Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit, Band 2: Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869) 3515109110, 9783515109116

Die Wirtschafsgeschichte sieht die entscheidenden Anreize für das Handeln der Wirtschaftssubjekte längst in der Gestaltu

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INHALT
I. EINLEITUNG
II. DIE GEWERBLICHE AUSBILDUNG
A. DIE HANDWERKSLEHRE
1. Die Ausbildung der Lehrlinge bis 1845
2. Die Handwerkslehre 1845–1870
3. Der Zudrang zum Handwerk und die sozialen Folgen
B. DIE THEORETISCHE FACHBILDUNG
1. Die Ausgangslage
2. Private Initiativen
3. Die Errichtung der Provinzialgewerbeschulen
4. Erste Initiativen der Provinzialverwaltung zur eigentlichen Handwerkerbildung
5. Die Fortbildungsschule neuen Typs
6. Der Aufstieg des gewerblichen Schulwesens nach 1848
7. Die Zeit des Verfalls
8. Aufbruch in die neue Zeit
9. Handwerksgesellen-Bildungsvereine
10. Kirchliche Bildungseinrichtungen
11. Die berufliche Bildung der Frauen
12. Eine Bilanz
13. Zusammenfassung
C. DAS PRÜFUNGSWESEN
1. Das Prüfungswesen der Bauhandwerker
2. Das Prüfungswesen der übrigen Handwerksberufe
D. DAS WANDERN DER GESELLEN
1. Einleitung
2. Das ALR und das Gesellenwandern
3. Die Wanderziele
4. Die Untersagung des Wanderns ins Ausland
5. Die Aufhebung der Wanderpflicht
6. Die Legitimationspapiere
7. Die Arbeitsvermittlung
8. Das Viaticum
9. Das Betteln
10. Die Herberge
11. Die Gesundheitsfürsorge
12. Die Militärdienstpflicht der Wandergesellen
13. Jüdische Gesellen
14. Das Ende des Gesellenwanderns
E. DIE SOZIALE SICHERUNG DER GESELLEN
1. Die Zeit der Fremdherrschaft
2. Die soziale Sicherung der Gesellen in der preußischen Provinz Westfalen
3. Versuch einer Wertung: Die Bedeutung des Kassenwesens für die Gesellenschaft
III. RÜCKBLICK
IV ANHANG
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Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit, Band 2: Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869)
 3515109110, 9783515109116

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Gerhard Deter

Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810 –1869)

Geschichte Franz Steiner Verlag

VSWG – Beiheft 230.2

Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 2

vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet

band 230.2

Gerhard Deter

Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869)

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)

Umschlagabbildung: Max Liebermann, Schusterwerkstatt, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Jürgen Liepe Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10911-6 (Print) ISBN 978-3-515-10933-8 (E-Book)

INHALT I.

EINLEITUNG ............................................................................................

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II. DIE GEWERBLICHE AUSBILDUNG .....................................................

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A. Die Handwerkslehre ............................................................................ 1. Die Ausbildung der Lehrlinge bis 1845 ........................................ a. Einleitung ............................................................................... b. Die Regelungen des ALR ....................................................... c. Unklarheit der Rechtsverhältnisse.......................................... d. Das Lehrgeld und die Dauer der Lehrzeit .............................. e. Alte und neue Missstände ...................................................... f. Der Entwurf des Gewerbepolizeigesetzes des Jahres 1837 ... 2. Die Handwerkslehre 1845–1870................................................... a. Die Gewerbeordnung vom 17.1.1845 .................................... b. Die Verordnung vom 9.2.1849 ............................................... c. Die Rechtswirklichkeit ........................................................... aa. Die Rolle der Gemeinden und Innungen ......................... bb. Die Einflussnahme der Mittel- und Oberbehörden .......... cc. Die Lebensumstände der Lehrlinge ................................. dd. Der Abbruch der Lehre .................................................... ee. Lehrzeit und Lehrgeld...................................................... ff. Verbesserung der Ausbildung .......................................... gg. Bedeutungsverlust der Handwerkslehre .......................... hh. Weibliche Lehrlinge......................................................... d. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21.6.1869 ........................................................................ 3. Der Zudrang zum Handwerk und die sozialen Folgen ................. B. Die theoretische Fachbildung .............................................................. 1. Die Ausgangslage.......................................................................... 2. Private Initiativen .......................................................................... 3. Die Errichtung der Provinzialgewerbeschulen ............................. 4. Erste Initiativen der Provinzialverwaltung zur eigentlichen Handwerkerbildung ............................................ 5. Die Fortbildungsschule neuen Typs .............................................. 6. Der Aufstieg des gewerblichen Schulwesens nach 1848 .............. 7. Die Zeit des Verfalls...................................................................... 8. Aufbruch in die neue Zeit ............................................................. 9. Handwerksgesellen-Bildungsvereine............................................

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Inhalt

10. Kirchliche Bildungseinrichtungen ................................................ 11. Die berufliche Bildung der Frauen................................................ 12. Eine Bilanz .................................................................................... 13. Zusammenfassung......................................................................... C. Das Prüfungswesen.............................................................................. 1. Das Prüfungswesen der Bauhandwerker ...................................... a. Bauhandwerksprüfungen nach Einführung der Gewerbefreiheit ................................................................ aa. Die Restituierung der Prüfungsvorschriften für Bauhandwerker .......................................................... bb. Vergebliche Versuche zum Aufbau einer Prüfungsorganisation ....................................................... cc. Die Initiative des Oberpräsidenten Vincke ...................... dd. Der Mangel an geprüften Bauhandwerkern und seine Folgen ..................................................................... b. Die Prüfungen in den vierziger Jahren ................................... c. Die Prüfungen nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 .... aa. Fortdauernde Missachtung der Vorschriften .................... bb. Reformversuche des Gesetzgebers .................................. 2. Das Prüfungswesen der übrigen Handwerksberufe ...................... a. Das Prüfungswesen nach Einführung der Gewerbefreiheit ... aa. Die Gesellenprüfung bis zum Erlass der Gewerbe-Ordnung von 1845 ..................................... bb. Die Meisterprüfung bis 1845 ........................................... b. Die Reanimierung des Prüfungswesens durch die preußische Gewerbeordnung vom 17.1.1845 ................... aa. Gesellenprüfungen ........................................................... bb. Meisterprüfungen............................................................. c. Die Verordnung vom 9.2.1849 ............................................... aa. Die Regelungen ............................................................... bb. Die Wirkungen des obligatorischen Befähigungsnachweises ................................................... (a) Unterschiedliche Entwicklung in Stadt und Land .... (b) Prüfungsgebühren als Hindernis ............................... (c) Alte Abgrenzungsstreitigkeiten in neuem Gewande ........................................................ (d) Pfuscherjagden .......................................................... (e) Versuche zur Umgehung der Vorschriften ................ (f) Weitere Mängel des Prüfungsverfahrens .................. d. Die Reformgesetzgebung des Jahres 1854 ............................. e. Die Entwicklung des Prüfungswesens seit 1855 .................... f. Das Prüfungswesen im Zahlenbild.........................................

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Inhalt

g. Der Verfall des Prüfungswesens in den sechziger Jahren ...... aa. Der Beginn der Reformdiskussion .................................. bb. Initiativen des Gesetzgebers ............................................ cc. Fortdauernde Unentschiedenheit der Handwerker .......... h. Fazit ........................................................................................ D. Das Wandern der Gesellen................................................................... 1. Einleitung ...................................................................................... 2. Das ALR und das Gesellenwandern ............................................. 3. Die Wanderziele ............................................................................ a. Der Forschungsstand .............................................................. b. Die landestypische Nahwanderung ........................................ c. Die Arbeitsphasen und die Dauer der Wanderschaft .............. d. Fehlender Wanderbrauch ........................................................ e. Migration zur Arbeitssuche .................................................... f. Die Zuwanderung nach Westfalen ......................................... g. Auswanderung........................................................................ 4. Die Untersagung des Wanderns ins Ausland ................................ a. Die Demagogenverfolgung .................................................... aa. Die „Umtriebe“ in der Schweiz und in Frankreich.......... bb. Weitere Initiativen einzelner Bundesstaaten.................... b. Die Revolution als Befreiung ................................................. c. Die Restituierung des Kontrollsystems .................................. d. Der Ertrag ............................................................................... 5. Die Aufhebung der Wanderpflicht ................................................ a. Das Verbot des Einwanderns .................................................. b. Die Aufhebung der Wanderpflicht .......................................... c. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung während der Wanderschaft .................................................................... d. Die Beschränkung der Wandererlaubnis auf bestimmte Berufe ................................................................... e. Die Gewerbeordnung des Jahres 1845 ................................... f. Die Auffassungen der Gesellen und Meister .......................... g. Die Wirkung der Aufhebung der Wanderpflicht..................... h. Unauflösbarer Problemstau .................................................... 6. Die Legitimationspapiere .............................................................. a. Die Übergangszeit .................................................................. b. Der Passzwang ....................................................................... aa. Das Passgesetz des Jahres 1813....................................... bb. Das Passreglement des Jahres 1817................................. cc. Die Einführung der Wanderbücher .................................. c. Die Reformentwürfe............................................................... d. Die Beseitigung der „Paßquälerei“ ........................................

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Inhalt

7. Die Arbeitsvermittlung.................................................................. 8. Das Viaticum ................................................................................. a. Die Regelungen des ALR ....................................................... b. Die Reformgesetzgebung ....................................................... c. Kirchliche Initiativen.............................................................. d. Exkurs: Das Viaticum in der Industriearbeiterschaft ............. 9. Das Betteln .................................................................................... a. Die wirtschaftliche Situation der wandernden Gesellen ........ aa. Die Zeit des Vormärz ....................................................... bb. Die Phase der Hochindustrialisierung ............................. b. Die Reaktionen des Gesetzgebers .......................................... aa. Die Armengesetzgebung .................................................. bb. Die Bekämpfung des Bettelunwesens ............................. 10. Die Herberge ................................................................................. a. Vorsichtiger Neubeginn .......................................................... b. Die staatliche Förderung seit 1849 ......................................... c. Das christliche Herbergswesen .............................................. aa. Die Kolpingvereine.......................................................... bb. Das protestantische Herbergswesen ................................ 11. Die Gesundheitsfürsorge ............................................................... a. Die Krätze .............................................................................. b. Blattern und Cholera .............................................................. c. Die Krankheitskosten ............................................................. 12. Die Militärdienstpflicht der Wandergesellen ................................ 13. Jüdische Gesellen .......................................................................... 14. Das Ende des Gesellenwanderns .................................................. a. Das Absterben des traditionellen Wanderbrauchs .................. b. Die neue Arbeitswanderung nach Westfalen ................... E. Die soziale Sicherung der Gesellen ..................................................... 1. Die Zeit der Fremdherrschaft ........................................................ 2. Die soziale Sicherung der Gesellen in der preußischen Provinz Westfalen ......................................................................... a. Das Stadthandwerk................................................................. aa. Die Jahre des vorsichtigen Neubeginns: 1815–1845....... (a) Exemplarische Wiederbegründungen ....................... (b) Die Entwicklung im Überblick ................................. (1) Die Initiatoren der Kassengründungen............... (2) Das Problem der Zwangsmitgliedschaft ............ (3) Misstrauischer Staat – fördernde Städte ............. (4) Allgemeine oder berufsorientierte Laden? ......... (5) Anknüpfen an Zunfttraditionen .......................... (6) Die öffentliche Armenunterstützung .................. bb. Die Gewerbeordnung von 1845.......................................

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Inhalt

cc) Die Verordnung von 1849 und der systematische Aufbau des Kassenwesens (1849–1854) ......................... (a) Regierungsbezirk Arnsberg ....................................... (b) Regierungsbezirk Minden ......................................... (c) Regierungsbezirk Münster ........................................ dd. Das Reformgesetz des Jahres 1854 und die weitere Ausbreitung des Kassenwesens zwischen 1854 und 1868 ................................................................. (a) Regierungsbezirk Arnsberg ....................................... (b) Regierungsbezirk Minden ......................................... (c) Regierungsbezirk Münster ........................................ ee. Die außerstaatlichen Wirkkräfte ...................................... (a) Hemmnisse................................................................ (b) Fördernde Aspekte .................................................... ff. Überörtliche Kassen und kirchliche Einrichtungen ......... (a) Überörtliche Kassen .................................................. (b) Kirchliche Einrichtungen .......................................... gg. Selbstverwaltung, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Gesellenkassen ....................... (a) Die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung........... (b) Die Leistungsfähigkeit der Gesellenkassen .............. (1) Die Mitgliederstruktur der Kassen ..................... (2) Einnahmen der Laden und Auflagen .................. (3) Aufgaben und Leistungen der Gesellenkassen... hh. Der Rückzug des Staates und die Gewerbeordnung von 1869 .......................................................................... b. Die soziale Sicherung im Landhandwerk............................... 3. Versuch einer Wertung: Die Bedeutung des Kassenwesens für die Gesellenschaft ...................................................................

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III. RÜCKBLICK ............................................................................................. 441 IV. ANHANG................................................................................................... 453

I. EINLEITUNG „Das gut ausgebaute System der beruflichen Bildung gilt traditionell als Garant für die Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit“, schrieb die Europäische Kommission 2012 in ihrer Bewertung zum „Nationalen Reformprogramm für Deutschland“. In der Tat wurde in Deutschland im August 2012 mit 8,1 Prozent die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa gemessen, während sie zur selben Zeit im europäischen Durchschnitt bei nicht weniger als 22,7 Prozent lag. Wer wollte daher widersprechen, wenn im Bundestag jüngst festgestellt wurde, „das deutsche Bildungssystem“ leiste seit eh und je einen „unverzichtbaren Beitrag“ zur Fachkräftesicherung?1 Der berechtigte Stolz auf das Erreichte legt die Frage nahe, wie und warum es in Deutschland schon am Ende des 19. Jahrhunderts zur Entfaltung eines straff organisierten, effektiven Ausbildungssystems in der gewerblichen Wirtschaft kommen konnte, welches in den meisten europäischen Ländern doch bis heute schmerzlich vermißt wird. Welchen gesellschaftlichen Triebkräften und historischen Entwicklungen, welchen Interessenkonflikten und gesetzgeberischen Entscheidungen haben wir es zu verdanken, daß es hierzulande seit langem eine große Zahl von Institutionen gibt, die sich der gewerblichen Ausbildung annehmen, dass das staatliche Schulsystem und die für das praktische Lernen verantwortlichen Betriebe eng miteinander kooperieren, daß sie den Erfolg der Auszubildenden und Gesellen planen und steuern und deren wirtschaftliche und soziale Sicherung gewährleisten? Seit wann gibt es den Lehrling, der auf der Höhe des jeweils aktuellen, sich schnell entfaltenden theoretischen Wissens und praktischen Könnens unterwiesen wird? Setzte sich die effiziente Ausbildung im gewerblich-technischen Bereich zunächst nur in wenigen Berufen und fortgeschrittenen Regionen durch oder war sie in allen Berufssparten und Wirtschaftsräumen bald gleichermaßen erfolgreich? Wo liegen die historischen Wurzeln jener vom Gesetzgeber initiierten, durch staatliche und korporative Organe überwachten, aber von den politischen Bewegungen getriebenen Institutionen, die seit langem schon als ein vielbewundertes Alleinstellungsmerkmal des deutschen Bildungswesens gelten? Sucht man nach den Bedingungen der zukunftweisenden Verrechtlichung des Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisses im Handwerk des 19. Jahrhunderts, so findet man die Ursprünge einerseits im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zunftrecht, andererseits in einer Vielzahl von Versuchen der Neuschöpfung effizienten Gewerbe-, Arbeits- und Sozialrechts. Dem tastenden, durch vielfaches Scheitern gekennzeichneten Beginnen lag ein Politisierungsprozeß zugrunde, wie er auch für andere Lebensbereiche im 19. Jahrhundert typisch geworden ist. Nimmt man die heute erreichte Qualität beruflicher Bildung und sozialer Sicherung zum point de 1

BT-Drs. 17/10986

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I. Einleitung

vue, so mögen das gegenwärtige Bildungs- und Ausbildungssystem wie auch die aktuellen Standards des Arbeits- und Sozialrechts als Folgen zwangsläufiger Entwicklungen erscheinen. Schon der Vergleich mit den Nachbarländern zeigt aber, daß die heutigen Institutionen in Deutschland und die ihnen zugrundeliegenden Rechtsregeln keineswegs alternativlos sind. Gerade ihre unleugbare, vielbewunderte Funktionalität weckt das Interesse an den spezifischen Entstehensbedingungen dieser früh initiierten, doch für lange Zeit wenig erfolgreichen Einrichtungen und des zugehörigen Normengeflechts. Die beginnende Verrechtlichung der Ausbildung und sozialen Sicherung der Gesellen und Lehrlinge im das „Zeitalter der Gewerbefreiheit“ geheißenen Jahrhundert ebenso wie die ursächlichen Interessen und die Wandlungsprozesse säkularen Ausmaßes bloßzulegen ist das Thema der vorliegenden Untersuchung. Die an dieser Stelle üblicherweise folgende Einordnung des Gegenstandes in die Konzepte und Ansätze der aktuellen Forschung kann entfallen, da hier die Einleitung zum ersten Band der Darstellung stets mitzulesen ist. Dort finden sich die zum Verständnis des Themas unerlässlichen Ausführungen zur Gewerbefreiheit und Industrialisierung als Forschungsprobleme der Rechtsgeschichte, aber auch die konkrete Formulierung des Forschungsziels des gesamten Vorhabens, die Eingrenzung des Forschungsgebietes und des Untersuchungszeitraums, Hinweise zur Quellenlage und die obligate Erläuterung des methodischen Vorgehens. So bleibt hier nur mehr übrig, die den Gang der Forschung zum unselbständigen Handwerk im Westfalen des 19. Jahrhunderts bestimmenden, zentralen Fragestellungen zu formulieren: –

Ein Gemeinplatz ist es, daß die Qualität praktischer und theoretischer Ausbildung im Handwerk für die Wirtschaftsentwicklung des sich industrialisierenden Deutschlands kaum überschätzt werden kann. Deshalb darf nicht ungeklärt bleiben, inwieweit Lehrlinge und Gesellen die ihnen durch die Rechtsordnung und Verwaltung eröffneten Chancen nutzten. – Größtes Interesse bringt die sozialhistorische Forschung seit längerem schon dem Usus des Gesellenwanderns entgegen. Gleichwohl sind die Vorschriften, welche diese Gewohnheit auf vielfältige Weise einhegten, bislang völlig unbeachtet geblieben. Diesem Mangel abzuhelfen ist ein weiteres Ziel der vorliegenden Untersuchung. – Ebenso unverzichtbar erscheint es, die Suche nach einem tragfähigen System sozialer Sicherheit für die Gesellen im Zeitalter der Gewerbefreiheit zu schildern. Durch diese Fragestellungen geleitet, mag die vorliegende Untersuchung ein Beispiel dafür geben, wie die Rechtsgeschichtswissenschaft, indem sie aktuelle Ansätze und Methoden der historischen Forschung aufnimmt, Erhellendes zum Werden des modernen Staates als Gesetzgebungsstaat beizutragen weiß.

II. DIE GEWERBLICHE AUSBILDUNG A. DIE HANDWERKSLEHRE 1. Die Ausbildung der Lehrlinge bis 1845 a. Einleitung Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Zunftordnung mit ihrem System öffentlich-rechtlicher Normen der Ausbildung im Handwerk die Struktur gegeben. Mit dem Übergang zur Gewerbefreiheit trat an die Stelle der merkwürdigen Dichotomie von genossenschaftlicher Libertät einer- und der Gebärde autoritärer Omnipotenz des Staates in der gewerblichen Wirtschaft andererseits die liberale Haltung der Nichtintervention. Das tradierte Ausbildungssystem ging in diesem wahrhaft revolutionären Prozess unter. Zunächst entstand, nachdem die seit dem Mittelalter tradierte und bis dahin kaum modifizierte Art der Handwerkslehre beseitigt worden war, in Westfalen ein Vakuum in der gewerblichen Ausbildung. Denn mit dem Kosmos der Zunft waren auch deren Rechtsregeln verschwunden, und an die Stelle des außer Kraft gesetzten Handwerksrechts des ALR hatte die französische Fremdherrschaft nichts Vergleichbares gesetzt. Es waren gleich zwei Ursachen, die eine neue, klare Ordnung des Lehrlingswesens und der handwerklichen Berufsbildung verhinderten: Zum einen sollte die liberale, dem Gedankengut der Aufklärung entsprossene Vorstellung von der Freiheit des Menschen auch in der Wirtschaft durchgesetzt werden. Wollte man die natürliche Freiheit der Person verwirklichen, durfte das autoritäre handwerkliche Lehrverhältnis, das die Zeitgenossen aus der Zunftzeit noch lebhaft vor Augen hatten, nicht wiedererstehen.1 Zum anderen war schon der Begriff einer eigentlichen Berufserziehung für die Reformer des preußischen Bildungswesens denkunmöglich, weil er von ihrem engen, neuhumanistischen Standpunkt aus ein Widerspruch in sich sein musste.2 Die Entwicklung blieb, wie man weiß, nicht bei den lebensfremden Überzeugungen des extremen Liberalismus stehen. Insbesondere die Erfahrungen mit den nicht selten erschreckenden Lebensumständen und der Abhängigkeit der Industriearbeiterschaft hatten zur Folge, dass die konsequent liberale Grundhaltung Preußens in wirtschaftspolitischen Fragen einer positiveren Wertung mancher Einrichtungen der vergangenen Zunftordnung wich und allmählich mit der Einsicht verbunden wurde, dass auf dem Gebiet der handwerklichen Ausbildung keine völlige Vertragsfreiheit bestehen dürfe. Das Kleingewerbe bot sich als Versuchsfeld, auf dem sich die Anwendbarkeit neuer Ideen erproben ließ, geradezu an. Denn der handwerklichen Berufserziehung fiel auf dem langen Weg zu neuen Wirtschafts- 1 2

Typischer Vertreter der liberalen Auffassung ist Schmalz (1823), S. 313–320 Vgl. dazu Abraham (1955), S. 9.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

und Lebensformen unzweifelhaft eine Schlüsselrolle zu. Konsequent – und deutscher Tradition entsprechend – führten diese Überlegungen zum Ruf nach dem Gesetzgeber. Der Staat sollte einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der es ermöglichte, die Lehrkontrakte durch die Polizeibehörden zu kontrollieren und der die menschenwürdige Behandlung der Lehrlinge, ihre ordnungsgemäße Anleitung und die Möglichkeit zum Besuch der Handwerksschule gewährleisten half.3 Innerhalb weniger Jahrzehnte vollzog sich auf dem Felde der Berufserziehung in der Tat ein Wandel vom aufgeklärten Absolutismus mit seinen wohlmeinenden, aber bevormundenden und bis in Einzelheiten reichenden Regelungen, wie sie das ALR mit seiner Zunftordnung vorsah, zu einem – als Reaktion auf das traditionelle Zwangssystem – extremen Liberalismus und dann schließlich zu der zukunftweisenden Überzeugung, dass die gewerbliche Ausbildung am besten gewährleistet sei durch die Wiederbelebung einer förmlichen Handwerkslehre, die man sich durch einen gesetzlichen Rahmen gehalten und von berufsständischen Organisationen beaufsichtigt vorstellte. Die Reanimierung der tradierten Ordnung war von außerordentlicher Bedeutung für die gesamte gewerbliche Wirtschaft. Sie hatte nämlich zur Folge, dass die Berufsausbildung für diesen zentralen und schnell wachsenden Bereich ihren eigentlichen Halt bis tief ins 19. Jahrhundert im Handwerk behielt und eine industrietypische Lehrzeit zunächst nicht entstand.4 Die geistigen, sozialen und rechtlichen Veränderungen, die das Handwerk durchleben musste, um sich aus der spätmittelalterlichen Verfasstheit zu lösen und den Anschluss an die allmählich dynamischer werdende politische und ökonomische Entwicklung und an die neuen Vorstellungen von der Würde und Freiheit des Menschen zu finden, sind stets vor dem Hintergrund dieser in dauernder Entwicklung begriffenen, sich gegenseitig überschneidenden und durchdringenden geistigen Strömungen, dem Wechselspiel von Liberalismus und Reaktion zumal, das die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, zu sehen. b. Die Regelungen des ALR Neue Rechtsquellen zum Lehrlingswesen sprudelten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur recht dürftig.5 Von den einstmals zahlreichen Vorschriften zur gewerblichen Ausbildung waren nach der Wiederherstellung der preußischen Herrschaft in Westfalen nur die einschlägigen Bestimmungen des ALR (ALR I 8 § 278 ff.) wieder in Kraft gesetzt worden, soweit sie nicht die aufgehobene Zunftverfassung betrafen. Durch die Abwesenheit jedweder Zunftordnung in dieser preußischen Provinz (mit Ausnahme Wittgensteins) hatte der Begriff des Lehrlings dort

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Diese modifizierte Ansicht wurde in der Literatur durch Rau (1828), S. 185 f. vertreten. S. Blankertz (1969), S. 92 Es ist hier nur das Ergänzungsgesetz vom 7.9.1811, das zum preußischen Edikt von 1810 erlassen wurde, zu nennen; dieses bestimmte, dass jeder Inhaber eines Gewerbescheines, auch wenn er nicht Mitglied einer Zunft war, Lehrlinge ausbilden konnte. Die Vorschrift trat in Westfalen aber nicht in Kraft.

A. Die Handwerkslehre

15

aber seine alte Klarheit verloren.6 Er ließ sich nicht mehr exakt von dem des Dienstboten oder Gesellen abgrenzen.7 Zwischen Lehrlingen und Meistern bestand ein Privatrechtsverhältnis, dessen Inhalt durch die §§ 292 ff. ALR II 8 bestimmt wurde.8 Der Meister blieb verpflichtet, dem Lehrling die nötigen Kenntnisse zu verschaffen (§ 292), ihn zu guten Sitten und zum Besuch des öffentlichen Gottesdienstes anzuhalten (§ 293) und, falls erforderlich, für den nötigen Unterricht im Lesen, Schreiben und in der Religionslehre (§ 294) Sorge zu tragen. Ihm stand ein mäßiges Züchtigungsrecht zu, dass in seiner Abwesenheit auf den ersten Gesellen überging (§§ 298–302). Der Lehrling musste den Anforderungen des Lehrherrn Folge leisten (§ 295); zu Gesindediensten war er nur insoweit verpflichtet, als dadurch der Ausbildungserfolg nicht verhindert wurde (§ 297). Brach der Lehrling ohne berechtigte Ursache die Lehre ab, so konnte der Meister das Lehrgeld noch bis zum Ende des laufenden Jahres verlangen (§ 308). c. Unklarheit der Rechtsverhältnisse Diese, dem wohlmeinend-bevormundenden Geist des aufgeklärten Gesetzgebers entsprungenen Vorschriften waren nach den Jahren der französischen Fremdherrschaft, die solche Regelungen nicht gekannt hatte, im Bewusstsein der Westfalen nicht mehr verankert. Die Aufhebung der Zünfte hatte bei Meistern und Lehrlingen die Vorstellung genährt, das Lehrverhältnis schwebe, da konkrete, schriftliche Privat-Vereinbarungen gewöhnlich fehlten,9 in einem rechtsfreien Raum. In manchen Handwerken, wie z. B. bei Malern und Glasern, verzichtete man seit der Aufhebung der Zünfte auf die traditionelle Lehre.10 Solche Beispiele lockerten natürlich insgesamt die strenge Bindung an den Lehrvertrag. Der bloß privatrechtliche Charakter des Ausbildungsverhältnisses gab den Meistern nicht länger die Möglichkeit, den Kontraktbruch zu verhindern, so dass Lehrlinge nicht nur bei schlechter Behandlung die Lehre abbrachen; dies geschah nunmehr auch schon dann, wenn sie glaubten, genug gelernt zu haben, um sich selbständig machen bzw. anderswo für Gesellenlohn arbeiten zu können. Die natürliche Folge war, dass sich die Streitigkeiten 6 Zu der Ausnahme des Kreises Wittgenstein-Berleburg s. u. 7 So aber Abraham (1955), S. 143. Die Folge war, dass die Lehrlinge in der preußischen Statistik nicht getrennt von den Gesellen geführt werden konnten. 8 In Ostelbien blieben für das Lehrlingswesen neben den Bestimmungen des ALR auch noch weitere öffentlich-rechtliche Vorschriften in Kraft. Nach §§ 11 und 12 des Gesetzes v. 7.9.1811 mussten die Lehrlinge bei der Polizei angemeldet werden. Überall dort, wo die Korporationen, wie in Wittgenstein, unter Aufsicht der Polizeibehörden fortbestanden, behielt das Ausbildungsverhältnis seinen öffentlich-rechtlichen Charakter. Zur rechtlichen Situation der Lehrlinge zur Zunftzeit s. z. B. Dirke (1914); Bruns (1938); Riedl (1948); Landolt (1977); Göttmann (1977); Schwarzlmüller (1979); Schwarzlmüller (1984), S. 65–77. Auf den ganz unzureichenden Forschungsstand zur Geschichte der Gesellen und Lehrlinge im 19. Jahrhundert hat Reinighaus schon 1997 hingewiesen; s. Reininghaus (1997), S. 14. 9 So Schreiben v. 27.7.1832, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B III 1 Nr. 6, Bd. 1, fol. 122–127. 10 S. Schreiben der Handwerker der Stadt Münster an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 215.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

aus dem Lehrverhältnis ganz unverhältnismäßig häuften.11 Der Bürgermeister der Stadt Beckum, der zu seinem Verdruss oft mit der Schlichtung der unerquicklichen arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen befasst war, klagte, dass, nachdem „das Amtsrecht aufgehoben, weder der Meister noch der Geselle und Lehrling seine Pflicht mehr kennt“.12 Wurden die Lehrlinge geprügelt oder ständig zu häuslichen und landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen, so kündigten sie den Vertrag auf, ohne zu wissen, dass sie u. U. nach II 8 § 308 ALR für das gesamte noch laufende Jahr Lehrgeld zahlen und ggf. Schadensersatz leisten mussten. Die Meister aber glaubten sich angesichts des häufigen Abbruchs der Lehre „ganz den Launen der Lehrlinge preisgegeben“.13 Sie verlangten immer wieder nach polizeilichem Zwang zur Rückführung entlaufener Auszubildender14 sowie nach der Einführung von Arbeitsbüchern für Jugendliche und nach einer Gesellenprüfung15- Maßnahmen, die der Fluktuation der Lehrlinge entgegenwirken sollten. Nach der Aufhebung der Zünfte war die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den eindeutig dem Handwerk zuzurechnenden Meistern und ihren Lehrlingen wegen Heranziehung zu häuslichen Arbeiten, schlechter Behandlung oder anderen Misshelligkeiten, die das Ausbildungsverhältnis im Handwerk nicht selten belasteten, auf die Polizeibehörden übergegangen.16 Gewöhnlich fand sich aber für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in den allg. Gesetzen kein Rechtsgrund. Der von den Meistern ständig erhobene Einwand, dass das Lehrverhältnis nach der Gesinde-Ordnung zu beurteilen und die Lehrlinge daher „wie gemeines Gesinde“17 durch polizeiliche Zwangsmaßregeln zu ihrem Lehrherrn zurückzuführen seien, entbehrte der Rechtsgrundlage, führte aber zuweilen doch zum Erfolg, wenn nämlich auch den Magistraten, die die Streitigkeiten zwischen Meistern und Lehrlingen zu entscheiden hatten, die nötigen Rechtskenntnisse fehlten. So geschah es im Falle des Weberlehrlings Bernhard Heitfeld aus Beckum, der seinem Meister weggelaufen war, weil er, statt sein Handwerk zu erlernen, ständig schwere Arbeiten wie das Tragen von Säcken verrichten musste. Der Magistrat der Stadt, bei dessen Entscheidung zwei Webermeister mitwirkten, befand, dass der kujonierte Junge zu seinem Meister zurückkehren müsse.18 Als dieser sich weigerte, wurde ihm durch den Polizeidiener eröffnet, dass er, falls er sich nicht sofort zu dem Meister verfüge, „… dorthin abgeführt und allenfalls durch körperliche Züchtigung dazu angehalten werden soll“.19 Dass solche Anordnungen keine Einzelfälle waren, zeigen ganz 11

Ähnliches galt für Preußen allgemein; vgl. die zahlreichen Beschwerden über die vorzeitige Beendigung von Lehrverhältnissen in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B III 1 Nr. 6, Bd. 2. 12 Schreiben v. 23.2.1826, Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499 (Acta spec., betr. Streitigkeiten zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen). 13 Protokoll v. 3.9.1826, in: Stadtarchiv Lippstadt Nr. 2971. 14 S. Anm. 11. 15 Vgl. Schöfer (1981), S. 43. 16 S. Deter (1987), S. 127, 128. 17 Schreiben v. 27.7.1832, GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B III 1 Nr. 6, Bd. 1, fol. 122–127. 18 Erkenntnis v. 1.2.1826, Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. 19 Vermerk v. 1.8.1826, Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499.

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ähnliche Vorfälle aus anderen preußischen Provinzen.20 Die Tendenz der Entscheidungen war bei der parteiischen Zusammensetzung des Spruchkörpers jedenfalls nicht eben lehrlingsfreundlich. Die wenig eindeutige Zuständigkeitsregelung beabsichtigte die Regierung Minden zu nutzen, um alle Streitigkeiten aus dem Lehrverhältnis mittels PolizeiVerordnung generell den Polizeibehörden zuzuweisen. Sie versprach sich davon eine Beschleunigung der Verfahren und die unverzügliche Rückführung der zahlreichen entlaufenen Lehrlinge. Das Ansinnen lehnte der in Berlin zuständige Geheimrat Beuth aber unter Hinweis auf den rein privatrechtlichen Charakter des Lehrverhältnisses in Westfalen ab.21 Zugleich wurde durch Ministerialreskript v. 13.8.1833 nochmals ausdrücklich bestimmt, dass das Rechtsverhältnis zwischen Meistern und Gesellen sowie Lehrlingen „überall, wo Zünfte und Innungen, welche als Corporationen unter Aufsicht der Polizeibehörden stehen, nicht mehr existieren, als ein Privatrechtsverhältnis zu betrachten“ sei.22 Die Entscheidung über alle vorkommenden Streitigkeiten aus diesem Bereich sollte den „richterlichen Behörden“ obliegen. Die örtlichen Polizeibehörden wurden deshalb angewiesen, solche Verfahren künftig an den ordentlichen Richter zu verweisen. Diese Neuregelung begründete der Oberpräsident damit, dass die in der Gesindeordnung bestimmte Zuweisung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten an die Polizeibehörden nicht auf die Rechtsverhältnisse zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen übertragen werden könne. Das diffuse Bild allgemeiner Orientierungslosigkeit, dass die Handwerkerausbildung in Westfalen nach Aufhebung der Zunftverfassung bot, wurde nur punktuell durch straffere Strukturen aufgehellt. Im Kreis Wittgenstein, wo die Zunftprivilegien weiterhin geltendes Recht waren, hatten sich Meister und Lehrlinge noch bis 1845 den tradierten Normen – und damit auch den hergebrachten Zwangsmaßnahmen – der handwerklichen Berufsausbildung zu fügen. Dort war dem verbreitetem Missbrauch des Lehrverhältnisses und der Kujonierung der Jungen durch wenig irenische Meister – wenigstens der Rechtslage nach – ebenso eine Grenze gesetzt wie dem willkürlichen Entlaufen der Lehrlinge. In einigen Städten suchten die Meister die Regelungslücken, die durch die Einführung der Gewerbefreiheit entstanden waren, auch notdürftig durch privatrechtliche Vereinbarungen der Gewerksgenossen zu schließen. So kamen die Angehörigen des Bielefelder Zimmergewerbes 1826 überein, dass kein Meister mehr als drei Lehrburschen gleichzeitig halten dürfe und die Lehrlinge erst nach mindestens 2 1/2jähriger Lehrzeit sowie bestandener Prüfung durch den Altmeister im Beisein des gewählten Gewerksbeisitzers förmlich losgesprochen werden sollten.23 20 GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B III 1 Nr. 6, Bd. 2, fol. 64, 95, 131. 21 Schreiben an die Reg. Minden v. 13.8.1833, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B I Nr. 17, Bd. 2, fol. 45; ebenso in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, B III 1 Nr. 6, Bd. 1, fol. 181 (Ausn. Wittgenstein). 22 Bekanntmachung v. 26.8.1833, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 13.9.1833, Nr. 493, S. 241. 23 Nachrichten über den im Jahre 1826 hierselbst unter dem Namen „Zimmergewerk“ errichteten Verein v. 31.10.1852, in: Stadtarchiv Minden, F 206.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Die 1839 eingeführte Beschränkung der Arbeitszeit für 9- bis 16-jährige auf 10 Stunden täglich,24 welche in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt zu werden verdient, entsprang sozial- und militärpolitischen Überlegungen und diente vor allem der Beseitigung eklatanter Missstände in den Industriebetrieben. d. Das Lehrgeld und die Dauer der Lehrzeit Nur eines der zahlreichen Hindernisse, die den Zugang zum Handwerk zur Zunftzeit erschwert hatten, blieb auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit erhalten: Es wurde weiterhin Lehrgeld gefordert. Die Beiträge, die die Eltern der Auszubildenden zahlen mussten, schwankten zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen den einzelnen Gewerben außerordentlich. Solche Unterschiede hatte auch schon das Alte Handwerk gekannt. Doch sie vergrößerten sich nach der Einführung der Gewerbefreiheit stark, da an die Stelle der durch das Herkommen bestimmten festen Sätze, die zuvor gegolten hatten, die freie Vereinbarung getreten war. Karl Ditt hat vermutet, dass Kinder aus echten Unterschichtfamilien auf diesem neuen Markt nicht mitbieten konnten und deshalb von vornherein schlechtere Chancen gehabt hätten, ins Handwerk aufzusteigen.25 Der klassische Selektionsmechanismus, den das Lehrgeld nach Auffassung der Zunftkritiker darstellte, wäre demnach auch noch in der Zeit der Gewerbefreiheit wirksam gewesen. Einen Überblick über die tatsächliche Situation in Westfalen zu bekommen ist schwierig, da die Zahlungen, wie bereits festgestellt, frei vereinbart wurden und sich dementsprechend gravierende Unterschiede auch innerhalb der einzelnen Gewerke einstellten bzw. unverändert fortbestanden.2627 Tabelle 1: Lehrgeld bei dreijähriger Lehrzeit vor bzw. nach Einführung der Gewerbefreiheit in Rtl. Landgemeinde Heiden26

Stadt Freckenhorst27

1810

1819

1810

1819

Schuhmacher

10

12

10–12

bis zu 6

Schneider

--

--

10–12

bis zu 6

Weber

6

8

Zimmermeister

8

8

kein Lehrgeld

kein Lehrgeld

Tischler

--

--

20–25

unbestimmt

20–25

weit weniger

Rade- u. Stellmacher

8

8

Böttcher u. Kleinbinder

10

10

Drechsler

10

10

Holzschuhmacher

12

12

Schmiede

12

12

24 25 26 27

unbestimmt 10–15

unbestimmt

S. Blankertz (1969), S. 93. So Ditt (1980), S. 298. Quelle: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. Quelle: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458; Freckenhorst war eine typische münsterländische Kleinstadt mit ausgeprägt ländlichem Charakter.

A. Die Handwerkslehre

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Aussagekräftiger noch als der Vergleich zwischen einer Landgemeinde und einer Kleinstadt ist der Vergleich der Höhe des Lehrgeldes zwischen Landgemeinden und veritablen Städten: In der Mittelstadt Paderborn, die die Funktion eines Oberzentrums für das gesamte gleichnamige Hochstift wahrnahm, betrug das Lehrgeld, welches auch hier nicht mehr nach dem Herkommen festgesetzt, sondern individuell ausgehandelt wurde, im Jahre 1819 im Durchschnitt 30 Reichstaler28 – ein Umstand, der sehr deutlich den auch nach der Beseitigung des Zunftwesens fortbestehenden Unterschied zwischen dem Handwerk der Dörfer und Kleinstädte einer- und dem der Mittelstädte andererseits dokumentiert. Die wenigen vorliegenden Schätzungen lassen vermuten, dass sich die Forderungen der Meister im Vergleich zur Zunftzeit zumeist nicht erhöhten, sondern unverändert blieben oder aber sich ermäßigten. Jedenfalls wurde die wirtschaftliche Situation der Lehrlinge auch dadurch erleichtert, dass sie nicht länger die fühlbaren Abgaben an die Zunft zu leisten hatten. Den Eltern mittelloser Jungen boten sich im übrigen verschiedene Wege, knappes Bargeld einzusparen: Es war nicht nur überall möglich, sondern an manchen Orten auch üblich, kein Lehrgeld zu zahlen und stattdessen die Lehrzeit auf bis zu vier Jahre auszudehnen.29 An dieser Regelung, die allerdings nicht als typisch bezeichnet werden kann, waren nicht nur die Lehrlinge, sondern ebenso auch die Meister interessiert: Da sich, wie bereits festgestellt, fast jeder Gewerbetreibende als Nebenerwerbslandwirt betätigte, erwarteten die Ausbilder in aller Regel von dem Lehrling Mitarbeit auf dem Felde. Diese Tätigkeit, die während des Sommers im allgemeinen mehr Zeit in Anspruch nahm als die Arbeit im Gewerbe, wurde dann als Äquivalent für das fehlende Lehrgeld betrachtet. Gelegentlich beobachtete ungewöhnlich lange Lehrzeiten und das häufig beklagte Ausnutzen der Lehrlinge als billige Arbeitskräfte auch nach Einführung der Gewerbefreiheit haben nicht zuletzt in solchen Vereinbarungen ihren Grund. Eine andere Finanzierungsmöglichkeit, die sich in den Städten nachweisen lässt, war die Zahlung des Lehrgeldes durch die Armenkassen. Zwischen 1819 und 1833 wurden in Paderborn 31 Lehrlinge auf Kosten der öffentlichen Sozialfürsorge ausgebildet. Die Beträge, die für Lehrgeld, Kleidungsgeld, Ein- und Ausschreibgebühren30 sowie für das nötige Handwerkszeug gezahlt wurden, betrugen zwischen 10 und 38 Talern pro Lehrling.31 Die Auszubildenden verpflichteten sich schriftlich, diese Leistungen an die Armenkasse zurückzuerstatten, sobald sie dazu imstande seien. Auf ähnliche Weise wurde auch den im Siegener Hospital, dem Waisen- und 28 Stadtarchiv Paderborn Nr. 516 d. Ob die Bauhandwerkslehrlinge daneben, wie in den Küstenstädten, einen geringen Tagelohn erhielten, ist unklar. In Paderborn mit seinen großen Bauhandwerksbetrieben dürften die Gesellen jedenfalls dieser Berufe statt Kost und Wohnung im Meisterhaus Tagelohn erhalten haben; dies ist für zahlreichen Städte schon des 18. Jahrhunderts belegt; s. Grießinger/Reith (1986), S. 149–199 (159). 29 So beispielsweise in der westmünsterländischen Landgemeinde Heiden; s. STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. 30 Diese Gebühren wurden in Paderborn von der vereinigten Meisterschaft ganz wie zur Zunftzeit und im Widerspruch zum Geist der Gewerbefreiheit weiterhin verlangt; vgl. auch Schmigalla (1950), S. 242 f. Für das 18. Jahrhundert s. Stratmann (1967). 31 Stadtarchiv Paderborn, Nr. 516 d.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Armenhaus der Stadt, aufgenommenen Jungen die Erlernung eines Handwerks ermöglicht.32 Für jüdische Lehrlinge übernahm der im Jahre 1825 gegründete „Verein zur Beförderung der Handwerker unter den Juden“ die Zahlung des Lehrgeldes; gewöhnlich veranlasste diese Stiftung des Münsteraners Dr. Haindorf die Gemeinden, die Kleidungskosten für bedürftige jüdische Jungen zu übernehmen.33 Den Mittagstisch bekamen sie unentgeltlich von Glaubensgenossen. Die Stipendiaten des Vereins verpflichteten sich, nachdem sie sich selbständig gemacht hatten, entweder selbst einen jüdischen Lehrling unentgeltlich anzunehmen oder aber die Ausbildungskosten in einem Zeitraum von 8 Jahren an den Verein zurückzuerstatten. Für die Ausbildung eines taubstummen Lehrlings, die dem Meister naturgemäß besonders viel Zeit, Aufmerksamkeit und Verständnis abverlangte, erhielt der Lehrherr schon zu Beginn der 20er Jahre 50 Rtl. aus öffentlichen Mitteln.34 Lehrlinge, die nach der Gewohnheit ihres Handwerks vier bis fünf Jahre bei ihrem Meister aushalten mussten, wurden, wenn der Meister geldbedürftig und die Eltern im Stande waren, 40–60 Tl. Zulage zu zahlen, schon nach zwei Jahren zum Gesellen erklärt.35 Sieht man von den geschilderten Sonderfällen ab, darf man generell wohl davon ausgehen, dass sich die Lehrzeit infolge der Einführung der Gewerbefreiheit – analog der Reduzierung des Lehrgeldes – eher verkürzte, zumal sich die Lehrlinge relativ problemlos aus dem Vertragsverhältnis befreien konnten36 und von dieser Möglichkeit, wie bereits dargelegt, auch Gebrauch machten. Die Verkürzung der Lehrjahre hatte noch eine andere, für die ganz amilitärischen Bewohner der ehemaligen Krummstablande Westfalens besonders schmerzliche Ursache: Die Lehrlinge wurden, wenn sie das dienstpflichtige Alter erreicht hatten, bevor die Lehrjahre beendet waren, im nunmehr preußischen Westfalen „ohne Nachsicht“ zum Militär ausgehoben.37 Der leichte Zugang zum Handwerk, die verkürzte Lehrzeit, der Zustrom von Lehrlingen proletarischer Herkunft mit geringem Bildungsniveau, ein Konglomerat ganz verschiedener Wirkkräfte also, setze eine Entwicklung in Gang, die schließlich zur Zerstörung der handwerklichen Großfamilie führte. Dazu trug nicht zuletzt der Umstand bei, dass in der Phase der starken Zunahme der Zahl der Lehrlinge und Gesellen durchaus auch ungelernte Kräfte im Handwerk Arbeit und Brot fanden und als Gesellen bezeichnet wurden. Insbesondere im Baugewerbe beschäftigten die Meister häufig auch ungelernte Tagelöhner.

Trainer (1957), S. 77. 13. und 14. Jahresbericht v. A. Haindorf, Münster 1842, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C Nr. 6. 34 Mehrere Beispiele finden sich im Stadtarchiv Soest Abt. B XIX g 8. 35 Bericht des Schultheißen v. Assinghausen v. 23.1.1819, STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1388. 36 Vgl. z. B. Protokoll v. 3.9.1826, Stadtarchiv Lippstadt Nr. 2971; Schreiben v. 23.8.1836, Kreisarchiv Warendorf, Stadt Ahlen, B 140; zu den gelegentlich auftretenden rechtlichen Schwierigkeiten, die sich aus dem Abbruch der Lehre ergeben konnten, s. u., c. „Die Rechtswirklichkeit“. 37 S. Stellungnahme des Bürgermeisters v. Legden v. 12.1.1819, in: STAM, Krs. Ahaus Nr. 2063; Stellungnahme des Bürgermeisters von Ramstorf v. 4.2.1820 in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. 32 33

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e. Alte und neue Missstände Die Ungeregeltheit der Handwerkslehre, die durch die skizzierten Bestimmungen allenfalls dürftig modifiziert wurde, rief schon frühzeitig Kritiker auf den Plan. So schrieb der Staatswissenschaftler C. H. Rau 1815 im „Hannoverschen Magazin“, die freie Konkurrenz habe auf die „Verbreitung und Erhaltung guter Gewerbskenntnisse“ keinen günstigen Einfluss. Der Lehrherr werde dem Lehrling seine wichtigsten Erfahrungen nicht vermitteln, da er fürchten müsse, dass dieser wenig später am selben Ort einen eigenen Gewerbebetrieb eröffne und als sein unmittelbarer Konkurrent auftrete.38 Der Berliner Stadtrat Dracke klagte 1818 in einer Beschwerdeschrift an den König, dass nicht allein Gesellen ohne berufliche Erfahrung und ohne gefestigten Charakter, sondern sogar Lehrlinge, die weder an Ordnung gewöhnt seien noch ihr Gewerbe hinreichend beherrschten, anfingen, ein Handwerk selbständig zu betreiben.39 Deutlicher noch ließ der allseits bekannte Reformgegner Friedrich August Ludwig von der Marwitz seinem Unwillen gegenüber der Zurückhaltung des Gesetzgebers freien Lauf: „Der Meister ward der Knecht seiner Gesellen. Er hatte keine Mittel mehr, die faulen und liederlichen zu zwingen; sie liefen von einem Meister zum anderen und wanderten bettelnd im Lande umher, obgleich es allenthalben Arbeit für sie gegeben hätte, wenn sie nur hätten arbeiten wollen …“.40 Die im allgemeinen nur durch die wenigen noch anwendbaren Bestimmungen des ALR geregelte Ausbildung im Handwerk begünstigte natürlich noch andere als die von den zeitgenössischen Kritikern der Gewerbefreiheit drastisch beklagten Missstände. So wurden die Hilfskräfte wohl in noch größerem Umfang als zur Zunftzeit zu berufsfremden Tätigkeiten herangezogen, eine Gewohnheit, die den wesentlichsten und andauernsten Streitpunkt zwischen den angesichts des Überangebots an Arbeitskräften präpotenten Meistern und den Lehrlingen bildete. Welchen Umfang dieser Missbrauch annahm, hing natürlich vom Einzelfall ab. Der allseits beklagte Mangel an Ausbildung war keineswegs nur typisch für die Landhandwerker. Fast alle Gewerbetreibenden befassten sich, sieht man von der Provinzialhauptstadt Münster einmal ab, in den westfälischen Städten und Gemeinden neben ihrem Hauptberuf mit der Landwirtschaft. So traf auch die Masse der Lehrlinge in den typischen, nicht ohne Grund so genannten Ackerbürger-Städten der Provinz die unausweichliche Pflicht, der Meisterfamilie in Haus und Hof, Feld und Stall zur Hand zu gehen. Auch die Gesellen wurden bei der Verrichtung der berufsfremden Arbeiten nicht ausgenommen. Bedenkt man, dass die vollkommene Beherrschung vieler Handwerke damals die ausdauernde, womöglich lebenslange 38 C. H. Rau, Versuch einer Beantwortung der Preisfrage: Wie können die Nachteile, welche nach Aufhebung der Zünfte entstehen, verhütet werden? Eine von der Kgl. Societät der Wissenschaften zu Göttingen gekrönte Preisschrift, in: Hannoversches Magazin, 1.–9. Stück, 1815, zitiert nach Schmigalla (1950), S. 37. 39 Beschwerdeschrift des Berliner Stadtrates Dracke an den König v. 27.4.1818, vgl. Schmigalla (1950), S. 43. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dem Lehrling sei in der Lehre nichts erklärt worden; stattdessen habe er nur durch Absehen und Nachahmen lernen können; vgl. für viele Schlumbohm (1983), S. 225 m. w. Nachw. 40 Zitiert nach Schmigalla (1950), S. 47.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Beschäftigung mit dieser Tätigkeit voraussetzte,41 nimmt es nicht wunder, dass Professionisten, die einen großen Teil ihrer Lehr- und Gesellenzeit auf dem Acker zugebracht hatten, jede besondere berufliche Qualifikation abging. Aus Soest, einer der größten westfälischen Städte jener Zeit, wird denn auch Anfang der zwanziger Jahre berichtet, dort treffe man, „wie gewöhnlich in Ackerbau treibenden Städten“, Handwerker an, „deren Arbeiten Geschick und Geschmack fehlt“.42 Das ganze Ausmaß der ausbildungsfremden Arbeiten lässt sich erahnen, wenn man eine Bestimmung der kurhessischen Zunftordnung v. 5.3.1816, die gerade das Ziel hatte, die Ausnutzung der Arbeitskraft der Lehrlinge zu verhindern, bedenkt: „Solche häusliche und Feldarbeit, wozu der Meister auch seine eigenen Kinder gebrauchen würde, kann zwar durch den Lehrling verrichtet werden, jedoch müssen im Winter wenigstens zwei Drittel und im Sommer die Hälfte der Arbeitszeit dem Handwerk gewidmet sein“.43 Die Feststellung, dass die Ausbildung der Lehrlinge nicht nur kurz, sondern auch unzureichend war44, gilt für das zunftlose Westfalen um so mehr. Nicht zuletzt diese Mängel der Lehre dürften für die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Handwerker im 19. Jahrhunderts kausal gewesen sein. Vor negativen Pauschalurteilen und groben Vereinfachungen, die die Quellen durchaus nahelegen, muss andererseits gewarnt werden. Denn, um ein Beispiel zu nennen, die auch in Westfalen hoch entwickelte Möbelkunst der Zeit des Biedermeier spricht gegen einen allgemeinen Verfall der handwerklichen Fertigkeiten im Zeitalter der Gewerbefreiheit. f. Der Entwurf des Gewerbepolizeigesetzes des Jahres 1837 Die Unzufriedenheit mit der ungeregelten Situation der gewerblichen Ausbildung war nichtsdestoweniger bald derart verbreitet, dass bereits der 1835 vorgelegte erste Entwurf eines Gewerbepolizeigesetzes Bestimmungen für diesen Bereich vorsah.45 Nachdem die Landtage sämtlicher Provinzen und die Regierungen Gutachten zu dem Entwurf eingereicht hatten, arbeitete das Ministerium einen neuen Text aus, der im Jahr 1837 nebst Motiven vorgelegt wurde.46 Es war der Minister v. Brenn selbst, der die insbesondere im ostelbischen Preußen noch vorhandenen Korporationen durch geeignete Vorschriften in der Gewerbeordnung verpflichten wollte, sich um S. Wernet (1959), S. 125. Geck (1825), S. 356. Bovensiepen (1909), S. 27. Wie wenig geschärft das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Lehrlinge noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, zeigt der Kommentar des Autors zu dieser Bestimmung: „Sehr heilsame Verfügung gegen die Ausbeutung des Lehrlings als Dienstmädchen für Alles und sehr geeignet, den Angehörigen des Lehrlings sowie ihm selber eine Garantie für seine tüchtige gewerbliche Ausbildung zu geben.“ 44 S. Hasemann, Art. „Gewerbe“ (1857), S. 389. 45 Zu den Bestimmungen dieses Entwurfs s. Schmigalla (1950), S. 50 ff. 46 Entwurf eines allgemeinen Gewerbe-Polizei-Gesetzes nebst Motiven, Berlin 1837, in: GStA/ PK, I. HA, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, Verwaltung für Handel, Fabriken und Bauwesen, B I 1 Nr. 1a, Bd. 2, fol. 66–134. Zu den Vorschriften des Entwurfs über die Ausbildung der Lehrlinge s. Schmigalla (1950), S. 53 ff.; vgl. auch Simon (1902), S. 172 f.; Roehl (1900), S. 271. 41 42 43

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eine bessere Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen zu bemühen. Zwar stellte sein Entwurf als artige Reverenz an den die preußische Wirtschaftspolitik wie auch das Denken der Beamten noch immer beherrschenden Liberalismus zunächst fest, dass das Ausbildungsverhältnis Gegenstand freier Vereinbarung oder ggf. nach den Bestimmungen des örtlichen Innungsstatuts zu regeln sei. Dann aber folgten so detaillierte Bestimmungen, dass man nicht fehl geht, wenn man den auf die Privatautonomie verweisenden Introitus als bloßes Lippenbekenntnis erachtet. Denn natürlich wusste auch der preußische Gesetzgeber, dass Vereinbarungen der Parteien über die Einzelheiten des Lehrverhältnisses noch völlig unüblich waren. Den Kommunal- bzw. Kreisbehörden wollte man deshalb bereits eine Aufsichtspflicht übertragen. Streitigkeiten aus dem Lehrverhältnis sollten von den Innungsvorstehern unter Mitwirkung eines Angehörigen der Kommunalbehörde oder, falls solche „Vereine“ der Handwerker fehlten, durch die Polizeibehörden entschieden werden (§ 101). Für den Fall der Arbeitsniederlegung oder den Abbruch der Lehre wurde eine mehrtägige Gefängnisstrafe angedroht (§ 103). Den Auszubildenden gegenüber konnte stattdessen auch körperliche Züchtigung angeordnet werden (§ 104). Wie sehr die traditionelle Handwerksausbildung auch im Verständnis des Gesetzgebers damals bereits im Wandel begriffen war, zeigt § 117 des Entwurfs, der die Aufnahme des Lehrlings in den Haushalt des Meisters und dessen Erziehung durch den Lehrherrn keineswegs mehr als selbstverständlich betrachtete, sondern die bloße gewerbliche Ausbildung als alleinigen und ausreichenden Zweck des Lehrvertrages ausdrücklich anerkannte. War ein Lehrverhältnis „alter Art“ vorgesehen, sollte wieder eine geregelte Rezeption vor der Innung bzw. – bei deren Fehlen – vor der Kommunalbehörde stattfinden, um dem Vertrag eine Form im traditionellen Sinne zu geben (§ 118, 128). In Anknüpfung an die einschlägigen Vorschriften der preußischen Generalprivilegien des 18. Jahrhunderts bestimmte der Entwurf außerdem, dass der Lehrling lesen, schreiben und rechnen können sowie in der Glaubens- und Sittenlehre seiner Religion genügende Kenntnisse besitzen müsse. Auf die religiöse Bildung wurde größerer Wert als je zuvor gelegt: „Letzteres ist durch eine Bescheinigung des Religionslehrers darzutun. Nur aus sehr erheblichen Gründen darf einem Mangel hierin nachgesehen werden; der Lehrherr ist alsdann verpflichtet, für die erforderliche Nachhilfe hierin nach den Anordnungen der Orts-Schulbehörde zu sorgen“. Im übrigen orientierten sich die Vorschläge des Entwurfs zum Lehrverhältnis weitgehend an den Normen des ALR, welche die Ausbildung im Zunfthandwerk regelten. Die Dauer der Lehrzeit, die Höhe des Lehrgeldes und die sonstigen Kautelen des Vertrages wurden der Gestaltung der Parteien überlassen. Den Lehrling wollte der Entwurf zur unbedingten Folgsamkeit verpflichten, während der Lehrherr zur ordnungsgemäßen Ausbildung und Erziehung seines Schützlings angehalten wurde: „Bei mangelhafter Unterweisung“ oder „erheblicher Mißhandlung“ besaß der Lehrling ein Kündigungsrecht (§ 124). Der Meister konnte in diesem Fall mit einer Polizeistrafe belegt werden (§ 132). Nach beendeter Lehrzeit sollte eine förmliche Entlassung vor der Innung bzw. der Orts-Kommunal-Behörde nur auf Antrag des Lehrlings stattfinden (§ 126). Die Aushändigung des Entlassungszeugnisses wurde ausdrücklich vom Bestehen einer Prüfung abhängig gemacht (§ 127). Aufnahmen und Entlassungen der Lehrlinge sollten in einem Verzeichnis festgehalten werden.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Mit dieser Regelung der handwerklichen Ausbildung in dem Gesetzentwurf, der so sichtbar an die Ordnung der Handwerkslehre zur Zunftzeit anknüpfte, war nicht weniger als die Beseitigung des schrankenlosen Liberalismus in allen wesentlichen Bereichen der Berufsausbildung intendiert. Die zahlreichen Vertreter dieser damals noch weitgehend unangefochtenen Ideologie huldigten demgegenüber der Auffassung, die berufliche Bildung als bloßes Mittel zur Erlangung materiellen Wohlstandes bedürfe weder staatlicher Fürsorge noch des Schulzwanges oder gar des Innungswesens. Dass die Handwerker selbst sich in dezidiertem Gegensatz zu den Gebildeten der Zeit stets für gesetzliche Vorschriften zur Regelung des Lehrverhältnisses eingesetzt hatten, war den Protagonisten absoluter Gewerbefreiheit lange Zeit völlig gleichgültig gewesen. In den dreißiger Jahren aber wurde die Wirkkraft der politischen Romantik Adam Müllers und Karl Ludwig von Hallers im Verein mit der sich damals allmählich formierenden Handwerkerbewegung, welche die fehlende Berufsbildungspolitik kritisierten, fühlbar. Die gegen den herrschenden Liberalismus gerichteten Bestrebungen aus so unterschiedlicher Wurzel einte das gemeinsame, doch höchst fabulöse Ziel der Wiederherstellung einer romantisch verklärten mittelalterlichen Ständegesellschaft, der eine angemessene Form der Berufserziehung notwendig korrespondierte. Die Vorkämpfer dieser Ideen erstrebten nicht weniger als die Einführung des Zunftzwanges und der verbindlichen Meisterlehre.47 Mit der Formulierung des Entwurfs der Gewerbeordnung von 1837 hatten sie einen ersten, wichtigen Etappensieg errungen. 2. Die Handwerkslehre 1845–1870 a. Die Gewerbeordnung vom 17.1.1845 Mit dem Erlass der am 17.1.1845 verkündeten Gewerbeordnung entsprach der Gesetzgeber der jahrzehntelang vom Handwerk erhobenen Forderung nach Neuregelung der Rechtsverhältnisse des Gewerbes. Das restaurativen Tendenzen Raum gebende Gesetz kam den Vorstellungen der Meister zwar weit entgegen, genügte ihnen in mancher Hinsicht aber nicht. Der Ausbildung des Nachwuchses, die seit Einführung der Gewerbefreiheit nur durch die am verblichenen Zunftmodell orientierten und damit zum größten Teil obsolet gewordenen Vorschriften des ALR geregelt war, schenkte der Gesetzgeber im siebten, „Gewerbegehilfen, Gesellen, Fabrikarbeiter und Lehrlinge“ betreffenden Titel besondere Aufmerksamkeit. Bei der Analyse der Vorschriften fällt aber sofort auf, dass die neue Ordnung, soweit sie die Lehrlingsausbildung betraf, kaum über längst Bekanntes hinausgelangte. Der wesentlichste Unterschied zur alten Rechtslage bestand darin, dass die sich nach Erlass des Gesetzes etablierenden Handwerker der 42 wichtigsten Gewerbe nur dann befugt waren, Lehrlinge auszubilden, wenn sie ihre Befähigung hierzu durch eine Prüfung nachgewiesen hatten, es sei denn, sie waren ihrem Gewerbe schon vor Verkündung des Gesetzes selbstän47

S. Barschak (1929), S. 18 f. pass.; s. auch Dörschel (1972), S. 153.

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dig nachgegangen (§ 131). Bedeutung kam auch gewissen Schutzvorschriften, die dem Interesse der Lehrlinge dienen sollten, zu. So machte der Gesetzgeber den Abschluss eines förmlichen Lehrvertrages verbindlich; diese Regelung diente dem Zweck, dass sich niemand mehr auf die zu allerlei Streitigkeiten über die Dauer der Lehrzeit oder die Höhe des Lehrgeldes Anlass gebenden mündlichen Vereinbarungen berufen konnte (§§ 146, 149). Neu war auch die Obsorge der Ortspolizei-Obrigkeit für die Lehrlinge: Sie hatte künftig darauf acht zu geben, dass bei der Beschäftigung und Behandlung der Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge gebührende Rücksicht auf deren Gesundheit und „Sittlichkeit“ genommen werde. Im übrigen entsprachen die Vorschriften weitgehend denjenigen des ALR. Endlich trug der Gesetzgeber auch dem Umstand Rechnung, dass in der Provinz Westfalen mit Ausnahme Wittgensteins keine Zünfte mehr bestanden und deshalb zahlreiche Vorschriften des ALR, die die Mitwirkung von Korporationen vorsahen, seit der Wiedereinführung der großen Kodifikation nach dem Ende der Fremdherrschaft nicht mehr anwendbar waren. Die neue Gewerbeordnung betraute nun überall dort, wo die Zünfte aufgehoben worden waren und auch keine Innungen gegründet wurden, die Ortspolizeibehörden mit der Wahrnehmung der Funktionen dieser Einrichtungen. So musste die Aufnahme der Lehrlinge künftig vor den städtischen Kommunalbehörden bzw. den ländlichen Ortspolizei-Obrigkeiten erfolgen (§ 147). Die Verwaltung hatte auch zu entscheiden, ob ein Grund zur Auflösung des Lehrverhältnisses wegen Verstoßes gegen die wechselseitig bestehenden Pflichten vorlag (§§ 152,153). Nicht zuletzt sollten die Behörden prüfen, ob der Lehrling bereits bei Antritt der Ausbildung schon des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig war sowie die in der Glaubens- und Sittenlehre geforderten hinreichenden Kenntnisse aufwies. Die Ortspolizeibehörden waren schließlich gehalten darauf acht zu geben, dass denjenigen Auszubildenden, die noch des Schul- und Religionsunterrichts bedurften, die notwendige Zeit dazu belassen wurde (§ 136 der Gewerbe-Ordnung). ALR II 8 §§ 293, 294 hatte bestimmt, dass der Junge sich diese Fertigkeiten noch nachträglich verschaffen konnte. Befähigten Auszubildenden wurde, und dies erwies sich als eine ebenso wichtige wie zukunftweisende Neuerung, die Möglichkeit gegeben, ihre Qualifikation nachzuweisen, indem sie auf eigenen Wunsch eine Prüfung ablegen konnten (§ 157). Eine obligatorische Gesellenprüfung sah das Gesetz hingegen noch nicht vor. Diese Vorschriften trugen nicht nur dem sich langsam hebenden Bildungsstand der unteren Schichten in Preußen Rechnung. Sie kamen auch dem immer und immer wieder geäußerten Wunsch der Handwerker nach sozialer Aufwertung entgegen. Die für diese so überaus charakteristische Verklärung der Zunftzeit verbanden sie damals nämlich mit der stereotyp vorgetragenen Klage, dass das einstmals „ehrbare Handwerk“ seit Einführung der Gewerbefreiheit ins Proletariat abzusinken im Begriffe stünde.48 Der Nachweis einer gewissen Schulbildung und fachlichen Qualifikation befestigte nun, so mochten sie hoffen, ihre ins Wanken geratene Reputa48 So z. B. Petition der Handwerker der Stadt Münster an den Oberpräsidenten von Vincke v. 15.1.1831 in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774 Bd. 1; Petition der Handwerker der Stadt Warburg an Vincke v. 17.9.1833, a. a. O., fol. 242–245.

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tion; er wurde zudem als langersehnter Sperriegel gegen die nachdrängenden Unterschichten begrüßt. Auch sonst kam der Gesetzgeber den Meistern großzügig entgegen: So wurden die Gesindedienste der Lehrlinge nicht, wie es bei den Gesellen der Fall war (§ 138), untersagt. Der Missbrauch blieb vielmehr bestehen: Wenngleich betont wurde, dass durch berufsfremde Arbeiten die geordnete Ausbildung nicht beeinträchtigt werden dürfe (§ 150 der Gewerbeordnung; vgl. auch § 297 II 8 ALR), so war dies doch nicht mehr als eine bloße Aufforderung zur Mäßigung an die Ausbilder. Als konkrete Schutzvorschriften zu Gunsten der Lehrlinge war die Vorschrift ihrer Unschärfe halber nur wenig tauglich. Ebenso blieb das Züchtigungsrecht für Lehrlinge bestehen (§ 151 der Gewerbeordnung; vgl. § 298 II 8 ALR). Mit diesen Bestimmungen brachte die Gewerbeordnung von 1845 keinen grundsätzlichen Wandel in die gewerbliche Ausbildung. Dass Lehrlinge zu Phäaken würden, brauchte damals noch niemand zu fürchten. Die wenigen neuen Regelungen waren formalen Inhalts; die Verwaltung schenkte den Auszubildenden nach Erlass des Gesetzes ebenso wenig Beachtung, wie sie es zuvor getan hatte.49 Niemand fühlte sich genötigt, die Bestimmungen auszuführen.50 Das Ritardando des von den neuen Vorschriften ausgehenden Impulses setzte sogleich nach dem Erlass der Gewerbeordnung ein. Die lange Vorbereitungszeit des Gesetzes, die Jahrzehnte in Anspruch genommen hatte, stand so in keinem vernünftigen Verhältnis zur praktischen Bedeutung der neuen Vorschriften. So waren es keineswegs die Bemühungen des Gesetzgebers, sondern erst die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848, die die in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den drängenden Problemen des Kleingewerbes verharrende Bürokratie wachrüttelten.51 Nicht nur im Handwerk, sondern in einem großen Teil der Öffentlichkeit reifte gegen Ende der vierziger Jahre die Überzeugung, dass der auch nach Inkrafttreten der Gewerbeordnung im Grunde noch immer unverändert bestehende, rechtlich wenig geordnete und in politischer wie sozialer Hinsicht labile Zustand des Handwerks eine latente Gefahr bedeute, die um so explosiver zu werden drohte, je stärker die sich entfaltende industrielle Fertigung für Teile des Kleingewerbes zur ruinösen Konkurrenz geriet. Die Industrialisierungsvorgänge wurden für die prognostizierte Verelendung der handarbeitenden Schichten insgesamt verantwortlich gemacht. Die zeittypische Niedergangsthese nahmen die Handwerker begierig auf und internalisierten sie. Die allenthalben geführte Pauperismusdiskussion verband sich damals, soweit sich das Handwerk selbst daran beteiligte, in eigentümlicher Weise mit einem im Kleingewerbe niemals aufgegebenen Ziel: Der durch die Untergangsstimmung beförderte revolutionäre Impetus entfaltete mit Macht das hergebrachte berufsständische Denken – ein Rückgriff auf die Vergangenheit, zu dessen signifikantesten Merkmalen die Apotheose der zunfttypischen, geregelten und 49 50 51

S. Rohrscheidt (1898), S. 514, 614 f. In den Akten fand sich, soweit das Lehrlingswesen betroffen war, kein Anhaltspunkt für die Verwirklichung der Vorschriften. Das mangelnde Interesse des preußischen Staates an der Handwerkswirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich u. a. in einer wenig effizienten Handwerksförderung; s. dazu Deter, Die Handwerksförderung … (1990), S. 101–126.

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identitätsstiftenden handwerklichen Ausbildung gehörte. Die noch immer ganz unzulängliche Berufsbildung im Handwerk wurde nun von den Meistern als die Hauptursache der Verarmung des gewerbebetreibenden Mittelstandes angesehen.52 Plötzlich entdeckte eine sensibilisierte Öffentlichkeit auch die so lange unbeachtet gebliebene weitgehende Schutzlosigkeit der Lehrlinge und erkannte darin einen Missstand, den es zu beseitigen galt.53 Schnell war die Ursache für dieses Bündel von Problemen, an dem jene Jahre schwer trugen, gefunden: Sie hieß, jedenfalls in den Augen der Handwerker, Gewerbefreiheit. Unter dem Eindruck der nicht verstandenen, eine neue, eben die industrielle Welt heraufführenden Vorgänge fragte niemand mehr, ob die soziale Situation der Altvorderen denn tatsächlich so viel besser gewesen war als die gescholtene Gegenwart. Nichts spricht dafür, dass das Los der mit der Karbatsche traktierten Lehrlinge der Zunftzeit leichter gewesen ist als dasjenige ihrer Leidensgenossen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar hatten die Hungerjahre seit 1845 das Kleingewerbe, das damals jedenfalls in Teilen von Verelendung bedroht war, traumatisiert. Der tiefe Einbruch der Beschäftigtenzahlen spricht eine beredte Sprache. Doch blieb dies eben auch die letzte große Hungerkrise in Deutschland. Grosso modo war es die durch eine sich allmählich verbessernde wirtschaftliche Lage der Gesellschaft insgesamt erst geschaffene neue Empfindsamkeit für soziale Missstände, die das berechtigte Misstrauen gegenüber einer ungeregelten und unkontrollierten Lehrlingshaltung und -ausbildung nährte. Keineswegs soll geleugnet werden, dass die Zunft, die der beruflichen Bildung einen festen Rahmen gegeben hatte, durch ihre Aufsichtsfunktion auch einen gewissen Schutz des Lehrlings vor Überforderung und Unterdrückung gewährleistete. Wegen der Solidarität und Interessenkongruenz der Meister kam diesem Aspekt des Zunftverhältnisses aber eher geringe Bedeutung zu. Die Autobiographien ehemaliger Lehrlinge, die ihr Dasein unter der Knute der Zunftmeister übereinstimmend in den düstersten Farben malten, sprechen eine beredtere Sprache als der idealisierte Zunftbrauch, den zu verklären den abstiegsbedrohten Handwerkern im Zeitalter der Gewerbefreiheit Bedürfnis war.54

52 Z. B. Petition der Handwerker der Stadt Höxter an die National-Versammlung in Frankfurt v. 28.3.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51, 141, fol. 53–55; in Westfalen wurde auch die Forderung laut, dass der Staat Musterwerkstätten für Handwerkslehrlinge errichten solle, a. a. O., fol. 74. Die Handwerkerbewegung des Jahres 1848 verlangte insgesamt eine geordnete und effiziente Ausbildung der Lehrlinge, s. Vorschläge des Frankfurter Gesellenkongresses … (1980), S. 213; Der deutsche Handwerker-Congreß … (1980), S. 179–181. 53 Kotelmann (1980), S. 268. 54 Für viele sei an dieser Stelle ein Werk genannt, dessen Autor die fatalen Zu- und Umstände seiner Lehrzeit bereits dem Titel anvertraute: Johann Ernst August Probst, Handwerksbarbarei oder Geschichte meiner Lehrjahre. Ein Beitrag zur Erziehungsmethode deutscher Handwerker, Halle und Leipzig 1790; ebenso Nehrlich (1997). Zu den Lebensumständen der Lehrlinge zur Zunftzeit vgl. auch Knoll (1924); Gutzwiller (1956); Wesloy (1985); Grießinger/Reith (1986); Reith (1989); Eggers (1987); Schlenkrich (1995). Für das 19. Jahrhundert s. Wisotzky (1990); vgl. auch Stadelmann/Fischer (1955), m. w. Hinweisen. Zum für das Alte Handwerk immer wieder herangezogenen Topos des „ganzen Hauses“ vgl. Brunner (1968); Derks (1966); Weiss (2001); Trossbach (1993).

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b. Die Verordnung vom 9.2.1849 Mit der Hausse korporativen Gedankengutes in den vierziger Jahren wurde die Frage immer drängender, inwieweit dem Gesetzgeber das Recht zustand, in die freie Vereinbarung zwischen Lehrling und Meister einzugreifen. Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 beantwortete der in die Bredouille geratene Staat die Frage in ganz neuer Weise. Die alsbald erlassene Verordnung vom 9.2.1849 brachte eine klare Regelung der handwerklichen Berufserziehung. Die Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 blieben in Kraft, wurden aber durch eine Reihe ergänzender Normen konkretisiert. Das Lehrverhältnis erhielt nunmehr seinen zentralen Stellenwert als wichtigste Voraussetzung für den Erwerb des künftigen Meisterrechts zurück. Die bisher weitgehende Dispositionsfreiheit der Parteien über den Inhalt des Lehrvertrages wich einer größeren Verrechtlichung des Ausbildungsverhältnisses insgesamt. Während § 149 der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 die Festlegung der Lehrzeit noch der Vereinbarung der Parteien überlassen hatte, erklärte § 36 der Verordnung vom 9.2.1849 die dreijährige Lehrzeit zum Regelfall. Dabei spielte der Gedanke eine Rolle, dass durch die relativ lange Ausbildung eine körperliche Überforderung der Lehrlinge verhindern werden könne.55 Die Gesellenprüfung wurde als Voraussetzung für die Zulassung zur Meisterprüfung verbindlich vorgeschrieben (§§ 35, 36). Sie sollte im Regelfall die Lehrzeit abschließen; damit war ihr der Charakter des Unverbindlichen genommen. Mit dieser obligatorischen Leistungskontrolle wollte der Gesetzgeber – unter Aufgabe seiner bisherigen liberalen Prinzipien – endlich eine vielseitige und effektive Ausbildung der Lehrlinge gewährleisten. Sein Examen sollte der junge Handwerker vor einer Innungskommission (§ 37) oder der für jeden Kreis neu zu bildenden Kreis-Prüfungskommission (§§ 39, 40) ablegen. Eine wichtige, nichtsdestoweniger aber zu endlosen Streitereien führende Bestimmung stellte die traditionelle und seit je heftig umkämpfte Abgrenzung der Gewerbe voneinander wieder her. Nach § 47 der Verordnung konnten die Lehrlinge fortan nur mehr bei einem Meister des von ihnen gewählten Faches das Handwerk erlernen. Den ausgebildeten Hilfskräften war es lediglich gestattet, in ihrem erlernten Gewerbe oder in Fabriken zu arbeiten. In jenen Bestimmungen, die dem örtlichen Gewerberat die tägliche Arbeitszeit der Lehrlinge festzusetzen gestatteten und die die Arbeit an Sonn- und Feiertagen mit Ausnahme von Fällen besonderer Dringlichkeit untersagten (§ 49), ist ein zwar zaghaftes, nichtsdestoweniger aber neues Terrain erschließendes Fortschreiten auf dem langen Weg zu einem wirklichen Schutz des Lehrlings durch den Gesetzgeber zu sehen. Den Interessen der Meister trug man dadurch Rechnung, dass die von den Zeitgenossen als konstitutiv für das Lehrverhältnis betrachteten Rechte jedes Lehrherrn, nämlich Schutz gegen das Entlaufen der Lehrlinge und das „Recht der Zucht“ in unveränderter, an den diesbezüglichen Bestimmungen des ALR orientierter Weise festgeschrieben wurden (§§ 151, 153). Mit diesen Vorschriften machte der Gesetzgeber die Institution der Lehre wieder zum eigentlichen Fundament der handwerklichen Berufsordnung. 55

Riedel (1861), S. 129.

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c. Die Rechtswirklichkeit aa. Die Rolle der Gemeinden und Innungen Ob die Lehrlinge nach Erlass der neuen Vorschriften im beruflichen Alltag in den Werkstätten tatsächlich effizienter ausgebildet und menschlicher behandelt wurden, als dies vor dem Einschreiten der Legislative der Fall gewesen war, erschließt sich dem Historiker natürlich nicht aus den Vorschriften. Der nachhaltige Einfluss lokaler – und damit höchst diffuser – Verhältnisse auf die Durchführung der Verordnung vom 9.2.1849 macht es schwer, ein zutreffendes Bild vom Erfolg oder Misserfolg der Reformgesetzgebung zu zeichnen. Da die Errichtung von Innungen in Westfalen auf sich warten ließ, war es zunächst an den Kommunen, sich um die Beachtung der neuen Vorschriften zu bemühen. Keineswegs alle örtlichen Verwaltungen zeigten sich aber bemüßigt, den Intentionen des Gesetzgebers zum Erfolg zu verhelfen. Sie fürchteten den Verwaltungsaufwand, der mit der förmlichen, dem Zunftbrauch nachempfundenen Aufnahme der zahlreichen Lehrlinge notwendig verbunden war und wollten daher die Wahrnehmung der berufsständischen Pflichten nach § 147 der Gewerbeordnung den zu gründenden Innungen überlassen. Selbst für die Lehrlinge aus innungsfreien Gewerben, die zu betreuen sich ohnehin sonst niemand anheischig machte, wollten sie keine Verantwortung übernehmen.56 Kam es, selten genug in westfälischen Gemeinden, doch zur Errichtung der erwünschten Innungen, so gingen die Vertreter dieser neuen Institute zumeist wirklich mit einiger Tatkraft an die Erfüllung der ihnen zugewachsenen Aufgaben. Die Euphorie, mit der die Handwerker die Verordnung von 1849 zunächst begrüßt hatten, da sie ein Wiedererstarken der lange vermissten berufsständischen Ordnung erhofften, trug hier ihre wenigen Früchte. Natürlich hatte das Interesse der Meister an dem neuen Korporationsmodell einen ganz realen Hintergrund: Sie, die eine neue Zunftzeit heraufdämmern sahen, wollten die Gunst der Stunde – wie ehedem – vor allem im eigenen Interesse nutzen. Und dies Bestreben zielte auf nichts anderes als die schleunige und nachhaltige Beschränkung der Konkurrenz. Daher beeilten sich manche Innungen, die Zahl der Lehrlinge, die ein Meister annehmen durfte, in Anknüpfung an den längst verfemten Zunftbrauch durch geeignete Vorschriften in den Ortsstatuten gering zu halten. Da solche Bestimmungen aber gegen § 170 der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 verstießen, verweigerten die Magistrate in der Regel die Genehmigung des eigennützigen Unterfangens. Diese Erfahrung mahnte die Professionisten, dass die erstrebte surrexio des Alten Handwerks ausgeblieben war und dass sie

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So weigerte sich der Magistrat der Stadt Lippstadt unter Verstoß gegen die Bestimmung des § 147, sich mit der Aufnahme der Lehrlinge zu befassen. Er wollte dies wie eh und je den Beteiligten, also den Eltern und Meistern allein überlassen. Das Problem wurde schließlich dadurch gelöst, dass die in der Stadt bestehenden Innungen auch die Aufnahme der Lehrlinge aus den innungsfreien Gewerben übernahmen; s. Stadtarchiv Lippstadt, D 38. Wurden die Lehrlinge, deren Lehrherrn keiner Innung angehörten, vor der Kommunalbehörde angenommen, so wirkten in Soest beispielsweise zwei Mitarbeiter des Gewerberates mit; s. Schreiben des Gewerberates der Stadt Soest v. 30.6.1851, Stadtarchiv Soest Abt. B XIX g 17.

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nicht auf die Regelungsmechanismen eines fiktiven Zunftmodells, sondern auf die ganz realen Vorschriften des profanen Gesetzgebers zu merken hatten. Das Verhältnis zwischen dem Meister und seinen Lehrlingen, das bis 1845 nur auf dem gewohnheitsrechtlichen Herkommen und gegebenenfalls einigen mündlichen Vereinbarungen beruht hatte und das, sieht man von den nach Aufhebung der Zünfte nur noch wenigen anwendbaren Bestimmungen des ALR einmal ab, schlicht als ungeregelt bezeichnet werden muss, wurde durch die Mitwirkung der Innungen bzw. der Magistrate auf eine neue Basis gestellt – sofern diese zustande kam. Die Bestimmungen der förmlich abgeschlossenen Lehrverträge legten, und das scheint wirklich ein in die neue Zeit hinübergerettetes Relikt aus der Werteordnung des Alten Handwerks zu sein, mehr Gewicht auf die Charakterbildung des Jungen als auf die Ausbildung seiner beruflichen Fähigkeiten. Typische Beispiele zeigen, für uns heute eigentlich unverständlich und erschreckend, dass der Lehrherr sich nicht zu guter, sondern nur zu „angemessener“ Behandlung des Lehrlings verpflichtete; er versprach, ein „wachsames Auge auf ihn zu haben, dass er einen ordentlichen Lebenswandel führt und sich sittsam und anständig beträgt sowie an Sonn- und Feiertagen die Kirche besucht“.57 Daneben verstand sich der Meister dazu, den Jungen gut auszubilden und ihn zum Besuch der Sonntagsschule anzuhalten. Der Lehrling verpflichtete sich zu Folgsamkeit und Achtung gegenüber dem Lehrherrn. Ergänzt wurden diese Vereinbarungen durch die Regelungen der §§ 135, 136 der Gewerbeordnung von 1845, die auf Innungsstatuten und gesetzliche Bestimmungen verwiesen. Als solche sind insbesondere die Schutzvorschriften des § 136 der Gewerbeordnung selbst zu nennen, die dem Lehrling Rücksicht auf dessen Gesundheit und Sittlichkeit garantierten und die nötige Zeit für etwa erforderlichen Schulbesuch gewährleisteten. Bemerkenswert ist auch, dass manche Lokalverwaltungen in der allgemeinen Aufbruchstimmung der Jahre 1848/49 nicht abseits stehen wollten und deshalb ihre guten Dienste bei der als neue Aufgabe entdeckten Persönlichkeitsbildung der jungen Handwerker anboten. So erklärte sich der Magistrat der Stadt Soest bereit, die Wirtshausbesuche der Lehrlinge durch polizeiliches Einschreiten zu verhindern – eine Offerte, die jenseits ihrer obrigkeitlich-spießigen Attitüde doch ein neues und wirkliches Interesse der Behörde an den Lebensverhältnissen des Handwerks offenbart.58 Die Neuordnung der handwerklichen Ausbildung, die in einigen Städten Westfalens schon bald nach dem Erlass der Verordnung von 9.2.1849 ganz im Sinne des Gesetzgebers vollzogen wurde, entwickelte sich aber keineswegs zur Regel, sondern blieb eher die Ausnahme. Insbesondere in den ländlichen Regionen wurde der Lehrling nicht einmal, wie es schon § 147 der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 vorsah, ordnungsgemäß vor der Innung bzw. der Gemeinde- oder Ortspolizeibehörde aufgenommen. Da, wie bereits festgestellt, das vom Gesetzgeber inaugurierte 57 S. z. B. Stadtarchiv Soest XIX g 17. 58 Der Gewerberat war dagegen der Ansicht, es sei der Würde der Behörde abträglich, „auf Wirtshäuser besuchende Lehrlinge Jagd zu machen“. Außerdem sahen die Meister die Mitwirkung der Behörde als Eingriff in die Rechte des Lehrherrn an. Die Innungen hatten ihrerseits den Wirtshausbesuch bereits verboten; s. Stellungnahme des Gewerberates der Stadt Soest v. 14.2.1852, in: Stadtarchiv Soest XIX a 4.

