliche Bedenken zur ‚Deutschen Glaubensbewegung‘“, in: Deutsches Volks tum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben 37/2 (1935) 745–756
1936 „Offenbarung östlich und westlich“, in: Christliche Welt 50 (1936) 24–25
IV. Literatur
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„Wege zum Glück“, in: Christliche Welt 50 (1936) 243–244 „Wege zum Erfolg“, in: Christliche Welt 50 (1936) 481–483
1937 „Die Religion der altnordisch-germanischen Balladen“, in: Christliche Welt 51 (1937) 289–291
1938 Von Tod und Tapferkeit. Neue Besinnungen über deutschen Glauben, Weimar 1938 (Verlag Deutsche Christen)
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IV. Literatur
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Personenverzeichnis Ahlborn, Knud 493 Arndt, Ernst Moritz 164, 274 Arnold, Eberhard 481 Avenarius, Ferdinand 20, 63, 72 f., 176–185, 275, 289 f., 293, 300, 399 f., 427, 449, 451, 457, 485, 492, 500–502
Carlyle, Thomas 164, 223 f., 258, 274 Chamberlain, Houston S. 37–39, 55–58, 168, 350, 481, 495 Christlieb, Max 57, 322, 479 Cornelius, Peter von 170 Curtius, Friedrich 149, 150
Bachofen, Johann Jakob 247 Bahr, Hermann 168 Bartels, Adolf 28, 63, 73, 181, 185, 207 Barth, Karl 384, 456, 511, 513, 518, 520 Bäumer, Gertrud 534 Baumgarten, Otto 52, 58, 62, 66, 88, 223, 248, 335–337, 345, 367, 500, 549 Bergson, Henri 171, 459 Bernoulli, Carl Albrecht 53 Bizer, Ernst 527 Björnson, Björnstjerne 170, 303 Böcklin, Arnold 40, 56, 170, 199 Bölsche, Wilhelm 156, 191 Bonus-Jeep, Beate 16 f., 79 f., 87, 115, 153, 168 f., 189, 224, 278, 538 f. Boor, Werner de 527 Bornemann, Wilhelm 94 Bourdieu, Pierre 23 Bousset, Wilhelm 88, 159, 164 f., 176, 182, 223, 234, 261, 327, 333, 395, 500 Brentano, Lujo 485 Breuer, Stefan 29, 63, 550 Breysig, Kurt 272 Brüning, Heinrich 533 Buber, Martin 154, 215, 372, 422, 521 Burbach, Friedrich 527 Burckhardt, Jacob 302 Burggraf, Julius 56, 348, 479 Büttner, Herman 191, 309
Daab, Friedrich 167, 182, 220–223, 240, 343 Dahn, Felix 268 Damaschke, Adolf 62, 74, 79, 80, 138, 180, 224, 407, 495 Darwin, Charles 55, 82, 164 Delbrück, Hans 140, 160, 174 f., 427, 441, 451 f., 485 Diederichs, Eugen 10, 71, 188–199, 240, 248, 250, 298, 300 f., 306–309, 356, 363–369, 374, 378, 387, 427, 435, 444, 449, 471, 474, 488, 492–496, 513 f., 522, 547 Dilschneider, Otto Alexander 540 Drews, Arthur 193, 240, 365 Driesmans, Heinrich 60, 167, 175, 207, 302, 438 Eckhart (Meister Eckhart) 191, 307, 309, 310 Egidy, Christoph Moritz von 35, 108 f., 145 Eisenhuth, Hans Erich 540 Emde, Reinhold 109 Enking, Ottomar 62 Eucken, Rudolf 15, 73, 183, 215, 307, 495 Fahrenkrog, Ludwig 36, 40, 60 Falkenhausen, Friedrich Karl von 147, 506 Fechner, Theodor 171 Fehlberg, Frank 14
622
Personenverzeichnis