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Innungswesen weiten Teilen Westfalens fremd blieb und auch die meisten Ortsbehörden sich um die Verwirklichung der gesetzlichen Vorschriften kaum scherten, wirkten nur wenige Meister auf die ordnungsgemäße Aufnahme der Lehrlinge hin.59 Gravierende Folge dieser obstinaten Verweigerung, die erst nach einigen Jahren wirklich spürbar wurde, war der Umstand, dass die betroffenen Lehrlinge nach §§ 147 der Gewerbeordnung in Verbindung mit § 36 der Verordnung vom 9.2.1849 keine Gesellenprüfung ablegen konnten. Dem so durch die Maschen der neuen Ordnung gefallenen Nachwuchs drohte die selbständige Ausübung des Berufes versperrt zu bleiben, da die Meisterprüfung eine erfolgreich bestandene Gesellenprüfung voraussetzte (§ 35 Z. 2 der Verordnung vom 9.2.1849). Diese Konsequenz des so offenkundigen Auseinanderfallens von Rechtssatz und Rechtswirklichkeit, des Ostinatos der Gewerberechtsgeschichte, war für die Betroffenen verständlicherweise nur schwer erträglich; eine ganze Generation von Handwerkern drohte um ihre Zukunftshoffnungen betrogen zu werden. bb. Die Einflussnahme der Mittel- und Oberbehörden Der in der Provinz nur vergleichsweise wenigen Innungen wegen handelte es sich bei der weitgehenden Missachtung der Ausbildungsvorschriften vor allem um ein genuin westfälisches Problem; aus Berlin war deshalb keine Klärung der Situation zu erwarten.60 Folgerichtig ergriff die Regierung in Minden 1852 die Initiative, um eine Verbesserung der Verhältnisse herbeizuführen.61 Sie wünschte der verbreiteten Kontravention durch eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen zu steuern, wurde aber seitens des Ministeriums beschieden, dass sie für eine strenge Durchführung der Vorschriften Sorge zu tragen habe. Die neuen Regelungen sollten nochmals bekannt gemacht62 und die fehlende förmliche Aufnahme der Lehrlinge in jedem einzelnen Fall durch Fristsetzung nachträglich erzwungen werden. Fanden sich danach noch immer Meister, die ihren gesetzlichen Pflichten nicht nachkamen, sollte ihnen die Ausbildung von Lehrlingen für die Zukunft untersagt werden. Um Härten zu vermeiden, konnte die Gesellenprüfung nach dem Willen des Ministers ausnahmsweise auch ohne förmliche Aufnahme des Lehrlings dann abgelegt werden, wenn eine mindestens dreijährige Ausbildungszeit bei einem Meister hinreichend Gelegenheit zur Erlernung des Gewerbes geboten hatte. Diese Begünstigung galt aber nur rückwirkend. Für die Zukunft sollten keine Ausnahmen von den Bestimmungen des § 36 der Verordnung vom 9.2.1849 geduldet werden. Auch diese Verfügung des Ministeriums zeitigte aber in Westfalen keinen durchschlagenden Erfolg. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Effektivität der Verwaltung eben noch immer gering und der Fehlschlag administrativer Bemü59

S. Centralblatt für die Handwerkervereine und Gewerberäte der Provinz Westfalen, Jahrg. 1852 Nr. 14, v. 3.4.1852, S. 57, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 60 In den älteren preußischen Provinzen war die Aufnahme der Lehrlinge vor der Innung wegen des Fortbestehens der Zünfte nahezu selbstverständlich geblieben. 61 Verfügung des preußischen Handelsministers v. 25.10.1852, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 321 f. 62 Dies geschah denn auch; s. z. B. Amtsblatt der Reg. Münster v. 11.12.1852, S. 404.

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hungen wahrscheinlicher als ihr Erfolg. 1854 sah sich auch die Regierung in Arnsberg genötigt, auf strenge Einhaltung der Aufnahmevorschriften hinzuwirken. Allenthalben, selbst in den größeren Städten, häuften sich damals eklatante Rechtsverletzungen: So bildete ein Schlosser in Herford, dem die Berechtigung zur Ausbildung von Lehrlingen fehlte, im Jahre 1855 ohne Bedenken vier Lehrlinge gleichzeitig aus.63 Ähnliches kam auch in Soest vor, wurde dort aber immerhin umgehend durch polizeiliches Einschreiten nach § 133 der Gewerbeordnung abgestellt.64 Um sich einen Überblick über die in den zahlreichen Dörfern, Wigbolden und kleinen Städten ihres Bezirks noch immer ganz ungeordneten Verhältnisse zu verschaffen, forderte die Regierung in Münster 1855 alle Gemeinden auf, darüber zu berichten, wie viele Meister bestimmungswidrig Lehrlinge hielten und wie viele wegen Verstoßes gegen die Vorschriften bestraft worden seien.65 Nachdem die Beamten die Ergebnisse der Umfrage ausgewertet hatten, stellten sie 1856 schönfärbend fest, dass die Vorschriften der § 147 ff. der Gewerbeordnung „in mehreren Gemeinden noch immer nicht gehörig beachtet“ würden. In Wahrheit waren die Regelungen bis dahin im Münsterland völlig ignoriert worden. Die Bürgermeister begannen erst 1855 unter dem Druck der münsterischen Regierung, den Normen Geltung zu verschaffen. Zu einer Bestrafung bei Verstößen gegen das Gesetz wollten sie sich aber keinesfalls verstehen.66 Deshalb wurde die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften lediglich erneut eingeschärft. Die Regierung drohte, bei künftigen Verstößen gegen die Bestimmungen die Entlassung der widerrechtlich Beschäftigten durch polizeiliche Zwangsmaßregeln durchzusetzen.67 Sie machte nochmals deutlich, dass es hier keineswegs um bloßen Formalismus ging: Die Mitwirkung eines Hoheitsträgers bei der Aufnahme des Nachwuchses in das Handwerk sollte, anknüpfend an die gute Tradition der Zünfte, nicht nur das Rechtsverhältnis nachprüfbar gestalten, sondern der Profession auch einen gewissen Leistungsstandard sichern, also helfen, die Spreu vom Weizen zu scheiden, selektiv zu wirken. Eben deshalb verlangte die Verwaltung in Ausführung der Bestimmungen des § 148 der Gewerbeordnung zugleich nochmals eindringlich die Prüfung der Kenntnisse der Lehrlinge in der Religions- und Sittenlehre sowie im Lesen, Schreiben und Rechnen.68 Welche Bedeutung der Minister von der Heydt gerade diesen Bestimmungen zumaß, wurde 1858 deutlich, als die Prüfungspflicht für Metallhandwerker und Weber in der Grafschaft Mark unter dem Druck neuer gewerbepolitischer Vorzeichen abgeschafft wurde. Nach dem Willen von der Heydts sollten die Behörden nichtsdestoweniger „mit Nachdruck“ darauf hinwirken, dass die Lehrlinge dieser Gewerbe auch in Zukunft 63

Schreiben der Schlosserinnung vom 11.11.1855; desgl. im Jahre 1857; in: Stadtarchiv Herford VII, 146. 64 Stadtarchiv Soest XIX g 14. 65 S. Schreiben der Reg. v. 25.5.1855, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 66 S. Schreiben des Bürgermeisters von Lienen v. 3.9.1855 sowie des Bürgermeisters von Hoetmar v. 13.10.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438 Bd. 1. 67 Vgl. Schreiben der Reg. Münster v. 5.1.1856, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. Darin wird des weiteren angeordnet, die Bestimmungen der Verordnung v. 9.2.1849 gelegentlich in Erinnerung zu bringen und über Ausführung und Erfolg des Gesetzes von Zeit zu Zeit zu berichten. 68 S. Schreiben des Ministers von der Heydt v. 23.12.1858 an die Reg. Arnsberg, in: STAM Oberpräsidium Nr. 2794.

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über die in § 148 der Gewerbeordnung geforderten Schulkenntnisse verfügten.69 So schleppend die Durchführung der Bestimmungen auch gewesen sein mag: Von den unbestreitbaren Vorzügen der Mitwirkung der öffentlichen Gewalt an der Aufnahme der Lehrlinge waren die Regierungen selbst dann noch überzeugt, als der Liberalismus längst schon wieder zu ihrem Credo geworden war. Auf Klarheit und Ordnung, insbesondere auf die schriftliche Abfassung der Lehrverträge mit erprobtem Inhalt, wirkten die Mittelinstanzen auch in den sechziger Jahren noch hin – was den Erfolg ihrer Bemühungen aber keineswegs indiziert.70 cc. Die Lebensumstände der Lehrlinge Erleichterten die Rechtssätze das der übereinstimmenden Schilderung der Zeitzeugen zufolge nachgerade unerträgliche Los vieler Jungen auf der untersten Stufe der Handwerkspyramide? Man darf es füglich bezweifeln.71 Denn die neue Sensibilität, die sich in den Vorschriften manifestiert, dürfte erst sehr allmählich Wirkungen gezeigt haben. Zum einen setzte sich der Innungsgedanke in Westfalen bekanntlich nicht durch, so dass es nur ein verschwindend geringer Teil der Lehrlinge war, der bei Innungsmitgliedern, die der Kontrolle ihrer Gewerksgenossen unterworfen waren, beschäftigt wurde. Zum anderen blieb das Züchtigungsrecht unverändert wirksam, und die Grenze zwischen der „väterlichen Zucht“ des Lehrherrn72 und seelischer oder körperlicher Misshandlung war damals nur schwer zu ziehen. Jedenfalls rissen die Berichte über geprügelte Lehrlinge nicht ab. Schlug das Opfer solchen Traktamentes zurück, was gelegentlich vorkam,73 so hatte der jugendliche Delinquent die Folgen zu tragen: Da der Lehrherr in der Regel sein Recht zur „mäßigen Züchtigung“74 nicht nachweislich überschritten hatte, konnte er den Wehrhaften nach §§ 140, 152 der Gewerbeordnung auf der Stelle davonjagen; Schaden hatte er dabei keinen, denn er behielt den Anspruch auf das Lehrgeld für das gesamte laufende Jahr. Während manche Bereiche des Lehrlingswesens, die den Interessen der Meister besonders nahe lagen, in den Gesetzen v. 17.1.1845 und 9.2.1849 bis in Einzelheiten geregelt wurden, fehlte für den wenig später als unerlässlich empfundenen Jugendschutz das Problembewusstsein noch gänzlich. So kannte man eine Begrenzung der Arbeitszeit für Handwerkslehrlinge während des gesamten Untersuchungszeitraums nicht. Die Lehrlinge teilten vielmehr die langen Arbeitszeiten der 69 S. Schreiben des Ministers von der Heydt v. 23.12.1858 an die Reg. Arnsberg, in: STAM Oberpräsidium Nr. 2794. 70 So in der Stellungnahme der Regierung Münster betr. Abänderung der Gewerbeordnung v. 2.11.1861, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 71 Durch eigene Organisationen konnten die Lehrlinge noch keinen Einfluss auf ihre Rechtsstellung nehmen. Nach den Erfahrungen des Jahres 1848 wurde ihnen in § 8 der Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts v. 11.3.1850 (in: Preußische Gesetzessammlung 1850, S. 277) die Mitgliedschaft in Vereinen mit politischen Zielsetzungen untersagt. 72 So § 151 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845. 73 Z. B. Bericht v. 19.8.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX g 17. 74 S. Anm. 72.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Gesellen. Die Überzeugung, dass der noch in der Entwicklung befindliche Jugendliche vor körperlicher Überanstrengung geschützt werden müsse und daher nicht ebenso lange arbeiten dürfe wie der Geselle, war damals allenfalls in Ansätzen vorhanden. Abraham vermutet, dass die tägliche Arbeitszeit der Lehrlinge um 1850 etwa 12 Stunden betragen habe, oft aber auch weitaus länger war.75 Des Abends wurden die Jungen von ihren Meistern noch zusätzlich mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt und mussten häusliche Aufgaben übernehmen. Mit dem zunehmenden Einfluss liberalen Gedankengutes seit dem Ende der fünfziger Jahre ging auch noch die Bereitschaft der Meister zurück, den Lehrlingen die zum Besuch der Fortbildungsschule notwendige Zeit einzuräumen.76 Diese Missstände mussten von den Betroffenen insbesondere deshalb als nur schwer erträgliches Ärgernis empfunden werden, weil die Arbeitszeit für Jugendliche in den Fabriken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits auf 10 Stunden beschränkt war. Auch all die anderen Unzuträglichkeiten, die unter dem Eindruck der Achtundvierziger-Revolution durch die Maßnahmen eines bemühten Gesetzgebers hatten gemildert werden sollen, begannen mit der neuerlichen Apothese liberalen Gedankengutes seit den ausgehenden fünfziger Jahre kaum mehr kritisch hinterfragt zu werden: Die häufige Verwendung zu Hausarbeiten, die erbärmliche Beschaffenheit der Schlafstellen, später das Herbergsleben der Gesellen, das sog. Fechten, eben die typischen Lebensverhältnisse des mittellosen Teils der sog. „handarbeitenden Bevölkerung“ schlechthin, brachten viele der jungen Handwerker um die Möglichkeit, aus eigener Kraft ihre soziale Lage nachhaltig zu bessern.77 Schon der zeitgenössische Sozialpolitiker Freiherr von Reden hatte 1847 die den Handwerkslehrlingen zugemutete Art der Ausbildung und Lebensweise zu den Ursachen der in den vierziger Jahren dramatische Ausmaße annehmenden Arbeitslosigkeit und der ihr folgenden Massenverarmung gezählt.78 Er sah die Besserung der Lebensumstände der Handwerkslehrlinge als geeignetes Mittel zur Bekämpfung des Pauperismus unter den Handwerkern an. „Ihre gute sittliche und geistige Erziehung, ihre Ausbildung auf demnächstige Erwerbstätigkeit und die Erhaltung ihrer Gesundheit“ sollten „besser als jetzt“ (1847) gesichert werden, forderte der zeitkritische Aristokrat.79 Keines dieser Ziele wurde im Untersuchungszeitraum aber wirklich erreicht. Adolf Kolping, der intime Kenner der Lebensumstände junger Handwerker, schilderte die Lage der Lehrlinge als sehr traurig und trostlos.80 Die alte Einheit des Meisterhaushalts war zerbrochen, die traditionelle Lebensweise der Lehrlinge gehörte endgültig der Vergangenheit an. Der Auszubildende wohnte und arbeitete häufig nicht mehr im Meisterhaushalt; neue Sozialformen waren aber noch nicht an 75 76 77 78 79 80

Abraham (1963), S. 137. Schreiben des Magistrats der Stadt Ahlen v. 15.12.1874 an den Landrat des Krs. Beckum, zitiert nach Grütters (1933), S. 106, Anm. 175. Reden (1853), Bd. 1, S. 294. Reden (1847), S. 134. Reden (1847), S. 134. Vgl. Schweitzer (1905), S. 303.

A. Die Handwerkslehre

35

die Stelle des überlebten Modells des „ganzen Hauses“81 getreten. Die Forderung der Zeitgenossen, Schule und Kirche, Vereinsleben und Genossenschaften, vor allem aber ein zweckgerecht geordnetes Bildungswesen müssten ersetzen, was an „moralischer Wirkung“ mit dem alten Lehrlingsverhältnis verbunden gewesen und nun verschwunden sei, blieb zunächst unerfüllt.82 Die Folge des Konglomerats misslicher Umstände war, dass sich der Nachwuchs des Handwerks nach wie vor nur mehr aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung rekrutierte.83 dd. Der Abbruch der Lehre Der Lehrling selbst konnte sich aus einem unerquicklichen Ausbildungsverhältnis nur schwer befreien. Nach § 153 der Gewerbeordnung setzte dies voraus, dass der Lehrherr seine Pflichten gröblich vernachlässigt oder das Recht der väterlichen Zucht missbraucht hatte. Konnte ein entlaufener Lehrling solche Rechtsbrüche nicht nachweisen, wurde er auf Antrag seines Herrn und Meisters zwangsweise in dessen Haus zurückgeführt – obwohl die Rechtsgrundlage für solche Vollstreckungsmaßnahmen mehr als zweifelhaft war.84 Immerhin gab es aber doch eine Möglichkeit, sich auf legalem Wege aus einem unerwünschten Vertragsverhältnis zu lösen. Nach § 154 der Gewerbeordnung konnte die Ausbildung vor Ablauf der Lehrzeit auch gegen den Willen des Lehrherrn abgebrochen werden, wenn der Lehrling ein anderes Gewerbe oder einen anderen Beruf wählte – eine Regelung, die direkt an die ähnliche Bestimmung des ALR II 8 § 309 anknüpfte. Der junge Mann hatte dann nur noch für ein halbes Jahr Lehrgeld zu zahlen. Natürlich versuchten die Meister die Bindung des Lehrlings an den einmal geschlossenen Vertrag zu festigen, da viele Auszubildende erfahrungsgemäß das Meisterhaus, nicht aber das Gewerbe wechselten. Durch ortsstatutarische Regelung sollte bestimmt werden, dass der Lehrling, wollte er schon während der ersten drei Monate nach der Aufkündigung des Vertrages bei einem anderen Meister desselben Gewerbes die Lehre fortsetzen, die Genehmigung seines alten Lehrherrn benötigte.85 Nachdem das Handelsministerium Statuten mit diesem Inhalt zunächst genehmigt hatte, schlug es später vor, der häufigen Aufkündigung des Vertrages seitens der Lehrlinge durch Erhöhung des noch zu zahlenden Lehrgeldes entgegenzuwirken;86 damit seien die Interessen beider Seiten eher gewahrt. Ein weiteres Mittel, sich aus einem ungeliebten Ausbildungsverhältnis zu befreien, fanden manche Lehrlinge in dem Antrag auf Abkürzung der Lehrzeit bzw. auf vorzeitige Zulassung zur GesellenprüS. Brunner (1968), S. 103–127. So z. B. Schmoller (1870), S. 352. Bücher, Die gewerbliche Bildungsfrage und der industrielle Rückgang (1877); s. auch in Stütz (1969), S. 34, 35. 84 Solche Exekutionen kamen nicht selten vor; s. z. B. Protokoll des Magistrats der Stadt Soest v. 18.3.1859, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 5: Gegen eine Mutter, die die Rückführung ihres Sohnes verhindern wollte, sollte laut Anweisung des Magistrats „scharf vorgegangen“ werden. Für die Zeit vor 1845 vgl. oben, S. 16, 17. 85 So der Entwurf des Ortsstatuts für die Stadt Brilon; s. Reskript des Ministers für Handel und Gewerbe v. 20.7.1852, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 86 Z. B. für Soest, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 81 82 83

36

II. Die gewerbliche Ausbildung

fung, der von den Gewerberäten, lag nur eine halbwegs stichhaltige sachliche Begründung vor, in Paderborn zumeist auch positiv beschieden wurde.87 Der hohen Fluktuation der Lehrlinge entgegenzuwirken und berufsständischem Denken Vorrang vor dem in der Phase der Apologie korporativer Organisationsmodelle in den vierziger und frühen fünfziger Jahren als egoistisch und handwerksfeindlich empfundenen Konkurrenzverhalten zu geben, war der Zweck einer weiteren Bestimmung, die sich in vielen Ortsstatuten fand: Verleitete ein Innungsmeister den Lehrling eines Berufskollegen zum Ausscheiden aus einem bestehenden Lehrverhältnis, sollte der Meister öffentlich verwarnt und bei Rückfälligkeit mit einer empfindlichen Ordnungsstrafe belegt werden.88 Auch diese Bestimmung nimmt einen in den Zunftordnungen des Alten Handwerks immer wiederkehrenden Rechtsgedanken auf; einmal mehr zeigt sich hier, dass die neu entstandenen Innungen, den Intentionen der Handwerkerbewegung entsprechend, ihr Statutarrecht direkt zur Reanimierung längst vergessen geglaubten Gedankengutes der Zunftzeit zu nutzen entschlossen waren. Die Idee von der Zukunft fanden Meister wie Gesellen damals in der Vergangenheit. Die dem zeittypischen Gestus entsprechende romantische Verklärung verblichener Zunftherrlichkeit konnte aber die Tristesse der nur zu wenig Hoffnung Anlass gebenden Gegenwart nicht vergessen machen. Ob die Vorschrift ihr Ziel erreichte, lässt sich nicht nachweisen. ee. Lehrzeit und Lehrgeld § 36 der Verordnung von 1849, der die dreijährige Lehrzeit als Mindestvoraussetzung für die Ablegung der Prüfung verbindlich festschrieb, setzte sich, wohl nicht zuletzt wegen der unter dem Druck der Handwerkerbewegung gerade intendierten Reminiszenz an die zur Zunftzeit herrschenden Gepflogenheiten, im allgemeinen schnell durch, wie die gut dokumentierte Situation im Regierungsbezirk Arnsberg nachweist (s. Tab. 9). Wie schon festgestellt, verstanden sich Meister und Lehrlinge in Ausnahmefällen zur Verkürzung der Ausbildung. Ebenso selten wurde seither die Lehre wegen Mittellosigkeit der Eltern des Lehrlings verlängert. Ein anderer, wesentlicher Aspekt des Lehrverhältnisses blieb dagegen ungeregelt: Das Lehrgeld wurde ursprünglich zur Abgeltung des finanziellen Aufwands, der dem Lehrherrn dadurch entstand, dass er dem Lehrling Kost und Logis gewährte, entrichtet. Daneben hatte es sich im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Mittel sozialer Differenzierung innerhalb des Handwerkerstandes entwickelt. Gewerbe, bei denen der Sachaufwand gering und die Lehrlinge schon bald gewinnbringend eingesetzt werden konnten, zogen durch das niedrige Lehrgeld, das die Meister dieser Berufe forderten, die zahlreichen mittellosen Jugendlichen aus den untersten Schichten an.89 Die soziale Zusammensetzung des Schuster- und des 87

Z. B. Protokoll v. 16.9.1853, in: Protokollbuch des Gewerberates Paderborn, Stadtarchiv Paderborn A 302; solche Dispensationsgesuche machten schließlich fast die einzige Tätigkeit des Paderborner Gewerberates aus; s. Schreiben v. 13.6.1856, a. a. O. 88 Z. B. Statut der vereinigten Schlosser-, Huf-, Nagel-, Messer- und Kupferschmiede, Klempner- und Zinngießer-Innung zu Herford v. 15.11.1852, in: Stadtarchiv Herford VII, 146. 89 S. Stadtarchiv Paderborn A III 2106.

37

A. Die Handwerkslehre

Schneiderhandwerks wurde durch diesen Umstand maßgeblich geprägt. Die Meister solcher Berufssparten, die mit einem erheblichen Kapitalaufwand arbeiteten, verlangten dagegen derart hohe Zahlungen, dass die Masse der potentiellen Bewerber von vornherein ausgeschlossen wurde. So blieben die Konkurrenz dauernd gering und die Einkommen vergleichsweise hoch. In dieser Weise verfuhren beispielsweise Goldschmiede, Uhrmacher oder Lohgerber. Eine andere Entwicklung setzte sich in den Baugewerben durch. Dort lebten die Lehrlinge um die Mitte des 19. Jahrhunderts im allgemeinen nicht mehr im Meisterhaushalt. Sie zahlten kein Lehrgeld, mussten sich ihren Unterhalt aber selbst beschaffen und erhielten dafür einen Lohn.90 Diese Entwicklung wurde später auch für die übrigen Gewerbe richtungweisend. Mit dem Zerfall des tradierten Sozialgebildes des Meisterhauses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte auch in den anderen Handwerken schrittweise die Verringerung der Lehrgelder und schließlich der Übergang zu dem heute allgemein üblichen System, wonach die Lehrherren eine Erziehungsbeihilfe an die Lehrlinge bzw. an deren Eltern zahlen. Die nachfolgenden Beispiele spiegeln bereits die heraufziehenden Veränderungen, die Entlassung des Lehrlings aus dem Familienverband des Meisters, wider. Es ist zu vermuten, dass in denjenigen Fällen, in denen kein Lehrgeld angegeben ist, dieser Zustand bereits eingetreten war: Tabelle 2: Lehrzeiten und Lehrgelder im Regierungsbezirk Arnsberg im Jahre 185591 Bezeichnung des Handwerks

Kreise

Lehrzeit Jahre

Entgelt seitens der Lehrlinge in Talern

Müller

Siegen

2–4

15–50

Bäcker

Soest

3

25–50

Bochum

3



Brilon

3

30–50

Siegen

2–4

15–50

Soest

3

80–100

Iserlohn

3

10

Dortmund

4



Bochum

3

40

Soest

3

15–30

Konditoren Fleischer

90 In den großen Städten Ostelbiens, wo die Zahl der Lehrlinge nach ALR II 8 § 348 nicht beschränkt werden konnte, war diese Entwicklung sehr viel weiter fortgeschritten. Dort hielten in den dreißiger und vierziger Jahren zahlreiche Meister in den Bauhandwerken 20–40 Lehrburschen, die sie statt der höher bezahlten verheirateten Gesellen einsetzten, wie Petitionen der Gesellen aus Königsberg, Marienburg und Danzig belegen. 91 Quelle: Gewerbe-Statistik von Preußen, 1. T., Regierungsbezirk Arnsberg 1856, S. 540–545, zitiert nach Abraham (1963), S. 138–141. Die Aufstellung enthält außerdem Angaben über die Gesellenlöhne. Sie vermittelt allerdings nur einen unvollständigen Eindruck, da die Beträge stets nur einige Kreise und Orte Westfalens betreffen.

38 Bezeichnung des Handwerks

Fleischer Lohgerber

II. Die gewerbliche Ausbildung Kreise

Lehrzeit Jahre

Entgelt seitens der Lehrlinge in Talern

Brilon, Stadt

3

30–40

Brilon, Land

3

8–10

Soest

3

50–100

Lippstadt

3

50

Bochum

2–3

50–100

Brilon

3

30–100

Olpe

3

30–120

Weißgerber

Lippstadt

3

50

Kürschner

Iserlohn

3

50

Iserlohn

4



Soest

3

30–50

Dortmund

3



Soest, Stadt

3

30–36

Soest, Land

3



Schuhmacher

Dortmund

3



Iserlohn

3–4



Siegen

2–4



Siegen

2–4

15–30

Bochum

4

– Kleidung seitens des Meisters

Iserlohn

3

50

Iserlohn

4



Dortmund

3

60

Dortmund

4



Soest

3

30–50

Brilon, Stadt

3

30–40

Kappenmacher

Soest

3



Buchbinder

Soest

4

30–50

Iserlohn

3

90

Iserlohn

4

50

Iserlohn

5



Sattler

Dortmund Bochum

3

30



80–100

39

A. Die Handwerkslehre Bezeichnung des Handwerks

Seiler Bürstenmacher

Weber

Posamentierer

Schneider

Tischler

Kreise

Lehrzeit Jahre

Entgelt seitens der Lehrlinge in Talern

Lippstadt

3

30

Soest

3

30

Dortmund

3



Lippstadt

5



Iserlohn

3



Lippstadt

3

30

Soest, Stadt

3

– bis 12–30 Tl.

Soest, Land

3



Dortmund

3



Siegen

3



Iserlohn

3



Dortmund

5



Lippstadt

3



Dortmund

4

– Bekleidung seitens des Meisters

Soest, Stadt

3

15–20

Soest, Land

3



Brilon, Stadt

3

30–40

Brilon, Land

3

5–10

Lippstadt

3

10–30

Soest, Stadt

3

20–40

Soest, Land

3



Dortmund

Rade- und Stellmacher

Böttcher





Brilon, Stadt

3

10–30

Iserlohn

3



Lippstadt

3

20

Soest

3

30

Iserlohn

3



Brilon

3

30–50

3–4

30

Soest

3

18–40

Lippstadt

3

20–24

Brilon, Land

40 Bezeichnung des Handwerks

Böttcher Drechsler

II. Die gewerbliche Ausbildung Kreise

Lehrzeit Jahre

Entgelt seitens der Lehrlinge in Talern

Bochum

3

25

Iserlohn

3



Soest

3

30–50

Bochum

3

20

Bochum

Glaser und Anstreicher

Maler und Lackierer Schmiede

Messerschmiede Schlosser

Klempner

4



Siegen

2–4

15–20

Iserlohn

3

50

Iserlohn

4



Brilon

3

30–60

Lippstadt

3

30

Dortmund

3



Bochum

3



Brilon

3–4

30–80

Siegen

2–4

15–50

Soest, Stadt

3

25

Lippstadt

3

30–40

Siegen

2–4

15–20

Brilon

3

30–40

Iserlohn

3



Bochum

3



Soest

5

30–60

Siegen

2–4

15–50

Siegen

2–4

15–30

Lippstadt

3

20–30

Siegen

3

10–30

Iserlohn

3



Lippstadt

3

18–30

3–4

30–40

3

30–40

Brilon

3

10–20

Soest

3–4

30–60

3



Soest Brilon, Stadt Zinngießer

Dortmund

41

A. Die Handwerkslehre Bezeichnung des Handwerks

Lehrzeit Jahre

Entgelt seitens der Lehrlinge in Talern

3

100

Siegen

2–4

15–50

Soest

3

50–80

Soest

4



Brilon

3–4

30–120

3

40

4–5

80–150

Brilon

4

50–150

Siegen

2–4

15–50

Glockengießer

Brilon

3–4

40–150

Uhrmacher

Bochum

4

120

Soest

4–5

80–150

Iserlohn

3–4

50–100

Brilon, Stadt

4–5

50–200

Kupferschmiede

Gold- und Silberschmiede

Kreise

Dortmund

Dortmund Soest

4

20–50

Graveure

Brilon, Land Iserlohn

3–4



Färber

Bochum

3



3–4

30–80

4

30–80

Soest Brilon, Stadt Zimmerer

Lippstadt

3

10–30

3–4

30–50

Iserlohn

3



Dortmund

3



Soest, Land

3



Brilon, Stadt

Maurer

Lippstadt

3



3–4

30–100

Soest

3



Brilon, Stadt Dortmund

3



Steinhauer

Dortmund

3



Schieferdecker

Brilon, Stadt

3

30–80

Iserlohn

3

50

Brilon

7

30–100

Iserlohn

6



Schornsteinfeger

42

II. Die gewerbliche Ausbildung

ff. Verbesserung der Ausbildung Dort, wo es zur Gründung von Innungen kam, sollte, der noch erinnerlichen Zunfttradition gemäß, die Kontrolle der gewerblichen Ausbildung nicht bei der förmlichen Annahme der Jungen enden. Durch Statuten führte man mancherorts die halbjährliche oder jährliche Kontrolle des Leistungsstandes der Lehrlinge seitens der Innungen im Sinne des § 45 S. 2 der Verordnung v. 9.2.1849 ein. Soweit erforderlich, sollte die Gemeinschaft der Gewerksgenossen fördernd und unterstützend auf den Lehrling Einfluss nehmen.92 Geradezu revolutionär erscheint die in manchen Innungsstatuten enthaltene Vorschrift, wonach der Nachwuchs befragt werden sollte, wie er sich denn von den Ausbildern behandelt fühlte. Stellte sich dabei heraus, dass der Lehrherr die Pflichten, die ihm nach § 150 der Gewerbeordnung oblagen, versäumte, sollte dieser coram publico, vor den versammelten Meistern, getadelt werden.93 Grobe Verstöße konnten mit einer empfindlichen Geldbuße geahndet werden (§ 185 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845). Vielleicht trugen solche Bestimmungen in der Tat dazu bei, dass der Rückgriff auf das Zunfterbe auch durchaus sicht- und spürbare Erfolge zeitigte. Nach zahllosen Anfangsschwierigkeiten dachten die Lehrlinge nun jedenfalls „mit Ernst an die Fortbildung; Zucht und Ordnung unter der dem Handwerk sich widmenden Jugend waren befestigt“, und es war, so stellte die Münsterische Regierung 1860 befriedigt fest, gelungen,“ den Meistern durch die neuen Aufgaben das so lange entbehrte Selbstvertrauen zurückzugeben“.94 Dieses Urteil, das aus dem Stolz auf das Erreichte kein Hehl machte, symbolisiert den vorläufigen Höhe- und auch Endpunkt einer schwierigen, aber doch nicht erfolglosen Entwicklung, deren zukunftweisende Bedeutung durch die gleichzeitige Erweiterung der ursprünglich rein betrieblichen zu einer „dualen“ Ausbildung mit Hilfe des neuen Typus der Fortbildungsschulen unterstrichen wurde. Die Idee der Verbindung von betrieblich-privatwirtschaftlicher und öffentlich-schulischer Ausbildung, der die Zukunft gehörte, vergaß man seither nicht mehr.95 gg. Bedeutungsverlust der Handwerkslehre Natürlich bestimmten Gesetzgebung und Organisation keineswegs allein die gewerbliche Ausbildung und die Beziehungen zwischen den Lehrlingen und Meistern. Nicht minder wirkkräftig waren die ökonomischen Bedingungen und vor allem die jeweiligen Marktverhältnisse für die Arbeitskraft, da die Folgen der wechselnden Konjunkturen damals noch wenig durch die mäßigenden Wirkungen sozialer Aus92 Vgl. § 1 des Ortsstatuts für die Stadt Lippstadt v. 3.9.1852, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38; danach hatten die Meister im Abstand von sechs Monaten Zeugnisse über „sittliches Betragen und Fortschritte“ der Lehrlinge auszustellen, die der Innung übergeben wurden. 93 So § 42 des Innungstatuts der Tischler, Drechsler, Böttcher, Rade- und Stellmacher sowie Brunnenbaumeister in Soest aus dem Jahre 1852, in: Stadtarchiv Soest B XIX g 9. 94 So das Urteil der Reg. Münster v. 20.9.1860, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 95 Vgl. Isele (1978), Sp. 1760.

A. Die Handwerkslehre

43

gleichsmechanismen gemildert wurden. Als wichtigste dieser exogenen Einflussgrößen verdienen natürlich die Industrialisierungsvorgänge Aufmerksamkeit. Denn das Handwerk war bereits in den Jahrzehnten vor 1850 zur „Ausbildungsschule“ und zum „Arbeitsvorrat“ der aufkommenden Fabrikindustrie geworden.96 Die Statistik zeigt, dass die Zahl der Lehrlinge und Gehilfen im Untersuchungszeitraum weitaus stärker als die der Meister stieg.97 Die deutliche Zunahme des Anteils der Handwerker an der Gesamtbevölkerung war vor allem auf diese Zunahme der Zahl der Unselbständigen im Kleingewerbe zurückzuführen. Damit stand der Industrie ein großes Potential an handwerklich ausgebildeten Arbeitskräften zur Verfügung, als der berühmte „take off“ um die Mitte des Jahrhunderts auch in Westfalen den Arbeitsmarkt zu revolutionieren begann. Die Handwerksausbildung behielt auch in der folgenden Zeit der Hochindustrialisierung, in der die Facharbeiter noch immer durch die Handwerkslehre gingen, ihre Bedeutung für die Industriewirtschaft.98 Noch bis zur Wende zum 20. Jahrhundert verstand sich das Handwerk als einzige wirksame Erziehungsinstitution der gewerblich tätigen Jugend in Deutschland.99 Die zunehmende Interdependenz von Handwerk und Industrie wirkte sich aber auch unmittelbar auf den Ausbildungssektor im Kleingewerbe aus. Das von den Meistern immer wieder lebhaft beklagte „Entlaufen“ der Lehrlinge begann nämlich seinen Charakter zu ändern: Es blieb nicht länger die bloße Folge persönlicher Unzuträglichkeiten zwischen Meistern und Auszubildenden; stattdessen hing der Kontraktbruch jedenfalls seit der Mitte des Jahrhunderts gerade in Westfalen weitgehend von der Industriekonjunktur ab, die von da an wie kaum irgendwo sonst in Preußen den Rhythmus in der gewerblichen Wirtschaft bestimmte. Mit dem industriellen Aufschwung seit Beginn der fünfziger Jahre verlor die Handwerkslehre folgerichtig in den Westprovinzen Preußens ihre Anziehungskraft als Mittel des sozialen Aufstiegs für die Söhne aus der breiten TagelöhnerSchicht, die sie seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts ungebrochen ausgeübt hatte. Die Prüfungsvorschriften wurden zunehmend als Hindernisse und Hemmnisse angesehen, welche nicht länger durch eine besondere Attraktivität der Handwerksberufe für die Unterschicht ausgeglichen wurden. Diese allmähliche Änderung der Einschätzung des Ranges der Handwerkerausbildung in der sozialen 96 97 98 99

So Conze (1976), Bd. 2, S. 439. Dazu ausführlich Deter (2005). Conze (1976), Bd. 2, S. 618, 619. Nach Auffassung des allerdings parteiischen, da doktrinär liberalen Viktor Böhmert genügte der Nachwuchs, den das Handwerk der Industrie zur Verfügung stellte, aber weder qualitativ noch quantitativ den Anforderungen, s. Böhmert (1858), S. 26. In welchem Umfang die Industrie tatsächlich für ihren Nachwuchs Absolventen einer handwerklichen Lehre in Anspruch nahm, war lange Zeit ungeklärt; vgl. Stütz (1969), S. 12. Bekannt sind die Schwierigkeiten, die den Handwerkern beim Übergang zur Fabrikarbeit zu schaffen machten: In der Handwerkslehre hatten sie ein Werkstück vollständig bearbeitet; jetzt waren viele zu einfachster und eintönigster Arbeit gezwungen. Die daraus resultierenden Anpassungsprobleme äußerten sich u. a. in einer sehr großen Fluktuation. „Von 280 Belegschaftsmitgliedern, die 1850 bei Krupp beschäftigt wurden, waren mehr als 250 erst während des vorausgegangenen ¾ Jahres eingetreten. Von diesen schied der größte Teil nach kurzer Zeit wieder aus. Nur ein kleiner Kern erwies sich als leistungsfähig“; s. Jantke (1955), S. 177.

44

II. Die gewerbliche Ausbildung

Hierarchie war natürlich keine spezifisch westfälische Erscheinung. Vielmehr bemerkten die Zeitgenossen sie damals überall. Der sachkundige Publizist Viktor Böhmert stellte 1858 fest, die lange Lehrzeit halte viele davon ab, Handwerker zu werden. Böhmert, einer der wirksamsten Protagonisten der Gewerbefreiheit in Deutschland, vertrat sogar die Ansicht, dass allein schon durch den Wegfall des Prüfungszwanges das Interesse an einer handwerklichen Tätigkeit wieder zunehmen werde.100 Seine Auffassung traf für den engeren Bereich Westfalens allerdings nur eingeschränkt zu. Hier gab weniger der lästige Prüfungszwang als vielmehr der reichliche Verdienst, den Bergbau und Industrie im entstehenden Ruhrrevier boten, den Anlass, dass die potentiellen Lehrlinge sich vom Handwerk abwandten.101 Georg von Viebahn, einer der wichtigsten zeitgenössischen Statistiker, der vor allem seine Zahlenreihen vor Augen hatte, stellte nichtsdestoweniger damals fest, trotz des Lehrgeldes sei der Andrang zum selbständigen Handwerk größer als zur Fabrikarbeit.102 Das wahre Ausmaß der Wanderung vom Kleingewerbe zur Industrie vermochte er aus seinen Daten allein naturgemäß aber nicht zu erkennen. Die unterschiedlichen Interpretationen der Zeitgenossen machen allerdings einen Dissens sichtbar, den es zu erhellen gilt. Geht man den aufgeworfenen Fragen nach, so zeigt sich, dass in den gewerbereichen Orten der Grafschaft Mark seit Beginn des großen „take off“ mehr als die Hälfte der Handwerkslehrlinge keine gebürtigen Westfalen waren. Sie stammten aus dem nichtpreußischen Auslande, insbesondere aus Waldeck und Kurhessen.103 Die westfälische Jugend mit ihrer engeren Beziehung zur industriellen Arbeitswelt bevorzugte eben damals schon die Tätigkeit in den Fabriken, sobald sich die Entbehrungen der Handwerkslehre nicht mehr auszuzahlen schienen. Diese deutliche Orientierung des heimischen Nachwuchses zur Industriearbeit hin nahm während der Hochkonjunktur der Jahre 1868–1874 derartige Ausmaße an, dass das Handwerk Lehrlinge nur mehr sehr schwer oder allein gegen Lohn gewinnen konnte104 – eine Situation, die der Soester Magistrat folgendermaßen beschrieb: „Der Aufschwung der Industrie in unseren benachbarten Kreisen hatte zur Folge, dass nur wenige Knaben bei einem Handwerker in die Lehre eintraten, vielmehr es vorzogen, in den industriellen Bezirken als Fabrikarbeiter sofort hohe Löhne zu verdienen …“.105 Wenig später, nach dem plötzlichen Ende des Gründerbooms, hatten es die 100 Böhmert (1858), S. 341. 101 Nach Feststellungen Jacobis, der ein exzellenter Kenner der Verhältnisse im Regierungsbezirk Arnsberg war, verdiente ein allein arbeitender Meister um die Mitte der fünfziger Jahre dort maximal 150 Taler; mit mehreren Gesellen waren 250 Taler zu erreichen. Die Werkmeister in den Fabriken erhielten dagegen mindestens 200 Taler, nicht selten aber auch bis 500 Taler; s. Jacobi (1857), S. 551. 102 Viebahn (1868), S. 745. 103 Bericht der Reg. Arnsberg an den Handelsminister v. 20.1.1859, zitiert nach Grütters (1933), S. 88, Anm. 38. 104 Stellungnahme des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 23.9.1879, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 105 STAM, Krs. Soest Nr. 206, zitiert nach Joest (1978), S. 318. Natürlich wanderten in Zeiten guter Konjunktur in zunehmenden Maße auch Gesellen in die Fabriken ab, wurden also zu Lohnarbeitern. Kocka hat aber zutreffend darauf hingewiesen, daß auch deren „Einbindung in handwerkliche Verhältnisse und Traditionen nur sehr langsam dahinschwand“; s. Kocka (1990), S. 298.

A. Die Handwerkslehre

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schulentlassenen Jungen dagegen schwer, eine Lehrstelle zu finden. Befriedigt notierte der Soester Bürgermeister nun: „… die heilsamen Folgen der Conkurrenz des Angebots ergeben sich von selbst auch in dem Verhalten der Lehrlinge“.106 Aber nicht nur die Gesetzgebung, die Organisationsstruktur des Handwerks und die wirtschaftlichen Konjunkturen wirkten sich auf die Ausbildung im Kleingewerbe aus. Mindestens ebenso bestimmend waren mentale Veränderungen, die damals mit größerer Ausschließlichkeit das Denken der Menschen geprägt haben dürften als dies heute, angesichts der Vielzahl einander widerstreitender Ideen und Überzeugungen, die in der pluralistischen Gesellschaft um Einfluss ringen, der Fall ist. Mit dem Vordringen liberalen Gedankengutes und den bis dahin ganz unerhörten Erfolgen der schnell aufblühenden Industrie verloren Gesetzgeber und Verwaltung seit Beginn der sechziger Jahre jedes Interesse an der Verbesserung der handwerklichen Ausbildung, ja der Fürsorge für die Gewerbe insgesamt. Die notwendige Folge war, dass die unverändert fortgeltenden Vorschriften bald nicht mehr den Bedürfnissen der sich stürmisch modernisierenden gewerblichen Produktion entsprachen. Die in den gewerbereichen Regionen Westfalens besonders weit fortgeschrittene Arbeitsteilung und Spezialisierung machte natürlich auch vor dem Kleingewerbe nicht halt. Sie brachte ein Handwerk mit ganz eng segmentierten Arbeitsgebieten hervor, z. B. Holzarbeiter, die nur mehr Schlittschuhgestelle anfertigten.107 Das starre Festhalten an der dreijährigen Lehre, die eine umfassende und gründliche Ausbildung gewährleisten sollte, erwies sich in diesen Betrieben natürlich als unsinnig, da das vom Gesetzgeber anvisierte Ausbildungsziel in einseitig strukturierten Werkstätten nicht zu erreichen war. So nimmt es nicht wunder, dass die tradierte Handwerkslehre – und damit natürlich auch ihre rechtliche Ordnung – mit den wachsenden Erfolgen der arbeitsteiligen Produktion in den Mittelpunkt zunehmender öffentlicher Kritik geriet. Die versprengten Stimmen in der Literatur, die an gewissenlose Meister und nachlässige Väter, an die traurigen Beispiele aus der Zeit vor 1849 erinnerten, als es, wie heute noch in Entwicklungsländern, böswillige Spekulanten gab, die gar nicht daran dachten, die Jungen das Handwerk zu lehren, sondern sie so lange mit anderen Arbeiten beschäftigten, bis sie von selbst entliefen,108 fanden kein Gehör mehr. Fragen des Lehrlingswesens wurden für mehr als ein Jahrzehnt in den Akten der staatlichen Verwaltung nicht mehr erwähnt. Auch die Handwerker selbst, die ebenso von dem „neuen Denken“ erfasst worden waren wie die Staatsdiener, sorgten sich nicht länger um die gesetzlich geregelte, organisierte Form der Heranbildung des Nachwuchses. Das mühsam aufgebaute Bildungswesen brach schnell zusammen. hh. Weibliche Lehrlinge Mit der Einführung der Gewerbefreiheit hatten die Frauen, die seit dem ausgehenden Mittelalter mehr und mehr von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen worden waren, die volle Berufsfreiheit wiedererlangt. Die neue Rechtslage blieb aber – an106 S. Anm. 105. 107 Riedel (1861), S. 130. 108 Vgl. Riedel (1861), S. 126, 127.

46

II. Die gewerbliche Ausbildung

gesichts des kaum emanzipatorisch zu nennenden Frauenbildes des Biedermeiers wenig verwunderlich – auf die handwerkliche Frauenarbeit zunächst ohne wesentlichen Einfluss. Die Verordnung vom 9.2.1849 bekräftigte dann noch einmal ausdrücklich, dass die Beschäftigung weiblicher Personen keiner Beschränkung unterliege.109 In den „spezifisch weiblichen“ Handwerksberufen fand danach in der Tat eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten statt, die im wesentlichen auf das Anwachsen der Zahl der Frauen in den Bekleidungsberufen zurückzuführen war. Insbesondere wollten viele junge Mädchen das Gewerbe der Putzmacherei erlernen, weil der Verdienst etwas besser war als in der bloßen Näherei.110 Der Niederlassung selbständiger Schneider-Meisterinnen setzten die männlichen Kollegen damals energischen Widerstand entgegen, so dass die Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen in diesem Beruf begrenzt blieben. Leider weist die preußische Gewerbestatistik des Untersuchungszeitraumes die Zahl weiblicher Handwerker nicht aus. Lediglich die Zollvereinsstatistik des Jahres 1861 vermittelt einen – allerdings nur punktuellen – Eindruck von der Bedeutung der Ausbildung junger Frauen im Handwerk: Tabelle 3: Lehrlinge des Schneider- und Putzmacherhandwerks in Westfalen 1861111

112

Putzmacher/-innen112

Schneider/-innen m

w

m

w

Rgbz. Münster

540

153

-

230

Rgbz. Minden

450

75

1

74

Rgbz. Arnsberg

738

175

2

196

1728

403

3

500

23,3 % der Schneiderlehrlinge und 99,4 % der Putzmachergesellen und -lehrlinge in der Provinz waren demnach 1861 weiblich – eine erhebliche Zahl, die von den diversen Organisationen, die die Handwerker inzwischen wieder aufgebaut hatten, aber unbeachtet blieb, da diese Zusammenschlüsse den Frauen – wie die Männer meinten selbstverständlich – nicht offenstanden. Die Zulassung der Frauen zum Gewerbebetrieb durch den Gesetzgeber hatte diesen zwar Arbeitsmöglichkeiten, keineswegs aber eine völlige Gleichstellung mit den männlichen Berufskollegen gebracht.

109 § 47 der Verordnung v. 9.2.1849, a. a. O. 110 Brodmeier (1963), S. 63, 64. 111 Nach: Tabellen der Handwerker, der Fabriken sowie der Handels- und Transportgewerbe im Zoll-Verein, Berlin (1864), S. 13, 14. 112 Inklusive Gesellen/innen und Gehilfen/innen.

A. Die Handwerkslehre

47

d. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21.6.1869 Aus der Sicht des herrschenden Liberalismus folgerichtig überantwortete die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes113 die Ausbildung des gewerblichen Nachwuchses erneut dem freien Spiel der Kräfte. An die Stelle der gesetzlichen Bindungen trat ein unbedingtes Vertragsverhältnis. Jeder Inhaber einer Werkstatt besaß nun die Befugnis, Lehrlinge in beliebiger Zahl einzustellen (§§ 115, 116). Der Meister war verpflichtet, den Lehrling zum tüchtigen Gesellen auszubilden (§ 118). Für bestimmte Fälle groben Verschuldens seitens des Meisters sowie bei Wechsel zu einem anderen Berufe war es dem Jungen gestattet, den Lehrvertrag vor Ablauf der Lehrzeit aufzulösen (§§ 121, 122). Sonstige Schutzvorschriften für den Auszubildenden kannte die Gewerbeordnung nicht mehr. Mit diesen dürren Regelungen glaubte der Gesetzgeber sich seiner Pflichten entledigen zu können. Ansätze zur Verbesserung der Lebensumstände der Lehrlinge mussten daher aus dem nichtstaatlichen Bereich kommen. Und in der Tat blieben solche Initiativen auch nicht aus. Sie zeigten sich vor allem in der dringenden Empfehlung der Kolpingvereine aus dem Jahre 1870, Lehrlingsvereine zu gründen.114 Etwa gleichzeitig setzte eine umfangreiche Publizistik zum Lehrlingswesen ein, die die Berufsausbildung nicht mehr nur als Mittel der Gewerbepolitik und -förderung, sondern auch als Gegenstand sozialpolitischer Ansätze betrachtete. Trotz dieses zaghaften Neubeginns vermochte sich die gewerbliche Berufsausbildung von dem Schlag, der ihr mit dem Erlass der liberalen Gewerbeordnung des Jahres 1869 versetzt worden war, so schnell nicht wieder zu erholen. Denn nicht nur die soziale Lage der Lehrlinge ließ zu wünschen übrig. Auch die fachliche Unterweisung blieb immer noch dringend verbesserungsbedürftig; hier wirkte die neue Gewerbeordnung kaum förderlich. Wie wenig die praktische Berufsausbildung auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zufriedenstellend geregelt werden konnte, beweisen nicht zuletzt die Enquêten der siebziger Jahre zum Lehrlingswesen.115 Nach der Beseitigung des Prüfungszwanges geschah für die technische und wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks eben nichts mehr. Mit dieser Neuregelung seien, so meinten die zeitgenössischen Kritiker, die Erziehungszwecke verloren gegangen,116 so dass auch die beruflichen Fähigkeiten in erschreckendem Maße abnähmen. Eine wirkliche Ausbildung kam nach Einschätzung kritischer Zeitgenossen in der Tat nur noch wenigen zugute.117 Während des Booms der Gründerjahre wurde es üblich, dass die etwas fortgeschritteneren Lehrlinge von fremden Meistern durch den ihnen gebotenen höheren Lohn zum Verlas113 Z. B. in: Jahrbücher für National-Ökonomie und Statistik, hrsg. v. Bruno Hildebrand (1869), S. 144 ff. 114 Schweitzer (1905), S. 305. 115 So z. B.: Zur Reform des Lehrlingswesens … (1875); Ergebnisse der über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen und Fabrikarbeiter auf Beschluss des Bundesrats angestellten Erhebungen … (1877); s. auch Schulze, Das heutige gewerbliche Lehrlingswesen … (1876); Bücher, Die gewerbliche Bildungsfrage … (1877); vgl. auch Lundgreen (1971), S. 575. 116 Bücher (1877). 117 Vgl. Grandke (1897), S. 270.

48

II. Die gewerbliche Ausbildung

sen ihrer Lehrherrn aufgefordert wurden. Die Lehrlinge, so wurden die Verhältnisse beschrieben, missbrauchten ihre nach Erlass der Gewerbeordnung von 1869 neugewonnene Bewegungsfreiheit, indem sie das Lehrverhältnis noch häufiger als zuvor schon durch Davonlaufen auflösten,118 wofür vielfach das Streben der Eltern oder des Lehrlings selbst nach Gelderwerb ausschlaggebend war.119 Die Meister hielten sich durch bewusste Vernachlässigung der Ausbildung schadlos. Die kontraktlich festgesetzte Lehrzeit wurde häufig nicht mehr eingehalten, die Lehrlinge verloren das Interesse an jeder qualifizierten Ausbildung. Mit dem Wegfall der Prüfungen war der wichtigste Leistungsanreiz entfallen.120 Lehrgeld musste nur noch in den seltensten Fällen entrichtet werden. Meist erhielt der Junge stattdessen noch eine Art Kostgeld. Das Lehrverhältnis nahm nicht selten den Charakter eines Arbeitsverhältnisses an.121 Die forcierte Industrialisierung insbesondere in den sechziger Jahren und siebziger Jahren führte zudem zu einer wachsenden Auflösung der handwerklichen Standesgemeinschaft und damit zu einer „sozialen Atomisierung“.122 Der dadurch maßgeblich geförderte Qualitäts-Verfall der handwerklichen Ausbildung hatte mittelbar auch ein merkliches Absinken des Leistungsstandes der Industrie zur Folge, da, wie bereits festgestellt, eine spezifische industrielle Berufsausbildung damals noch unbekannt war. Der hellsichtige Schmoller beklagte diesen Verfall des mühsam aufgebauten Ausbildungssystems: „Das Gefährliche aller in neuerem Style eingerichteten Geschäfte ist es, schon den 14-jährigen als reinen Arbeiter zu gebrauchen, ohne ihn etwas lernen zu lassen, ohne ihm einen Überblick über die sämtlichen kaufmännischen und technischen Spezialitäten seiner Geschäftsbranche zu geben“.123 Bezeichnend ist, dass die mangelhafte technische Ausbildung und das Fehlen eines geregelten Lehrlingswesens als die erste Ursache der großen Handwerkskrise der 80er und 90er Jahre genannt wurden.124 Doch nicht nur die liberale Gesetzgebung und die Hausse in der gewerblichen Wirtschaft nahmen einen verderblichen Einfluss auf die Qualität der Handwerkslehre. Das immer stärker bemerkbar werdende Eindringen der Technik in den Handwerksbetrieb, der Wegfall der Abgrenzung der einzelnen Handwerke voneinander, die – schon genannte – schnell zunehmende Spezialisierung bei der Herstellung der Handwerkswaren,125 der Übergang vieler Betriebe von der eigenen Produktion zum bloßen Verkauf von Fabrikwaren126 modifizierten die Stellung des Lehrlings in der Werkstatt in den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung in vielen Berufssparten zutiefst. Hatte der Lehrjunge um die Mitte des Jahrhunderts noch all die verschiedenen Arbeiten seines Gewerbes, die in jeder Werkstatt vorkamen, er118 Stütz (1969), S. 79, unter Bezugnahme auf Rücklin (1880). 119 Stütz (1969), S. 34,35, unter Hinweis auf Bücher (1877). 120 Schmoller (1870), S. 354. 121 Waentig (1908), S. 38, 39. 122 Meusch/Wernet, Art. ‚Handwerkerbewegung‘, (1956), Bd. 5, S. 35, 36. 123 Schmoller (1870), S. 355. 124 S. Thissen (1901), S. 65. 125 S. Schmoller (1870), S. 354. 126 Der allerdings zur Polemik neigende Victor Böhmert stellte schon 1858 fest, Lehrlinge und Gesellen könnten im Handwerk nichts mehr lernen, da aus den Werkstätten Krämerläden geworden seien; s. Böhmert (1858), S. 32.

A. Die Handwerkslehre

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lernen können und wurde er, jedenfalls im Idealfall, durch die Prüfungen zu einer breiter angelegten Ausbildung genötigt, so setzte man ihn nun in den vielen spezialisierten Werkstätten immer häufiger lediglich dazu ein, um Tagelöhner und Dienstboten zu ersetzen.127 So mochte die traditionelle Handwerkslehre, welche die Gesetzgebung der Jahre 1845/49 auf ein neues, tragfähiges Fundament zu stellen beabsichtigt hatte, nach Einschätzung kritischer Beobachter im Gefolge des Erlasses der liberalen Gewerbeordnung v. 21.6.1869 einem verdorrenden Pflänzchen gleichen. Andererseits stellte eine Enquệte des Bundesrates aber 1875 fest, „daß die neuere gewerbliche Entwicklung die Bedeutung des Lehrlingsverhältnisses im wesentlichen unberührt gelassen hat, soweit das eigentliche Handwerk in Betracht kommt; hier besteht noch überall eine feste Grenze zwischen Lehrling und Gesellen, sie gibt sich in dem Unterschied der gesellschaftlichen Stellung, in der Abhängigkeit des Lehrlings vom Meister und Gesellen ebensowohl kund, wie in den verschiedenen Arbeits- und Lohnverhältnissen“.128 Allerdings führte die kollektive Erfahrung der Folgen gesetzgeberischer Abstinenz in diesem für das Gedeihen der gewerblichen Wirtschaft so überaus wichtigen, aber auch sensiblen Bereich schließlich, gegen Ende des Jahrhunderts, zur Neuordnung der Handwerkslehre. Die unübersehbaren Fehlentwicklungen während dreier Jahrzehnte bewirkten, dass sich der Staat den Forderungen der schon in den siebziger Jahren wieder neu auflebenden Handwerkerbewegung zugänglich zeigte und wichtige Aspekte ihrer Petita im Handwerksgesetz des Jahres 1897 verwirklichte. Die gegen Ende des Jahrhunderts getroffenen Maßregeln wurden seither – jedenfalls im Grundsatz – nicht mehr angefochten. Sie trugen maßgeblich zu dem unbestrittenen Leistungs- und Qualitätsstandard und damit zu dem außerordentlich Erfolg der deutschen Wirtschaft im folgenden Säkulum bei. 3. Der Zudrang zum Handwerk und die sozialen Folgen Der Stellenwert der gewerblichen Ausbildung hatte sich mit der Einführung der Gewerbefreiheit stark verändert. Durch die Liberalisierung waren die diversen Zulassungsbeschränkungen wie eheliche Geburt, bestimmte Konfession, u. U. auch Herkunft aus einer Meisterfamilie, entfallen. Dadurch wurde die Handwerkslehre ihrer jahrhundertealten Exklusivität entkleidet. Es ist die Auffassung vertreten worden, dass die demographische Entwicklung im Verein mit der Gewerbefreiheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen bis dahin unbekannten Zudrang zum Handwerk verursacht habe, der zu einer grundsätzlichen Veränderung des Sozialgefüges des Kleingewerbes geführt129 und der Handwerkslehre im gesamtgesellschaftlichen Kontext ein weitaus größeres als das bis dahin gewöhnliche Gewicht vermittelt habe. Die preußische Gewerbestatistik spricht in der Tat eine eindeutige Sprache: 127 Schmoller (1870), S. 353. 128 Zitiert nach Kocka (1990), S. 339. Kocka betont deshalb, die Lehre sei „insgesamt … unter der Regie der Meister – und nicht der Gesellen oder Behörden -“ geblieben. 129 So jedenfalls Abraham (1963), S. 56.

50

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 4: Die quantitative Entwicklung des preußischen Handwerks130 Jahre

1816

1819

1822

1825

1828

1831

1834

1837

1840

1843

Meister

258830

276815

295584

315118

323538

334346

356515

375097

396016

408825

Hilfskräfte

145459

142149

161968

187176

183594

187565

215650

244875

280089

311458

Summe

404289

418964

457552

502294

507132

521911

572165

619972

676105

720283

Bevölkerung in Millionen

10,40

11,03

11,71

12,30

12,78

13,09

13,56

14,15

14,99

15,53

Anteil der Handwerker an der Bevölkerung in %

3,88

3,79

3,90

4,08

3,96

3,98

4,21

4,38

4,51

4,63

Handwerkerbevölkerung (incl. Familienangehörige) Deren Anteil an der Bevölkerung in %

1206862 1277090 1373862 1479159 1510099 1558383 1677361 1782772 1903754 1987640

11,60

11,57

11,71

12,02

11,81

11,90

12,36

12,59

12,69

12,79

Es ist errechnet worden, dass die Summe der 1843 vorhandenen Meister in Preußen sich zu derjenigen von 1816 wie 158 : 100 verhielt, während das entsprechende Verhältnis bei den Hilfskräften 214 : 100 lautete.131 Damit entsprach die Zunahme bei den Meistern etwa der Bevölkerungsentwicklung, wohingegen sie bei den Hilfskräften weitaus größer war. 1816 hatte sich die Zahl der Meister zu derjenigen der Gehilfen wie 5 : 3 verhalten, um sich bis 1845 auf 4 : 3 angenähert zu haben. Die Vergrößerung der Handwerksbevölkerung zwischen 1816 und 1843 war demnach, betrachtet man Preußen als Ganzes, ausschließlich auf die überdurchschnittliche Zunahme der Gesellen- und Lehrlingszahl zurückzuführen. Die Meister hatten vor 1831 einen stärkeren Zuwachs zu verzeichnen; der signifikante Anstieg bei den Hilfskräften begann dagegen mit den dreißiger Jahren. Während die Zunahme der Selbständigen in Preußen zwischen 1840 und 1843 im Durchschnitt der Handwerke nur 5,09 % betrug, lag sie bei Gesellen und Lehrlingen bei 10,8 %.132 Bei den Bäckern beispielsweise nahm die Zahl der Meister in den drei Jahren um 3,41 % zu, die der Gesellen dagegen um 8,7 %; die Zahl der Schneidermeister wuchs im selben Zeitraum um 5,6 %, die der Gesellen aber um 12,53 %; bei den Schlossern betrug dieses Verhältnis 7,98 % zu 11,48 %. Betrachtet man Preußen als Ganzes, so stieg die Zahl der Hilfskräfte zwischen 1816 und 1858 auf fast das Zweieinhalbfache ihres Ausgangswertes; sie nahm also erheblich stärker zu als die Meisterzahl. Kaufhold hat dabei zwei in ihrem Ausmaß fast gleiche „Entwicklungssprünge“ beschrieben:133 In der Periode 1831–46 und 1849–58 130 131 132 133

Quelle: Abraham (1963), S. 55. S. Abraham (1963), S. 55 S. Abraham (1963), S. 64, 65 Kaufhold (1971), S. 176

51

A. Die Handwerkslehre

Tabelle 5: Das Zahlenverhältnis zwischen Meistern und Gesellen bzw. Lehrlingen in Preußen von 1816 bis 1843134 Auf 100 Meister kamen

Gesellen und Lehrlinge

1816

56,19

1819

51,34

1822

54,92

1825

59,39

1828

56,74

1831

56,09

1834

60,48

1837

65,28

1840

70,72

1843

76,18

nahm die Betriebsgröße jeweils besonders stark zu. Die so signifikante Vergrößerung der Werkstätten lässt zwar nicht unmittelbar auf einen Überbesatz an Lehrlingen schließen. Entscheidender wurde die Bewegung der Betriebsgröße durch die verstärkte Einstellung von Gesellen beeinflusst. Denn die Zählung von 1858, die als einzige aus dem Untersuchungszeitraum Gehilfen und Lehrlinge getrennt ausweist, lässt in den untersuchten Berufen ein Verhältnis von 2 : 1 zugunsten der Gehilfen erkennen.135 Die von den Zeitgenossen viel beklagte sog. „Lehrlingszüchterein“ ist auf Grund der statistischen Daten demnach so nicht nachweisbar. Nichtsdestoweniger setzte die geschilderte Entwicklung aber doch einen starken Anstieg auch der Zahl der Auszubildenden voraus. Die unübersehbare Vergrößerung der Betriebe seit Beginn der fünfziger Jahre deutet den Beginn eines Strukturwandels von säkularem Ausmaß im Handwerk an, der bis in die Gegenwart anhält. Die für Preußen insgesamt ermittelten Daten lassen sich allerdings nur sehr begrenzt auf Westfalen übertragen. Denn die folgende Tabelle zeigt, dass der Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung und damit auch der der Gesellen und Lehrlinge in den einzelnen Landesteilen Preußens sehr verschieden war.136 Eine differenzierende Betrachtung ist also angezeigt. Für Westfalen lässt sich feststellen, dass der Anteil der Gesellen und Lehrlinge an der Gesamtbevölkerung 1843 nur leicht über dem preußischen Durchschnitt lag, während der Anteil der Meister an der Gesamtbevölkerung dort signifikant höher als im preußischen Durchschnitt ausfiel137. Die typische kleinbetriebliche Struktur des westfälischen 134 Errechnet von Schmoller (1870), S. 331; s. dazu Abraham (1963), S. 56 135 Vgl. Kaufhold (1971), S. 176 136 Zur regionalen Gliederung des Handwerks in Preußen und ihrer Entwicklung vgl. Kaufhold (1971), S. 183, 184. Kaufhold unterscheidet allerdings nur zwischen östlichen, mittleren und westlichen Provinzen, so dass die Besonderheiten der westfälischen Handwerksstruktur in seinen Untersuchungen nicht erkennbar werden. 137 Trotz der unübersehbaren Zunahme der Betriebsgröße überall in Preußen blieb die Zahl der Gesellen und Lehrlinge auch 1843 noch hinter derjenigen der Meister zurück, wenngleich die

52

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 6: Die Handwerker in Preußen im Jahre 1843

138139140141142

Meister o. ä.138

Gesellen u. Lehrlinge139

Anteil d. Meister an d. Gesamtbev. v. H.140

Anteil d. Gesellen u. Lehrlinge an der Gesamtbev. in v. H.141

Durchschnittlich. Betriebsgröße (Meister u. Hilfskräfte je Betrieb)142

Preußen

43986

37958

1,8

1,6

1,8

Posen

27354

18433

2,1

1,4

1,6

Brandenburg

51049

65444

2,6

3,4

2,3

Pommern

24844

23190

2,2

2,1

1,9

Schlesien

69381

57715

2,3

2,0

1,8

Sachsen

53852

51643

3,2

3,1

2,0

Westfalen

44842

34642

3,1

2,4

1,8

Rheinprovinz

94913

69635

3,5

2,6

1,7

Summe bzw. Durchschnitt

410221

358660

2,6

2,3

1,9

Handwerks kommt nicht nur in diesem Umstand, sondern auch darin zum Ausdruck, dass die durchschnittliche Betriebsgröße bei hoher Betriebsdichte in Westfalen geringer als im Durchschnitt der Monarchie war.143 Die räumlichen Unterschiede innerhalb Preußens werden noch deutlicher, wenn man sie in den längerfristigen Entwicklungszusammenhang stellt: Die Betriebsgröße im Westen der Monarchie nahm im Vergleich zu den östlichen Provinzen im Untersuchungszeitraum nur gering zu, während sich der Handwerkeranteil an der Bevölkerung demgegenüber im Westen stärker als im Osten erhöhte. Kaufhold erklärt dies durch die in den westlichen Provinzen schon zu Beginn des Untersuchungszeitraums stärkere gewerbliche Verdichtung.144 Diese Struktur habe sich zwischen 1822 und 1858 noch deutlicher ausgeprägt. Während der Handwerkeranteil im Osten nur von 2,7 auf 2,9 anstieg, erhöhte er sich im Westen Preußens von 3,4 auf 4,3 v. H. Das Zurückbleiben der Betriebsgrößen im Rheinland und in Westfalen folgte aus dem hohen Anteil des Landhandwerks mit seinem typischerweise geringen Betriebsumfang, der für die westlichen Provinzen kennzeichnend war.

138 139 140 141 142 143 144

Betriebsgröße in den einzelnen Gewerben recht unterschiedlich war; s. dazu Abraham (1963), S. 60, 61. Quelle: Dieterici (1845), S. 143; zu der Berechnungsart und den Mängeln der Statistik s. Abraham (1963), S. 58 ff. Wie Anm. 136. Errechnet nach den Angaben bei Dieterici (1845), S. 143, 26; s. auch Anm. 136. Wie Anm. 139. Wie Anm. 139. Vgl. Kaufhold, Das preußische Handwerk (1971), S. 186. Kaufhold (1971), S. 183, 184.

53

A. Die Handwerkslehre

Tabelle 7: Durchschnittliche Betriebsgrößen des Handwerks und Handwerkeranteil an der Bevölkerung (ohne Bauhandwerk) in Preußen 1822 und 1858 nach Landesteilen145 Landesteil

Durchschn. Betriebsgrößea)

Handwerkeranteil an der Bevölkerung in v. H.

1822

1858

1822

1858

Provinzenb)

1,4

1,7

2,7

2,9

Mittlere Provinzenc)

1,6

1,8

3,7

4,3

Schlesiend)

Östliche Provinz

1,4

1,7

2,9

3,5

Westliche Provinzen

1,5

1,6

3,4

4,3

Ganz Preußen (zum Vergleich)

1,5

1,7

3,2

3,7

Anmerkungen: a) Beschäftigte (Meister und Hilfskräfte) je Meister. b) Preußen (Ost- und Westpreußen), Posen, Pommern. c) Brandenburg einschl. Berlin, Sachsen. d) Westfalen, Rheinl.

Diese auf Grund eines groben Datenrasters getroffenen Feststellungen Kaufholds bedürfen allerdings für den engeren Bereich Westfalens der Modifizierung und Differenzierung. Denn sie könnten den Schluss nahe legen, dass der Stellenwert der Handwerkslehre auf Grund schnell steigender Lehrlingszahlen nur im Osten zugenommen habe, während der Ausbildung im Westen auf Grund der fortdauernden kleinbetrieblichen Struktur, d. h. geringerer Lehrlingszahlen pro Meister, keine neue, größere und das Sozialgefüge des Handwerks verändernde Bedeutung zugewachsen sei. Eine solche Annahme lässt sich ausweislich des statistischen Materials für Westfalen aber nicht verifizieren. Die Zunahme der Zahl der Handwerker in der Provinz war in der Tat außerordentlich: Tabelle 8: Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung (in v. T.)146 Münster

Arnsberg

Minden

1822

34,03

50,74

29,25

1840

40,63

61,56

31,49

1861

44,93

57,11

36,30

145 Quelle: Kaufhold (1971), S. 183. 146 Die ermittelten Werte beziehen sich nicht auf das gesamte Handwerk, sondern nur auf die 23 untersuchten Handwerksberufe [s. dazu ausführlich Deter (2005), S. 20]. Zu den Statistiken, die der Berechnung zugrunde liegen, s. dort S. 17–19. Es konnten bei der Erstellung der folgenden Tabellen nicht die gleichen Jahre berücksichtigt werden, die Kaufhold (1971) für seine Untersuchung gewählt hat, da für den verfolgten Untersuchungszweck auch die Vergleichbarkeit der Daten der westfälischen Regierungsbezirke untereinander unverzichtbar ist. Das statistische Material auf der Ebene der Regierungsbezirke ist aber lückenhaft; deshalb wurden die Jahre 1820, 1840, 1861 gewählt, für die die notwendige Vergleichbarkeit gegeben ist. All dies gilt auch für die folgenden Tabellen.

54

II. Die gewerbliche Ausbildung

Trotz der bereits hohen Ausgangswerte wuchs der Handwerkeranteil in allen drei Regierungsbezirken im Untersuchungszeitraum ganz erheblich. Im Münsterland lässt sich dieser Vorgang als kontinuierlicher Prozess beschreiben, auch wenn das Wachstum zwischen 1822 u. 1840 dort stärker als in der längeren Phase von 1840 bis 1861 ausfiel. Im Arnsberger Bezirk, der aufgrund der frühen gewerblichen Verdichtung in der ehemaligen Grafschaft Mark bereits 1822 einen ungewöhnlich hohen Anteil von Handwerkern an der Bevölkerung aufwies, wuchs das Handwerk bis 1840 nochmals außerordentlich kräftig. Die deutliche Verringerung des Handwerkeranteils in Südwestfalen während des Zeitraums von 1840 bis 1861 ist darauf zurückzuführen, dass der Zollvereinsstatistik des Jahres 1861 andere Erhebungskriterien zugrunde lagen als der preußischen Statistik in den Jahrzehnten zuvor. Ein erheblicher Teil der dort 161840 noch als Handwerker geführten Gewerbetreibenden fand 1861 Aufnahme in die Fabrikentabelle. Außerdem dürften in der 1850 beginnenden Hochindustrialisierungsphase auch zahlreiche Handwerker des höheren Verdienstes halber ihr Gewerbe aufgegeben und in Industrieunternehmen Beschäftigung gefunden haben. Im Regierungsbezirk Minden wuchs der Handwerkeranteil an der Bevölkerung – ausgehend von einer niedrigeren Basis als in den anderen Bezirken – demgegenüber zunächst vergleichsweise gering, um dann zwischen 1840 und 1861 doch stärker anzusteigen. Berücksichtigt man aber, dass der Handwerkeranteil in den östlichen Provinzen Preußens zwischen 1822 und 1858 von 2,7 v. H. der Bevölkerung auf lediglich 2,9 anstieg,147 so wird deutlich, dass der Zuwachs selbst in Ostwestfalen noch erheblich war. Der starken und signifikanten Zunahme des Handwerkeranteils steht aber ein relativ schwaches Wachstum der Meisterzahl gegenüber: Tabelle 9: Anteil der Meister und für eigene Rechnung arbeitenden Handwerker (incl. Flickarbeiter) in v. T. der Bevölkerung Münster

Arnsberg

Minden

1822

22,36

33,36

20,51

1840

27,46

37,99

21,13

1861

27,76

35,11

21,66

Lediglich zwischen 1822 und 1840 wuchs die Zahl der selbständigen Handwerker, und zwar nur in den Bezirken Münster und Arnsberg, in erheblichem Umfang. In Minden ist für den gesamten Untersuchungszeitraum kaum eine Bewegung festzustellen. Die Meisterzahl erhöhte sich dort lediglich im Einklang mit dem Bevölkerungswachstum. Dies gilt für den Zeitraum 1840–1861 auch für die beiden übrigen westfälischen Regierungsbezirke. (Das statistische Absinken der Meisterzahl für Arnsberg ist wiederum auf die Änderung der Erhebungsmodalitäten zurückzuführen).

147 S. Tabelle 14.

55

A. Die Handwerkslehre

Das eigentlich bemerkenswerte ist nicht die Veränderung der Meisterzahlen, sondern die Tatsache, dass ganz im Gegensatz zu der von Kaufhold für den Westen insgesamt angenommenen Entwicklung die Zahl der Hilfskräfte auch in Westfalen sehr viel stärker anstieg als die der Meister: Tabelle 10: Anteil der Hilfskräfte (Gesellen und Lehrlinge) an der Gesamtbevölkerung (in v. T.) Münster

Arnsberg

Minden

1822

11,69

17,40

8,66

1840

13,17

23,57

10,37

1861

17,16

22,01

15,28

Der Zuwachs der Hilfskräfte war im Bezirk Arnsberg schon in der Phase zwischen 1822 und 1840 sehr kräftig, und lediglich wegen der Veränderungen in der statistischen Aufnahme lässt er sich für die folgenden Jahrzehnte nicht nachweisen. Demgegenüber entwickelte sich das Wachstum der Betriebe in Münster und Minden zunächst zwar verhaltener, in dem Zeitraum nach 1840 aber desto kräftiger. Wie aber lassen sich diese Ergebnisse der Auswertung des statistischen Materials für Westfalen mit Kaufholds Feststellung in Einklang bringen, die Betriebsgröße sei im Westen geringer gestiegen als im Osten?148 Der Schlüssel zur Erklärung der bislang nicht differenzierend betrachteten quantitativen Entwicklung liegt in den durchaus von Westfalen zu unterscheidenden wirtschaftsstrukturellen Verhältnissen des Rheinlandes. Nicht zuletzt die dort gebräuchliche bäuerliche Erbsitte der Realteilung und die daraus resultierende höhere Bevölkerungsdichte dürfte für den deutlich größeren Anteil der Meister an der Gesamtbevölkerung im Rheinland verantwortlich gewesen sein. Mit 3,5 v. H. (1843) erreichte die Meisterzahl in der Rheinprovinz den höchsten Anteil in Preußen insgesamt und lag damit erheblich über dem für Westfalen gefundenen Mittelwert (3,1 v. H.).149 Zwar war auch der Anteil der Gesellen und Lehrlinge an der Gesamtbevölkerung größer (1843: 2,6 v. H.) als derjenige in Westfalen (1843: 2,4 v. H.). Doch hatte die außerordentlich hohe Meisterzahl zur Folge, dass die durchschnittliche Betriebsgröße in der Rheinprovinz mit 1,7 geringer als in Westfalen mit 1,8 war (1843). Der unübersehbar niedrigere Anstieg der durchschnittlichen Betriebsgröße im Westen Preußens war nach alledem vor allem auf die strukturellen Verhältnisse des Rheinlandes zurückzuführen; das starke Wachstum der Lehrlings- und Gesellenzahlen in Westfalen entsprach demgegenüber eher der Entwicklung in den mittleren und östlichen Provinzen der Monarchie. Für die Bevölkerung der Rheinprovinz hatte die handwerkliche Ausbildung wegen des hohen Anteils der Gesellen und Lehrlinge an der Bevölkerungszahl (1843: 2,6 v. H.) ohnehin große Bedeutung, und auch in Westfalen gewann sie im Untersuchungszeitraum schnell an Gewicht.

148 So Kaufhold (1971), S. 184. 149 S. o., Tabelle 13.

56

II. Die gewerbliche Ausbildung

Die ungewöhnliche Zunahme der Zahl der Hilfskräfte im Handwerk, die sich für Preußen insgesamt feststellen lässt und die das Verhältnis zwischen Meistern und Lehrlingen grundsätzlich ändern musste, ist nach alledem ein Phänomen, dass sich auch für Westfalen konstatieren lässt. Im – nicht häufig realisierten – Idealfall hatte die Zunft während der frühen Neuzeit dafür Sorge getragen, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Meistern und Hilfskräften so austariert war, dass die Lehrlinge und Gesellen eine realistische Aussicht auf Selbständigkeit nach der Meisterprüfung hatten.150 Das sprunghafte Ansteigen der Zahl der Hilfskräfte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zerstörte dann aber endgültig das alte handwerkliche Ordnungsgefüge. Denn der Handwerkernachwuchs stammte inzwischen notwendigerweise vor allem aus nicht handwerklichen Sozialschichten.151 Insbesondere die Söhne der städtischen Tagelöhner sowie der Heuerlinge, Kötter und Kleinbauern aus den ländlichen Regionen nahmen die Chance, die sich ihnen durch die Freiheit der Berufswahl bot, wahr; sie suchten als Handwerkslehrlinge in den Städten unterzukommen.152 Dort konnte der starke Lehrlingsbesatz nur deshalb verkraftet werden, weil die Städte traditionsgemäß zusätzlich zu ihrem eigenen Bedarf einen erheblichen Teil der späteren Landhandwerker und, jedenfalls nach 1850, der Industriearbeiter ausbildeten, zahlreiche Lehrlinge also nach Abschluss der Ausbildung wieder abwanderten. Diesen Nachwuchs lockte notabene nicht die Aussicht auf Verdienst in das Handwerk; erheblichen Gewinn konnten die jungen Leute aus der Unterschicht angesichts ihrer kapitallosen Vergangenheit und Gegenwart weder in der Stadt noch auf dem Lande erhoffen: Für diese Schicht war die Handwerkslehre vielmehr das neugewonnene Mittel zum sozialen Aufstieg. Mit dem Weg ins Handwerk konnten sie, wie sie glaubten, auch ohne Kapital „etwas besseres als Tagelöhner“153 werden. Die seit den zwanziger Jahren stark ansteigende Zahl der Lehrlinge führte schließlich dazu, dass das Handwerk für den gewerblichen Mittelstand in den Städten nicht länger die erstrebenswerte, lebenslang einigermaßen sichere und bequeme Versorgung blieb, die es zur Zunftzeit jedenfalls partiell gewesen war. Aus Soest berichtet Geck, der kritische Beobachter der sozialen Verhältnisse der Hellwegstadt in den 150 Abraham behauptet, dieses System habe bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im wesentlichen funktioniert, s. Abraham (1963), S. 66. Doch sind die Klagen über die „Übersetzung“ des Handwerks schon aus den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts Legion. 151 Vgl. Abraham (1963), S. 92. 152 Gülich (1972), S. 658. Der Drang zur Handwerkslehre führte in Westfalen aber nicht zu solchen Missständen, wie sie aus den ostelbischen Küstenstädte berichtet wurden. Dort hielt sich, seit die Annahme von Lehrlingen infolge der Gewerbefreiheit nicht mehr beschränkt war, fast jeder Meister in den Bauhandwerken 20 bis 40 Lehrlinge. Diese zahlten ein hohes Lehrgeld (mindestens 50 T.), erhielten aber nur geringen Tagelohn (4–8 Sgr.) Die Bauhandwerksmeister gelangten auf diese Weise zu großem Reichtum, während die arbeitslosen Gesellen das Nachsehen hatten. In Westfalen blieb diese Entwicklung aus, da § 349 Tit. 8 T. II des ALR die Verwaltungsbehörden ermächtigte, die Lehrlingszahl zu beschränken. Diese Bestimmung galt aber nach § 348 Tit. 8 II ALR für die „Haupthandlungs- und Seestädte“ nicht; s. Schreiben v. 12.12.1839, in: STAM, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B III 1 Nr. 6 Bd. 2, fol. 48–51. 153 So der Zeitgenosse Hasemann, Art. ‚Geselle‘, (1856) S. 436.

A. Die Handwerkslehre

57

zwanziger Jahren, dem Handwerkerstand mangele es an Reputation und deshalb entzögen sich ihm gerade solche jungen Leute, die ihn fördern könnten. Sie wollten lieber mittelmäßige Beamte als tüchtige Professionisten werden.154 Wenn dieser lokale Chronist als Ergebnis seiner Analyse eine Perforierung des tradierten Sozialgefüges feststellte, so traf dies nicht nur für Soest zu. Dasselbe beobachteten auch die Meister im ostwestfälischen Warburg; sie sahen es als ausgemacht an, dass in der ganzen Provinz kein „bemittelter“ Einwohner seine Kinder ein Handwerk lernen lasse, weil darin niemand mehr eine vielversprechende Zukunft sehen könne.155 Ähnliches ist auch für andere Provinzen Preußens festgestellt worden. So klagte der Apologet der altständisch- patriarchalischen Ordnung in Preußen, Karl August Ludwig von der Marwitz: „In den Städten war kein Bäcker, Schuster oder Schneider mehr, der nicht versuchte, seinen Sohn studieren zu lassen, um ihn im Dienste des Staates anstellen zu können“.156 Herwig Blankertz hat nicht Unrecht, wenn er in dem quantitativen Aufstieg des Handwerks in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „zugleich ein Element seiner inneren Zerstörung“ erblickt.157 Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch der etablierten Meister nach neuer sozialer Distanz innerhalb des während der Zunftzeit nicht nach sozialen Schichten, sondern nur nach rechtlich definierten Ausbildungsgraden (Lehrling-Geselle-Meister) differenzierten Handwerkerstandes leicht erklärlich. Die völlige Trennung zwischen Meisterhaushalt und Werkstatt begann. Diese Tendenz, in den Städten weit eher als auf dem Lande virulent, wurde verstärkt durch die steigenden Ansprüche des Bürgertums an die Wohnkultur.158 Mit der erheblichen Zunahme der Hilfskräfte vor allem zu Beginn der vierziger Jahre wurden die Personalräume in den Häusern der Handwerker überbelegt, während sich die Wohnverhältnisse der Meisterfamilien im allgemeinen kontinuierlich besserten. Dadurch brachte der kleinbürgerliche Meister den Rangunterschied zwischen seiner Familie einerseits und den Gesellen und Lehrlingen andererseits sichtbarer denn je zum Ausdruck. Der Zerfall der traditionellen Formen des Meisterhaushaltes beschleunigte sich dadurch. Die Meisterin spielte fortan in der handwerklichen Arbeitswelt keine Rolle mehr. Ihr traditionell nicht unbedeutender Einfluss auf die Ausbildung der Handwerksjugend entfiel, und zwar, wie Abraham meinte, sehr zum Schaden der Lehrlinge.159 Lediglich im Landhandwerk erhielt sich die archaische Form des Zusammenlebens aller in einer Werkstatt miteinander arbeitenden Handwerker im Meisterhaushalt bis ins 20. Jahrhundert. Das abrupte Ende des starren Ausbildungssystems des Alten Handwerks mit seiner entwickelten Rechtsförmlichkeit begann die charakteristische Hierarchie Meister-Geselle-Lehrling demnach gleich auf mehreren Ebenen aufzulösen. Solange der Meister und seine Arbeitskräfte einer homogenen sozialen Schicht ange154 Geck (1825), S. 357. 155 Schreiben der Handwerker Warburgs an den Oberpräsidenten v. 17.9.1833, STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, fol. 243. 156 Zitiert nach Schmigalla (1950), S. 47. 157 Blankertz (1969), S. 92. 158 S. Abraham (1955), S. 66, 67. 159 S. Abraham (1955), S. 93.