Fichte, Johann Gottlieb 292, 307, 381, 386– 390, 444, 449, 462, 465, 475, 478, 492 Fiedler, Marianne 168 Fischer, Alfred 52 Foerster, Erich 45, 85, 88 f., 117, 149, 167, 176, 198, 235, 327, 370, 399, 420, 508 Foerster, Wilhelm 229 Frenssen, Gustav 67, 144, 170, 183 f., 196 f., 252, 341–344 Fritsch, Theodor 28, 37, 39 Fuchs, Emil 63, 73, 180, 184, 318, 467, 527, 541 Gallwitz, Hans 254 Gerlach, Hellmuth von 117, 410, 487 Gizycki, Georg von 229 Goethe, Johann Wolfgang von 39, 181, 228, 246, 336, 349, 475, 544 Gogarten, Friedrich 183, 194, 363, 380–390, 457 f., 460, 467–470, 476–479, 483, 491–493, 504, 511–521 Göhre, Paul 85, 88 f., 106, 117, 120–122, 134, 137, 141, 143 f., 146, 165, 196, 199, 205, 242 f., 378, 380, 387, 397, 430 f., 490 Goldstein, Moritz 423 Gottschick, Johannes 324 Grabert, Herbert 527, 541, 543 f., 546 Grabowsky, Adolf 450, 473 Graue, Dietrich 44, 51, 334, 339, 347, 371 Graue, Paul 54, 262, 479 Groh, Georg 542 Grundmann, Walter 540 Grützmacher, Richard 353 Gunkel, Hermann 68, 182, 224, 295, 324 Günther, Rudolf 165, 334 Haeckel, Ernst 60, 82, 226 Harden, Maximilian 175 Harnack, Adolf 41, 44, 67, 80, 84 f., 89, 93, 96–98, 100, 103 f., 132, 140, 143, 152, 182, 198, 201, 206, 216, 230, 312–317, 320, 324–328, 357, 367, 372, 379, 427, 485, 491, 495 Hart, Heinrich 173 Hart, Julius 191 f., 227, 290 f., 309, 340, 354 Hauer, Jakob Wilhelm 531, 541–545 Heitmüller, Wilhelm 456 Hermes, Rudolf 99, 422, 510
Herrmann, Wilhelm 48, 204, 213–215, 219, 322, 324, 482 Heuss, Theodor 27, 79, 178 Hildebrandt, Martin 34 Hintzenstern, Herbert von 3, 17, 276, 537, 557 Hirsch, Emanuel 539 Hitler, Adolf 532, 533 Hunkel, Ernst 59, 60 Ibsen, Henrik 170, 303 Jaeger, Paul 54, 88, 98, 100, 117, 144, 167, 182, 329 Jatho, Carl 67, 102, 356, 363, 365, 367 f., 374, 382, 435, 439, 482 f. Jesus 37–41, 52, 59, 98, 217, 234–243, 269 f., 272, 337–342, 344, 349 Joel, Ernst 492 Jülicher, Adolf 117 Kaftan, Julius 50, 80 f., 85, 88, 126 f., 175, 204, 225, 230, 245, 254 f., 257, 286–288, 315 f., 377, 522 Kaftan, Theodor 482 Kalthoff, Albert 191, 222, 241, 250, 253, 307, 308, 348, 359 Kant, Immanuel 39, 81, 94, 228, 346, 465, 499 Kaulbach, Wilhelm von 170 Kessler, Harry Graf 372 Key, Ellen 59 Keyserling, Hermann Graf 510 Kierkegaard, Sören 103, 107, 157, 172 f., 182, 258, 383 f., 522 Kirmß, Paul 48, 109, 136, 358 Klinger, Max 170 Kögel, Linda 169 Köhler, Walther 152, 352 Kollwitz, Käthe 21, 87, 124, 168 f., 180, 534, 556 König, Karl 182 f., 190, 194, 215, 220–222, 241, 276, 348, 356, 364, 374, 385, 467 f., 476 f., 531–533, 538–540, 545 Köster, Arnold 46, 322, 331, 397 Krüger, Gustav 56, 117, 312, 333 Kübel, Johannes 57, 527 Kühner, Karl 41, 84, 95