58

II. Die gewerbliche Ausbildung

hörten, über den gleichen Bildungsstand verfügten und sich auch nicht in der Arbeitstechnik unterschieden, blieb die ursprünglich rechtlich-kirchlich-ethisch fundierte Gliederung des Handwerks mit ihren typischen Integrationswirkungen erhalten. Die rechtlich sanktionierte gegenseitige Treuepflicht hatte die Lehrlinge und Gesellen an den Betrieb gebunden, und die engen sozialen Beziehungen innerhalb des Mikrosystems der Werkstatt vermochten im Idealfall auch den jüngsten Lehrling einzubeziehen und zu motivieren. Dieser nahm aus seiner Ausbildung den nötigen impetus mit, um selbst einmal das Ziel des unabhängigen und gebietenden Meisters zu erreichen.160 Doch überdauerte der Vorrat an Stabilität und Integrationskraft, den das Rechts- und Sozialmodell der Zunft auch der Zeit der Gewerbefreiheit zunächst noch zu vermitteln schien, das Ende der Zunftordnung nicht sehr lange. Folgen der Liberalisierung wirkten mit ökonomischen Veränderungen zusammen; als der Lehrling aus den traditionellen rechtlichen Bindungen entlassen wurde, trat er in eine neue Wirklichkeit, die für ihn keinen festen Platz mehr vorsah. Die Gesetze der Jahre 1845 und 1849 holten dann zwar noch einmal Teile der Bindungskraft des Zunftmodells zurück; die Qualität der Ausbildung dürfte sich jedenfalls partiell verbessert haben, und die Arbeitsmarktsituation für die Hilfskräfte im Handwerk entwickelte sich aufgrund der Abwanderung in die Industrie zusehends positiv. Unter dem Eindruck des sich neuerlich ausbreitenden liberalen Gedankengutes und der Erfolge der Industrie verlor die geregelte handwerkliche Ausbildung seit Beginn der sechziger Jahre aber nochmals ihren Stellenwert, den sie erst Jahrzehnte später – und dann aber unbestritten – wiedererlangte. B. DIE THEORETISCHE FACHBILDUNG Von den verschiedenen Gruppen von Gesetzen, die der preußische Staat in der Reformzeit erließ, sind die das Erziehungswesen und die Volksbildung betreffenden Vorschriften und deren Wirkungen in mehreren wichtigen Studien behandelt worden.161 Dabei stand aber das allgemeinbildende und technische Schulwesen im Mittelpunkt des Interesses. Die Auffassung, die Reformer hätten kein Verständnis dafür gehabt, dass die Berufserziehung im Alten Handwerk den Mittelpunkt der profanen Volksbildung gebildet habe162 und nach der Aufhebung der Zünfte Besseres an die Stelle treten musste, kennzeichnete für lange Zeit den Forschungsstand,163 da die Frage nach den Wirkungen der Reformzeit auf die theoretische Fachbildung der 160 Vgl. Voigt (1956) Bd. 5, S. 24–34. 161 Lundgreen (1971), S. 562–610; v. Raumer (1973), S. 42–62; Jeismann (1969/70) und (1972); Heinemann (1974); Menze (1975), vgl. auch Nipperdey (1976), S. 205–227; Lundgreen (1980), S. 224–242. Quellen zur Berufsbildung im 19. Jahrhundert finden sich in Stratmann/Schlüter (1982). Die folgenden Ausführungen zur theoretischen Fachbildung finden sich bereits bei Deter (1988), S. 95–127. 162 Abraham (1963), S. 9. 163 So stellt Linke z. B. unter der Überschrift „Die Idee der humanistischen Menschenbildung war der Berufsbildung feindlich“ fest: „Der Bildungswert der fachlichen Bildungsgüter wurde noch nicht erkannt“; vgl. Linke (1952), S. 441–452.

B. Die theoretische Fachbildung

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Handwerker weitgehend ungestellt blieb.164 Das mochte seine Ursache in der Fixierung der sich mit der beruflichen Bildung beschäftigenden Forschung auf das Verhältnis von Berufsbildung und Industrialisierung haben.165 Mit Blick auf das Kleingewerbe stellte Peter Lundgreen fest, „einer etablierten Agrargesellschaft in vorindustrieller Zeit“ habe sich „das Problem der Qualifizierung für den Arbeitsprozess durch formale Bildungsvorsorge so gut wie nicht“166 gestellt; und an anderer Stelle vermutet er: „Es dürfte kaum auf Widerspruch stoßen, wenn man die wechselvolle Geschichte mehr oder weniger tiefgreifender Veränderungen des Bildungswesens auf Auswirkungen der Industrialisierung zurückführt …“.167 Zu nachdrücklich aber haben schon die Zunftordnungen des Alten Handwerks „formale“ Leistungsanforderungen an den Handwerkernachwuchs gestellt und zu unübersehbar sind die Hinweise auf Versuche zum Aufbau eines funktionstüchtigen gewerblichen Bildungswesens bereits vor Beginn der Industrialisierung, als dass die Feststellung, formale Bildungsvorsorge im gewerblich-technischen Bereich sei erst der Industrialisierung zu danken, ungeprüft übernommen werden könnte. In der Tat hat Knut Borchardt denn auch die Ansicht vertreten, die entscheidenden Veränderungen des Qualifikationsniveaus in Deutschland hätten schon vor der Zeit des beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums gelegen.168 In dieser so wichtigen Frage liegt unübersehbar ein Dissens vor, der zur Beschäftigung mit der Problematik geradezu auffordert. Knüpft man bei der Betrachtung der Genese der modernen Berufsbildung im Handwerk bereits an die Einführung der Gewerbefreiheit als der „Entfesselung“ bisher gebundener Kräfte der Wirtschaft und der Möglichkeit zur freien Entfaltung des Einzelnen an, so tritt nicht sogleich die von manchen synallagmatisch gedachte Bedingtheit von Berufsbildung und Industrialisierung, sondern zunächst das Verhältnis von theoretischer Fachbildung und Handwerkslehre in den Blick. Bekanntlich übertraf die Zahl der Handwerker noch bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus diejenige der in der Industrie Beschäftigten um ein Vielfaches, so dass zudem der quantitative Aspekt das Interesse auf das Handwerk lenkt. Die bürokratische Elite, die die Reformen trug, einte das Ziel, durch Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaftsgefüge den „Nationalwohlstand“ zu steigern, und zwar nicht zuletzt mittels einer „Erziehungsdiktatur“.169 Pädagogischen Maßnahmen kam im Denken der Modernisierungspolitiker deshalb weit größere Bedeutung zu als etwa den technischen Fragen der Handwerksverfassung. Der Bildungspolitik fiel in Preußen eine der zentralen Aufgaben des gesamten Reformwer-

164 Zur Handwerkerbildung in Westfalen im 18. Jahrhundert vgl. Deter (1991), S. 169–192; dort finden sich auch Ausführungen zum gewerblichen Unterricht insbesondere in Münster während des frühen 19. Jahrhunderts; s. insbesondere a. a. O., S. 188, 189. 165 Lundgreen (1973); vgl. auch Lundgreen (1971). 166 Lundgreen (1971), S. 562 ff. 167 Ebd., S. 590. 168 Borchardt (1976), S. 244. 169 So Vogel (1984), S. 184–208, besonders S. 187.

60

II. Die gewerbliche Ausbildung

kes zu, da alle anderen Reformen einen Bürger voraussetzten, der Willens und in der Lage war, selbstverantwortlich zu handeln.170 Humboldts Schulreform allerdings hatte ihren Ursprung bekanntlich in einer „Symbiose von aufgeklärtem Beamtentum und neuhumanistischer Bewegung“,171 und dementsprechend stand das allgemeinbildende höhere Schulwesen im Mittelpunkt des Interesses der Neuerer. Der Neuhumanismus vertrat die allgemeine Bildung des Menschen, hinter der eine auf die bloße Nutzbarkeit der menschlichen Tätigkeit abzielende Berufsbildung zurücktreten sollte. Er wandte sich damit gegen das philanthropische Gedankengut, das eine „Ökonomisierung“ der Schule im Sinne der neuen Realienfächer gefordert hatte.172 Humboldt schied demgemäss streng zwischen allgemeiner und spezieller, zwischen Vor- und Berufsbildung.173 Mag sich auch sein „nach höherem trachtender Geist“ durch das „gewöhnliche Geschäftsleben … so peinlich angeödet gefühlt haben“,174 mag er die Humanitätsbewegung auch in einen immer schärfer werdenden Gegensatz zu der wirtschaftlichgesellschaftlichen Entwicklung gebracht haben, so wäre doch der Schluss verfehlt, er habe das Bedürfnis nach einer spezifischen, für das praktische Berufsleben qualifizierenden Bildung völlig ignoriert:175 „Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden“, schrieb er,176 ohne allerdings für die theoretische Berufsbildung eine Konzeption zu entwerfen. Einer der wichtigsten gewerbepolitischen Berater Hardenbergs, der Staatsrat im Gewerbedepartement, Referent im Staatskanzleramt und Professor der Staatswissenschaften an der Berliner Universität Johann Gottfried Hoffmann,177 hatte, seinem Auftrag als Universitätslehrer entsprechend, den Erziehungsgedanken immer in den Mittelpunkt seiner Reformkonzeption gestellt. Für ihn, den Barbara Vogel den „Vater der Gewerbegesetze“ genannt hat,178 war „Zunftgeist“ lange Zeit gleichbedeutend mit ganz unzureichender beruflicher Qualifikation der Handwerker. Hoffmann klagte, viele Handwerker könnten „ein einfaches, mechanisches Geschäft lebenslang durch technische Übung nicht einmal bis zu einem leidlichen Grade von Vollkommenheit bringen“.179 Er glaubte deshalb in der den Zunftkritikern zum Gemeingut gewordenen Überzeugung von dem Versagen der Zünfte vor ihrer Bildungsaufgabe die zutreffende Erklärung für die industrielle Rückständig-

170 Fehrenbach (1986), S. 116. 171 So Lundgreen (1980), S. 224–242, besonders S. 227. 172 Zum Philanthropismus und der beruflichen Bildung aus Nützlichkeitserwägungen vgl. Balser (1959), S. 42 ff. 173 Vgl. Lundgreen (1980), S. 224–242, besonders S. 227. 174 Litt (1968), S. 62. 175 So aber z. B. Abraham, der meinte, die Reformer hätten der Vorbereitung auf einen wirtschaftlichen Beruf jeden echten Erziehungs- und Bildungswert abgesprochen; vgl. Abraham (1963), S. 9. 176 Zitiert nach Fehrenbach (1986), S. 116. 177 Vgl. von Inama-Sternegg (1880), Sp.598–604. 178 So Vogel (1984), S. 187. 179 Zitiert nach ebd., S. 190.

B. Die theoretische Fachbildung

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keit Preußens gefunden zu haben.180 Keineswegs aber betrachtete er die Handwerkslehre als bloße Ressource für den Aufbau der „Fabrikindustrie“. Er wollte vielmehr die nachteiligen Folgen der überkommenen Form der Ausbildung im Zunfthandwerk, zu denen die Berufswahl aus sachfremden Erwägungen, der unzureichende praktische und theoretische Wissensstand oder die „Übersetzung“ in einigen Berufszweigen zählten, im Interesse der Handwerker selbst beseitigen. Diesem Zweck sollte die Gewerbefreiheit dienen. Auch Scharnweber, ein anderer ebenso enger wie bedeutender Mitarbeiter Hardenbergs, wies auf die mangelnde Bildung als Ursache der preußischen Rückständigkeit hin. Er sah nicht zuletzt durch die unzureichende, auf ein einziges Gewerbe beschränkte Berufsausbildung der Handwerker die notwendige flexible Anpassung an ökonomische Änderungen behindert. Mangelnde „Schul- und Nationalbildung“ verhindere die rationelle Ordnung des Wirtschaftslebens; Bewusstseinsänderung bei den Betroffenen sei, so meinte Scharnweber, dringend geboten.181 Diese Männer hatten entscheidenden Anteil an der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen. Ihr Werk hat bislang aber noch kein einheitliches Urteil gefunden: Die Gewerbereform fügte sich in ein ganzes Bündel von Gesetzen, welche, so Reinhart Koselleck, „- alle aufeinander bezogen – nur in ihrer grob umrissenen Gesamtplanung eine neue Ordnung sichern konnten. Die Gesamtreform ist gescheitert, spätestens mit dem Tod des Staatskanzlers Hardenberg 1822182“. Dieses Verdikt über die „politisch-industrielle Doppelrevolution“183 in Preußen ist inzwischen aber einer kritischen Betrachtung unterzogen worden.184 Am Beispiel der theoretischen Fachbildung der Handwerker in Westfalen lässt sich in der Tat exemplarisch zeigen, ob und wie die von den Reformern gegebenen Anstöße realisiert wurden. Dabei darf die Betrachtung selbstverständlich nicht auf die sogenannte „Reformzeit“ im engeren Sinne beschränkt bleiben, denn die Reformgesetzgebung ist als Teil eines langfristigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandels zu begreifen, der einerseits die bereits vor ihrem Erlass in Gang gekommenen evolutionären Entwicklungen und andererseits die über die eigentliche Reformphase weit hinausreichenden Wirkungen der neuen Ordnung einschließt.185 Diese Feststellung impliziert die Frage, ob die Reformen auf dem Gebiet des Handwerks nicht nur alte Institutionen beseitigten, sondern auch neue schufen und so den Fortgang des Wandlungsprozesses längerfristig zu beeinflussen vermochten, ob sie den Aufbau eines neuen, effizienteren Berufsbildungssystems erleichtert oder behindert haben. So stellen sich in diesem Zusammenhang insbesondere zwei konkrete Fragen, deren Beantwortung im folgenden versucht werden soll:

180 Der gewerbliche Sektor in Preußen stand um 1800 bekanntlich nicht auf demselben Niveau wie derjenige in Westeuropa; vgl. Henning (1971), S. 101–167. 181 Vgl. Vogel (1978), S. 74. 182 Koselleck (1975), S. 153. 183 Wehler (1975), S. 46 f. 184 Vogel (1980), S. 7–27. 185 Vgl. Vogel (1980), S. 7 ff., besonders S. 9.

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II. Die gewerbliche Ausbildung



Inwieweit wurden die – wenngleich noch vagen – berufspädagogischen Intentionen der preußischen Reformer nach dem Ende der eigentlichen „Reformzeit“ durch den Aufbau eines Fortbildungsschulwesens realisiert? – Welche Bedeutung gewann die Industrialisierung für die berufliche Bildung in der Zeit der Gewerbefreiheit? 1. Die Ausgangslage Die in manchen Landesteilen der westlichen Provinzen Preußens bereits fortgeschrittene Wirtschaftsentwicklung mit den ihr eigenen neuen Formen der Arbeitsteilung und dem endgültigen Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft bedingten das Vordringen der Rechenhaftigkeit und die wachsende Bedeutung des Schriftverkehrs in Produktion und Handel. Deshalb wurde gerade in der Wirtschaft die mangelnde Breitenwirkung des tradierten Schulsystems schmerzlich empfunden.186 Der preußische Staatsrat Kunth urteilte 1817, „Versuche, den natürlichen Gang (der gewerblichen Entwicklung) zu beschleunigen, werden vergeblich sein, solange die Bildung aller Klassen durch die Schulen und das Leben nicht allgemeinere Fortschritte gemacht hat“.187 Damit wies er vor allem auf den noch immer unzureichenden Standard des Elementarschulwesens hin. 1825 erhielten in der Provinz Westfalen nur 80 % der Kinder eine geordnete Schulbildung.188 Nicht besser war es um die gewerbliche Bildung bestellt. 1819 beklagte die Regierung in Münster lebhaft den „schlechten Zustand der hiesigen Bauhandwerker“. Sie konstatierte ein allgemeines Bedürfnis nach „einer besseren Bildung derselben vor ihrer Anstellung als Meister“.189 Der preußische Regierungsrat von Ulmenstein berichtete 1822 nach einer Bereisung der Grafschaft Mark „von der großen Unerfahrenheit der Handwerker im Zeichnen sowie im Modellieren“. Enttäuscht stellte er fest: „Wir sind offenbar hinter unseren Nachbarn zurückgeblieben“.190 Dabei hätte das Interesse der Meister und Behörden an der Ausbildung im Handwerk stetig zunehmen müssen, weil, wie festgestellt, die Zahl der Gesellen und Lehrlinge gegenüber der der Handwerksmeister in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spürbar anstieg.191 Stattdessen musste der Lehrling, seit der mäßigende Einfluss der Zunft fehlte, wegen des permanenten Überangebots an Hilfskräften 186 Zum beruflichen Schulwesen im 18. Jahrhundert vgl. Linke (1952), S. 447–452. 187 GStA/PK, Rep. 120, Tit. A V 2, Nr. 4, fol. 83, 84, betr. „Allgemeine Beschreibung des Regierungsbezirks Münster und der Städte Münster und Warendorf“, vom 4.11.1817; ähnlich: Schreiben der Regierung Arnsberg vom 28.1.1817, in: StAM, Reg. Arnsberg I 19, Bd. 1. 188 Damit lag Westfalen exakt im Durchschnitt der preußischen Monarchie; vgl. Ritter (1961), S. 19. 189 Grütters (1933), S. 11; grundlegend zur Handwerkerbildung Simon (1902); desgl. Urbschat (1937). 190 Bericht des Regierungsrats von Ulmenstein „über den gegenwärtigen Zustand der Fabrication in dem Reg.-Dep. (Arnsberg) und besonders in der Grafschaft Mark“ vom 21.11.1822, in: StAM, Reg. Arnsberg I Nr. 602, Bd. 1, Bl. 2–35. 191 Vgl. Fischer (1964), S. 702; vgl. dazu auch Abraham (1963), S. 55; s. dazu vor allem Deter (2005).

B. Die theoretische Fachbildung

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neben der unzureichenden Ausbildung auch noch die Ausnutzung als billige Arbeitskraft durch den Meister gewärtigen. Im Handwerk wurde die praktische und fachtheoretische Berufsbildung naturgemäß um so schmerzlicher vermisst, je stärker die beginnende Strukturkrise einzelner Handwerkszweige infolge der Konkurrenz des Manufaktur- und Fabrikwesens spürbar wurde. Für die sich partiell entwickelnde Industrie aber zeigten sich die Folgen unzureichender Berufsqualifizierung in dem Problem des Mangels an qualifizierten Facharbeitern bei gleichzeitigem Überangebot an Arbeitskraft. Der Aufbau einer geordneten gewerblichen Berufsausbildung musste in einem Land wie Westfalen, das nunmehr, nach der Aufhebung der Zünfte, wirklich jeder „formalen Bildungsvorsorge“ im beruflichen Bereich entbehrte, als besonders dringendes Bedürfnis erscheinen. In der Tat stellte die Situation die neue preußische Verwaltung, die sich nach der Errichtung der Provinz Westfalen im Jahre 1815 etabliert hatte, vor schwierige Aufgaben. Während sich – den Prioritäten der preußischen Reformer entsprechend – zunächst die Gymnasialreform durchsetzte, stockte der Aufbau des für die gewerbetreibende Bevölkerung wichtigen berufsbildenden Schulwesens noch.192 Immerhin zeigten die Verwaltungsbeamten jedoch ein weit höheres Maß an Verständnis für die Frage der wirtschaftlichen Erziehung der handarbeitenden Bevölkerung als die Pädagogen. 2. Private Initiativen Mit der Einführung des Prüfungszwanges für die Bauhandwerker im Jahre 1820 wurde das Bedürfnis nach besserer beruflicher Bildung immer dringlicher. Daher führte private Initiative schon relativ früh zur Gründung gewerblicher Schulen.193 So vermuteten die beiden Soester Bürger Adolph Koenig und Josef Pieler Anfang der zwanziger Jahre, dass die Erteilung gewerblichen Unterrichts eine lohnende Einnahmequelle sein könnte. Sie lehrten fortan in der Stadt das Zeichnen. 1827 errichtete, um ein anderes Beispiel zu nennen, der Prinz zu Salm-Salm im öffentlichen Interesse eine Sonntagszeichenschule in Anholt.194 Solche Schulen auf rein privater Basis vermochten aber nur dann zu überleben, wenn sie zahlungskräftige und zu dauernder Unterstützung bereite Mäzene fanden. Der Soester Einrichtung fehlte die notwendige Förderung. Die Stadt stellte weder Räume noch Sachmittel zur Verfügung. 1826 musste der Schulbetrieb eingestellt werden, „da die mehrsten (Schüler) ohne Zahlung entwischt sind“.195 Auch der in den zwanziger Jahren von Iserlohner Bürgern gefasste Plan, aus eigenen Mitteln eine Gewerbeschule zu errichten, scheiterte an der 192 Jeismann (1969/70), S. 78–97, besonders S. 79. 193 Nur sehr allgemein zur Errichtung von Sonntagsschulen äußert sich Balser (1959), S. 57–58. 194 Freiherr von Zedlitz (1828), S. 340; Grütters gibt als Gründungsjahr der Schule fälschlicherweise 1837 an, vgl. Grütters (1933), S. 21. 195 Schreiben vom 23.1.1826, in: Stadtarchiv Soest, XIX b 1; vgl. dazu auch Joest (1978), S. 118 f. Bei der Gründung der Gewerbeschule auf staatliche Initiative im Jahre 1829 übernahm die Stadt dagegen die Kosten für die Einrichtung in Höhe von 120 Talern, vgl. ebd., S. 55. Da die Stadt Siegen für eine gewerbliche Sonntagsschule kein Geld verausgaben wollte, wurde dort der Höheren Bürgerschule 1837 eine Sonntagsschule angegliedert; s. Fischbach (2004), S. 30 ff. Zur Errichtung der Sonntagsschulen im Siegerland s. Fischbach (2004), S. 78 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

zu geringen Finanzdecke.196 In Rheine eröffnete die Lehrerschaft, die sich eine Aufbesserung ihres geringen Gehalts erhoffte, im Jahre 1831 eine Fortbildungsschule.197 Nachdem sich zunächst 44 Schüler, Meister, Gesellen und Lehrlinge, angemeldet hatten, ging die Schule, die durch das Schulgeld von 25 Silbergroschen je Schüler nicht zu finanzieren war, wieder ein, da weder der Magistrat noch die Regierung bereit waren, die Einrichtung finanziell zu unterstützen.198 Der zweite Versuch zur Gründung einer privaten Handwerkerschule in der Emsstadt wurde 1842 durch einen „Bau-Conducteur“ gemacht. Die notwendige Grundausstattung konnte aus Spendengeldern bestritten werden. Zur laufenden Finanzierung wurde die Stadtkasse bemüht, da weder die Schüler noch die Meister zur Zahlung von Schulgeld bereit waren. 1844 scheiterte aber auch dieser Versuch. Wirklich gesichert war nur der Bestand solcher Schulen, die zugleich Beiträge der Schüler, Zuschüsse aus der Stadtkasse und darüber hinaus noch private Spenden erhielten.199 3. Die Errichtung der Provinzialgewerbeschulen Aber nicht nur Privatleute, auch die Berliner Ministerialbürokratie und die westfälische Regionalverwaltung hatten die Notwendigkeit besserer Handwerkerbildung erkannt. Nicht allein der Freiherr vom Stein, sondern auch die zuständigen Staatsräte Beuth und Kunth sahen in der „Erziehung und Belehrung“ der Gewerbetreibenden den zentralen Aspekt ihrer Gewerbeförderung.200 Das erste Ziel der neuen, die reine Lehre der Gewerbefreiheit vorsichtig einschränkenden preußischen Gewerbepolitik war mit der bereits erwähnten Einführung des Prüfungszwanges für Bauhandwerker im Jahre 1820 erreicht. Damit erhielt auch die noch aus der fürstbischöflichen Zeit hinübergerettete Gewerbeschule in Münster neue Aufgaben.201 Das Institut, das seit dem Tod des Prof. Wolff im Jahre 1821 unter Leitung des Leutnants Michaelis stand, nahm einen neuen Aufschwung.202 1822 als Vollzeitschule neu errichtet, lag der Schwerpunkt des einjährigen Lehrganges bei der Vorbereitung der Bauhandwerker auf die Meisterprüfung.203 Das nagende Gefühl der Rückständigkeit gegenüber anderen Staaten ließ Schulte (1937), S. 233–234 und Bd. 2 (1938), S. 679, Anm. 27. Kaiser (1978), S. 295. Kaiser (1978), S. 296. So schenkte der Bischof von Paderborn der dortigen Sonntagsschule 150 Taler, vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 9.1.1830, S. 32; ebenso wurde die Schule in Warendorf mit privaten Spenden bedacht, vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 14.7.1832, S. 306. 200 Vgl. Mieck (1965), S. 12, 37–38. 201 Zur Geschichte der gewerblichen Bildung in Westfalen noch immer wichtig: Grütters (1933). Zur Gewerbeschule in Münster s. auch Deter (1991), S. 188, 189. 202 Die Schule war keineswegs wegen fehlender Geldmittel mit dem Tode des Gründers eingegangen. So aber Gimpel (1982). 203 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 25.5.1822. Die Berufsschule hat demnach ihren Ursprung nicht allein in einer allgemeinen Fortbildungsschule, wie Schöfer noch vertreten hat; vgl. Schöfer (1981). 196 197 198 199

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die preußische Verwaltung aber nicht bei der Bewahrung des Vorhandenen stehen bleiben. Der Ausbau des gesamten Schulwesens, insbesondere seines gewerblichen Mittelteiles, war fortan wesentliches Ziel der Administration.204 1825205 kam es mit staatlicher Unterstützung in Minden zur Errichtung einer weiteren Bau- und Gewerbeschule.206 Das Institut wurde auf Initiative des späteren Leiters, des Herforder Architekten Burgheim, gegründet, der auf seinen Reisen nach Frankreich und den Niederlanden die dortigen gewerblichen Lehranstalten kennengelernt hatte. Das Schwergewicht legte auch die Mindener Schule auf die Vorbereitung der Bauhandwerker auf die staatliche Prüfung. Die Effizienz des Instituts ließ allerdings zu wünschen übrig. Es fehlte an wirklicher Führung, der notwendigen Förderung durch die Stadt sowie an der erforderlichen Finanzkraft,207 obwohl das Schulgeld für mittellose Schüler von der städtischen Armenkasse, der Regierung oder dem „Verein zur Beförderung der Handwerker unter den Juden“ übernommen wurde.208 Allgemein erwies sich der ganztägige Unterricht für die Handwerker als besonders nachteilig, da er mit der praktischen Arbeit der Lehrlinge und Gesellen in den Betrieben kaum zu vereinbaren war. Außerdem waren die Vorbildung der Schüler und deren Berufsziele sehr unterschiedlich. Eine Einrichtung, die, wie die Bau- und Gewerbeschule, dem späteren Beamten, Kaufmann, Landwirt und Handwerker alles an notwendigem allgemeinen und technischen Berufswissen bieten wollte, musste notwendig scheitern.209 Die Probleme, die zwangsläufig aus der heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft folgten, löste man dadurch, dass das ursprüngliche Konzept der einheitlichen Bildung des Gewerbestandes aufgegeben wurde.210 Der Gewerbeschule wurde eine sogenannte Sonntagszeichenschule angegliedert;211 dort konnten die Handwerker der nicht prüfungspflichtigen Berufe ihre Kenntnisse vervollkommnen. Diese neue Einrichtung wurde bald besser besucht als die Hauptanstalt. Die Schüler der Gewerbeschule rekrutierten sich 204 Das gilt nicht nur für die Provinz, sondern auch für die Zentrale: 1821 wurde das Preußische Gewerbeinstitut gegründet. Jeder Regierungsbezirk konnte fortan einen besonders befähigten jungen Mann nach Berlin schicken, der dort außer freiem Unterricht noch eine Unterstützung erhielt; vgl. Straube (1933), S. 20. Daher wurden in den 1820er Jahren die Provinzial-Gewerbeschulen gegründet; vgl. dazu ausführlich Straube (1933), S. 20 ff. 205 Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts war bereits in Hagen eine Gewerbeschule errichtet worden, vgl. Schulte (1937), S. 233; auch in einer Reihe weiterer Orte Westfalens wurden damals Zeichenschulen begründet, vgl. Grütters (1933), S. 90, Anm. 52. 206 Vgl. Grütters (1933), S. 11. 207 Vgl. Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 29, S. 226; vgl. auch Grütters (1933), S. 12. 208 Ein Verein zur Förderung der Ausbildung jüdischer Handwerker wurde in Minden im Jahre 1825 begründet; vgl. Mitteilung vom 22. Okt. 1825, in: Amtsblatt der königlichen Regierung zu Minden 1825, S. 518–519. 209 Vgl. Bericht Burgheims, in: Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 29, S. 225 ff. Zu den gleichartigen Problemen in Münster vgl. Grütters (1933), S. 12. 210 Konzeptionslosigkeit begleitete das berufliche Schulwesen schon seit dem 18. Jahrhundert. Die Unsicherheit in der Auswahl der Bildungsinhalte fand ihren Niederschlag in den verschiedenen Bezeichnungen der Schulen wie Industrieschule, Erwerbsschule, Kunstschule, Zeichenschule, mathematische und mechanische Realschule, Handwerkerschule; vgl. Magdeburg (1938), S. 26. 211 Grütters (1933), S. 11 und S. 90, Anm. 53–54.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

fortan aus zwei sozialen Schichten: Während sich die große Zahl der mittellosen Lehrlinge mit dem Besuch der Sonntagsschule begnügen musste, stellten die Söhne der besitzenden „höheren Klassen“ sowie der Inhaber größerer Werkstätten, die nicht gezwungen waren, neben dem Schulbesuch ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, das größte Kontingent des an anspruchsvollerer technischer Bildung interessierten Nachwuchses. Zahlreiche Schüler dieser neuen Gewerbeschule wollten keineswegs Handwerker, sondern „Ökonomen“, also Landwirte, Kaufleute oder Architekten werden. Naturgemäß musste die Schülerzahl einer solchen Einrichtung gering bleiben, da die Masse des Nachwuchses der kleineren Handwerker ausgeschlossen blieb. Um aber wenigstens einem Teil der Bauhandwerker den Besuch der Gewerbeschule zu ermöglichen, legte man seit dem Ende der zwanziger Jahre den ganztägigen Unterricht in die arbeitsfreien Wintermonate. Damit wurde die Organisation der Mindener Anstalt richtungweisend. In dieser Form verkörperte sie schon recht frühzeitig den Typ der späteren Mittelschule, Provinzialgewerbeschule oder Baugewerbeschule.212 Solche einklassigen Vollzeitschulen setzten im allgemeinen eine abgebrochene höhere Schulbildung oder den Besuch der Handwerkerfortbildungsschule voraus.213 Nichtsdestoweniger koppelten sie sich aber nicht grundsätzlich von der Handwerkerbildung ab. Auch später noch empfahlen die Behörden den Bauhandwerkern den Besuch der Provinzialgewerbeschulen als geeignetste Vorbereitung auf die Meisterprüfung.214 Die Entwicklung in Minden wiederholte sich in Münster. Auch hier schlossen die höheren Anforderungen sowie die Kollision des Unterrichts mit der täglichen Arbeitszeit215 die berufstätigen Handwerker, insbesondere die Lehrlinge, vom Schulbesuch praktisch aus. Die dadurch begründete Herkunft der Schülerschaft aus gehobenen sozialen Schichten bedingte notwendig die Wandlung der Anstalt zur höheren Bürgerschule bzw. Realschule.216 Daraufhin kam es 1829 auf Initiative des Landrats Hammer auch in Münster zur Gründung einer neuartigen „Sonntagsschule für Handwerkslehrlinge und Gesellen“. Das Institut fand sogleich starkes Interesse bei den jungen Handwerkern.217 Bei der Gründung der Gewerbeschule in Bielefeld im Jahre 1831 baute man von vornherein nicht mehr ein einheitliches Institut auf, sondern unterschied sogleich zwischen Gewerbeschule und Sonntagsschule für 212 Bekanntmachung von 27.9.1827, in: Amtsblatt der königlichen Regierung zu Minden vom 13.10.1829, S. 355–377; vgl. auch Schmoller (1870), S. 698; zum Stand des gewerblichen Schulwesens in den 1830er Jahren vgl. auch Mohl (1838), S. 827–830. 213 Lundgreen (1971), S. 587; wohlhabendere städtische Handwerker schickten ihre Söhne nicht selten einige Jahre auf das Gymnasium; vgl. Stadelmann und Fischer (1955), S. 210; so auch Grütters (1933), S. 13. 214 Vgl. z. B. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg 1835, S. 311. 215 An allen sechs Wochentagen wurden vormittags und nachmittags je zwei Stunden Unterricht erteilt. In 24 Wochenstunden wurde neben Zeichnen Arithmetik, Geometrie, Chemie, Physik und Deutsch gelehrt; vgl. Bekanntmachung vom 26. März 1827, in: Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster 1827, S. 125–126. 216 Grütters (1933), S. 13. 217 1829 zählte die Schule in Münster schon etwa 100 Schüler, vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 9.1.1830, S. 32. Ihr Einzugsbereich ging über die Stadt Münster weit hinaus.

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Handwerker. Die Gewerbeschule orientierte sich am Lehrplan des Gewerbeinstituts in Berlin. Damit ging der vermittelte Lehrstoff über die Anforderungen des eigentlichen Handwerksberufes weit hinaus. Dasselbe galt auch für die Provinzialgewerbeschule in Hagen.218 Diese Einrichtungen hatten zugleich die Aufgabe, Begabungen auszulesen, da sie jährlich je einem Befähigten den Weg an das Berliner Institut eröffnen sollten. Die Notwendigkeit einer zweigleisigen Entwicklung der theoretischen Ausbildung in den gewerblichen Berufen, die sich am Beispiel Westfalens überzeugend nachweisen lässt, wurde von Karl Heinrich Rau und Robert Mohl bereits frühzeitig beschrieben.219 Allerdings scheinen die Provinzialgewerbeschulen in Westfalen jedenfalls in den ersten Jahren ihres Bestehens nicht besonders leistungsfähig gewesen zu sein. 1831 nahm der Handels- und Gewerbeminister mit Missfallen zur Kenntnis, dass sich bis dahin noch nicht ein einziger Bauhandwerker aus Westfalen für das Berliner Gewerbeinstitut gemeldet hatte.220 Mit der Reform des technischen Fachschulwesens im Jahre 1850 wurden die Provinzial-Gewerbeschulen in zweiklassige Vollzeitschulen umgewandelt, eine Maßnahme, die sie ihrer verbliebenen Bedeutung für die eigentliche Handwerkerbildung beraubt haben dürfte. Sie sollen daher bei der folgenden Betrachtung weitgehend ausgeklammert bleiben.221 Der Zerfall der theoretischen Bildung des Gewerbestandes in unterschiedliche Schultypen gewann schließlich geradezu symbolhaften Charakter für den sich nun entwickelnden Bildungsunterschied innerhalb der gewerblich-technischen Berufe. Seine weitreichende Bedeutung zeigte sich, als der Druck der Industrialisierung auf das Handwerk um die Jahrhundertmitte verstärkt einsetzte und wenigen Meistern der Aufstieg ins Unternehmertum gelang, viele andere aber zur Aufgabe ihres Gewerbes gezwungen wurden. 4. Erste Initiativen der Provinzialverwaltung zur eigentlichen Handwerkerbildung Für den umfangreichen, lebensfähigen Kern des Handwerks musste, das erkannte die Verwaltung frühzeitig, eine geeignete Schulform mit möglichster Breitenwirkung gefunden werden. Dabei kam der „berufsbegleitenden Weiterbildung“ besondere Bedeutung zu, da nur sie die im allgemeinen unverzichtbare Fortsetzung der Erwerbstätigkeit gestattete und sie im Gegensatz zu den meisten weiterführenden Vollzeitschulen auch Volksschulabsolventen offenstand. Bei dem Aufbau dieses Typus konnte an das Vorbild der wenigen vorhandenen und wie in Münster222 schon zur Zunftzeit bestehenden Sonntagsschulen angeknüpft werden. Die große Mehrzahl dieser Fortbildungsschulen räumte der Allgemeinbildung Priorität ein, wäh218 Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 19 vom 12.5.1832, S. 173. 219 Z. B. Rau (1828), S. 180–188. 220 Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an die Regierung Arnsberg vom 18.12.1831, in: StAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19, Bd. 1. 221 Zu diesen Schulen vgl. Lundgreen (1971), S. 581. 222 Zum münsterischen Schulwesen im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Hardewig (1912).

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rend der beruflichen Ausbildung geringere Bedeutung beigemessen wurde. Diese Sonntagsschulen waren Wiederholungs- oder Ergänzungsschulen, die teils Elementarunterricht erteilten, teils als Zeichenschulen fungierten oder aber dem Niveau einer gehobenen Volksschuloberstufe entsprachen.223 Wie dringend notwendig eine Verbesserung gerade des fachlichen Bildungsstandes der Handwerker war, zeigt eine Schilderung aus Vreden aus dem Jahre 1832: „Den Handwerkern in hiesiger Gegend mangelt es dergestalt an allen Vorkenntnissen, dass keiner von ihnen imstande ist, den kleinsten Bauplan, den geringfügigsten Kostenanschlag zu entwerfen oder über irgendeine Arbeit seine Gedanken schriftlich mitzuteilen. Kaum können sie ihr Gebetbuch lesen und ihren Namen schreiben …“.224 Angesichts dieser bedrückenden Ausgangslage regte der Oberpräsident von Vincke, der sich von der Idee des Fortbildungsschulwesens hatte einnehmen lassen, zahlreiche Neugründungen an. Er wandte sich an geeignete Persönlichkeiten, nachgeordnete staatliche Dienststellen sowie die Kommunalbehörden und brachte ihnen Sinn und Nutzen der gewerblichen, spezifische Berufsqualifikation vermittelnden Fortbildungsschulen nahe. Die Berufung „honoriger Handwerker“ in die Kuratorien der Schulen sollte das Interesse der Meister an den neuen Bildungseinrichtungen wecken und sie nötigen, ihre Lehrlinge und Gesellen zum Besuch der Sonntagsschulen zu veranlassen. Die eigenen Bemühungen einiger Städte der Provinz unterstützte Vincke durch Beratung, Beschaffung geeigneter Unterrichtsmittel, Stiftung silberner „Denkmünzen“ für die „ausgezeichnetsten Jünglinge“ der Fortbildungsschulen sowie, in selteneren Fällen, durch Zuschüsse. Auch publizistische Mittel wurden bei der Propagierung des Bildungsgedankens eingesetzt. Die von dem Leiter der Gewerbeschule in Münster, Prof. Waldeck, redigierte Wochenschrift „Westfälisches Gewerbeblatt“ betrachtete, neben der Verbreitung technischer Informationen, die Förderung des Fortbildungsschulwesens als ihre wichtigste Aufgabe.225 Nicht zuletzt wurde auch die örtliche Armenverwaltung in den Dienst der neuen Idee gestellt. In verschiedenen Städten forderten rührige Armenvorstände jene jungen Handwerker, die von ihnen unterstützt wurden, auf, regelmäßig die Fortbildungsschulen zu besuchen. Nach einem Beschluss der Armenkommission in Dorsten wurde den Eltern derjenigen Lehrlinge und Gesellen, welche nicht am Unterricht der Sonntagsschule teilnahmen, sogar die Unterstützung aus Armenmitteln entzogen. Den nachdrücklichen Bemühungen Vinckes und seiner nicht weniger engagierten Mitarbeiter blieb der Erfolg nicht versagt. Noch 1829 kam es in Warendorf durch das „gemeinnützige Streben der Behörden“ zur Eröffnung einer Sonntagsschule.226 Im gleichen Jahr ging Prof. Waldeck im Auftrage Vinckes nach Pader-

223 Lundgreen (1971), S. 581. 224 Zitiert nach Grütters (1933), S. 87, Anm. 27. 225 Bestimmungsgemäß sollte auch der Reinertrag des Blattes „zur Verbesserung und Vermehrung der Gewerbe- und Sonntagsschulen in der Provinz Westfalen“ dienen. Als die Zeitschrift 1834 eingestellt wurde, übernahm der „Westfälische Merkur“ die Verbreitung des Gedankens des Handwerkerschulwesens; vgl. Grütters (1933), S. 14. 226 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 9.1.1830, S. 32.

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born, wo die Errichtung einer Handwerkerschule besonders dringend erschien.227 Wie sehr dort das gewerbliche Bildungswesen im argen lag und die tatsächlichen Verhältnisse den Forderungen des Gesetzgebers widersprachen, schilderte Vincke mit der ihm eigenen Deutlichkeit: „Noch hat sich kein einziger Bauhandwerker von dort der Prüfung unterzogen, und von der höchsten Erbärmlichkeit derselben ergeben sich bei jeder baulichen Ausführung die Beweise; ohne die Hilfe auswärtiger lippischer Maurer … würde dergleichen gar nicht stattfinden können“.228 Schon gegen Ende des Jahres 1829 konnte in Paderborn eine Fortbildungsschule eröffnet werden.229 Im Mai 1830 folgte, ebenfalls unter Leitung Waldecks, die Gründung ebensolcher Institute in Soest und Hamm.230 Nach den Plänen der zuerst geschaffenen Schulen entstanden noch zahlreiche Neugründungen bzw. Erweiterungen und Verbesserungen bestehender Bildungseinrichtungen. Den Intentionen der Promotoren des gewerblichen Schulwesens entsprechend war die Ausbildung der Bauhandwerker überall das zentrale Anliegen der Berufsbildung. Die Forderung nach fachlicher Qualifikation für den praktischen Handwerksbetrieb stand ganz im Vordergrund dieser Schulen. Ihr Zweck war es nicht nur, in dem „niederen Gewerbestande“, also bei den Lehrlingen, Gesellen und Fabrikarbeitern, die Kenntnisse der Volksschule aufzufrischen, sondern, wichtiger noch, dieselben für die spezifischen Bedürfnisse des praktischen Berufslebens anzureichern.231 Die Sonntagsschulen beschränkten sich demgemäss in ihrem Lehrangebot auf Linear- und Handzeichen,232 das Schön- und Rechtschreiben, den deutschen Aufsatz sowie das Rechnen bis zum Wurzelziehen und zur Flächen- und Körperberechnung.233 Außerdem wurde das für die Berufspraxis so wichtige Anfertigen von Kostenvoranschlägen, Ausstellen von Rechnungen, Quittungen etc. gelehrt.234 Den Unterricht erteilten die Lehrer aller Schularten, insbesondere die 227 Bericht über die Gründung der Paderborner Handwerkerschule vom 21.11.1829, in: Stadtarchiv Soest, XIX b 1. 228 Grütters (1933), S. 15. 229 Dem Konzept Vinckes entsprechend fanden sich hier sofort einflussreiche Persönlichkeiten als Träger der neuen Einrichtung: Die Direktion bestand aus dem Stadtdirektor, zwei Oberlandesgerichtsräten, zwei Gemeinderäten, dem Bauinspektor und dem Polizeikommissar; vgl. Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 45, S. 358. 230 Bezüglich Soest: Schreiben vom 12.5.1830, Stadtarchiv Soest, XIX b 1; Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 17.7.1830, S. 325, 326; völlig unzutreffend wurde festgestellt, die 1830 in Soest eröffnete Schule sei die „erste westfälische Sonntagsschule für Handwerker“ gewesen, so aber Saal (1984), S. 533–618 (580); bezüglich Hamm: Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 4.12.1830, S. 473. Der Aufbau des berufsbildenden Schulwesens war in Westfalen keineswegs vor allem privater Initiative zu danken. Hier lag die Initiative eindeutig bei staatlichen Stellen. Dies galt nicht für alle deutschen Länder; Fischer ist auf Grund badischer Quellen zu anderen Ergebnissen gekommen. Vgl. Fischer (1966), S. 87– 113, besonders S. 104. 231 Jacobi (1857), S. 523. 232 Zur Bedeutung des Zeichenunterrichts in der Handwerkerausbildung des 19. Jahrhunderts vgl. Roscher (1900), S. 581–611, besonders S. 595. 233 Vgl. Brougham (1827), S. 5 u. 21. Besprechung der Schrift Broughams durch Kunth (1828), S. 64–67. 234 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 28.3.1829, S. 137.

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Volksschullehrer sowie Baumeister und Handwerksmeister.235 Gerade die praktische Erfahrung gebildeter Handwerker wurde bevorzugt genutzt: Von den sieben Lehrern der Sonntagsschule in Paderborn waren 1832 nicht weniger als drei Handwerksmeister.236 Der gesamte Unterricht blieb zunächst auf den Sonntag beschränkt und überschritt im Regierungsbezirk Arnsberg fünf Stunden nicht. Erst Anfang der fünfziger Jahre wurden Abendstunden an den Wochentagen hinzugenommen.237 In Recklinghausen richtete man 1858/59 eine eigentliche Abendschule ein.238 Die Schüler entstammten allen Sparten des Handwerks. In einigen Schulen, wie z. B. in Minden, Paderborn, Soest und Recklinghausen, ließen sich neben Lehrlingen und Gesellen sogar Handwerksmeister unterrichten. Der Erfolg auch der auf öffentliche Initiative hin gegründeten Schulen wurde jedoch nicht nur durch Geld- und Raummangel, sondern auch durch das Fehlen geeigneter Lehrmittel beeinträchtigt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlte es selbst an den einfachsten Lehrbüchern für die neuen Gewerbeschulen. Dem Mangel an technischen Informationen sollten die „Technische Deputation“ und der in Berlin gegründete „Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes“ abhelfen. Der Verein entfaltete aber in Westfalen keine nennenswerten Aktivitäten. Die Lehrer der Fortbildungsschulen verfassten deshalb selbst Lehrbücher, so z. B. der Leiter der Soester Schule, Ehrlich, und der Lehrer an der Provinzialgewerbeschule in Münster, Raßmann.239 Aber nicht nur die unzureichende materielle Ausstattung beeinträchtigte den Erfolg des Schulwesens. Obgleich die Vorteile, welche die neuen Einrichtungen boten, offenkundig waren, hielten „Gleichgültigkeit, Freiheitsdrang, Dünkelhaftigkeit und jugendlicher Leichtsinn die meisten jungen Gewerbetätigen überhaupt“ vom Besuch der Schulen ab,240 und selbst viele der Handwerker, die zunächst am Unterricht teilgenommen hatten, kehrten den Fortbildungsschulen wieder den Rücken, sobald die Anforderungen begannen, lästig zu werden. Seltsamerweise galt dies in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Schulen vor allem für die Bauhandwerker, für die doch der Prüfungszwang bestand. Namentlich die Maurer klagten über geringes Interesse des Nachwuchses an der Fortbildung. Dabei wäre diese gerade für die älteren Schüler, denen die fragmentarischen Elementarschulkenntnisse wieder abhanden gekommen waren, besonders notwendig gewesen. Zahlreiche Gesellen verweigerten sich dem Unterricht auch mit der Begründung, nicht mit Lehrlingen zusammen auf der Schulbank sitzen zu wollen. Hier zeigten sich aus der Zunftzeit tradierte Verhaltensmuster, die auch noch nach Einführung der Gewerbefreiheit ihre ungebrochenen Lebenskraft bewiesen und mit ihren irrationalen Setzungen der Verbreitung zeitgemäßer Produktionstechniken im Wege standen. Da sich die Einführung einer allgemeinen Pflicht zum Besuch des FortbildungsschulJacobi (1853/54), S. 97–144, besonders S. 102; dazu ausführlich Grütters (1933), S. 31. Dazu ausführlich Grütters (1933), S. 32. Vgl. Jacobi (1853/54), S. 102. Saal (1984), S. 580. Zur Schrift Ehrlichs vgl. Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 2, S. 255; bezüglich der Arbeit Raßmanns vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 14.1.1854, S. 12. 240 Grütters (1933), S. 36. 235 236 237 238 239

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unterrichts noch nicht durchsetzen ließ, griff man schließlich, nachdem öffentliche Belehrungen über den Nutzen der Weiterbildung nichts gefruchtet hatten, zu dem Mittel des indirekten Zwanges. Auf Anregung des Prof. Waldeck empfahlen der Oberpräsident und die Regierungen den Schulleitungen, die Gründung sogenannter „Meistervereine“ anzuregen. Die Mitglieder dieser Zusammenschlüsse selbständiger Handwerker sollten vereinbaren, zukünftig nur noch solche Lehrlinge anzunehmen, die sich verpflichteten, die ganze Lehrzeit hindurch die Sonntagsschule zu besuchen. Gerade in Paderborn, wo diese Idee zuerst verwirklicht wurde, zeitigte sie beeindruckende Erfolge.241 Auch in Hamm, Bielefeld und Soest kam es zur Gründung solcher Vereine.242 5. Die Fortbildungsschule neuen Typs Ein neues Kapitel in der Geschichte des Fortbildungsschulwesens wurde aufgeschlagen, als die Verwaltung begann, dem allgemeinbildenden Unterricht im Curriculum der Handwerkerlehranstalten wieder einen größeren Stellenwert einzuräumen. Angestoßen wurde diese Neuerung durch eine Änderung der Bauprüfungsordnung. Seit 1833 nämlich mussten die Kandidaten des Baufachs in der Bauhandwerkerprüfung auch ihre Kenntnisse im Lesen und Schreiben sowie in „den ersten Elementen der Rechenkunst“ nachweisen. Reichten diese nicht aus, galt die Prüfung als nicht bestanden.243 Die Tendenz zur Abkehr von der vor allem fachbezogenen Bildung wurde entschieden verstärkt, als der Unterrichtsminister im Jahre 1844 einen neuen Typus der Fortbildungsschule schuf. Nicht mehr die spezielle Handwerkerbildung, sondern ein allgemeiner Nachhilfe- und Fortbildungsschulunterricht für die gesamte schulentlassene Jugend sollte künftig gefördert werden.244 Die nachhaltige Verschiebung der Akzente wurde durch wichtige organisatorische Veränderungen erleichtert oder 241 Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 45, S. 354: 1832 waren bereits 50 Meister in der Stadt Paderborn Mitglieder des Vereins; vgl. auch ebd., Jg. 1832, Nr. 2, S. 11; vgl. auch Grütters (1933), S. 36. 242 Westfälisches Gewerbeblatt, Jg. 1832, Nr. 2. 243 Schreiben des Handelsministers von Schuckmann an die Regierungen vom 15.11.1833, in: StAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 19, Bd. 1. 244 Runderlaß des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (Eichhorn) vom 31. Mai 1844, in: Stadtarchiv Soest, XIX b 7; s. dazu Fischbach (2004), S. 23 ff.; vgl. auch Grütters (1933), S. 16: Andererseits wurde etwa gleichzeitig ein streng berufsbezogener Schultypus, der sich auf die bloße Vermittlung von Arbeitstechniken beschränkte, eingeführt: die Spinnschule, die Ende der 1830er Jahre in den Leinenproduktionsgebieten Preußens Bedeutung gewann; vgl. z. B. bezüglich Kreis Ahaus: Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 17.8.1839, S. 281; bezüglich Kreis Warendorf vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 14.1.1837, S. 13; vgl. dazu auch Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 22.7.1837, S. 227 u. Beilage zum Amtsblatt vom 6.7.1837, S. 10 (Landtagsabschied für 1837). Die Hinwendung zum allgemeinbildenden Unterricht scheint aber zunächst auch den Interessen der Schüler entgegengekommen zu sein. In der Berliner Baugewerbeschule waren die fachbezogenen Kurse sehr viel weniger frequentiert als die allgemeinbildenden Unterrichtsreihen. Interessant ist, dass das Angebot der Schule auch dort bei den ande-

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gar erst ermöglicht: Nach dem Tode Vinckes ging die Initiative zur Errichtung weiterer Schulen auf die Regierungen der drei westfälischen Bezirke über; seitdem wurde die neue Politik von den regionalen Behörden vertreten.245 Den ministeriellen Weisungen gemäß warben die Mindener und die Arnsberger Regierung nun verstärkt für die Errichtung allgemeinbildender Fortbildungsschulen, wobei sie durch die tätige Mithilfe der Geistlichkeit und Lehrerschaft unterstützt wurden. Nur die Regierung in Münster hielt sich bei den Bemühungen um die Verbesserung des „nachbereitenden“ Schulwesens in auffälliger Weise zurück. Einerseits wegen früherer, wenig ermutigender Erfahrungen mit der Fortbildungsschule, andererseits wegen eines mit der bischöflichen Behörde schwelenden Schulkonflikts mochte sie das Anliegen des Berliner Ministeriums nicht in der von diesem gewünschten Weise fördern. Kam es zur Gründung der Fortbildungsschule neuen Typs, verblieb dem gewerblichen Lehrstoff in den einzelnen Schulen ein höchst unterschiedlicher Stellenwert. In Soest beispielsweise,246 wo sich die evangelische und die katholische Kirchengemeinde um die Weiterbildung der schulentlassenen Jugend bemühten, fand in den kirchlichen Fortbildungsschulen keine spezielle Handwerkerbildung statt.247 Die Soester Einrichtungen wurden immerhin insofern für den Handwerkernachwuchs fruchtbar, als der Armenvorstand der Sankt Patrokli-Gemeinde darauf bestand, dass die Jugendlichen, welche aus Armenmitteln ein Handwerk erlernten, zum Schulbesuch verpflichtet waren.248 Natürlich konnte die neue, auf jegliche Berufsbildung verzichtende Fortbildungsschule die herkömmliche Handwerkersonntagsschule nicht völlig ersetzen. In Soest bestanden deshalb zwischen 1844 und 1850 vermutlich beide Schultypen nebeneinander.249 Der Dualismus beider Formen beruflicher Bildung blieb noch längere Zeit erhalten. Es war unentschieden, ob eine einheitliche Fortbildungsschule künftig die Erweiterung der allgemeinen Elementarbildung anstreben oder die Berufsbildung im engeren Sinne zum Hauptzweck haben sollte.250 Das Interesse an der Fortbildungsschule neuen Typs, die den Gesellen als eine Art zweiter Volksschule erschien, blieb aber gering, zumal die berufspraktische Nützlichkeit des Unterrichts für den jungen Handwerker nicht mehr klar auf der Hand lag. Selbst die Einführung des Prüfungszwanges 1845 für diejenigen Handwerker, die Lehrlinge ausbilden wollten, brachte noch keine grundsätzliche Ände-

ren Handwerkssparten auf sehr viel größeres Interesse als bei den Bauhandwerkern, der eigentlichen Zielgruppe, stieß; vgl. Fischer (1865), S. 315–334. 245 Allerdings wurden die „Sonntagsschulen für Handwerker“ in dem Erlass vom 31. Mai 1844 noch eigens genannt. Wenig später verwendeten die Ministererlasse nur noch die allgemeine Bezeichnung „Fortbildungsschule“. Einen Überblick über das Fortbildungsschulwesen in Preußen 1840–1869/72 gibt Jost (1982), S. 90–151. 246 Die Schule bestand noch im Jahre 1857, vgl. Stadtarchiv Soest, XIX b 7. 247 Joest (1978), S. 123. 248 Notiz v. 29.11.1846, in: Stadtarchiv Soest, XIX b 7. 249 Joest (1978), S. 123–124. In Siegen wurden die Bauhandwerker seit 1842 in einer eigenen Klasse mit spezifischem Lehrplan unterrichtet; so Fischbach (2004), S. 33. 250 Lundgreen (1971), S. 581.

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rung.251 Auch ein erneuter Appell des Kultusministers zur Errichtung von Schulen neuen Typs, die einen „erhöhten Einfluss auf deren (der Schüler) religiöses und sittliches Leben in der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinschaft“ gewinnen sollten,252 blieb wiederum fruchtlos. Noch Anfang des Jahres 1848 klagte die Arnsberger Regierung, dass die unteren Schichten der Bevölkerung, „deren Jünglinge vorzugsweise des Nachhilfe- und Fortbildungsunterrichts bedürfen, dieses Bedürfnis nicht fühlen“.253 Die Feststellung Rudolf Brauns, wonach im Zürcher Oberland die kleinbürgerlich-handwerklichen Bildungsbestrebungen jener Zeit „geradezu von einem sakralen Feuer durchglüht“ gewesen sein sollen, lässt sich jedenfalls für Westfalen nicht bestätigen.254 Die meisten der im Regierungsbezirk Arnsberg errichteten Fortbildungsschulen schliefen, wie der wohl informierte Arnsberger Regierungsrat Ludwig Jacobi bemerkte, stillschweigend wieder ein.255 Allein in einigen größeren Städten hatten sie Bestand, und dies nur deshalb, weil die Bauhandwerker zur Ablegung der Meisterprüfung nicht auf den Unterricht verzichten konnten. Wie sehr das Interesse an der allgemein- und fachtheoretischen Berufsbildung gerade in der zweiten Hälfte der 40er Jahre abgenommen hatte, zeigt die Entwicklung der Schülerzahl der Sonntagsschule in Münster:256 Tabelle 11: Schülerzahlen der Sonntagsschule Münster 1829–1847 1829

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1842

139

1831

75

1843

116

1832

95

1844

131

1833

110

1845

124

1835

118

1846

96

1840

143

1847

70

1841

136

Mochte für den Niedergang der Schulen auch die den Handwerkerstand besonders hart treffende ökonomische Krise der 40er Jahre mit ursächlich sein, so lässt sich doch nicht leugnen, dass das Konzept der vor allem Elementarschulkenntnisse vermittelnden Fortbildung, das an die Vincke-Waldeckschen Ideen nur noch von ferne erinnerte, sein Ziel jedenfalls für den spezifischen Bereich der Handwerkerbildung

251 §§ 131, 132 der Allgemeinen Gewerbeordnung vom 17.1.1845, in: Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten, o. O. (Berlin) 1845, Nr. 2541, S. 41 ff. 252 Zirkularreskript vom 20.4.1846, abgedruckt bei Rönne (1855), S. 871–873, besonders S. 872; vgl. auch Grütters (1933), S. 16 f. 253 Grütters (1933), S. 19 f. 254 Braun (1965), S. 310. 255 Jacobi (1853/54), S. 101. 256 Goeken (1925) (Masch.-Schr.). In Siegen z. B. existierte die Schule aus dem genannten Grund fort, s. Fischbach (2004), S. 35–39.

74

II. Die gewerbliche Ausbildung

verfehlt hatte. Die Verbesserung der Kenntnisse des Handwerkerstandes auf breiter Ebene blieb noch eine unerfüllte Forderung.257 6. Der Aufstieg des gewerblichen Schulwesens nach 1848 Die Situation änderte sich schlagartig, als die Handwerker in der Revolution von 1848/49 aus der biedermeierlichen Geruhsamkeit erwachten und anfingen, ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein in politische Forderungen umzusetzen und diese in der Öffentlichkeit massenwirksam zu artikulieren. Die noch ungebrochene Kreativität der Achtundvierziger ließ Gedanken reifen, die über die engen Grenzen der eigenen Werkstatt und des täglichen Einerleis der Berufsarbeit hinausgriffen und die Stellung des Kleingewerbes in der Gesellschaft neu zu definieren suchten. Die von der Handwerkerbewegung der Revolutionszeit so sehr erwünschte bessere Platzierung des „ehrbaren Handwerks“ in der sozialen Schichtung sollte, ganz modern gedacht, durch eine Reform des berufsbezogenen Bildungssystems befördert werden. So verlangten die Handwerker der Stadt Hamm damals mit Nachdruck die Verbesserung des gewerblichen Schulwesens, und zwar nicht nur, um die technische Bildung des Nachwuchses auf einen zeitgemäßen Standard zu heben,258 sondern vor allem auch, um dem Gewerbestand die vermeintliche frühere „Reputation“ zurückzugeben und die Kluft zu den „Gebildeten“ überwinden zu helfen.259 Eben diesen Intentionen entsprechend forderte auch der Handwerker- und Gewerbekongress in Frankfurt im Jahre 1848 die „gründliche Verbesserung aller Schulen“ und die Errichtung „zweckmäßig eingerichteter“ Handwerkerschulen. Die Gesellen wünschten insbesondere eine von der Kirche unabhängige Volksschule, die auch schon die theoretischen Grundlagen für die Gewerbetätigkeit legen sollte, sowie die Errichtung von gewerblichen Fortbildungsschulen und die Förderung von Bildungsvereinen durch den Staat.260 Zwar erlangte der Frankfurter Entwurf einer Gewerbeordnung für Deutschland keine Gesetzeskraft, doch sah sich Preußen unter dem Druck der Handwerkerbewegung gezwungen, durch gesetzliche Maßnahmen den angestauten Unmut der aufgebrachten Kleingewerbetreibenden behutsam zu kanalisieren. Dieses Ziel wurde durch die preußische Notverordnung vom 9.2.1849, an deren Abfassung auch westfälische Handwerker mitgewirkt hatten,261 überraschend schnell erreicht. Die neuen Vorschriften, die den Wünschen der Kleingewerbetrei257 von Reden (1847), S. 118–135; auszugsweise neu abgedruckt in: Steitz (Hg.) (1980), S. 228. 258 Generell kann man – nicht allein nach Redens Analyse der Ursachen des Pauperismus aus dem Jahre 1847 – davon ausgehen, dass die Erziehung und Ausbildung durch das öffentliche Erziehungswesen im Vormärz für einen Teil der ärmeren Volksklassen durchaus unzureichend war, vgl. Reden (1847). 259 So Petition der Handwerker der Stadt Hamm v. 18.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, Bl. 102–103. 260 Vgl. Stieda: Art. „Handwerk“ (1900), Sp. 1097–1114, besonders S. 1100. 261 U. a. der Drechslermeister Todt aus Minden. Zur Bedeutung der preußischen Gewerbeordnungen von 1845 und 1849 für die Berufserziehung vgl. Zabeck (2009), S. 298–306. Zur Entwicklung des gewerblichen Schulwesens in Österreich nach 1851 vgl. Danninger (1981), S. 136 ff.

B. Die theoretische Fachbildung

75

benden weitestgehend entsprachen, lieferten den wichtigsten Impuls für den folgenden Aufschwung des Gewerbeschulwesens. Die nunmehr für fast alle wichtigen Handwerkssparten geltenden Prüfungsbestimmungen wirkten im Sinne eines moralischen Zwanges auf die Gesellen und Lehrlinge. Damit wuchs das Interesse der Handwerker an qualifizierter Berufsbildung, nicht zuletzt erzwungen durch die Furcht vor der als unentrinnbar empfundenen, existenziellen Bedrohung ganzer Berufszweige durch die sich seit der Jahrhundertmitte mächtig entfaltende industrielle Konkurrenz. Selbst einzelne Gewerbevereine und Innungen gründeten nun, im Überschwang einer Aufbruchszeit, eigene Fortbildungsschulen.262 Im Regierungsbezirk Arnsberg wuchs die Zahl dieser Einrichtungen von 14 mit 678 Schülern im Jahre 1849 auf 30 mit 1878 Schülern im Jahre 1852.263 Anfang der fünfziger Jahre richteten nach ministerieller Weisung auch die Provinzialgewerbeschulen wieder eigene Handwerkerfortbildungsschulen bei sich ein. Nunmehr waren auch die Handwerker selbst bereit, Schulgeld für den Unterhalt der Fortbildungsanstalten zu zahlen.264 Dort, wo es nach Auffassung der Gemeindebehörden noch immer am erforderlichen Bildungswillen der „handarbeitenden Klassen“ fehlte, wurde – wie in Olpe, Lippstadt, Soest oder Lüdenscheid – die Schulpflicht für Handwerkslehrlinge durch Ortsstatuten und Polizeiverordnungen eingeführt.265 Diese Maßnahmen hatten durchschlagenden Erfolg. Der plötzliche Aufschwung des Schulwesens in der Stadt Soest beispielsweise zeigt exemplarisch, wie groß die Diskrepanz zwischen freiwilligem Schulbesuch und Schulpflicht noch immer war. In der Hellwegstadt stieg die Schülerzahl von 81 im Sommersemester 1851 auf 214 im Sommersemester 1852.266 Der Gedanke der Schulpflicht für die berufsbildenden Schulen fand jetzt auch publizistische Unterstützung. Der interessierte und kenntnisreiche Arnsberger Regierungsrat Jacobi forderte ihre allgemeine Einführung durch den Gesetzgeber nach dem Beispiel süddeutscher Staaten.267 Die Regierung in Arnsberg empfahl das erfolgreiche Soester Beispiel offiziell zur Nachahmung.268 Und in der Tat, nicht nur Städte wie Menden, sondern selbst so kleine Dörfer wie Oestinghausen und Bor262 Viebahn war, die ostelbischen Verhältnisse vor Augen, der Ansicht, die Handwerkerfortbildungsschulen seien „größtenteils aus der Anregung oder unter Mitwirkung der Innungen hervorgegangen“; vgl. Waentig (1908), T. 2, S. 1–72, besonders S. 23; Schmoller (1870), S. 88– 89; nach Auffassung Schmollers hat nur die wirtschaftliche Not zur Gründung von Schulen geführt. 263 Jacobi (1853/54), S. 101. 264 Kaiser (1978), S. 297; danach betrug das Schulgeld der Fortbildungsschule in Rheine 1855 1 Rtl. 265 Z. B. Schreiben des Ministers von der Heydt an die Regierung zu Arnsberg vom 6.8.1853, betr. Ortsstatut für die Stadt Olpe, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794; desgl. Ortsstatut der Stadt Lüdenscheid, § 2, in: Amtsblatt der königlichen Regierung Arnsberg vom 8.1.1853, S. 17; desgl. Ortsstatut für die Stadt Lippstadt vom 3.9.1852, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38. 266 Vgl. Anm. 105; StAM, Oberpräsidium Nr. 2794; J. Joest ist dagegen der Ansicht, die Schulpflicht habe nur für die zahlreichen Steinhauerlehrlinge in der Stadt Soest bestanden, vgl. Joest (1978), S. 124–125. 267 Jacobi (1853/54), S. 103. 268 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 8.11.1851; die Stadt Menden erließ noch 1854 ein solches Statut.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

geln im Kreise Soest erließen in der Folge Ortsstatuten über Fortbildungsschulen. Doch konnte dieser vielversprechende Weg heilsamen Zwanges nicht weiter beschritten werden, nachdem das Handels- und Gewerbeministerium rechtliche Bedenken angemeldet hatte. Nach Auffassung der Berliner Ministerialbürokratie war die Einführung der Schulpflicht nach § 57 des Gesetzes vom 9.2.1849 unzulässig. Auch der § 136 der Gewerbeordnung von 1845, der den Gesellen und Lehrlingen lediglich Zeit zum Besuch des Unterrichts einräumte, ließ sich nicht als gesetzliche Grundlage der Schulpflicht heranziehen. Damit scheiterte die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht am Vorbehalt des Gesetzes. Der zuständige Minister hegte darüber hinaus aber auch grundsätzliche Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Ausdehnung der Schulpflicht.269 Stattdessen empfahl er den Behörden, darauf hinzuwirken, die Meister durch geeignete Regelungen in den Innungsstatuten zu verpflichten, ihre Lehrlinge zum regelmäßigen Besuch der Fortbildungsschule anzuhalten. Nach diesem Verdikt über die bisherige Vorgehensweise forcierten die westfälischen Regierungen die Einführung der Schulpflicht nicht länger; sie begnügten sich nunmehr damit, die Eigeninitiative der Gesellen und Lehrlinge zu stärken und die Zahl der Schulen auf der Grundlage freiwilliger Mitarbeit der Betroffenen zu vergrößern. Dabei blieben die gewichtigen Unterschiede zwischen den einzelnen Bezirken bestehen. Während die Regierungen in Minden und Münster nur hin und wieder auf den Aufbau des gewerblichen Schulwesens drangen,270 bemühte sich die Arnsberger Verwaltung, den Aufschwung der Industrie in ihrem Bezirk beständig vor Augen, unermüdlich um die Errichtung immer neuer Fortbildungsschulen. Sie traf dabei in den gewerbetreibenden Regionen ihres Bereichs auf weit stärkeres Interesse der Bevölkerung an beruflicher Bildung als dies in anderen Regierungsbezirken, z. B. Münster, der Fall war.271 Der „ganz klägliche“ Eindruck, den das deutsche Handwerk auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1855 hinterließ, veranlasste die preußische Verwaltung zu noch größeren Anstrengungen beim Ausbau des handwerklichen Bildungswesens. Da sie die Errichtung neuer Schulen nicht anordnen konnte, blieb sie auf die Unterstützung interessierter Kreise auf lokaler Ebene angewiesen. Lehrer, Fabrikanten und Geistliche wirkten beim Aufbau des Bildungswesens maßgeblich mit. Die notwendige Folge des liberalen Freiwilligkeitsprinzips war aber, dass sich kein flächendeckendes, einheitliches Schulsystem entwickeln konnte; es kam vielmehr zu einem partikularen, durch örtliche Besonderheiten geprägten Fortbildungsschulwesen. 269 Schreiben des Handelsministers an die Regierung zu Arnsberg vom 6.8.1853, in: StAM, Reg. Münster Nr. 5781. Die Kritik des Ministeriums entzündete sich am Beispiel der Stadt Olpe, wo das Desinteresse der Meister an der Fortbildungsschule polizeiliche Maßnahmen zwecklos erscheinen ließ. 270 Dabei war sich die Regierung in Münster der Bedeutung des gewerblichen Bildungswesens durchaus bewusst. Sie beklagte 1858 lebhaft den schlechten Bildungsstand der jungen Handwerker und stellte fest, dass die Verhältnisse nur in Orten, in denen, wie in Münster, ein Gewerbeinstitut bestehe, besser seien; vgl. Schreiben der Regierung vom 30.4.1858, in: StAM, Reg. Münster Nr. 5781. 271 Grütters (1933), S. 93, Anm. 84.

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B. Die theoretische Fachbildung

Da die gewerblichen Bildungseinrichtungen nicht oder nur sehr unzulänglich und unregelmäßig beaufsichtigt wurden, dürfte auch die Qualität des von den neuen Schulen gebotenen Unterrichts höchst unterschiedlich gewesen sein.272 Als vorbildlich empfanden die Zeitgenossen die Handwerkerschule in Dortmund, die insbesondere Bauhandwerker auf die Prüfungen vorbereitete. Der gründliche Unterricht (34 Wochenstunden) während der Wintermonate legte eine solide und dauerhafte Basis des erforderlichen Fachwissens.273 Den vielfältigen Anstrengungen in der nachrevolutionären Zeit blieb der Erfolg in der Tat nicht versagt. Nicht nur qualitative Verbesserungen, sondern auch ein ständiges Ansteigen der Schülerzahlen während der 50er Jahre belohnte die fruchtbare Aufbauarbeit.274 In Münster zeigte sich folgende Entwicklung:275 Tabelle 12: Schülerzahlen der Handwerkerschulen im Reg.-Bez. Münster 1847–1859 1847

70

1858

231

1852

146

1859

319

1855

163

Beeindruckender noch verlief der Aufstieg der neuen Schulform im Regierungsbezirk Arnsberg:276 Tabelle 13: Schülerzahlen der Handwerkerschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1847–1859 1847

565

1854

2490

1848

559

1855

2820

1849

678

1856

3394

1850

830

1857

3753

1851

934

1858

3894

1852

1878

1859

4154

1853

2393

1857 konnte die Regierung in Arnsberg die Summe ihrer intensiven Bemühungen ziehen und befriedigt feststellen, dass die „Überzeugung von der Nützlichkeit und Notwendigkeit dieser Schulen überall hindurchgedrungen“ sei.277 272 Roscher (1900), S. 590. 273 Diese Einrichtung empfahl Jacobi auch für andere Handwerke zur Nachahmung; vgl. Jacobi (1853/54), S. 104. 274 In den gewerbereichen Orten des Regierungsbezirkes Arnsberg waren bis über die Hälfte der Handwerkslehrlinge Ausländer (aus Waldeck oder Kurhessen), die dann „meistens auf einer außerordentlich tiefen oder gar keiner Stufe der Schulbildung standen“, so dass die Schulen hier ein besonders weites Betätigungsfeld fanden; vgl. Grütters (1933), S. 89, Anm. 38. 275 Quelle: Goeken (1925), S. 164 (mit weiteren Nachweisen). 276 Grütters (1933), S. 24. 277 Ebd., S. 18.

78

II. Die gewerbliche Ausbildung

7. Die Zeit des Verfalls Der Stolz auf das Erreichte währte allerdings nicht lange, denn schon gegen Ende der fünfziger Jahre begann die Schülerzahl wieder zu sinken.278 Verschiedene Ursachen wirkten zusammen, um das mühsam aufgebaute Fortbildungssystem innerhalb weniger Jahre zu demontieren: (1) Viele Anstalten, die im Übereifer und ohne rechtes Bedürfnis gegründet worden waren, hatten wegen des mangelnden Schülerreservoirs nur eine recht kurze Lebensdauer. (2) Der chronische Finanzmangel, der das Fortbildungsschulwesen von Anfang an begleitet hatte, begann in ein akutes Stadium einzutreten und dem System der beruflichen Bildung die ökonomische Grundlage zu entziehen.279 Eine Erhöhung des Schulgeldes hatte sich seit den zwanziger Jahren nicht durchsetzen lassen. Wurde, wie in einzelnen Fällen geschehen, mehr gefordert, so war die Grenze des Zumutbaren bald erreicht.280 Da die Lehrlinge kein Entgelt erhielten, sondern ein beträchtliches Lehrgeld zahlten oder, wenn sie dazu nicht in der Lage waren, den Betrag durch Verlängerung der Lehrzeit erarbeiten mussten, konnten sie selbst das Schulgeld nicht aufbringen. Die häufig völlig mittellosen, kinderreichen Eltern waren, wie ein Beispiel aus dem Jahre 1849 aus Brackwede bei Bielefeld zeigt, in manchen Fällen nicht einmal imstande, ihre die Schule besuchenden, also nicht arbeitenden Kinder auch nur einen Tag lang ausreichend zu ernähren;281 um vieles weniger konnten sie Schulgeld zahlen. Die Mittel mussten also – theoretisch jedenfalls – vor allem durch die Meister aufgebracht werden. Diese trugen aber, wie für den Regierungsbezirk Arnsberg dokumentiert ist, bis zum Beginn der fünfziger Jahre nichts zum Unterhalt der Schulen bei.282 Daher ging man vielerorts dazu über, die Meister durch Ortsstatut zur Zahlung des Schulgeldes für die Lehrlinge zu verpflichten283 und diese Gelder im Verwaltungswege beizutreiben. Oft zahlten auch die Armenkommissionen für bedürftige Schüler. Geldsammlungen und Stiftungen284 halfen, insbesondere in den ersten Jahrzehnten, zudem notdürftig, die Finanzlöcher zu stopfen. Letztlich hatten aber vor allem die Kommunen als Träger der Schulen für die Kosten aufzukommen,285 da auch der Fiskus die Einrichtungen lediglich durch die Bewilligung von Lehrmitteln unterstützte und seine Mitwirkung schließlich ganz einstellte. Der Rückzug des Staates musste befremdlich wirken, 278 Z. B. Kaiser (1978), S. 297; Grütters (1933), S. 24. 279 Zur Finanzierung der Handwerkerschulen im einzelnen vgl. Grütters (1933), S. 74–78. 280 Jacobi (1853/54), S. 102; das Schulgeld betrug für die Schule in Münster im Jahre 1829 jährlich zwei Taler; 1853 betrug es im Regierungsbezirk Arnsberg jährlich 20 Sgr. bis 2 Tlr. Nur in zwei Schulen wurden drei Taler erhoben; vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 28.3.1829, S. 137. 281 Abel (1966), S. 48–81, besonders S. 69. 282 Jacobi (1853/54), S. 102. 283 Jacobi (1853/54), S. 102; Grütters (1933), S. 74. 284 So erhielt die Sonntagsschule in Paderborn aus einer Stiftung des Bischofs jährlich 120 Tlr; vgl. Grütters (1933), S. 77. 285 Die höchsten Zuschüsse im Regierungsbezirk Arnsberg hatte Soest mit 150 Tlr. jährlich zu leisten; vgl. Jacobi (1853/54), S. 102.

B. Die theoretische Fachbildung

79

zumal nach den Beispielen Hannovers, Sachsens, Hessens und anderer Länder eine großzügigere Hilfe der öffentlichen Hand erwartet werden konnte.286 In der Tat blieb es den Zeitgenossen unverständlich, dass die sogenannten „höheren Stände“ für ihre Ausbildungsstätten, die Universitäten und Gymnasien, mit Ausnahme der geringen Kolleggelder nahezu Kostenfreiheit erreicht hatten, während die häufig mittellosen Angehörigen der „handarbeitenden Klassen“ für die Wahrnehmung ihrer ohnehin schon geringen Bildungschancen noch beträchtliche Zahlungen leisten sollten.287 Nachdem sich der Staat aus der Finanzierung der beruflichen Bildung weitestgehend zurückgezogen hatte, wurde die Bedeutung des Schulgeldes für den Fortbestand der Schulen immer wichtiger. Doch war, wie eine Auswertung von Lehrverträgen aus Rheine ergab, seit Beginn der sechziger Jahre kaum noch ein Meister bereit, das Schulgeld für seine Lehrlinge zu bezahlen;288 die Fortbildungsschule fand also auch nicht länger die Unterstützung der Meister. Da sich die Schulen im Regierungsbezirk Münster im Jahre 1865 allein durch Zuschüsse der Gemeinden und aus dem Schulgeld tragen mussten,289 oblag nun den Lehrlingen bzw. deren Eltern die Bereitstellung eines großen Teils der erforderlichen Mittel. Damit aber waren die meisten hoffnungslos überfordert. Gegen Ende der sechziger Jahre war es dann soweit gekommen, dass die Fortbildungsschule in Münster ihre Ausgaben vollständig aus dem einkommenden Schulgeld bestreiten musste. Sie war deshalb nicht mehr imstande, Freiplätze für bedürftige Schüler zur Verfügung zu stellen. Weder der Staat noch die Kommunen noch private Spender stützten das Institut. Das kontinuierliche Absinken der Schülerzahl war die notwendige Folge.290 Der sich mit Macht entfaltende Liberalismus, der seit der Mitte der fünfziger Jahre das gerade erst aufgebaute Organisationswesen des Handwerks zu zerstören begonnen hatte, führte zunächst zu einer unheiligen Allianz aus Fiskus, Gemeinden und Meistern, die den Fortbildungsschulen den Geldhahn zudrehte. (3) Unter dem Einfluss eben dieser liberalen Anschauungen sprachen sich die Regierungen in den sechziger Jahren dann auch allgemein für die völlige Freiwilligkeit des Schulbesuchs aus. Viele Anstalten, die anfänglich durchaus erfolgreich waren, wie z. B. die 1846 gegründete Fortbildungsschule in Lüdenscheid, fristeten, nachdem ihnen nun auch noch die notwendige moralische Unterstützung seitens des Staates demonstrativ entzogen worden war, nur noch ein schattenhaftes Dasein.291 Die Lücke, die durch die Schließung zahlreicher Schulen entstand, wurde zudem in Westfalen nicht – wie etwa in Württemberg – durch den Einsatz gewerblicher Wanderlehrer geschlossen.292 Die von den Staatsräten Kunth und Beuth nach dem Ende der Befreiungskriege vorangetriebene und mit so vielen Hoffnungen verknüpfte Reformbewegung war am Ende der sechziger Jahre vollständig paralysiert. 286 287 288 289 290 291 292

Jacobi (1853/54), S. 102; Grütters (1933), S. 76. Jacobi (1853/54), S. 102; zur Finanzierung der Gewerbeschulen Grütters (1933), S. 74–78. Kaiser (1978), S. 299. König (1865), S. 46. Goeken (1925), S. 37. Hostert (1960), S. 136; Hopff (1922), S. 100. Roscher (1900), S. 581–611, besonders S. 589.