Personenverzeichnis Kulemann, Wilhelm 116, 347 Kutter, Hermann 356, 471, 495, 514 Lagarde, Paul de 37, 55–59, 82, 164, 169, 172, 182, 185, 205, 260–264, 274, 292, 307, 333, 350, 383, 388, 423 f., 444, 481, 540 Lamprecht, Karl 170 Langbehn, Julius 25, 30, 39, 55, 108 Lange, Friedrich 25, 32, 60, 106, 267, 411, 420, 479 Langewiesche, Wilhelm 72 Leese, Kurt 541, 554 Leffler, Siegfried 538 Lehmann-Hohenberg, Johannes 145 Lehmann, Walter 307 Lhotzky, Heinrich 72, 307 Lienhard, Friedrich 33, 38 f., 62 f., 185, 207, 289, 300, 423, 481 Loofs, Friedrich 92, 105 Lülmann, Christian 57 Luntowski, Adalbert 29 Luther, Martin 35 f., 92, 136, 150, 181, 228, 258, 274, 310, 322, 386, 477 Maeterlinck, Maurice 171 Maurenbrecher, Max 74, 191, 249, 356, 408 f., 495 f., 509 Mauritz, Oskar 348 Meinecke, Friedrich 485 Merz, Georg 512, 514 Meyer-Benfey, Heinrich 5, 66, 76, 394, 538 Meyer-Erlach, Wolf 540 Mulert, Hermann 56, 478, 480, 526, 528 f., 535 Müller(-Elmau), Johannes 72, 86, 168 f., 183, 220–222, 307, 422, 471 f., 479, 482 f., 510 Müller, Ludwig 531 Natorp, Paul 73, 167, 213, 366, 456, 465, 477, 493, 503 Naumann, Friedrich 47, 59, 88, 90, 117 f., 138–149, 156, 160–167, 178, 196, 274, 277, 327–329, 339, 363, 396, 404–411, 414, 418, 427, 434, 462 f., 532 Niebergall, Friedrich 73, 180, 342–345, 382, 479, 495 Niedner, Felix 300 f.
623
Niekisch, Ernst 509 Nietzsche, Friedrich 82, 172, 182, 205, 229 f., 247 f., 250–261, 274, 306, 318, 383, 475 Nigg, Walter 45 Nithack-Stahn, Walther 61, 480 Overbeck, Franz 53, 216, 264 Papen, Franz von 533 Perino, Adolf 150 Pfannkuche, August 253, 370, 431 Pfleiderer, Otto 48 f., 91, 272 Piper, Otto 513, 521, 536 Planck, Karl Christian 469 Platzhoff-Lejeune, Eduard 57 Plenge, Johann 463 Paulsen, Friedrich 81, 406 f. Paulus 37, 240, 273, 308 Preuß, Hugo 491 Prezzolini, Giuseppe 459 Quandt, Emil 105 Quidde, Ludwig 487 Raabe, Wilhelm 170 Rade, Dora 344 Rade, Martin 45, 50, 54, 61, 66, 69, 72, 88–90, 100, 112, 115, 117–121, 134, 138, 149–156, 161, 198, 211, 261, 317–329, 361 f., 364, 366, 387, 391, 393, 395, 412 f., 416, 418, 424–429, 430 f., 450 f., 456–458, 493, 499, 501, 506, 515, 518–520, 525–532, 535 f., 545 Ragaz, Leonhard 73, 356, 384, 455 f., 470, 478, 495, 514 Rathgen, Karl 407 Reinecke, Adolf 36 Reinicke, Karl 86 Rein, Wilhelm 73, 111 Ritschl, Albrecht 81, 84, 93–95, 149, 152, 182, 274, 321, 330 Rittelmeyer, Friedrich 15, 85, 361, 512 f. Röder, Adam 507 Rohrbach, Paul 59, 85, 88, 126, 145, 174, 205, 327, 340, 405–409, 445, 505 Rolffs, Ernst 252, 318, 334 Rosenberg, Alfred 4, 527, 545
624
Personenverzeichnis
Sabatier, Paul 168 Salzer, Eugen 71 f., 160, 165, 173 Sapper, Karl 483 Schemann, Ludwig 28, 58 Schian, Martin 150, 479 Schiele, Friedrich Michael 21, 68, 199, 333, 366, 372, 379 Schiller, Friedrich 346, 349 Schlaikjer, Erich 74, 180, 260 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 62, 84, 94, 335 Schlüter, Willy 504 Schmoll von Eisenwerth, Karl 180, 426 Scholz, Hermann 330 Schrempf, Christoph 15, 102–108, 117, 157, 182, 191, 541 Schubring, Paul 74, 90, 93, 99, 145, 159 Schubring, Wilhelm 51 f., 58, 180, 343–345, 433, 529 Schücking, Walther 427 Schultze-Naumburg, Paul 30, 180, 185 Schultz, Hermann 324 Schumann, Wolfgang 472, 491, 502, 508 Schwaner, Wilhelm 27, 36 f., 40, 63, 79, 479, 481 Seeberg, Reinhold 353 Sell, Karl 49, 372 Seuse, Heinrich 307 Simmel, Georg 216, 372 Sohm, Rudolf 138 Sohnrey, Heinrich 73, 180, 186, 207, 281 Sombart, Werner 372, 409, 433 Spengler, Oswald 507 Spitteler, Carl 457 Stapel, Wilhelm 381, 474, 493, 509, 513, 531, 534–536, 544 f. Steinhausen, Heinrich 63, 286 Steinhausen, Wilhelm 40, 73, 180 Steinmann, Theophil 358, 369 Stephan, Horst 150, 153, 456 Stern, Fritz 264 Steudel, Friedrich 348 Stoecker, Adolf 85, 113, 118, 162 f., 395 Sulze, Emil 46, 48, 331
Tauler, Johannes 307 Thimme, Adolf 295 Thoma, Hans 40, 73, 173 Titius, Arthur 79, 84 f., 122, 206 f., 212, 360 Tolstoi, Leo N. 172, 182, 229, 260 Tönnies, Ferdinand 260, 372, 477 Traub, Gottfried 67, 71, 102, 121, 191, 220 f., 241, 362–370, 379 f., 382, 418, 449, 455 f., 482 f., 492, 506 Treitschke, Heinrich von 79, 81 Troeltsch, Ernst 22 f., 90, 149, 152–156, 165, 204 f., 331, 351, 358, 362, 371–373, 382, 450, 458, 477, 485, 505, 511 Uhde, Fritz von 40 Veit, Willy 329, 408, 418 Wachler, Ernst 36, 60, 276 Wagner, Richard 178, 268 Weber, Max 6, 73, 117, 121, 138, 140, 154, 404, 409, 440, 463, 485, 496 Websky, Julius 105, 109 Wegener, Hans 66 Weichelt, Hans 150, 151, 205, 250, 253, 528 Weinel, Heinrich 50, 52, 67, 88, 98, 182, 184, 235, 307, 326, 328, 382, 477 Weiss, Bernhard 80, 212, 286 Weiß, Hedwig 169 Weiß, Johannes 84, 96, 234 Wellhausen, Julius 93, 96 Wenck, Martin 74, 143 Wendland, Johannes 96, 321 Wernle, Paul 457 Wielandt, Rudolf 65, 346, 433 Wilhelm II. 57, 106, 133, 429, 432, 447 Wille, Bruno 109, 171 Wrede, William 224 Wundt, Wilhelm 291 Würzburger, Eugen 459 Zastrow, Constantin von 66, 357 Zehrer, Hans 510 Zoellner, Wilhelm 482
Stichwortverzeichnis Alldeutsch, Alldeutscher Verband 443– 445, 455, 463, 470, 485-488, 506, 510 Antike 164, 172, 251, 256, 299, 301, 304, 337, 551 Antiklerikalismus 33, 34, 56, 184, 209, 263, 276, 280, 309, 371 Antisemitismus 30–39, 419–424, 533–536 Apostolikumstreit 101–110, 157, 324 Arier, arisch 28, 36–38, 291 Arierparagraph 529, 532 Armenier 418
Edda 32, 299 England 415, 455 f. Entkirchlichung 91, 113, 331, 346, 351 Entwicklungslehre 226 f., 231–233 Evangelischer Arbeiterverein 117, 123, 146 Evangelischer Bund 7, 35 Evangelisch-sozialer Kongress 90, 97, 115–119 Evangelium 113 f., 216 f., 233–244, 269–271, 337–343 Evolution 164
Babel-Bibel-Streit 67, 186 Bekennende Kirche 526 Berlin 78–80, 185 Bibel 59, 96, 176, 187 Bodenreform 62, 79, 224 Bund der Köngener 541 Bund neue Kirche 516 Buren, Burenkrieg 414–419 Burenliga 416