80

II. Die gewerbliche Ausbildung

(4) Nachdem den Schulen von höchster Ebene praktisch das Vertrauen entzogen worden war, schlugen in den noch verbliebenen Einrichtungen die organisatorischen Mängel, die bis dahin klaglos hingenommen worden waren, bei den Schülern stärker zu Buche: Als Sonntagsschulen beanspruchten sie die Lehrlinge über Gebühr: Beim Besuch des fünf- bis sechsstündigen Unterrichts am einzigen Tage der Woche, der nicht völlig mit Arbeit ausgefüllt war, blieb den jungen Leuten keine Freizeit, da gewöhnlich auch noch das Säubern der Werkstatt, das Austragen fertiggestellter Werkstücke – etwa Schuhe oder Anzüge – sowie der Kirchgang zur Sonntagsbeschäftigung der Lehrlinge gehörte. Diese Überforderung führte, wie Roscher meinte, „zu Überanstrengung, Lassheit, Widerwillen gegen die Schule und Vernachlässigung der Religion bei den Schülern“. Unter solch harten Bedingungen ist es wenig verwunderlich, dass die Jungen die erste Gelegenheit beim Schopfe packten und der Fortbildungsschule den Rücken kehrten. (5) Mit dem Erlass der vorläufigen Gewerbeordnung von 1868 fiel auch die Prüfungspflicht für Handwerker fort. Damit war eines der wichtigsten Motive für den Besuch der Fortbildungsschule beseitigt. Sowohl die Gesamtfrequenz als auch die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs ließen fortan noch mehr zu wünschen übrig.293 Die in jeder Weise negative Entwicklung verleidete schließlich auch den noch vorhandenen Schulträgern wie den Lehrern das Interesse an der Handwerkerbildung. (6) Die Chance eines neuen Aufschwungs des gewerblichen Schulwesens schien sich aber – überraschend genug – zu eröffnen, als die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 erneut die Möglichkeit einräumte, die Gesellen und Lehrlinge durch Ortsstatuten zum Schulbesuch bis zum 18. Lebensjahr anzuhalten.294 Angesichts der dominierenden liberalen Wertvorstellungen, die alle Lebensbereiche tief beeinflussten, wurde dieser neue Impuls aber nur zögernd aufgenommen. Der Widerstand gegen die Einführung der Schulpflicht kam vor allem aus dem Handwerkerstand selbst. In Hagen beispielsweise scheiterte ein geplantes Ortsstatut, welches den Schulzwang normieren sollte, vor allem an der massiven Ablehnung der Kleingewerbetreibenden.295 Außerdem verringerte sich gerade in diesen Jahren die Zahl der Handwerkslehrlinge aufgrund der geradezu überschäumenden Industriekonjunktur insbesondere im Regierungsbezirk Arnsberg „ganz außerordentlich“, weil „die jungen Leute der unteren Volksklasse, die früher für Handwerke bestimmt zu werden pflegten, hier auf Fabriken, in Bergwerken usw. schon mit dem 15. Lebensjahr sehr hohen Lohn erhielten“.296 Das Ausbluten der Fortbildungsschulen war unter solchen Umständen nicht länger aufzuhalten. Allein zwischen Januar 1869 und April 1870 mussten im Regierungsbezirk Arnsberg wegen des Mangels an Schülern 16 Schulen geschlossen werden.297 Wie katastrophal 293 Ebd., S. 584. 294 § 106 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, abgedruckt in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 13 (1869), S. 114–144 (134). 295 Hopff (1922), S. 100. 296 Zitiert nach Grütters (1933), S. 24. 297 Grütters (1933), S. 94; gleichzeitig wurde aber seitens der Staatswissenschaften weiterhin versucht, den Handwerkern die Bedeutung des Besuchs der Fortbildungsschule nahe zubringen,

81

B. Die theoretische Fachbildung

der Niedergang war, zeigen die Statistiken. Selbst die traditionsreiche, große Sonntagsschule in Münster hatte einen dramatischen Rückgang der Schülerzahlen zu verzeichnen:298 Tabelle 14: Schülerzahlen der Sonntagsschule Münster 1859–1870 1859

319

1863

228

1867

217

1860

306

1864

219

1868

188

1861

280

1865

246

1869

206

1862

258

1866

200

1870

196

Noch stärker, nämlich um mehr als die Hälfte, sank die Frequenz der Schulen im Regierungsbezirk Arnsberg:299 300301302 Tabelle 15: Schülerzahlen und Zahl der Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1859–1870 Schulen 1859

4154

1865

3599

1860

4029

1866

3336

1861

3728

1867

3532

1862

3907

1868

3109

144300

1863

3937

1869

2180

137301

1864

3736

1870

2062

107302

Nährte auch der Liberalismus die Uneinsichtigkeit in die Notwendigkeit einer geordneten Berufsbildung im Handwerkerstand selbst, so wurde doch gerade diese Handwerkerschaft von der abnehmenden Qualifikation des Nachwuchses härter als manche fortschrittlichen Industriebetriebe betroffen, die damals eigene Fortbildungsschulen errichteten und so die entstandenen Lücken im Wissensstand ihres Nachwuchses schließen konnten.303 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich die vgl. Schmoller (1870), S. 355; ebenso von Viebahn (1868), S. 747; Viebahn forderte damals, auf dem Höhepunkt der Wirksamkeit liberaler Anschauungen, die Einführung der Schulpflicht für die Gewerbeschulen. 298 Goeken (1925), S. 164. 299 Bericht der Regierung zu Arnsberg vom 14.5.1873 an den Kultusminister, zitiert nach Grütters (1933), S. 88, Anm. 38. 300 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 24.10.1868, S. 340. 301 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 4.9.1869, S. 247. 302 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Arnsberg vom 9.4.1870, S. 108. 303 So errichtete z. B. die Hagener Firma Funcke und Hueck 1871 aus eigenen Mitteln eine Fortbildungsschule mit dem Ziel, „jungen Leuten, welche sich zu künftigen Handwerks- und Fabrikmeistern resp. Monteuren heranbilden wollen, diejenige Vorbildung als ein geschlossenes

82

II. Die gewerbliche Ausbildung

Zeit der Hochindustrialisierung auf dem Felde der Berufsbildung merkwürdigerweise als weit weniger fortschrittlich und zukunftsorientiert erwies als die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Es wäre allerdings zu einfach, die Ursachen für diese nur auf den ersten Blick überraschende Kehrtwendung allein in den damals herrschenden wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen suchen zu wollen. Die Fortbildungsschule selbst trug nämlich ebenfalls Verantwortung für ihren Niedergang. Einerseits stellten die neue Anwendung der Naturwissenschaften, die Steigerung des künstlerischen Niveaus und die unvermeidliche kaufmännische Betriebsweise höhere Anforderungen an den Handwerker. Andererseits verlangten die fortschreitende Spezialisierung, der beginnende Einsatz von Maschinen, die wachsende Konkurrenz von vielen Berufsangehörigen nunmehr die mechanische Ausführung immer gleicher Verrichtungen. Damit zerfiel das vielbeschworene, noch dem alten Handwerk entlehnte einheitliche Bildungsideal der handwerklichen Fortbildungsschule. Für die Suche nach neuen Formen und Inhalten fehlte diesem Schultyp aber die zahlenmäßige Bedeutung und die organisatorische Geschlossenheit. Die Fortbildungsschule hielt in ihrer Entwicklung inne – und fiel sofort zurück. Die zeitgenössischen Chronisten des Verfalls des gewerblichen Schulwesens304 wiesen jedoch schon in dieser Phase des Niedergangs andere Wege, die – wenn auch erst später – zu neuem Aufstieg und wirklicher Effizienz der Berufsschule führten. 8. Aufbruch in die neue Zeit Das Pendel schlug in der Tat bald wieder in die andere Richtung. Friedrich Harkort, der bedeutende Förderer der märkischen Wirtschaft, bemühte sich schon seit langem um die Verbesserung des Schulwesens in Westfalen. 1873 forderte er, das schulpflichtige Alter solle bis auf 15 Jahre heraufgesetzt werden; an die Volksschule solle sich die obligatorische Fortbildungsschule anschließen.305 Diese zukunftweisenden Idealvorstellungen des philanthropischen Unternehmers wurden in den siebziger Jahren von der Regierung in Münster geteilt.306 Auch die Arnsberger Regierung propagierte nun, unter dem Eindruck der verheerenden Folgen der „Gründerkrise“ und dem folgenden Niedergang des Hochliberalismus, wieder eifrig die Schulpflicht. Sie fand den Grund für den nur schleppenden Wiederaufbau des Schulwesens aber keineswegs in dem Wechselbad staatlicher Einflussnahme, sonGanzes zu bieten, welche ihnen in ihrer künftigen Berufstätigkeit unentbehrlich ist“ (Statut der Schule), vgl. Hopff (1922), S. 100–101. 304 U. a. Noeggerath (1865); Bücher (1877); vgl. Waentig (1908), S. 40. 305 Harkort (1969), S. 131–134; zu Harkorts Initiativen vgl. Jeismann (1972), S. 315–337. Bereits in seiner Schrift „Bemerkungen über die preußische Volksschule und ihre Lehrer“, (1842), S. 42–43, hatte Harkort die Einführung der Sonntagsschule als integrierenden Teil der Elementarschule durch den Gesetzgeber gefordert, um die Lücke in der Erziehung, die er bei den Gesellen und Lehrlingen feststellte, schließen zu können. 306 Grütters (1933), S. 37; die Regierung in Münster schlug sogar vor, denjenigen, welche drei oder vier Jahre die Fortbildungsschule besucht hätten, ein halbes Jahr von der Militärdienstpflicht zu erlassen.

B. Die theoretische Fachbildung

83

dern in der Scheu der Gemeinden vor weiteren finanziellen Aufwendungen. Ebenso zu missbilligen sei, so meinte die Arnsberger Behörde nun wieder, dass manche Lehrherren ihren Gesellen und Lehrlingen nicht die nötige Freizeit zum Schulbesuch gewährten und dass der gewerbliche Nachwuchs selbst den Schulzwang weitgehend ablehne. Die Regierung in Minden hatte – ganz untypisch – schon gegen Ende der sechziger Jahre erneut begonnen, auf eine Verpflichtung der Meister zu Unterhaltungszahlungen an die Fortbildungsschulen durch Ortsstatuten hinzuwirken.307 Die neue Denkweise in der Verwaltung, die von einer Elite der Handwerkerschaft geteilt wurde, signalisierte die Abkehr vom orthodoxen Hochliberalismus und die Rückkehr zur früheren staatlichen Gewerbeförderung durch aktive Bildungspolitik. Auch der Gesetzgeber öffnete sich erstaunlich schnell den Zeichen einer neuen Zeit. Schon 1874 wurde dem extremen Gedanken des „laissez faire“ abgesagt und auf höchster Ebene der Versuch gemacht, die Idee der Fortbildungsschule erneut zu beleben. Zukünftig sollten jedenfalls für solche Schulen Staatszuschüsse gewährt werden, deren Besuch obligatorisch war.308 Damit wurde erneut der in der Tat allein erfolgversprechende Weg zur allgemeinen Schulpflicht auch in der beruflichen Bildung eingeschlagen. 9. Handwerksgesellen-Bildungsvereine Friedrich Harkort hatte sich schon in seiner Schrift: „Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen“ aus dem Jahre 1844 mit der Bildungssituation der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt. Seine Forderung nach einem zeitgemäßen Qualifikationsstandard auch der bis dahin bildungsfernen Schichten gipfelte in dem Anspruch auf „Berufs(aus)bildung“, „Fachbelehrung“ und „politische Bildung“,309 den er für die Bauern, Handwerker und Arbeiter reklamierte. Harkorts Verdienst liegt darin, schon zu einer Zeit auf die Notwendigkeit der Berufsausbildung und beruflichen Weiterbildung hingewiesen zu haben, als dieses Anliegen seitens der Behörden noch keineswegs als vorrangig betrachtet wurde: „In den höheren Regionen zweifelt man noch an dem Erfolge und Nutzen einer allgemeinen Bildung, die echten Vorkämpfer fehlen, ängstlich hält man den Hemmschuh in der Hand, während das Rad der Intelligenz unaufhaltsam weiterrollt“.310 Als ein solcher Hemmschuh hatte nicht zuletzt die äußerst restriktive Handhabung der Vereinigungsfreiheit seitens der Behörden zu gelten, welche die Zusammenschlüsse der Handwerker und Arbeiter misstrauisch beargwöhnten.311 Harkort schlug demgegenüber vor, die Erwachsenen durch „Vereine zur Ver-

307 Z. B. Verfügung der Regierung zu Minden und der Stadt Minden vom 9.4.1867, betr. Änderung des Ortsstatuts; desgl. bezüglich der Stadt Bielefeld. 308 Grütters (1933), S. 37; zu der neuen Beurteilung der Fortbildungsschulen vgl. Schröder (1872). 309 Vgl. Balser (1959), S. 141 (mit weiteren Nachweisen). 310 Zitiert nach Balser (1959), S. 144 (mit weiteren Nachweisen). 311 Vgl. Müller (1965); vgl. auch Birker (1973), S. 17–20.

84

II. Die gewerbliche Ausbildung

breitung gewerblicher und gemeinnütziger Kenntnisse“312 zu fördern, wobei er auf das nachahmenswerte Beispiel einer solchen Einrichtung in Osnabrück verwies: Der dortige, 1840 gegründete Handwerkerverein wirke „durch Lectüre, Umgang, Vorlesungen und Unterricht Sonntags und an einigen Abenden in der Woche auf die jüngeren Leute ein …“.313 In Bielefeld war bereits 1828 ein Handwerkerbildungsverein314 gegründet worden, der, 1831 durch den westfälischen Oberpräsidenten Ludwig von Vincke zur Nachahmung empfohlen, damals schon eine Bibliothek von 340 Bänden besessen haben soll. Zu Beginn der 1840er Jahre scheint dieser Verein allerdings seine Arbeit eingestellt zu haben.315 Auch in Hamm hatte der „Gewerbliche Leseverein“ eine bedeutende Sammlung berufsspezifischer Fachliteratur zusammengetragen. Die mehrere hundert Bände umfassende Bibliothek stand für die Zwecke der Handwerker-Fortbildungsschule zur Verfügung.316 So verschaffte sich der in der Aufklärung entstandene bürgerliche Glaube an den Fortschritt und die Verbesserung des Menschen durch Bildung auch auf dem Wege über den Verein unübersehbar Eingang in das Handwerk. Die Vereinsbewegung gewann während der Revolution 1848/49 schnell politische Bedeutung,317 um im nachrevolutionären Jahrzehnt, unter dem Eindruck der Repression, wieder an Einfluss auf die Meister und Gesellen zu verlieren.318 Die Beschränkung auf bloße Bildungsarbeit konnte aber das Überleben manchen Zusammenschlusses auch über die Mitte der 1850er Jahre hinaus sichern. Der Erfolg dieser Vereine war gewiss, da die Verbesserung der mangelhaften Schulkenntnisse jedenfalls für einen zwar kleinen, aber aufstiegsbewussten Teil der Handwerkerschaft ein elementares Bedürfnis darstellte. DDR-Historiker unterschieden diese Vereine nach ihrer Bedeutung für die gewerkschaftliche Entwicklung folgendermaßen: 312 Zitiert nach Balser (1959), S. 144; dieser Vorschlag war allerdings nicht neu; Karl Heinrich Rau hatte schon 1828 in seinen „Grundsätzen der Volkswirthschaftslehre“ vorgeschlagen, Handwerkerförderung „durch die Anregung zur Stiftung von Vereinen, welche nützliche Bücher und Zeitschriften anschaffen, dieselben unter den Mitgliedern umlaufen lassen, auch wohl Besprechungen über gemeinnützige Gegenstände halten“, zu betreiben; vgl. Rau (1828), S. 231. 313 Zitiert nach Balser (1959), S. 315–316; bei der Gründungsveranstaltung waren etwa 400 Personen anwesend. 314 Zur Entstehung der Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereine im Vormärz vgl. z. B. Quarck (1970), S. 25–27; Obermann (1953), S. 60–63; Wachenheim (1971), S. 25–27; Tenfelde (1981), S. 253–274. 315 Tenfelde (1981), S. 253–274, besonders S. 259. 316 Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster vom 8.12.1832; desgl. in Bielefeld, vgl. Amtsblatt der königlichen Regierung zu Münster 1831, S. 244; in Hamm unterstützte der Gewerbeverein die Sonntagsschule auch beim Aufbau einer eigenen Gewerbebibliothek. Die Buchbestände, die manche der nach 1849 ins Leben gerufenen Gewerberäte aufgebaut hatten, konnten wegen des schnellen Endes dieser bald gescheiterten Institution keine Bedeutung für die Handwerkerbildung gewinnen. 317 Zur Politisierung der ursprünglich als Bildungseinrichtungen gegründeten Gesellenvereine vgl. Nipperdey (1976), S. 174–205, besonders S. 201. 318 Tenfelde (1981), S. 253; zu den Bildungsvereinen der Handwerker vgl. Ruckhäberle (1978), S. 191–207.

B. Die theoretische Fachbildung

85

(1) Sog. „bürgerliche Vereine“, die, von mittelständischen Kreisen begründet, die Gesellen eher als „Betreute“, denen die Selbsthilfe ermöglicht werden sollte, betrachteten. (2) Allgemeine Handwerkerbildungsvereine, die ihre Mitglieder ohne Differenzierung nach gewerblicher Zugehörigkeit aufnahmen. (3) Gewerbliche Bildungs- und Geselligkeitsvereine der Buchdrucker und Zigarrenarbeiter.319 Zur ersteren Kategorie zählte der 1821 in Berlin gegründete „Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes“. Bürger sollten sich mit Arbeitern und Handwerksgesellen zum Zwecke der Harmonisierung der sozialen Gegensätze und der Lösung der sozialen Frage zusammenfinden.320 Dieser Zusammenschluss gebildeter Bürger erlangte aber in Westfalen wenig Bedeutung; er konnte sich hier nicht wie anderwärts durch seine Lesegesellschaften zu einem bedeutenden Träger der Erwachsenenbildung entwickeln.321 Während die Vereine der dritten Kategorie den Arbeitern vorbehalten blieben, waren diejenigen der zweiten als Ausdruck der herrschenden Leitidee der Assoziation geradezu prädestiniert, werbende Wirkung auf die durch den Zerfall der überkommenen ständisch-obrigkeitlichen Ordnung verunsicherten Handwerker auszuüben. Ihre Aufgabe erschöpfte sich nicht in der Vermittlung von Allgemein- und Berufswissen; die Gesellen sahen in ihnen vielmehr neben den Kranken- und Sterbeladen einen weiteren Baustein zur Reorganisation ihrer sozialen, durch die Industrialisierung bedrohten ökonomischen Existenz. Nicht zuletzt deshalb waren es beinahe ausnahmslos Handwerker, die den sich während der 1860er Jahre „sozusagen epidemisch“ ausbreitenden Arbeiterbildungsvereinen beitraten,322 während der Anteil der ungelernten Arbeiter auffallend gering blieb. 10. Kirchliche Bildungseinrichtungen Von den Rückschlägen des gewerblichen Schulwesens verschont blieben auch die Bildungseinrichtungen der konfessionell gebundenen Gesellen- und Lehrlingsvereine, die ihre Mitglieder durch regelrechten gewerblichen Fortbildungsunterricht zu fördern suchten.323 Die Berufsbildung der Handwerker auf privater Basis wurde in Westfalen – im Gegensatz etwa zu Berlin – zur Domäne dieser kirchlich orientierten Gesellenvereine.324 Die Bildungsarbeit der Kolpingvereine verdankte ihren Er319 Todt/Radandt (1950), S. 83–86; vgl. auch Tenfelde (1981), S. 261. 320 So jedenfalls in Köln; vgl. Nipperdey (1976), S. 213; vgl. auch Fallati (1844), S. 737–791. 321 Zu den Lesevereinen und Handwerkerbildungsvereinen im Vormärz allgemein vgl. Balser (1959), S. 63 ff. und S. 86 ff. 322 Zitiert nach Tenfelde (1981), S. 256 mit weiteren Nachweisen; zu den Bildungsvereinen vgl. Schmierer (1970). 323 Schon der 1848 in Wuppertal gegründete Gesellenverein, aus dem die Kolpingvereine hervorgingen, betrieb nicht nur religiöse Bildungsarbeit, sondern bemühte sich auch um die berufliche Weiterbildung seiner Mitglieder durch Fortbildungsunterricht und Zeichenstunden; vgl. Franz (1922). 324 Zu den konfessionellen Bildungseinrichtungen s. Balser (1959), S. 212–216; vgl. auch Wendling (1937).

86

II. Die gewerbliche Ausbildung

folg nicht zuletzt der gemeinsamen Anstrengung und uneingeschränkten Unterstützung von Gesellen, Meistern und Lehrerschaft.325 Auf staatliche Förderung konnten diese Einrichtungen dagegen nicht rechnen. Der Oberpräsident in Münster stellte vielmehr missbilligend fest, dass die „rückschreitende Entwicklung der Anstalt (der Gewerbeschule in Münster) auf die Konkurrenz der sog. Gesellenvereine mit deren offen hervortretenden klerikalen Tendenzen zurückgeführt werden muss“.326 Katholische Gesellenvereine, die sich durch besonders intensive Bildungsarbeit hervortaten, bestanden u. a. in Recklinghausen (1859), Dülmen (1860), Coesfeld (1861), Telgte (1863), Rheine (1872), Münster (1873) und Beckum (1875).327 Die zwischen 1845 und 1870 in Höxter gegründeten Sonntagsschulen wurden ebenfalls von den Gesellenvereinen ins Leben gerufen.328 Die kirchlich geförderte Bildungsarbeit blieb nicht auf die katholischen Landesteile beschränkt. In den 1830er Jahren schlossen sich junge Männer zu den ersten evangelischen Jünglingsvereinen zusammen. Obgleich sie mit ihrer Bildungsarbeit nicht speziell den Handwerkernachwuchs erreichen, sondern für die gesamte evangelische Jugend offen sein und sie durch Schreib-, Rechen- und Sprachkurse fördern wollten,329 kam es vereinzelt doch zur Gründung eigener Handwerkerfortbildungsschulen. So verdankte eine der beiden Herforder Anstalten ihre Existenz diesen kirchlichen Bemühungen.330 11. Die berufliche Bildung der Frauen Nach herrschender Ansicht blieben die Frauen von allen fachlichen Fortbildungsmöglichkeiten ausgeschlossen.331 Sie durften zwar seit der Einführung der Gewerbefreiheit ein Handwerk oder Gewerbe selbständig ausüben. Das ermöglichte ihnen aber nicht, auf die Erziehung des weiblichen Nachwuchses über die praktische Ausbildung hinaus Einfluss zu nehmen. Die Qualität der Lehrlingsausbildung ließ unter diesen Umständen sehr zu wünschen übrig. Die kurze, ausschließlich betriebliche Ausbildung qualifizierte die Frauen nur zu weniger anspruchsvollen Tätigkeiten. Verantwortlich für diese Missstände waren neben den Eltern, die keine finanziellen Belastungen für die Ausbildung der Töchter auf sich nehmen wollten, die Handwerker, die an billigen Arbeitskräften interessiert waren, vor allem aber der Staat und

325 326 327 328 329 330 331

Franz (1922), S. 24 und S. 34–35. Schreiben vom 23.5.1873 an den Kultusminister, vgl. Grütters (1933), S. 20. Grütters (1933), S. 21. Ebd., S. 21–22. Köllmann (o. J.), S. 11–38; Köllmann (1955), S. 36. Grütters (1933), S. 22. Vgl. dazu Brodmeier (1963), S. 65. Allerdings gab es auch Ausnahmen. So waren im Berliner „Handwerkerverein“ in den 1840er Jahren zahlreiche Frauen und Mädchen vertreten; vgl. Balser (1959), S. 92. Nach Tenfelde nahmen sie aber nur an den unterhaltenden Veranstaltungen teil, während „Unterricht und Bildung offenbar in den Anfängen noch „ Männersache“ blieben“; so Tenfelde (1981), S. 253–274, besonders S. 265.

87

B. Die theoretische Fachbildung

die Gesellschaft, welche die Notwendigkeit einer qualifizierten Ausbildung der Frauen nicht einmal in Ansätzen erkannt hatten.332 12. Eine Bilanz Trotz der jahrzehntelangen Bemühungen um die Verbesserung der gewerblich-theoretischen Fachbildung, die manche Erfolge, aber noch mehr Rückschläge aufzuweisen hatte, bleiben begründete Zweifel an der Breitenwirkung des gewerblichen Bildungswesens vor 1870. Im Regierungsbezirk Minden waren bei 43 Schulgründungen zwischen 1827 und 1870 niemals mehr als 12 Schulen gleichzeitig mit der Handwerkerbildung befasst. Die meisten Neugründungen gingen offenbar nach kurzer Lebensdauer wieder ein. Für diesen Bezirk ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 16: Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Minden 1827–1850 Neu eröffnete Schulen

Ermittelter Schulbestand

Jahr

Ort

Jahr

Ort

Jahr

Zahl

Jahr

Zahl

1827

Minden

1854

Höxter

1827

1

1851

4

1829

Paderborn

1855

Gütersloh

1828

1

1852

4

1831

Bielefeld

1855

Bünde

1829

2

1853

6

1831

Gütersloh

1855

Wiedenbrück

1830

2

1854

6

1831

Rietberg

1856

Lübbecke

1831

5

1855

8/9

1832

Wiedenbrück

1856

Minden

1832

6

1856

10

1833/4

Lübbecke

1858

Höxter

1833

5/7

1857

9

1838

Minden

1859

Gütersloh

1834

4

1858

9

1841

Minden

1860

Lügde

1835

4

1859

8

1844

Borgholzhausen

1860

Bünde

1836

4

1860

9

1844

Bünde

1862

Gütersloh

1837

4

1861

7

1845

Lübbecke

1862

Wiedenbrück

1838

4

1862

7

1845

Höxter

1864

Bünde

1839

4

1863

7

1846

Minden 2

1864

Herford

1840

4

1864

11

1847

Rietberg

1864

Höxter

1841

3/4

1865

12

1848

Minden

1864

Warburg

1842

3/4

1866

12

1848

Bielefeld

1864

Rheda

1843

3

1867

11

332 Als die Regierung Münster in einem Bericht aus dem Jahre 1844 die Ansicht vertreten hatte, die Fortbildung der Mädchen sei wegen der künftigen Kindererziehung wichtiger als die der Knaben, wurde sie von dem zuständigen Minister darauf hingewiesen, dass sie sich ausschließlich mit Knabenschulen zu befassen habe; vgl. Grütters (1933), S. 102, Anm. 158.

88

II. Die gewerbliche Ausbildung Neu eröffnete Schulen

Ermittelter Schulbestand

Jahr

Ort

Jahr

Ort

Jahr

Zahl

Jahr

Zahl

1848

Gütersloh

1865

Büren

1844

5

1868

10

1849

Herford 2

1866

Werther

1845

8

1869

10

1853

Höxter

1868

Borgholzhausen

1846

8/9

1870

9

1853

Herford

1870

Höxter

1847

7/8

1871

7

1853/4

Gütersloh

1848

8

1872

5

1849

6

1873

5

1850

4

1874

5

Quelle: Grütters (1933), S. 21–22

Aus der nicht einmal halb so großen Zahl der Neueröffnungen von Handwerkerschulen im Regierungsbezirk Münster folgt, dass im Münsterland im Mittel noch weitaus weniger Bildungseinrichtungen zur Verfügung standen. Im Regierungsbezirk Münster lassen sich folgende Schulgründungen nachweisen:333 Tabelle 17: Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Münster 1829–1872 Eröffnung

Ort

Eröffnung

Ort

1829

Münster

1842

Ibbenbüren

1829

Warendorf

1850

Freckenhorst

1830

Rheine

1854

Beckum

1830

Dorsten

1854

Telgte

1832

Vreden

1855

Ibbenbüren

1835

Recklinghausen

1855

Burgsteinfurt

1836/37

Coesfeld

1859

Borken

1837

Anholt

1860

Ahlen

1838

Bocholt

1862

Bocholt

1839

Haltern

1872

Anholt

Quelle: Grütters (1933), S. 21d.

1861 existierten im Regierungsbezirk Münster 11 Schulen mit 22 Lehrern und 661 Schülern,334 1865 waren noch 10 Schulen mit 642 Schülern vorhanden.335 Die 333 Ebd., S. 21. 334 Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung nach der Aufnahme vom 3. Dez. 1861, in: Preußische Statistik, Bd. 5, (1864), S. 143. 335 Münster (171); Vreden (92); Bocholt (33); Dorsten (75); Recklinghausen (105); Rheine (18); Burgsteinfurt (32), Ibbenbüren (22); Hörstel (41); Warendorf (53) (in Klammern die Zahl der

89

B. Die theoretische Fachbildung

Folge der geringen Schuldichte im Münsterland war, dass die Fortbildungsschule der Provinzialhauptstadt ganz überwiegend von auswärtigen Schülern besucht wurde. 1866/67 kamen von den 200 Schülern des Instituts nicht mehr als 78 aus der Stadt Münster.336 Die Schule in Dortmund, die mit zahlreichen benachbarten Einrichtungen konkurrieren musste und nicht auf auswärtige Schüler zurückgreifen konnte, zählte dagegen 1861 nicht weniger als 10 Lehrer und 372 Schüler.337 Nicht allein in Dortmund, sondern im gesamten Regierungsbezirk Arnsberg, und zwar in der Stadt ebenso wie auf dem Lande, im Herzogtum Westfalen nicht anders als in der Grafschaft Mark, war das gewerbliche Schulwesen vorzüglich ausgebaut:338 Tabelle 18: Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1830–1856 Eröffnung Ort

Eröffnung Ort

Eröffnung Ort

1830

Soest

1855

Kamen

1860

Böhle

1830

Hamm

1855

Burbach

1860

Wengern

1830

Arnsberg

1855

Holzhausen

1860

Crombach

1831

Dortmund

1855

Voerde

1860

Deuz

1832

Iserlohn

1856

Herdecke

1860

Quambusch

1834

Hagen

1856

Eilpe

1860

Tücking

1836

Dortmund

1856

Eckesey

1860

Buschhütten

1836

Laasphe

1856

Böhle

1860

Eichen

1837

Siegen

1856

Vollmarstein

1860

Borgeln

1840

Arnsberg

1856

Silschede

1860

Littfeld

1840

Laasphe

1856

Wengern

1860

Sassendorf

1841

Menden

1856

Niedermassen

1860

Müllingsen

1842

Lippstadt

1856

Lünern

1861

Brüninghausen

1841/42

Altena

1856

Warstein

1861

Gevelsberg

1844

Meschede

1856

Hemer

1861

Kirchderne

1844

Plettenberg

1856

Oestrich

1861

Brechten

1844

Bochum

1856

Erwitte

1861

Kredenbach

1844

Brilon

1856

Werden

1862

Bochum

1845

Hattingen

1856

Netphen

1862

Renninghausen

1847

Halver

1856

Krombach

1862

Siegen II

1848

Breckerfeld

1856

Oestinghausen

1862

Eisern

1849

Voerde

1857

Berleburg

1862

Wilnsdorf

Schüler). In den Kreisen Beckum, Coesfeld, Lüdinghausen und Münster war die öffentliche Handwerkerfortbildung völlig erloschen. 336 Goeken (1925), S. 37. 337 Ergebnisse der Volkszählung (1864), S. 219, wie Anm. 333. 338 Grütters (1933), S. 22–24.

90

II. Die gewerbliche Ausbildung

Eröffnung Ort

Eröffnung Ort

Eröffnung Ort

1849

Freudenberg

1857

Methler

1862

Tücking

1850

Lüdenscheid

1857

Heeren

1862

Littfeld

1850

Warstein

1857

Bigge

1863

Hüsten

1850

Hemer

1857

Wehringhausen

1863

Sprockhövel

1850

Hilchenbach

1857

Halingen

1863

Erndtebrück

1851

Kierspe

1857

Welschenennest

1864

Wehringhausen

1851

Bochum

1857

Niedernetphen

1864

Derne

1851

Schwelm

1857

Deuz

1864

Haspe

1851

Werl

1857

Müllingsen

1864

Werl

1852

Brilon

1858

Marsberg

1864

Hovestadt

1852

Unna

1858

Winterberg

1864

Brüninghausen

1852

Limburg

1858

Schwerte

1865

Renninghausen

1852

Meschede

1858

Lünen

1865

Erndtebrück

1852

Attendorn

1858

Amt Ennepestr. 5

1865

Dahlbusch

1852

Hilchenbach

1858

Amt Hagen-Böhle 4

1865

Holzhausen

1852

Neuenkirchen

1858

Amt Vollmarstein 3

1866

Wetter

1852

Müsen

1858

Calle

1866

Weslarn

1852

Dinker

1858

Fredeburg

1866

Littfeld

1852

Hovestadt

1858

Littfeld

1867

Oestinghausen 2

1852

Hultrop

1858

Netphen

1867

Hovestadt

1853

Hilbeck

1858

Drechen

1867

Belecke

1853

Sönnern

1858

Hilbeck

1867

HüttenbreukerRahmede

1853

Drechen

1859

Amt Ferndorf 4

1867

Niedermarsberg

1853

Hoerde

1859

Borgeln Oestinghausen

1867

Müsen

1853

Geseke

1860

Hanfe

1867

Hultrop

1853

Rüthen

1860

Wehringhausen

1868

Wengen

1853

Olpe

1860

Selbecke

1868

Amt Ferndorf

1854

Neheim

1860

Friedenshöhe

1868

Lohne

1854

Witten

1860

Berge

1869

Wehringhausen

1854

Schmallenberg 1860

Hasperbruch

1869

Witten

1854

Laasphe

1860

Hasperbach

1869

Grundschöttel

1855

Medebach

1860

Neuenkirchen

1873

Plettenberg

1855

Gevelsberg

1860

Dinker

1873

Meinerzhagen

1855

Haspe

1860

Hultrop

1855

Westerbauer

1860

Eilpe

91

B. Die theoretische Fachbildung

Die Zahl der Schulen, der Schüler und der Lehrer entwickelte sich im Regierungsbezirk Arnsberg folgendermaßen:339 Tabelle 19: Gewerbliche Fortbildungsschulen, Schüler und Lehrer im Reg.-Bez. Arnsberg 1847–1870 Jahr

Schulen

Schüler

Lehrer

insgesamt

durchschnittlich pro Schule

1847

11

565

55

1848

11

559

51

1849

14

678

48

1850

17

830

49

1851

20

934

47

1852

30

1878

63

1853

37

2393

65

1854

36

2490

69

1855

45

2820

63

1856

62

3394

55

1857

66

3753

57

1858

69

3894

56

1859

73

4154

57

1860

76

4029

53

1861

74

3728

50

164

1862

81

3907

48

160

1863

77

3937

51

152

1864

74

3736

50

139

1865

74

3599

49

141

1866

69

3336

48

143

1867

73

3532

48

144

1868

68

3109

46

137

1869

52

2180

42

107

1870

43

2062

48

101

1861 besaß der Regierungsbezirk Arnsberg 74 Schulen mit 3728 Schülern (zum Vergleich, ebenfalls 1861: Regierungsbezirk Minden 7 (nach der preußischen Statistik 10), Regierungsbezirk Münster 11). 1865 waren es im Regierungsbezirk Arnsberg immer noch 74 Schulen, im Regierungsbezirk Münster dagegen 10 und 339 Quelle: Grütters (1933), S. 24.

92

II. Die gewerbliche Ausbildung

im Bezirk Minden 12.340 Die Gegenüberstellung zeigt, welch unterschiedliche Bedeutung dem gewerblichen Schulwesen in den verschiedenen Regierungsbezirken Westfalens zukam. Nur im Bezirk Arnsberg konnte ein größerer Teil der Gesellen und Lehrlinge mit dem Fortbildungssystem in Berührung kommen. Verharrt man nicht bei den absoluten Zahlen, sondern betrachtet das Verhältnis der Schulbesucher zu der Gesamtzahl der Gesellen und Lehrlinge, so relativiert sich diese Feststellung allerdings schlagartig: Im Jahre 1861 standen im Regierungsbezirk Arnsberg den insgesamt 3728 Fortbildungsschülern allein im Schuhmacherhandwerk 2239 Gesellen und Lehrlinge oder 2224 (allein männliche) Schneidergesellen und -lehrlinge gegenüber.341 Tabelle 20: Anteil der Schüler von gewerblichen Fortbildungsschulen an der Gesamtzahl der Gesellen und Lehrlinge in den westfälischen Regierungsbezirken im Jahre 1861342 Münster

Minden

Arnsberg

7.018,0

6.300,0

17.198,0

Lehrlinge

3.170,0

3.036,0

6.780,0

zusammen

10.188,0

9.336,0

23.978,0

Schulen

11,0

7,0

74,0

Schüler

661,0



3.728,0

Gesellen und Lehrlinge pro Schule

926,0

1.338,0

324,0

Lehrlinge pro Schule

288,0

434,0

92,0

Anzahl der Schüler – in v. H. der Lehrlinge und Gesellen – in v. H. der Lehrlinge

6,5 20,9

– –

15,5 55,0

Gesellen*

*

Es wurden nur diejenigen Handwerke in der Tabelle berücksichtigt, für die nach Gesellen und Lehrlingen getrennte Angaben in der Quelle vorliegen; weibliche Gesellen und Lehrlinge wurden ebenfalls nicht aufgenommen. Die tatsächliche Zahl der Hilfskräfte war demnach größer.

Berücksichtigt man, dass das Jahr 1861 einen guten Schulbesuch aufwies (das Maximum wurde im Regierungsbezirk Arnsberg im Jahre 1859 mit 4154 Schülern erreicht), so wird deutlich, dass das Fortbildungsschulwesen selbst auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit nur den geringeren Teil der potentiellen Adressaten 340 Quellen: Grütters (1933), S. 21–24; Ergebnisse der Volkszählung (1864), S. 143. 341 Schmoller (1890), S. 247–276. 342 Quellen: 1. Zahl der Gesellen und Lehrlinge, errechnet nach: Tabellen der Handwerker, der Fabriken sowie der Handels- und Transportgewerbe im Zoll-Verein. Nach den Aufnahmen im Jahre 1861 vom Central-Bureau des Zoll-Vereins zusammengestellt, Berlin 1864; 2. Zahl der Schulen: Grütters (1933), S. 21–24; 3. Anzahl der Schüler im Regierungsbezirk Münster: Ergebnisse der Volkszählung (1864), S. 143; desgl. im Regierungsbezirk Arnsberg: Grütters (1933), S. 24.

B. Die theoretische Fachbildung

93

erreichte. Die Wirkungen, die von diesem System ausgingen, konnten demnach nur partieller Natur sein. Die Folge war, dass noch gegen Ende der fünfziger Jahre, also zur Zeit der größten Ausbreitung des Fortbildungsschulwesens, manche Lehrlinge und Gesellen auch im Regierungsbezirk Arnsberg kaum ihren Namen schreiben konnten.343 Für die Regierungsbezirke Münster und Minden muss aus einer am tatsächlichen Bedarf orientierten Sicht gar von der weitgehenden Bedeutungslosigkeit der Handwerkerfortbildung gesprochen werden. 13. Zusammenfassung (1) Die schon vor den Reformen als dringend notwendig erachtete Intensivierung der theoretischen Handwerkerbildung suchte die preußische Verwaltung seit den zwanziger Jahren durch den Ausbau des Fortbildungsschulsystems zu erreichen. Nicht zuletzt den von der Administration des Staates umgesetzten, weiterwirkenden Anstößen der Reformzeit war auch in Westfalen die Verbreitung der Sonntagsschule zu verdanken. Der Verwaltung kam daher eine Schlüsselrolle für Erfolg oder Misserfolg der theoretischen Handwerkerbildung zu. Das hatte schon für die im ausgehenden 18. Jahrhundert gegründete Sonntagsschule in Münster gegolten; das galt in noch weit stärkerem Maße für die nach der Einführung der Gewerbefreiheit errichteten Fortbildungsschulen. Von der unterschiedlichen Intensität des Einsatzes der einzelnen Regierungen für die neue Schulform hing die Dichte des gewerblichen Schulwesens im Untersuchungszeitraum weitgehend ab. Das Beispiel des erfolgreichen Münsteraner Instituts lehrt auch, dass überall dort, wo gewerbliche Regsamkeit und ein zahlreiches, differenziertes Handwerk, staatliche Initiative und Finanzierung aus öffentlichen Mitteln sowie die fortdauernde Unterstützung der Schulen seitens der Meister zueinander fanden, der Erfolg der Einrichtungen gesichert war – und zwar unabhängig vom Grad der Industrialisierung des Ortes und der Region. (2) Dies feststellen heißt aber nicht, den Einfluss der industriellen Entwicklung auf die Gestaltung des Fortbildungsschulwesens im 19. Jahrhundert gering einzuschätzen. Die Frage, ob das Qualifikationsniveau in den handwerklichen Berufen bereits vor oder erst infolge der Industrialisierung entscheidend verbessert werden konnte, lässt sich, wie das Beispiel Westfalens lehrt, nicht eindeutig beantworten. Zwar konnte die Sonntagsschule, so zeigte ihr Erfolg in Münster oder in den Dörfern des kurkölnischen Sauerlandes, sehr wohl auch ohne den Anstoß durch lokale oder regionale Industrialisierungsvorgänge gedeihen. Viel wichtiger scheint aber die nachhaltige und dauerhafte Förderung seitens der staatlichen und kommunalen Behörden sowie der Meister gewesen zu sein. Nichtsdestoweniger ist natürlich nicht zu übersehen, dass das Fortbildungsschulwesen in Westfalen gerade im Regierungsbezirk Arnsberg, dem die sich früh und umfassend industrialisierende Grafschaft Mark zugehörte, seine eigentlichen Erfolge errang. Allein hier konnte 343 Zum Stand der gewerblichen Schulbildung in Preußen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Schmoller (1890), S. 247–276.

94

II. Die gewerbliche Ausbildung

ein einigermaßen flächendeckendes Netz von Sonntagsschulen aufgebaut werden, und nur in Südwestfalen wurde auf dem Höhepunkt der Berufsbildungskampagne in den fünfziger und sechziger Jahren mehr als die Hälfte der Lehrlinge von dem neuen Schulangebot erreicht. Unübersehbar ist andererseits aber auch, dass sich nicht allein die industrialisierten Regionen des Bezirks durch den forcierten Aufbau des neuen Schulwesens auszeichneten, sondern dass viele nach wie vor agrarisch geprägte Orte bei dieser Entwicklung keineswegs zurückstanden. Zweierlei erklärt das auffällige Hervortreten des Arnsberger Bezirks in der Entwicklung des Gewerbeschulwesens: a) Als Movens des dortigen Erfolges der Weiterbildungsidee haben die Erfordernisse der seit 1850 in einem stürmischen Wachstumsprozess befindlichen Industriewirtschaft zu gelten. b) Erkannt und aufgenommen wurden die von diesem „take off“ ausgehenden Anstöße aber von einer zur Mitwirkung und Verstärkung des dynamischen Wachstumsimpulses bereiten Regierung, die den ganz neue Kräfte freisetzenden Aufbruch der Wirtschaft zum Aufbau eines gewerblichen Schulwesens zu nutzen verstand. Hier zeigt sich eine frappante Parallele zur gleichzeitigen Entwicklung des Krankenversicherungssystems im westfälischen Handwerk: Unter dem Eindruck der sozialen Erfordernisse der Industriewirtschaft förderte die Arnsberger im auffallenden Gegensatz zur Münsteraner Regierung auch das Kassenwesen der in Industrie und Handwerk abhängig Beschäftigten so erfolgreich, dass es bald selbst in einigen industrieferneren Regionen eine gewisse Bedeutung erlangte. Trotz der nachhaltigen Bemühungen um eine bessere berufliche Bildung der Handwerker muss aber doch festgestellt werden, dass die Masse der Gewerbetreibenden bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts von vertieftem fachtheoretischen Wissen völlig ausgeschlossen blieb.344 Der von Knut Borchardt vorgetragenen Ansicht, die entscheidenden Veränderungen des Qualifikationsniveaus in Deutschland hätten schon vor der Zeit beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums gelegen, kann kaum zugestimmt werden, jedenfalls sofern die berufliche Bildung in Westfalen betrachtet wird.345 Von den 169 Fortbildungsschulen, die im Regierungsbezirk Arnsberg zwischen 1830 und 1873 eröffnet wurden, lag die Gründung von 23 dieser Einrichtungen zwischen 1830 und 1849, von nicht weniger als 146 hingegen zwischen 1850 und 1873, also erst nach dem Beginn des industriellen Aufstiegs um die Mitte des Jahrhunderts. Die unzureichende Verbreitung des Fortbildungsschulwesens, die kein typisch westfälisches Defizit darstellte, blieb nicht ohne Folgen: Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts hörte man, wenn es um die Erklärung der Ursachen der großen Handwerkskrise ging, nicht nur über die Folgen der Industrialisierung klagen; überein344 Zum Stand der gewerblichen Schulbildung in Preußen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Schmoller (1890), S. 247–276. 345 Das nämlich wurde auch für das Königreich Hannover festgestellt. Am Beispiel der Kleinstadt Stade konnte gezeigt werden, daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts allenfalls die Hälfte des Adressatenkreises die gewerbliche Fortbildungsschule besuchte; s. Axmacher (1988), S. 14–57 (56). Günstiger waren die Verhältnisse in Süddeutschland, wo man bereits sehr früh und mit Nachdruck um die Errichtung von Fortbildungsschulen bemüht war; vgl. Groß (1931), S. 34.

B. Die theoretische Fachbildung

95

stimmend wurden der mangelhaften Schulbildung, der Schwerfälligkeit, fehlenden Anpassungsfähigkeit und Übersicht, aber auch der Ungeschicklichkeit im Führen von Verhandlungen, den Mängeln im Fachwissen und der schludrigen Arbeit der Meister ein gerütteltes Maß Verantwortung für die von den Handwerkern selbst als miserabel empfundene Situation im Kleingewerbe zugewiesen.346 Man vermag sich leicht auszumalen, wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Werkstätten und Meisterhäusern ausgesehen haben muss. Schmoller stellte 1870 fest, dass den Handwerkern noch immer das Verständnis für die neue technische Bildung fehle, die sie ihren Lehrlingen doch eigentlich vermitteln sollten.347 Er schloss sich damit den Feststellungen Hermann Schulze-Delitzschs an, der wiederholt betont hatte, für den „wirtschaftlichen Erwerb neuerer Art“ fehlten den Handwerkern die „moralischen Qualitäten“,348 womit die von jedem Selbständigen nunmehr selbstverständlich geforderten unternehmerischen Fähigkeiten gemeint waren. Das vernichtende Urteil wurde erneut bestätigt durch das schmähliche Fiasko, welches das deutsche Gewerbe auf der Weltausstellung in Philadelphia im Jahre 1876 erlebte.349 Die preußische Gewerbepolitik war, soweit sie versucht hatte, die sozio-ökonomische Lage der Handwerker durch Verbesserung der Ausbildung zu heben, im Zeitalter der Gewerbefreiheit weitgehend gescheitert. Die vergeblichen Bemühungen um den Aufbau eines effizienten und flächendeckenden Schulsystems teilten damit bis ins Detail das Schicksal der ebenso glücklosen Versuche, nach Einführung der Gewerbefreiheit neue Handwerksorganisationen zu schaffen. Die Ursache für diesen Fehlschlag ist schnell gefunden: Der Staat hatte zunächst vor allem den „intensiven“, nicht den „extensiven“ Fortschritt gefördert, wie Albert Kotelmann, ein zeitgenössischer Beobachter, schon 1851 feststellte.350 Er meinte damit, dass die wenigen wirklich effizienten Bildungseinrichtungen, die Provinzialgewerbeschulen nämlich, nur für eine äußerst schmale Elite des Gewerbestandes Bedeutung gewonnen hätten – eine Auffassung, die Gustav Schmoller später unterstrich.351 Die hohe Qualifikation der dünnen Schicht von Technikern, nicht aber die besondere Leistungsfähigkeit des Handwerks insgesamt war denn auch einer der entscheidenden Gründe für die relativ starke Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert.352 Natürlich kann dem vergleichsweise gut ausgebauten Fortbildungsschulwesen im Regierungsbezirk Arnsberg auch eine gewisse Bedeutung für die Industrialisierung nicht abgesprochen werden: Der Nachwuchs an Facharbeitern, der durch diese Schulen ging, wirkte maßgeblich am Aufbau der Industrie des Ruhrgebiets mit.353 Hier vermochten die Sonntagsschulen richtungsweisend zu wirken; noch die heutige Facharbeiter- und Meisterfortbildung Wernet (1963), S. 238. Schmoller (1870), S. 667. Ebd. S. 200. Waentig (1908), S. 40. Kotelmann (1851), S. 193–274, besonders S. 263–264. Schmoller (1870), S. 322. Kaelble (1971), S. 372–415, besonders S. 379; vgl. auch Landes (1965), S. 553 ff., insbes. S. 573–575. 353 Zur Bedeutung der Fortbildungsschulen für die Industrialisierung vgl. Ritter (1961), S. 31. 346 347 348 349 350 351 352

96

II. Die gewerbliche Ausbildung

kann in ihren Wurzeln bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgt werden.354 Die positiven Ansätze des gewerblichen Bildungswesens, die durch die Qualität des allgemeinbildenden Schulwesens in Preußen, das trotz seiner erwähnten Schwächen dem aller anderen Länder mit Ausnahme Österreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlegen war,355 unterstützt wurden, können aber nicht vergessen machen, dass die breite Masse der Kleingewerbetreibenden, das eigentliche Handwerk, durch den Bildungsfortschritt zunächst nur partiell erreicht wurde.356 Das berufsqualifizierende technische Wissen der Handwerker insgesamt blieb gering. Das Bildungswesen hatte seine herkömmliche Rolle noch nicht ausgespielt – es war noch immer einer der wichtigsten Faktoren zur Befestigung der tradierten Sozialstruktur.357 Zwar wurde die Bedeutung des Verhältnisses von Bildungswesen und Volkswirtschaft von aufmerksamen Zeitgenossen durchaus erkannt.358 Eine breite und öffentliche Reflexion über diese Frage setzte aber erst mit der Krise der siebziger Jahre ein.359 Dadurch angeregt, blühte das Fachschulwesen nach 1873 auf, als eine große Zahl von allgemeinen Handwerks- und Spezialschulen für das Baugewerbe entstand.360 C. DAS PRÜFUNGSWESEN 1. Das Prüfungswesen der Bauhandwerker a. Bauhandwerksprüfungen nach Einführung der Gewerbefreiheit Die schadensgeneigte Tätigkeit der Bauhandwerker blieb nach Einführung der Gewerbefreiheit zunächst von jeder Leistungskontrolle befreit. Doch war das völlige Fehlen einer geordneten Ausbildung sowie die Abwesenheit jeden Leistungsanreizes und jedweder Qualitätskontrolle den Schöpfungen der Meister, die damals in der Regel noch ohne die Unterstützung von Architekten arbeiteten, bald von weitem anzusehen. Die Regierungsbeamten wurden bei ihren Reisen über Land gera354 Ebd. S. 35. 355 Ebd. S. 16. 356 Vgl. Kotelmann (1851), S. 269. Dabei war die Situation in Westfalen im Vergleich zum übrigen Preußen noch verhältnismäßig günstig. Schmoller stellte 1870 fest, „dass niedere gewerbliche Schulwesen“ liege mit wenigen Ausnahmen „ganz danieder“ und sei „nur an denjenigen Orten entwickelt, wo Privat-, Handwerkerbildungs- und Gewerbevereine“ sich dieser Aufgabe angenommen hätten. Nach Schmoller fing man in Preußen erst um 1870 an, in den größeren Städten über 50.000 Einwohner Gewerbeschulen zu errichten, vgl. Schmoller (1870), S. 322 u. 325. 357 Ritter (1961), S. 31. 358 Z. B. Kotelmann, Schmoller, Schulze-Delitzsch; Schmoller hielt den gewerblichen Unterricht für einen der wichtigsten Faktoren, um das kleine Handwerk zu erhalten, es für den überregionalen Absatz produktions- und konkurrenzfähig zu machen und ihm Bildung und Unternehmungsgeist zu vermitteln; vgl. Schmoller (1870), S. 325. Kotelmann sah in der mangelnden fachlichen Qualifikation des gewerblichen Nachwuchses gar die Hauptursache des „Pauperismus“ unter den Handwerkern; vgl. Kotelmann (1851), S. 269. 359 Lundgreen (1971), S. 593. 360 Ritter (1961), S. 31.

C. Das Prüfungswesen

97

dezu zwangsläufig auf die unhaltbaren Verhältnisse im Bereich der Bauplanung und -ausführung aufmerksam. Der zuständige Referent bei der Behörde in Arnsberg bemerkte schon 1817, dass die Leistungen der Maurer und Zimmerleute in seinem Bezirk sehr zu wünschen übrig ließen.361 Er wusste von Maurermeistern zu berichten, die weder Schreiben und Rechnen, noch viel weniger aber Zeichnen konnten und die nicht imstande waren, einen neuen Bau auszuführen. Statt sich in ihrer Profession gründlich auszubilden, übten sie, westfälischer Handwerkstradition entsprechend, nebenher noch andere Berufe aus, wie z. B. die Maurermeister das Weben oder die Zimmerleute das Schreiner-, Böttcher- und Glaserhandwerk – und mit der Landwirtschaft befassten sie sich außerdem. Natürlich war auch schon den Zeitgenossen klar, dass es solchen Meistern schlechterdings unmöglich sein musste, einen tüchtigen Maurer oder Zimmermann auszubilden. Die Beamten analysierten zutreffend, dass die Maurer und Zimmerleute, die ihr Gewerbe nicht ordnungsgemäß erlernt hatten und wegen der verschiedenen Handwerke, die sie trieben, keines wirklich beherrschten, auch für die vergleichsweise hohen Baukosten in Westfalen verantwortlich waren. aa. Die Restituierung der Prüfungsvorschriften für Bauhandwerker Die Behörden hielten daher die Wiedereinführung des Prüfungszwanges für Bauhandwerker schon wenige Jahre nach der Beseitigung der Zunftordnung für dringend erforderlich und ersuchten das Ministerium, die bis dahin nur in Ostelbien geltende Instruktion v. 14.11.1812 über die Prüfung der Bauhandwerker auch in der Provinz Westfalen in Kraft zu setzen.362 Die zuständigen Beamten in Berlin entsprachen dem Gesuch zunächst aber nicht; sie vertrösteten die Westfalen vielmehr mit dem Hinweis auf die damals bereits geplante umfassende Neuregelung der „gewerblichen Verhältnisse“.363 Angeregt durch die 1819 durchgeführte Befragung der Lokalverwaltungen zu den Auswirkungen der Gewerbefreiheit, drangen wenig später aber auch die unteren Ebenen der Administration in der Provinz auf die Einführung der Prüfungspflicht; dadurch sollte, wie es der Landrat des Krs. Tecklenburg ausdrückte, wenigstens künftig verhindert werden, dass „unwissende Subjekte als Meister ein Patent erhielten“.364 Einen weiteren Vorstoß in diese Richtung unternahm die Regierung Arnsberg; sie reklamierte für sich das Recht auf ein Mindestmaß an Kontrolle der Lokalbehörden, die doch die Erlaubnis zur Ausübung der Baugewerbe durch Ausstellung der Gewerbescheine erteilten und damit die Verantwortung übernähmen, die Bevölkerung vor größerem Schaden durch Baumängel zu bewahren. 361 Stellungnahme der Reg. Arnsberg v. 28.1.1817, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19, Bd. 1. 362 Schreiben der Reg. Arnsberg an das Finanzministerium v. 8.2.1817, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; dazu Stellungnahme des Ministers v. Bülow v. 20.10.1819, in: GStA/PK, geh. Registratur des Staatskanzlers, Rep. 74 K VIII Nr. 3. Ähnliche Gesuche erreichten das Ministerium auch aus der Rheinprovinz, z. B. von der Reg. Aachen. 363 Antwortschreiben des Finanzministeriums v. 21.2.1817, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 364 Zitiert nach Gladen (1970), S. 44.

98

II. Die gewerbliche Ausbildung

So wirkte die Prüfungspflicht für Bauhandwerker in Ostelbien als kräftiges Movens für die entsprechenden Bestrebungen in Westfalen. Schon das preußische Edikt v. 2.11.1810, welches im Osten der Monarchie die Gewerbefreiheit eingeführt hatte, verordnete zugleich, dass den Bauhandwerkern der Gewerbeschein nur dann erteilt werden dürfe, wenn sie den vorgeschriebenen Leistungsnachweis erbracht hätten. Der angehende Meister war zwar nicht mehr gezwungen, die Zunft zu gewinnen; er benötigte aber nach wie vor das Attest des zuständigen Baudirektors, das in Preußen schon zur Zeit des Alten Handwerks verbindliche Voraussetzung für den selbständigen Betrieb eines Bauhandwerkes gewesen war. In Ausführung des Edikts aus dem Jahre 1810 bestimmte der Gesetzgeber dann im GewerbePolizei-Gesetz v. 7.9.1811 folgerichtig, dass für die Bauhandwerker eigene Prüfungskommissionen zu bilden seien. Dieses neugeschaffene, seinen Aufgaben gerecht werdende Prüfungswesen in den östlichen Landesteilen Preußens hatten die westfälischen Verwaltungsbeamten vor Augen, als sie auf die Einführung des Meisterexamens für Bauhandwerker auch in Westfalen drangen. Ihre wiederholten Initiativen zur Einführung von Bauhandwerksprüfungen in der neugewonnenen Provinz zeitigten aber erst Erfolg, als im April des Jahres 1819 in der Hosengasse in Köln durch die Unvorsichtigkeit eines Maurers zwei Häuser einstürzten und Tote zu beklagen waren. Der Vorfall verschaffte der in dieser Frage besonders engagierten Regierung in Münster ein kaum widerlegliches Argument für die erstrebte Leistungskontrolle.365 Ihr Antrag auf Errichtung einer Prüfungskommission für Bauhandwerker in der Provinzialhauptstadt wurde vom Gewerbeministerium nunmehr unterstützt.366 Der Minister von Bülow verwandte sich persönlich beim König für das Anliegen der Westprovinzen. Das Staatsministerium beschloss daraufhin 1820, die Prüfungspflicht für Bauhandwerker auch in den neu erworbenen Provinzen nach dem Vorbild des Gesetzes vom 7.9.1811 durch Kgl. Polizeiverordnung einzuführen.367 Da die Emanation der Vorschriften aber auf sich warten ließ, mahnte die Regierung in Münster erneut, dass „dies Bedürfnis hier wahrlich sehr dringend ist“.368 1821 ergingen dann endlich für sämtliche Provinzen Prüfungsordnungen für die Maurer- und Zimmergesellen sowie die sog. Mühlenwerkverfertiger, die Brunnenbauer und die See- und Flussschiffbauer.369 Die „Instruktion, die Prüfung der Bauhandwerker betreffend“ wurde am 28. Juni 1821 auch in Westfalen in Kraft gesetzt.370 Die Ausführungsvorschriften371 bezogen sich 365 Schreiben der Reg. Münster an das Handels- und Gewerbeministerium v. 17.4.1819, in: GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1 Bd. 2, fol. 30. 366 Schreiben des Gewerbeministeriums an die Reg. Münster v. 22.10.1819, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe Rep. 120, B IV 1 Nr. 1 Bd. 2, fol. 33. 367 Protokoll der Sitzung des Kgl. Staatsministeriums v. 17.5.1820, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1 Bd. 2, fol. 86. 368 Schreiben der Reg. Münster v. 20.10.1820, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1 Bd. 2, fol. 91. 369 Die Instruktionen finden sich in: GStA/PK, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1 Bd. 2, fol 91, fol. 110 ff. Texte finden sich auch in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 3 Bd. 1 und GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 10 Bd. 1. 370 Vgl. Gräff/Rönne/Simon (1846), S. 362 ff. 371 Abgedruckt u. a. im Amtsbl. d. Reg. Münster v. 5.1.1822, S. 1 ff.

C. Das Prüfungswesen

99

auf alle in dem Edikt von 1811 aufgeführten Bau- und Baunebengewerbe. Damit wurden auch die §§ 94–101 des Gesetzes v. 7. Sept. 1811, die der Instruktion zugrunde lagen, in Westfalen geltendes Recht. Diese Bestimmungen erläuterten wiederum das Edikt über die Einführung der allgemeinen Gewerbesteuer v. 2.11.1810,372 mit dem die Gewerbefreiheit im ostelbischen Preußen eingeführt worden war. Die Vorschriften des Edikts von 1810 beseitigten zwar im Grundsatz den Befähigungsnachweis; sie verlangten aber von den Angehörigen verschiedener Sparten des Gewerbes, vor allem solchen, die bei Ausübung ihres Berufes Leben und Gesundheit anderer gefährden konnten, vor Eröffnung eines eigenen Betriebes die Ablegung einer Prüfung (§ 21). Davon waren insgesamt 34 Gewerbe betroffen,373 von denen freilich nur sechs zum eigentlichen Handwerk zählten. Es waren dies die Berufssparten der Maurer, Mühlenbauer, Zimmerleute, Seeschiffszimmerleute, Schornsteinfeger und Schreiner, die klassischen Bau- und Baunebengewerbe also. Nach dem preußischen Gewerbepolizeiedikt v. 7.9.1811374 blieb allein für die Bauhandwerke die traditionelle Abgrenzung der Berufe bestehen. Hatte der Bauhandwerker seine Befähigung für ein bestimmtes Fach nachgewiesen, erlangte er damit aber noch keineswegs zugleich die Berechtigung, verwandte Handwerke zu betreiben. Er musste vielmehr, wenn er mehrere Bauhandwerke gleichzeitig ausüben und für sie einen Gewerbeschein erhalten wollte, für jedes einzelne die Befähigung nachweisen. Die Abgrenzung der verschiedenen Berufssparten voneinander geschah bei den Bauhandwerkern ganz im Gegensatz zu den wenigen anderen prüfungspflichtigen Gewerken noch immer nach dem Vorbild der alten Zunftordnungen, so dass sogar die Arbeitsgebiete sehr eng verwandter Bauhandwerke getrennt blieben (§§ 74–76 u. 101). So durfte beispielsweise allein der Schiffszimmermann Kähne mit einem oder mehreren Kielen bauen, während solche mit glatten Böden sowohl von Schiffs- wie von Hauszimmerleuten angefertigt werden konnten. Wer gewerbsmäßig Bauarbeiten an Wassermühlen ausführte, musste einen Gewerbeschein als Mühlenbaumeister lösen, nachdem er seine Befähigung für eben dieses spezielle Handwerk nachgewiesen hatte. Die schwierige und seit je umstrittene Abgrenzung der Arbeitsbefugnisse zwischen Tischlern und Hauszimmerleuten wurde dahin getroffen, dass die Zimmerleute alle beim inneren Ausbau der Gebäude vorkommenden Holzarbeiten verfertigen durften.375 Dieses Zugeständnis an die Zimmerleute war vermutlich schon eine Folge der beginnenden Zurückdrängung des Zimmerhandwerks durch das Maurergewerbe, welches mit der Verbreitung des Steinbaus außerordentlich an Bedeutung gewann. Da es angesichts des geringen Ausbildungs- und Kenntnisstandes eines großen Teils der Bauhandwerker schlechterdings unmöglich erschien, von allen selbständig Tätigen dieses Faches die erfolgreiche Ab372 Vgl. Gesetzes-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten (1810), S. 79. 373 Später kamen noch weitere Gewerbe hinzu; so waren seit 1846 auch die Viehkastrierer prüfungspflichtig; s. Amtsbl. d. Reg. Arnsberg v. 5.11.1859, S. 415. 374 Vgl. Preußische Gesetzes-Sammlung 1811, S. 263; v. Rohrscheidt (1898), S. 412 ff. 375 Diese Regelung wurde naturgemäß von den Tischlern nicht akzeptiert. Zahlreiche Tischler betätigten sich weiterhin im Arbeitsgebiet der Zimmerleute. Wurden sie dabei gestellt, nahmen die Polizeidiener ihnen das Handwerkszeug ab – ganz so, wie es auch schon zur Zunftzeit gewesen war. S. Stadtarchiv Paderborn, Nr. 373 f.

100

II. Die gewerbliche Ausbildung

legung der Prüfung zu verlangen, schuf der Gesetzgeber schließlich den Status des sog. Flickarbeiters. Die Flickarbeiter konnten Gewerbescheine erhalten, ohne dass sie vorher eine Prüfung abgelegt hatten. Dieses Privileg erkauften sie mit der Beschränkung auf bloße Reparaturarbeiten. Der Gesetzgeber bestimmte, dass Maurer- Flickarbeiter auf solche eher marginalen Tätigkeiten wie Ausbesserungen am Putz oder das Wiedereinziehen ausgefallener Steine und Dachziegel beschränkt bleiben sollten (§ 101).376 An die technische Durchführung der Prüfungen hatte der Gesetzgeber zunächst nur en passent gedacht. Es sollten auf Veranlassung der Provinzialregierungen in den „gewerbereichsten Städten“ Kommissionen gebildet werden. Den Regierungen oblag es auch, die Befähigungszeugnisse auszustellen (§§ 94, 98–100). Die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften der Jahre 1810 und 1811 enthielten keine näheren Einzelheiten über die Prüfung der Bauhandwerker; insbesondere waren die Anforderungen, die in den einzelnen Berufssparten gestellt werden sollten, nicht näher bestimmt. Diese Lücke füllte die bereits genannte „Instruktion, die Prüfung der Bauhandwerker betreffend“ vom 28. Juni 1821, und zwar für alle in dem Edikt des Jahres 1811 aufgeführten Bau- und Baunebengewerbe. Sie fasste den Inhalt der Kabinettsordre v. 25.4.1821, die Bestimmungen über die Durchführung der Meisterprüfungen der Maurer und Zimmergesellen, der Brunnen- und Röhrmacher sowie der Mühlenzeugmacher enthielt, zusammen.377 Es handelte sich um modifizierte Regelungen der Instruktionen v. 14.11.1812 (Prüfung der Maurer und Zimmerleute) und vom 24.11.1814 (Prüfung der Mühlenwerkverfertiger), die bis dahin nur in Ostelbien geltendes Recht gewesen waren. Die Examinierung der Maurer und Zimmerer sollte unter Leitung des örtlichen „Polizeidirigenten“ und unter Hinzuziehung von einem oder zwei Baubeamten sowie drei Meistern des betreffenden Handwerks stattfinden. Als Vorbedingung für die Zulassung zu dem Verfahren wurde vorgeschrieben, dass der Geselle lesen, schreiben, rechnen und zeichnen konnte.378 Er musste eine Bauzeichnung verstehen und erklären können und bei der Errichtung „merkwürdiger Gebäude“ Erfahrungen gesammelt haben. Die Prüfung war in konventioneller Weise auf das rein handwerkliche Können ausgerichtet und knüpfte an die überlieferten Methoden und Bauweisen vergangener Jahrhunderte an.379 Allerdings musste der angehende Meister auch Fragen zur Wirtschaftlichkeit des Handwerksbetriebes beantworten. Dieser Teil der Prüfung diente zwar nur mittelbar dem Schutz des Publikums, war aber umso wichtiger, als die Einführung der Gewerbefreiheit den tradierten Kalkulationsschemata der Meister endgültig den 376 Neben den eigentlichen Bauhandwerken zählte das Gesetz zu den prüfungspflichtigen Berufssparten auch die sog. Röhr- und Brunnenmeister, weil diese, wie zur Begründung ausgeführt wurde, zu den Gewerben gehörten, die Leben und Gesundheit der Mitbürger gefährden könnten. 377 Vgl. Prüfungsordnungen für die Prüfung der Bauhandwerker, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 6.10.1821, S. 389–411; darin: Ordnung für die Prüfung der Maurergesellen, a. a. O., S. 390– 394; desgl. für die Zimmergesellen, S. 394–398; desgl. für die Brunnen- und Röhrmacher, S. 339–402; desgl. für die Mühlenwerk-Verfertiger, S. 403–411. 378 Die Anforderungen an die Allgemeinbildung des Kandidaten wurden nochmals unterstrichen durch die Ministerial-Verordnungen v. 15.11.1833, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 28.12.1833, S. 499. 379 Vgl. dazu Heiser (1939), S. 12, 23.

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Boden entzogen hatte. Denn die Gesellenlöhne waren, um nur ein Beispiel zu nennen, für die Bauhandwerker natürlich nicht mehr, wie vor der Einführung der Gewerbefreiheit, in den Zunftrollen bzw. Polizeiordnungen festgelegt; sie beruhten nunmehr auf freier Vereinbarung zwischen dem Meister und den Hilfskräften und schwankten deshalb stark. Die bereits erwähnten Flickarbeiter mussten anstelle einer Prüfung lediglich nachweisen, dass sie wenigstens zwei Jahre lang bei einem oder mehreren gesetzlich geprüften Meistern zu deren Zufriedenheit tätig gewesen waren. Mit der Einführung dieser Bestimmungen war auch in Westfalen die gesetzliche Grundlage für das Prüfungswesen im Bauhandwerk geschaffen und zugleich auf diesem Gebiet eine Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse in Preußen erreicht worden. Eine von der Norm abweichende Rechtslage fand sich im Bereich der Provinz Westfalen nur mehr im Krs. Wittgenstein-Berleburg. Dort bestanden die Zünfte und, was wichtiger war, der Zunftzwang selbst noch immer fort. Mithin musste sich in der ehemaligen Grafschaft jeder Bauhandwerker, wollte er Meister werden, nach tradiertem Zunftrecht vor der Korporation prüfen lassen. Damit erhob sich die Frage, ob sich die Meister-Aspiranten des Wittgensteiner Landes gleich zwei Prüfungen – einer des Staates und einer der Zunft – zu unterziehen hätten. In der Tat verlangte das Handels- und Gewerbeministeriums dies unter Bezugnahme auf die Bestimmungen der §§ 94–100 des Gewerbe-Polizeigesetzes von 1811. Die polizeilichen Prüfungen seien dort, wo Zunftzwang herrsche, nicht statt der Meisterprüfung, sondern neben dieser als objektive Leistungskontrolle des Staates eingeführt worden. In der Praxis aber wurden diese Bestimmungen großzügig umgangen. bb. Vergebliche Versuche zum Aufbau einer Prüfungsorganisation Nachdem die Rechtslage geklärt war, begann die Verwaltung, auch in den westlichen Provinzen eine Prüfungsorganisation aufzubauen. Die Angelegenheit erschien dringlich, denn in der Öffentlichkeit wurden die Forderungen immer lauter, die den bestehenden, regellosen Zustand schleunigst zu beenden verlangten. Im Sommer 1821 war es in Neuenrade in der Grafschaft Mark durch die Fahrlässigkeit eines Maurers zum Einsturz eines Gewölbes gekommen, wobei wiederum zwei Menschen den Tod fanden.380 Unter dem Eindruck dieses Geschehens wurde alsbald für den Regierungsbezirk Münster in der Stadt Münster eine Prüfungskommission gebildet.381 In Arnsberg und Dortmund sollten 1822 ebenfalls solche Gremien errichtet werden. Für den Regierungsbezirk Minden standen seit 1824 Kommissionen in Minden und Bielefeld zur Verfügung.382 Die Realisierung der gesetzlichen Bestimmungen stieß nichtsdestoweniger aber auf unerwartete Schwierigkeiten. Denn der Bildungsstand der Bauhandwerker in Westfalen entsprach in keiner Weise den Vorstellungen, von denen sich der Gesetzgeber bei der Abfassung der Prüfungsbestim380 Schreiben des Königlichen Pr. Oberlandesgerichts Hamm an die Reg. Arnsberg v. 14.9.1821, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19, Bd. 1. 381 S. Amtsblatt der Reg. Münster v. 5.1.1822, S. 1. 382 Amtsbl. Reg. Minden v. 3.11.1824, S. 421–447.

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mungen hatte leiten lassen.383 Es machte bereits Probleme, am Sitz der Kommissionen hinreichend qualifizierte und zur Übernahme des Ehrenamtes des Prüfungsmeisters bereite Handwerker zu gewinnen.384 Schwerer wog, dass die Gesellen keineswegs daran interessiert waren, die geforderten Leistungsnachweise zu erwerben, da der Niederlassung und selbständigen Arbeit der ungeprüften Handwerker trotz der gesetzlichen Bestimmungen zunächst noch von keiner Seite Hindernisse in den Weg gelegt wurden. So meldete sich niemand zur Prüfung. Die zuständigen Behörden bezweifelten unter dem niederschmetternden Eindruck ihrer ganz und gar fruchtlosen Bemühungen, dass die Prüfung in Westfalen jemals populär werde, da der nötige Leistungsanreiz fehle. Sie wollten daher zu einem rabiaten Mittel greifen: Die vorhandene bzw. fehlende Qualifikation jedes einzelnen Bauhandwerkers sollte öffentlich bekannt gemacht werden,385 um auf diese Weise künstlichen Wettbewerb unter den Betroffenen zu erzeugen und die Maurer386 und Zimmerleute zu veranlassen, die Prüfung abzulegen. Zu dieser Radikalkur kam es zunächst aber nicht. Man fand sich vielmehr erst einmal mit dem bestehenden Zustand ab. Allerdings musste seitens der Behörden ein Weg eröffnet werden, der es gestattete, die ganz und gar gesetzwidrigen Verhältnisse nicht allzu offenkundig sanktionieren zu müssen und den Staat so in eine Glaubwürdigkeitskrise zu stürzen.387 Das Schlupfloch fand die Verwaltung in der Ausdehnung des Flickarbeiterstatus. Die Regierung machte sich die Bestimmung des § 101 des Gesetzes v. 7.9.1811, der die selbständige Flickarbeit für ungeprüfte Maurer zuließ, zu Nutze, indem sie 1823 auch den Zimmergesellen die Befugnis zur selbständigen Ausführung bestimmter, minder qualifizierter Arbeiten einräumte.388 Diese Regelung kam natürlich dem öffentlichen Eingeständnis gleich, dass der Bildungsstand der westfälischen Professionisten in keiner Weise den Erfordernissen, die der Handwerksberuf stellte, entsprach und sich die allzu optimistischen Vorstellungen des Gesetzgebers nicht realisieren ließen. Ähnlich enttäuschende Erfahrungen wie in den eigentlichen Bauhandwerken musste die westfälische Administration auch in den anderen prüfungspflichtigen Gewerben machen. So sah sie sich 1823 gezwungen, die Beachtung des Prüfungs-

383 S. Stellungnahme der Reg. Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 384 Kaum ein Meister war zur Abnahme von Prüfungen befähigt; so retrospektiv Promemoria des Baurates Buchholz v. 15.6.1852, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adh. 1, Bd. 2, fol. 90 RS. Die Kommissionsmitglieder mussten wegen der hohen Reisekosten und des Zeitaufwandes in der Nähe der Prüfungsorte ansässig sein. 385 Schreiben des Landbaumeisters Pistor (Arnsberg) und des Beigeordneten Brügmann (Dortmund) an die Reg. Arnsberg v. 9.2.1822, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 386 Maurer gab es damals noch vergleichsweise wenige; diese waren wegen des dominierenden Fachwerkbaues im Erstellen massiver Ziegelbauten ungeübt; wie Anm. 383, fol. 90 RS; s. Deter (2005). 387 Denjenigen Meistern, denen in Wittgenstein bis 1829 von der Zunft das Meisterrecht verliehen worden war, ohne dass sie zuvor den Bestimmungen entsprechend eine staatliche Prüfung abgelegt hatten, gestattete die Regierung sans phrase die Fortführung ihres Gewerbes; vgl. Schreiben des Landrats des Krs. Wittgenstein v. 26.3.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 5 I. 388 S. Amtsbl. der Reg. Münster v. 8.11.1823, S. 312, 313.

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zwanges für Schornsteinfeger erneut einzuschärfen.389 Und 1824 konstatierte das Handels- und Gewerbeministerium, dass sich „nur wenige Individuen der Prüfung als Mühlenwerks-Verfertiger unterwerfen, weil die meisten den Bestimmungen der desfallsigen Instruction vom 28.6.1821 nicht genügen können …“. Die notwendige Folge war, dass ein empfindlicher Mangel an Fachkräften auf diesem Gebiet fühlbar wurde. Das Ministerium sah sich schließlich gezwungen, selbst ungeprüften Müllergesellen, die lediglich drei Jahre bei einem geprüften Mühlenwerkmeister gearbeitet hatten, die Erlaubnis zur selbständigen Übernahme von Flickarbeiten in diesem anspruchsvollen Spezialberuf zu erteilen.390 Für den engeren Bereich Westfalens stellte sich die Einführung der Prüfungspflicht für Mühlenwerksverfertiger und für Brunnen- und Röhrenmacher allerdings als weniger notwendig heraus. Zur Errichtung oder Reparatur von Mühlen wurden nämlich gewöhnlich landesfremde Arbeiter herangezogen,391 während das Brunnenmacherhandwerk in Westfalen völlig unbekannt war; es existierte nur in den östlichen Provinzen als eigenständiges Gewerbe. In den westlichen Landesteilen wurden Brunnen durch Hilfsarbeiter und Maurer angelegt.392 Demnach fehlte es in Westfalen schon an den geringsten Voraussetzungen für die Durchführung von Prüfungen in diesen Handwerkssparten. Die Prüfungsbestimmungen mussten der Verwaltung und den Betroffenen deshalb gleichermaßen realitätsfern erscheinen. Alle waren sich in diesem Urteil einig und straften die Vorschriften deshalb – durchaus selbstbewusst – mit Missachtung. Nicht einmal die Normen über die Zulässigkeit der selbständig ausgeführten Flickarbeit, die das völlige Leerlaufen der Prüfungsbestimmungen schamhaft bemänteln sollten, erfüllten ihren Zweck. Die Flickarbeiter überschritten überall ihre Arbeitsbefugnisse,393 und die Bauherrn bedienten sich nicht, wie vorgeschrieben, eines geprüften Meisters, sondern nahmen Gesellen und Handlanger im Tagelohn an und leiteten den Bau der Form halber selbst.394 Die wiederholten Strafandrohungen gegenüber den minder qualifizierten, doch selbständig arbeitenden Maurern und Zimmerleuten fruchteten angesichts der Massenhaftigkeit der Kontraventionen natürlich nichts. Auch die schon zur Zunftzeit so beliebte und nahezu als Gewohnheitsrecht betrachte Übung mancher Meister, allein arbeitenden Gesellen eine Legitimation auszustellen und von deren Bauten keine über die Eintreibung des sog. „Meistergroschens“ hinausgehende Notiz zu nehmen, fand in den zwanziger Jahren

389 S. Amtsbl. der Reg. Arnsberg v. 12.4.1823, S. 150; später desgl. für Dachdecker, die sich mit der Anbringung von Blitzableitern befassten, s. Verordnung v. 24.12.1837, in: Amtsblatt der Reg. Minden, Jahrg. 1838, S. 18. 390 S. Schreiben des Handels- und Gewerbeministerium an die Regierung Arnsberg v. 20.3.1824, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 391 Erst in den dreißiger und vierziger Jahren wurden – dann allerdings regelmäßig – Handwerker dieses Berufes geprüft; s. jährliche Mitteilungen in den Amtsblättern der Reg. Arnsberg. 392 Schreiben des Bauinspektors Buchholz an die Regierung Arnsberg v. 14.8.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 393 Vor allem bedienten sie sich auch der Mithilfe von Gesellen, obgleich sie lediglich Tagelöhner beschäftigen durften; vgl. Amtsblatt der Reg. Münster v. 14.4.1832, S. 180. 394 S. Amtsbl. der Reg. Münster v. 5.7.1823, S. 193, 194.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

kaum eine Einschränkung.395 Die unaufhörliche Klage der Verwaltung über Bauhandwerker, die ohne Befugnis selbständig arbeiteten, sollte fortan nicht mehr verstummen.396 Das Schicksal der frühen Prüfungsbestimmungen spiegelt deutlich die merkwürdige Diskrepanz zwischen tradiertem, noch immer lebendigem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Handwerker einerseits und ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit andererseits wider. Dieses eklatante Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit begleitete das Kleingewerbe noch während des ganzen 19. Jahrhunderts. Einerseits wurden die Meister nicht müde, mit Emphase die versunkene Zunftherrlichkeit zu beschwören. Voller Wehmut träumten sie sich in eine Zeit zurück, in der angeblich jeder Gewerbsgenosse seine gesicherte „Nahrung“ sorglos genießen durfte. Solche Reminiszenzen ließen die Forderung nach Einführung des Prüfungszwanges für alle Handwerker, die – kaum skrupulös – nicht weniger als die Beseitigung der Konkurrenz zum Ziele hatte, wie von selbst wieder aufleben. Dieses zentrale Anliegen aller Meister wurde auch von den westfälischen Städten und Ständeversammlungen nachdrücklich unterstützt.397 Der erste westfälische Provinzial-Landtag tat sich hierbei besonders hervor, indem er die bestehende Gewerbefreiheit kategorisch ablehnte und pathetisch das „in furchtbarem Fortschreiten begriffene Übel vollkommener Gewerbe-Anarchie“ beschwor. Zwar war man, so wurde jedenfalls behauptet, „weit entfernt, die Herstellung der alten Zunftbräuche zu wünschen“; die Abgeordneten forderten aber doch eine Leistungskontrolle, „wodurch jeder, der ein Gewerbe selbständig betreiben will, seine Fähigkeiten ausweise, und wodurch ein Verhältnis der Zucht und des Gehorsams zwischen Meister

395 Vgl. z. B. Verordnung v. 28.4.1827, in: Amtsblatt der Regierung Minden 1827, S. 187: Um die selbständige Arbeit ungeprüfter Bauhandwerker über die zulässige Flickarbeit hinaus zu unterbinden, wurde den Flickarbeitern untersagt, Gesellen und Handlanger zu halten; eben diesem Ziel sollte auch die genaue Abgrenzung der Flickarbeit von der den Meistern vorbehaltenen Arbeit dienen; vgl. auch Verordnung v. 6.6.1828, Amtsblatt Reg. Minden 1828, S. 274. 396 Z. B. Amtsblatt der Reg. Minden v. 6.9.1826, S. 401; Amtsblatt der Reg. Münster v. 21.10.1826, S. 363; Verordnung v. 30.12.1826, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 1827, S. 10; Amtsblatt der Reg. Münster v. 2.5.1828, S. 183–185; Amtsblatt der Reg. Münster v. 17.5.1828; Schreiben des Innenministers v. 5.2.1829 an die Regierungen, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Schreiben des Oberpräsidenten von Vincke an die Reg. Arnsberg v. 16.3.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Bekanntmachung v. 5.3.1829, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 21.3.1829, S. 120–131; Amtsblatt der Reg. Münster v. 2.5.1828, S. 183–185; Bekanntmachung im Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 21.11.1829, S. 516; Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 1835, S. 311; Bekanntmachung im Amtsblatt der Reg. Münster v. 6.9.1834, S. 404; Amtsblatt der Reg. Münster v. 20.4.1833, S. 154–156; Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an die Reg. Arnsberg v. 18.12.1831, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 397 Z. B. Protokoll v. 3.9.1826 (betr. Soest), in: Stadtarchiv Lippstadt Nr. 2971; ebenso Eingabe der Mitglieder des Standes der Städte an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 13.12.1828, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1; Stellungnahme des Oberpräsidenten v. Vincke an den Vertreter der Handwerker der Stadt Münster v. 22.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1; vgl. zu dieser Diskussion auch „Gedanken, Ansichten und Bemerkungen über die Unbill und Noth und die Klagen unserer Zeit“, S. 47–61 (o. Verf.), 1826, in: W. Steitz (Hrsg.), Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zur Reichsgründung (1980), S. 92–97 (96).

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und Gesellen und Lehrlingen wieder hergestellt werde“.398 Auch die „Professionisten“ selbst wollten von der zeittypischen Polemik gegen ihre verblichenen Korporationen nichts wissen: Sie sahen in der Wiedereinführung der Prüfungspflicht für alle Handwerke den entscheidenden Schritt auf dem Weg zurück zu einer modifizierten und, wie sie meinten, „weisen“ Zunftverfassung, deren Wiederaufrichtung sie unverhohlen erstrebten.399 Andererseits trugen die westfälischen Meister ihr Desinteresse an der Mitgliedschaft in Prüfungskommissionen sowie die Gesellen an der Ablegung der Meisterprüfung offen zur Schau – ein Umstand, welcher sich je länger je mehr nicht als bloße Anfangsschwierigkeit des neuen Systems erwies. Im Regierungsbezirk Münster hatten sich bis 1826 „nur wenige“ Bauhandwerker der Prüfung unterzogen und das Meisterrecht erlangt.400 Erst nachdem der Soester Kreis-Baubeamte 1829 lebhafte Klage über die unverändert schlechte Arbeit der Handwerker in seinem Bezirk geführt hatte, wurde die Regierung in Arnsberg darauf aufmerksam, dass die dortige Prüfungskommissionen damals noch immer keinerlei Wirksamkeit entfaltet hatten.401 Die Regierung musste gar feststellen, dass sich nicht ein einziges „Individuum“ zur Prüfung gemeldet habe.402 Für diesen ebenso enttäuschenden wie dauerhaften Misserfolg waren gleich mehrere Ursachen maßgebend:403 (1) Die in den zwanziger Jahren zur Prüfung anstehende Generation von Bauhandwerkern hatte noch bei Meistern gelernt, die allenfalls die Anfangsgründe der Baukunst beherrschten. Den Ausbildern der potentiellen Kandidaten waren in den Elementarschulen kaum ordentliche Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt worden;404 die damals so hoch geschätzten und auch notwendigen Fähigkeiten im Zeichnen waren ihnen erst recht ganz unbekannt geblieben. Als Lehrlinge und Gesellen hatten sie wegen der Geheimniskrämerei der Meister, welche die wesentlichen Kenntnisse, die das Gewerbe erforderte, sorgfältig gehütet und nur an ihre Söhne weitergegeben hatten, keine Gelegenheit bekommen, sich wirklich in ihrem Beruf auszubilden. So hatte der künftige Meister die Fertigkeiten, die er benötigte, durch Erfahrung, eigenes Überlegen oder geschicktes Absehen bei anderen erwerben müssen. Diese gravierenden Mängel in der Ausbildung bestanden, wenn 398 Darstellung der Verhandlungen des ersten westphälischen Landtages und ihrer wesentlichen Resultate (1828), S. 9. 399 Vgl. Petition der Handwerker der Stadt Münster an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774 Bd. 1; Antwort des Handels- und Gewerbeministers v. Schuckmann v. 2.3.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 5827. 400 S. Amtsblatt der Reg. Münster v. 21.10.1826, S. 363. 401 Anm. der Reg. Arnsberg v. 28.2.1829 zum Schreiben des Innenministeriums in Berlin v. 5.2.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 402 Gutachten der Reg. Arnsberg „über das fehlende Wirksamwerden der Prüfungskommissionen“ v. 14.2.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; desgl. Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an die Reg. Arnsberg v. 12.2.1829, in: STAM, Reg Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 403 Gutachten v. 14.2.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 404 Zur theoretischen Fach- und Allgemeinbildung der westfälischen Handwerker im 18. Jahrhundert s. ausführlich Deter, Die theoretische Fach- und Allgemeinbildung, (1991), S. 169–192; zum Kenntnisstand der „Professionisten“ im 19. Jahrhundert s. o., Kap. „Die theoretische Fachbildung“, S. 58 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

auch nicht mehr in so extremer Form wie um die Wende zum 19. Jahrhundert, während der zwanziger Jahre noch immer fort. Die große Masse der westfälischen Kleingewerbetreibenden war damals nach allgemeinem Bekunden nicht imstande, die notwendigen Kenntnisse für die ordnungsgemäße Ausübung ihres Berufes nachzuweisen, so dass die – allerdings recht anspruchsvollen – gesetzlichen Vorschriften schlicht ignoriert werden mussten; denn sie entsprachen keineswegs dem tatsächlichen Leistungsstand in der Provinz.405 Die einem hohen Anspruchsniveau genügende Gewerbeschule in Hagen erreichte die eigentlichen Handwerker kaum, und das Sonntagsschulsystem war damals erst dürftig ausgebaut. Der Oberpräsident Freiherr v. Vincke gab denn auch unumwunden zu, dass nicht wenigen der „jetzt vorhandenen Lehrlinge und Gesellen zum Bestehen der Prüfung die erforderlichen Schul- und theoretischen Kenntnisse dort (im Regierungsbezirk Arnsberg) wie überall fehlen.“406 Die Feststellung des Soester Bauinspektors Buchholz, dass sich niemand ohne Zwang zur Prüfung melden werde, hatte in diesem Unvermögen der Gesellen ihre eigentliche Ursache.407 (2) Die Durchführung von Prüfungen stieß noch immer auf beträchtliche organisatorische Schwierigkeiten. Auch am Ende der zwanziger Jahre ließen sich kaum Meister finden, welche die Examina abzunehmen bereit und in der Lage waren. Die vorgesehenen Mitglieder der für die Maurer und Zimmerleute im Regierungsbezirk Arnsberg bestimmten Prüfungskommissionen hatten die Berufung bis auf eine Aus-

405 An der unzureichenden Fachbildung der Handwerker scheiterte beispielsweise auch die Durchsetzung der Prüfungspflicht für Schiffszimmerleute. Nach § 75 des Gewerbe- und Polizeigesetzes v. 7.9.1811 durften Flussschiffe zwar nicht nur von speziell ausgebildeten Schiffszimmerleuten, sondern auch von gewöhnlichen Zimmerern gebaut werden. Durch Instruktion v. 28.6.1821 war das Ausbildungsgebot auch für Westfalen erlassen worden. Nach dem Untergang der Zünfte hatten die in Dorsten das Gewerbe neu beginnenden Handwerker aber keine Prüfung mehr abgelegt. Sie sollten deshalb nach dem Willen des Gewerbeministeriums ein spezielles Examen als Flussschiffszimmerleute absolvieren. Als die Regierungen in Münster und Arnsberg daraufhin 1828 den Entwurf einer Prüfungsordnung für diese Berufe vorlegten und darin u. a. den Nachweis von Fertigkeiten im Lesen, Rechnen, Schreiben und Zeichnen etc. forderten, hieß der Oberpräsident v. Vincke das Anliegen zwar gut, vertrat aber die Ansicht, dass von einer strengen Anwendung der Prüfungsbestimmungen abgesehen werden müsse, bis ein System von Handwerks- und Sonntagsschulen etabliert sei, das den Bildungsrückstand der Lehrlinge und Gesellen aufzuholen Gelegenheit böte; s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 10 Bd. 1 fol. 46, 129–135. Die Angelegenheit blieb aber, da sie nach dem Willen des Ministeriums der Regelung der künftigen Gewerbeordnung überlassen bleiben sollte, unerledigt; s. Schreiben des Handels- und Gewerbeministeriums an die Reg. Münster v. 29.9.1830, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 10 Bd. 1, fol. 151. Die Gewerbeordnung v. 17.1.1845 und die Verordnung v. 9.2.1849 sahen keine speziellen Prüfungsvorschriften für Schiffsbauer vor. 1851 unternahmen die westfälischen Regierungen nochmals einen Vorstoß, um die Prüfungspflicht in diesem Gewerbe durchzusetzen, s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep 120 B IV 1 Nr. 10 adh., fol. 82, 120. 406 Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an die Reg. Arnsberg v. 16.3.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 407 Schreiben des Bauinspektors Buchholz an die Reg. Arnsberg v. 21.5.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1.