Florenz 187, 199, 216 Fortschrittliche Volkspartei (FVP) 395, 491 Frankfurt 89, 117, 146, 149 Frankreich 391, 463 Freideutsche Jugend 493 Freideutsche Woche 493 Freisinnige Vereinigung (FVg) 148, 394
Christlich-soziale Bewegung 112–122, 130–132, 134–138, 148, 162 f., 441 Christmythe 187, 240 Daily-Telegraph-Affäre 429 Darwinismus 81, 82, 231, 251, 277, 551 Deutsche Christen 526, 529, 538 f. Deutsche Demokratische Partei (DDP) 500 Deutsche Friedensgesellschaft 50, 431 Deutsche Vaterlandspartei (DVLP) 485, 489, 506 Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 505 f. Dialektische Theologie 518–522 Dresden 90, 199 Dürerbund 72, 179, 461, 512
Germanisierung (des Christentums) 160–167, 206 f., 242 f., 265–278, 286–288, 304 f., 315, 319, 324–326, 328, 333–351, 479, 528, 537–544 Gewissensfreiheit 46, 106, 367, 371, 374, 526 Groß Muckrow 132, 146, 189 Großstadt 78, 79, 170, 185, 298 Heliand 78, 271, 278, 283 Hellenisierung 98, 273, 551 Historismus 179, 304, 322, 351, 355 Hoher Meißner 493 Imperialismus 403–409, 416–419, 455 f., 460–464 Individualisierung 49, 65, 207, 214 f., 307, 346
626
Stichwortverzeichnis
Innere Mission 115–118, 127, 130 Innerlichkeit 60 f., 222 f., 246 f., 290 Intellektualismus 181 f., 220 f., 320 f., 469, 512 Intellektuelle, Religionsintellektuelle 77, 169, 202, 453–455, 498–500, 511 f. Island 299–305 Isländersagas 299–306, 544 f. Italien 216, 309, 381 f., 387, 452 Judentum 123, 234–237, 329, 411, 419–424, 536 Jugendbewegung 443, 492–494, 496 Kapitalismus 114, 125, 146, 464 f., 486, 503–505, 508, 515 Kapp-Putsch 506 Kirchenkritik 108, 360 Kolonialismus, Kolonialpolitik 405 f., 415–419 Konservatismus 137, 141, 163–166, 284, 288, 376 f., 411, 436 f., 505–508 Kriegspublizistik 455, 460 Kriegstheologie 466, 478 Krise 152 f., 351 f., 359–362, 365, 380–382, 467, 511–519 Kulturkrieg 458, 497 Kulturnation 349, 488, 501 Kulturpessimismus 10, 29, 179, 344, 443 Kulturpolitik 435, 445 f., 491, 500 Kulturprotestantismus 42–53, 112, 352 f., 360–362, 491, 530 f. Kulturstaat 53 f., 171 f., 371–375, 419 f., 431, 435 f., 526, 530 Kunst 169–172, 180, 300 Lauensteiner Kulturtagung 495, 496 Leben 190–194, 214–216, 241 Leben-Jesu-Forschung 58, 234, 311, 337 f., 344 Lebenskampf 214, 419 Lebensphilosophie 13, 170 Lebensreform 27, 75, 131, 162, 173, 215, 224, 251, 273, 361, 496, 541 Liberaler Protestantismus 22, 42–47, 52, 59–62, 92 f., 351, 354–356, 360–365, 379 f., 384, 482 f., 513 f., 520
Liberalismus 263, 376–378, 391 f., 393–397, 429–440, 463–465, 476, 489 f. Linksliberalismus 148, 394, 430, 433, 464 Luckenwalde 123, 132 Machtpolitik 50, 404–410 Machtstaat 50, 139, 188, 375, 431 Malerei 87, 169 f. Marburg 89, 520, 536 Märchen 177, 281, 294–296 Materialismus 281 f. Mittelalter 307–310, 477 Mitteleuropa 462 f. Moderne 149–156, 159, 162 f., 171 f., 186 f., 189, 351–358 Moderne Theologie 45, 59 f., 68 f., 317–320, 351–362, 369, 379 Monismus 226 f., 280 Monistenbund 222, 348 Mystik 181, 191, 307–309, 388–390, 477 f., 517, 521 f. Mythos 100, 244–249, 294–298, 306, 369, 388 f., 439 Nächstenliebe 119, 128, 242 f. Nationalismus 22–24, 48–54, 163–166, 262 f., 394, 397–403, 409–414, 424–429, 441–443, 485–489, 509 f. Nationalsozialer Verein 138–148, 393–398, 404–407, 421, 532 f. Nationalsozialismus 525–527, 530–534, 544 f. Naturalismus 170, 344 Naturwissenschaft 150 f., 212 f., 280 f. Neuidealismus 189 f., 387 f., 462, 529 Neuprotestantismus 355–357, 482 Neuromantik 301 Orthodoxie 60, 109, 159, 162 f., 182, 347, 349, 370 f., 380, 521 f. Palästina 58 f., 237 f., 268–270, 338–341 Pangermanismus 443–446, 462 Parlamentarisierung 410, 488, 491, 497, 499, 501 Patriotismus 48–53, 61 f., 399–401, 404, 413 f., 427, 431, 441–443, 450 f., 467 f., 488, 510
Stichwortverzeichnis Pazifismus 50, 425, 485, 535 Persönlichkeit 216–224, 237–240, 261, 291–293, 306, 324, 335–337, 342–345 Predigt 51 f., 66–68, 237–239, 335–339, 343, 467 Protestantenbund 379 Protestantenverein 43 f., 56, 345–348, 355 f., 370 f. Protestantischer Laienbund 513 Rasse, Rassentheorie 26–28, 33–36, 57, 60 f., 289–292, 420 f., 443, 479, 531–537, 544 Räterepublik 503, 512 Rationalismus 92, 215, 223, 321, 467, 511, 522 Rechtsstaat 50, 431, 532, 535 Reformation 35, 48 f., 164–166, 267, 276 f., 330, 370, 463 f., 476–480, 494 f. Reich Gottes 94–96, 231–233, 234–238, 327, 405–407 Religion – deutsche Religion 36–39, 41, 58–61, 262, 266–269, 275–277, 307–309, 320, 470, 481, 527 – Diesseitsreligion 232 – Fremdreligion 210, 267, 336 – Geheimreligion (der Gebildeten) 367, 379 f., 388, 439 – Kulturreligion, Religion und Kultur 34, 202, 349 f., 358–361, 375, 386, 518–521 – Nationalreligion, nationale Religion 38, 56, 262–264, 346, 528 – Persönlichkeitsreligion 217 f., 224–227, 306 – Volksreligion 270, 288 – Weltreligion 57, 272 f., 293, 521 – Zukunftsreligion 38, 82 f., 245, 251, 263, 276 f., 279, 354, 360, 369, 385 Religionsgeschichte 57, 68, 234 f., 268, 272 f., 337 f. Religionsgeschichtliche Schule 96, 234 f., 295 f., 311 f., 321, 323 Religionskritik 245, 257, 261, 266, 475 Religionspädagogik 195, 270 Religionsunterricht 195, 324, 425 Religiöser Sozialismus 511–515