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nahme abgelehnt.408 Der größte Teil der zu Prüfern vorgeschlagenen Meister war derart unqualifiziert, dass er in der Prüfung durchfallen würde, stellte Buchholz fest. Außerdem waren die Aufwandsentschädigungen so niedrig angesetzt, dass die Kommissionsmitglieder davon ihre Reisekosten nicht bestreiten konnten. (3) Die Prüflinge wiederum mussten, wenn sie das Examen ablegen wollten, beträchtliche Gebühren und die erheblichen eigenen Reisekosten aufbringen, die jene, welche eine Familie zu unterhalten hatten, kaum erübrigen konnten.409 Der wohl größte Teil des Nachwuchses suchte deshalb wie eh und je nach einer Betriebsweise, welche die Chance bot, auch als Ungeprüfter, der in Wahrheit nichts anderes als der „Pfuscher“ der Zunfttradition war, über die bloße Flickarbeit hinaus selbständig zu arbeiten. (4) Die Arnsberger Regierung sah schließlich auch die negativen Folgen, die eine strikte Anwendung der Bestimmungen gezeitigt hätte: Die wenigen geprüften Meister, die es in Westfalen damals gab, hätten zusammen mit den bereits vor 1821 selbständig arbeitenden Bauhandwerkern bei strenger Beachtung der Vorschriften eine Monopolstellung erlangt; die Zahl der Neubauten wäre wegen des Mangels an qualifizierten Unternehmern drastisch zurückgegangen.410 Die Behörden standen angesichts dieser Situation vor einem schier unlösbaren Problem: Einerseits sollten sie die vollständige Durchführung der Vorschriften gewährleisten, andererseits mussten sie im Interesse der Bauherren auf hinreichende Konkurrenz unter den Bauhandwerkern bedacht sein. Um sich aus dem Dilemma zu befreien, schlug die Regierung in Arnsberg schließlich eine Reduzierung der Prüfungsanforderungen und eine ebenso schnelle wie nachhaltige Verbesserung der Schulbildung, insbesondere durch die Einrichtung von Sonntagsschulen, vor.411 cc. Die Initiative des Oberpräsidenten Vincke Trotz des offenkundig realitätsfremden Inhalts der Prüfungsbestimmungen für das Bauhandwerk befahl der Oberpräsident von Vincke 1829 aber, die Vorschriften „ohne irgend weitere Rücksichten“ durchzusetzen. Er wollte die bisherige Praxis, nach der auch die ungeprüften Bauhandwerker ihr Gewerbe selbständig als Meister ausübten, ohne sich prüfen zu lassen, nicht länger dulden;412 war doch das Examen seiner Meinung nach jedenfalls im gewerbereichen und vergleichsweise entwickelten Regierungsbezirk Arnsberg immer noch leichter durchzusetzen als in anderen Teilen Preußens, wo die gesetzlichen Bestimmungen aber allgemein beachtet wür408 Schreiben des Bauinspektors Buchholz an die Reg. Arnsberg v. 2.5.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 409 Schreiben des Bauinspektors Althof aus Siegen an die Reg. Arnsberg v. 10.1.1838, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; 1838 wurde freilich, um den Siegerländern den Weg nach Soest zu ersparen, in Siegen eine weitere Prüfungskommission errichtet, s. Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 31.3.1838, S. 80. 410 Gutachten der Reg. Arnsberg v. 14.2.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 411 S. Anm. 409. 412 Damit entspach er den Forderungen der Bauhandwerker, die schon vor 1821 selbständig waren und sich durch die Beschränkung der Konkurrenz Wettbewerbsvorteile verschaffen wollten; s. Gutachten v. 14.2.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1.

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den.413 Dem zuständigen Ministerium schlug er sogar vor, auch für zahlreiche andere Handwerke die Prüfungspflicht gesetzlich einzuführen.414 Vinckes Anordnungen entsprechend wurden die Vorschriften noch im selben Jahr wiederum publiziert, vorhandene Prüfungskommissionen neu organisiert, ein Kontrollsystem (Meldepflicht der Neubauten, polizeiliches Attest für jeden Neubau) erdacht,415 die Verhängung von Bußgeldern bei Verstoß gegen die Bestimmungen angedroht,416 die jährliche Veröffentlichung der Namen der zum selbständigen Gewerbebetrieb berechtigten Bauhandwerker befohlen,417 in Siegen eine dritte Prüfungskommission des Regierungsbezirks Arnsberg für Bauhandwerker angeordnet,418 den Kommunen untersagt, öffentliche Bauten an ungeprüfte Gewerbetreibende zu vergeben419 sowie die Zahl der zur Ausübung der Bauhandwerke berechtigten Meister ermittelt und öffentlich bekanntgegeben.420 Das Reskript der Arnsberger Regierung v. 5.3.1829 und die energischen Bemühungen um eine Belebung des Prüfungsgedankens verfehlten ihre Wirkung denn auch nicht völlig. In Dortmund und Siegen meldeten sich erstmals mehrere Gesellen, die sich examinieren lassen wollten. Die alten Schwierigkeiten waren aber nicht beseitigt: Das geringe Wegegeld deckte die Kosten der von weither anreisenden Prüfungsmeister bei weitem nicht;421 im Siegerland ließen sich noch immer 413 Mit dieser Ansicht verkannte Vincke aber die traditionell gewaltigen Strukturunterschiede zwischen dem westfälischen und dem ostelbischen Bauhandwerk. Während in Westfalen der Alleinmeister dominierte und der Bauherr die notwendigen Gesellen nicht selten selbst anwarb, beschäftigte der typische Bauunternehmer in Mittel- und Ostdeutschland Dutzende von Gesellen. Bekanntestes Beispiel eines solchen wohlhabenden und gebildeten Unternehmers ist Goethes Berliner Freund Zelter. 414 So z. B. für Schuster, Schneider, Tischler, Sattler, Schmiede, Schlosser, Buchbinder, Drechsler, Böttcher, Wagenmacher, Gold- und Silberarbeiter etc.; s. Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an den Innenminister v. Schuckmann vom 5.1.1829, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1. Damit teilte Vincke in seltener Übereinstimmung die Meinung der Handwerker seines Sprengels, setzte sich aber in Widerspruch zur Ministerialbürokratie, die weiterhin daran festhielt, dass Prüfungen nur für solche Gewerbe opportun seien, deren Betrieb die öffentliche Sicherheit tangiere; vgl. Schreiben des Handels- und Gewerbeministers v. Schuckmann v. 2.3.1831 an die Tischlermeister der Stadt Münster, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 5827. 415 S. auch die retrospektive Stellungnahme der Regierung Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 416 S. Verordnung der Reg. Arnsberg v. 5.3.1829, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 21.3.1829, S. 120–122. 417 Schreiben v. 18.12.1831 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 418 Schreiben der Reg. Arnsberg v. 6.3.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; die Errichtung der Kommissionen wurde aber 1830, nachdem sich der allzu schlechte Leistungsstand der Handwerker herausgestellt hatte, wieder ausgesetzt; s. Vermerk der Reg. Arnsberg v. 19.5.1830, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 419 S. Verordnung v. 9.11.1829, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 21.11.1829, S. 516. 420 S. Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke v. 16.3.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Schreiben der Regierung an die Landräte v. 22.5.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; gleichzeitig erging auch für die Prüfung der Schornsteinfeger, die nach § 103 des Gewerbe-Polizei-Gesetzes v. 7.9.1811 vorgeschrieben war, eine neue Instruktion; vgl. die Verfügung der Reg. Arnsberg, Amtsblatt v. 10.10.1829, S. 455. 421 Schreiben des Bauinspektors Buchholz aus Soest an die Reg. Arnsberg v. 2.5.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1.

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keine hinreichend qualifizierten Handwerker als Prüfer finden;422 auch anderwärts lehnten die Meister, die zur Mitwirkung aufgefordert wurden, ihre Teilnahme aus den bekannten Gründen ab.423 Im übrigen waren es noch immer außerordentlich wenige Gesellen, die sich der Prüfung unterziehen wollten. Die große Mehrzahl von ihnen sah illusionslos, dass sie den Anforderungen nicht genügen konnte. Als im Jahre 1830 die ersten Bauhandwerksprüfungen für den Regierungsbezirk Arnsberg in Dortmund und Arnsberg abgehalten wurden, waren die Ergebnisse niederschmetternd. Eben dies bestätigte sich in Soest. Zu der im selben Jahr dort durchgeführten Prüfung hatten sich acht Zimmerleute und acht Maurer gemeldet, die aber wegen des Mangels an Schulkenntnissen allesamt scheiterten. Die Arnsberger Regierung musste zugeben, dass die Kandidaten keine ausreichende Gelegenheit gehabt hatten, sich die geforderten Kenntnisse zu verschaffen. Die Errichtung einer weiteren Prüfungskommission in Siegen, die wegen des Fehlens geeigneter Prüfer von vornherein als wenig sinnvoll gegolten hatte, wurde mit dem Hinweis auf die Erfolglosigkeit der Prüfungen ausgesetzt.424 Als Konsequenz aus diesem Desaster forcierte die Regierung in Arnsberg seither in Südwestfalen den zügigen Aufbau des Fortbildungsschulwesens. Aber auch weiterhin drängten sich die Gesellen nicht zur Prüfung, da sie unverändert selbständig Bauten ausführen konnten, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Verhängten die Behörden doch einmal die angedrohten Geldstrafen (bis 50 Taler), so legten die Betroffenen Widerspruch ein. Diesem wurde abgeholfen, da die Gerichte der Auffassung waren, dass es für die Anordnung der Ordnungsstrafen an der gesetzlichen Grundlage fehle. Die §§ 94–101 des preußischen Gesetzes v. 7. Sept. 1811, welche den Vorschriften über die Prüfung der Bauhandwerker v. 25.4.1821 zugrunde lagen und die in Westfalen bis dahin nicht gegolten hatten, waren nämlich auch 1821 nicht ordnungsgemäß publiziert worden. dd. Der Mangel an geprüften Bauhandwerkern und seine Folgen Erst 1832 wurden diese Mängel im Gesetzgebungsverfahren beseitigt.425 Seither konnten die Bußgelder gegen die ungeprüften Bauhandwerker, die selbständig arbeiteten, eingetrieben werden. In der Tat begannen die Vorschriften plötzlich auf breiterer Ebene Wirkungen zu zeigen. Einerseits wurde das selbständige Arbeiten der Gesellen durch die empfindlichen Strafen mehr und mehr erschwert, andererseits war dem Nachwuchs, der den Anforderungen der Prüfung nach wie vor in der Regel nicht genügte, durch den Prüfungszwang jedenfalls der legale Weg in die 422 Schreiben des Bauinspektors Neumann aus Siegen v. 8.5.1829 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; desgl. Vermerk der Reg. Arnsberg v. 19.5.1830, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 423 Schreiben des Bauinspektors Buchholz v. 14.8.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 424 Vermerk der Reg. Arnsberg v. 19.5.1830, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 425 S. Kabinettsordre wegen Prüfung der Bauhandwerker v. 18.4.1832, in: Bergius, Ergänzungen (1841), S. 386; desgl. in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 1; Schreiben v. 18.4.1832 an die Staatsminister des Innern und der Justiz, v. Schuckmann und v. Kamptz, in: GStA/PK, Zivilkabinett 2.2.1., Nr. 29967, fol. 22.

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Selbständigkeit weitgehend verlegt; folglich kam es zwangsläufig zu einem ganz erheblichen Mangel an Maurer- und Zimmermeistern. Die Ursache dieser ungewollten Fehlentwicklung lag in der im Vergleich zu den ostelbischen Provinzen Preußens so ganz anderen Struktur der westfälischen Bauhandwerke begründet. Man hatte in Berlin nicht berücksichtigt, dass in Westfalen der allein arbeitende bzw. nur durch einen Gesellen unterstützte Meister im Regelfall die Bauleistungen erbrachte. Die Bauhandwerker Westfalens waren zumeist von frühester Jugend an darauf angewiesen, sich ständig durch ihrer eigenen Hände Arbeit den nötigsten Lebensunterhalt zu verschaffen. Kaum jemand hatte vermögende Eltern, die ihm eine längere theoretische Ausbildung finanzieren konnten, zumal sich der Nachwuchs im Handwerk mehr und mehr aus den untersten Schichten rekrutierte. Der westfälische Bauhandwerker unterschied sich in dieser Hinsicht keineswegs von den Angehörigen anderer Handwerksberufe. Die große Mehrzahl dieser Maurer- und Zimmerleute war, was selbst dem doch sonst so kenntnisreichen Vincke entgangen war, naturgemäß nicht imstande, den Anforderungen, die an einen ganz anderen Typus des Handwerkers, nämlich dem des ostelbischen Bauunternehmers, orientiert waren, zu genügen. Im Osten der Monarchie war es seit langem üblich, dass große, mit Dutzenden von Gesellen und Lehrlingen arbeitende Betriebe die Bauarbeiten ausführten. Dies ergibt sich schon aus einer nach den Regionen des preußischen Staates differenzierenden Übersicht über die Dichte des Bauhandwerks um 1800: Tabelle 21: Selbständige Bauhandwerker in v. T. der Einwohner in Preußen:426 Östliche Provinzen

1,3

Mittlere Provinzen

3,0

Westliche Provinzen

7,1

Nach den zutreffenden Feststellungen Kaufholds waren, wie die Tabelle zeigt, die Betriebe im Bauhandwerk im Westen Preußens durchschnittlich erheblich kleiner als diejenigen in den mittleren und östlichen Provinzen.427 Dem entsprach auch die Stadt-Land-Verteilung im Baugewerbe: Der Anteil der Landmeister an den Selbständigen lag im Westen mit 69,3 v. H. deutlich höher als in der Mitte mit 43,5 v. H. und im Osten mit 36,5 v. H. An diesen Strukturunterschieden innerhalb Preußens hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum etwas geändert. An der Spitze eines typischen ostelbischen Betriebs der Baubranche stand der vermögende, gebildete und sein Fach vollständig beherrschende städtische Unternehmer, dem es weder an Zeit noch an Geld gefehlt hatte, sich in seiner Profession zu vervollkommnen. In Westfalen sprach man bewundernd von dem „vorzüglichen Stande der Gewerke jenseits der Elbe“. Schwierigkeiten, eine hinreichende Anzahl geeigneter Prüfungsmeister in jeder Stadt zu finden, kannte man im Osten bezeichnenderweise 426 Quelle: Kaufhold (1978), S. 173. 427 S. Kaufhold (1978), S. 175.

C. Das Prüfungswesen

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nicht.428 Die scharfe Trennung zwischen dem wohlhabenden Bauunternehmer einerseits und dem von vornherein zu lebenslanger abhängiger Beschäftigung bestimmten, vermögenslosen, verheirateten Gesellen andererseits, wie sie für Ostelbien als typisch gelten kann, war in Westfalen mit Ausnahme weniger größerer Städte, Paderborns beispielsweise, unbekannt geblieben. Diese so ganz andere gewerbliche Struktur Westdeutschlands völlig ignoriert zu haben stellte ein schwerwiegendes, fort und fort Probleme zeugendes Versäumnis des Gesetzgebers dar. Da sich die Betriebsstruktur im westfälischen Baugewerbe infolge des allenthalben feststellbaren, gravierenden Kapitalmangels nicht allein schon durch die Prüfungsbestimmungen zum Großbetrieb hin änderte, geriet der Nachwuchs dieser Berufssparte in eine Zwangslage, aus der es kaum einen Ausweg gab. Nachdem die Umgehung der Vorschriften nicht mehr ohne weiteres möglich war, nahm der Mangel an qualifizierten Bauhandwerkern, die selbständig anspruchsvollere Aufträge ausführen konnten und hierzu auch befugt waren, alsbald katastrophale Ausmaße an. Schon 1831 hatte sich deshalb die Verwaltung, um die öffentlichen Bauaufträge überhaupt noch ausführen lassen zu können, gezwungen gesehen, ihre erst zwei Jahre zuvor erlassene Vorschrift, wonach nur geprüfte Meister bei öffentlichen Bauaufträgen berücksichtigt werden durften, aufzuheben. Seither konnten auch wieder ungeprüfte Professionisten den Zuschlag erhalten.429 Unqualifizierte, aber selbständig arbeitende Flickarbeiter wurden neuerlich, der erst 1829 erlassenen Verfügung entgegen, zur Gewerbesteuer herangezogen.430 Die Prüfungspflicht für Pumpenmacher beschränkte man auf Sonderfälle.431 In ihrer Not lobten die Stände des Kreises Beckum gar für Bauhandwerksmeister, die sich im Kreisgebiet niederlassen wollten, Prämien in Höhe von 50 Rtl. aus.432 Das obstinate Ministerium im fernen Berlin hielt dieses Vorgehen aber für unzweckmäßig.433 Die Begründung für seine ablehnende Haltung zeigt, wie wenig Einblick die Behörde in der preußischen Hauptstadt noch immer in die Besonderheiten des westfälischen Wirtschaftslebens besaß: Es wurde argumentiert, dass eine Prämie von nur 50 Rtl. auf die Standortwahl für ein Bauunternehmen keinen Einfluss habe, da bei den Bauhandwerkern, 428 Schreiben des Bauinspektors Buchholz an die Reg. Arnsberg v. 21.5.1829, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. Auch in anderen deutschen Ländern sah man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den eigentlich erforderlichen höheren Prüfungsanforderungen bei den Bauhandwerkern ab, um einen Mangel an Arbeitskräften zu vermeiden; so z. B. für Nassau Eisenbach (2010) S. 36 m. w. Nachw. 429 Bekanntmachung v. 24.5.1831, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 430 Die Verfügung v. 5.3.1829 in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg 1827, Stück 12 Nr. 100 wurde außer Kraft gesetzt und die Bekanntmachung v. 18.9.1827 im Amtsblatt der Reg. Arnsberg 1827, Stück 39 Nr. 332 wieder wirksam; s. Bekanntmachung der Reg. Arnsberg v. 21.11.1831, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 431 Schreiben des Handels- und Gewerbeministeriums v. 7.2.1832 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; desgl. Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 25.2.1832, S. 53. 432 Schreiben des Handels- und Gewerbeministeriums an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 16.3.1833, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 433 Außerdem war das Vorgehen des Kreises Beckum nach Auffassung des Ministeriums unzulässig, da es sich bei der Bewilligung der Prämien nicht um eine Kommunalangelegenheit handelte.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

„wenn sie ihr Geschäft mit Erfolg betreiben wollen, ein ansehnliches Betriebskapital immer vorhanden sein“ müsse. Dass das Baugewerbe in Westfalen in der Regel durch kapitalarme Alleinmeister, für die 50 Rtl. möglicherweise schon eine wichtige Starthilfe bedeuteten, betrieben wurde, deren unentwickeltes Geschäft nichts mit einem gut ausgestatteten Bauunternehmen gemein hatte, blieb der Berliner Behörde merkwürdigerweise noch immer verborgen. Man glaubte in Berlin, gerade durch die hohen Anforderungen würden die Gesellen gezwungen, sich dem gewünschten anspruchsvollen Standard anzupassen; so könne mit der Zeit auch im westfälischen Baugewerbe die verlangte Leistungsfähigkeit erreicht werden. Daher wurden die Prüfungsbestimmungen statt der erwünschten Modifizierung 1832 nochmals bestätigt434 und erweitert, indem seither auch der selbständige Betrieb des Steinhauergewerbes nur von geprüften Meistern ausgeübt werden durfte.435 Auch für diese Profession wurde in Westfalen nunmehr eine Prüfungskommission errichtet, die aber keinerlei Bedeutung erlangte.436 An der fortdauernden Unkenntnis der Ministerialbeamten scheiterte auch ein Vorstoß des Oberpräsidenten v. Vincke. Der in dieser Frage inzwischen – 1833 – geläuterte Westfale versuchte, nachdem er einige Jahre zuvor selbst noch auf der strikten Einhaltung der Vorschriften bestanden hatte, die verfahrene Situation dadurch zu entkrampfen, dass er eine Reduzierung der Prüfungsanforderungen für Bauhandwerker vorschlug.437 Durch die schleunige Anpassung der Leistungserfordernisse an den tatsächlichen Kenntnisstand der Maurer- und Zimmergesellen sollte die so dringend erwünschte Steigerung der Zahl der geprüften Bauhandwerker erreicht werden. Das uneinsichtige Ministerium lehnte aber auch diesen moderaten Vorschlag ohne weitere Prüfung ab. 434 Verordnung v. 18.4.1832, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 6.4.1833, S. 96, 97; desgl. Bekanntmachung v. 29.3.1833, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 19.4.1833, S. 113. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass sich die Prüfung auf Lesen, Schreiben und Rechnen erstrecke, s. Verfügung der Regierung Arnsberg v. 12.12.1833, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 21.12.1833, S. 329 unter Bezugnahme auf die Verordnung v. 24.9.1821, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg, Stück 40, Nr. 657 und v. 5.3.1829, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg 1829, Stück 12, Nr. 100. 435 Durch Kabinetts-Ordre v. 11.7.1833 wurde § 94 des Gewerbe-Polizei-Gesetzes v. 7.9.1811 geändert; vgl. Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 31.5.1834, S. 164; dazu Instruktion, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 14.9.1833, S. 358–366; Schreiben des Handels- und Gewerbeministeriums an die Reg. Minden v. 14.8.1833, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 791; Reskript v. 14.8.1833, in STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. Im Regierungsbezirk Minden erwies sich die Einsetzung einer Prüfungskommission für Steinhauer als überflüssig, da kaum Vertreter dieses Gewerbes vorhanden waren; vgl. Schreiben des Bauinspektors des Krs. Minden an den Landrat v. 25.9.1833, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 791. Ebenso wenig hatte das Steinhauer-Gewerbe im Rgbz. Arnsberg Bedeutung. Zwar gab es in Rüthen, Anröchte, Kirchhörde und Brünninghausen große Steinbrüche, doch wurden dort nur ganz einfache Gegenstände hergestellt. Im ganzen Bezirk gab es lediglich in Rüthen einen Meister, der in der Lage war, Steinmetz-Arbeiten nach den Regeln des Gewerbes auszuführen; s. Schreiben des Bauinspektors Buchholz aus Soest an die Regierung Arnsberg v. 14.9.1833, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 436 Z. B. Schreiben des Bürgermeisters v. Medebach an den Landrat des Kreises Brilon v. 6.8.1843, s. STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. Im ganzen Stadtgerichtsbezirk Medebach gab es nur einen Maurer, so dass man auf auswärtige Handwerker angewiesen war. 437 Bericht des Oberpräsidenten v. Vincke v. 23.1.1833, s. STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 1.

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Nach der neuerlichen Einschärfung der Bestimmungen fanden nun aber, als endlicher Erfolg der Berliner Hartnäckigkeit und der Verbesserung des Schulwesens, in der Tat regelmäßig Bauhandwerkerprüfungen in der Provinz statt,438 so dass sich ganz allmählich doch ein qualifizierter, wenn auch kleiner Stamm geprüfter Meister entwickelte, der seine Marktvorteile zu nutzen begann. Ihre äußerst geringe Zahl439 und der allgemeine, unverändert fortdauernde Mangel an Bauhandwerkern verschaffte dieser elitären Gruppe eine chancenreiche Ausgangsposition; sie hatte zwar die preisgünstiger arbeitende Konkurrenz der „Ungeprüften“ zu bestehen, doch reüssierten die wenigen Qualifizierten ganz offensichtlich. Allmählich gewann auch die breite Masse der westfälischen Baugewerksgenossen, angezogen durch den Erfolg der geprüften Meister, ein positiveres Verhältnis zu den gesetzlichen Bestimmungen. Etwa ab 1835 begann sich deshalb auch der durchschnittliche Handwerker, wie die Regierung in Arnsberg in der Retrospektive wohl etwas euphemistisch feststellte, „mit den wissenschaftlichen Anforderungen der neuen Vorschriften ins Gleichgewicht zu setzen.“440 Jedenfalls konnte das erste Zeugnis für eine bestandene Prüfung in Soest 1835 erteilt werden.441 Wegen des nichtsdestoweniger aber doch noch immer fortbestehenden erheblichen Mangels an geprüften Bauhandwerkern verstärkte sich Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre überall in Westfalen der Zustrom von Maurern und Zimmerleuten aus den Nachbarländern, die nicht zu Unrecht ein lukratives Betätigungsfeld in der Provinz erwarteten. In Südwestfalen erschienen die Maurer und Zimmerleute aus Waldeck und Hessen,442 in den übrigen Landesteilen die lippischen Bauleute.443 Die wenigstens formell vorhandene Qualifikation der Ausländer wurde in Preußen im allgemeinen nicht als ausreichend für die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes angesehen. Dies hinderte die Fremden aber keineswegs, selbständig Bauten auszuführen. An Nachfrage fehlte es ihnen nicht, da sie gewöhnlich nur während der Sommermonate im Lande blieben, deshalb der Gewerbesteuer zu entgehen verstanden und folglich billiger arbeiten konnten als die einheimischen Meister. 438 Die Zahl der neu geprüften Bauhandwerker wurde im Amtsblatt der Regierung Arnsberg ab 1835 jährlich bekannt gegeben. Sie schwankte in den Jahren 1837–1848 zwischen 9 und 27 Prüflingen. Die Zahlen sind allerdings nicht unbedingt miteinander vergleichbar, da die Zählzeiträume offenkundig nicht immer exakt ein Jahr betrugen. Mitte der vierziger Jahre ging die Zahl der Prüflinge stark zurück (1844:9; 1845:11; 1847:15), um ab 1848 wieder stark anzusteigen. 1836 wurde die Prüfungskommission von Dortmund nach Soest verlegt; s. Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 26.3.1836, Beilage. 439 So der Landrat des Krs. Hagen im Schreiben v. 18.2.1841 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 440 S. Stellungnahme der Reg. Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 441 S. Pro Memoria des Baurates Buchholz, Soest, v. 15.6.1852, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep.120 B IV 1 Nr. 1 adh.1, Bd. 2, fol. 91. 442 Vgl. Schreiben des Landrats des Krs. Siegen v. 7.3.1835, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1524; desgl. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 27.6.1836, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1524; Schreiben des Bürgermeisters von Medebach an den Landrat des Krs. Brilon v. 6.8.1843, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 443 S. Schreiben des Finanzministers von Alvensleben an die Reg. Minden v. 23.4.1842, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Der Vorteil der Gewerbesteuerfreiheit kam aber nicht nur den zugewanderten, sondern auch den einheimischen, ungeprüften Bauhandwerkern zugute. Nicht allein wegen mangelnder Kenntnisse, sondern auch aus finanziellen Gründen stellte die Ablegung der Meisterprüfung für die zahlreichen mittellosen Gesellen weiterhin keine realistische Perspektive dar. Insbesondere auf dem Lande wurde es deshalb seit Mitte der dreißiger Jahre, ganz wie zur Zunftzeit, wieder gewöhnlich, dass sich die Gesellen bei den Meistern die nach § 2b der Verordnung v. 5.3.1829 vorgeschriebenen Atteste, die das selbständige Arbeiten gerade verhindern sollten, regelrecht kauften und die Bauten völlig selbständig ausführten. Als Entgelt erhielten die Meister dann den seit je bekannten sog. ‚Meistergroschen‘;444 diese Zahlungen konnten sich angesichts der wachsenden Nachfrage nach Bauleistungen zu einer echten Einnahmequelle auswachsen. Einzelne Meister reisten von Baustelle zu Baustelle und sammelten den im wahrsten Sinne des Wortes unverdienten Gewinn ein; der Bauausführung schenkten sie dabei keinerlei Beachtung. Die ungeprüften Maurer und Zimmerleute waren auf diese Weise nicht mehr auf die bloße Flickarbeit beschränkt. Sie wurden wegen ihrer kostengünstigen, nicht durch die Gewerbesteuer belasteten Angebote bei der Vergabe von Aufträgen sogar bevorzugt berücksichtigt, zumal auch die Bauherren bei dieser Art der Bauausführung nicht belangt werden konnten. In den vierziger Jahren scheuten selbst die kommunalen Auftraggeber sich nicht mehr, öffentliche Bauten unter den genannten Kautelen an ungeprüfte Handwerker zu vergeben. Die Lokalbehörden förderten geradezu diese Form der Schwarzarbeit.445 Das illegale Betriebssystem gewann durch den wegen der günstigen Baukonjunktur,446 vor allem aber aufgrund der Prüfungsanforderungen wachsenden Mangel an examinierten Bauhandwerkern stetig an Bedeutung. Das allgemeine Lamento der Zeitgenossen über den Kenntnisstand der Ungeprüften relativiert sich allerdings, wenn man berücksichtigt, dass die älteren Handwerker, die schon vor 1821 selbständig gearbeitet hatten, für noch weitaus unfähiger als die seitdem hinzugekommenen ungeprüften Maurer und Zimmerleute gehalten wurden – ein Beweis für die tatsächlich zunehmenden Anforderungen, die in den Bauberufen gestellt wurden. Das Leistungsniveau auch der Ungeprüften hob sich demnach allmählich; so mochte es hingehen, dass sich in den meisten Orten Westfalens auch zu Anfang der vierziger Jahre noch kein geprüfter Meister fand. Die laxe Haltung der Behörden gegenüber dem Prüfungszwang war jedenfalls geradezu unerlässlich, wollte man den expandierenden Baumarkt nicht zum Erliegen

444 Vgl. Schreiben einiger Zimmermeister des Krs. Siegen v. 18.8.1835 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Schreiben des Innenministers an die Reg. Arnsberg v. 5.10.1841, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Olpe v. 26.2.1842, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; desgl. Schreiben des Bauinspektors von Bernuth v. 15.4.1842, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Vorschläge in Betreff der Zulassung ungeprüfter Gesellen zu gewissen Bauarbeiten, v. 18.11.1845, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep.120 B I 1 Nr. 40. 445 Vgl. Schreiben des Bauinspektors von Bernuth zu Meschede an die Kgl. Reg. Arnsberg v. 15.4.1842, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 446 Zu den Konjunkturen im westfälischen Bauhandwerk s. Deter (2005).

C. Das Prüfungswesen

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bringen.447 Diese den Intentionen des Gesetzgebers Hohn sprechende und beinahe schizoide, nichtsdestoweniger aber durch praktische Notwendigkeiten erzwungene „Schattenwirtschaft“ zeitigte natürlich durchaus negative Folgen: Die allgemeine Verbreitung des illegalen Betriebssystems wirkte den Bemühungen des Staates um die nachhaltige Förderung der Gewerbe insgesamt in fataler Weise entgegen, zumal es das kaum aufgebaute gewerbliche Bildungssystem um seine mühsam errungenen Erfolge brachte: Die Schülerzahlen in den Fortbildungsschulen, die überwiegend von Bauhandwerkern besucht wurden, sanken im Laufe der vierziger Jahre stark ab,448 da damals wieder jedermann täglich vor Augen hatte, dass die erstrebte Selbständigkeit weder den Schulbesuch noch die Ablegung der Meisterprüfung voraussetzte. Kosten und Anstrengungen, welche die bessere Ausbildung nun einmal erforderten, zahlten sich nach allgemeiner, wenngleich nicht unbedingt zutreffender Auffassung kaum aus. Der rückläufigen Schülerzahl der Fortbildungsschulen entsprechend verringerte sich auch das Interesse, das Examen abzulegen. Die Stabilisierung des Prüfungssystems in den dreißiger Jahren erwies sich schon ein Jahrzehnt später als bloßes Strohfeuer. b. Die Prüfungen in den vierziger Jahren Jahrzehntelang verkannt zu haben, dass die Prüfungsvorschriften für Bauhandwerker den so ganz anders strukturierten westlichen Provinzen Preußens nicht gemäß waren, gehört zu den unverständlichen und vorwerfbaren Versäumnissen des Berliner Handels- und Gewerbeministeriums. Erst nach Erlass der neuen Gewerbeordnung im Jahre 1845 rückte die Ministerialbürokratie von ihrer starren, undifferenzierten Haltung in dieser Frage allmählich ab. Zunächst allerdings glaubten die Beamten, den unleugbaren Mangel an qualifizierten Bauhandwerksmeistern in Westfalen noch allein mit einer missbräuchlichen Erschwerung der Meisterprüfung durch die Prüfungskommissionen erklären zu können.449 So behaupteten sie, der Schwierigkeitsgrad der Prüfungsaufgaben stünde teilweise dem für Architekten nicht nach; den Kandidaten würden unnötige Hindernisse bereitet oder die Verfahrenskosten absichtlich in die Höhe getrieben, um potentielle Konkurrenten abzuschrecken. Solche Missstände mögen vorhanden gewesen sein – den Kern des Problems bildeten sie nicht. Realistischer fiel eine wenig später seitens des Ministeriums erstellte Analyse der Ursachen des allerseits beklagten Bauhandwerkermangels insbesondere in den Kleinstädten und ländlichen Gemeinden der westlichen Provinzen aus:450 „Wenngleich die Anforderungen der Prüfungs-Instruktionen v. 447 Daher forderte der Landrat des Krs. Hagen mit Schreiben v. 18.2.1841 an die Regierung Arnsberg, das Prüfungserfordernis solle nur bei solchen Handwerkern bestehen bleiben, die ganze Bauten errichteten; s. STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 448 S. dazu Kap. „Die theoretische Fachbildung“. 449 Schreiben v. 8.4.1845 in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B, I 1 Nr. 40, fol. 2. 450 Vorschläge in Betreff der Zulassung ungeprüfter Gesellen zu gewissen Bau-Arbeiten aufgrund des § 46 der Gewerbe-Ordnung v. 18.11.1845, in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 40, fol. 82.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

28. Juni 1821 auf das Notwendigste beschränkt sind, so gehen sie doch weit über die bloß handwerksmäßigen Regeln und Fertigkeiten hinaus, welche der angehende Maurer oder Zimmermann auf dem Bauplatze erlernt, und die Lösung der Prüfungs-Aufgaben setzt neben der praktischen Tüchtigkeit eine der arbeitenden Klasse schwer zugängliche Ausbildung voraus, welcher gute Schulkenntnisse zur Grundlage dienen müssen“. Es waren in der Regel eben nicht schikanös übersteigerte Leistungsanforderungen, sondern der unzureichende Bildungsstand der westfälischen Handwerker, der den auch von der münsterischen Regierung lebhaft beklagten, eklatanten Mangel an geprüften Baugewerksmeistern in der Provinz verursacht hatte. Die Bemühungen um eine Qualifizierung des Nachwuchses waren in nachgerade dramatischer Weise fehlgeschlagen, und die die Möglichkeiten der Handwerker souverän missachtenden Prüfungsvorschriften hatten die Baubeflissenen in einen unlösbaren Loyalitätskonflikt mit dem Gesetzgeber gestürzt, wie das Ministerium nun erstmals selbst zugab. Hierbei handelte es sich allerdings keineswegs um ein genuin westfälisches, sondern die westlichen Provinzen insgesamt betreffendes Problem. Im Regierungsbezirk Trier zum Beispiel bestanden zwischen 1822 und 1841 nicht mehr als 3 Maurer und 3 Zimmerleute die Prüfung, ein Faktum, welches bei strenger Rechtstreue überall die schnelle Austrocknung des selbständigen Handwerks zur Folge gehabt hätte. Tabelle 22: Zahl der selbständig arbeitenden Bauhandwerker in den preußischen Provinzen451 Zimmermeister

Provinz12

Maurermeister

1822

1843

1822

1843

Preußen

1119

377

686

290

Posen

593

187

419

201

Brandenburg

369

360

262

363

Pommern

468

264

300

206

Schlesien

721

340

585

580

Sachsen

1114

656

1424

1132

Westfalen

638

1835

1734

1674

Rheinprov.

929

3106

2972

4059

St. Berlin

50

79

51

93

Der überaus verräterische Umstand, dass die Zahl der selbständigen Bauhandwerker im Westen der Monarchie unter der Herrschaft der Prüfungsvorschriften erheblich gestiegen, in den anderen Provinzen aber stark gesunken war, veranlasste endlich auch die Berliner Beamten zu der Erkenntnis, dass die Polizeibehörden in den neugewonnenen Landesteilen den selbständigen Gewerbebetrieb Ungeprüfter kei-

451 Quelle: wie Anm. 449, fol. 80.

C. Das Prüfungswesen

117

neswegs unterbanden,452 sondern die „Kontravenienten“ in amtspflichtverletzender Weise arbeiten ließen. 1845 verfügten sie deshalb eine Modifizierung der Prüfungsbestimmungen:453 Der bis dahin geforderte Nachweis, dass der Kandidat „merkwürdige“ Gebäude an Ort und Stelle kennengelernt und an fachlich besonders bedeutenden Aufgaben mitgearbeitet habe, wurde erlassen, da diese Anforderungen schon infolge der generellen Aufhebung der Wanderpflicht durch Kgl. Ordre v. 1.8.1831 obsolet geworden waren. Stattdessen schlug das Ministerium vor, von den Meisteraspiraten den Nachweis zweier Gesellenjahre zu verlangen.454 Unter dem Eindruck der lange verdrängten Tatsachen begann man in dem zuständigen Berliner Ministerium schließlich 1845 darüber nachzudenken, ob man nicht besser daran täte, die Prüfungsvorschriften im Westen aufzuheben.455 Wie sollte man auch die Übertretung von Vorschriften bestrafen, die schlechterdings nicht eingehalten werden konnten? Das Ministerium ventilierte deshalb, entweder die Prüfung für Landmeister nachhaltig zu erleichtern oder aber einen Teil der Aufträge den auf dem Lande selbständig arbeitenden Gesellen zu überlassen. Vorgeschlagen wurde endlich letztere Lösung,456 die man unter Umgehung der Prüfungsvorschriften durch § 46 der Gewerbeordnung gedeckt glaubte.457 c. Die Prüfungen nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 Das Ausbildungs- und Prüfungssystem in den Bauhandwerken, dass die Meister der anderen Sparten seiner scharfen Selektionswirkung halber für überaus nachahmenswert hielten, wurde durch die Bestimmungen der Verordnung vom 9.2.1849 wenig betroffen. § 24 dieses Gesetzes verwies lediglich auf § 45 der Gewerbeordnung aus dem Jahre 1845. Die neu eingerichteten Prüfungs-Gremien der Innungen und der Kreis-Prüfungs-Kommissionen waren demnach nicht für die Meister-, sondern nur für die Gesellenprüfung der Bauhandwerker, welche neu eingeführt wurde, zuständig. Die Meisterprüfungen für Bauhandwerker blieben weiterhin den speziellen Prüfungskommissionen in Münster, Arnsberg und Minden vorbehalten.458 Nur für das höhere Baufach wurden im Nachgang zu der Verordnung vom 9.2.1849

452 So hatte das Ministerium beispielsweise Kenntnis davon, dass in Barmen ungeprüfte Meister zahlreiche Gesellen beschäftigten und Gewerbesteuern zahlten; s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B, I 1 Nr. 40, fol. 80, 81. 453 Zirkular-Verfügung v. 8.3.1842, s. Bericht v. 8.4.1945 in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B, I 1 Nr. 40, fol. 2 RS. 454 Auf Vorschlag der Oberbaudeputation v. 5.10.1832, wie Anm. 452, fol. 4. 455 Bericht v. 18.11.1845, wie Anm. 449, fol. 82. 456 Vorschläge, wie Anm. 449, fol. 72 ff. 457 Die Vorschrift befugte die Ministerien zu bestimmen, inwieweit die einzelnen Gewerben zuzuordnenden Arbeiten auch von ungeprüften Personen ausgeführt werden durften. Sie konnten befähigte Handwerker auch von der Prüfungspflicht entbinden, s. Gewerbeordnung v. 17.1.1845, in: Preußische Gesetzessammlung 1845, Nr. 2541, S. 41 ff. 458 Verordnung der Reg. Minden v. 17.11.1849, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 23.11.1849, S. 277–278 (278).

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II. Die gewerbliche Ausbildung

einige Neuerungen eingeführt.459 So engte der Gesetzgeber die Befugnisse der Baumeister bedeutend ein. Konnte früher der Baumeistertitel durch eine einzige Prüfung vor der Oberbaudeputation erworben werden, so bestimmte § 25 des Gesetzes vom 1.8.1849 nun, dass Baumeister ihre Befähigung für sämtliche Handwerke, die sie betreiben wollten, nachweisen mussten; seither durften sie als Leiter von Bauunternehmungen die Arbeiten derjenigen Handwerke, für die sie nicht geprüft und konzessioniert waren, nur unter Heranziehung geprüfter Meister ausführen lassen. aa. Fortdauernde Missachtung der Vorschriften Ebensowenig wie die Meister- waren auch die Gesellenprüfungen im Bauhandwerk damals, wie es aber den Vorschriften entsprochen hätte, allgemein eingeführt. Ein vergleichsweise positives Exempel bot der Arnsberger Bezirk. Dort war es „Ehrensache“ der Meister geworden, dafür Sorge zu tragen, dass die Lehrlinge die Gesellenprüfung gut bestanden, wenngleich es auch im südlichen Westfalen noch Auszubildende gab, welche die Prüfungsmöglichkeiten nicht wahrnahmen bzw. denen diese versperrt blieben. Charakteristisch für jene Zeit des Aufbruchs in den frühindustriellen Verdichtungszonen Westfalens war aber der wissbegierige Nachwuchs. Aus Soest wird berichtet, dass damals selbst weit entfernt wohnende Lehrlinge weder durch schlechte Witterungsbedingungen noch durch andere Beschwernisse am Besuch der Sonntagsschule gehindert werden konnten.460 Eben weil das Netz der Fortbildungsschulen im Süden Westfalens am dichtesten geknüpft war, fanden die Prüfungsbestimmungen dort Aufmerksamkeit. In Minden dagegen wurden die Lehrlinge der Bauberufe zu Anfang der fünfziger Jahre keineswegs examiniert, was beständig zu Streitigkeiten mit Vertretern anderer Handwerkssparten, bei denen die Vorschriften über die Gesellenprüfung bereits beachtet wurden, führte.461 Auch nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 wurden die Bestimmungen über den selbständigen Gewerbebetrieb der Bauhandwerker aber wiederum nur partiell und höchst oberflächlich beachtet. Ungeprüfte Handwerker arbeiteten, wie die Regierung in Arnsberg feststellte, in durchaus unstatthafter Weise mit einer großen Zahl von Gehilfen. In der Stadt Siegen462 wurden gegen Ende des Jahres 1849 nicht weniger als 8 auf eigene Rechnung tätige Maurer und Zimmerleute ermittelt, die weder zum selbständigen Betriebe des Bau-Gewerbes noch zur Ausführung von Flickarbeiten befugt waren. Diese unqualifizierten Handwerker wurden von den 459 Vorschriften für die Ausbildung derjenigen, welche sich dem Baufache widmen, v. 1.8.1849, Ministerial-Blatt 1849, S. 198–202; Bekanntmachung über die Anorderungen, welche bei den Prüfungen der Bauführer etc. gestellt werden, v. 18.9.1849, Ministerial-Blatt 1849, S. 225–227; Bekanntmachung über das Verfahren bei der Prüfung, v. 1.12.1849, Ministerial-Blatt 1849, S. 276–280. 460 Promemoria des Bauinspektors Buchholtz aus Soest v. 15.6.1852, in GStA/PK, Rep. 120 B IV, 1 Nr. 1 adh. 1 Bd. 2, fol. 94, 94 RS. 461 S. Schreiben des Gewerberates der Stadt Minden an die Regierung Minden v. 12.3.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 795. 462 S. Schreiben an die Reg. Arnsberg v. 3.9.1849 und Stellungnahme des Landrats v. 31.10.1849, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; die Schwarz-Arbeiter wurden von den Maurermeistern der Stadt denunziert; daraufhin erhob die Polizeianwaltschaft Anklage.

C. Das Prüfungswesen

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Lokalbehörden nicht allein geduldet, sondern sogar von dem städtischen Bauamt mit größeren öffentlichen Aufträgen bedacht, die sie dann mit Hilfe mehrerer Gesellen ausführten. Der Magistrat der Stadt Wiedenbrück scheute sich damals nicht, gar den Bau einer Brücke an einen nicht geprüften Tischler zu vergeben.463 Natürlich konnten die rechtsbrüchigen Handwerker wie eh und je billiger arbeiten, da sie weder Prüfungskosten aufgewendet hatten noch Gewerbesteuern zahlten. Nur wenn nicht allein die konkurrenzgeschädigten Handwerksmeister, sondern auch die „öffentliche Meinung“ am Orte ein Einschreiten gegen die „Pfuscher“ verlangte, besannen sich die Lokalgewalten auf die gesetzlichen Bestimmungen. Typisch für diese Situation war ein spektakuläres Ereignis im Kreise Warburg. Dort, im Dorf Dössel, hatte ein ungeprüfter Zimmermann, der mit mehreren Gesellen arbeitete, ein Wohnhaus errichtet. Niemand nahm an dessen Tätigkeit Anstoß. Als der Bau fertiggestellt war, stürzte das Werk aber plötzlich in sich zusammen. Nun erst, als sich der Zorn der aufgebrachten Dorfbewohner gegen den unglücklichen Handwerker richtete, besann sich der Ortsvorsteher auf seine gesetzlichen Pflichten und konfiszierte das Handwerkszeug des dilettantischen Bautrupps.464 Die Lokalbehörden, welche die hinsichtlich der Flickbetriebe bestehenden Vorschriften nicht gehörig beachteten, wurden von den Regierungen nun immer wieder energisch aufgefordert, die Einhaltung der Normen zu kontrollieren.465 Dieses Bemühen blieb aber erfolglos, da bei vielen örtlichen Amtsträgern noch immer die erstaunlichste Unkenntnis über die doch bereits seit Jahrzehnten in Kraft befindlichen Prüfungsbestimmungen und die die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes regelnden Vorschriften herrschte;466 nicht selten unterließen es die Behördenvertreter aber auch aus persönlichen Gründen oder aus Einsicht in die Unzulänglichkeit der Regelungen, gegen die Ungeprüften einzuschreiten. Diese Duldsamkeit goutierten die etablierten Meister natürlich nicht. Einem Amtmann im ostwestfälischen Bünde, der die Schwarzarbeit der Zimmergesellen offen tolerierte, wurde bezeichnenderweise unterstellt, er ziehe persönliche Vorteile aus der Unterstützung des rechtswidrigen Verhaltens.467 Wirklich machtlos waren die Behörden auch in den fünfziger Jahren noch immer gegen das traditionelle, schon zur Zunftzeit im Bauhandwerk weit verbreitete und in den zwanziger Jahren in Westfalen wiederbelebte Vertragssystem zur Umgehung der Bestimmungen über den unbefugten Gewerbebetrieb, das, wie bereits er463 Hier schritt die Regierung auf die Anzeige eines Baumeisters vom 2.10.1849 noch nicht ein, da ein Gewerberat nicht vorhanden und die Abgrenzung der Arbeitsbefugnisse auf dem Verordnungswege noch nicht erfolgt war; s. STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 464 Schreiben des Landrats des Krs. Warburg an die Reg. Minden v. 16.5.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 465 Schreiben der Reg. Arnsberg an sämtliche Polizeibehörden v. 2.12.1849, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; Schreiben des Zimmermeisters Rosenbaum v. 10.5.1852 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 466 S. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 25.11.1852 an den Landrat des Krs. Iserlohn, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 467 So Schreiben des Zimmermeisters Rullkötter aus Ennigloh an die Regierung v. 19.12.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794; auch dem Landrat des Krs. Siegen wurde vorgeworfen, bei Verstößen nichts zu unternehmen.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

wähnt, überall in gleicher Weise üblich war. Der Meister, der den „Meistergroschen“ erhalten hatte, überwachte den angeblich übernommenen Bau in der Regel aber in keiner Weise. Manchmal erfuhr er erst hinterher, wo der Geselle Aufträge ausgeführt hatte. Allenfalls machte er von Zeit zu Zeit eine Rundreise zu den verschiedenen Baustellen, um die Meistergroschen einzuziehen. Vor allem Unbefähigte und deshalb wenig gesuchte Meister verschafften sich auf diesem arbeitslosen Wege wie eh und je „reichlichen Erwerb“, wie das hilflos zusehende Ministerium grollend feststellte.468 Der unbefriedigende Zustand dieser noch immer weitgehenden Umgehung und Missachtung der Prüfungsbestimmungen im Bauhandwerk hatte neben den bereits genannten noch weitere Gründe: Viele Gesellen, die sich zur Meisterprüfung gemeldet hatten, wurden jahrelang vertröstet und hingehalten, bis endlich das ohnehin langwierige und umständliche Prüfungsverfahren in Gang kam.469 Hinderlicher noch war, dass die Prüfungsanforderungen z. T. ganz unrealistisch und wirklichkeitsfremd waren – ein Missstand, der schon die Meisterprüfung zur Zunftzeit gekennzeichnet hatte. So konnten beispielsweise die Gesellen des Steinhauergewerbes in Westfalen nicht geprüft werden, da die 1833 erlassenen Ausführungsbestimmungen Kenntnisse verlangten, die nur bei qualifizierten Steinmetzen vorausgesetzt werden durften.470 Einem höheren Anspruchsniveau genügende Vertreter dieser Berufssparte waren aber in der Provinz gar nicht anzutreffen.471 Die Unkenntnis über die wirklichen Verhältnisse, welche die Ministerialbürokratie jedenfalls in Detailfragen immer wieder erkennen ließ, hatte im konkreten Fall zur Folge, dass von den westfälischen Steinhauern in der Prüfung Fertigkeiten verlangt werden sollten, die in ihrer Berufspraxis nicht erforderlich waren und deshalb auch von 468 Die selbständige Ausführung von Bauten durch Gesellen war nicht nur in Preußen, sondern auch in anderen deutschen Ländern, in denen keine Gewerbefreiheit herrschte, eingeführte Praxis; bzgl. Bremen vgl. Böhmert (1858), S. 375; in Bremen war auch das Ausstellen von Meisterscheinen üblich. Auf diese Weise wurden dort in den fünfziger Jahren angeblich zwei Drittel aller Bauten durch Gesellen ausgeführt; s. Böhmert (1858), S. 376. Die Meister, die sich zur Umgehung der Bestimmungen bereit fanden, waren in Westfalen in der Regel solche, die schon vor 1821 selbständig gearbeitet und daher keine Prüfung abgelegt hatten. Andere Meister nutzten die Situation aus, indem sie selbständig arbeitenden Gesellen mit Denunziation drohten, selbst den Auftrag übernahmen und dann dem Gesellen, der die Arbeit ausführte, nur wenig Lohn zahlten, während sie selbst den Bauherren das Doppelte berechneten; s. Pro Memoria des Bauinspektors Buchholtz v. 15.6.1852, in: GStA/PK, Rep. 120 B IV, 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 2, fol. 93. Zugleich stellte der Soester Buchholtz allerdings fest, dass die selbständige, durch die Zahlung des Meistergroschens ermöglichte Arbeit der Gesellen in seinem Bezirk zurückgegangen sei, da die Behörden schärfer eingegriffen hätten und solchen „Scheinverhältnissen auf den Grund zu kommen“ wüssten; s. Pro Memoria des Soester Bauinspektors, a. a. O., fol. 93 RS. Vielleicht wollte Buchholtz aber auch nur darauf hinweisen, dass er seinen Amtspflichten nachkam. 469 S. Gutachten der Regierung Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 470 S. Prüfungs-Instruktion für Steinhauer v. 14.8.1833, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg 1834, S. 164. 471 So gab es im gesamten Regierungsbezirk Arnsberg 1851 nur einen einzigen Steinmetzmeister, der nach dem Urteil des Bauinspektors Buchholtz sein Geschäft verstand, und zwar in Rüthen; s. Bericht des Bauinspektors Buchholtz an die Reg. Arnsberg v. 6.11.1851, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1, Bd. 4, fol. 60.

C. Das Prüfungswesen

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dem handwerklichen Nachwuchs nicht erlernt werden konnten.472Hier zeigte sich einmal mehr, wie wenig der preußische Gesetzgeber auch noch in den fünfziger Jahren, viele Jahrzehnte nach dem Wiedererwerb und der Arrondierung der Westprovinzen, mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten dieser Gebiete vertraut war. Den Westfalen blieb daher noch immer nichts anderes übrig, als die unpassenden Bestimmungen zu ignorieren. Damit war das Problem aber nicht gelöst. Denn wenn sich auch ein Teil der lokalen Amtsträger um die Rechtslage nicht scherte, gab es doch auch andere Polizeibehörden, die nur den Wortlaut der Vorschriften kannten, auf deren praktische Durchführbarkeit aber keinen Gedanken verschwendeten und ungeprüfte Steinhauer wegen Verstoßes gegen die Prüfungsbestimmungen nach § 45 der Gewerbeordnung bestraften, obgleich auch sie, die zuständigen Lokalbehörden, ja nicht einmal wussten, nach welchen Vorschriften die Prüfungen abgelegt werden sollten.473 Auch in den anderen Bauberufen waren es die unverändert erheblichen Leistungsansprüche, die dem Erfolg des gesetzgeberischen Willens im Wege standen. Während damals in den anderen Handwerksberufen über zu geringe Anforderungen in den Prüfungen geklagt wurde, war das Anspruchsniveau beim Bauhandwerkerexamen auch in den fünfziger Jahren noch immer so hoch, dass die meisten Gesellen sich nicht zur Meisterprüfung meldeten. Hieran änderte auch der außerordentliche Aufschwung des gewerblichen Schulwesens nach 1848 nichts, da die theoretische Berufsbildung sich damals noch nicht flächendeckend durchsetzen konnte und, wie gezeigt, in den Regierungsbezirken Münster und Minden nur ein kleiner 472 S. Schreiben des Handelsministers an die Regierung v. 7.6.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; auch in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1, Nr. 12 adh.; desgl. Schreiben der Prüfungskommission für Bauhandwerker in Siegen v. 20.10.1851 an die Reg. Arnsberg sowie Stellungnahme der Reg. Minden v. 26.11.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 791. In Westfalen bestand kein Bedarf an qualifizierten Steinhauern. Die Regierung in Minden hatte dem Ministerium schon 1833 mitgeteilt, dass im dortigen Bezirk nur sehr wenige Bauwerke aus steinernen Werkstücken errichtet würden; daraufhin hatte sich der Staatsrat Beuth mit dem Verzicht auf die Bestellung einer Prüfungskommission in Ostwestfalen einverstanden erklärt; s. Schreiben v. 15.10. und 29.10.1833, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 12, Bd. 1. Geringe Qualifikation war schon im 17. Jahrhundert typisch für das westfälische Steinhauergewerbe gewesen. Die Angehörigen dieses Handwerks wurden damals außerhalb Westfalens nicht für befähigt erachtet und deshalb auch nicht als redlich anerkannt. Die Folge war, dass sie sich, wollten sie sich außerhalb des Landes niederlassen, in die Zunft gegen Geld einkaufen mussten, während fremde Gesellen, die sich in Westfalen etablieren wollten, ohne solche Hindernisse Aufnahme fanden. Um den sozialen Status der Steinhauer im Hzgt. Westfalen zu heben, hatte Kurfürst Maximilian Heinrich das Maurer-, Steinsetzer- und Steinhauerhandwerk im Herzogtum Westfalen mit einem Zunftprivileg v. 30.6.1683 begabt; s. Bericht des Bauinspektors Buchholtz in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 2. 473 S. Schreiben des Bürgermeisters von Hattingen an den Landrat in Bochum v. 10.9.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 2. Um den unhaltbaren Zustand zu beenden, verwies die Regierung schließlich auf die Bestimmungen für die Gesellen-Prüfung, die notfalls auch bei der Ablegung der Meister-Prüfung herangezogen werden sollten; s. Antwort der Regierung auf das Schreiben des Magistrats der Stadt Soest v. 15.6.1853, in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 2.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Teil des Handwerkernachwuchses durch diese Schulen ging.474 Da die meisten Bauhandwerksgesellen auch in der Rheinprovinz den Prüfungsanforderungen nicht genügten,475 beschloss die Regierung in Köln 1851 sogar, für bewährte Gesellen der Bauberufe eine erleichterte Werkmeisterprüfung einzuführen, und auch in Westfalen hoffte man auf eine ähnliche Regelung. Wegen der fehlenden gesetzlichen Grundlage wurde das Vorhaben aber durch das Berliner Ministerium untersagt. Um den Leistungsnachweis im Bauhandwerk überhaupt noch zu retten, ließ auch die Regierung in Arnsberg dennoch aber solche „Ausnahme-Prüfungen“, bei denen das Alter des Prüflings, die praktische Erfahrung und tatsächliche Selbständigkeit berücksichtigt wurden, durchführen.476 Doch nicht nur an hinreichend leistungsfähigen Kandidaten mangelte es. Auch nach der Jahrhundertmitte fehlten in den Bauberufen wie eh und je geeignete Mitglieder der Prüfungskommissionen. Der Bauinspektor aus Arnsberg berichtete im Jahre 1851, die Prüfung laste „hierorts lediglich und allein auf dem Baubeamten“, da die der Kommission angehörenden Meister nur „äußerst dürftig befähigt“ seien, ja sogar die einfachsten Elementarkenntnisse vermissen ließen und ihre Mitwirkung an dem Verfahren auf stumme Teilnahme beschränkten, „sofern nicht die Wirkung des Trunkes zuweilen ein anderes herbeiführte“.477 Und der Landrat des Kreises Meschede musste 1852 konstatieren, in seinem gesamten Kreis besitze nicht einmal ein einziger Bauhandwerksmeister diejenigen theoretischen Kenntnisse, die von einem Gesellen in der Meisterprüfung verlangt würden.478 Allerdings trug nicht nur dieser unbestreitbare, noch immer fortdauernde Mangel der beruflichen Qualifikation der Meister an der unzureichenden Personaldecke der Prüfungskommissionen die Schuld, wie es die Baubeamten glauben machen wollten. Die Handwerker drängten sich auch deshalb nicht zur Mitarbeit in den Gremien, weil auch nach dem Erlass handwerksfreundlicher Normen ein unverändert hohes Maß an Selbstlosigkeit von einem solchen Prüfer verlangt wurde: Er hatte in den fünfziger Jahren ohne nennenswerte Bezahlung479 drei Wochen am Prüfungsort zuzubringen und bei der 474 S. dazu Kap. „Die theoretische Fachbildung“. 475 Von den 60 Kandidaten, die sich im November 1851 in Siegen im Prüfungsverfahren für die Meister-Prüfung in den Bauhandwerken befanden, waren 13 bereits einmal in der mündlichen Prüfung und 4 bei der Anfertigung der Probearbeiten durchgefallen; s. Schreiben v. 19.9.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; und 1850 hatte in Arnsberg nach achttägiger permanenter Prüfung nur ein einziger der Kandidaten die Prüfung als Bauhandwerker bestanden; s. Schreiben des Bauinspektors Kronenberg an die Reg. Arnsberg v. 3.2.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 476 S. Stellungnahme der Reg. Arnsberg v. 1.4.1852, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2796. 477 So Schreiben des Bauinspektors zu Arnsberg an die Reg. Arnsberg v. 3.2.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 2. Das Fehlen hinreichender theoretischer Kenntnisse war nicht verwunderlich, da die Knaben nicht selten schon mit 11 Jahren des Sommers als Maurerjungen mitgenommen wurden, vgl. Schilderung des Maurers Stephan Maes aus Oberhundem v. 15.2.1852, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2796. 478 S. Schreiben des Landrats des Krs. Meschede an die Reg. Arnsberg v. 14.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 479 Es wurde üblich, dass die Mitglieder der Kreisprüfungskommissionen auf die einkommenden Prüfungsgebühren zu Gunsten der Handwerker-Fortbildungsschulen verzichteten; s. Bekanntmachung v. 4.10.1855, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 13.10.1855, S. 414.

C. Das Prüfungswesen

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Prüfung von etwa 40 Kandidaten mitzuwirken.480 Dass sich zu einer solchen Aufgabe niemand gern herbeiließ, versteht sich von selbst. So konnte es nicht verwundern, dass die speziellen Prüfungskommissionen für Bauhandwerker noch nach der Jahrhundertmitte nirgends in Westfalen befriedigend organisiert waren. Die Regierung in Minden wollte deshalb im Jahre 1852 die für die übrigen Handwerke zuständigen Kreisprüfungskommissionen personell so ausstatten, dass dort auch die Bauhandwerker examiniert werden konnten.481 Unter dem Eindruck dieser Bestrebungen zog das Ministerium noch im selben Jahr die Summe aus den bisherigen Erfahrungen mit den Bauhandwerksprüfungen und stellte erstmals selbstkritisch fest, dass die Folgen des Auseinanderklaffens von Rechtsvorschriften, den tatsächlichen Gegebenheiten und den Bedürfnissen des Marktes für das Wirtschaftsleben nur schwer erträglich seien. Trotz vermehrter Bautätigkeit und steigender Bevölkerungsdichte hatte die Zahl der Meister kontinuierlich abgenommen.482 Nicht nur der Mangel an geprüften Handwerkern,483 sondern ebenso das Fehlen der dringend benötigten qualifizierten Gesellen, insbesondere in den kleinen Städten und auf dem Lande, galt als „notorisch bekannt“.484 Auch in den größeren Städten der Provinz waren die Kapazitäten der wenigen leis480 Schreiben des Bauinspektors zu Arnsberg v. 27.11.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 481 Bekanntmachung der Reg. Minden v. 12.8.1852, in: Amtsblatt der Reg. Minden, Jahrg. 1852, S. 296. 482 S. Bemerkungen zu den Entwürfen der Verordnungen über den Betrieb der Bauhandwerke, Berlin 1852 (gedruckt), in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 483 S. Schreiben des Landrats des Krs. Lippstadt v. 19.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 484 Bzgl. der Landgemeinden: Vgl. z. B. Schreiben des Gemeindevorstehers der Gemeinde Halver v. 19.9.1851 an den Landrat des Krs. Altena, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; bzgl. der Situation in den Städten: S. Schreiben der Lippstädter Bauhandwerker an den Landrat v. 16.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. Naturgemäß wurde der Mangel an Meistern von diesen selbst heftig bestritten; so behaupteten die Lippstädter Bauhandwerker, sie müssten sich aus Mangel an Arbeit mit „Ackerbau und kleinem Holzhandel“ befassen; s. Stellungnahme der Bauhandwerker der Stadt Lippstadt v. 16.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1: „… denn hat wirklich ein Meister das Glück, die Ausführung irgendeines Baues in Auftrag zu bekommen, so geht sofort die zweite Noth, die Beschaffung der Handwerksgesellen los, und ist der Meister in den letzten Jahren wahrlich genötigt worden, die Gesellen wie ein rohes Ei zu behandeln und Tadel sehr vorsichtig auszusprechen, damit der Herr Geselle nur ja die Gewogenheit behalten möchten, die Arbeit nicht zu verlassen …“. Ebenso weisen auch die Bauhandwerksmeister des Kreises Hamm mit Schreiben v. 24. und 25.4.1852 darauf hin, es gebe nicht, wie in den Entwürfen behauptet werde, zu wenige Meister und zu viele Gesellen; vielmehr sei das Gegenteil der Fall; s. Gutachten der Bauhandwerksmeister des Krs. Hamm v. 25.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. Der Arbeitskräftemangel dürfte auf die Abwanderung der Gesellen in das benachbarte Ruhrgebiet zurückzuführen gewesen sein. Über die Ausbildung und die Fachkenntnisse der Gesellen äußerten sich die Meister folgendermaßen: „Übrigens sind die Zimmergesellen in dieser Gegend gar nicht zu haben, wohl aber Zimmermeisterknechte, die, weil sie die Jahre hindurch bei einem Zimmermeister Kartoffeln gesät und ausgenommen und Korn und Gerste gemäht, auch wohl zufällig einmal ein Stück Holz aufgeladen oder im Sitzen beschlagen haben und im Winter Brennholz für den Meister hauten, den Lohntitel „Zimmergeselle“ erhielten …; s. Stellungnahme der Bauhandwerker der Stadt Lippstadt v. 16.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

tungsfähigen Bauhandwerksbetriebe längst erschöpft.485 Die beträchtliche Lücke konnte noch immer nur dadurch notdürftig geschlossen werden, dass während der Sommermonate zahlreiche lippische Bauhandwerker im preußischen Westfalen arbeiteten. Dass die Ursache dieser ungewollten Entwicklung in den Prüfungsvorschriften liegen musste, wurde nun nicht länger bestritten. Während die Zahl der Handwerksmeister insgesamt beständig wuchs, blieben die Bauberufe von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Bezeichnend ist auch, dass die Anzahl der Dachdeckermeister, die nur eine leichte Prüfung abzulegen hatten, zunahm. Die Prüfungsvorschriften des Jahres 1821 setzten eben ein Maß an Allgemeinbildung und fachlicher Qualifikation voraus, dass damals in Westfalen nicht vorhanden war und sich auch nicht binnen weniger Jahre oder Jahrzehnte erreichen ließ. bb. Reformversuche des Gesetzgebers Nachdem die aus diesen Widersprüchen resultierenden Verhältnisse immer unhaltbarer zu werden drohten, arbeitete man im Handels- und Gewerbeministerium 1852 neue Verordnungen über den Betrieb der Baugewerbe und die Prüfung der Bauhandwerker aus und legte diese noch im selben Jahr den Gewerberäten zur Stellungnahme vor.486 Die generelle Erleichterung der Prüfung schien der einzig gangbare Weg zu sein, um die dringend notwendige Erhöhung der Zahl der Bauhandwerksmeister zu erreichen. Denn die damals noch denkbare Differenzierung der Leistungsanforderungen nach Stadt- bzw. Landmeistern verbot sich von selbst, da sie sich mit der Gewerbeordnung von 1845 nicht vereinbaren ließ. Die Entwürfe sahen daher folgerichtig vor, das Anspruchsniveau in der Prüfung bedeutend zu senken. Theoretischen Fachkenntnissen und der Allgemeinbildung sollte nur noch eine geringe Bedeutung für das Bestehen des Examens zukommen. Praktische Fähigkeiten sollten genügen, um die Bauhandwerke selbständig ausüben zu können. Wer zehn Jahre als Geselle gearbeitet hatte, konnte nach den Planungen auch ohne theoretische Kenntnisse die Prüfung bestehen. Die Arbeitsbefugnisse der Flickarbeiter sollten, diesem praxisbezogenen Ansatz folgend, bedeutend erweitert werden; selbst ungeprüften Arbeitern wollte man die selbständige Ausführung zahlreicher, bisher nur Meistern vorbehaltener Bauarbeiten überlassen. Um die als besonderen Übelstand empfundenen unterschiedlichen Anforderungen in den Prüfungen künftig zu vermeiden, sollten die zulässigen Prüfungsaufgaben genauer als in den Instruktionen aus dem Jahre 1821 beschrieben werden. Zugleich legte das Ministerium den Entwurf einer „Verordnung zur Verhütung des selbständigen Betriebes der Bauhandwerker durch Personen, welche dazu nicht befugt sind“, vor. Ein Anzeige- und Genehmigungssystem sollte die Ausführung von Bauten durch gänzlich Unqualifizierte verhindern. Die Erteilung von Meisterscheinen gegen Zahlung des „Meistergroschens“ sollte hingegen nunmehr legali-

485 S. Stellungnahme der Reg. Arnsberg zum Entwurf der neuen Prüfungsbestimmungen in den Bauhandwerken v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 486 Der Abdruck der Texte findet sich in STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2.

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siert werden.487 Der Gesetzgeber wollte sich offenbar in das Unvermeidliche schicken und die selbständige Ausführung von Aufträgen durch Gesellen, die zu verhindern ihm doch schon so lange unmöglich war, nicht länger mit Strafe bedrohen. Die Stellungnahmen zu diesem Entwurf fielen ganz unterschiedlich aus. Während die etablierten, von den bestehenden Regelungen profitierenden Bauhandwerksmeister die Erleichterung der Prüfungen, die erweiterten Arbeitsbefugnisse der Flickarbeiter und die Ausführung von Bauarbeiten durch ganz unqualifizierte Arbeiter vehement ablehnten,488 stimmten die Gesellen den Entwürfen naturgemäß „freudig“ zu.489 Die Meinungen der Gewerberäte, in denen damals noch Meister und Gesellen gemeinsam vertreten waren, gingen in dieser Frage weit auseinander.490 Der jeweilige Tenor der Stellungnahme hing davon ab, ob diese vom gesamten Gewerberat verfasst worden war oder nur die Auffassung des Meisterausschusses widerspiegelte. Die Geister schieden sich nicht nur an der vorgesehenen Verringerung der Prüfungsanforderungen, sondern vor allem an einer Bestimmung, die vorsah, dass zahlreiche Arbeiten, die bis dahin nur von geprüften Meistern ausgeführt werden durften, künftig von jedermann, also auch von Ungeprüften, erledigt werden konnten. Denn damit wäre erstmals in die Substanz der Verordnung vom 9.2.1849 eingegriffen worden. Die Bauhandwerksmeister erkannten sofort, dass dies der Beginn einer Entwicklung sein konnte, an deren Ende die Sonderstellung, die ihnen auf Grund der speziellen Schadensgeneigtheit ihrer Tätigkeit schon frühzeitig eingeräumt worden war, beseitigt sein würde.491 Wenn Handwerksarbeit wieder zur Ta487 S. Bemerkungen zu den Entwürfen der Verordnungen über den Betrieb der Bauhandwerke, Berlin 1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 488 Stellungnahme der Maurer- und Zimmermeister der Stadt Minden v. 10.3.1852, in: Centralblatt der Handwerkervereine …, S. 60, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; desgl. Stellungnahme aus Schwelm, a. a. O., S. 61; Gutachten der Bauhandwerksmeister des Krs. Hamm v. 25.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; s. dazu auch Stellungnahme der Regierung Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; Petition der Bauhandwerker des Krs. Hagen v. 16.5.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 489 S. Stellungnahme des Gewerberates der Stadt Minden v. 29.3.1852, in: Centralblatt der Handwerkervereine …, S. 60, 61, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; s. auch Stellungnahme des Landrats des Krs. Siegen v. 26.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 490 Die Gewerberäte in Minden (Stellungnahme v. 29.3.1852, in: Centralblatt der Handwerkervereine …, S. 60, 61, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2), Hagen (Stellungnahme v. 24.5.1852, a. a. O.) und Altena (Stellungnahme v. 23.2.1852, a. a. O.) teilten die Auffassung der Gesellen, während diejenigen in Münster, Siegen und Hamm auf der Beibehaltung der selektiven Prüfung beharrten; s. Centralblatt für den Handwerkerverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen Nr. 14, 4. Jahrg., 1852, Münster v. 3.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; desgl. Gutachten der Bauhandwerksmeister des Krs. Hagen v. 16.5.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; desgl. Ausschuss des Gewerberates Hamm v. 18.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; desgl. Gewerberat der Stadt Siegen v. 20.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. Zur Begründung wurde ausgeführt: Den Meistern verbliebe, wenn die Reform durchgesetzt würde, nur noch die Erstellung von Neubauten, da die Flickarbeiter, die keine Kosten auf die Ausbildung verwenden müssten, billiger arbeiten könnten. Die Entwürfe der Regierung machten die Flickarbeiter zu reinen Tagelöhnern. 491 Hier seien einige Beispiele für die Auffassung der Meister genannt: Centralblatt für den Handwerkerverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen, Jahrg. 1852, v. 3.4.1852, 4. Jahrg.,

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gelöhnerarbeit wurde, konnte, so argwöhnten sie mit dem wachen Instinkt des Bedrohten, die schrankenlose Gewerbefreiheit nicht mehr fern sein. Daher beklagten sie laut und mit dem den Gewerbeleuten damals eigenen Pathos den „vollständigen Ruin“ ihrer Existenz und die ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber den anderen Handwerkern, denen der „wohltätige Schutz“ der Verordnung vom 9.2.1849 erhalten bleiben sollte.492 Die Regierung in Arnsberg folgte der Argumentation der Meister und bestritt in ihrer Stellungnahme zu dem Entwurf rundheraus die Prämisse, von der das Ministerium ausgegangen war: Sie analysierte die Situation des gewerblichen Bildungswesens in ihrem Bezirk und kam zu dem Schluss, dass sich der Bildungsstand der Gesellen bereits ganz ungemein gehoben habe.493 Die Elementarbildung durch die Volksschule sei verbessert worden; höhere und mittlere Bürgerschulen, drei Gewerbeschulen sowie dreißig Handwerkerfortbildungsschulen in ihrem Bezirk schüfen günstige Bedingungen für die theoretische Ausbildung der Bauhandwerker. Deshalb sei davon auszugehen, dass in naher Zukunft genü-

Nr. 14, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2 (betr. Münster); Ausschuss des Gewerberates in Hamm v. 18.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; Gewerberat der Stadt Siegen v. 20.4.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 492 S. z. B. Petition der Bauhandwerker des Krs. Hagen zu den Entwürfen der neuen Prozessordnungen v. 16.5.1852; der Gewerberat des Krs. Iserlohn schlug u. a. vor, dass die Flickarbeiter auch in Zukunft wenigstens die Gesellenprüfung ablegen sollten; s. STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 19 Bd. 2. Die Argumente der Meister sind besonders ausführlich dargestellt in der Denkschrift der Bauhandwerksmeister des Reg.-Bezirks Arnsberg vom Juni 1852, in: GStA/PK, Ministerium f. Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1, adh. 2, Bd. 2, fol. 228–240 RS. 493 S. Stellungnahme der Regierung Arnsberg zum Entwurf der neuen Prüfungsbestimmungen in den Bauhandwerken v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. Die Meister des Rgbz. Arnsberg wiesen darauf hin, dass das Bildungsangebot der Gewerbeschulen auch gebildete junge Leute veranlasse, den Beruf eines Bauhandwerkers zu ergreifen; s. Denkschrift der Bauhandwerksmeister des Rgbz. Arnsberg, wie Anm. 492, fol. 231 RS. Die Prüfungsregelungen der Verordnung v. 9.2.1849 trügen den gestiegenen geistigen Ansprüchen der Zeit Rechnung. Für die Bauhandwerker sei wissenschaftliche Bildung vonnöten, damit sie sich gegenüber den anderen Handwerkern behaupten könnten. Diese würde den Bildungswilligen auch geboten; s. Vorschläge der Zimmer- und Maurermeister des Krs. Hagen zu den Entwürfen für eine neue Prüfungsordnung v. 16.5.1852, in: GStA/PK, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 2, fol. 80. Im Gegensatz dazu erschien die Zeit der vollständigen Gewerbefreiheit unter der Fremdherrschaft nunmehr als Schreckensbild: „Mit ihr (der schrankenlosen Gewerbefreiheit, G. D.) wurden sämtliche Handwerke ruiniert. An gehörige Lehrlings- und Gesellenzeit wurde nicht gedacht. Die Conkurrenz drückte die Preise, das Publicum folgte dem pecuniären Vortheile, ohne Rücksicht auf die Qualität der Arbeit, welche es auch bei größeren Bauten nicht zu beurtheilen im Stande war. Die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit drückten alle Gewerblichkeit nieder. Jedermann scheute irgend bauliche Anlagen zu machen, der äußerst einfachen Lebensweise wurden weitere Einschränkungen gebothen, und so fehlte es vornehmlich den Bauhandwerkern an Arbeit. Jene klägliche Zeit hatte die Handwerksverhältnisse so vollständig zerrüttet, dass kurz nach den Freiheitskriegen kaum ein Meister zu finden war, welcher irgend redenswertes Vermögen besessen hätte. Kein etwas Bemittelter ergriff ein Handwerk …“; so der Bauinspektor Buchholtz aus Arnsberg, Schreiben v. 6.11.1851, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B IV 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 2, fol. 66 RS.

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C. Das Prüfungswesen

gend qualifizierte Bauhandwerksmeister zur Verfügung stünden.494 Dies zeige auch die positive Entwicklung der Zahl der Absolventen der Meisterprüfung im Regierungsbezirk Arnsberg ganz deutlich: Tabelle 23: Zahl der Meisterprüfungen im Baugewerbe im Rgbz. Arnsberg 1840–1852 1840:

12

1841:

15

1842:

11

1843:

18

1844:

10

1845:

12

1846:

14

1847:

12

1848:

6

1849:

35

1850:

14

1852:

46

Die starke Zunahme der Zahl der Meisterprüfungen seit 1849 sei unverkennbar.495 Das Bildungsniveau des Handwerkernachwuchses werde sich wegen des sich allmählich verbessernden Schulwesens auch in Zukunft weiter heben; deshalb sei eine Fixierung der Prüfungsanforderungen, wie sie der Entwurf vorsehe, unklug; sie verhindere die stetige, organische Anpassung der Prüfungsaufgaben an die steigende Leistungsfähigkeit der Kandidaten, sei also geradezu kontraproduktiv. Die Reduzierung der Anforderungen werde, so fürchtete die Arnsberger Behörde in Übereinstimung mit den Bauhandwerksmeistern ihres Bezirks,496 auf den mühsam geweckten Leistungswillen der Gesellen dämpfend wirken. Eben diesen doch gerade unerwünschten Effekt zeitige auch die vorgesehene Erweiterung der Arbeitsbefugnisse der ungeprüften Flickarbeiter im Baugewerbe. Den Meistern bleibe, sollte der Entwurf geltendes Recht werden, nur noch die Erstellung von Neubauten, die doch den bei weitem geringsten Teil des Bauvolumens ausmache. Um die Qua494 Die Meister suchten 1852 nachzuweisen, dass es sowohl in den Städten als auch auf dem Lande einen Überschuss an Bauhandwerksmeistern gebe; s. Denkschrift der Meister des Rgbz. Arnsberg, 1852, wie Anm. 492, fol. 234. 495 Wegen des großen Andrangs zur Meisterprüfung, der wohl nicht zuletzt durch den plötzlichen Aufschwung der Industrie um 1850 ausgelöst worden war, musste man im Rgbz. Arnsberg an die Errichtung einer vierten Prüfungskommission neben den bestehenden in Arnsberg, Siegen und Soest denken; s. Schreiben des Bauinspektors in Soest v. 21.11.1851 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; desgl. Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an die Reg. Arnsberg v. 19.11.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 496 So auch Denkschrift der Bauhandwerksmeister des Rgbz. Arnsberg 1852, wie Anm. 492, fol. 231 RS.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

lität der Bauleistungen zu gewährleisten, sprach sich die Arnsberger Regierung daher gegen die geplante Aufwertung der sog. Flickarbeit aus.497 Mit ihren kritischen Bemerkungen nahm die Behörde unmittelbar auf die Erfolge des vergleichsweise fortgeschrittenen gewerblichen Bildungssystems in ihrem Bezirk Bezug. Die nach 1848 in der Tat stark angestiegene Anzahl der erfolgreich bestandenen Meisterexamen in Südwestfalen schien ihr Recht zu geben. Doch stand sie mit ihrer Argumentation, die sie offenkundig der Denkschrift der Bauhandwerksmeister des Arnsberger Bezirks vom Juni 1852 entlehnt hatte,498 in Westfalen weitgehend allein da; in den anderen Regionen der Provinz befand sich das Bildungsniveau der Bauhandwerker wegen des Mangels an Fortbildungsschulen bei weitem nicht auf dem Stand, den die „klassische“ Gewerberegion des südlichen Westfalens dank der intensiven Bemühungen der Arnsberger Regierung erreicht hatte. Im Münsterland stellte man sogar fest, die strengen Leistungsanforderungen an die Bauhandwerker zeitigten „die schlimmsten“ Folgen, da der Mangel an Meistern dort insbesondere auf dem Lande dramatische Formen anzunehmen drohe.499 Die Regierung in der Provinzhauptstadt begrüßte denn auch folgerichtig die Pläne zur Reform der Prüfungsvorschriften. Sie wünschte dezidiert eine Abkürzung des Verfahrens, die Konkretisierung der Aufgaben, Erleichterung der Prüfungsanforderungen und Bevorzugung der praktisch erfahrenen Poliere in der Prüfung.500 Allerdings solle die Ausführung kleiner Neubauten und Reparaturarbeiten nicht, wie der Entwurf es vorsehe, freigegeben werden, da dies die Niederlassung geprüfter Meister auf dem Lande und in kleineren Städten fast völlig verhindere. Wider Erwarten beeindruckte das so ganz widersprüchliche Echo auf den Gesetzentwurf das Minis-

497 S. Stellungnahme der Reg. Arnsberg v. 4.12.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. Die Auffassung der Reg. Arnsberg in dieser Frage dürfte maßgeblich durch eine Denkschrift des dortigen Bauinspektors Buchholtz bestimmt gewesen sein. Dieser hatte u. a. darauf hingewiesen, dass der „gewöhnliche Bürger und Landbewohner“ bei seinen Bauvorhaben nicht die Dienste eines Baumeisters, also eines Architekten, in Anspruch nehme, sondern den Handwerkern auch die Erstellung der Zeichnung überließe, die dann nicht eigens bestellt würde. Die bloße Tagelohnarbeit der Bauhandwerker schwinde dagegen mehr und mehr; s. Pro Memoria des Bauinspektors Buchholtz, Soest, v. 15.6.1852, in: GStA/PK, Rep. 120 B IV, 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 2, fol. 96. Diese Argumente für höhere Prüfungsanforderungen waren in der Tat überzeugend. 498 Die Meister des Rgbz. Arnsberg verlangten eine entscheidende Verschärfung der Prüfungsvorschriften. So forderten sie u. a., dass die Kandidaten während ihrer Ausbildung bei der Ausführung besonders anspruchsvoller Bauten mitgewirkt haben sollten, was nicht weniger als die Wiedereinführung einer beschränkten Wanderpflicht bedeutete. Die Prüflinge sollten auch Pläne und Kostenanschläge erstellen und besondere Fertigkeiten im Rechnen nachweisen. Prüfungserleichterungen für solche Gesellen, die bereits seit langer Zeit im Bauhandwerk tätig waren, lehnten sie kategorisch ab; s. Denkschrift der Bauhandwerksmeister der Rgbz. Arnsberg, 1852, wie Anm. 492. 499 S. Schreiben des Bürgermeisters von Hoetmar vom 13.10.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438 Bd. 1. So auch Bericht der Reg. Münster v. 16.7.1852, in: GStA/PK, 120 B IV, 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 1, fol. 126 RS. 500 Bericht der Reg. Münster v. 16.7.1852, in: GStA/PK, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1, adh. 1, Bd. 1, fol. 126.

C. Das Prüfungswesen

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terium; das Vorhaben, die Prüfungsbestimmungen für Bauhandwerker neu – und großzügiger – zu fassen, wurde vorerst zu den Akten gelegt. Die Behörden begnügten sich stattdessen in traditioneller Manier damit, die Bestimmungen über die Zulassung zum selbständigen Gewerbebetrieb wieder und wieder einzuschärfen und auch besonders auf die neue Handhabe, die § 20 des Gesetzes über die Polizeiverwaltung aus dem Jahre 1850 in Verbindung mit § 74 der Verordnung vom 9.2.1849 bei Zuwiderhandlungen bot, hinzuweisen. Immerhin bemühte man sich seither nachdrücklich, die technische Abwicklung der Prüfungen effizienter zu gestalten. Da im Regierungsbezirk Arnsberg nur drei Prüfungskommissionen für Bauhandwerker in Arnsberg, Soest und Siegen bestanden, waren die Kandidaten aber noch immer durch weite Anreisewege beschwert. Auch verzögerte sich die Begutachtung der sog. Meisterbauten in unzumutbarer Weise.501 1857 war dieses Problem durch die Neugründung von Kommissionen in Bochum und Iserlohn zwar gelöst.502 Die übrigen Missstände waren aber nicht beseitigt, die angedrohten Zwangsmaßregeln wirkungslos geblieben. Noch 1856 wurde berichtet, die Erteilung von Meisterscheinen und die Zahlung des Meistergroschens seien allgemein üblich.503 Die Behörden hofften, indem sie dieses überkommene System weiterhin duldeten, vielleicht wenigstens eine gewisse Kontrolle über die von den Gesellen ausgeführten Bauten zu bekommen. Die unerwünschte – gleichwohl – selbständige Arbeit Ungeprüfter sollte dadurch eingeschränkt werden, dass man den beteiligten Meistern, den Empfängern des sog. „Meistergroschens“ also, androhte, sie zur Gewerbesteuer heranzuziehen.504 Offenbar durch die Ausbreitung des Fortbildungsschulwesens veranlasst, kam es mit der „Verordnung, den Betrieb der Bauhandwerke betreffend“ vom 24.6.1856505 nochmals zu einer weiteren Verschärfung der Meisterprüfung für Bauhandwerker. Neben die praktischen, handwerklich ausgerichteten Fächer traten nun wissenschaftliche, insbesondere mathematische Prüfungsgegenstände. Von den Maurern und Zimmerleuten wurden umfangreiche Kenntnisse im Rechnen, insbesondere in der Flächen- und Körperberechnung, verlangt.506 Die Examen fanden 501 Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handels- und Gewerbeministerium v. 6.1.1852, in: GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 Bd. 4, fol. 126–127. 502 S. Jacobi (1857), S. 520. 503 Ob dies auch für den Bezirk Arnsberg galt, ließ sich nicht feststellen; nach Auffassung Hasemanns war der Meistergroschen 1856 jedenfalls überall üblich, s. Hasemann, Art „Geselle“ (1856), S. 424. 504 S. Schreiben der Reg. Münster v. 17.11.1852 an die Landräte, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 413. 505 Die Verordnung schrieb vor, dass die bestehenden Prüfungskommissionen für Bauhandwerker nach dem Zirkular-Erlaß v. 21.12.1851 in Verb. mit §§ 45, 46 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845 und §§ 24, 28 der Verordnung v. 9.2.1849 umzubilden seien; s. Schreiben des Ministers von der Heydt v. 24.6.1845 an sämtliche Regierungen, in: GStA/PK, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adh. 3, Bd. 1. Der Text der Verordnung ist z. B. veröffentlicht in der Beilage zum 54. Stück des Amtsblatts der Regierung Minden, Jahrg. 1856, S. 1–23. 506 Der höhere Stellenwert, der der theoretischen Ausbildung nun eingeräumt wurde, hatte allerdings Defizite bei der praktischen Befähigung der Kandidaten zur Folge. Schon 1854 klagte die Arnsberger Regierung, dass theoretisch vorzüglich ausgewiesene junge Leute sich auf den Baustellen als recht unpraktisch erwiesen. Den Grund sah die Behörde darin, dass das Hand-

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II. Die gewerbliche Ausbildung

weiterhin unter staatlicher Leitung und Beaufsichtigung statt, da das Vertrauen des Staates und der Bevölkerung in die Prüfungen der Innungen und der Kreis-Prüfungskommissionen stets gering geblieben war.507 Der Gesetzgeber wollte, wohl durch üble Erfahrungen gewitzigt, den Selbstverwaltungsgremien die Prüfung nur für solche Gewerbe überlassen, bei denen der Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht vordringlich war und die vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen auf die Einführung des Befähigungsnachweises gedrungen hatten. Um die schwerwiegenden technischen Mängel, die dazu beigetragen hatten, den durchschlagenden Erfolg der Bauhandwerkerprüfung bis dahin zu behindern, zu beheben, ordnete ein Ministerial-Reskript aus dem Jahre 1856508 dann die Prüfungskommissionen teilweise neu, nicht ohne die Prüfungsbezirke kleinräumiger zu fassen.509 Zum 1. Januar 1857 setzte der Gesetzgeber schließlich noch die „Polizei-Verordnung zur Verhütung des selbständigen Betriebes der Bauhandwerke durch Personen, welche nicht dazu befugt sind“, in Kraft.510 Die Bestimmungen sollten die bis dahin weitgehend übliche und auch und in Westfalen noch immer geduldete Umgehung der Prüfungsbestimmungen durch die Zahlung des traditionellen Meistergroschens unterbinden. Der Bauherr oder der beauftragte Bauunternehmer wurde verpflichtet, bei allen genehmigungsbedürftigen Bauvorhaben vor Beginn der Ausführung der örtlichen Polizeibehörde die Bescheinigung eines zum selbständigen Betriebe des betreffenden Handwerks befugten Meisters, „dass dieser die bei dem Baue vorkommenden Arbeiten seines Gewerbes übernommen habe“ (§ 1), vorzulegen. Damit war der Meister allerdings nicht zur fortwährenden persönlichen Beaufsichtigung des Bauvorhabens verpflichtet. Er konnte die Ausführung der Arbeiten und die damit verbundene Kontrolle über die mitwirkenden Hilfskräfte auch einem Gesellen oder Polier durch einen sog. „Arbeitsschein“ übertragen. (§ 2) Dieser verantwortliche Geselle musste dann ständig auf der Baustelle anwesend sein. War dies nicht der Fall, konnte der den Arbeitsschein ausstellende Meister mit einer Geldbuße belegt werden (§ 5). In Wahrheit zog der Gesetzgeber mit dieser Regelung allerdings nur die notwendige Konsequenz aus der Verschärfung der Prüfungsbestimmungen für Bauhandwerker: Die Einsicht, dass der Mangel an Bauhandwerksmeistern unter den gegebenen Umständen fortdauern werde, zwang zur Sanktionierung der selbständigen Gesellenarbeit. Diese wurde nun aber, und hierin ist die eigentliche Neuerung zu sehen, unter die Aufsicht der Lokalbehörden gestellt und gleichsam obrigkeitlich eingehegt. Die noch aus der Zunftzeit

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werk „wieder zu Ehren“ gelangt sei und sich deshalb auch junge Leute aus den „höheren Ständen“ für die Bauberufe qualifizierten. Diese würden aber während ihrer Ausbildung mehr im Büro als auf der Baustelle beschäftigt, so dass ihnen die praktische Erfahrung fehle; s. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 10.8.1854, in: GStA/PK, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1, Bd. 4, fol. 182 ff. Vgl. Heiser (1939), S. 26. S. Amtsbl. Reg. Arnsberg, Jahrg. 1857, S. 43–67; Bekanntmachung v. 8.12.1856, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 19.12.1856, S. 23. Im Regierungsbezirk Minden blieben die Kommissionen für Bauhandwerker in der Stadt Minden; s. Reskript v. 8.12.1856, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 19.12.1856, Beilage S. 24. Verordnung v. 24.6.1856, z. B. publiziert in der Beilage zum Amtsblatt der Regierung Minden vom 19.12.1856, S. 25–28; dazu auch GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adh. 3, Bd. 1.

C. Das Prüfungswesen

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stammende Sitte des „Meistergroschens“ sollte so beseitigt, an dem eigentlich unerwünschten Faktum der selbständigen Gesellenarbeit aber – aus Gründen der Praktikabilität – im Kern nichts geändert werden. Da den Beteiligten natürlich nicht verborgen blieb, dass der Gesetzgeber mit diesen zwiespältigen und widersprüchlichen Regelungen ein Scheingefecht führte, fanden die neuen Bestimmungen ebenso wenig Beachtung wie die vorhergehenden. Die Ausstellung der Arbeitsscheine in unstatthafter Form blieb weiterhin an der Tagesordnung.511 Die den Intentionen des Berliner Ministeriums entsprechende Verordnung der Regierung Münster vom 7.10.1856 blieb unbeachtet; die Meister erteilten die Arbeitsscheine nicht, wie vorgeschrieben, jeweils für einen bestimmten Bau, sondern generell. Um die notwendige polizeiliche Genehmigung kümmerte sich niemand. So rissen die Klagen, dass Unqualifizierte vorschriftswidrig Bauten ausführten, nicht ab.512 Wegen der allgemein üblichen Umgehung der Bestimmungen wurde daher alsbald erneut die Forderung erhoben, auch weniger befähigte Meister zum selbständigen Gewerbebetrieb zuzulassen. Die Regierung lehnte dieses Ersuchen aber kategorisch ab. Stattdessen brachte sie 1859 die Bestimmungen aus dem Jahre 1856 erneut in Erinnerung, musste aber schon nach kurzer Frist deren fortdauernde Wirkungslosigkeit eingestehen.513 Trotz der zahlreichen Verstöße hatten die Prüfungsbestimmungen aber doch nicht jede Wirkung verfehlt. Das Leistungskontrollsystem in den Bauhandwerken war, obgleich es erhebliche Schwächen aufwies, zweifellos erheblich effektiver als dasjenige in den anderen Sparten des Handwerks. Der Mangel an qualifizierten Bauhandwerkern wurde infolge der Verschärfung der Bestimmungen gegen Ende der fünfziger Jahre deshalb noch fühlbarer, als er zuvor schon gewesen war. Um die Zahl der Meister zu erhöhen, ohne das gesamte Prüfungssystem zu gefährden, nutzte man seither unter merkwürdiger Desavouierung der eigenen Vorschriften eine Ausnahmebestimmung insbesondere für Zuwanderer aus den benachbarten Territorien. Die Regierungen konnten nach § 6 des Gesetzes vom 15.5.1854 nämlich von der Prüfungspflicht befreien. Auf diese Regelung ließ sich zurückgreifen, um in unterbesetzten Regionen die Handwerkerzahl zu steigern, ohne die Anforderungen in der preußischen Handwerkerprüfung generell senken zu müssen.514 Insbesondere hessische Bauhandwerker, die nach Westfalen drängten, wussten von der Bestimmung Gebrauch zu machen.515 Doch erst mit der Annexion HessenKassels durch Preußen im Jahre 1866 standen der Zuwanderung der hessischen 511 S. Schreiben der Reg. Münster vom 18.3.1859 an die Landräte, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 413; s. auch Amtsblattbekanntmachung v. 18.3.1859, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 2.4.1859. 512 Dass die Bestimmungen nicht eingehalten worden waren, geht schon daraus hervor, dass noch Anfang der sechziger Jahre mehrere Bauhandwerker bei dem Oberpräsidenten in Münster auf Zulassung zum selbständigen Gewerbebetrieb mit der Begründung antrugen, dass sie schon seit vierzig Jahren selbständig arbeiteten, s. STAM, Oberpräsidium Nr. 2796. 513 S. Anm. 511. 514 S. bezgl. der Dachdecker Schreiben v. 28.5.1856 und v. 5.6.1858, in: STAD, Reg. Minden, 1 U Nr. 778. 515 Bzgl. des Dachdeckerhandwerks s. Schreiben v. 28.5.1856 und 5.6.1858, in: STAD, Reg. Minden, 1 U Nr. 778; die hessischen Behörden drängten darauf, dass ihren Handwerkern in West-

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Meister auch keine formalen Hindernisse mehr im Wege. Das Handels- und Gewerbeministerium hob damals nämlich die Genehmigungspflicht für den Fall auf, dass die fremden Bauleute nachweisen konnten, dass sie zur selbständigen Ausübung ihrer Professionen in ihrer Heimat befugt seien.516 Eine allgemeine Verbesserung der Situation auf dem Markt für Bauleistungen in Westfalen ließ sich aber auch durch solche Ausnahmeregelungen nicht erreichen. Der seit Jahrzehnten fühlbare Mangel an Bauhandwerkern wurde in den sechziger Jahren schließlich unerträglich. Nachdem sich die Berichte häuften, dass die Landbewohner die Bauhandwerker inzwischen wegen des außerordentlichen Booms, den Industrie und Landwirtschaft in den zwei Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte erlebten, „mit Geld aufwiegen“ müssten, um sie zur Annahme von Aufträgen zu bewegen, sah sich das Handels- und Gewerbeministerium auf Antrag der Regierung in Minden in zahlreichen Einzelfällen gezwungen, die Ablegung einer erleichterten Meisterprüfung für diese Handwerker517 zu genehmigen. Angesichts des Nachfrageüberhangs nach Bauleistungen konnte es nicht verwundern, dass sich die Liberalen vor allem gegen die Beschränkung der Ausübung der Baugewerbe wandten.518 Die Frage, ob diese Professionen von den Fesseln des Prüfungszwangs zu befreien seien, wurde von den Ministerien wie auch im Bundesrat unterschiedlich beantwortet. Der Handels- und Gewerbeminister von Itzenplitz sprach sich für die Liberalisierung aus; die von ihm vertretene Ansicht, dass Prüfungen keine genügende Garantie für die Qualität der Arbeit böten, setzte sich schließlich auch im Bundesrat durch. Dass eine Neufassung der Gewerbeordnung nur auf dem Grundsatz der Gewerbefreiheit beruhen konnte, war nach der Reichstagsresolution vom 21. Oktober 1867 selbstverständlich.519 Das Bundesgesetz vom 8.7.1868 „über den Betrieb der stehenden Gewerbe“, das sog. „Notgewerbegesetz“, setzte dementsprechend die Prüfungsbestimmungen für Bauhandwerker, Mühlenarbeiter, Feuerwerker etc. außer Kraft. Diese Regelung übernahm die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes aus dem Jahre 1869, die in § 1 bestimmte: „Der Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben und zugelassen sind.“ Die einzige Abweichung von dem neuen Grundsatz der Prüfungsfreiheit, welche der Gesetzgeber auf dem Höhepunkt der Wirkmächtigkeit liberalen Denkens zugestand, blieb dem Gewerbe des Hufschmiedes vorbehalten. Für die Bauhandwerke waren Sonderregelungen dagegen nicht länger vorgesehen – eine radikale Entscheidung des damals vom Liberalismus völlig beherrschten Gesetzgebers. Dass solche durch

falen keine Beschränkungen auferlegt wurden, s. Schreiben des hessischen Amtes Rennerod v. 21.11.1859 an das Landratsamt des Krs. Siegen; s. STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1524. 516 S. Ministerial-Reskript v. 20.11.1866, veröffentlicht im preußischen Ministerialblatt v. 20.11.1866; s. dazu Schreiben v. 13.5.1867, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1524. 517 S. dazu Schreiben der Reg. v. 18.3.1863 und Schreiben des Handelsministers v. 18.5.1863, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 518 So z. B. Böhmert (1858), S. 370–373; zu den theoretischen Grundlagen der gewerbefreiheitlichen Bewegung C. Plath, (1861), S. 28 ff., hier zitiert nach Heiser (1939), S. 57. 519 Krahl (1937), S. 75, mit w. Nachw.

C. Das Prüfungswesen

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ein ideologisches Konstrukt erzwungene Abstinenz nicht lange Bestand haben konnte, lehrte bald die Erfahrung mit den Folgen der Rechtsreform. 2. Das Prüfungswesen der übrigen Handwerksberufe a. Das Prüfungswesen nach Einführung der Gewerbefreiheit Nicht zuletzt wegen der Unzulänglichkeit oder, richtiger gewendet, des gänzlichen Fehlens eines geordneten Prüfungssystems begannen die Regierungen mancher Territorien schon gegen Ende der Zunftzeit, den Gedanken der Leistungskontrolle in einzelnen Sparten des Gewerbes zu beleben. Dass dies unter Umgehung des bis dahin unangetastet gebliebenen Ausbildungs- und Prüfungsmonopols der Ämter und Gilden geschah, belegt überdeutlich die Entschlossenheit des Staates, die Korporationen zu entrechten. So verpflichtete die großherzoglich hessische Regierung in Arnsberg im Jahre 1809 die Grobschmiede, die sich mit dem Hufbeschlag befassen wollten, nach Unterricht und praktischer Übung beim Distrikt-Tierarzt eine Prüfung abzulegen.520 Jeder, der, ohne diesen Leistungsnachweis erbracht zu haben, das Handwerk ausübte, sollte ‚angemessen‘ bestraft werden. Die ausbildenden und prüfenden Tierärzte hatten der Regierung jährlich einen genauen Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten. Mit diesen administrativen Regelungen trat an die Stelle der Selbstverwaltung des Handwerks erstmals in Westfalen ein seitens des Staates initiiertes, auf rationalen Überlegungen beruhendes, allein nach sachlichen Gesichtspunkten organisiertes Ausbildungs- und Prüfungssystem. Einmal mehr zeigt sich hier nicht nur in nuce die geradezu erosionsartig fortschreitende Entmachtung der Zünfte in der Endphase ihrer Existenz, sondern auch die beginnende Ersetzung des korporativen Ordnungsmodells durch partielle organisatorische Maßnahmen des Staates. Die bevorstehende grundstürzende Änderung der Gewerbeverfassung warf damals, wie man sieht, lange Schatten. Dementsprechend überdauerten diese neuen, zukunftweisenden Bestimmungen auch die Einführung der Gewerbefreiheit, die für die Masse der Handwerksberufe zunächst allerdings die wenig förderliche Folge hatte, dass die Ausbildung des Nachwuchses in das unkontrollierte Belieben der Beteiligten gestellt wurde.521 aa. Die Gesellenprüfung bis zum Erlass der Gewerbe-Ordnung von 1845 Mit dem Erstarken der Handwerkerbewegung gegen Ende der zwanziger Jahre wurde, allerdings zunächst nur zaghaft, die alte Forderung nach Einführung einer spezifischen Gesellenprüfung neuerlich erhoben, wenngleich diese Frage niemals 520 Verordnung der Großherzoglich Hessischen Regierung v. 18.7.1809, in: Scotti (1831), Bd. 2, 1. T., S. 453–454. 521 So ausdrücklich in dem preußischen Edikt v. 7.9. 1811, welches bestimmte, dass jeder Inhaber eines Gewerbescheines, auch wenn er nicht Mitglied einer Zunft war, Lehrlinge ausbilden konnte, s. Geissen (1936), S. 19.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

so in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit trat wie das Problem der Meisterprüfung, über deren Reanimierung damals unter den Handwerkern bereits wieder lebhaft diskutiert wurde. Die einst so kompromisslos gewerbefreiheitlich gesonnene Ministerialbürokratie Preußens lehnte die Einführung einer Gesellenprüfung keineswegs mehr rundheraus ab. Nur erwies sich der Plan zu dieser Zeit noch als unausgegoren und unpraktikabel, da er, wie man wusste, erst im Rahmen einer grundlegenden Reform der Gewerbeverfassung verwirklicht werden konnte. Die Diskussion um die Neuorientierung der Gewerbegesetzgebung war damals aber noch in vollem Gange. Immerhin begann das zuständige Ministerium bereits auf die Einführung einer Gesellenprüfung hinzuwirken, indem es sich die Vorteile der in Ostelbien noch fortbestehenden zünftischen Organisation des Handwerks zu Nutze machte und die dortigen Gewerks-Assessoren aufforderte, „sich durch angemessene Fragen an Lehrherren und Lehrlinge bei der Lossprechung der letzteren zu überzeugen, ob beide auch während der Lehrzeit ihre Pflichten erfüllt haben, welche ihnen die Verbindung auferlegt, die sie feyerlich vor dem Gewerbe bei der Einschreibung eingegangen sind.“522 Es sollte festgestellt werden, „ob der Lehrling über Aufgaben in seinem Gewerbe vernünftig zu urtheilen und richtig anzugeben wisse, was zur Lösung derselben zu thun sey.“523 Um den Erfolg der Handwerkslehre zu befördern, wäre hier vielleicht der ministerielle Hinweis auf das geltende Recht, das die Gesellenprüfung in § 323 Tit. 8 T. II ALR noch immer zwingend vorschrieb, angebracht gewesen. Der in Westfalen völlig fehlende organisatorische Rahmen, den diese Prüfungsbestimmung ersichtlich voraussetzte, ließ es aber von vornherein zwecklos erscheinen, auch im Westen des Staates auf eine Leistungskontrolle am Ende der Lehrzeit zu dringen. So machte sich die Sonderrolle, welche die Provinz Westfalen damals wegen der Abwesenheit jedweder Gewerbeverfassung auf ihrem Gebiet (sieht man von Wittgenstein ab) innerhalb des Staatsganzen spielte, einmal mehr – und nicht zum Vorteil des Handwerks – bemerkbar. bb. Die Meisterprüfung bis 1845 Mit der Einführung der Gewerbefreiheit in Westfalen 1808/1811 hatte das gesamte Prüfungswesen der Zünfte, seit deren Ursprung im Mittelalter ein Konstitutivum ihrer Existenz, ein abruptes Ende gefunden.524 Seither gab es den Leistungsnachweis nur noch in wenigen Gewerben, in denen die französische Administration die öffentliche Sicherheit besonders gefährdet sah. Diese Praxis blieb auch nach der Wiederherstellung der preußischen Verwaltung in Westfalen zunächst bestehen.525 522 Stellungnahme des Geheimen Rats Hoffmann an den Innenminister von Schuckmann v. 30.5.1827, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B III 1 Nr. 6, Bd. 1. 523 S. Schreiben des Innenministeriums an den Magistrat der Stadt Berlin vom 4.6.1827, in: GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B III 1 Nr. 6, Bd. 1. 524 Im preußischen Rumpfstaat reichte es nach den Bestimmungen des Gewerbepolizeigesetzes von 1811 zur selbständigen Ausübung des Gewerbebetriebes hin, wenn der Geselle städtischer Bürger, auf dem Lande aber Gemeindeangehöriger wurde. 525 In Ausnahmefällen fanden dennoch Prüfungen statt: So wurden den Meistern, die taubstumme Lehrlinge ausbildeten, Prämien bewilligt, wenn die Lehrlinge ihre Fähigkeiten in einer Prüfung

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Zu den prüfungspflichtigen Gewerben gehörte beispielsweise die bis dahin stets unzünftige Kaminfegerei; für diese Handwerkssparte musste die Berechtigung zur Berufsausübung durch einen Befähigungsnachweis, den die zuständige PolizeiDeputation oder der Justizbeamte erteilen konnte, nachgewiesen werden.526 b. Die Reanimierung des Prüfungswesens durch die preußische Gewerbeordnung vom 17.1.1845 Als die Allgemeine Gewerbeordnung am 17. Januar 1845 schließlich verkündet wurde, war der preußische Gesetzgeber bereits jahrzehntelang mit dem Projekt der Gewerberechtsreform befasst gewesen. Immer und immer wieder vertröstete man die vehement den Befähigungsnachweis verlangende Handwerkerschaft mit dem Hinweis auf die bevorstehende umfassende Neuordnung der Gewerbeverfassung. Das Handwerk selbst hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass es die Prüfungen nicht nur forderte, um die Qualifikation der Gewerbetreibenden zu erhöhen, sondern auch für nötig erachtete, um die vielbeklagte „Übersetzung“ zu beseitigen.527 Damit wurde freimütig zugegeben, dass die Ausbildungskontrolle nicht allein der Leistungssteigerung des Gewerbes dienen und das Wirtschaftssystem insgesamt vor Fehlentwicklungen bewahren, sondern vielmehr direkt als Beschränkung des Zugangs zur selbständigen Ausübung des Handwerks wirken sollte. Dass der vor der Niederlassung zu erbringende Befähigungsnachweis als Mittel zur Reduzierung des Handwerkernachwuchses zu spät griff, das intendierte Ziel also nur auf Kosten der abgewiesenen Gesellen erreicht werden konnte, hat die Meister keineswegs an der Berechtigung ihrer Forderung zweifeln lassen. Es ging ihnen zuallererst um handfeste wirtschaftliche Vorteile; doch verliert der ordinäre Egoismus, als der ihr Verhalten erscheinen mag, seine kaustische Schärfe, wenn man das Streben der Etablierten nach Begrenzung der Konkurrenz aus zeitgenössischer Sicht zu betrachten sich bemüht. Es geht natürlich in die Irre, wer die Maßstäbe der modernen Ökonomie ungeprüft an das Wirtschaftsgebaren des 19. Jahrhunderts anlegt. Auch vor 2 Meistern ihres Gewerbes nachgewiesen hatten; s. z. B. Schreiben v. 6.2.1821, Stadtarchiv Soest, XIXg 8. 526 S. Verordnung v. 15.6.1813, in: Scotti (1831), Herzogtum Westphalen und Vest Recklinghausen, 2. Abt., 2. T. Nr. 538, S. 786; für weitere Gewerbe wurde die Wiedereinführung der Prüfungspflicht erwogen. So prüfte das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten 1821, ob die Prüfung der Fleischer, die in § 8 des preußischen „Viehsterbe“Patents vom 2.4.1803 bereits vorgeschrieben war und durch Verfügung v. 14.11.1814 aufgehoben wurde, dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung diene. Die Regierung Minden sprach sich in einer Stellungnahme v. 28.10.1821 für die Prüfung aus, um die Konsumenten vor dem Verzehr ungesunden Fleisches von erkranktem Vieh zu schützen; s. STAD, Reg. Minden I U Nr. 684. Am 1.4.1823 wurde die Prüfungspflicht für das Schornsteinfeger-Gewerbe in Westfalen eingeführt. Zuständig zur Abnahme der Prüfung waren die Kreis-Baubeamten. Es wurde in den einzelnen Regierungsbezirken eine Prüfungsordnung erlassen; s. STAM, Oberpräsidium Nr. 5256. 527 Diese Ziele verfolgte die Handwerkerbewegung während des gesamten 19. Jahrhunderts unverändert; s. u. a. Voigt (1897), S. 263. In der Tat waren jedenfalls in den Großstädten viele Handwerkmeister gezwungen, ihr Handwerk aufzugeben oder zum Gesellenstatus zurückzukehren; s. Jeggle (2004), S. 31 unter Hinweis auf Steidl (2003), S. 246–282.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

die freiheitliche Wirtschaftsordnung des 20. und 21. Jahrhunderts beruht in wichtigen Bereichen auf beständigem Marktausgleich dadurch, dass die wenig leistungsfähigen Betriebe durch den Wettbewerb zur Aufgabe ihrer Produktion gezwungen werden. Damit sind die Mechanismen, die den Marktzutritt im heutigen Handwerk begrenzen, aber noch nicht hinreichend beschrieben. In der jüngeren Entwicklung wird die Zunahme der Handwerksbetriebe nämlich vor allem durch den hohen Kapitalbedarf, den die Gründung neuer Unternehmen in den meisten Handwerksberufen erfordert, sehr wirksam beschränkt.528 Ganz anders um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Bedeutenderes Anfangskapital war damals nur in wenigen Sparten des Handwerks, bei der Errichtung größerer Betriebe des Baugewerbes etwa, erforderlich. In diesen Berufen kam es, unterstützt durch die Prüfungsbestimmungen, folgerichtig zu keiner Übersetzungskrise. Die Masse der Handwerker dagegen, die, nur mit ihrem wenigen Handwerkszeug ausgerüstet, den Schritt in die Selbständigkeit wagte, musste eine Abschwächung des Wettbewerbs zu erreichen suchen, wenn sie ihre eigene Marktposition verbessern wollte. Eben deshalb glaubten die Meister, das zentrale Ziel der Handwerkerbewegung, die Erhaltung des Kleingewerbes als selbständiger Stand, sei am sichersten durch die möglichst rigorose Beschränkung des Neuzuganges zu erreichen. Folgerichtig wurde die Einführung des Befähigungsnachweises zum beherrschenden Thema der kleingewerblichen Standespolitik jener Jahre. Durchschlagenden Erfolg zeitigte die Einflussnahme auf den Gesetzgeber zunächst allerdings noch nicht. Denn als der Berg endlich kreißte, kam ein Mäuslein heraus – statt des erhofften generellen Befähigungsnachweises mit wettbewerbsmindernder Wirkung blieb der selbständige Gewerbebetrieb auch nach Erlass der Gewerbeordnung im Jahre 1845 im Grundsatz lediglich anzeigepflichtig.529 Die von den Handwerkern so dringlich gewünschte Prüfungspflicht beschränkte der Gesetzgeber auf bestimmte Berufssparten530 und zunächst auch nur auf solche Angehörigen dieser Professionen, die Lehrlinge ausbilden bzw. einer Innung angehören wollten (§§ 131, 132, 108 der Gewerbeordnung). Von der Prüfungspflicht befreit blieben diejenigen, welche bei Erlass des Gesetzes die Berechtigung zur Ausbildung bereits besaßen. Auf Orts- bzw. auf Distriktebene sollten Prüfungskommissionen gebildet werden (§ 162). Als Prüfer hoffte man „die geschicktesten und geachtetsten Gewerbetreibenden“ zu gewinnen. Den Vorsitz der von den Kommissionen zu unterscheidenden Prüfungsausschüsse hatte stets ein Angehöriger der Kommunalverwaltung inne, der selbst kein Gewerbetreibender sein durfte. Den Gremien 528 So schon Wilden, Art. „Handwerk“ (1927), S. 136. 529 „Wer den selbständigen Betrieb eines Gewerbes anfangen will, muss zuvor der Kommunalbehörde des Orts Anzeige davon machen“, so § 22 der Allg. Gewerbeordnung v. 17. Januar 1845, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1845, Nr. 2541, S. 41 ff. 530 Diese waren nach § 131 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845: „Gerber aller Art, Lederbereiter, Ledertauer, Korduaner, Pergamenter, Schuhmacher, Handschuhmacher, Beutler, Kürschner, Riemer, Sattler, Seiler, Reifschläger, Schneider, Hutmacher, Tischler, Rademacher, Stellmacher, Böttcher, Drechsler in Holz und Horn, Töpfer, Grobschmiede, Hufschmiede, Waffenschmiede, Schlosser, Zirkelschmiede, Bohrschmiede, Sägeschmide, Messerschmiede, Büchsenschmiede, Sporer, Feilenhauer, Kupferschmiede, Rothgießer, Glockengießer, Gürtler, Zinngießer, Klempner, Buchbinder, Färber“.

C. Das Prüfungswesen

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sollten neben diesem Beamten ein bis drei Mitglieder der Prüfungskommissionen sowie ebenso viele selbständige Handwerker aus dem Gewerbe des Kandidaten angehören (§ 163). Die Kosten des Verfahrens wurden durch Prüfungsgebühren gedeckt. Wer erfolgreich bestanden hatte, erhielt ein Zeugnis, dass sowohl zur Ausbildung von Lehrlingen als auch zur Aufnahme in eine Innung berechtigte (§§ 166, 108). Zufrieden waren die Meister mit diesen Regelungen indes nicht. Die Unruhe in ihren Reihen wuchs weiter und in den Jahren nach Erlass der Gewerbeordnung nahmen ihre Forderungen konkretere Gestalt an. Spätestens seit dem denkwürdigen Jahr 1848 einte die Handwerkerbewegung ein Kanon standespolitischer Grundsätze, der seither das zentrale Thema der Handwerkerbewegung geblieben ist.531 Dazu zählten u. a. die Forderung nach der geordneten Lehrzeit nebst Gesellenprüfung, bestimmte Gesellenjahre nebst Meisterprüfung sowie die Regelung der Niederlassung der Meister. Erst unter dem Druck der revolutionären politischen Ereignisse trug der Gesetzgeber der immer wiederkehrenden und mit zunehmender Vehemenz vorgetragenen Forderung nach der Einführung des allgemeinen Befähigungsnachweises Rechnung. Dabei handelte er allerdings kaum aus Einsicht in die sachliche Notwendigkeit der Einführung des Prüfungssystems. Für die zutiefst verunsicherte Obrigkeit war der Befähigungsnachweis nicht mehr als eines unter verschiedenen probaten Mitteln, um die aufgebrachten Handwerker kurzfristig zu beruhigen und längerfristig mit dem Staate zu versöhnen. Recht deutlich zeigte sich diese Attitüde, als in den Kammerberatungen in Berlin ausdrücklich betont wurde, man sei nicht nur den Meistern, sondern auch den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrzahl der dem „Gesellenstande angehörenden Antragsteller“ entgegengekommen.532 Die rechtspolitische Bedeutung dieser Entscheidung für den allgemeinen Befähigungsnachweis reichte in der Tat weit über die bloße Etablierung des neuen Prüfungssystems hinaus: Mit der Einführung der hoheitlichen Leistungskontrolle erkannte der Staat die Handwerker, so empfanden diese es jedenfalls, erstmals wieder als den tragenden Pfeiler des Wirtschafts- und Staatslebens an, als den sie selbst sich so gern sahen. Endgültig vorbei schien die Zeit, in der sich der Professionist mit der mindergeachteten Rechtsstellung eines Heimarbeiters oder Hausgewerbetreibenden als drohender Zukunftsperspektive hatte abfinden müssen.533 aa. Gesellenprüfungen Die preußische Gewerbeordnung von 17.01.1845534 knüpfte in ihrem § 157 deutlich an ALR II 8 § 323 an, indem sie erstmals wieder die Prüfung der Lehrlinge nach Abschluss der Lehrzeit regelte. Im Unterschied zu der Bestimmung in der preußischen Kodifikation, die die Gesellenprüfung zwingend vorgeschrieben hatte, begnügte sich die Gewerbeordnung aber mit einer fakultativen Leistungskontrolle, 531 S. Wernet (1953), S. 109. 532 Vgl. Stenographische Berichte der II. Kammer, 2. Bd. 1849, S. 701, zitiert nach Geissen (1936), S. 136. 533 Vgl. Fröhler (1966), S. 212. 534 Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 41 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

d. h. sie setzte den Antrag des Lehrlings voraus. Während es sich für die Redaktoren des ALR noch von selbst verstanden hatte, dass die versammelte Zunft das Prüfungsgremium bildete, musste der Gesetzgeber nun völlig neue Wege beschreiten und die rechtlichen Grundlagen für den Aufbau einer leistungsfähigen Prüfungsorganisation schaffen. Zwar gehörte es zur Wiederbelebung korporativer Vorstellungen, die mit dem neuen Gesetz ja intendiert war, selbstverständlich hinzu, die Handwerkslehre und Handwerksprüfung erneut in die Hände der Gemeinschaft der selbständigen Meister zu legen. Für die Orte, in denen Innungen fehlten, ließ sich aber keine so klare Lösung finden. Dort blieb mangels geeigneter anderer Gremien nichts übrig, als in den Städten den Kommunalbehörden, auf dem Lande den Ortspolizeiobrigkeiten die Verantwortung für die Durchführung der Prüfungen zu übertragen, es sei denn, die jeweiligen Regierungen erachteten die Einrichtung eigener Distrikts-Prüfungsbehörden für nötig (§ 157 S. 4, 5, § 162 der Gewerbeordnung). Bald zeigte sich allerdings, dass sich das Innungswesen in Westfalen nicht recht wiederbeleben ließ und auch die Einrichtung von Prüfungskommissionen nur schleppend voran kam. Zwar wurden im Regierungsbezirk Arnsberg bereits im Jahre 1845 Prüfungskommissionen errichtet. Im Münsterland konnten seit 1848 überall solche Gremien bestimmt werden. In Ostwestfalen schließlich kam es erst nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 zur Organisation des Prüfungswesens.535 Es blieb den Lehrlingen dieser Provinz zumeist allein die Möglichkeit der Prüfung vor den Gemeindebehörden. Ein Examen vor fachfremden Gremium abzulegen war aber als Leistungsanreiz denkbar ungeeignet. Mit einem Zeugnis des Bürgermeisters konnte, so glaubte der Nachwuchs zu Recht, niemand seine Marktchancen verbessern. Welchen Sinn aber hatte die Prüfung dann noch? Nicht minder schwer wog, dass die Gesellenprüfung im Bewusstsein der Handwerker nicht verankert war. Aus diesen Gründen teilten die Bestimmungen des § 157 der Gewerbeordnung das Schicksal der entsprechenden Regelungen im ALR: Sie wurden nicht praktisch.536 Trotz dieses Misserfolges der einschlägigen Vorschriften, der in Westfalen besonders eklatant war, erlosch die einmal wieder erwachte Überzeugung von der Nützlichkeit einer Prüfung am Ende der Lehrzeit aber nicht mehr. Der volkswirtschaftliche Ausschuss der Frankfurter Nationalversammlung forderte die Einführung einer Leistungskontrolle in seinem Entwurf einer Gewerbeordnung,537 wobei die zahlreichen, in diese Richtung zielenden Petitionen aus Westfalen538 das Mei535 Bzgl. Rgbz. Arnsberg vgl. Bekanntmachung der Regierung Arnsberg v. 31.12.1845, in: Amtsblatt der Regierung Arnsberg, Jahrg. 1846, S. 17–21; für den Rgbz. Münster s. Amtsblatt der Regierung Münster v. 18.3.1848, S. 92–108; hinsichtlich des Rgbz. Minden s. Schreiben der Regierung Minden v. 28.2.1866 in: STAD, Regierung Minden I U Nr. 780. 536 In den Archiven findet sich kein Hinweis darauf, dass vor 1849 in Westfalen auch nur eine Gesellenprüfung durchgeführt worden wäre. Die Behauptung Schöfers, es seien bereits nach Erlass der Gewerbeordnung wieder Gesellenprüfungen abgehalten worden, ist jedenfalls für den Bereich Westfalens unrichtig, vgl. Schöfer (1981), S. 54. 537 „Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses über den Entwurf einer Gewerbeordnung und verschiedene diesen Gegenstand betreffende Publikationen und Anträge“, in: Verhandlungen der deutschen verfassunggebenden Reichsversammlung zu Frankfurt a. M., 2. Bd. (1848/49), S. 883. 538 Nicht weniger als 14 der insgesamt 34 nachweisbaren Eingaben aus Westfalen verlangten die Ablegung einer Gesellenprüfung.

C. Das Prüfungswesen

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nungsbild des Gremiums nicht unerheblich beeinflusst haben dürften. Das nachhaltige Interesse der Meister an der Förderung des Prüfungsgedankens entsprang natürlich keineswegs uneigennützigen Motiven. Es war die starke Zunahme der Handwerkerzahlen in den vierziger Jahren, die es den Etablierten geraten erscheinen ließ, alle Möglichkeiten zur Verringerung des Zudrangs zum Handwerk auszuschöpfen.539 bb. Meisterprüfungen Größeres Interesse als den Gesellenprüfungen brachten die Handwerker den Bestimmungen über das Meisterexamen in der Gewerbeordnung des Jahres 1845 entgegen. Dies hatte zwei Gründe: Zum einen konnte allein derjenige in eine Innung aufgenommen werden, der eine Prüfung abgelegt hatte (§ 108 S. 2 der Gewerbeordnung). Zum anderen befugte der Gesetzgeber in nicht weniger als 42 Handwerksparten nur mehr diejenigen zur Ausbildung von Lehrlingen, die den Befähigungsnachweis erbracht hatten (§ 131, 132 der Gewerbeordnung).540 Damit war zwar für die gewöhnlichen Handwerke noch nicht die generelle Prüfungspflicht angeordnet, wie sie für die Bauhandwerker, die Schornsteinfeger und einige andere Gewerbe in Westfalen schon seit 1821 galt und in § 45 der Gewerbeordnung bestätigt wurde.541 Doch mussten sich die Handwerker, welche sich niederlassen wollten, immerhin aufgefordert fühlen, die Prüfung abzulegen. Da im Jahre 1845 nirgendwo in Westfalen, mit Ausnahme des äußersten Südostens, Innungen vorhanden waren und die Gründung neuer Korporationen auch kaum zu erwarten stand, weil diese, wie der Magistrat der Stadt Münster abfällig bemerkte, „ihren Genossen nur Beiträge und Pflichten auferlegen“,542 musste man zur Gründung von Prüfungskommissionen auf Kreisebene543 schreiten. Die Regierung in Münster suchte unmittelbar nach Erlass des Gesetzes festzustellen, wie viel Prüfungskommissionen notwendig seien, um allen Interessenten Gelegenheit zu geben, die Prüfung abzulegen. In den meisten Kreisen hielt man eine oder zwei 539 Mehrere Petenten forderten die Beachtung einer längeren Probezeit zu Beginn der Ausbildung, damit Ungeeignete unverzüglich wieder aus dem Handwerkerstand entfernt werden könnten. Manche Gewerbevereine entdeckten die Probezeit geradezu als ein Mittel zur Reduzierung der steigenden Nachwuchszahlen: Kein Meister sollte, so forderten sie, zukünftig einen einmal als ungeeignet befundenen Lehrling wieder annehmen. 540 Allerdings durften diejenigen generell weiter ausbilden, welche bereits vor Erlass der Gewerbeordnung ihren Beruf selbständig ausgeübt hatten. Ausnahmen von der Prüfungspflicht konnte im übrigen die Regierung genehmigen. 541 Für die Bauhandwerker wurde die Prüfungspflicht nach § 45 der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 sogar wieder gelockert: War die Befähigung eines Bauhandwerkers unzweifelhaft, konnte die Prüfung fortfallen. Bei Mangelberufen war auch eine Erleichterung der Prüfung nicht mehr ausgeschlossen. So wurde beispielsweise dem Brunnenmacher Roth aus Hilchenbach in Aussicht gestellt, dass er sich bei praktischer Bewährung nur noch einer Prüfung von geringem Schwierigkeitsgrad zu unterziehen habe; s. Schreiben des Handelsministers v. 30.9.1848 an die Regierung Arnsberg, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 542 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster v. 26.11.1845 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832. 543 So im Krs. Warendorf schon 1845, s. STAM Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Kommissionen für ausreichend, da erfahrungsgemäß nur der geringere Teil der selbständigen Handwerker Lehrlinge ausbilden wollte und damit prüfungspflichtig war.544 Die Regierung in Arnsberg ernannte bereits Ende 1845 vorläufige Prüfungsgremien und erließ provisorische Ausführungsbestimmungen.545 Im Regierungsbezirk Minden gedieh das Vorhaben in manchen Kreisen allerdings nur noch bis zum Vorschlag der Mitglieder der Kommissionen.546 Zur Konstituierung der neuen Einrichtungen kam es dagegen nicht mehr. Der Aufbau der Prüfungsorganisation stieß nicht nur dort, sondern überall auf Schwierigkeiten, da die Anforderungen nicht hinreichend konkretisiert waren und sich selbst die „geschicktesten und geachtetsten Gewerbetreibenden“, die § 162 als Mitglieder der Prüfungsgremien vorsah, als nicht hinreichend qualifiziert für diese Aufgabe erwiesen.547 Natürlich gab es Ausnahmen wie den Paderborner Uhrmacher Racine, der sich bereits 1844 erboten hatte, in Prüfungsgremien mitzuwirken. Dieser ungewöhnlich gebildete Mann beherrschte Fremdsprachen, besaß Fachkenntnisse in den Naturwissenschaften und befasste sich mit den theoretischen Grundlagen seines Gewerbes. Der Paderborner Landrat bezeichnete ihn als „wissenschaftlich gebildeten Künstler“.548 Die Mehrheit der Meister, die als Mitglieder der Prüfungskommissionen in Betracht kamen, waren dagegen nach einhelligem Urteil der Behörden nicht einmal in der Lage, die Prüfung selbst zu bestehen. Die mangelnde Qualifikation der Handwerker bildete aber nicht das einzige Hindernis, das der Realisierung der Prüfungsbestimmungen im Wege stand. Die etablierten Meister lehnten das Prüfungssystem, wie es die Gewerbeordnung vorsah, rundheraus ab, da es des selektiven Charakters entbehrte. Ein Examen mit zugangshemmender Wirkung, wie es bei den Bauhandwerkern stattfand, hätte man dagegen begrüßt. „Eine Prüfung aber, die bloß die Annahme der Lehrlinge bedingen soll, erachten sie nutzlos, weil der verderbliche Zuwachs an neuen Meistern gar nicht daran denke, Lehrlinge zu halten“,549 beobachtete der münsterische Magistrat. Die Meister hatten kein Interesse an einem Befähigungsnachweis, der lediglich die befriedigende Ausbildung des Nachwuchses gewährleisten sollte. Dass sich die Gesellen, die sich niederlassen wollten, nicht zu einer Prüfung drängten, die sich ebenso gut umgehen ließ, verstand sich für die Zeitgenossen von selbst.550 Denn ihr Leistungsstand ließ, besonders in den kleinen Städten und Landgemeinden, wo die 544 Vgl. Berichte der Landräte des Rgbz. Münster in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5832. 545 Verordnung der Regierung Arnsberg v. 31.12.1845, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg, Jahrg. 1846, S. 17–21. 546 S. Schreiben der Reg. v. 28.2.1866, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 139, 141. 547 Deshalb schlug der Landrat des Krs. Lüdinghausen vor, die Prüfungen zentral in Münster durchzuführen, vgl. Schreiben v. 3.5.1845 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832; der Landrat des Krs. Borken war der Ansicht, Kriterium für die Auswahl der Prüfer solle, offenbar als Ersatz für fehlende Fachkenntnisse, die „moralische Qualifikation“ der Kommissionsmitglieder sein, vgl. Schreiben v. 2.5.1845 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832. 548 S. Schreiben des Landrats des Krs. Paderborn v. 5.12.1844, in: STAD Reg. Minden I U Nr. 798. 549 S. Bericht des Magistrats der Stadt Münster v. 11.2.1846 an die Reg. Münster, in : STAM, Reg. Münster Nr. 5832. 550 Soweit Angaben vorliegen, ließen sich nicht mehr als 7,4 % der Niederlassungswilligen prüfen.

141

C. Das Prüfungswesen

meisten Handwerker im Tagelohn für ein anspruchsloses Publikum arbeiteten, sehr zu wünschen übrig – ein Umstand, der nicht zuletzt in der noch ganz unzureichenden theoretischen Fach- und Allgemeinbildung der Handwerker seine Ursache hatte.551 Die wenigen Anträge auf Zulassung zur Meisterprüfung wurden denn auch ausschließlich von Gesellen aus den Städten gestellt. Das Bündel widriger Umstände bewirkte, dass die neuen Vorschriften über die Meisterprüfung fast völlig ignoriert wurden, wie die folgende Übersicht zeigt: Tabelle 24:

Kreis

Zahl der Meister in prüfungspflichtigen Gewerben, die sich zwischen dem Erlass der Gewerbeordnung v. 17.1.1845 und Ende 1847 niederließen:

davon geprüft:

Coesfeld

30

4

Recklinghausen

65

5,3 gemeldet

Stadt Münster

51

2

Lüdinghausen

30

niemand

Münster

17



Steinfurt

20



Borken

20



Tecklenburg

46

8

Ahaus

21

niemand

Beckum

40

1

Warendorf

31

6

Quelle: STAM, Reg. Münster Nr. 5832

Die Lehrlinge ließen sich zumeist von älteren, nicht prüfungspflichtigen Meistern, zuweilen aber auch von jungen Selbständigen – unter Missachtung der Bestimmungen – ausbilden.552 Das hellsichtige Urteil des Münsteraner Magistrats, der bereits 1845 vorausgesehen hatte, die Prüfungsbehörden würden „hier kaum zu gedeihlicher Wirksamkeit gelangen“,553 bestätigte sich in eindrucksvoller Weise. 1848 unternahm die münsterische Regierung nochmals einen Versuch, das Prüfungswesen 551 S. dazu Kap. „Die theoretische Fachbildung“. 552 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Münster v. 30.3.1846, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832: Im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Gewerbeordnung waren erst in zwei Städten des Regierungsbezirks Münster vereinzelte Prüfungsanträge eingegangen. 553 S. Bericht des Magistrats der Stadt Münster an die Regierung v. 26.11.1845, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832. Als Grund für diese Einschätzung nannte das Gremium die im Vergleich zur Zunftzeit völlig veränderten Umstände: Die Prüfung, die die alten Gilden abgehalten hätten, seien durch uraltes Herkommen, technische Kenntnisse und ersichtliches Interesse der Prüfer an der Sache bestimmt gewesen; all dies fehle jetzt völlig.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

zu organisieren.554 Prüfungskommissionen wurden eingesetzt und die 1847 erlassene Prüfungsordnung, die endlich auch die Prüfungsinhalte näher bestimmte, verkündete der Gesetzgeber. Doch auch diese Initiative scheiterte, da im Sommer 1848 schon jedermann mit der Verabschiedung einer neuen Gewerbeordnung und der Änderung der Vorschriften durch die Frankfurter Nationalversammlung rechnete und deshalb die Lokalverwaltungen nicht länger bereit waren, am Aufbau der Prüfungsorganisation im Sinne des schon so bald wieder obsolet erscheinenden Gesetzes von 1845 mitzuwirken.555 So erwies sich die Etablierung eines Prüfungssystems, das im Zusammenhang mit der Wiederbelebung des Korporationswesens zweifellos das Kernstück der großen Reformgesetzgebung des Jahres 1845 ausmachte, zunächst als völliger Fehlschlag. Die partiellen Ansätze der Verwaltung zur Durchsetzung der Vorschriften nahmen sich merkwürdig zögernd und unentschlossen aus, so als sei man nicht eigentlich von der Nützlichkeit des Vorhabens überzeugt. Nur wenige jener ungeprüften Handwerker, die, obgleich erst nach Erlass der Gewerbeordnung etabliert, dennoch Lehrlinge ausbildeten, wurden gezwungen, diese zu entlassen. Für die mangelnde Konsequenz bei der Durchsetzung der Vorschriften mochte die einhellige Ablehnung der Bestimmungen durch den Handwerkerstand ursächlich sein. Der Magistrat der Stadt Münster hatte bereits kurz nach Erlass der Gewerbeordnung prophezeit, dass sich die Ziele des Gesetzes in Westfalen nicht erreichen ließen. Sein Ersuchen, von dem Aufbau der Prüfungsbehörden abzulassen, verband er mit der Feststellung, das Prüfungssystem der Gewerbeordnung „sei doch ein gar zu dürftiges Heilmittel für die Gebrechen des früher so stattlichen Handwerkerstandes“.556 Die Herren Hüffer, Schmedding und v. Olfers sollten Recht behalten. Im Bewusstsein der westfälischen Handwerker hinterließ das Gesetz von 1845 keine Spuren.557 Mit dem unrühmlichen Ende dieser ungeliebten Reform war aber keineswegs der alte Wunsch der Handwerker nach Wiederherstellung des zwar wenig sachgerechten, doch immerhin selektiven Prüfungswesens, wie es die Zunftzeit gekannt hatte, erloschen. Eben diesem System, das man schon so lange entbehrte, träumte man in Westfalen weiterhin nach. Als konkretes Vorbild diente noch immer das jedenfalls in den Augen der etablierten Meister erfolgreiche Prüfungssystem in den

554 Vgl. Bekanntmachung der Reg. Münster v. 8.3.1848, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 18.3.1848, S. 92–108. 555 Schreiben des Magistrats der Stadt Steinfurt an die Reg. Münster v. 26.7.1848 sowie Schreiben des Magistrats der Stadt Münster an die Reg. Münster v. 22.8.1848, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832; einzelne Handwerker beantragten die umgehende Beseitigung der Prüfungsvorschriften; s. auch Schreiben des Handelsministers an die Soester Zimmerleute v. 6.8.1848, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1. 556 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster v. 26.11.1845 an der Regierung, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5832. 557 Die Nichtachtung der Gewerbeordnung ging so weit, dass die Handwerker glaubten, das Gesetz v. 17.1.1845 sei nicht verwirklicht und deshalb bestehe die völlige Gewerbefreiheit fort; s. Petition des Gewerbevereins Soest v. 28.10.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141.

C. Das Prüfungswesen

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Bauhandwerken.558 In die Übertragung der dort realisierten rigiden Zulassungsbeschränkungen auf die anderen Handwerkssparten setzten die in den Krisenjahren nach 1846 von der nackten Existenzangst geplagten Meister die größten Hoffnungen. Die zahllosen Petitionen aus Westfalen, die das Paulskirchenparlament erreichten, zeigen es: Die Meister forderten als Bedingung für den selbständigen Gewerbebetrieb uni sono die Vollendung eines gewissen Lebensalters (24 oder 25 Jahre)559 und die bestandene Meisterprüfung.560 Manche wünschten darüber hinaus, dass der Erwerb des Bürgerrechts für diejenigen, die das Meisterrecht gewinnen wollten, entgegen § 20 der Gewerbeordnung von 1845 verbindlich gemacht werden solle561 oder das die Etablierung neuer Meister örtlichen Bedarf oder gar den Nachweis eines bestimmten Barvermögens voraussetze.562 c. Die Verordnung vom 9.2.1849 aa. Die Regelungen Am 9.2.1849 wurde die „Verordnung, betr. die Errichtung von Gewerberäten und verschiedene Abänderungen der Gewerbeordnung“ erlassen. Die Regelung der Ausbildung im Handwerk durch die Normierung der traditionellen Berufslaufbahn Lehrling/Geselle/Meister mit den Leistungskontrollen der Gesellen- und Meisterprüfung bildete das Herzstück dieses Gesetzes. Seither waren die Angehörigen von nicht weniger als 79 Handwerksberufen gehalten, sich einer Prüfung zu unterziehen, und zwar auch dann, wenn sie weder einer Innung beitreten noch Lehrlinge ausbilden wollten.563 Zur Meisterprüfung konnte nach Inkrafttreten der Verordnung nurmehr zugelassen werden, wer drei Jahre lang Lehrling bei einem Meister gewesen war, dann die Gesellenprüfung bestanden hatte, drei Jahre als Geselle gearbeitet und das 24. Lebensjahr vollendet hatte (§§ 23–43 d. VO v 9.2.1849). Wer diese Bedingungen erfüllte und die Meisterprüfung bestanden hatte, konnte die Meister-

558 Das Prüfungssystem für die Bauhandwerker war durch die Gewerbeordnung v. 1845 inhaltlich nicht berührt worden. Lediglich die zuvor übliche Vereidigung wurde abgeschafft; s. Amtsblatt der Regierung Arnsberg v. 21.2.1848, S. 65. 559 Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141, fol. 4, 24, 114, 145a, 168, 182, 195, 205. 560 Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141, fol. 24, 58, 90, 104, 108, 114, 137a, 145, 167, 168, 181, 182, 185, 187, 189, 192, 205. 561 Nach § 20 der preußischen Gewerbeordnung v. 17.1.1845 konnte die Zulassung zum Gewerbebetrieb nicht vom Besitz des Bürgerrechts abhängig gemacht werden; s. Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141, fol. 24, 58. 562 Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141, fol. 114, 4. 563 Mit der Aufzählung der prüfungspflichtigen Handwerke war allerdings noch nicht hinreichend bestimmt, welche Gewerbetreibenden der Prüfungspflicht unterlagen: Es fehlte der Hinweis auf Merkmale, wie ein Fabrikant von einem Handwerker zu unterscheiden sei, z. B. ein Mehlfabrikant von einem Müller, ein Brotfabrikant von einem Bäcker etc. Die Bestimmungen des ALR II 8 §§ 407–423 ermöglichten die Unterscheidung nicht. Mit dem allmählichen Aufbau der Industrie wurden die Abgrenzungsprobleme immer drängender und die Auseinandersetzungen um diese Frage häufiger.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

prüfung für ein weiteres Gewerbe ablegen, ohne vorher den Nachweis einer absolvierten Lehrlings- und Gesellenzeit für das zweite Gewerbe erbringen zu müssen.564 Bei jeder Innung sollte eine Kommission zur Abnahme der Meister- und Gesellenprüfungen gebildet werden, die sich aus zwei Innungsmeistern und zwei Gesellen zusammensetzte, wobei den Vorsitz ein Vertreter der Kommunalbehörde zu führen hatte (§ 37). Da kein Innungs-Zwang bestand, gab § 40 der Verordnung jenen Gewerbetreibenden, die einer Innung nicht beitreten wollten, die Möglichkeit, vor sog. Kreis-Prüfungs-Kommissionen den Befähigungsnachweis zu erlangen. Hierzu bestimmte die Verordnung in § 39, dass für jedes Handwerk von der Regierung je nach den örtlichen Verhältnissen eine oder mehrere solcher Kreis-Prüfungs-Kommissionen einzusetzen seien, die von zwei Meistern, zwei Gesellen – wenn möglich Mitgliedern bestehender Innungen – und von dem von der Regierung ernannten Vertreter der Gemeinde als Vorsitzendem gebildet werden sollten. Die am 31.3.1849565 erlassenen Ausführungsbestimmungen für die nach den §§ 37 und 39 der Verordnung von 1849 zu bildenden Prüfungskommissionen ließen den neuen Gremien eine außerordentlich große Freiheit bei der Bestimmung der Prüfungsanforderungen. Ganz im Sinne früherer gesetzlicher Regelungen, dem Reichsschluss von 1731 oder dem ALR etwa, war es lediglich untersagt, ungewöhnliche oder schwer zu verwertende Arbeiten als Prüfungsaufgaben zu vergeben. Die Meisterprüfung sollte sich nicht nur auf praktische Kenntnisse, sondern auch auf kaufmännische Fähigkeiten und technisches Wissen erstrecken.566 Nach § 2 der Bestimmungen waren für die Prüfungsgebühren Höchstsätze vorgesehen, wobei für die Meisterprüfung 10, für die Gesellenprüfung 3 Taler verlangt wurden. Die Regierung ernannte den Vorsitzenden der Prüfungskommission (§ 4). Dieser bestimmte die weiteren Mitglieder des Gremiums, die er aus der Zahl der Handwerker, welche die Gesamtheit der Meister bzw. Gesellen jährlich wählte, berief. Die Bedeutung, die der Gesetzgeber diesen Prüfungsbestimmungen zumaß, ergibt sich schon aus der außerordentlich sorgfältigen Regelung der Materie. Bemerkenswert erscheint ein gewisses Misstrauen gegenüber der Selbstverwaltung im Handwerk, welches in dem Umstand, dass für die Examen vor den Innungen die im Prüfungswesen im allgemeinen nicht übliche Möglichkeit des Rekurses, hier an die Kreis-Prüfungs-Kommissionen, vorgesehen war, zum Ausdruck kommt. Abweichend von diesen Regelungen wurde das Prüfungswesen für einzelne Gewerbe, deren Kontrolle als besonders dringlich galt, spezifischer organisiert:567 (1) Für den Betrieb der Bauhandwerke, der die öffentliche Sicherheit tangierte, blieb nach § 24 der Verordnung v. 9.2.1849 über die Befähigung zum selbständigen Gewerbebetrieb weiterhin das in § 45 der Gewerbeordnung von 1845 564 Vgl. § 35 der Verordnung v. 9.2.1849, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1849, S. 93 (101). 565 Z. B. Amtsblatt der Reg. Minden v. 23.11.1849, S. 271–276. 566 Vgl. dazu Riedel (1861), S. 149; § 5 der Anweisung für die nach den §§ 37, 39 der Verordnung v. 9.2.1849 gebildeten Prüfungskommissionen, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 23.11.1849, S. 271–276 (272). 567 S. Anweisung betr. die Prüfung der Schornsteinfeger v. 13.11.1849, in: Amtsblatt der Reg. Minden, Jahrg. 1850, S. 50 ff.

C. Das Prüfungswesen

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vorgeschriebene Zeugnis der Regierung, das nach Bestehen der Meisterprüfung vor der staatlichen Prüfungskommission erteilt wurde, verbindlich (s. o.). (2) Auch das Prüfungswesen für die Schornsteinfeger wich von der Norm ab.568 Hier bestand die Kommission aus dem obersten Polizeibeamten des Prüfungsbezirks, dem Bezirks-Bau-Inspektor sowie zwei oder drei Schornsteinfegermeistern. Die Handwerker hatten auf die Zusammensetzung der Kommission keinen Einfluss. Die Auswahl der Prüfungsaufgaben wurde nicht dem PrüferKollegium überlassen, sondern in § 7 der Ausführungsbestimmungen detailliert benannt. Die Vorschriften weisen einmal mehr nach, dass der Staat den Einfluss auf die Auswahl der Handwerker in gefahrgeneigten Berufen nicht aus der Hand geben wollte. (3) § 1 des Gesetzes über die Presse v. 12.5.1851569 in Verbindung mit den dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen des Innen- und des Handelsministeriums vom 10. August 1851570 unterwarf – allerdings aus ganz anderen Gründen – auch Buchhändler und Buchdrucker der Prüfungspflicht. Für jeden Regierungsbezirk wurde am Orte des Regierungssitzes eine Prüfungskommission für diese Berufe errichtet.571 Sie bestand aus dem Vorsitzenden, der Mitglied der Regierungsbehörde sein sollte, sowie aus je zwei Buchdruckern und Buchhändlern. Die Bezirksregierung selbst hatte sich mit jedem Prüfungsgesuch zu befassen und insbesondere Feststellungen zur Unbescholtenheit des Kandidaten zu treffen.572 Auch jene Buchdrucker, die bereits vor Erlass der Bestimmungen selbständig tätig gewesen waren, mussten sich – im Gegensatz zu den Angehörigen aller anderen Handwerksberufe – dennoch der Prüfung unterziehen. Hier offenbart sich, dass es bei der Einführung der Prüfungspflicht für die Presse-Berufe weder um Gewerbeförderung noch um Konkurrenzbeschränkung, sondern um Vertrauenswürdigkeit im Sinne der durch den revolutionären Furor tief verunsicherten Obrigkeit ging. Folgerichtig hatten die Buchdrucker selbst die Einführung der Prüfungspflicht keineswegs gefordert. Sie lehnten sie sogar mit Nachdruck ab. Es war vielmehr die Berliner Regierung, die – geschickt und lautlos, gewissermaßen durch die Hintertür – die Prüfungsvorschriften für diesen zur Zeit des Alten Handwerks nicht zünftigen, aber konzessionspflichtigen Beruf dekretierte, um unliebsame Personen von den Presseberufen fernzuhalten. Diese Zusammenhänge waren den Betroffenen sehr bewusst; nur konsequent war es daher, dass sich die Münsteraner Buchhändler und Buchdrucker Theising und Coppenrath weigerten, die Prüfung abzulegen.573 568 S. Anweisung betr. die Prüfung der Schornsteinfeger v. 13.11.1849, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 13.1.1850, S. 5 ff. 569 Preußische Gesetzes-Sammlung 1851, S. 273. 570 S. Amtsblatt der Reg. Münster v. 30.8.1851, S. 229–232; desgl. in STAM, Oberpräsidium, Nr. 6868. 571 S. Amtsblatt der Reg. Münster v. 30.8.1851, S. 229–232. 572 S. Z. 6 der Ausführungsvorschriften, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 30.8.1851, S. 229–232; desgl. in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 6868. 573 S. Schreiben der Reg. an Coppenrath v. 21.8.1852, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 6868.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Nach alledem war der Marktzutritt seit Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 an den Nachweis bestimmter fachlicher Qualifikationen geknüpft, die sowohl sachlich als auch zeitlich eine beträchtliche Sperrwirkung ausübten, da der Befähigungsnachweis in der Regel eine ordentliche Lehrzeit mit entsprechendem Abschluss (Gesellenprüfung) und eine weitere unselbständige Tätigkeit in dem betreffenden Gewerbe erforderte. Als zusätzliche Erschwerung umfasste er noch die Meisterprüfung. Mit diesen Regelungen, der Einführung von Befähigungsnachweisen durch Prüfungen, war eine der wichtigsten Forderungen der Handwerkerbewegung erfüllt. Weitgehend unklar ist bislang aber, welchen Stellenwert das neu geschaffene Prüfungswesen für das Handwerk und die Qualität seiner Arbeit besaß. Hat die Einführung des Befähigungsnachweises ihre Ziele, nämlich (1) eine bessere Funktionsfähigkeit der gewerblichen Wirtschaft und (2) eine wirksame Mittelstandspolitik,574 erreicht? Dass wenigstens tendenziell günstige Folgen für den allgemeinen Leistungsstand der Gewerbe eintraten und damit zugleich auch die Effizienz der Gesamtwirtschaft gesteigert wurde, dürfte unbestritten sein, da nun – jedenfalls theoretisch – die Chance des Marktzutritts für Anbieter ohne geregelte Berufsausbildung fortfiel, die bei Gewerbefreiheit immer zu einem mehr oder minder großen Leistungsgefälle führt.575 Problematischer ist dagegen die Beantwortung der Frage, ob die Hürde des Befähigungsnachweises den wirtschaftlichen und sozialen Ausleseprozess abschwächte,576 also als sozialer Stabilisierungsfaktor im Handwerk wirkte. bb. Die Wirkungen des obligatorischen Befähigungsnachweises Eingehend hat sich mit den Auswirkungen der Verordnung vom 9.2.1849 auf das Handwerk Karl Heinrich Kaufhold befasst.577 Er wies – sehr zu Recht – darauf hin, dass die Innungen durch das Prüfungswesen an Bedeutung gewonnen hätten, da die Mehrzahl der Handwerker die Innungsprüfungen vorgezogen habe.578 Ob dies auch für Westfalen zutrifft, erscheint aber schon wegen der geringen Bedeutung, welche das Innungswesen in der Provinz erlangte, unklar. Die zeitgenössische Literatur hilft mangels einheitlicher Ergebnisse bei der Beurteilung der Bedeutung der Prüfungsvorschriften nicht weiter; während der Statistiker Georg von Viebahn davon ausging, dass sich aufgrund der Bestimmungen der Bildungsstand und damit auch die Leistungen der Handwerker gehoben hätten,579 sah Gustav Schmoller die materielle Not, nicht die Wirkungen der Gesetzgebung als ursächlich für das unzweifelhaft gestiegene Bildungsstreben der Handwerker an.580 Die Verordnung selbst habe die Lage der Handwerker jedenfalls nicht signi574 575 576 577 578 579 580

Vgl. Tuchtfeld (1955), S. 135. S. Tuchtfeld a. a. O., S. 135. Dazu für die Gegenwart ausführlich Tuchtfeld a. a. O., S. 149 ff. Kaufhold (1975), S. 165–188. So Kaufhold (1975), S. 166. v. Viebahn (1868), 3. T., S. 542. Schmoller (1870), S. 88–90.

C. Das Prüfungswesen

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fikant verbessert.581 Zu demselben Schluss kommt auch Margret Tilmann, die sich mit der Entstehung der Verordnung befasst hat:582 „Eine direkte Wirkung der Gewerbenovelle auf die Entwicklung des Handwerks lässt sich nicht nachweisen …“, bemerkte sie. Noch pointierter äußerte sich Heinrich Volkmann: Die Verordnung sei „ein Musterbeispiel jener Art politischer Gesetzgebung im Sinne der ‚PlaceboTherapie‘, die, vor allem auf psychologische Wirkung berechnet, weit mehr erwarten lässt und zu gewähren scheint, als ihr Inhalt rechtfertigt“.583 Will man dieser und den vielen anderen Fragen nachgehen, welche das Prüfungssystem bislang noch aufgibt, so ist es unerlässlich, die Berichte zur Umsetzung der Verordnung vom 9.2.1849 auszuwerten, welche die preußischen Regierungspräsidenten 1860 dem Handels- und Gewerbeminister auf dessen Anforderung erstatteten.584 Das Ministerium war damals entschlossen, an dem geltenden Recht festzuhalten,585 fand damit aber, wie sich zeigen lässt, keineswegs die Zustimmung aller Bezirksregierungen. Kaufhold hat festgestellt, dass die Mehrzahl der Regierungen in Brandenburg und in der Rhein-Provinz die Prüfungsbestimmungen als nutzlos erachtete586 – wofür es in der Tat allerlei Indizien gibt: Tüchtige Meister weigerten sich, in den Prüfungskommissionen mitzuwirken. Im Bezirk Düsseldorf hatte 1860 lediglich ein Zehntel aller Gesellen die Prüfung abgelegt.587 Die Frankfurter Regierung betrachtete zwar den geregelten Ausbildungsgang als grundsätzlich positiv, beurteilte aber die Meisterprüfungen als nicht bewährt. Beklagt wurde insbesondere, dass die Anforderungen in den kleinen Orten beinahe ebenso hoch seien wie in den Großstädten. Von günstigen Wirkungen der Ausbildungs- und Prüfungsvorschriften sprachen demgegenüber die Regierungen in Koblenz und Köln. Insgesamt lassen die Berichte aber erkennen, dass um 1860 die Gegner der Prüfungsvorschriften in der Verwaltung dominierten – ein für die Zeit des wiedererstarkenden Liberalismus kaum verwunderliches Meinungsbild. Wegen des zeittypischen Kolorits dieser Äußerungen ist damit aber noch nichts über die wirkliche Bedeutung des Prüfungswesens in den fünfziger Jahren ausgesagt. Kaufhold kommt zu dem Ergebnis, die Handwerker hätten die eigentlichen Intentionen des Gesetzes umgekehrt, indem sie die Gesellen- und Meisterprüfungen vor allem als Mittel zur Regulierung der Konkurrenz im Handwerk betrachte-

581 582 583 584

Schmoller (1870), S. 90 ff. Tilmann (1935), S. 65. Volkmann (1968), S. 39 f. Anlass für die Zirkularverfügung des Ministers für Handel und Gewerbe vom 16.6.1860 war der Gesetzentwurf „betreffend die Ergänzung und Abänderung der Allgemeinen Gewerbeordnung sowie die Aufhebung der über die Errichtung von Gewerberäten und verschiedene Abänderungen der Allgemeinen Gewerbe-Ordnung unter dem 9.2.1849 erlassenen Verordnung“, den die liberalen Abgeordneten Duncker und Veit 1860 im preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht hatten. Ihnen ging es um die Aufhebung der Verordnung; s. Kaufhold (1975), S. 172. 585 So Kaufhold (1975), S. 173. Kaufhold hat für seine Untersuchung die Berichte zweier Provinzen, und zwar die Brandenburgs und der Rheinprovinz, ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Berichte werden mit denjenigen für Westfalen verglichen in: Deter (2003/2004), S. 267–299. 586 Kaufhold (1975), S. 179. 587 S. Kaufhold (1975), S. 180.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

ten.588 Ob die Urteile in der Literatur über die Wirksamkeit der Prüfungsvorschriften auch für Westfalen Bestand haben, soll im folgenden unter Heranziehung des umfangreichen Archivmaterials geprüft werden. Unübersehbar gingen die Regierungen nach dem Erlass der Verordnung von 1849 mit weitaus mehr Elan an den Aufbau des Prüfungssystems, als dies im Jahre 1821 nach der Emanation der Prüfungsvorschriften für Bauhandwerker der Fall gewesen war. Bereits gegen Ende des Jahres 1849 waren die Prüfungsbezirke organisiert und die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen in den Kreisen ernannt.589 Um die Jahreswende wurden die Wahlen zu den Kreis-Prüfungs-Kommissionen durchgeführt.590 Nun musste sich die neue Einrichtung bewähren. (a) Unterschiedliche Entwicklung in Stadt und Land In den wenigen Städten Westfalens, in denen der durch die Gewerbeordnung des Jahres 1845 reanimierte Innungsgedanke auf fruchtbaren Boden gefallen war, setzte sich auch das Prüfungssystem schnell durch. In Soest, das bald zu einer Hochburg des Korporationswesens der Handwerker in der Provinz werden sollte, fanden schon in den ersten drei Quartalen des Jahres 1850 nicht weniger als 18 Meister- und 4 Gesellenprüfungen statt, obwohl damals noch keine Innungen in der Stadt bestanden;591 in dem knappen halben Jahr zwischen dem 18.8.1851 und dem 31.1.1852 waren es dann 17 Examen, davon 4 Gesellenprüfungen,592 und im weiteren Verlauf des Jahres 1852 fanden 9 Meister- und 19 Gesellenprüfungen in der Bördehauptstadt statt. Signifikant ist, dass sich solche Erfolge nur in Städten erzielen ließen. Von den insgesamt 45 Handwerkern, die 1850 in Brilon geprüft wurden, waren 40 in der Stadt Brilon selbst wohnhaft, während nur 5 aus dem Kreisgebiet kamen.593 Für diese auffällige Diskrepanz zwischen Stadt und Land lassen sich verschiedene Ursachen ausmachen: In den urbanen Gemeinwesen spielte die Ausbildung von Lehrlingen, die Mitgliedschaft in Innungen und Handwerkervereinen, die Sozialkontrolle durch die Berufskollegen, das gesellschaftliche Renommee, welches die bestandene Prüfung vermittelte, naturgemäß eine weitaus größere Rolle, als dies auf dem Lande der Fall war. Auch hofften die Stadthandwerker, mit Hilfe der Prüfungen ihre alten Vor588 Vgl. Kaufhold (1975), S. 187. 589 So z. B. Angabe der im Reg.-Bez. Minden gebildeten Prüfungs-Kommissionen, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 23.11.1849, S. 278–279; desgl. in: Extra-Blatt zum Amtsblatt der Reg. Münster v. 1.6.1850, S. 2. 590 S. dazu zahlreiche Mitteilungen in den Amtsblättern des Jahres 1850. In vielen kleineren Orten erschien niemand zur Wahl. In diesem Fall schlug der Amtmann die Mitglieder der PrüfungsKommissionen vor. So z. B. in Medebach und Winterberg, s. Schreiben v. 28.12. und 22.12.1849, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 591 Protokoll der Sitzung des Gewerbevereins Soest v. 11.2.1850, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 9, Bd. II. Zu den Prüfungen in Westfalen vgl. Deter (2003/2004), S. 267–299 (280, 281, 289, 290, 292). 592 S. Schreiben des Gewerberates der Stadt Minden an die Reg. Minden v. 12.3.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 795. 593 Schreiben des Vorsitzenden der Prüfungs-Kommission an die Reg. Arnsberg v. 8.1.1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358.

C. Das Prüfungswesen

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rechte gegenüber den Landhandwerkern wiederbeleben zu können. Sie schätzten ihre eigene Leistungsfähigkeit höher ein und sahen nun die Gelegenheit gekommen, dies auch unter Beweis stellen zu können. Damit der Unterschied zwischen den ehemaligen Zunftgenossen in der Stadt und den tagelöhnernden Flickern des platten Landes auch nach außen recht deutlich dokumentiert werde, forderte der Soester Gewerbeverein damals, dass besondere Prüfungs-Kommissionen für die Landgemeinden errichtet werden sollten.594 Nicht zuletzt war es auch die spürbare Überwachung der Handwerker durch manche Stadtverwaltung, die das Prüfungswesen förderte. So wurden in Lippstadt im Jahre 1851 diejenigen Handwerker, welche den selbständigen Gewerbebetrieb aufgenommen hatten, ohne zuvor die Meisterprüfung abgelegt zu haben, ohne viel Federlesens angezeigt, nachdem wiederholte Warnungen der Verwaltung erfolglos geblieben waren.595 Die Stadt Minden unterrichtete alle Handwerker, die sich nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 niederließen, eigens über die gesetzlichen Bestimmungen. Auch mancher Gewerberat zählte es zu seinen Aufgaben, auf die Einhaltung der Prüfungsbestimmungen hinzuweisen.596 Die staatliche Verwaltung suchte den Prüfungsgedanken ebenfalls zu fördern, indem sie die Ernennungen der Vorsitzenden der Kreis-Prüfungs-Kommissionen seit 1852 regelmäßig in den Amtsblättern veröffentlichte. Nichtsdestoweniger wurden die Bestimmungen über die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes aber auch in den Städten Westfalens weiterhin höchst unterschiedlich gehandhabt. Während in Soest schon jede Unregelmäßigkeit der Legitimation als qualifizierter Meister, jedes unbefugte Beschäftigen von Lehrlingen durch Polizeistrafe geahndet wurde,597 war es in Paderborn noch 1853 durchaus üblich, dass ungeprüfte Handwerker Lehrlinge ausbildeten. In Herford trug man zur gleichen Zeit keinerlei Bedenken, einen nicht examinierten Schlosser zum Prüfungsmeister zu wählen.598 Überhaupt zeigten sich allerlei bis dahin unbekannte Hemmnisse, die das neue System nicht eben populärer machten: so mussten sich Gesellen, die in den nicht-preußischen Nachbarländern Westfalens die Prüfung abgelegt hatten, nochmals prüfen lassen, wenn sie in der preußischen Provinz im Handwerk arbeiten wollten.599 Lehrlingen, die ihre Lehre in einem Betrieb absolviert hatten, den eine Witwe führte, wurde die Lehrzeit nicht als ausreichende Vorbereitung auf die Gesellenprüfung anerkannt.600 Vereinzelt versuchte man auch, die Prüfungsmeister

594 Dies Ansinnen lehnte die Reg. Arnsberg aber ab, s. Stadtarchiv Soest XXXII c 9, Bd. II. 595 S. Stadtarchiv Lippstadt, Verwaltungsbericht der Stadt Lippstadt des Jahres 1850/51. 596 So z. B. Stadtarchiv Soest, XIX g 14. 597 S. Protokoll v. 16.8.1853, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 5; s. Stadtarchiv Soest XIX g 14; vgl. auch Centralblatt für den Handwerkerverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen, Jahrg. 1852, Nr. 14 v. 3.4.1852, S. 58. 598 S. Schreiben des Vorstandes der Vereinigten Feuerarbeiter-Innung in Herford aus dem Jahr 1853, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 780, fol. 44; s. desgl. Klagen über die mangelnde Durchführung des Gesetzes von 1849 durch die Lokalbehörden aus Schwelm, in: Centralblatt für den Handwerkerverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen, v. 3.4.1852, Nr. 14, S. 57. 599 Vgl. Schreiben v. 12.3.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 755. 600 Vgl. Schreiben v. 25.10.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 755.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

zu bestechen.601 Häufiger wurde in der Prüfung Nachsicht gegen die Söhne von Meistern, aber auch gegen solche Kandidaten, die sich außerhalb niederlassen wollten, oder auch gegen Unbemittelte geübt. Unangemessene Milde war ebenso an der Tagesordnung wie ungerechtfertigte Strenge gegen unerwünschte Konkurrenten.602 Trotz dieser vielfältigen Ungereimtheiten wurde in den Städten im Laufe der fünfziger Jahre eher zur Ausnahme, was auf dem Lande zu gleicher Zeit die Regel blieb: die Prüfungsbestimmungen fanden in den Dörfern kaum Beachtung. „Man nimmt Lehrlinge an und hält Gesellen, ohne sich als Meister ausgewiesen zu haben, und arbeitet und pfuscht darauf los wie früher auch,“ schrieb der Handwerkerverein in Brilon mit Blick auf die ländliche Umgebung der Stadt.603 Die Selbstsicherheit der Unqualifizierten rief angesichts der hohen Strafdrohung bis zu 200 Rtl., mit der die Prüfungsvorschriften bewehrt waren, selbst bei den Zeitgenossen, die an die großzügige Handhabung von Rechtsnormen gewöhnt waren, ein gewisses Erstaunen hervor. Hier liefert aber wiederum das Verhalten der Administration die Erklärung: von Seiten der ländlichen Ortsgewalten geschah nichts zur Verwirklichung der gesetzlichen Bestimmungen.604 Die unbefugte Ausübung des Gewerbebetriebes wurde in den Dörfern nur dann geahndet, wenn ein neidischer Konkurrent den „pfuschenden“ Handwerker zur Anzeige gebracht hatte.605 Wie unschuldig man damals fernab der größeren Städte noch über gesetzliche Vorschriften denken konnte, zeigt der Antrag eines Schreiners aus der Kleinstadt Peckelsheim im Kreise Warburg, der von der lästigen Prüfungspflicht befreit werden wollte. Als er zur Ablegung der Meisterprüfung aufgefordert wurde, begründete er seine Weigerung damit, dass er noch niemals gehört habe, dass ein Schreiner eine Prüfung ablegen müsse. Schließlich könne er ordentlich und selbständig arbeiten, so dass die durch die Prüfung entstehenden Kosten und der Zeitverlust unnötige Aufwendungen seien.606 Solche Ahnungslosigkeit war durchaus nicht selten.607 Insbesondere im Münsterland arbeiteten die ungeprüften Landhandwerker mit stiller Duldung der Behörden in der Regel selbständig. Die Bürgermeister brachten den ungesetzlichen 601 So z. B. Schreiben des Vorsitzenden einer Prüfungs-Kommission an die Reg. Minden v. 30.10.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 777. 602 S. dazu Riedel (1861), S. 147; a. A. Hasemann, Art. „Geselle“, (1856), S. 428, der feststellte, dass an die zunfttypische Erleichterung des Meisterwerdens für die Meistersöhne nicht mehr angeknüpft werde. Der Erschwerung der gewerblichen Niederlassung in den Städten diente auch das Einzugsgeld, das Preußen wieder eingeführt hatte. 603 So Schreiben des Handwerkervereins Brilon an die Kreis-Handwerker-Prüfungs-Kommission v. 8.1.1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 604 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon v. 7.6.1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 605 So im Falle des Schmieds Brühs aus Löwen, Krs. Warburg, s. Schreiben v. 21.9.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 780; solche Denunziationen wurden durch die Gewerbevereine, Innungen und Gewerberäte gefördert. 606 So Antrag des Schreiners Proppe aus Peckelsheim v. 28.6.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 607 So berichtete der Metzger Friedrich Westhoff aus Paderborn 1864, weder habe er gewusst noch habe ihn sein Lehrmeister darauf hingewiesen, dass die Ablegung einer Gesellenprüfung für sein späteres Fortkommen erforderlich sei, s. Schreiben des F. Westhoff v. 26.11.1864, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 685.