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Religiosität, vagierende 22, 54, 183, 336, 356, 522, 547 Religiös-Sozialistische Vereinigung 513 Renaissance 172, 187, 256, 302, 475 Romanisierung 551 Säkularisierung 21, 33, 153, 210, 233, 285, 466 San Domenico de Fiesole 199 Seele 98, 182, 185, 213–219, 232, 324 Seelenkunst 41, 199, 215 Skandinavien 184, 301, 444 Sozialdemokratie 111, 113, 118–121, 124–126, 131 f., 137, 141, 145, 147, 243 f., 284, 288, 440 f., 451, 453, 464, 489–491, 498–500, 502 f., 507 f., 533 f. soziale Frage 110–117, 124–130, 136 f., 278–280, 284, 440 Sozialismus 119, 129, 387, 394, 404, 476, 499 f., 502–505, 507 f., 515 f. – christlicher Sozialismus 113, 117, 121, 135 – Kriegssozialismus 477, 490, 502, 507 – nationaler Sozialismus 139–141, 178 f., 464 f., 490–492, 505, 507–509, 534 Sozialpolitik 118, 136, 179, 410 Sozialprotestantismus 118, 128–133, 173 Sozialreform 111 f., 126–133, 224, 410, 454, 486, 508 Spartakus 498, 502 Staatskirche 34, 106, 112, 182, 191 Subjektivismus 60 f., 157, 166, 204, 272, 322–324, 475 Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt 44, 72 f., 103 f., 149, 152 f., 323 f., 516, 526 f., 535 Verein zum Schutz der deutschen Ehre in der Nordmark 426 Volk, Volkstum 49, 51 f., 55, 113 f., 288–293, 294–298, 336 f., 340–343, 349, 353, 378, 390 f., 395 f., 398, 402 f., 406–408, 441 f. – Volkscharakter 57, 60, 288, 290–293, 297 – Volksgeist 280–285, 289, 292, 346, 378, 460 – Volksgott 280–283, 288, 292, 319
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Stichwortverzeichnis
– Volksleben 113, 131, 144, 287, 292, 347, 376, 428, 444 Völkerbund 461, 490 völkisch – völkische Bewegung 4 – Völkische Bewegung 26–33, 39–42, 54 f., 60–62, 269, 274 f., 276 f., 443, 542 f. – völkisch-religiöse Bestrebungen 33–42, 55, 59–62, 269, 276 f., 542–545 Volksbund für Freiheit und Vaterland 485 Volksgemeinschaft 127, 131, 237, 265, 390, 397, 434, 442 Volkskirche 35, 92, 124, 184, 297, 370–380, 479, 516, 528, 530, 544 Volkskunde 294–297 Volksliteratur 177, 294–298 Volksstaat 486–488, 491, 498, 516 Weltpolitik 403–408, 444–446, 462 f. Wittenberg 86 f., 104, 115 Zeitschriften 19 f., 64–74, 88–91, 139 f., 167, 174–176, 353–355, 458, 530 – Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche 348–350 – Christliche Freiheit 63, 71, 355 f., 397
– Das Suchen der Zeit 66, 222, 343, 344 – Die Christliche Welt 44–46, 53, 71–73, 88–95, 99 f., 103 f., 149 f., 159, 182, 196, 204 f., 408 f., 424–429, 450, 456–458, 517 f., 520, 525–530 – Die Dorfkirche 63 – Die Hilfe 71, 73, 139 f., 182 f., 394 f., 409–413 – Die Tat 444, 494 f., 510 – Die Zeit 139 – Kunstwart 27, 63 f., 73, 175 f., 177–187, 199, 215, 289, 293 f., 299 f., 368, 423, 448 f., 455, 461, 476 f., 485, 491, 498–502 – März 174, 366, 397, 429, 448 – Neue Rundschau 73, 174, 366 – Patria 74, 139, 174, 379 – Preußische Jahrbücher 16, 81, 160, 172, 175, 254, 259, 406, 441, 454, 552 – Protestantenblatt 44, 51 f., 221 f., 338 f., 343–345, 347, 352–356, 360, 371, 395, 424 f., 430, 433, 530 – Sozialistische Monatshefte 387, 515 – Tägliche Rundschau 61 f., 106, 410–414 – Theologische Rundschau 174, 333 – Wartburgstimmen 63, 194, 340, 396