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Verhältnissen dort Verständnis entgegen, da sie um die desolate wirtschaftliche Lage vieler Landhandwerker wussten.608 Fatal war allerdings, dass auch die Ungeprüften in den Dörfern häufig Lehrlinge hielten. Denn die so ausgebildeten Handwerker fielen durch die Maschen der neuen Gewerbegesetzgebung. Das wurde ihnen allerdings erst dann bewusst, wenn sie nicht zur Meisterprüfung zugelassen wurden.609 Auf die Einsicht der Bürgermeister in dieser Frage konnte man nicht bauen: „Die Menge ungeprüfter Handwerker“, klagte der Vorsitzende der Briloner Prüfungs-Kommission, werde „in ihrer Renitenz sogar von einigen Gemeindevorständen bestärkt“.610 Solch ein an gewerbefreiheitlichem Gedankengut orientiertes und wenig gesetzestreues Verhalten der Lokalgewalten, das in der traditionellen Zunftlosigkeit des Dorfhandwerks seine Ursache hatte, wurde natürlich auch durch die Unkenntnis nicht weniger Behörden über das geltende Recht gefördert. So meinte der Bürgermeister von Hoetmar im Kreis Warendorf noch 1855, den Ungeprüften sei der selbständige Gewerbebetrieb erlaubt, wenn sie nur keine Lehrlinge ausbildeten.611 Seine Kenntnis der gesetzlichen Bestimmungen verharrte also auf dem Stand des Jahres 1845. Nicht minder ursächlich für das Scheitern des Prüfungssystems auf dem Lande war auch das noch immer vorhandene Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land. Die Landhandwerker fühlten sich den Anforderungen, die zwischen Kandidaten vom Land bzw. aus der Stadt keinen Unterschied machten, offenkundig nicht gewachsen.612 (b) Prüfungsgebühren als Hindernis Aber nicht allein das passive, manchmal offen gesetzwidrige Verhalten vieler Amtsträger stand der Verwirklichung der Prüfungsbestimmungen im Wege. Auch die Prüfungsgebühren gerieten nicht selten zu einem wirklichen Hindernis auf dem Wege zur Meisterschaft. Zwar war eine Höchstgrenze von 10 Rtl. festgesetzt. Doch wurde bereits mit dieser Summe die Leistungsfähigkeit mancher Landhandwerker überschritten. Ein Dorfschneider, der gegen Tagelohn arbeitete, erhielt im Kreis Minden im Jahre 1851 neben der Kost nicht mehr als zweieinhalb Sgr. täglich. Die Prüfungsgebühr betrug für die Schneider in Minden aber fünf Rtl. Dies bedeutete, dass der Kandidat nahezu ein Vierteljahr arbeiten musste, um allein die Prüfungsgebühr bezahlen zu können.613 Dass es sich hier um keinen Einzelfall handelte, 608 Vgl. Schreiben des Bürgermeisters von Hoetmar v. 13.10.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1; desgl. Schreiben des Bürgermeisters von Lienen, a. a. O., v. 3.9.1855. 609 S. z. B. die zahlreichen Ablehnungen der Anträge auf Ablegung der Bäckermeisterprüfung, da eine ordnungsgemäße Lehre nicht nachgewiesen werden konnte, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 683; s. auch Protokoll des Gewerberats Paderborn v. 26.4.1853, in: Stadtarchiv Paderborn A 302. 610 Schreiben des Vorsitzenden der Kreis-Prüfungs-Kommission in Brilon v. 10.7.1850, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 611 S. Schreiben des Bürgermeisters von Hoetmar v. 13.10.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1. 612 Vgl. dazu die Ausführungen zu den Gewerbeschulen. 613 S. Schreiben des Schneiders Wilhelm Hahne aus Hahlen bei Minden v. 6.3.1851 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781, fol. 24; desgl. Antrag des Schreiners Proppe aus

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II. Die gewerbliche Ausbildung

lässt sich am Beispiel der Schreiner zeigen. Diese verdienten im Jahre 1853 im Kreis Halle 5 Sgr. täglich. Davon hatten die Gesellen nicht nur die Prüfungsgebühr, sondern auch noch die Kosten für die Anfertigung des Meisterstücks, Reisekosten sowie Kosten durch den mehrtägigen Aufenthalt am Prüfungsort aufzubringen, so dass sich der Gesamtbetrag, der für die Prüfung aufgewendet werden musste, auf insgesamt etwa 25 Rtl. belief.614 Hinzu kam, dass die Kandidaten die letzten Monate vor der Prüfung auf die Vorbereitung verwenden und auch noch die Aufwendungen für die spätere Niederlassung erübrigen mussten. Man wird daher nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass es beinahe der Arbeit eines ganzen Jahres bedurfte, um diesen Aufwand finanzieren zu können. Natürlich lebten die besonders schlecht bezahlten Landhandwerker im allgemeinen nicht allein von ihren winzigen Tagelöhnen, die aber ihre einzigen Bareinnahmen darstellten, sondern hauptsächlich vom Ackerbau.615 Diejenigen aber, denen agrarischer Nebenerwerb nicht möglich war, gerieten in den fünfziger Jahren, als die Getreidepreise stark anstiegen, jedenfalls dann in ernste Bedrängnis, wenn sie eines der wirtschaftlich zurückfallenden Handwerke ausübten. Es wird von „bitterem Hunger“ berichtet, den junge Handwerker und ihre Familien litten, wenn sie zur Ablegung der Meisterprüfung gezwungen waren und das dafür nötige Bargeld ersparen mussten.616 Einem Gesellen, der eine Familie zu ernähren oder, was häufig vorkam, seine alten Eltern zu versorgen hatte,617 durch langen Militärdienst belastet oder gar selbst kränklich war,618 blieb der Weg zur Meisterschaft faktisch versperrt. So nimmt es nicht wunder, dass dieser Zustand den Zeitgenossen je länger desto unhaltbarer erschien. Schließlich handelte es sich nicht um Einzelfälle; denn die „dürftige“ Tagelöhnerarbeit war die gewöhnliche Betriebsform der zahllosen Landhandwerker Westfalens. Als die Regierung in Minden des Problems, das die Prüfungsvorschriften gerade für die Gesellen auf dem Dorfe geschaffen hatten, gewahr wurde, wandte sie sich ratsuchend an das Ministerium,619 zumal sich bereits Gerichte mit der Angelegenheit befasst hatten. In Berlin entschied man aber, dass diese Handwerker nicht, wie gewöhnliche Tagelöhner, nach § 30 der Verordnung von 1849 von der Prüfungspflicht befreit werden könnten.620 Damit war klar, dass Peckelsheim v. 28.6.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794; desgl. Antrag des Tischlers Bohle aus Osterweg, Krs. Halle, v. 18.6.1854, a. a. O.; s. dazu auch Schreiben des Bürgermeisters von Lienen v. 3.9.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1. 614 So z. B. Angabe des Schreiners Proppe aus Peckelsheim v. 28.6.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. Zur wirtschaftlichen Situation in den einzelnen Handwerkssparten in Westfalen im 19. Jahrhundert vgl. Deter (2005). 615 S. Schreiben des Bürgermeisters von Lienen v. 3.9.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1. 616 S. Schreiben des Schneidermeisters Wolf aus Borgentreich v. 10.6.1856 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781. 617 So z. B. Schreiben vom 10.3.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 618 Vgl. Antrag eines kränklichen Schneiders auf Befreiung von der Meisterprüfung, da ihm das Geld fehlte, um die Prüfungsgebühren zahlen zu können, s. Stadtarchiv Soest XIX g 14. 619 Schreiben der Reg. Minden an das Handelsministerium v. 16.7.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781, fol. 29. 620 S. Antwort des Ministeriums v. 28.9.1851, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781, fol. 30.

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sich auch jener Teil der „Professionisten“, dem es nur unter größten Schwierigkeiten möglich war, den Vorschriften zu genügen, dem Examen unterziehen musste. Nicht einmal den durch die Ableistung des Wehrdienstes mittellos gewordenen Gesellen wurde ein Zahlungsnachlass gewährt.621 Dementsprechend kehrten denn auch die Anträge auf Befreiung von der Prüfungspflicht wegen zu geringen Einkommens immer wieder, solange die Bestimmungen in Kraft blieben. Der Vielzahl der ganz mittellosen Landhandwerker, die eher dem Bild des Heuerlings oder ungelernten Tagelöhners als dem des Handwerkers entsprachen, kam lediglich die skizzierte, zumeist großzügige Handhabung der Bestimmungen durch verständnisvolle Lokalbehörden zu Hilfe. Da die Mehrzahl der Landhandwerker – wie skizziert – kaum imstande war, die Kosten der Gesellen- und Meisterprüfung aufzubringen,622 verstand es sich eigentlich von selbst, dass sich das Prüfungswesen auf dem Lande nicht durchsetzen konnte. Die Stadthandwerker hatten hingegen in der Frage der Prüfungsgebühren nirgends auf Entgegenkommen zu hoffen. Die Prüfungs-Kommissionen der Innungen beharrten kompromisslos auf den Zahlungen, weil diese zu ihren wichtigsten Einnahmequellen zählten. Mehr als ein Drittel der einkommenden Gebühren konnten für die Zwecke der Korporationen sowie für die Kranken- und Sterbekassen der Meister verwendet werden.623 Auch manche Kreis-Prüfungs-Kommission war nur an den Gebühren interessiert.624 Eine Ausnahme in Stadt und Land bildete der Regierungsbezirk Arnsberg: dort waren die Prüfungsgebühren auf den niedrigsten noch möglichen Betrag ermäßigt worden, so dass sich die prüfenden Meister nicht selten mit einer nur geringfügigen Vergütung ihrer Zeitversäumnisse begnügen mussten. Grundsätzlich überschritten die Gebühren in diesem Bezirk den Betrag von 5 Tlr. bei der Meisterprüfung und 1 Tlr. 15 Sgr. bei der Gesellenprüfung nicht. In der Regel lagen sie, gestaffelt nach den örtlichen Verhältnissen und dem Verdienst des Kandidaten, bei zwei bis vier Talern für die Meister- und einem Taler für die Gesellenprüfung.625 Um die Kosten möglichst gering zu halten, wurden im Bereich der Regierung Arnsberg neben den Prüfungs-Kommissionen in den Kreisstädten in anderen Orten zusätzlich sog.

621 So mussten drei Tischler aus Herford nahezu gleichzeitig 6 Rtl. Einzugsgeld und 10 Rtl. an Prüfungsgebühren zahlen, obgleich sie wegen sechswöchiger Landwehrdienste verschuldet waren. Ein Befreiungsgesuch wurde abgelehnt. Der Magistrat drohte ihnen an, dass sie für den Fall der Zahlungsunfähigkeit das Handwerk einzustellen hätten; vgl. Schreiben v. 29.6.1850 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 794. 622 S. auch Schreiben des Bürgermeisters von Hoetmar v. 13.10.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1; Schreiben des Bäckerlehrlings Theodor Schnücke aus Lübbecke an die Reg. Minden v. 14.4.1857; Schreiben des Schneiders Temme aus Elsen v. 6.6.1860 und des Schneidergesellen B. Thiele aus Delbrück, ebenfalls aus dem Jahr 1860, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781; weitere Einzelfälle in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781. 623 Vgl. Schreiben des Kleidermacher-, Tischler- und Schuhmacher-Innungsvorstandes an den Gewerberat in Soest. 29.8.1853, in: Stadtarchiv Soest XIX g 14. 624 S. Riedel (1861), S. 147. 625 S. Jacobi (1857), S. 521.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

„Zweig-Prüfungs-Kommissionen“ eingerichtet. Dort hielt man auf Antrag einfachere Prüfungen ab, um den unbemittelten Prüflingen Kosten zu ersparen.626 (c) Alte Abgrenzungsstreitigkeiten in neuem Gewande Mit der Einführung der Prüfungspflicht für alle bedeutenden Handwerksberufe lebten auch die Abgrenzungsstreitigkeiten über die Arbeitsbefugnisse der einzelnen Berufszweige des Kleingewerbes, die während der Zunftzeit eine so bedeutende Rolle gespielt hatten, wieder auf. Die Sonderung der verschiedenen Handwerkstätigkeiten geriet in Westfalen zu einem besonders gravierenden Problem, da es hier, insbesondere bei den zahlreichen Landhandwerkern, hergebracht und üblich war, mehrere Professionen nebeneinander auszuüben. Auf dem Lande führten die Tischler zugleich Glaserarbeiten, die Stellmacher nebenher Tischlerarbeiten, die Schmiede auch Schlosserarbeiten aus;627 Landwirte verdingten sich als Müller und verkauften selbstgebackenes Brot; Maurer, Schreiner und gewöhnliche Tagelöhner betätigten sich als Anstreicher oder Lackierer. Viele Professionisten befassten sich mit nicht weniger als vier Handwerken nebeneinander.628 Angemeldet und ggf. steuerpflichtig war aber jeweils nur das Hauptgewerbe. Grund für diese merkwürdige Kumulierung ganz verschiedener Tätigkeiten war die Tatsache, dass die Ausübung nur eines Gewerbes in vielen Fällen, insbesondere in den dünn besiedelten ländlichen Regionen, als Existenzgrundlage nicht ausreichte. Außerdem lag die Multifunktionalität des Handwerksbetriebes im Interesse der Kundschaft, da manche Berufssparten auf dem Lande nicht durch hauptberuflich arbeitende Meister vertreten waren.629 Hätten die Landhandwerker für alle Tätigkeiten, die sie ausübten, die Prüfung ablegen sollen, wären sie, denen eine geregelte Ausbildung häufig völlig fehlte, restlos überfordert gewesen. Insofern entsprachen die schematischen Prüfungsbestimmungen dem gewachsenen Aufbau der westfälischen Wirtschaftsordnung in keiner Weise. Unklar war vor allem, in welcher Sparte ein solcher „all round“-Handwerker das Examen abzulegen hatte oder ob er dies gleich in mehreren Professionen zu bestehen genötigt war. Nach § 28 der Verordnung von 1849 sollte der Gewerberat unter Berücksichtigung der einschlägigen Vorschriften über die Abgrenzung der Gewerke voneinander diese Frage entscheiden. Die Bestimmung half aber kaum weiter, da die wenigen Gewerberäte, die in Westfalen errichtet worden waren, schon

626 S. Jacobi (1857), S. 521. 627 S. Schreiben des Landrats des Krs. Minden v. 14.7.1850, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754; desgl. Schreiben der Schlosser in Petershagen v. 15.6.1850 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754; desgl. Schreiben v. 27.9.1852, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683; desgl. Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 10.9.1853, S. 318. Zu den Abgrenzungsproblemen vgl. Kaufhold (1975), S. 178. 628 S. z. B. des Meisters Drees aus Ostbevern v. 12.4.1857, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 439, der gleichzeitig Tapezierer, Klempner und Drechsler war. 629 So fehlten z. B. im Krs. Brilon Konditoren, Handschuhmacher, Sattler, Riemer und Täschner; s. Stellungnahme des Landrats des Krs. Brilon v. 24.10.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358.

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nach kurzer Zeit jede Bedeutung verloren und aufgelöst wurden.630 Es war deshalb an den Bezirksregierungen, in Einzelfällen darüber zu befinden, wie weit die Prüfungspflicht der Handwerker reichte. Die Behörden suchten durch eine großzügige Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen die nahezu unüberwindliche Diskrepanz zwischen den Forderungen des Gesetzgebers und den berufspraktischen Möglichkeiten der häufig dilettierenden Handwerker in der Provinz zu überbrücken. Unproblematisch waren die Fälle, in denen Landwirte ein Handwerk betrieben, welches gleichzeitig zu den klassischen Nebengewerben der Landwirtschaft gehörte, wie dies z. B. bei der Müllerei der Fall war. Hier war der Befähigungsnachweis nach § 30 der Verordnung ohne weiteres entbehrlich.631 Auch in den meisten anderen Fällen erübrigte sich eine Stellungnahme der Regierung, da niemand daran Anstoß nahm, dass sich die Handwerker mit fachfremden Tätigkeiten befassten.632 Zudem ließ sich die Problematik häufig durch den Nachweis umgehen, dass das Nebengewerbe schon vor Erlass der Verordnung von 1849 selbständig betrieben worden war. War diese elegante Lösung einmal nicht möglich, so genehmigten die Regierungen nicht selten die Fortsetzung der Nebengewerbe, ohne dass hierfür eine gesonderte Prüfung abgelegt werden musste.633 Dabei scheuten sie sich auch nicht, zu unkonventionellen Lösungen zu greifen und sachfremden Erwägungen Raum zu geben, sofern dies nur praktikable Ergebnisse zeitigte. Hierzu ein Beispiel: die hohen Getreidepreise um die Mitte der fünfziger Jahre ließen es geraten erscheinen, die Konkurrenz auf dem Nahrungsgütermarkt mit allen denkbaren Mitteln zu beleben.634 Man fürchtete allgemein, dass sich in Folge der Prüfungsbestimmungen auf den Dörfern zukünftig keine Bäcker mehr niederlassen würden, weil dort „das Gewerbe zu unbedeutend und zu uneinträglich ist, um die Mühe und Kosten der Ablegung einer Prüfung daran zu wenden“.635 Daher wurde den Landwirten gestattet, im Nebenerwerb Schwarzbrot zu backen und zu verkaufen, damit Brot möglichst preiswert an den Verbraucher gelangen konnte.636 Mit dieser Maßnahme rief die 630 Bis dahin wurde wenigstens in einigen Städten das Abgrenzungsproblem durch die Gewerberäte gelöst; so z. B. Protokoll des Gewerberates Paderborn v. 11.7.1854, in: Stadtarchiv Paderborn A 302. Zu den Gewerberäten vgl. Bd. 1, S. 135–178. 631 S. Schreiben des Handelsministers an die Reg. Arnsberg v. 9.4.1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 632 S. bzgl. Krs. Brilon: Stellungnahme des Landrats des Krs. Brilon v. 24.10.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 633 S. Schreiben der Regierung v. 24.7.1850 an den Landrat des Krs. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754; so auch im Falle eines Bäckerei treibenden Landwirts, s. Schreiben v. 27.9.1852, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683. 634 S. Anfrage des Landrats des Krs. Bielefeld v. 18.5.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683. 635 So Stellungnahme des Landrats des Krs. Höxter v. 3.6.1853 auf die Anfrage der Regierung v. 18.5.1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683; ebenso Landrat des Krs. Büren v. 18.6.1853, a. a. O.; desgl. Landrat des Krs. Minden v. 16.6.1853, a. a. O.; desgl. Landrat des Krs. Bielefeld etc. a. a. O. 636 S. Bekanntmachung der Reg. Minden v. 15.11.1853, in: Amtsblatt der Reg. Minden, Jahrg. 1853, für die Kreise Minden, Bielefeld, Höxter und Büren; diese Regelung wurde 1856 auf den Krs. Warburg (Bekanntmachung v. 11.9.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683) und 1860 auf den Krs. Lübbecke ausgedehnt, s. Bekanntmachung der Reg. Minden v. 4.10.1860, in: STAD I U Nr. 683. Auch Landwirte in Kleinstädten versuchten schließlich, Brot zu verkaufen;

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Regierung allerdings wiederum den Protest der Bäcker hervor, die um ihre Einnahmen fürchteten. Es kam zu langwierigen Streitigkeiten, ob das Brot, das Landwirte buken, Schwarzbrot sei oder nicht.637 Neben solchen Beispielen einer jedenfalls im Grundsatz durchaus flexiblen, lebensnahen und den westfälischen Eigentümlichkeiten gemäßen Entscheidungspraxis der Regierungen lassen sich aber auch starre, am Wortlaut des Gesetzes klebende, unpraktische Stellungnahmen nachweisen: Als die jüdischen Hausschlachter darauf hinwiesen, dass sie ihr Gewerbe traditionell ohne eigentliche Ausbildung im Tagelohn betrieben, ihre Tätigkeit also nicht dem Bild des Fleischers, wie § 23 der Verordnung von 1849 es voraussetze, entspräche, beharrte die Mindener Regierung nichtsdestoweniger auf der Auffassung, auch die Hausschlachterei sei als selbständiger Betrieb des Schlachtergewerbes im Sinne des Gesetzes zu betrachten.638 Hier zeigte sich überdeutlich, dass der Gesetzgeber einmal mehr die Gegebenheiten der gewachsenen Handwerksstruktur in den westlichen Provinzen des Staates verkannt hatte. Das Ansinnen, von einem Hausschlachter eine Lehre und die Ablegung der Meisterprüfung im Fleischergewerbe zu verlangen, blieb den Zeitgenossen, welche die Fleischerei jedenfalls auf dem Lande noch den gewöhnlichen Arbeiten der Hauswirtschaft zurechneten, ganz unverständlich. Die unpraktische und geradezu weltfremde Starrheit der Vorschriften war in der Tat einer der Gründe, welcher das Prüfungswesen in Misskredit brachte. Die für das westfälische Wirtschaftsleben wenig passenden Vorschriften hatten eine unerfreuliche Ambiguität der Entscheidungspraxis – einerseits Beharren auf strikter Anwendung, andererseits Großzügigkeit – der Behörden zur Folge, die kaum vermittelbar gewesen sein dürfte. So setzte sich schließlich immer mehr die großzügige Lösung durch. Die Bezirksregierungen schlugen deshalb mehrfach vor, Handwerkern, die in ihrem Hauptgewerbe die Prüfung abgelegt hatten, auch in verwandten Gewerben die Berufsausübung zu gestatten, ohne dazu eine besondere Genehmigung zu verlangen.639 Diese Vorstöße wurden zwar vom Gesetzgeber nicht aufgenommen. Doch umging man, als sich im Laufe der sechziger Jahre liberale Überzeugungen auch in der Verwaltung durchgesetzt hatten, die Abgrenzungsproblematik dadurch, dass die Lokalbehörden großzügig Ausnahmegenehmigungen nach den §§ 47, 22 der Verordnung vom 9.2.1849 erteilten. Das Verbot, Gesellen aus anderen Gewerben beschäftigen zu dürfen, war damit schon vor Erlass der liberalen Gewerbeordnung von 1869 faktisch gefallen.640 Mit dem Aufschwung der Industrie seit Beginn der fünfziger Jahre gewann ein weiteres Abgrenzungsproblem größere Relevanz; zwar galt im Grundsatz, dass s. Schreiben des Müllers Rathert aus Petershagen v. 20.1.1860, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683. 637 So z. B. Gutachten des Gewerberats der Stadt Minden v. 4.10.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683. 638 S. STAD, Reg. Minden I U Nr. 685, fol. 1 ff. 639 S. Bemerkung des Oberpräsidenten zu dem Bericht der Reg. Arnsberg v. 15.11.1853, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794; so auch Reg. Münster v. 20.9.1860, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781; desgl. Reg. Münster v. 2.11.1861, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 640 S. Schreiben v. 18.11.1865, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 135 ff.

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Handwerker, die in Industriebetrieben arbeiteten oder selbst einen solchen Betrieb leiteten, der Prüfungspflicht nicht unterworfen waren (§§ 30, 47 der Verordnung von 1849). Wer aber war Fabrikant, wer Handwerker? Auch die Kaufleute, die solche Firmen errichteten und leiteten, suchten sich naturgemäß der lästigen Prüfungspflicht zu entziehen. Wegen der vollständigen Unsicherheit, die auch auf diesem Felde herrschte, mussten die Bezirksregierungen nach § 30 der Verordnung von 1849 in den Einzelfällen entscheiden, ob ein Fabrik- bzw. ein Handwerksbetrieb vorlag.641 Die Betriebsgröße ließen sie dabei als Kriterium nicht ausreichen, da ALR Th. II Tit. 8 § 407 den „Betrieb eines Gewerbes“ ganz allgemein als Fabrikbetrieb bezeichnete. Die Begrifflichkeit war demnach unbestimmt und wurde der Bedeutung des Problems in keiner Weise gerecht. Die Meister suchten deshalb mit Hilfe der Gewerberäte die spezifischen Handwerkerinteressen in dieser für sie wichtigen Frage durchzusetzen. So lehnte der Gewerberat in Paderborn 1853 den Antrag eines Kaufmanns auf Errichtung einer Seilerfabrik mit der Begründung ab, bei der Seilerei handele es sich um ein Handwerk, das nur von einem geprüften Meister ausgeübt werden dürfe.642 Wegen der Anerkennung der Brotherstellung in der Großen Mühle zu Warburg als Brotfabrik im Sinne des § 30 der Verordnung von 1849 kam es im Jahre 1857 gar zum Prozess.643 Um den andauernden Streitigkeiten wenigstens auf einigen Gebieten ein Ende zu machen, verfügte der Minister von der Heydt im Jahre 1858 auf Antrag der Regierung Arnsberg nach § 26 der Verordnung von 1849, dass die Grob- und Kleinschmiede, Messerschmiede, Nagelschmiede, Schlosser, Feilenhauer und Weber in den Fabrikregionen der Grafschaft Mark selbständig arbeiten könnten, ohne zuvor die Meisterprüfung abgelegt zu haben.644 Doch half diese nicht mehr als ein Segment des umfassenden Problems betreffende Entscheidung auf die Dauer wenig. (d) Pfuscherjagden Insbesondere im Stadthandwerk lebte eine andere, ebenfalls schon aus der Zunftzeit bekannte Folge des Prüfungswesens wieder auf: Mit dem Erlass der Verordnung von 1849 und der an das Bestehen von Prüfungen gebundenen Zulassung zum selbständigen Gewerbebetrieb begannen auch die unablässigen Auseinandersetzungen mit den sog. „Unqualifizierten“ wieder. Sie waren ein getreues Abbild der Verfolgung der sog. „Pfuscher“, welche der Endphase der Zunftzeit ihren Stempel aufgedrückt und die aufgeklärte Kritik an der Zunftverfassung nachhaltig befördert hatte. Träger der Auseinandersetzungen waren wie ehedem die etablierten Handwerker, 641 Eine Seilerei, die von dem Kaufmann Ferrari in Paderborn betrieben wurde und unter Leitung eines Werkmeisters zehn Gehilfen beschäftigte, wurde noch nicht als Fabrik betrachtet, da die Zahl der Gesellen nach Auffassung der Regierung in Minden nicht ausreichte, um einen Fabrikbetrieb anzunehmen; s. STAD, Reg. Minden I U Nr. 788. 642 S. Protokoll des Gewerberats der Stadt Paderborn v. 16.9.1853, in: Stadtarchiv Paderborn A 302. 643 S. Bericht v. 19.1.1857, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683; 1861 wurde die Errichtung einer weiteren Brotfabrik in Warburg wegen zu geringen Umfangs des Unternehmens abgelehnt; s. Antwort auf Schreiben v. 17.4.1861, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683. 644 Verfügung des Ministers von der Heydt an die Regierung Arnsberg v 23.12.1858, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794; desgl. in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 15.1.1859, S. 21, 22.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

die mit gleicher Intensität wie 50 oder 100 Jahre zuvor für ihre Interessen fochten. Lediglich die Bezeichnung des Gegners hatte sich geändert. Doch bestand immerhin ein bedeutsamer Unterschied zur großen Zeit der „Pfuscherjagden“: das Selbstbewusstsein der Häscher war nun weitaus geringer entwickelt als dies ein Säkulum zuvor noch der Fall gewesen war. Denn die Etablierten sahen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts gleich zwei Kontrahenten gegenüber, und einem der beiden fühlten sie sich hoffnungslos unterlegen: dies war die Fabrik, der, so wussten sie, jedenfalls in den Produktionshandwerken die Zukunft gehörte und an die viele von ihnen ihr Terrain verlieren würden. Um so stärker klammerten sich die Meister nach Erlass der Bestimmungen von 1845/49 an die Gesetzgebung, die ihnen als ein letzter Schutzwall vor der hereinbrechenden Flut des Industrialismus erschien. Erst mit dem Wiedererstarken des Liberalismus und dem Fortschreiten des Industrialisierungsprozesses, der die Arbeitsabgrenzung immer weniger zuließ, wurde ihr Widerstand auch in Westfalen schwächer. (e) Versuche zur Umgehung der Vorschriften All diesen Beschwernissen konnte nur derjenige entgehen, welcher der Prüfungspflicht nicht unterworfen war. Deshalb bemühten sich zahlreiche Handwerker nachzuweisen, dass sie bereits vor 1849 ihren Beruf selbständig ausgeübt hatten. Dieser Nachweis gelang vielen aber nur mit Mühe, da sie den Gewerbebetrieb nicht ordnungsgemäß angemeldet hatten. Vor allem solche Professionisten, die ihr Handwerk traditionsgemäß ohne geregelte Ausbildung betrieben, gerieten nun in Beweisnot. Das galt nicht nur für die schon erwähnten zahlreichen Juden, die sich im Paderborner Land als Hausschlachter betätigten, sondern auch für die Bäcker in den Dörfern. Sie hatten das Gewerbe nicht förmlich erlernt, befassten sich gewöhnlich aber von Jugend an mit dieser Art des Erwerbs.645 Die Bezirksregierungen beschieden ihre Anträge auf Befreiung von der Prüfungspflicht gleichwohl aber abschlägig, da sie auf dem förmlichen Nachweis der Ausübung des Gewerbes vor 1849 beharrten. Häufig wurde, um der Prüfung zu entgehen, auch vorgetragen, der Sohn habe das Geschäft vor 1849 für den alten Vater bzw. die kranke Mutter als Geschäftsführer selbständig geleitet. In solchen Fällen entschieden die Behörden – noch weit entfernt von streng rechtsstaatlichen Prinzipien – ganz willkürlich und widersprüchlich über die Gesuche.646 Eine besonders großzügige Befreiungspraxis aus diesem Grund lässt sich allerdings nicht erkennen. Eben dies gilt auch für die oft angeführte Jugend des Prüfungskandidaten oder die Armut seiner Eltern. Mehr Aussicht auf Erfolg hatte ein Befreiungsantrag, wenn körperliche Gebrechen o. ä. den Handwerker hinderten, die Prüfung abzulegen.647 645 S. Schreiben des Landrats des Krs. Höxter v. 10.7.1854, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 685. 646 Befreiungsanträge wurden z. B. positiv beschieden: auf das Schreiben v. 13.7.1850, fol. 13, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 574; auf das Schreiben v. 22.8.1851, fol. 7, in: STAD, Reg. Minden I G Nr. 753. Als Beispiel für einen abschlägigen Bescheid sei das Schreiben der Reg. Minden in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 780, fol. 24, genannt. 647 So wurde einem Schlosser die Meisterprüfung erlassen, der eine verkrüppelte Hand hatte und deshalb auf die ständige Hilfe eines Lehrlings bei der Ausübung seines Gewerbes angewiesen

C. Das Prüfungswesen

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Trotz der relativ restriktiven Auslegung der Vorschriften durch die Behörden kumulierte die Vielzahl der denkbaren Befreiungstatbestände in ihrer Wirkung; die Umgehung der Prüfungsbestimmungen war derart allgemein, dass das Handelsministerium schon ein Jahr nach Erlass der Vorschriften Maßnahmen anordnete, welche die Missachtung der Prüfungsregelungen verhindern sollten.648 (f) Weitere Mängel des Prüfungsverfahrens Die Verwirklichung der Vorschriften der Verordnung von 1849 scheiterte mitunter auch an den fehlenden Ausführungsbestimmungen, welche die Prüfungsanforderungen für die einzelnen Handwerke konkretisierten. Wegen dieses Mangels musste z. B. den Dachdeckern immer dann die Befugnis zum selbständigen Gewerbebetrieb erteilt werden, wenn nur die Voraussetzungen des § 35 der Verordnung von 1849, also die Zulassungsvoraussetzungen zur Prüfung, vorlagen, ohne daß die Prüfung selbst abgelegt worden war.649 Der Missstand wurde erst 1856/57 beseitigt. Zahlreiche weitere Fehlentwicklungen, die der Gesetzgeber so nicht vorausgesehen hatte, untergruben den Erfolg des Prüfungssystems. So schwankten die Anforderungen, welche die einzelnen Prüfungs-Kommissionen stellten, nicht nur ganz beträchtlich;650 sie ließen häufig, wie schon für das Bauhandwerk gezeigt wurde, auch jedes ausgewogene Verhältnis zur Leistungsfähigkeit und Leistungsmöglichkeit der Kandidaten vermissen. Während einerseits über zu geringe Anforderungen in den Prüfungen geklagt wurde, war das Anforderungsniveau in manchen anderen Berufssparten hoch. Die Arbeit der Prüfungs-Kommissionen wurde zudem dadurch behindert, dass es vielerorts – ebenfalls wie im Bauhandwerk – an qualifizierten Meistern fehlte, die sich für eine effiziente Mitarbeit in den Prüfungsgremien eigneten. Mehr als problematisch war auch die den Gesellen eingeräumte Möglichkeit, sich diejenige Prüfungsbehörde auszusuchen, bei welcher sie am leichtesten das Examen bestehen konnten. Schon ein kurzes Arbeitsverhältnis reichte aus, um die Zuständigkeit einer Kommission zu begründen. Diese Praxis führte natürlich vielfach zu einer Umgehung der Prüfungsvorschriften und zu häufigen Streitigkeiten zwischen Innungen benachbarter Städte.651 Wirksame Maßnahmen hiergegen wurden zunächst nicht ergriffen. Schließlich ordnete die Regierung Arnsberg aber doch war; s. Schreiben v. 30.6.1850, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 780. 648 S. Schreiben des Handelsministeriums an die Regierungen v. 13.11.1850, in: STAM, Reg. Minden, I U Nr. 840. 649 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 13.9.1849, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; daran hatte sich auch 8 Jahre später noch nichts geändert; s. Schreiben der Reg. Minden an den Bauinspektor in Paderborn v. 27.2.1857, in: STAD, Reg. Minden 1 U Nr. 778. Nur 1853 wurden im Rgbz. Minden einige Dachdeckerprüfungen durch die PrüfungsKommission für Bauhandwerker durchgeführt, s. STAD, Reg. Minden, 1 U Nr. 778, obwohl zunächst niemand bereit war, solche Prüfungen abzuhalten. 650 Z. B. verlangte man in Herford bei der Meisterprüfung Aufgaben, die in Minden selbst bei der Gesellenprüfung als zu einfach erachtet wurden, s. Schreiben des Gewerberates der Reg. Minden v. 19.3.1858, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754. 651 Vgl. die Maßnahmen in: Bekanntmachung der Kgl. Reg. Münster v. 10.12.1850, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 21.12.1850; desgl. in STAM, Reg. Münster, Nr. 5779.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

an, dass der Kandidat im Bezirk der Kreis-Prüfungs-Kommission, bei der er sich gemeldet hatte, auch wohnen bzw. arbeiten müsse. Wurde die Prüfung vor einer Innung abgelegt, so hatte der Ort der Innung ebenfalls im zuständigen Prüfungsbezirk zu liegen. Damit war das Problem zwar nicht gelöst, doch jedenfalls für den Regierungsbezirk Arnsberg eindeutig geregelt.652 In den anderen Bezirken verzichtete man auf eine generelle Regelung; dort suchten die Regierungen durch Einzelfallmaßnahmen, der Aushöhlung der Prüfungsvorschriften entgegenzuwirken.653 d. Die Reformgesetzgebung des Jahres 1854 Nachdem die revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49 der Vergangenheit angehörten und sich die Reaktion kompromisslos durchgesetzt hatte, ging das neue, einem restaurativen Programm verpflichtete Ministerium Manteuffel daran, die unter dem Eindruck der Ereignisse der Jahre 1848/49 erlassenen gesetzlichen Bestimmungen wieder zu eliminieren. Zu den Vorschriften, die man schleunigst zu beseitigen gedachte, gehörte die Regelung über die Mitwirkung von Gesellen an den Prüfungs-Kommissionen für Handwerksmeister (§§ 37, 39 der Verordnung von 1849). Im Gegensatz zu den betroffenen Handwerkern selbst war allen an dem Gesetzgebungsverfahren Beteiligten bewusst gewesen, dass die Mitbestimmung der Hilfskräfte in diesem Gremium allein dem Zweck dienen sollte, das Selbstbewusstsein der Gesellen zu stärken, sie wieder in das traditionelle soziale System einzubinden und ihnen dadurch die revolutionäre Verve zu nehmen. Dieser Zweck schien 1854 erreicht. Deshalb teilte das Ministerium den unteren Behörden kurz und bündig mit, die Mitwirkung der Gesellen in den Prüfungs-Kommissionen für die Meister sei eine Abnormität. Die Prüfung könne nicht vor Personen abgelegt werden, die selbst nicht imstande seien, den Anforderungen zu genügen. Die verfehlte Regelung habe dazu geführt, dass die Prüfung häufig nur als reine Formalität angesehen und behandelt werde und die damit verfolgte Absicht des Gesetzgebers deshalb unerfüllt geblieben sei. Außerdem sei die Vorschrift geeignet, die Gesellen zur „Überhebung“ über die Meister zu verleiten.654 Bevor man aber zur Änderung der Bestimmungen schritt, ließ das Ministerium doch zunächst noch ein Meinungsbild bei den mit der Umsetzung der Normen befassten Amtsträgern über ihre Erfahrungen mit den Prüfungsvorschriften erstellen. Die Beurteilung der Verordnung durch die Ortsbehörden, die Vorsitzenden der Prüfungs-Kommissionen und Gewerberäte sowie deren Stellungnahmen zur Revision des Gesetzes fiel ganz uneinheitlich aus. Mehrere Landräte, Vertreter der Prüfungs-Kommissionen wie auch der Magistrat der Stadt Münster wollten auch zukünftig Hilfskräfte in den Prüfungs-Kommissionen sehen, da durch deren Teil652 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an die Landräte v. 20.12.1851, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2. 653 S. Schreiben des Vorsitzenden der Prüfungs-Kommission Lübbecke an die Reg. Minden v. 2.2.1858, in: STAD, Reg. Minden I G Nr. 753, fol. 15. 654 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an die Landräte v. 11.4.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358.

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nahme das „Ehrgefühl der Gesellen gehoben und ungerechtfertigten Erschwerungen der Prüfungen vorgebeugt“655 werde. Die westfälischen Regierungen656 aber und auch der Oberpräsident sprachen sich gegen die Mitwirkung der Hilfskräfte in diesen Gremien aus. Als grundlose Benachteiligung empfand man die durch § 39 der Verordnung vom 9.2.1849 erfolgte Ausschließung der Landhandwerker vom aktiven Wahlrecht zu den Prüfungs-Kommissionen.657 Im übrigen aber wurde sehr deutlich, dass das Prüfungssystem im Gegensatz zu den anderen Regelungen des Gesetzes von 1849 jedenfalls auf der Verwaltungsebene inzwischen weitgehende Anerkennung gefunden hatte.658 Die meisten der Behörden sprachen sich für dessen Beibehaltung aus, weil sie erwarteten, dass der Prüfungszwang „Zucht und Festigkeit in das ungeregelte Leben der Gesellen und Lehrlinge“ bringe und die Regelungen dem „verfrühten Verheiraten“ der jungen Handwerker entgegengewirkten.659 1854 novellierte der Gesetzgeber erwartungsgemäß die Gewerbeordnung von 1845 und die Verordnung von 1849.660 Die Forderung der Handwerker nach Ausdehnung des Prüfungszwanges auf weitere Gewerke wurde von den Konservativen um Friedrich Wilhelm IV. zwar unterstützt,661 ließ sich jedoch angesichts des allmählich erstarkenden Liberalismus nicht mehr durchsetzen. Den Gesellen wurde die Mitwirkung in den Prüfungs-Kommissionen untersagt. Die Mitglieder der Prüfungs-Kommissionen der Innungen mussten seither von der Kommunalbehörde bestätigt werden; die Angehörigen der Kreis-Prüfungs-Kommissionen wurden nun nicht mehr gewählt, sondern von den Landräten designiert. Bei den Prüfungen, die von den Innungs-Kommissionen durchgeführt wurden, hatte fortan ein Mitglied der Kommunal-Behörde, bei den Kreis-Prüfungs-Kommissionen ein Kommissar der Regierung den Vorsitz inne (§ 5 des Gesetzes v. 5.5.1854 i. Verb. m. der Verordnung v. 9.2.1849). Der Einfluss der Verwaltung auf die Zusammensetzung der Prüfungsgremien sollte verhindern, dass sich die Meister nach dem Ausscheiden der Gesellen aus den Kommissionen der potentiellen Konkurrenz durch unnötige Erschwe655 S. Schreiben der Reg. Münster an den Minister von der Heydt v. 25.8.1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 656 So Reg. Münster an den Minister v. 25.8.1853, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794; desgl. Reg. Arnsberg, s. Schreiben des Oberpräsidenten v. 3.10.1853 an die Reg. Münster, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794; desgl. der Oberpräsident, s. Schreiben des Oberpräsidiums an den Handelsminister vom 24.11.1853, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794. 657 S. Schreiben des Vorsitzenden der Kreis-Prüfungs-Kommission des Krs. Brilon v. 8.1.1851 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 658 S. Schreiben des Oberpräsidenten v. 3.10.1853 an die Reg. Münster, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794; Beispiele für die Durchführung der Gesellenprüfungen finden sich in: Stadtarchiv Soest, XIX g 17; desgl. s. Protokollbuch des Gewerberats Paderborn, in: Stadtarchiv Paderborn, A 302. 659 S. Schreiben der Reg. Münster an den Minister von der Heydt v. 25.8.1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 660 Preußische Gesetzessammlung 1854, Nr. 4014, S. 263; Ausführungen dazu finden sich im Schreiben des Ministers von der Heydt an die Regierungen vom 27.5.1854, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 661 Vgl. Krahl (1937), S. 56.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

rung der Prüfungsanforderungen entledigten.662 Die Behörden wurden durch den Minister von der Heydt aufgefordert, dennoch auftretende Missbräuche sofort zu unterbinden. Zugleich schwächte – und dies dürfte durchaus beabsichtigt gewesen sein – die neue Regelung die Stellung der Meister in den Kommissionen im Vergleich zu den Bestimmungen der Verordnung von 1849 natürlich stark. Dass der Gesetzgeber die Konzessionen, die er dem selbständigen Handwerk 1849 hatte machen müssen, nicht fortdauern lassen wollte, zeigte sich noch in einer anderen Bestimmung des Gesetzes vom 5.5.1854: Dessen § 6 räumte den Regierungen das Recht ein, Befreiungen vom Prüfungszwang auszusprechen. Dadurch wurde dieser – ganz gegen die Intentionen der Meister – in den sechziger Jahren allmählich aufgeweicht. Noch im Jahre 1854 wurden die neuen Bestimmungen in die Tat umgesetzt: Die bestehenden Kreis-Prüfungs-Kommissionen löste man auf und die Angehörigen der neuen Gremien bestimmten die Landräte.663 Zwar war – und blieb – die Meisterprüfung zunächst weitgehend eingeführt,664 doch wurden auch in den folgenden Jahren immer wieder ungeprüfte, aber selbständig arbeitende Handwerker aufgespürt oder durch Berufsgenossen denunziert.665 Die Gesellenprüfung dagegen wurde weiter recht häufig umgangen, zumal sie im Verständnis der Zeitgenossen nur für diejenigen, die nach beruflicher Selbständigkeit strebten, von Bedeutung war. Andererseits gewann das Prüfungswesen damals doch auch eine gewisse Popularität bei den jungen Handwerkern selbst. Dies folgt nicht nur aus dem erheblichen Zulauf, den die Handwerkerfortbildungsschulen zu verzeichnen hatten. Signifikanter noch ist vielleicht, dass 1853 erstmals ein Antrag auf Zulassung eines weiblichen Lehrlings zur Gesellenprüfung gestellt und von der Regierung mit dem ausdrücklichen Bemerken, das Vorhaben sei wünschenswert, positiv beschieden wurde.666 e. Die Entwicklung des Prüfungswesens seit 1855 Zugleich drohten dem Prüfungswesen gerade in Westfalen aber neue Gefahren: Immer mehr junge Handwerker wanderten, angelockt durch die zwischen 1850 und 1858 kaum unterbrochene Industriekonjunktur, in die prosperierenden Regionen der nördlichen Grafschaft Mark ab, ohne einen förmlichen Abschluss ihrer Ausbildung erreicht zu haben. Natürlich wollte die Administration, die das Prüfungssystem für das Handwerk gerade erst mühsam aufgebaut hatte, nicht mit ansehen, wie ihre jüngste Schöpfung infolge des Booms der Industrie gleich wieder verkümmerte. Ihr standen aber nur zwei Regelungen zu Gebote, um den Nachwuchs im 662 Schreiben des Ministers von der Heydt v. 27.5.1854, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5779. 663 So z. B. Bekanntmachung v. 26.7.1854, in: Amtsblatt Reg. Minden, Bd. 1854, S. 283; desgl. Amtsblatt Reg. Minden v. 4.8.1854, S. 283, 284; Irle (1972), S. 76. 664 Vgl. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 428, 429. 665 S. Schreiben v. 23.10.1854, 24.2.1856, 23.6.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 683 (betr. Bäcker); STAD, Reg. Minden, I U Nr. 780, fol. 114 (betr. Schmied). 666 S. Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Steinfurt v. 18.11.1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781.

C. Das Prüfungswesen

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Handwerk zur Absolvierung einer ordnungsgemäßen Ausbildung zu zwingen: (1) Wanderpässe durften nur geprüften Handwerkern ausgestellt werden;667 (2) den Handwerksmeistern war es nicht gestattet, sich zu den technischen Arbeiten ihres Gewerbes anderer Personen als der Lehrlinge oder Gesellen ihres Gewerbes zu bedienen.668 Auf diese „sehr wirksamen Mittel“ sollten die Lokalbehörden nach dem Willen der münsterischen Regierung hinweisen, um möglichst den gesamten Handwerkernachwuchs zur Ablegung der Gesellenprüfung zu veranlassen.669 1855 erschien es dem Handels- und Gewerbeministerium an der Zeit, eine neuerliche Bestandsaufnahme der Wirkungen der Verordnung von 1849 zu machen. Vor allem wollte man in Berlin erfahren, inwieweit die Erschwerung der Niederlassung durch die Prüfungsbestimmungen auf die Zahl der Handwerksmeister in den einzelnen Provinzen Einfluss gehabt habe.670 Die Initiative war ein erster Ausdruck der liberalen Tendenzen, die im preußischen Handelsministerium damals mehr und mehr an Boden gewannen. Das neuerliche Erstarken freiheitlicher Überzeugungen schreckte die Handwerker trotz der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den nicht unmittelbar durch die industrielle Konkurrenz bedrohten Sparten auf und veranlasste sie, in zahlreichen Petitionen die Aufrechterhaltung des Prüfungszwanges zu fordern. Soweit die Umfrage Erkenntnisse über die Handhabung der Prüfungsvorschriften erbrachte, soll hier kurz darauf eingegangen werden: Bei der Durchsetzung der Verordnung von 1849 zeigte sich zwischen den Regierungsbezirken Arnsberg und Münster ein beträchtlicher Unterschied. In den ländlichen Regionen des Münsterlandes war bis 1855 noch nichts unternommen worden, um die Vorschriften über die Lehrabschlußprüfung durchzusetzen. Das schlecht ausgebaute gewerbliche Schulwesen und die verbreitete Mittellosigkeit der Lehrlinge hatten hier dazu geführt, dass die Lokalgewalten, also die Bürgermeister, auf die energische Verwirklichung der gesetzlichen Bestimmungen verzichteten.671 Nach Beendigung der Lehrzeit erhielten die jungen Handwerker Abzugsatteste mit dem Prädikat „Geselle“, obgleich sie niemals eine Gesellenprüfung abgelegt hatten. Ganz anders stellte sich die Situation im Regierungsbezirk Arnsberg dar. Dort hatte die Regierung mit Hilfe einer intensiven Gewerbeförderungspolitik, insbesondere durch das hervorragend entwickelte gewerbliche Schulwesen, die Grundlage dafür gelegt, dass die Prüfung größere Popularität gewinnen konnte. Außerdem ver667 S. Zirkular-Reskript des Ministers des Inneren v. 24.4.1854, in: Schreiben der Reg. Arnsberg an die Reg. Münster v. 5.11.1856, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 668 S. Minister-Erlaß v. 24.8.1851 bzgl. § 47 der Verordnung v. 9.2.1849, in: Schreiben der Reg. Arnsberg an die Reg. Münster v. 5.11.1856, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 669 So Schreiben der Reg. Münster an sämtliche Landräte v. 12.12.1856: Die Vorschriften der §§ 31, 32, 35, 36 der Verordnung von 1849 sowie 47, 48 und 147 der Verordnung von 1845 sollten strengstens beachtet werden. 670 S. Schreiben der Reg. Münster an die Landräte v. 25.5.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1. 671 Z. B. hatten die Bürgermeister in den ländlichen Gemeinden des Krs. Warendorf Verständnis für die Situation der Handwerker; sie bemühten sich kaum um die Durchsetzung der Bestimmungen, s. Schreiben v. 13.10.1855 und Schreiben v. 3.9.1855, in: STAM, Krs. Warendorf Nr. 438, Bd. 1.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

schaffte das höhere Einkommen, das die Handwerker im Regierungsbezirk Arnsberg im allgemeinen erzielten, den jungen Leuten die Mittel, um die Kosten der Prüfung aufzubringen. Wegen des anhaltenden Arbeitskräftebedarfs wanderten zahlreiche ungeprüfte Handwerker aus dem Münsterland in die Grafschaft Mark, um dort als Gesellen zu arbeiten. Wurde allerdings entdeckt, dass ihnen Pass oder Wanderbuch fehlte, wurden sie zur Ablegung der Prüfung angehalten und zurückgeschickt. Das Ministerium suchte die verbreitete Umgehung der Prüfungsbestimmungen abzustellen, indem es die Regelung, nach der Wanderpässe nur geprüften Gesellen erteilt werden durften, im Regierungsbezirk Münster erneut publizieren ließ.672 Auch im Regierungsbezirk Minden scheinen die Amtmänner und Bürgermeister energischer gegen Handwerker, die, ohne die Meisterprüfung abgelegt zu haben, selbständig arbeiteten, vorgegangen zu sein als im Münsterland. In der Kleinstadt Borgentreich im Kreis Warburg etwa half „kein Bitten und Flehen“; „alle Strafungen“ wurden angedroht, um die Handwerker zur Ablegung der Prüfung zu zwingen.673 Hier auch stand das Denunziationswesen in Blüte; häufig dürften allerdings auch persönliche Motive eine Rolle gespielt haben, wenn einem Unqualifizierten das Handwerk gelegt wurde.674 Doch schon wenig später, gegen Ende des Jahrzehnts, begann sich das Verhalten auch der Behörden in Ostwestfalen gegenüber den ungeprüften Handwerkern allmählich zu ändern. Zwar wurde weiterhin denunziert und bestraft.675 Doch unter dem Einfluss des liberalen Gedankengutes, für das sich vor allem die Gebildeten empfänglich erwiesen, begannen Polizeibehörden, Staatsanwälte und Richter immer offensichtlicher nach Ausflüchten und interpretatorischen Kunstgriffen zu suchen, um die gesetzmäßige Bestrafung der Pfuscher abwenden zu können.676 Folgerichtig zeigte sich auch in der Mindener Regierung damals ein Sinneswandel: Eben jene Behörde, welche die Denunziation lange Zeit so sehr gefördert hatte, ließ nunmehr höchstselbst verlauten, dass sie nicht länger gewillt sei, „die im Handwer672 S. Schreiben des Innenministers v. 18.10.1859 unter Bezugnahme auf den Zirkular-Erlaß v. 18.10.1859, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 413. 673 Schreiben v. 10.6.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781. 674 So z. B. im Falle des Schneiders Wolf aus Borgentreich, gegen den vorgegangen wurde, während andere Ungeprüfte durch den Bürgermeister nicht behelligt wurden; s. Schreiben v. 10.6.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 781; desgl. Beschwerde des Schuhmachers Einsfelden aus Nörde, Krs. Warburg, v. 8.6.1856, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787, dem der Ortsgendarm, der ihn auch denunziert hatte, ohne Ankündigung sämtliches Handwerkszeug, Leder, Schuhe der Kunden etc., fortgenommen hatte, so dass er – ohne Möglichkeit zur Arbeit – hungern musste; seine Situation war derart elend, dass er schreiben konnte, die Kinder seien „glücklicherweise tot“. Ähnliche Beispiele finden sich in STAD, Reg. Minden I U Nr. 794 bzgl. eines Tischlers und im Stadtarchiv Herford VII, 146 bzgl. eines Schlossers. 675 S. z. B. Schreiben des Vorstehers der Schuster-Innung Paderborn v. 6.10.1859 an die Reg. Minden, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787; Schreiben des Amtmanns in Vlotho v. 12.3.1864, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 798. 676 Vgl. Schreiben des Ober-Staatsanwalts in Paderborn an die Reg. Minden v. 12.1.1860, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754; desgl. Schreiben des Staatsanwalts an die Reg. Minden v. 30.1.1860, a. a. O.; s. auch Beschwerde des Bäckermeisters Heinrich Hesse aus Büren an die Reg. Minden v. 6.3.1861, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 683.

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C. Das Prüfungswesen

kerstand vielfach vorherrschende, durch Brotneid genährte Sucht“, die einzelnen Handwerksarbeiten streng zu scheiden, „irgendwie zu befördern“.677 f. Das Prüfungswesen im Zahlenbild Die Statistik, die sich aufgrund der wenigen, verstreuten Angaben in den Ende der fünfziger, zumeist aber Anfang der sechziger Jahre verfassten Kreisbeschreibungen erstellen lässt, bestätigt im wesentlichen das Bild, welches die westfälischen Behörden zuvor schon von dem Prüfungswesen gezeichnet hatten: Tabelle 25: Anzahl der Gesellen- und Meisterprüfungen678 Kreis Ahausd.

1859

1860

1861

1862

1863

1864

1865

1866

1867

G M

G M

G M

G M

G M

G M

G M

G M

G M

14 17

33

16 14 30

57 24

47 18

44 21

31

50 23

7

Coesfeldc. Steinfurtd.

jährlich 20–25 M und ebenso viele G

Stadt Münsterc.

1859 bis 1862: 407 M

Recklinghausend. jährlich durchschnittlich 30 M

Warburgd.

44 14

28

Bielefeldc.

31 20

46 20

6

27

c. d.

8

47 16

Herfordd.

G M

1

312 G; 142 M

Lippstadtc.

Paderbornc.

7

M und G insgesamt: 401 34 M; 126 G

Gesellenprüfungen Meisterprüfungen; bei der Anzahl der Meisterprüfungen war nicht immer festzustellen, ob die Bauhandwerksprüfungen in den Angaben enthalten sind incl. Bauhandwerksprüfungen ohne Bauhandwerksprüfungen; (sofern in den Statistiken nur die Zahl der Prüfungen vor den Kreisprüfungskommissionen wiedergegeben sind, ist unterstellt worden, dass die Bauhandwerksprüfungen in diesen Angaben nicht enthalten sind.)

677 S. Schreiben der Reg. Minden v. 27.1.1860, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 754. 678 Zusammengestellt nach: Statistische Darstellung des Kreises Ahaus (1865), S. 21; Statistische Nachrichten über den Kreis Coesfeld (1865), S. 47, 56; Statistische Darstellung des Kreises Steinfurt (1863), S. 75; Statistische Darstellung des Stadtkreises Münster (1863), S. 16; Statistische Nachrichten über den Kreis Recklinghausen (1865), S. 26; Schorlemer, Freiherr v., Statistische Darstellung des Kreises Lippstadt (1863), S. 64; Spiegel, Freiherr v., Statistik des Kreises Warburg (1863), S. 33; Ditfurth, v., Bericht über die statistischen und sonstigen Verhältnisse des Kreises Bielefeld (1861), S. 52; Borries, v., Statistische Darstellung des Kreises Herford (1865), S. 36; Grasso, Statistische Darstellung des Kreises Paderborn (1863), S. 20, 21.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Zunächst fällt die bereits bekannte Tatsache auf, dass das System der Leistungskontrolle in den einzelnen Kreisen auch in den sechziger Jahren noch immer nicht gleichmäßig eingeführt war. Die Zahl der Verstöße gegen die Bestimmungen schwankte demnach regional ganz erheblich. Verantwortlich hierfür war vor allem das unterschiedlich dichte Netz der Gewerbe- und Sonntagsschulen und – davon abhängig – der Stand der theoretischen Fachkenntnisse der Handwerker. Wer diese nicht besaß, meldete sich naturgemäß nicht zur Prüfung. Die hohe Zahl der Meisterprüfungen in der Stadt Münster hatte vor allem in dem dort gut entwickelten gewerblichen Schulwesen679 ihre Ursache. Natürlich trugen, wie bereits dargestellt, zu dem unterschiedlichen Bild, welches das Prüfungswesen in den westfälischen Kreisen bot, neben dem Schulwesen auch noch andere Faktoren wie die Kontrolle der Behörden sowie der Innungen und der Stadt- und Landgemeinden – oder deren Abwesenheit – maßgeblich bei. So war die günstige Position, die der Kreis Coesfeld in der Statistik der Meister- und Gesellenprüfungen einnahm, vor allem der zusätzlichen Ausbildung zu danken, welche die nach dem Vorbild Kolpings 1860 in Dülmen und 1861 in Coesfeld gegründeten Gesellenvereine in vielen Kursen den jungen Handwerkern vermittelten.680 Leider liegen für den Regierungsbezirk Arnsberg mit Ausnahme Lippstadts keine Angaben vor. Wegen des besonders dicht ausgebauten Gewerbeschulwesens im südlichen Westfalen und der durchaus positiven Einschätzung der Leistungen dieser Schulen durch die Regierung ist aber anzunehmen, dass dort die Prüfungsvorschriften auch noch in den sechziger Jahren stärker beachtet wurden als in den anderen westfälischen Regierungsbezirken. Überraschen mag zunächst, dass weitaus mehr Gesellen- als Meisterprüfungen abgelegt wurden. Immerhin ließen sich, wenn man von einer dreijährigen Lehrzeit ausgeht, schätzungsweise die Hälfte bis zwei Drittel der Lehrlinge prüfen, während sicherlich nicht viel mehr als ein Drittel der Gesellen zum Meisterstatus gelangte. Hier wirkten die Abwanderung in die Industrie, der Status des Flickarbeiters in den Baugewerben, die Auswanderung, die hohen Prüfungsgebühren, die Prüfungsanforderungen sowie die Duldung der selbständigen Arbeit ungeprüfter Handwerker durch zahlreiche Behörden selektiv. Die Feststellung Kaufholds, dass die Handwerker die Innungsprüfung einem Prüfungsverfahren vor der Kreisprüfungskommission vorgezogen hätten,681 lässt sich für Westfalen in dieser Allgemeinheit nicht bestätigen. Zwar liegen lediglich für die Kreise Bielefeld und Herford Angaben zur Verteilung der Kandidaten auf die beiden Prüfungsgremien vor. In Bielefeld legten danach in den Jahren 1859 bis 1861 25 Kandidaten die Meister- und 38 die Gesellenprüfung bei den Innungen ab (ohne Bauhandwerker), während bei den Kreis-Prüfungs-Kommissionen ebenfalls 25 Meisterprüfungen, jedoch nicht weniger als 84 Gesellenprüfungen stattfanden.682 Im Kreis Herford absolvierten 1862 bis 1864 50 Meister- und 95 Gesellenkandidaten die Prüfung vor der Kreis-Prüfungs-Kommission, während sich insge679 680 681 682

Vgl. Kap. „Das Prüfungswesen der übrigen Handwerksberufe“. S. Strauch (1966), S. 243. S. o., S. 146. Ditfurth, v. (1861), S. 52.

C. Das Prüfungswesen

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samt 111 Handwerker bei der Innungskommission prüfen ließen.683 Trotz der unzureichenden Quellengrundlage wird man demnach für Westfalen nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass die Bedeutung der Kreis-Prüfungs-Kommissionen diejenige der Prüfungsgremien der Innungen übertraf. g. Der Verfall des Prüfungswesens in den sechziger Jahren aa. Der Beginn der Reformdiskussion Wie sehr die wieder erstarkten liberalen Reformideen die Überzeugung von der Nützlichkeit der Prüfungsordnung damals bereits zersetzt hatten, zeigte sich, als das Handelsministerium im Zusammenhang mit den Entwürfen zur Änderung der Gewerbeordnung, die 1860 im preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht wurden, wiederum ein Meinungsbild bei den Mittel- und Unterbehörden erstellen ließ. Karl Heinrich Kaufhold konstatiert, dass die Mehrzahl der preußischen Mittelbehörden die Wirkungen der Ausbildungsvorschriften damals bereits so negativ beurteilte, dass sie sich ausdrücklich zu ihrem wachsenden Desinteresse am Prüfungswesen bekannten.684 Die Kritik spannte einen weiten Bogen: Die Beamten betrachteten die Prüfungen einerseits als reine Formalität, andererseits aber auch als inzwischen unerwünschtes Instrument der Meister, um die lästige Konkurrenz fernzuhalten. Sie wiesen auf den Mangel an geeigneten Meistern in den Prüfungskommissionen und die Ablehnung der obligatorischen Leistungskontrolle durch die Gesellen hin.685 Einhellig wurde festgestellt, dass die Anforderungen an die Prüflinge zu stark differierten686 und die engherzige Abgrenzung der Arbeitsbefugnisse der einzelnen Handwerke voneinander ein anstößiges Relikt vergangener Zeiten sei. Allerdings verschwieg die Verwaltung auch positive Erfahrungen mit den Prüfungsvorschriften nicht. So berichtete sie, dass der Prüfungszwang manche Handwerker vor dem beruflichen Scheitern, wie es bis 1849 häufig gewesen sei, bewahrt habe. Das Meinungsbild der westfälischen Regierungen in der Frage der Handwerkerprüfungen blieb demgemäss uneinheitlich. Cum grano salis lässt sich die merkwürdige Feststellung treffen, dass die Mittelbehörden 1861 jeweils ihren eigenen, in dem zurückliegenden Dezennium verfolgten Intentionen widersprachen: So betonte die münsterische Regierung, die am wenigsten für den Aufbau eines effizienten Prüfungssystems in der Provinz getan hatte, jetzt auf einmal, die Bestimmungen hätten den Meistern verlorenes Selbstvertrauen zurückgegeben, bei Lehrlingen und Gesellen Leistungswillen geweckt und die jungen Leute zum Besuch der Fortbildungsschulen angehalten. Die Zahl der befähigten Meister habe zugenommen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Handwerker sei gestärkt worden. Wegen dieser günstigen Wirkungen des Gesetzes vom 9.2.1849 sprach sich die 683 684 685 686

Borries, v. (1865), S. 36. Kaufhold (1975), S. 165–188. So Kaufhold (1975), S. 180. So entsprachen die Anforderungen in den Meisterprüfungen in den kleinen Städten denen, die man in großen Städten bei den Gesellenprüfungen stellte, s. Kaufhold (1975), S. 180; desgl. Riedel (1861), S. 146.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Regierung in der westfälischen Provinzialhauptstadt mit der Mehrzahl der Landräte und – wie sie betonte – auch der überwiegenden Mehrzahl der Handwerker des Münsterlandes für die Beibehaltung des obligatorischen Befähigungsnachweises aus,687 obgleich nicht zu übersehen war, dass im nördlichen Westfalen damals bereits ein nicht unerheblicher Teil der Landräte und Gemeindebehörden für die Einführung der Gewerbefreiheit eintrat. Die Mindener Regierung gab dagegen einer liberalen Ordnung den Vorzug. Sie hielt nicht nur die förmliche Aufnahme der Lehrlinge und den damit verbundenen Nachweis ausreichender Schulkenntnisse für überflüssig, sondern sprach sich auch gegen den Prüfungszwang aus, jedoch nicht ohne gleichzeitig einzuräumen, dass die Bildung der Handwerker in der Tat zu wünschen übrig lasse. Eine Leistungskontrolle solle zukünftig auf freiwilliger Basis durch die Innungen erfolgen.688 Ihre Auffassung wussten die Mindener nur damit zu begründen, dass die „bestehenden, gesetzlich zulässigen Zwangsmaßregeln … indes in dieser Hinsicht erfahrungsgemäß äußerst wenig gewirkt“ hätten.689 Dass der geringe Erfolg der Bestimmungen vielleicht auch auf unzureichende eigene Aktivitäten zurückzuführen war, kam den Beamten offenbar nicht einmal in den Sinn. Zukünftig sollte nach ihrem Willen allein „die selbstgewonnene Überzeugung der Lehrherren, Eltern und Vormünder“ die auch in Minden als notwendig erachtete bessere Bildung der jungen Handwerker gewährleisten.690 In den industriereichen Regionen des westlichen Westfalens hingegen, in denen die Behörden den Prüfungsgedanken nachhaltig gefördert hatten, kam es zu keiner eindeutigen Stellungnahme. In einem Mehrheitsgutachten sprach sich die Regierung in Arnsberg, unterstützt durch zahlreiche Bürgermeister691 und Landräte,692 für die Beibehaltung der Prüfungsgesetzgebung aus, da diese durchaus vorteilhafte Wirkungen gezeitigt habe. Eine Minderheit des Arnsberger Regierungskollegiums votierte dagegen für die Aufhebung der Bestimmungen über die Meisterprüfung.693 Diese Gruppe hielt auch die Vorschriften über die Arbeitsgrenzen zwischen den verschiedenen Gewerken für nachteilig.694 Die im Trend der Zeit liegende Abkehr von dem Prüfungsideal der Handwerkerbewegung wurde im westlichen Sauerland durch die einzigartige wirtschaftliche Entwicklung, als die der stürmische Industri687 Schreiben der Regierung Münster an den Minister von der Heydt v. 2.11.1861, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 688 Stellungnahme der Reg. Minden v. 22.12.1861, in GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adhib 11, Bd. 8, fol. 174, 175. 689 Wie Anm. 687, fol. 173. 690 Wie Anm. 687, fol. 173. 691 So die Bürgermeister von Altena, Hattingen, Hörde, Dortmund, Schwelm, Unna, Lippstadt, Werl und Laasphe, s. Denkschrift des Handelsministeriums, in GStA/PK, Ministerium des Inneren, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 89 RS. 692 Die Landräte der Kreise Altena, Hamm, Lippstadt, Meschede, Olpe, Berleburg und Bochum, wie Anm. 691. 693 Wie Anm. 691, fol. 90; so auch die Bürgermeister zu Lüdenscheid, Hagen, Herdecke, Iserlohn, Menden und Soest und die Handelskammern Altena und Hagen. 694 Wie Anm. 691; ebenso der Oberbürgermeister von Minden, die Bürgermeister zu Bochum, Witten, Siegen und Soest sowie der Landrat zu Iserlohn.

C. Das Prüfungswesen

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alisierungsprozess seit der Jahrhundertmitte schon den Zeitgenossen erschien, maßgeblich unterstützt: In den gewerblich verdichteten Gebieten insbesondere der Grafschaft Mark begann gerade damals ein neuer Typus des Unternehmens zunehmend erfolgreich zu agieren, der bis dahin eher eine untergeordnete Rolle gespielt hatte: Der spezialisierte Kleinbetrieb. Noch keine Fabrik, aber auch kein herkömmlicher Handwerksbetrieb mehr, erwies sich diese Betriebsform, die auch heute auf Veränderungen des Marktes flexibler als andere zu reagieren imstande ist, als besonders geeignet für die schnelle Umsetzung technischer Innovationen und die Ausnutzung organisatorischer Verbesserungen jeglicher Art. Ihr wichtigstes Merkmal, die Serienfertigung spezieller, technisch hochwertiger Produkte, ließ sich nach Auffassung der Zeitgenossen nicht mit den Mitteln des herkömmlichen, als starr, rückwärtsgewandt und auf die Individualfertigung ausgerichteten Ausbildungs- und Prüfungssystems erlernen. Deshalb fürchteten die Behörden des sich nach der Jahrhundertmitte stürmisch entwickelnden Ruhrreviers, die strikte Einhaltung der Prüfungsvorschriften könnte die Region allmählich vom wirtschaftlichen Fortschritt abschnüren. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass damals auch andere als rein wirtschaftliche Überlegungen die Haltung der Amtsträger in der Prüfungsfrage bestimmten. Auffällig ist, dass die Zahl der Befürworter des Prüfungszwanges gerade in den katholischen Regionen Westfalens die der Gegner überwogen. Hier dürfte der damals seinem Höhepunkt zustrebende Kampf der Kirche gegen den Liberalismus seine Wirkung nicht verfehlt haben. Das päpstliche Verdikt gegenüber allen freiheitlichen Überzeugungen sollte, so mochte der strenggläubige Teil der Westfalen assoziieren, auch in praktischen Fragen des Wirtschaftslebens nicht ohne Wirkung bleiben. bb. Initiativen des Gesetzgebers Zu Beginn der sechziger Jahre begann auch der Gesetzgeber, den Prüfungszwang in Frage zu stellen. Eine erste, liberalem Gedankengut Ausdruck gebende parlamentarische Initiative, der sog. Reichenheimsche Entwurf des Jahres 1860, führte zwar nicht sofort zu einer umfassenden Revision der Gewerbeordnung. Doch zeigte die Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus, dass die bis dahin vertretenen Positionen bereits nachhaltig erschüttert waren. Auch der märkische Industrielle und Politiker Friedrich Harkort setzte sich dort nachdrücklich für die Gewerbefreiheit in einem umfassenden Sinne ein.695

695 Harkort wies auf seine Erfahrungen aus der Zunftzeit hin: „In meiner Jugend lebte ich bei einer Reichsstadt (Dortmund, G. D.), in der die Zünfte noch blühten, Schuh und Stiefel aber sehr theuer und schlecht waren; was geschah da? Die Bewohner gingen in das Preußische Gebiet, wo keine Zünfte bestanden, und kauften sich dort Schuhe und Stiefel, und kehrten damit unangefochten über die Grenze heim. Ich glaube, das Beispiel eignet sich dazu, die Entscheidung zu treffen, was vortheilhafter ist, die Zünfte oder die freie Arbeit?“ S. Protokoll der 48. Sitzung des Abgeordnetenhauses v. 8.5.1861, in GStA/PK, Ministerium des Inneren, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19 Bd. 3, fol. 249.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Um die gewerblich-technische Entwicklung nicht durch das geltende Gewerberecht zu blockieren, suchte bald auch das Handels- und Gewerbeministerium dem Prüfungszwang durch kleine Reformen und Änderungen in der Auslegung der Bestimmungen die nun mehr und mehr als anstößig empfundene Unbedingtheit zu nehmen. Den Anfang machte eine Regelung, die Ausländern die selbständige Ausübung eines Handwerks in Preußen erleichtern sollte. Nach § 67 der Verordnung v. 9.2.1849 sollte ausländischen Gewerbetreibenden die Erlaubnis zum Betrieb eines stehenden Gewerbes in der Monarchie nur aus wichtigem Grund erteilt werden. Diese Bestimmung wurde 1861 aufgehoben.696 Zwar verlangte man zunächst noch nach § 16 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845, dass ein in Preußen selbständig tätiger Handwerker dort auch seinen festen Wohnsitz nehmen müsse.697 1866 wurde den Meistern der Grenzgebiete aber gestattet, auch ohne Änderung des Wohnsitzes in der jeweils benachbarten Region Arbeiten auszuführen; solche Vereinbarungen trafen z. B. die Regierung in Minden und die Schaumburg-Lippische Regierung in Bückeburg für den Kreis Minden einerseits und die Ämter Bückeburg und Stadthagen andererseits.698 Seit 1862699 konnte die Meisterprüfung dann ausnahmsweise auch ohne vorherige Gesellenprüfung abgelegt werden. In Verbindung mit der Befreiungsmöglichkeit des § 6 des Gesetzes v. 15.5.1854 brachte die neue Vorschrift bereits eine weitgehende Auflockerung des Prüfungszwanges.700 Diesem Ziel diente es ebenfalls, dass die Behörden seit Mitte der sechziger Jahre nicht mehr auf der strengen Scheidung der Gewerbe, wie sie die Verordnung v. 9.2.1849 vorschrieb, beharrten. Den Meistern wurde nun nach § 47 in Verbindung mit § 22 ebendieser Verordnung gestattet, Gesellen verschiedener Handwerke nebeneinander zu beschäftigen.701 Immer häufiger wurde Anträgen auf Befreiung vom Prüfungszwang nach § 27 der Verordnung v. 9.2.1849 in Verbindung mit § 6 des Gesetzes vom 15.5.1854 stattgegeben.702 Diese neue Freiheit förderte nach dem Urteil der Anhänger des Liberalismus, der die öffentliche Meinung damals bereits beherrschte, 696 Preußische Gesetz-Sammlung v. 22.6.1861, Nr. 26, Art. III; zugleich wurde § 18 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845, wonach nicht naturalisierte Ausländer ein stehendes Gewerbe in Preußen nur mit Erlaubnis der Ministerien betreiben durften, dahin abgeändert, dass die Vorschrift nur noch für ausländische juristische Personen galt. S. auch GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 2 Nr. 1, Bd. 2, fol. 35; desgl. GStA/PK, Ministerium des Inneren, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 285–289. 697 Der Magistrat der Stadt Höxter untersagte 1864 einem in Horn im Fürstentum Lippe-Detmold ansässigen Schlossermeister die Ausführung von Aufträgen in Höxter. Das Ministerium hielt damals noch an der gesetzlichen Bestimmung fest; s. Schreiben der Reg. Minden an das Handels- und Gewerbeministerium v. 19.4.1864, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 2 Nr. 1, Bd. 2, fol. 76. 698 Amtsblatt der Regierung Minden v. 10.8.1866, Nr. 536, S. 286; desgl. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 2 Nr. 1, Bd. 2, fol. 145. 699 Ministerial-Erlass v. 29.7.1862. 700 S. STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 122. 701 So z. B. Schreiben des Amtmannes Mahlendorf v. 18.11.1865, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 135 ff. 702 So. z. B. das Gesuch des Metzgers Levi Rosenthal vom 26.10.1866, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 685; desgl. Gesuch des Schlossers J. H. Krömker in Herford v. 1.3.1864, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 780; desgl. STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 122.

C. Das Prüfungswesen

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das Handwerk nachhaltig. Die Zeitgenossen waren überzeugt, dass die nach dem Ende der Reaktion zunehmende geistige Freiheit und der technische Fortschritt einander bedingten; beide dachten sie sich als Zwillinge: Wo der eine nicht war, konnte der andere nicht sein. So wurden die Bestimmungen über die Befugnis zum selbständigen Gewerbebetrieb im Laufe der sechziger Jahre durch Umgehungsmanöver mehr und mehr ihrer praktischen Wirksamkeit im Rechtsleben beraubt. Nach der Mitte des Dezenniums nahm die Zahl der Prüfungen allmählich ab, wie die bis 1867 reichenden Daten für den Kreis Coesfeld zeigen. Immerhin ist es überraschend, dass die Auszehrung des Prüfungswesens nicht rapide vonstatten ging; die einmal aufgebaute Organisation blieb vielmehr bis zu ihrer Aufhebung intakt und erfüllte ihre Funktion. Nach allgemeinem Dafürhalten konnte es aber nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Prüfungsvorschriften endgültig fielen.703 Folgerichtig sprach sich der westfälische Deputierte Turck aus Lüdenscheid bei der Berliner Beratung über die Reform der Koalitionsgesetzgebung im Jahre 1865 auch dezidiert für die Beseitigung des Prüfungszwanges aus. Jeder, auch der unfähigste Lehrling, habe bisher die Gesellenprüfung bestanden, wenn er nur die Prüfungsgebühren zu bezahlen in der Lage gewesen sei, äußerte der Fabrikant in einer das bisherige Verfahren schonungslos diskreditierenden Offenheit. Alle an der Anhörung Beteiligten waren damals der Überzeugung, dass sich, wenn man den Lehrlingen und Gesellen gestatte, bei anderen als den Meistern ihres Fachs zu arbeiten,704 die Prüfungspflicht nicht aufrechterhalten ließe.705 Auch der westfälische Oberpräsident von Duesberg forderte nunmehr die Beseitigung des Prüfungszwanges.706 Der obligatorische Qualifikationsnachweis ließe sich, wie er meinte, wegen der Unmöglichkeit einer exakten Trennung zwischen Fabrik- und Handwerksbetrieb nicht mehr länger durchsetzen. Der Prüfungszwang sei mit der gebotenen Freiheit des Handwerksbetriebes keineswegs zu vereinbaren. Duesberg betrachtete die Meisterprüfung deshalb als völlig überflüssig.707 Der Handwerker sei durch eigenes Interesse hinreichend genötigt, die erforderlichen Fähigkeiten zu erwerben. 703 S. Protokoll der „Verhandlungen der zur Berathung der Koalitionsfrage berufenen Kommission“, Berlin 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787, S. 28. Der Verfall des Prüfungswesens zeigte sich auch darin, dass die Vorschriften durch Korruption umgangen werden konnten. Der Wittener Bürgermeister Bauer machte jahrelang zahlreiche Gesellen ohne Zuziehung von Prüfungskommissionen gegen Entgelt zu Meistern; s. Schreiben v. 22.11.1867, in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 553. 704 Dadurch wären die §§ 47 und 48 der Verordnung v. 9.2.1849 außer Kraft gesetzt worden. 705 So die westfälischen Deputierten, s. Protokoll …, wie Anm. 703, S. 39. 706 S. Schreiben des Oberpräsidenten v. Duesberg v. 17.11.1865 an den Handelsminister von Itzenplitz, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. 707 Der 1865 diskutierte Gesetzentwurf sah die generelle Aufhebung des Prüfungszwanges vor. Der Innenminister Graf Eulenburg wandte sich damals allerdings noch dagegen, das Prüfungserfordernis auch für Innungsmitglieder zu beseitigen; s. Schreiben des Innenministers an den Handelsminister v. 20.12.1865, in: GStA/PK, Ministerium des Inneren, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19 Bd. 5. Die Arbeitsgrenzen wollte aber auch Eulenburg damals schon beseitigen; s. Schreiben des Innenministers v. 20.12.1865, in: GStA/PK, Ministerium des Inneren, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19 Bd. 5, fol. 28 RS.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

cc. Fortdauernde Unentschiedenheit der Handwerker Im Gegensatz zu dem liberalen Optimismus, den die Beamtenschaft in den sechziger Jahren immer sichtbarer zur Schau trug, fanden die Gewerbetreibenden auch im weiteren Verlauf des Jahrzehnts nicht zu einer einheitlichen Auffassung über Wert oder Unwert des Prüfungszwanges. Während sie im deutschen Südwesten längst die Gewerbefreiheit favorisierten,708 bat der Norddeutsche Handwerkertag in Quedlinburg in schroffem Gegensatz dazu noch im Jahre 1867 um „Verschonung von der Gewerbefreiheit“.709 Die westfälischen Meister standen der einmal ins Rollen gekommenen, bald zur Lawine gewachsenen gewerbefreiheitlichen Bewegung weitgehend stumm gegenüber. Sie fanden kaum ein Wort der Verteidigung für ihr mühsam erkämpftes Prüfungssystem.710 Schon seit Beginn der sechziger Jahre wandten sie sich mit ihren Anliegen immer seltener an die öffentliche Verwaltung und umgekehrt ließ das Interesse der Administration in Westfalen an der Förderung der Prosperität der Handwerke ebenso schnell wie deutlich nach. Die Verwaltungsvorgänge, die sich mit Handwerksangelegenheiten befassten, nahmen im Laufe des Jahrzehnts ganz erheblich ab. Die große Zeit der Handwerkerbewegung, in welcher Handwerkspolitik mit dem doch um vieles weiteren Begriff der Gewerbepolitik geradezu synonym gedacht wurde, war auch in den preußischen Westprovinzen vorbei. Hierfür gab es zwei Gründe: Zum einen setzte sich, wie bereits angedeutet, die Idee des wirtschaftlichen Liberalismus in Wissenschaft und Publizistik damals erneut und mit außerordentlicher Rigorosität durch; dieser Wandel des geistigen Klimas beeindruckte die Handwerkerschaft derart nachhaltig, dass sie zunächst die selbständige Sprache verlor. Zum anderen erlebte das Kleingewerbe, mit Ausnahme der bereits direkt durch die Industriekonkurrenz betroffenen Berufszweige, noch einmal eine Phase relativer Prosperität. Insbesondere diese Konsolidierung der ökonomischen Situation war es, welche die einst schlagkräftige und einflussreiche Handwerkerbewegung schnell verfallen ließ. Die Erfolgreichen traten nunmehr nämlich für die Gewerbefreiheit ein, während die Zurückbleibenden die Ursache ihres Versagens in der eigenen Person suchten. Die Petitionen, die 1868 das Bundeskanzleramt und den Reichstag erreichten, spiegeln die widersprüchliche Haltung des Handwerkerstandes wider: Teils wurde dringend die Einführung der Gewerbefreiheit verlangt, teils aber auch ebenso nachdrücklich gegen die Aufhebung der Prüfungsbestimmungen protestiert, wie es beispielsweise der in Dresden tagende Norddeutsche Handwerkertag tat.711 Auf den Staat und seine Gesetzgebung, 708 Krahl (1937), S. 72. 709 Krahl (1937), S. 73. 710 Einige Ausnahmen gab es natürlich: So wandten sich die Handwerker Burgsteinfurts 1862 gegen die Müller-Reichenheimschen Entwürfe zur Revision der Gewerbegesetze. Sie verlangten von den Kammern die Weitergeltung der Verordnung v. 9.2.1849. Dabei ging es ihnen insbesondere um den Erhalt der Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen, s. Petition v. 14.2.1862, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 7, fol. 38. Der „Schornsteinfeger-Meister-Verein für die Provinz Westfalen“ forderte die Beibehaltung der Meisterprüfung für Schornsteinfeger, s. Schreiben des Schornsteinfegervereins v. 1.2.1869 an den Oberpräsidenten von Duesberg, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 5156. 711 Krahl (1937), S. 76.

C. Das Prüfungswesen

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von der die Professionisten zwei Jahrzehnte zuvor noch alles erhofft hatten, setzte damals niemand mehr. Am Ende dieser Entwicklung stand die Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.6.1869, die mit wenigen Ausnahmen keine Prüfungen und Befähigungsnachweise mehr kannte. Seither hatte derjenige, welcher ein stehendes Gewerbe selbständig betreiben wollte, nach § 14 der Gewerbeordnung lediglich der Gemeindebehörde Anzeige zu erstatten.712 Durch den Erlass dieses liberalen Gewerbegesetzes trat neben den Gesetzen von 1845 und 1849 eine große Zahl entgegenstehender gewerbepolizeilicher Vorschriften außer Kraft.713 Doch auch diese zweite Phase nahezu unbeschränkter Gewerbefreiheit in Westfalen blieb Episode. Nur wenige Jahre nach Erlass des Gesetzes von 1869 sammelte sich das durch heftige Krisen geschüttelte Handwerk erneut und kämpfte wiederum für die Einführung eines obligatorischen Befähigungsnachweises. 1882 wurde auf dem Handwerkertag in Magdeburg sans phrase die Wiederherstellung des traditionellen handwerklichen Ausbildungsganges mit einer geordneten Lehrzeit, der mehrjährigen Gesellentätigkeit sowie einer Gesellen- und Meisterprüfung gefordert.714 In der Tat setzte der Gesetzgeber wenig später das bis heute fortdauernde und seither unumstrittene Ausbildungssystem im Kleingewerbe durch. h. Fazit All die skizzierten Ausnahmen von den Vorschriften, aber auch die Hemmungen und Unzulänglichkeiten bei der Durchführung der Prüfungen hatten die Verwaltung, welche die Bestimmungen mit Leben erfüllen sollte, vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Die ungeprüften Handwerker suchten die Normen nach Kräften zu umgehen, während die etablierten Meister auf die strikteste Einhaltung der Vorschriften drangen. Der Bürgermeister der Stadt Minden pointierte den Zwiespalt, in den das Handwerk durch das neue Gesetz von 1849 geraten war, schon 1850: „Von der einen Seite (der Meister) ein fortgesetztes Hetzen, von der anderen Seite Klagen über Mangel an Geld und Gelegenheit zur Anfertigung des Meisterstücks … bringt 712 Nach Art. 2 der Anweisung zur Ausführung der Gewerbe-Ordnung v. 4. Sept. 1869 war die Anzeige von dem Gewerbetreibenden an die Gemeindebehörde des Ortes, wo er das Gewerbe zu betreiben beabsichtigte, zu erstatten. Die Kommunalverwaltung hatte darüber fortlaufende Verzeichnisse zu führen. Auf dem Lande war die Anzeige unter Berücksichtigung der §§ 41 und 74 der Landgemeinde-Ordnung v. 19. März 1856 an den betreffenden Amtmann zu richten; s. Amtsblatt der Reg. Minden v. 15.10.1869, S. 254. 713 Hier exemplarisch für den Regierungsbezirk Münster zusammengestellt: Bekanntmachung v. 28.6.1823, Amtsblatt 1823, S. 193 Bekanntmachung v. 2.10.1823, Amtsblatt 1823, S. 312 Bekanntmachung v. 18.6.1824, Amtsblatt 1824, S. 228 Bekanntmachung v. 2.5.1828, Amtsblatt 1828, S. 183 Bekanntmachung v. 3.4.1832, Amtsblatt 1832, S. 180 Bekanntmachung v. 30.5.1850, Amtsblatt 1850, Extra-Blatt zu Nr. 22 Bekanntmachung v. 7.12.1850, Amtsblatt 1850, S. 448 Bekanntmachung v. 7.9.1853, Amtsblatt 1853, S. 270 Bekanntmachung v. 24.6.1856, Amtsblatt 1856, Extra-Blatt zu Nr. 42 Bekanntmachung v. 18.6.1859, Amtsblatt 1859, S. 84. 714 Vgl. Wessels (1965), S. 515

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II. Die gewerbliche Ausbildung

oft zur Verzweiflung“. Hinzu kam, dass die Prüfungsvorschriften außerhalb des Handwerks in der an völlige Gewerbefreiheit gewöhnten Öffentlichkeit auf Unverständnis stießen. Den Zeitgenossen erschien es unbegreiflich, dass zwar jeder Großjährige das Gewerbe als Frisör, Barbier, Brauer, Fuhrmann, Fischer, Kupferstecher oder Bildhauer, und zwar ohne Prüfung oder Konzession, selbständig betreiben, dass man sogar vor dem 20. Lebensjahr Offizier oder Beamter werden konnte,715 dass man aber 25 Jahre alt sein musste, wenn man als Perückenmacher, Pantoffelmacher, Weber, Glaser, Korbflechter oder Maler auf eigene Rechnung arbeiten wollte.716 Der Charakter der Prüfungsbestimmungen als Schutznormen für das Handwerk, die überdeutliche Anknüpfung an zünftische Abschließungstendenzen bemakelte die Vorschriften in den Augen der Öffentlichkeit von vornherein. Niemand also war mit den Prüfungsbestimmungen recht zufrieden. Dennoch erkannten die Zeitgenossen auch Vorzüge der obligatorischen Leistungskontrolle: Seit die Vorschriften in Kraft getreten waren, bemühten sich zahlreiche Handwerker selbst um die Festigung ihrer Elementarschulkenntnisse. Auch wenn Schmoller dies nicht wahrhaben wollte, sind die Indizien doch eindeutig: Das gewerbliche Schulwesen verdankte vor allem dem Prüfungswesen seinen Aufstieg.717 Kehren wir zu der Ausgangsfrage nach der Funktion des Prüfungswesens als Stabilisierungsfaktor des Handwerks, welcher möglicherweise den wirtschaftlichen und sozialen Ausleseprozess abschwächte, zurück: Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Bauhandwerksmeister eine nachhaltige Stabilisierung ihrer Betriebe durch das Prüfungswesen erreichten, da die hohen Anforderungen in den Examina die Zahl der Konkurrenten gering hielt. Wegen der vielfältigen Umgehung der Prüfungsvorschriften in den anderen Gewerben kann für die Masse der Handwerke im Untersuchungszeitraum dagegen noch nicht von einer längerfristig wirksamen Konkurrenzbeschränkung durch das Prüfungswesen ausgegangen werden. Es bestanden in diesem Bereich aber starke räumliche Unterschiede auch innerhalb Westfalens, die, wie gezeigt werden konnte, auf die durchaus nicht einheitliche Anwendung und Durchsetzung der Prüfungsvorschriften zurückzuführen waren. Die Gegebenheiten des Güter- und Dienstleistungs- wie auch des Arbeitsmarktes wirkten auf das Handwerk nach wie vor unmittelbar ein, ohne dass dem Prüfungswesen nachhaltige Bedeutung für das jeweilige Betriebsergebnis zugeschrieben werden kann. Dies ergibt sich schon daraus, dass sich die Handwerkswirtschaft in den verschiedenen Regionen Westfalens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts außerordentlich unterschiedlich – und zwar Art und Maß der dortigen Industrialisierungsvorgängen entsprechend – entwickelte.

715 ALR II 18 § 810; Civilpensionsreglement v. 30.4.1825, § 9. 716 S. z. B. Bergius (1857). 717 S. Jacobi (1857), S. 101; s. dazu Kap. „Die theoretische Fachbildung“.

D. Das Wandern der Gesellen

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D. DAS WANDERN DER GESELLEN 1. Einleitung Das Wandern der Gesellen war jener Habitus des Handwerks, welcher in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute besonders nachhaltig präsent geblieben ist. Die Wanderschaft als konstitutives Gruppenmerkmal besaß durch ihren in den meisten Berufen des Alten Handwerks verpflichtenden Charakter vom 14. bis zum 19. Jahrhundert im gesamten Mitteleuropa rechtliche Relevanz. Merkwürdigerweise hat die rechts- wie auch die sozialgeschichtliche Forschung diesen für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung während eines halben Jahrtausends wenigstens zeitweise außerordentlich wichtigen Regelungsbereich bislang fast vollständig ignoriert. Bezeichnend für den Forschungsstand ist die abwegige Behauptung Jeschkes, dass das Wandern lediglich in den Bereich des Handwerksbrauchs gehöre und deshalb „nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem geltenden Gewerberecht zu stellen“ sei.718 Ein wie komplexes und bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung intensiv beschäftigendes Rechtsgebiet es dagegen seitens der Rechtsgeschichte ganz neu zu erschließen gilt, folgt schon aus der Vielzahl der einschlägigen Vorschriften und Verwaltungsvorgänge zur Gesellenwanderschaft. Die tiefe innere Unsicherheit, die für die Handwerksgesetzgebung des 19. Jahrhunderts so signifikant ist, wird auf dem Felde der Bestimmungen zu dem hier zu betrachtenden Phänomen besonders deutlich sichtbar.719 Dieses Diktum gilt schon 718 So Jeschke (1977), S. 167. Bräuer weist ebenfalls lediglich darauf hin, daß die rechtlichen Grundlagen des Wanderbrauchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „uneinheitlich“ gewesen seien; s. Bräuer (1982), S. 12. Elkar nennt als zentrale Aspekte des Forschungsinteresses an der Gesellenwanderung (1) typologische Merkmale der Gesellenmigration, (2) durch die handwerkliche Produktion bestimmte Migrationsfaktoren, (3) individuelle und kollektive Dimensionen der Gesellenwanderungen; s. Elkar (1991), S. 60. Die wesentliche Bedeutung rechtlicher Faktoren übersieht er nun bezeichnenderweise vollständig. Dabei hatte er 1983 immerhin noch erklärt, es sei notwendig, „auf die rechtliche Bedingungen der Wanderschaft … zu sprechen zu kommen“; so Elkar, Umrisse … (1983), S. 87,88. Damit erweist er sich als typischer Vertreter der neueren Handwerksgeschichte, die ausschließlich den sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen Raum gibt, während sie normative Quellen völlig ignoriert. Nur Schulte Beerbühl bemerkt immerhin, daß der Gesetzgeber als „dritte Partei“ auf dem Arbeitsmarkt die Beziehungen dort wesentlich mitgestaltet hätte; s. Schulte Beerbühl (2011), S. 14. 719 Die umfangreiche sozialgeschichtliche Literatur zum Gesellenwandern kann hier nicht vollständig Erwähnung finden werden; genannt seien Saal (1842); Vocke (1853); Perthes (1855); Schanz (1877), S. 313–343; Lerner (1929), S. 174–193; Westermayer (1932); Hofmann (1936); Lenhardt (1938); Masing (1939), S. 334–349; ders. (1940), S. 36–51, S. 235–253; Troescher (1953/54); Stadelmann/Fischer (1955); Kramer (1958); Rumpf (1964), S. 59–108; Pönicke (1964); Amann (1965), S. 65–80; Geremek (1970), S. 61–79; Steinmann (1972), S. 166–176; Zeida (1975), S. 233–252; Langewiesche (1977), S. 1–40; Wothrich (1978), S. 76–79; Domonkos (1979), S. 12–30; Otruba (1979); Bräuer (1980), S. 77–89; Elkar (1980), S. 51–82; Werner (1981), S. 190–219; Reininghaus, Die Entstehung … (1981); Reinighaus, Die Migration … (1981); Grießinger (1981); Reininghaus (1982), S. 265–272; Stopp (1982–88); Bade (1982); Bräuer (1982); Bräuer (1983); Elkar (1983); Elkar (1983), S. 293–313; Berwing (1983); Hochstadt (1983); Elkar, Umrisse … (1983), S. 85 ff.; Küther (1983); Ehmer (1983); Elkar

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II. Die gewerbliche Ausbildung

für das ausgehende 18. Jahrhundert, welches die antagonistischen Ziele der Handwerkspolitik auch im Bezug auf das Wandern nicht zum Ausgleich zu bringen vermochte:720 Einerseits sollte der Wanderzwang beseitigt, andererseits die Wandersitte aber nicht beeinträchtigt werden. Das arbeitslose „Stromern“ und die Auf- und Ausstände der Gesellen sollten durch andauernde Kontrollen verhindert, die auf Eigeninitiative gegründete berufliche Fortbildung aber gefördert werden.721 Um für den Militärdienst zur Verfügung zu stehen, wurden die Gewerbegehilfen genötigt, das Land nicht zu verlassen, zugleich aber im Hinblick auf ihre künftige Stellung als Meister verpflichtet, möglichst reiche Erfahrungen zu sammeln und mit erweitertem Horizont von der Wanderschaft heimzukehren.722 Während viele der

(1984), S. 262–293; Schwarzlmüller (1984); Göttsch (1985), S. 35–47; Schulz, Untersuchungen … (1985); Wesoly (1985); Schulz, Die Handwerksgesellen (1985); Grosinski (1985); Specker (1986); Elkar (1987), S. 87–108; Müller (1987), S. 77–93; Herzig/Sachs (1987); Elkar (1988); Reininghaus (1988); Reith (1988); Höck (1988); Hoffmann-Nowotny (1988); FavreauLilie (1989); Reith (1989); Bräuer (1989), Bräuer (1989); Kuba (1990); Reith (1989); Henkel (1989); Reith (1989); Wisotzky (1990); Elkar (1991); Schulte Beerbühl (1991); Thamer (1992); Reith/Grießinger/Eggers (1992); Spohn (1993); Notflatscher (1993); Mitchell (1995); Ehmer (1994); Reith (1994); Ehmer (1994); Krimmer (1994); Keller (1995); Althaus (1997); Nehrlich (1997);Lucassen/Lucassen (1997); Wadauer (1998); Reininghaus (1999); Hochstadt (1999); Bade (2000); Gelomen/Head-König/Radeff (2000); Bade (2000); Reith (2001); Clasen (2002); Wadauer (2002); Steidl (2003); Fouquet/Steinbrück (2003); Elkar (2003); König (2003); Häberlein/Jeggle (2004); Wadauer (2005); Wadauer (2005); Reith (2006), Sp. 668 – Sp. 674; Bade (2007). Hahn (2008); Schulz (2010), S. 244–249; Dahlmann/Schulte Beerbühl (2011). Zur Entwicklung der Migrationssoziologie und Wanderungstheorie vgl. Hoffmann-Nowotny (1988), S. 21–42 ff. Seit Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat die Erforschung der Geschichte der Migration insgesamt einen erheblichen Aufschwung genommen; dazu z. B. Lucassen/Lucassen (1997), S. 9–38. 720 Das Gesellenwandern des 19. Jahrhunderts ist ohne die Kenntnis seiner Grundlagen in der frühneuzeitlichen Zunftordnung, als deren Reflex es auch nach Einführung der Gewerbefreiheit zunächst noch fortwirkte, nicht zu verstehen. Die Wanderschaft hatte aber schon während der Zunftzeit für die Mehrzahl der westfälischen Gesellen einen anderen Stellenwert als beispielsweise für den aus den großen Reichsstädten stammenden Handwerkernachwuchs. Die vorhandenen Darstellungen berücksichtigen die spezifischen Verhältnisse einer ländlich-kleinstädtisch geprägten Region wie Westfalen bislang allerdings nur völlig unzureichend. Um die Vorschriften zum Gesellenwandern im 19. Jahrhundert in den Kontext der eigentümlichen Handwerksgeschichte dieser Provinz einordnen zu können, sind deshalb rückblickende Hinweise auf die Zunftordnung in Westfalen unerlässlich. Zu den Gründen für das Aufkommen des Wanderbrauches s. Schulz (1985), Die Handwerksgesellen …, S. 74–79; vgl. auch Reininghaus (1981); Schulz (1985), S. 265–296; Elkar unterscheidet zwischen handwerklicher Mobilität im allgemeinen und Migration im besonderen. Mit dem engeren Begriff der handwerklichen Migration verbindet er u. a. die „Vorstellung einer zeitlichen Befristung sowie einer kollektiven inneren und äußeren Organisation der Mobilität durch rechtliche Festlegungen …“, s. Elkar (1991), S. 57. 721 Vgl. Fischer, Die rechtliche und wirtschaftliche Lage … (1972), S. 308; desgl. Fischer (1955), S. 67. 722 Zu den berufspädagogischen Aspekten des Gesellenwanderns siehe S. Stratmann (1967), S. 165 ff.

D. Das Wandern der Gesellen

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deutschen Klein- und Mittelstaaten die Gesellen bestimmten, für einige Zeit ins Ausland zu gehen,723 untersagten die größeren eben dies.724 Durch das kaiserliche Edikt vom 28. August 1772 war der Wanderzwang aufgehoben worden. Rechtswirksam wurde diese Vorschrift allerdings nur in jenen Ländern, die das Reichsgesetz eigens in Kraft gesetzt hatten.725 Auch Preußen verbot das Wandern ins Ausland durch Verordnungen aus den Jahren 1766, 1782 und 1783.726 Nach den Revolutionskriegen verordneten die meisten der deutschen Länder ebenfalls solche Restriktionen. Einerseits sollten ausgebildete Arbeitskräfte und Rekruten nicht verloren gehen, andererseits aber heimische Fertigungsmethoden nicht im Ausland bekannt werden. Hinzu trat damals die Furcht vor Infiltration durch revolutionäres Gedankengut. Preußen führte aber noch weitergehende Beschränkungen des Gesellenwanderns in seinen Ländern ein: Die Wanderpflicht wurde durch Reskript vom 17. August 1784 in Berlin, Frankfurt, Halberstadt, Königsberg, Magdeburg, Potsdam und Stettin aufgehoben. Den Gesellen in diesen Städten gab die Verwaltung auf, sich am Orte zu vervollkommnen.727 Dass vor allem die norddeutsche Vormacht dem Gesellenwandern skeptisch gegenüberstand, nimmt nicht wunder: In einem Militärstaat wie dem preußischen musste die bereits erwähnte Erschwerung der Soldatenaushebung durch das Wandern naturgemäß auf besondere Bedenken stoßen.728 Beachtung haben die Bestimmungen, welche das Wandern über die Grenzen verhindern wollten, aber offenbar kaum gefunden. Denn trotz der wiederholten Verbote arbeiteten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viele preußische Gesellen 723 So z. B. die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, s. Emig (1968), S. 206. 724 Dies gilt beispielsweise für Kurhessen und Württemberg, s. Fischer, Die rechtliche und wirtschaftliche Lage … (1972), S. 308. 725 So z. B. in: Hochfürstlich Paderbornische Landesverordnungen, Bd. 4, Paderborn 1788, S. 24 ff.; im Fürstbistum Münster wurde das Edikt von 1772 nicht förmlich in Kraft gesetzt, sollte nach dem Willen der Behörden aber beachtet werden. 726 S. dazu Roehl (1900), S. 25. Das Verbot galt nicht unbedingt, das Wandern ins Ausland setzte aber eine Erlaubnis der Kammer voraus. Im allgemeinen gestatteten die preußischen Kammern das Wandern außer Landes aber nur dann, wenn sich das betreffende Handwerk im Ausland in gutem Stande befand. War dies der Fall, so erhielt der Geselle unter der Bedingung einen Reisepass, dass er sein Vermögen im Lande beließ und ca. 100 Taler Kaution stellte. Ohne ein Attest, welches dies bescheinigte, sollte kein Geselle die Grenze überschreiten dürfen (Reskr. v. 10. Sept. 1794). Roehl vertrat die Auffassung, dass die restriktive Haltung des preußischen Staates in dieser Frage ausschließlich bevölkerungspolitischen Intentionen entsprungen sei, s. Roehl, a. a. O., S. 25. In der Tat sollte das Wandern selbst durch solche restriktiven Bestimmungen nicht behindert werden: so waren die preußischen Gesellen des Bauhandwerks vor 1808 verpflichtet, nach Berlin, Potsdam oder Königsberg zu wandern, s. Heiser (1939), S. 8. Reinighaus vermutet undifferenziert, daß die Wanderung ins Ausland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts „schwieriger“ geworden sei; so Reininghaus (1988), S. 189. 727 S. Kaufhold (1978), S. 352 m. w. Nachw.; s. auch Rohrscheidt (1898), S. 12; Rüffer (1903), S. 194 f. und Simon (1903), S. 14. 728 Die für die Soldatenaushebung zuständige Kantonkommission hatte in der Tat 1789 gefordert, die Wanderpflicht ganz aufzuheben, da die Gesellen bei der Revision der Kantonspflichtigen kaum aufzufinden seien. Zwar wurde diesem Petitum nicht stattgegeben, doch machten die Behörden kein Hehl aus ihren Vorbehalten gegen das Wandern; s. Kaufhold (1978), S. 352. S. dazu ausführlich das Kap. „Die Militärdienstpflicht der Wandergesellen“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

beispielsweise in hessischen Städten.729 Verwundern kann dies nicht, denn die Zunftstatuten sahen weiterhin zumeist eine dreijährige Wanderzeit vor.730 Mit dem Ende der Zunftverfassung in Westfalen war das Wandergebot für die Gesellen zwischen Rhein und Weser zwar obsolet geworden; das Interesse des Gesetzgebers an hoheitlichen Regelungen zur Wanderschaft schwand damit aber keineswegs, zumal die Handwerkskorporationen in den mittleren und östlichen Teilen Preußens fortbestanden. Während der aufgeklärt – absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts sich unter dem Aspekt der „guten Policey“ dieses Phänomens angenommen hatte, wurde das gesetzgeberische Handeln des 19. Jahrhunderts von anderen Impulsen bestimmt, als die von den Zünften und Gilden oder – wie man in Westfalen sagte – Ämtern geformten Gebräuche allmählich ihre Lebenskraft verloren und die wandernden Handwerksburschen immer weniger von der schnell zunehmenden Zahl der Wanderarbeiter und herumziehenden Vagabunden zu unterscheiden waren. So behinderten die französischen Modellstaaten auf westfälischem Boden das Wandern durch das Konskriptionswesen nachhaltig.731 Nichtsdestoweniger hielten die Gesellen aber auch im 19. Jahrhundert zunächst noch an dem Brauch des Wanderns fest.732 Weshalb aber wanderte der Handwerkernachwuchs auch dann noch, als die Walz, jedenfalls in Westfalen, keineswegs mehr obligatorisch war? Die Frage nach Zweck und Nutzen dieses Phänomens im Zeitalter der Industrialisierung ist nicht leicht zu beantworten. Zwei Thesen hat die Sozialgeschichtsforschung zur Erklärung formuliert: Die Auffassung der Wanderschaft als „Hochschule des Handwerks“733 rekurriert auf den im ausgehenden 18. und noch bis weit in das 19. Jahrhundert feststellbaren aufklärerischen Impetus, mit dem die Zeitgenossen dem von ihnen konstatierten angeblichen Niedergang des Handwerks durch berufspäda729 So Emig (1968), S. 206. 730 Diese Regelungen wurden offenbar zumeist eingehalten. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass die Wanderung, wenngleich häufig nur als Nahwanderung (s. u.), meistens in der Tat mindestens drei Jahre dauerte; sie konnte aber auch sechs oder sogar neun Jahre währen. Die Meistersöhne hatten in der Regel nur verkürzte Wanderjahre zu absolvieren. Das Durchschnittsalter der Gesellen lag bei Antritt der Wanderung zwischen 19 und 20 Jahren; vgl. Wothrich (1978), S. 78. Reith geht davon aus, daß die Gesellenwanderung „in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus … ‚von der Forschung offenbar‘ systematisch unterschätzt“ worden sei; so Reith (2001), S. 327–356 (330). 731 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 395. 732 Aus liberaler Sicht äußerte sich der Zeitgenosse Mascher kritisch zum Gesellenwandern und zur Arbeitsvermittlung während der Zunftzeit, s. Mascher (1866), S. 462. 733 So Wissell, Bd. 1 (1971), S. 301. Demgegenüber war die Wanderschaft nach Auffassung Elkars „kaum“ das geeignete Mittel zur Verbreitung neuer Techniken und Produkte; s. Elkar (1999), S. 213–232 (231,232). Zur Auffasung Elkars vgl. Reith (2006), S. 5–25 (8). Gleichwohl nimmt Elkar an, daß ein nicht gewanderter Handwerker auch nach Beseitigung des Wanderzwanges „weniger geschätzt“ worden sei; vgl. Elkar, Umrisse … (1983), S. 112. Über die Bedeutung der Wanderschaft für den Wissens- und Technologietransfer im Handwerk herrscht Uneinigkeit; vgl. dazu auch Lourens/Lucassen (1999), S. 65–79; Reinighaus (1999), S. 195–212; Reith (1989), S. 1–35; gegen Elkar insbesondere Reith (2006), S. 5–25 (24,25). Eine Umfrage in Österreich im Jahre 1769 ergab, daß die große Mehrheit der sog. Kommerzialkonsesse die Gesellenwanderung beibehalten wollte, da diese den wünschenswerten Technologietransfer fördere; so Reith (1994), S. 23.

D. Das Wandern der Gesellen

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gogische Unterweisung, in der auch die Wanderschaft ihren Platz hatte, entgegenzuwirken suchten.734 Gestützt wird diese Ansicht nicht zuletzt auf den Umstand, dass die Walz auch in der von den Handwerkern selbst hinterlassenen Memoirenliteratur als Bildungserlebnis erscheint.735 Der quellengegründeten Auffassung des Wanderns als Medium der Bildung und Belehrung steht eine andere Erklärung dieses Phänomens gegenüber, welche in der Mobilität der Gesellen nicht zuletzt auch ein Ventil für die – aufgrund des starken Bevölkerungswachstums – notorische Arbeitslosigkeit unter den abhängig beschäftigten Handwerkern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht.736 Es fällt nicht schwer, auch für diese These Zeugnisse beizubringen.737 Die Gesellen selbst 734 Dazu ausführlich Elkar, Die Mühsal … (1983), S. 293 ff. Elkar behauptet, „der Gedanke an eine ökonomisch bedingte Strukturkrise“ des Handwerks als „Niedergang“ des Handwerks sei von „vielen der Handwerkspädagogen eher verdrängt“ worden; s. Elkar, a. a. O., S. 293. Dass es sich bei dem „Niedergang“ auch um eine auf Modernisierungs- und Verdrängungsängsten der Kleingewerbetreibenden und der zeitgenössischen Analysten beruhendes mentales Konstrukt und nicht nur um einen durch fallende Einkommen in den dreißiger und vierziger Jahren. belegbaren wirtschaftlichen Abstieg der überwiegenden Mehrzahl der Handwerker im 19. Jahrhundert handelt [s. dazu ausführlich Deter (2005)], thematisierte Elkar nicht. Er selbst stellte aber fest, dass die Gesellen – ausweislich der von ihm ausgewerteten Selbstzeugnisse – keineswegs die Industrie für die als unzureichend empfundene Auftragslage im Handwerk verantwortlich machten; vgl. Elkar (1983), S. 302. 735 S. z. B. Elkar, Die Mühsal … (1983), S. 294. S. dazu auch Kocka (1990), S. 340, der ausdrücklich von den Wanderungen als „kleinbürgerlicher Bildungsreise“ spricht. 736 So vor allem Bade (1982), S. 1–37. Mit dessen Argumentation hat sich Elkar kritisch auseinandergesetzt, s. Elkar (1987), S. 98, 99. Zum Problem der Mobilität der Unterschichten als Ergebnis krisenhafter Entwicklungen s. Schieder (1963), S. 93 ff., insbesondere S. 109. A. A. Bergmann (1975), S. 36. Reininghaus hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Wandern als Krisensyndrom einen höheren als den gewöhnlichen Grad der Mobilität voraussetzte – und ein solcher – jedenfalls hinsichtlich der Gesellen – erst einmal nachgewiesen werden muss; s. Reininghaus (1980), S. 52. Für Wien ist immerhin gezeigt worden, daß z. B. im Jahr 1837 dort allein mehr als 10000 zuwandernde Schneidergesellen als arbeitssuchend eingetragen wurden; viele wanderten schon am nächsten oder übernächsten Tag weiter; s. Ehmer (1994), S. 102,103. Eine außerordentlich hohe Zahl von einwandernden Gesellen ist z. B. auch für Chemnitz (Bräuer) und für Bamberg (Elkar) sowie andere Städte in der Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt worden; s. Ehmer, a. a. O., S. 105,105; vgl. auch Ehmer (2009), S. 191 ff. m. w. Nachw. Elkar weist darauf hin, daß zahlreiche Gesellen im 19. Jahrhundert die seit eh und je bevorzugten Großstädte wie Frankfurt, Nürnberg, Augsburg oder Wien aufgesucht hätten – wohl wissend, daß sie dort keine Arbeit fanden; s. Elkar, Umrisse … (1983), S. 110. Reininghaus erachtet die Arbeitssuche schon für die Entstehungszeit der Gesellengilde als das zentrale Motiv der Wanderschaft; s. Reininghaus (1981), S. 46–48. Lenger ist hingegen der Ansicht, daß das Wandern auch im 19. Jahrhundert „nur in Ausnahmefällen eine verdeckte Form von Arbeitslosigkeit“ gewesen sei; so Lenger (1988) S. 59 unter Hinweis auf Chemnitzer Quellen, wonach die Gesellen mehr als fünf Sechstel ihrer Wanderzeit beschäftigt waren. 737 S. Nachweise bei Elkar, Die Mühsal … (1983), S. 297, 300, 301. Nach Auffassung Pierenkempers gab es wegen der von „zünftigen Regeln bestimmten Beschäftigungsverhältnisse“ vor 1800 in Deutschland kaum einen freien Arbeitsmarkt im Handwerk; s. Pierenkemper (2009), S. 93,95. Ehmer und Reith haben dagegen herausgestellt, daß die Gesellenwanderung auch der Regulierung des tendenziell übersättigten Arbeitsmarktes im Handwerk diente, s. Reith (2008); Sp. 47–54; Ehmer (1980), S. 79; Ehmer (2009), S. 191–205 (203); hierzu auch Schulte Beerbühl (2011), S. 11–14. Auch Wadauer vertritt die Auffassung, daß „die Migration im Hand-

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II. Die gewerbliche Ausbildung

sahen in der tradierten Gewohnheit des Wanderns nicht allein die Chance für eine qualifiziertere Ausbildung, sondern auch die Möglichkeit, Phasen latenter Unterbeschäftigung zu verdecken738 und, längerfristig, zu vermeiden. Denn die durch das Wandern institutionalisierte Mobilität im Handwerk hatte seit jeher auch den Zweck, den Markt für Arbeitskräfte in der untersten vollständischen städtischen Schicht, eben dem Handwerk, auszugleichen.739 Nicht wenige Gesellen ließen sich nicht am Heimatort, sondern anderwärts nieder; andere, die nirgends recht Fuß fassen konnten, blieben jahrzehntelang auf der Walz; wieder andere fanden sich als Landhandwerker oder als „Bönhasen“ und „Störer“ in einer Stadt – und damit unterhalb des zünftigen Handwerks – wieder. All diese Entwicklungen verliehen dem Wandern aufgrund des nach der Mitte des 18. Jahrhunderts wachsenden Arbeitskräfteangebots in dem folgenden Jahrhundert in schnell zunehmendem Maße die Funktion eines Ventils für den seither bedrohlich angespannten Arbeitsmarkt.740 Beide Begründungen für das Fortleben des Wanderbrauchs im Zeitalter von Gewerbefreiheit und Industrialisierung schließen einander nicht aus, sondern besitzen durchaus beachtenswerte Aspekte, die bei der Erklärung des komplexen Phänomens der Gesellenmigration auch des 19. Jahrhunderts nicht übersehen werden dürfen. Naturgemäß kann es aber nicht Aufgabe einer rechtshistorischen Untersuchung sein, gültige Lösungen für spezifische Forschungsprobleme der Sozialgeschichte, und um ein solches handelt es sich hier, zu finden.741 Im Rahmen der

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werk“ … „primär eine Angelegenheit der Arbeit, der Ökonomie“ gewesen sei; so Wadauer (2005), S. 49. So Fischer, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen … (1972), S. 332; andererseits fehlten trotz des starken Bevölkerungswachstums seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aber Fachkräfte. So wurde im Jahre 1802 im Herzogtum Westfalen über das Fehlen qualifizierter Fachleute geklagt, s. Schöne (1966), S. 85. S. dazu Fischer, Soziale Unterschichten … (1972), S. 248. Die Zahl der Wandergesellen war um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Tat eindrucksvoll: In Berlin wanderten im Jahre 1843 26.122 Gesellen zu und 29.582 verließen die Stadt wieder. Selbst in dem vergleichsweise kleinen Bonn übernachteten damals pro Jahr 7.000 bis 8.000 wandernde Gesellen; s. Perthes (1883), S. 21. In Wien wanderten zwischen dem 10. Oktober 1836 und dem 8. Mai 1850 nicht weniger als 131.933 Schneidergesellen zu; s. Ehmer (2009), S. 201. Die notwendigen Fragen sind seitens der Sozialgeschichte gestellt; vgl. z. B. Elkar (1987), S. 88; s. auch Reininghaus (1980), S. 52. Reininghaus (1999), S. 194–212. Dort befaßt er sich auch mit der Änderung des Wanderverhaltens zwischen dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert. J. Ehmer nennt die Wanderung „ein komplexes ökonomisches, soziales und kulturelles Phänomen“, das als „Abschluss der Ausbildung …, als Ausdruck eines beschränkten Zugangs zur zünftigen Meisterschaft, als Bewältigung von struktureller Arbeitslosigkeit, als Technologietransfer, als rité de passage vom Jugendlichen zum Erwachsenen, als Form der Akkumulation von sozialem und kulturellem Kapital, aber durchaus auch als Strategie der Arbeitsvermeidung und als Suche nach Wegen aus dem Handwerk hinaus bzw. –auf der sozialen Stufenleiter – über das Handwerk hinauf“ gedient habe; s. Ehmer (2009), S. 191–2014 (197). Kocka weist darauf hin, daß die Wanderschaft in den Jahren der Arbeitsplatzknappheit bis 1850 für eine „nicht unbedeutende Minderheit der Gesellen, die in den langen Wanderjahren ihre Familienbindungen verloren hatte, den Abstieg ins Lumpemproletariat vorbereitet hätte; auf diese Weise sei der „Konkurrenzdruck des nach Meisterstellen strebenden Nachwuchses etwas“ gelindert worden; s. Kocka (1990), S. 342.

D. Das Wandern der Gesellen

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vorliegenden Darstellung wird deshalb auf Ursachen und Wirkungen der Gesellenwanderung im Untersuchungszeitraum nur insoweit eingegangen werden, als dies für das Verständnis und die Einordnung spezifisch juridischer Zusammenhänge unerlässlich erscheint. Über das jeweilige Gewicht der verschiedenen Einflussgrößen, die das Bild der Walz bestimmten, können nur begründete Vermutungen angestellt werden.742 Die demographische und wirtschaftliche Entwicklung, aus der Eigenart einzelner Berufe resultierende Gegebenheiten, das jeweilige Ausbildungsniveau, die gruppensozialen Spezifika der Handwerkskultur, nicht zuletzt aber auch politische, zu Vorschriften geronnene Vorgaben bestimmten das Wanderverhalten. Auch zur Zunftzeit schon waren viele Gesellen den Vorschriften zuwider nicht gewandert, und in manchen Handwerkssparten war das Wandern einfach unüblich oder jedenfalls nicht allgemein verbreitet.743 Auch waren die Bevölkerungsentwicklung wie die großen Zyklen des Konjunkturverlaufs in der gewerblichen Wirtschaft für die Walz keineswegs die wesentlichsten Faktoren.744 Allerdings dürfte die Zeit, in welcher die Gesellen während der Wanderjahre Arbeit fanden, wegen des erheblich größeren Arbeitskräfteangebots in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus geringer gewesen sein als 100 Jahre zuvor.745 Wirtschaftlicher Niedergang oder Aufstieg einzelner Städte beeinflussten die Anzahl der am Orte beschäftigten Gesellen in jedem Fall nachhaltig. Auch strukturierte sich unter dem Druck der Industrialisierungsvorgänge der Arbeitsmarkt des Handwerks in Teilen neu – was natürlich ebenfalls Auswirkungen auf die Gesellenwanderung in den betroffenen Berufssparten hatte. Konfessionelle Aspekte spielten bei der Bestimmung der Wanderrouten und der Auswahl der Wanderziele zwar häufig, aber keineswegs generell eine ausschlaggebende Rolle; sie verloren allmählich an Relevanz. Insgesamt besaßen die Wanderbeziehungen aber ein erstaunliches Maß an Konstanz, und zwar über die Geltungsdauer des Zunftrechts hinaus. Die Fernwanderung bildete – und blieb – eher die Ausnahme. Sie war nur für die Angehörigen weniger Handwerke typisch, für die es notwendig – oder zumindest vorteilhaft – war, sich besondere Techniken anzueignen. So wanderten hessische Weber nach Warendorf746 und norddeutsche 742 Vgl. dazu Elkar (1984), S. 288–293. Zur Anwendung von Netzwerktheorien vgl. Elkar (2003), S. 178, 179. Reininghaus versucht eine Darstellung der branchenspezifischen, raumbezogenen und konfessionellen Faktoren sowie obrigkeitlichen Einflüsse auf das Gesellenwandern in der Frühen Neuzeit, s. Reininghaus (1988), S. 183–189. 743 So z. B. bei den Bäckern; vgl. für Hessen Emig (1968), S. 208. 744 Die Zünfte mögen die Vorstellung gehabt haben, durch die Wanderpflicht die Zahl der Gewerksgenossen am Ort kleiner halten zu können; realistisch war diese Überlegung aber wohl nur in beschränktem Umfang; vgl. z. B. Emig (1968), S. 205, 206, 208. Wolfram Fischer vertritt dagegen die Auffassung, dass es „viele“ gewesen seien, die sich in einer anderen als ihrer Heimatstadt dauerhaft niederließen; so Fischer, Soziale Unterschichten … (1972), S. 248. Zutreffend ist sicherlich, dass die Walz zu einem Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt führte. Wer in der Stadt nicht reüssierte, fand sich als Landhandwerker wieder oder blieb gar auf der Wanderschaft, der im 19. Jahrhundert schnell wachsenden Schicht der Bettler und Vagabunden zugezählt. 745 So für viele auch an Hand von Beispielen aus Hessen Emig (1968), S. 213. 746 S. Kap. „Die Zuwanderung nach Westfalen“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Zimmerleute nach Süddeutschland, um die dortige, andere Bauweise kennenzulernen.747 Auch die Angehörigen der kleinen und in Westfalen nur schwach vertretenen Handwerkssparten, die Luxuswaren herstellten, tendierten zur Fernwanderung. Demgegenüber bevorzugten die großen Versorgungshandwerke überall die Nahwanderung. Es bedarf der Feststellung, daß die Gesellenwanderung in aller Regel ein städtisches Phänomen war. Die wenigen bei Landhandwerkern tätigen Gesellen und Lehrlinge, die schon zur Zunftzeit ohne korporative Bindungen gewesen waren, dürften auch im 19. Jahrhundert in der Regel nicht gewandert sein. Die Usancen ihres Arbeitsverhältnisses entsprachen jedenfalls nicht den handwerkstypischen, auch nach dem Ende der Zunftordnung tradierten Regularien, sondern der Arbeitsordnung gewöhnlicher Dienstboten. Die Verträge mit den Hilfskräften wurden – ganz wie diejenigen des Hauspersonals oder der im Hause lebenden landwirtschaftlichen Arbeitskräfte – jeweils für einen festen Zeitraum, ein halbes Jahr, geschlossen.748 Dementsprechend wurden die Hilfskräfte der Landhandwerker auch nicht als Gesellen, sondern als „Knechte“ bezeichnet.749 2. Das ALR und das Gesellenwandern Nach dem durch die Niederlage bei Jena und Auerstedt erzwungenen Erlöschen der preußischen Herrschaft in Westfalen hatten die neuen Herren des Landes zwischen Rhein und Weser das ALR außer Kraft gesetzt. Als sich Preußen dort 1814 zurückmeldete, ließ auch die Restituierung der großen Kodifikation nicht auf sich warten. Durch Patent vom 9. September 1814 wurde das Gesetzbuch mit Wirkung zum 1. Januar 1815 in den Teilen der Provinz, welche schon einmal zu Preußen gehört hatten, wieder in Kraft gesetzt.750 Es galt seither in den wiedergewonnenen Regionen Westfalens nicht als bloß subsidiäres Gesetz wie vor 1806, sondern als primäre Rechtsquelle. Daher besaßen seit diesem Zeitpunkt auch die Bestimmungen über die Wanderschaft der Gesellen in den §§ 330 bis 335, 340 bis 342, T. II, Tit. 8 wieder Rechtskraft in Westfalen. Durch Patent vom 25.5.1818 wurde das ALR dann auch in den ehemaligen Fürstentümern Corvey, Salm-Salm, Salm-Kyrburg, Salm-Horstmar, den Besitzun747 Vgl. Elkar (1984), S. 293. 748 So z. B. der Bürgermeister der münsterländischen Gemeinde Lienen vom 1.6.1854 in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. Zum Arbeitsrecht im westfälischen Handwerk s. Bd. 1. Das Landhandwerk hing schon wegen des agrarischen Nebenerwerbes weniger von den schwankenden Konjunkturen der gewerblichen Wirtschaft ab, s. z. B. Ehmer (1988), S. 234. 749 „Die Knechte (Gesellen) werden ebenso wie das gewöhnliche Gesinde je auf ½ Jahr gemiethet und beweinkauft“ teilte der Bürgermeister von Lienen im Krs. Warendorf dem Landrat mit; s. Schreiben vom 3.9.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 438, Bd. 1. Im übrigen Handwerk blieb es den Gesellen gewöhnlich überlassen, das Arbeitsverhältnis auch nach kürzerer Zeit zu kündigen und weiter zu wandern. 750 Patent wegen Wiedereinführung des Allgemeinen Landrechts und der Allgemeinen Gerichtsordnung in die von den preußischen Staaten getrennt gewesenen, mit denselben wiedervereinigten Provinzen, v. 9.9.1814, in: Preußische Gesetzessammlung 1814, S. 89 ff.

D. Das Wandern der Gesellen

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gen des Herzogs von Croy sowie des Herzogs von Looz-Corswarem, in den Grafschaften Rietberg, Steinfurt, Hohenlimburg und Dortmund, dem Vest Recklinghausen, den Herrschaften Rheda und Gütersloh, Anholt, Werth und Gemen, der Stadt Lippstadt sowie dem Amt Reckenberg eingeführt. In dem von Hannover abgetretenen Reckenberg allerdings galt das ALR jedenfalls formell nicht als vorrangiges Recht; denn die Einführungsverordnung vom 25.3.1818751 bezog sich insoweit nicht auf das Patent vom 9.9.1814, sondern auf ein Patent vom 19.11.1816.752 Im Amt Reckenberg war der Code civil nämlich unmittelbar nach dem Wiedererwerb von dem früheren hannoverschen Landesherrn durch die Verordnung vom 21.8.1814 rückwirkend mit der Folge aufgehoben worden, dass in diesem Gebiet alle früheren Provinzialrechte erneut Gültigkeit erlangt hatten. Aus diesem Grunde besaß das Amt Reckenberg rechtlich einen Sonderstatus. In den südlichen Landesteilen der Provinz Westfalen erhielt das ALR zunächst keine Gültigkeit. Im ehemaligen Herzogtum Westfalen, im Fürstentum Siegen, in den Ämtern Burbach und Neuenkirchen und in den Grafschaften WittgensteinWittgenstein und Wittgenstein-Berleburg wurde die preußische Gesetzgebung und Gerichtsverfassung, insbesondere das ALR, erst durch das Patent vom 21.6.1825 mit Wirkung zum 1.10.1825753 eingeführt. Die Übernahme erfolgte allerdings unter Ausschluss zahlreicher Regelungen des ALR, zu denen namentlich die drei ersten Titel des 2. Teiles über das Ehe-, Erb- und Familienrecht gehörten. Nach diesem Patent erlangte die Kodifikation im Süden der neuen Provinz Westfalen nur den Rang einer subsidiären Rechtsquelle; denn sie trat hier an die Stelle des gemeinen Rechts und „der Landesgesetze oder Vorschriften, die gemeines Recht erläuterten, ergänzten oder abänderten“.754 Die übrigen Provinzialgesetze, Statutar- und Gewohnheitsrechte behielten ihre vorrangige Gültigkeit.755 Sie waren nämlich in Südwestfalen entweder nie vom Code Civil aufgehoben oder inzwischen rückwirkend wieder eingeführt worden. Da die Zunftverfassung in den Grafschaften Wittgenstein nicht beseitigt worden war, galten im Bereich des Kreises Berleburg auch die Zunftprivilegien weiter. Dieser eigentümliche Anachronismus, der im Gebiet der Standesherrschaft fortdauerte, war in der Zukunft Ursache für all die Schwierigkeiten, welche mit der Anwendung tradierter, inhaltlich aber längst überholter und mit der übrigen Rechtsordnung des Landes unvereinbarer Statutarrechte notwendig verbunden waren. Aber auch aus der Wiedereinführung der §§ 330 bis 334 T. II Tit. 8 ALR im gewerbefreiheitlichen Westfalen mussten für die Rechtsanwendung erhebliche Probleme resultieren, denn diese Vorschriften atmeten nicht allein den Geist des aufgeklärten Absolutismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sondern suchten zugleich 751 Vgl. Possel-Dölken (1978), S. 35. 752 Preußische Gesetzes-Sammlung 1816, S. 233; dieses Patent führte das ALR in den ehemals sächsischen Provinzen ein und setzte dessen Bestimmungen „an die Stelle der bisher angewandten Landes- und subsidiarischen Gesetze“; vgl. § 2 des Patents v. 15.11.1816; s. PosselDölken (1978), S. 35, m. w. Nachw. 753 Preußische Gesetzes-Sammlung 1825, S. 153; Kochendörffer (1928), S. 172. 754 § 2 des Patentes v. 21.6.1825, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1825, S. 153. 755 § 3 des Patentes v. 21.6.1825, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1825, S. 153.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

– und zwar überdeutlich – den Ständestaat des Ancien régime zu konservieren.756 Gerade die Bestimmungen des ALR über die Wanderschaft der Gesellen gaben einem tiefen Interessenkonflikt Ausdruck: Einerseits hielt der Gesetzgeber an der Wanderschaft als einer unabdingbaren Ausbildungsstation des jungen Handwerkers fest; andererseits witterte die Obrigkeit die Gefahr, dass die Gesellen auf ihrer Reise mit revolutionärem Gedankengut in Berührung kommen und dieses verbreiten könnten. Zudem wollte der Staat des ausgehenden 18. Jahrhunderts seinem Ideal der Erziehung der Untertanen gerecht werden und auch deshalb Müßiggang und Bettelei unter den Gesellen möglichst verhindern. Mit dem Liberalismus, welcher im Preußen des Vormärz die Wirtschaftspolitik bestimmte, war all dies nur schwerlich zu vereinbaren. So verlangte das ALR, dass die Wanderschaft „in der Regel niemals“ über die Landesgrenzen hinausführen solle (§ 330); von dieser Regel konnte nur in besonderen Fällen seitens der „Landes-Polizey-Instanz“ Dispenz erteilt werden (§ 331). Die wandernden Gesellen waren gehalten, ihren Eltern, Vormündern oder Verwandten „von Zeit zu Zeit“ über ihren Aufenthaltsort Nachricht zu geben (§ 332); unterließen sie dies, so sollte gegen sie das im Falle der Verschollenheit von Personen vorgeschriebene Verfahren eingeleitet werden (§ 333). Das Erbetteln von „Zehrpfennigen“ war den wandernden Gesellen keineswegs erlaubt (§ 334). Die aus der Restituierung der von einem überholten Gesellschaftsmodell ausgehenden Bestimmungen des ALR resultierenden Probleme ließen nicht auf sich warten: 1826 klagte der Landrat des Kreises Beckum, dass die Gesellen und Lehrlinge offenbar glaubten, mit der Zunftverfassung seien auch die „gegenseitigen Verbindlichkeiten und Verpflichtungen weggefallen …, diese Meinung aber schon deshalb irrig ist, weil jene Verfassung sich auf gesetzliche Bestimmungen gründete, die noch ebenso gültig sind als früherhin …“.757 Der Beamte schärfte den Betroffenen deshalb die sich mit den Hilfskräften des Handwerks befassenden Vorschriften des ALR – und daher auch solche, welche über das Gesellenwandern handelten – ein, um, wie er ausdrücklich betonte, „Unordnungen und Vergehungen zu verhüthen“. Er vergaß auch nicht zu betonen, dass Übertretungen der gesetzlichen Vorschriften nicht ungestraft bleiben sollten. Dabei wollte der Landrat die Gesellen nicht allein den §§ 330 bis 334, sondern auch den folgenden § 335 sowie §§ 340 bis 342 T. II Tit. 8 ALR unterwerfen, obgleich diese überall vorhandene Handwerksorganisationen voraussetzten. So bestimmte § 335, dass die wandernden Gesellen verpflichtet seien, sich „gleich nach ihrer Ankunft an einem Orte bey den Gewerksaeltesten“ zu melden. Diese „Aeltesten“, ermahnte das ALR, müssten den Ankömmlingen „Arbeit bey einem Meister zu verschaffen bemüht seyn“. Bis solche gefunden sei, hätten die Vertreter des Gewerks den Zugewanderten „diejenige Unterstützung zu reichen, welche der Zunftgebrauch mit sich bringt“ (§ 340); falls die „Aeltesten“ keinen Arbeitgeber für den Ankömmling namhaft machen könnten, sollten sie ihn an756 S. dazu ausführlich Deter (1995), S. 297–325; vgl. auch Deter (1991), S. 82–97. Zur systematischen Unterdrückung der Gesellenbewegung in Preußen gegen Ende des 18. Jahrhunderts s. Grießinger (1981), S. 255–272. 757 Bekanntmachung des Landrats des Krs. Beckum v. 21.2.1826, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499.

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weisen, „nach Verlauf von Drey Tagen seine Wanderschaft“ fortzusetzen (§ 341). Blieb er ohne Erlaubnis der lokalen Polizeibehörde länger an einem Ort, so war die Obrigkeit verpflichtet, ihn auf die Anzeige der Handwerksvertreter „fortschaffen“ zu lassen (§§ 342, 338). An der Wirrnis zu zweifeln, die solche Bestimmungen im Rechtsalltag einer weitestgehend zunftlosen Provinz erzeugen mussten, besteht kein Anlass. Denn in Westfalen gab es damals längst keine Gewerksältesten mehr, und der „Zunftbrauch“ war mit der Aufhebung der Korporationen obsolet geworden. Zur zunfttypischen Arbeitsvermittlung fühlte sich erst recht niemand mehr verpflichtet. Die Folge dieser für die Betroffenen schwer erträglichen Ungereimtheiten war, dass jeder für geltendes Recht hielt, was ihm behagte: Der Beckumer Landrat behauptete, die Bestimmungen des ALR zum Gesellenwandern seien „noch ebenso gültig … als früherhin“, während die Gesellen und Lehrlinge die Auffassung vertraten, dass die „gegenseitigen Pflichten und Verbindlichkeiten weggefallen seyen“.758 Gelegentlich aber, wenn es ihren Interessen dienlich war, beriefen sie sich durchaus auch auf die hergebrachten Normen. Zu der Rechtsunsicherheit, welche aus dem Umstand, dass nicht allein in Westfalen, sondern auch in dem größeren Rahmen der preußischen Monarchie gewerbefreiheitliche Regionen und solche mit fortlebenden Zünften nebeneinander bestanden, für die Wandergesellen notwendig folgte, zählte schon der Nachweis einer geordneten Lehre. Jeder Gewerbegehilfe, welcher sich auf die Wanderschaft begab, bedurfte in der Regel eines Nachweises über die Absolvierung der Lehrzeit, um bei einem Meister Arbeit zu finden. Für die Ausbildung bei einem unzünftigen Handwerker galten im Gebiet des ehemaligen „Rumpf“-Preußens, also im größten Teil des ostelbischen Staatsgebietes, die §§ 6 bis 13 des Gewerbepolizeigesetzes vom 7.9.1811. Da dieses Gesetz in der Provinz Westfalen aber nicht in Kraft gesetzt worden war, blieben hier, wie festgestellt, lediglich die entsprechenden Vorschriften des ALR, sofern sie bei der herrschenden Gewerbefreiheit Sinn machten und anwendbar waren. Die daraus resultierenden rechtlichen Probleme und Zweifelsfragen wurden in Berlin nicht einmal im Ansatz erkannt. Der zuständige Minister Graf v. Bülow behauptete 1823, dass hinsichtlich der Ausbildung der Lehrlinge in den „ehemals französischen und westphälischen Provinzen … im Wesentlichen“ wie in den §§ 6 bis 13 des Gewerbepolizeigesetzes vorgeschrieben zu verfahren sei. An einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage für die entsprechende Anwendung dieser Vorschriften im Westen fehlte es jedoch weiterhin. Da die Ortspolizeibehörde, also die Lokalverwaltung, nach diesen Bestimmungen verpflichtet war, ein Zeugnis über die „ausgehaltenen“ Lehrjahre auszustellen und die entsprechenden Normen nach der Anweisung des Ministers auch ohne förmliche Inkraftsetzung gelten sollten, dürfte es für die in Westfalen ausgebildeten Lehrlinge jedenfalls in der Regel möglich gewesen sein, den Nachweis über eine ordnungsgemäße Handwerkslehre zu führen.

758 Bekanntmachung des Landrates des Krs. Beckum v. 21.2.1826, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum A 499.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

3. Die Wanderziele a. Der Forschungsstand Angesichts der Komplexität des hier avisierten Gegenstandes ist stets zu berücksichtigen, dass verallgemeinernde Schlüsse aus den bisher für andere Regionen vorliegenden umfangreichen Forschungsergebnissen zur Mobilität der Gesellen ebenso in die Irre führen können wie Generalisierungen, die nicht durch eine den Vergleich nutzende statistische Fundierung gesichert sind. Differenzierung tut not. So ist hinsichtlich der Wahl der Wanderziele einerseits zwischen den verschiedenen Gewerbesparten und andererseits nach Herkunftsregionen der Gesellen759 zu unterscheiden. Dass zudem der zeitliche Faktor, d. h. Änderungen im Wanderverhalten der verschiedenen Generationen, stets berücksichtigt werden muss, versteht sich beinahe von selbst. Will man einen konzisen Überblick über den bisherigen Forschungsstand zu den Wanderzielen der Handwerker geben, lässt sich folgendes feststellen:760 (1) Niemand kann die grundlegende Bedeutung der Gesellenmigration für das Alte Handwerk bestreiten. Dieser Befund wird durch die Auswertung der vergleichsweise wenigen seriellen Quellen allenthalben bestätigt.761 Zugleich zeigt sich aber auch, dass die Walz keineswegs immer zu fernen Zielen führte. Die Auswahl der Wanderziele, insbesondere die Bevorzugung der Nah- oder Fernwanderung, hing maßgeblich von dem jeweiligen Beruf, insbesondere der Differenzierung nach „geschenkten“ oder „ungeschenkten“ Handwerken, ab. So ist für das Frankfurt des 18. Jahrhunderts festgestellt worden, dass die Böttchergesellen 759 Beispiele hierfür finden sich bei Emig (1968), S. 217. 760 An dieser Stelle wird auf den Forschungsstand zu den spezifischen Verhältnissen in Westfalen noch nicht eingegangen. Zum Wanderradius im Spätmittelalter vgl. Schulz (1985), S. 79–83. Als „entscheidender Fortschritt“ in der Forschung zum Wanderverhalten ist hervorgehoben worden, daß dieses nunmehr als Teil der Geschichte der Migration in der Frühen Neuzeit und der Zeit der Frühindustralisierung betrachtet wird; so Bräuer (1989), S. 78–84 (84). 761 In der Reichsstadt Hall bspw. waren ausweislich der Totenbücher mehr als drei Viertel der im Zeitraum von 1606 bis 1807 verzeichneten Handwerker in der Fremde gewesen. Lediglich 22,9 % der Handwerker waren nicht gewandert; s. Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 89. Von den in Frankfurt beschäftigten Gesellen stammten nur 15 % aus der Stadt selbst, 85 % waren zugewandert; s. Lerner (1929), S. 174–193; dsgl. Ehmer/Reith (2002), S. 232–258 (241); Ehmer hat für die von ihm untersuchten Städte Zürich, Wien und Zagreb festgestellt, daß in Zürich 1836 kaum ein einziger der dort beschäftigten Gesellen aus dieser Stadt stammte, während der Anteil der einheimischen in den beiden anderen Städten bei einem Viertel lag; s. Ehmer (1994), S. 114. In Mainz waren 1770 fast 60 % der dort beschäftigten Gesellen aus anderen Territorien zugewandert; auch die demnach mit 40 % in der Minderzahl befindlichen Landeskinder stammten zum Teil aus weit entfernten Gebieten des Kurfürstentums; s. Reith (2002), S. 39–69 (62). Für ausgewählte mitteleuropäische Städte haben Ehmer/Reith für die Jahre 1827–1880 einen Anteil der Zuwanderer an den Lehrlingen zwischen 66,0 und 87,3 % und an den Gesellen zwischen 73,9 und 97 % festgestellt; s. Ehmer/Reith (2002), S. 242; vgl. auch Reith (2001); S. 327–356 (331). In Wien war auch die weit überwiegende Zahl der dort während des 18. Jahrhunderts tätigen Meister zugewandert. Lediglich in den wohlhabenden Branchen wie den Goldschmieden und den Buchbindern waren etwa die Hälfte der Meister Einheimische; s. Mitterauer (1979), S. 198, 199.

D. Das Wandern der Gesellen

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durchaus überwiegend aus den benachbarten Dörfern und Kleinstädten in die Reichsstadt zuwanderten.762 Demgegenüber gehörten die Metallhandwerker nach Feststellungen von Elkar überall zu den weitgereisten Gesellen, wobei der Wanderung in den verschiedenen Handwerksberufen ein durchaus unterschiedlicher Stellenwert zugemessen wurde und anspruchsvolle Berufe wie die Uhrmacher besonders hervorragten. Buchbinder zogen aufgrund der besseren Absatzchancen für ihre Produkte in Universitäts- und Residenzstädte. In den Bekleidungsgewerben muss in besonders subtiler Weise differenziert werden: Die Angehörigen der leder- und pelzverarbeitenden Professionen neigten zu ausgedehnten Reisen, während dieses nur bei einem Teil der Beschäftigten in den tendenziell eher ärmlichen Berufen dieses Gewerbesegments, der Schneiderprofession zumal, der Fall gewesen zu sein scheint. Spezialisierte Handwerker aus den Nahrungsmittelgewerben – Lebkuchenbäcker, Konditoren, Zuckerbäcker – wanderten weit, während die gewöhnlichen Bäcker und Metzger eher in ihrer Heimatregion blieben. Schreiner, Drechsler und Ebenisten reisten häufiger als andere in ferne Gegenden. Überhaupt ist festzustellen, dass der Wanderradius der Gesellen mit dem Grad der Kunstfertigkeit ihres Gewerbes zunahm. Es lässt sich deshalb konstatieren, dass die Fernwanderung vor allem auf bestimmte Berufe konzentriert blieb. Hierzu zählten natürlich jene, die mit der Produktion von Luxuswaren befasst und deshalb nur in wenigen Städten vertreten waren. Diese wenigen Bemerkungen zum berufsspezifischen Wanderverhalten können allerdings lediglich als grobe Orientierungen dienen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass zahlreiche Ausnahmen die erkennbaren Tendenzen durchbrachen: Zahlreiche Bauhandwerker sollen die Fernwanderung bevorzugt haben. Die Bauhandwerker aus manchen abgelegenen Regionen verzichteten dagegen zumeist auf die Fernwanderung; und diejenigen aus Tirol bevorzugten sie zwar, allerdings lediglich aus Gründen der Arbeitssuche.763 (2) Neuere Forschungen bestätigen die seit langem bekannte Tatsache, dass nur wenige süddeutsche Gesellen nach Norddeutschland wanderten764 – und dies galt spiegelbildlich auch für die Norddeutschen. So waren westfälische Gesellen in Regensburg oder Bamberg – zwar stärker als die Norddeutschen, gleichwohl aber in unbedeutender Zahl vertreten.765 Süddeutschland unter Einschluss der Schweiz766 und Österreichs einer- und Nord- und Westdeutschland andererseits bildeten als Rekrutierungsgebiete für die Zuwanderung in die Städte getrennte Großregionen.767 Natürlich handelte es sich hierbei nicht um einen apodiktischen Grundsatz: So gingen manche norddeutsche Zimmerleute wegen der völlig anderen Bauweise in Süddeutschland in den oberdeutschen Raum, um ihren beruflichen Horizont zu erwei762 S. Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 91. 763 Umfangreiche Literaturhinweise zum Wanderbrauch in den verschiedenen Handwerken finden sich bei Elkar (1987), S. 92–94. 764 So schon aufgrund mittelalterlicher Quellen H. Ammann, s. Elkar (1987), S. 87. 765 Vgl. Elkar (1984), S. 272, 277. 766 In Zürich stammten in den Jahren zwischen 1865 und 1880 43 % der Gesellen aus der Schweiz, aber 50 % aus Deutschland. Zwei Drittel der ausländischen Gesellen kamen damals aus den benachbarten Ländern Baden und Württemberg; vgl. Fritzsche (1984), S. 110–112. 767 S. Elkar (1984), S. 292. Reininghaus lehnt die These von der Zweiteilung Deutschlands ab; s. Anm. 783.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

tern.768 Als gesichert darf man aber ansehen, dass eine Auflösung der – aus der Perspektive der Wanderer – Teilung Deutschlands in zwei Großregionen erst mit der Hochindustrialisierung begann. Damals änderten sich die Wanderströme grundlegend, und die entstehenden Industriereviere wurden durch die Sogwirkung, welche sie auf die Arbeitskräfte aus dem Handwerk ausübten, zu einem bevorzugten Ziel der Gesellenwanderung.769 (3) Nicht zuletzt ist zu beachten, dass der konfessionelle Gegensatz Einfluss auf die Wanderziele hatte. Die Situation war allerdings von Stadt zu Stadt gänzlich unterschiedlich. Im Berlin des 18. Jahrhunderts fehlten katholische Gesellen fast völlig.770 Demgegenüber trugen katholische Gesellen keinerlei Bedenken, in die protestantischen Reichsstädte Süddeutschlands einzuwandern – wohingegen sich im katholischen Bamberg aber kaum evangelischen Gesellen einfanden.771 (4) Auch ist stets zu berücksichtigen, dass sich die Gesellen je nach Herkunftsgebiet an bestimmten Hauptwanderrouten orientierten. Aus Ungarn stammende Handwerker beispielsweise bevorzugten – unter Durchbrechung der Nord-SüdTrennung – den Weg über Wien, Regensburg, Nürnberg nach Norden bis Hamburg, Rostock, Berlin, um dann über Sachsen, Thüringen, Bayern, Österreich nach Ungarn zurückzukehren.772 Schweizer Gesellen zog es ebenfalls nach Norden. Zahlreiche Gesellen aus Baden und Württemberg arbeiteten dagegen in der deutschsprachigen Schweiz. In Zürich beispielsweise stammten in den Jahren zwischen 1865 und 1880 nur 43 % aller Gesellen aus der Schweiz, aber 50 % aus Deutschland. Fast zwei Drittel aller ausländischen Gesellen in der Stadt kamen aus Baden oder Württemberg.773 Schlesische Gesellen wiederum gingen schon im 16. Jahrhundert vor allem nach Österreich und in den süddeutschen Raum.774 (5) Vor allem aber ist zu bedenken, dass eine exakte Trennung zwischen den Gesellen, welche die Nah- und solchen, welche die Fernwanderung präferierten, nicht möglich ist. Viele Gesellen arbeiteten zunächst am Heimat- oder Lehrort, um erst später eine weitere Wanderung anzutreten.775 Andere unterbrachen die Wanderschaft und kehrten für eine gewisse Zeit nach Hause zurück.

768 Vgl. Elkar (1984), S. 293; für Westfalen lässt sich z. T. gerade für die Bauhandwerker aber anderes zeigen; ihre Situation ist deshalb außerordentlich differenziert zu sehen. 769 S. dazu Kap. „Die Zuwanderung nach Westfalen“. 770 S. Schultz (1983), S. 54. Den konfessionellen Gegensatz als wesentlichen Bestimmugsfaktor für die Wanderziele im vorindustriellen Deutschland betont auch Hochstadt (1983), S. 195– 224 (216,217). 771 S. z. B. für Regensburg Elkar (1984), S. 277; für Bamberg s. Elkar (1984), S. 271. 772 So Domonkos (1979), S. 24. 773 Fritzsche (1984), S. 110, 112. 774 So Jaritz (1979), S. 55, 58. Zu den Spezifika der Zuwanderung nach Wien s. Steidl (2003). Dort nahm der Zustrom an Handwerkern aus Deutschland seit den 1820er Jahren ab, während sich die Zuwanderung aus Böhmen, Mähren und Schlesien seither verstärkte; vgl. Steidl (2003), S. 290. 775 So für Hessen Emig (1968), S. 214. Es ist sehr zu Recht darauf hingewiesen worden, daß die Gesellenmigration den für das Handwerk notwendigen flexiblen Arbeitsmarkt gewährleistete, s. Ehmer (1994), S. 118; Bade (1982), S. 1 ff.; Reith (2001), S. 331, 332.

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(6) Aus der Tatsache, dass die westfälischen Gesellen nach Einführung der Gewerbefreiheit unzünftig waren,776 erwuchs ihnen nach Auffassung der Berliner Regierung auf der Wanderschaft kaum mehr ein Nachteil. Denn nachdem in manchen Teilen Deutschlands die Zünfte aufgehoben, in anderen immerhin der Zunftzwang beseitigt war, fanden die wandernden Gesellen, welche sich durch ein Zeugnis der Polizeibehörde ausweisen konnten, nach Auskunft des Ministers v. Bülow „fast überall“ in den Staaten des Deutschen Bundes Arbeit, ohne dass dies noch von einer zünftigen Ausbildung im eigentlichen Sinne abhängig gemacht worden wäre.777 Ob diese Einschätzung zutraf oder ob es für die unzünftigen Gesellen nicht doch problembehaftet war, sich in den noch verbliebenen „Zunftländern“ Deutschlands zu verdingen, ist nicht leicht zu beurteilen. Schließlich konnten lediglich die zünftigen Gesellen einen „Lehrbrief“ der Zunft vorweisen, der ihnen auf der Wanderschaft traditionsgemäß Anspruch auf Unterkunft in der Herberge, auf Arbeitsvermittlung („Umschau“) und das „Geschenk“ garantierte. Jeschke vertritt die Auffassung, dass die zünftigen Gesellen auch noch im 19. Jahrhundert keine unzünftigen Arbeitskräfte neben sich geduldet hätten. Deshalb vermutet er auch, dass von den preußischen Gewerbegehilfen nur die Zünftigen in die Zunftländer eingewandert wären, während die Unzünftigen „wohl äußerst selten“ auf die Wanderschaft gegangen seien.778 Das erscheint übertrieben. Allerdings reisten nach Jeschkes Feststellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Tat weniger Gesellen aus den Nachbarländern ohne Zunftzwang in das noch zünftige Osnabrück ein als dort benötigt wurden. Diese Abstinenz zeitigte nach Auffassung des Osnabrücker Handwerkervereins „üble Folgen“ für den Arbeitsmarkt in der dem preußischen Westfalen benachbarten hannoverschen Stadt.779 So spricht immerhin einiges dafür, dass die Westfalen damals eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Wanderung in die noch verbliebenen Zunftländer übten. b. Die landestypische Nahwanderung Zweifellos war Westfalen vor Beginn der Hochindustrialisierung kein bevorzugtes Ziel der Wanderströme.780Auf Reininghaus`These von Westfalen als einer jedenfalls bis zum Ende des 18. Jahrhunderts isolierten Wanderregion ist bereits hingewiesen worden. Wie stark die Westfalen in den innerdeutschen Austausch der Gewerksgesellen eingebunden waren, ist nicht leicht zu klären. Immerhin kann aus der Tatsache, dass am Ende des Alten Reiches in Münster, Telgte, Hamm, Unna, Paderborn, Herford, Bielefeld, Lippstadt, Lemgo, Minden und Osnabrück Gesellenverei776 Mit Ausnahme des Kreises Wittgenstein-Berleburg. 777 So Schreiben des Grafen v. Bülow an den Staatsminister v. Lottum v. 20.1.1823, in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1, fol. 74. Bülow bemerkte, die Zunftverfassung sei „in ganz Deutschland so durchlöchert, dass der wandernde Geselle … fast überall Arbeit findet, ohne dass man sich um seine zünftige oder unzünftige Qualität bekümmert …“. 778 So Jeschke (1977), S. 169. 779 Wie Anm. 778, m. w. Nachw. Diese Feststellung ist um so bemerkenswerter, als die Handwerkermigration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert im allgemeinen beträchtlich zunahm und sich erst im letzten Drittel des Jahrhunderts abschwächte, s. Ehmer (1994), S. 121. 780 Erwähnenswert ist die Zuwanderung von Bauhandwerkern, s. unten.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

nigungen bestanden, auf die Lebenskraft des Gesellenbrauchs auch in Westfalen geschlossen werden.781 Es ist überdies vermutet worden, dass die Gesellenvereinigungen in den bedeutenderen westfälischen Städten einem regionalen Verbund angehörten, der auch norddeutsche Gewerksgehilfen erfasste.782 Inwieweit es für das frühe 19. Jahrhundert noch zutrifft, dass westfälische Gesellen den oberdeutschen Raum mieden und umgekehrt, bedarf noch genauerer Untersuchungen. Reininghaus geht davon aus, daß es sich bei Westfalen bis zum Ende des 18. Jahrhundert um eine isolierte Wanderregion gehandelt habe, die auf die Niederlande ausgerichtet gewesen sei, wohingegen selbst die norddeutschen Hansestädte für die Westfalen kaum anziehend gewirkt hätten. Katholische Westfalen zogen eben nicht in die nördlichen, protestantischen Nachbarländer oder das reformierte Kassel.783 Einzelbeispiele zeigen aber auch, dass selbst die Wanderung nach Wien zur Familientradition münsterländischer Handwerker gehören konnte.784 Quellen der ausgehenden Zunftzeit nähren den Verdacht, dass das Wanderverhalten der westfälischen Gesellen keineswegs dem Bild entsprach, welches die Literatur gern von den Wanderjahren der jungen Handwerker im 18. und 19. Jahrhundert zeichnet. Als 1804 der Entwurf einer Zunftordnung für die gerade geschaffene „Grafschaft“ Dortmund diskutiert wurde, erachtete der dortige Rat Mallinckrodt es als notwendig, hinsichtlich der Gesellenwanderung die Regelung aufzunehmen, „das größere Städte und nicht bloß die Nachbarstadt besucht werden“.785 Dieses Petitum war keineswegs ein Einzelfall. Die gleiche Intention verfolgten auch die fast zeitgleichen Reformvorschläge des Bocholter Magistrats, die der in der westmünsterländischen Stadt lebende Geheimrat von Langenberg 1808 zu Papier brachte: Illusionslos beschrieb er den Ausbildungsstand der Handwerker in der Grenzstadt:786 „Solange wie bisher ein Lehrjung bloß bei seinem Vater oder einem 781 S. Reininghaus (1985), S. 133; vgl. auch Reininghaus, Vereinigungen … (1981), S. 97–148 (99 f.); Bade (1982), S. 1–37 (11 ff.). 782 So Reininghaus (1985), S. 133; s. dazu auch Reininghaus (1984), S. 219–241. 783 Reininghaus (1984), S. 219–241 (227); Reinighaus stellte auch fest, aus Westfalen seien „kaum“ Gesellen in das Rhein-Maingebiet gewandert, und nur selten hätten Gesellen von dort den Weg nach Westfalen gefunden, s. Reininghaus (1988), S. 186, Z.87. Zugleich wendet er sich gegen die vielzitierte These von der „Zweiteilung“ Deutschlands in verschiedene Wanderregionen, s. Reinighaus (1988), S. 187. Er geht jedenfalls davon aus, daß das in Westfalen so verbreitete Landhandwerk „die Wanderneigung wahrscheinlich eher dämpfte als förderte“; so Reininghaus (1999), S. 195–212 (212). Dasselbe gilt für die Ausrichtung auf die Niederlande: In Amsterdam gab es Gesellenorganisationen „kaum“, und die Wanderschaft spielte dort „de facto keine Rolle“; so Buchner (2004), S. 179. Zur Einwanderung Tiroler Bauhandwerker nach Westfalen s. Pieper-Lippe/Aschauer (1967), S. 119–193; vgl. auch Reininghaus, Die Migration … (1981), S. 1–21 (14 f.); Reininghaus (1985), S. 133. Für das ausgehende 18. Jahrhundert gibt das Bamberger Herbergsverzeichnis an, dass von 1446 Zuwandernden lediglich 11 aus dem Rheinland oder aus Westfalen stammten; s. Elkar (1984), S. 271. 784 So wanderten die Angehörigen dreier Generationen der Kunsttischlerfamilie Budde aus Warendorf zwischen 1762 und 1847 nach Wien; s. Seibert (1997), S. 61–63. 785 Stadtarchiv Dortmund, Best. 2, D-A 18. 786 A. v. Langenberg, Die Lage des Bocholter Handwerks, in: Stadtarchiv Bocholt, Z-SB XXVI, Nr. 18. Auch in Soest und Lippstadt war das Wandern noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts

D. Das Wandern der Gesellen

191

anderen hiesigen Meister die Lehre aushält, während der Lehrjahre dann noch häufig zu öconomischen Arbeiten787 gebraucht wird, nichts weiter als die gemeinsten Arbeiten kennen lernt, von geschmackvollen Arbeiten seines Fachs nicht einmal eine Idee erhält und bloß mit den Kenntnissen, die er als Lehrjunge darhier erworben hat, als Meister aufgenommen werden darf, solange ist an kein Aufkommen der hiesigen Handwerker zu denken“. Von einer Wanderschaft nach auswärts, gar einer solchen mit anspruchsvollen berufspädagogischen Zielen, wie sie die umfangreiche, über die Zunftordnung handelnde Literatur so gern dem Alten Handwerk insgesamt zuschreibt, ist in dieser Zustandsbeschreibung aus einer typischen westfälischen Mittelstadt bezeichnenderweise nicht die Rede. Das Defizit in der beruflichen Bildung war nicht folgenlos geblieben: Der Magistrat musste einräumen, dass die Handwerker-Korporationen der größeren deutschen Städte die in Bocholt ausgelernten Gesellen nicht als zünftig erachteten. Um der offenkundigen Ausbildungsmisere abzuhelfen, forderten die Stadtvertreter deshalb, dass zukünftig nur diejenigen als Meister angenommen werden sollten, die eine Wanderschaft von zwei oder drei Jahren nachweisen konnten. Nicht von ungefähr kam es dem Verfasser des Reformkonzepts vor allem darauf an, dass der Geselle „wenigstens zwei volle Jahre in einer oder mehreren ausländischen größeren Städten auf sein Handwerk zur Zufriedenheit der Meister gearbeitet“ haben sollte.788 Die wiederholten Hinweise auf ein vom Zunftideal deutlich abweichendes Wanderverhalten der in westfälischen Mittel- und Kleinstädten ausgebildeten Gesellen machen die Frage unabweisbar, ob es sich bei den erkennbaren Defiziten um ein für das westfälische Handwerk insgesamt typisches Phänomen handelte. Denn die zahlreichen Vorschriften zum Gesellenwandern im 19. Jahrhundert können in ihrer spezifischen Bedeutung für das Handwerk der untersuchten Provinz nur dann zutreffend gewürdigt werden, wenn ein klareres als das bisher noch recht diffuse Bild vom Wanderverhalten der westfälischen Gesellen im Untersuchungszeitraum vorliegt. Weitgehend unbekannt ist bislang auch, ob die aus dem Land zwischen Rhein und Weser stammenden Gesellen bestimmte Routen und Ziele auf ihrer Walz präferierten. Für diesen unbefriedigenden Forschungsstand gibt es, wie sich zeigen lässt, Gründe. Leider sind in Westfalen kaum serielle Quellen überliefert, die weiterreichende Aussagen zum spezifischen Wanderverhalten der Gesellen in der Provinz zu fundieren vermögen. Aufgrund der wenig günstigen Quellenlage lässt sich das im Rahmen dieser Untersuchung wichtige Forschungsproblem, inwieweit die Einführung der Gewerbefreiheit und die damit verbundene Beseitigung der Wanderpflicht die Gestaltung der Gesellenjahre des westfälischen Handwerkernachwuchses beeinflussten, nicht exakt beantworten. Umfassende quantifizierende Untersuchungen zur Migration im Gewerbe können erst für die Zeit nach Einführung des polizeilinur für die Glaser- und Schreinergesellen vorgeschrieben. Erst durch den Erlaß obrigkeitlicher Zunftordnungen wurde eine zumeist dreijährige Wanderzeit für fast alle Zünfte dieser Städte verbindlich; s. Strieter (2001), S. 270, 272. 787 Hiermit war die übliche Nebentätigkeit der Handwerker in der Landwirtschaft gemeint. 788 Langenberg, wie Anm. 786; lediglich ein Meistersohn, dessen Mutter Witwe war, sollte sich mit einjähriger Wanderschaft und wenigstens achtmonatiger Arbeit begnügen dürfen.

192

II. Die gewerbliche Ausbildung

chen Meldewesens in den deutschen Staaten in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden.789 Für die Zeit vor Beginn der Hochindustrialisierung lässt sich der Arbeitsmarkt nicht wirklich transparent machen. Deshalb muss geprüft werden, inwieweit aus den wenigen lokalen Quellen Schlüsse auf das Wanderverhalten gezogen werden können, die ggf. eine Verallgemeinerung zulassen. Hierzu bildet das von Reininghaus bearbeitete Lippstädter SchuhmachergesellenRegister eine in Westfalen einzigartige Fundgrube,790 da es Angaben zur Herkunft der verzeichneten Gesellen enthält. Wie lange diese in der Lippestadt blieben, ob es ihr erster Arbeitsaufenthalt auf einer längeren Wanderschaft war und wohin sie ggf. weiterwanderten, wird dort allerdings nicht mitgeteilt. Zwar entstammen die meisten Angaben in dem Register dem 18. Jahrhundert. Doch lassen sich, wie noch zu zeigen sein wird, wichtige Rückschlüsse auch für den Untersuchungszeitraum des 19. Jahrhunderts ziehen. Durchschnittlich wanderten gegen Ende des 18. Jahrhunderts 7 bis 10 Schuhmachergesellen jährlich nach Lippstadt, einer Mittelstadt mit entwickelter gewerblicher Wirtschaft im Herzen Westfalens, ein. Diese Zahl stieg zwischen 1790 und 1800 auf fast 13, um dann in den Jahren 1801 bis 1808 auf 14 Gesellen jährlich anzuwachsen: Tabelle 26: Zahl der nach Lippstadt zuwandernden Schuhmachergesellen (1676–1808)791792793 Jahre

Zahl der Gesellen

Gesellen pro Jahr

vor 1701791

122



1701–1725

234

9.36

1726–1750792

188

9.40

1751–1775793

152

8.00

1776–1800

239

9.56

1801–1808

111

13.88

1046 Quelle: Reininghaus (1993), S. 435

789 Vgl. z. B. Werner (1981), S. 190–219; Bräuer (1982). 790 S. Stadtarchiv Lippstadt Nr. 4445; die folgenden Ausführungen fassen im Wesentlichen die Erkenntnisse von Reininghaus (1993) zusammen. Zum Wanderverhalten der Gesellen vgl. ferner Zeida (1975), S. 233–252; Masing (1939), S. 334–349; ders. (1940), S. 36–51, 235–253 (251); Schultz (1983), S. 49–62 (54). Zwar sind einige weitere Einschreibebücher in Westfalen überliefert; doch erfassen diejenigen aus Bielefeld, Minden und Lemgo lediglich Glaser und Buchbinder. Dabei handelt es sich um kleine Handwerke, deren Wanderverhalten wenig repräsentativ ist, s. Reininghaus (1993), S. 434. Die Angaben zu fremden Bauhandwerkern in Münster sind ebenfalls wegen der besonderen Verhältnisse in den Bauberufen nicht zu verallgemeinern, vgl. dazu Pieper-Lippe/Aschauer (1967), S. 119–193. S. auch Reith (2007), S. 1034–1036. 791 Die Eintragungen setzten zwischen 1676 und 1693 ein. 792 Die Jahre 1731–1735 sind nicht belegt. 793 Die Jahre 1760–1765 sind nicht belegt.

193

D. Das Wandern der Gesellen

Die Auswertung der Herkunftsorte der in Lippstadt tätigen Schuhmachergesellen ergab, dass die Nahwanderung – bis zu zwei Tagereisen – mit 65 % weit überwog. Nicht weniger als 23 % der Gesellen stammten aus der Stadt selbst oder ihrer nächsten Umgebung im Umkreis von höchstens 10 Kilometern. Ein Drittel kam aus Orten mit einer Distanz von 11 bis 25 Kilometern, während ein weiteres Fünftel aus der Zone mit 21 bis 50 Kilometern Abstand vom Arbeitsort zugewandert war. Nur 10 % stammten aus Städten oder Dörfern, die zwischen 51 und 100 Kilometern vom Zielort entfernt lagen. Wer mehr als 100 Kilometer gewandert war, um in Lippstadt zu arbeiten, gehörte mit 9 % einer kleinen Minderheit an. Diese Verteilung der Herkunftsorte der Hilfskräfte änderte sich in den mehr als 100 Jahren zwischen 1701 und 1808 nicht wesentlich. Die Mehrzahl der Schuhmacher-Gesellen rekrutierte sich demnach stets aus dem Nahbereich Lippstadts, wie die folgende Tabelle zeigt: Tabelle 27: Zuwanderung der Schuhmachergesellen nach Lippstadt (1676–1808) nach Entfernungszonen794795796 Jahre

aus 1–10 km Lippstadt

11–25 km 21–50 km

51– 100 km

100 u. Gesamt794 mehr km

(1676)–1700

8

11

57

10

5

2

93

1701–1725

32

30

67

21

32

17

199

1725–1750795

20

32

56

27

18

25

178

1751–1775796

18

18

50

27

12

11

136

1776–1800

21

17

63

73

21

19

214

1801–1808

13

6

29

35

9

10

102

Gesamter Zeitraum

112

114

322

193

97

84

922

Quelle: Reininghaus (1993), S. 436

Dieses erstaunliche, signifikante Überwiegen der Zuwanderung aus der näheren Umgebung ist auch für Städte außerhalb Westfalens festgestellt worden. Die Herkunft der Gesellen aus den Nachbarorten scheint nicht einmal ein Spezifikum mittlerer und kleinerer Stadtgemeinden gewesen zu sein797. Sollte sich die Nahwanderung als vorherrschender Usus in der Mehrzahl der Handwerksberufe bestätigen, so ließe eine 794 Ohne nicht eindeutig zu bestimmende Orte. 795 Ohne die Jahre 1731–1735. 796 Ohne die Jahre 1760–1765. 797 So ist selbst für das reichsstädtische Frankfurt ein Überwiegen der Nahwanderung bemerkt worden; vgl. Lenhardt (1938), S. 15; zur Entfernung von Herkunfts- und Arbeitsort s. Elkar (1984), S. 271, 276, 284 f. (betr. Oberdeutschland); desgl. Bräuer (1980), S. 79 ff., bezügl. Chemnitz. Auch für Chemnitz ist festgestellt worden, dass die Nahwanderung überwog. So waren 36,4 % der Gesellen aus einer Entfernung von weniger als 100 km (Heimatort) zugewandert. Im Gegensatz zu den westfälischen Kleinstädten spielte für das bedeutendere Chemnitz aber auch die eigentliche Fernwanderung eine erhebliche Rolle: So wanderten im 17. Jahrhun-

194

II. Die gewerbliche Ausbildung

solche Tatsache die Bedeutung der in fast alle Zunftprivilegien aufgenommenen Vorschriften über das Gesellenwandern als einer wichtigen – und prägenden – Ausbildungsphase im Leben des jungen Handwerkers in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Es relativierte sich dann auch der Stellenwert der zahlreichen, das Wandern der Gesellen betreffenden staatlichen Vorschriften des 19. Jahrhunderts. Denn wenn die Mehrzahl der Wanderer in aller Regel nur die nächstgrößte Nachbarstadt erreichte, dürfte sich das als bedeutsames Mittel der Berufspädagogik hochgelobte Gesellenwandern auf nicht viel mehr als eine ganz gewöhnliche Arbeitssuche in möglichster Nähe des bisherigen sozialen Umfeldes reduzieren – und seine tradierte Aura des Ungewöhnlichen, Bedeutsamen, das Handwerk vor anderen Berufen Auszeichnenden verlieren. Die umfangreichen Regelungen des 19. Jahrhunderts zum Gesellenwandern bedürften aus einer solchen Perspektive eines anderen Verständnisses, als man ihnen sonst entgegenzubringen bereit wäre. Wenn sich nämlich – wegen der vorherrschenden Nahwanderung – die Mehrzahl der Handwerksgesellen nur kurzzeitig auf den Straßen aufhielt, richteten sich die zahlreichen Kontrollvorschriften der Obrigkeit in der Tat kaum gegen „ordentliche Junghandwerker, sondern vielmehr gegen die damals so genannten „Stromer“, Arbeitsscheue und aus Beschäftigungsmangel dauerhaft Entwurzelte, welche im Vormärz in großer Zahl ihr kümmerliches Dasein auf den Straßen fristeten, sowie vor allem – gegen politische Müßliebige. Betrachtet man die Zuwanderung nach Lippstadt differenziert nach den Heimatterritorien der Gesellen, so verdichten sich die Hinweise, dass jedenfalls in den Massenhandwerken weniger der Ausbildungsaspekt als vielmehr Tradition und wirtschaftliche Gesichtspunkte das Ziel der Gesellenwanderung bestimmten (siehe Tabelle 35). Im langjährigen Durchschnitt kam die weit überwiegende Zahl der in das protestantische Lippstadt zuwandernden Gewerbegehilfen aus angrenzenden katholischen Territorien, dem Herzogtum Westfalen und dem Fürstbistum Paderborn zumal, während das Lippstadt nördlich benachbarte, ebenfalls katholische Stift Münster und die preußisch-protestantische Grafschaft Mark nur sehr schwach vertreten waren. Dieses Ergebnis überrascht durchaus.798 Denn es lassen sich weder rechtliche noch konfessionelle oder ökonomische Ursachen für diese auffällige Diskrepanz in der Funktion der Nachbarterritorien als Zuwanderungsreservoir für die Handwerksgesellen der Lippestadt benennen. Das Fehlen jeden signifikanten Einflusses der Konfessionszugehörigkeit auf das Wanderverhalten erscheint bemerkenswert, denn für die Zunftzugehörigkeit der Meister spielte die Konfession dort damals noch durchaus eine wichtige Rolle: Die wohlhabenden „Ämter“ in Lippstadt (z. B. Bäcker-, Kramer- und Metzgeramt), die von geschlossenen lutherischen Familienverbänden beherrscht wurden, nahmen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dert nicht weniger als 26,7 % der Gesellen aus einem Heimatort, welcher mehr als 300 km entfernt lag, nach Chemnitz ein. 798 S. Reininghaus (1993), S. 436; zuvor noch hatte Reininghaus aber angenommen, auch das Bistum Münster habe „einen hohen Anteil an der Gesamtzahl zuwandernder Gesellen“ nach Lippstadt gehabt; s. Reininghaus (1988), S. 188. Auch für andere Städte ist festgestellt worden, daß deren Anziehungskraft auf Gesellen nicht als radial beschrieben werden kann; so z. B. für Nürnberg Elkar, Umrisse … (1983), S. 85–116 (104).

195

D. Das Wandern der Gesellen

Tabelle 28: Zuwanderung der Schuhmachergesellen nach Lippstadt (1676–1808) nach Heimatterritorien799800801802803 Jahre

Herzog- Fürstbst. Fürstbst. Preußen Preußen Rheda Riet- Osna- Reichs- Son- Getum Pader- Münster Mark übrige berg brück799 u. stige samt800 Westborn Prov. fr. St. falen

(1676)–1700

40

9

17

6

2

3

4

3

3



87

1701–1725

58

18

23

15

10

1

7

4

12

16

164

1726–1750801

61

27

13

4

8



5

8

2

23

151

1751–177522

41

35

11

4

2





5

1

14

113

1776–1800

67

58

11

12

11

1



3

1

21

185

1801–1808

33

16

6

1

2







2

12

72

Gesamter Zeitraum

300

163

81

42

35

5

16

23

21

86

772

Quelle: Reininghaus (1983), S. 437

in der Regel keine Katholiken auf.804 Diese waren demnach Bürger minderen Rechts in der Stadt. In den ärmeren Ämtern Lippstadts finden sich allerdings seit dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts Katholiken sogar als Richtleute. Durch diese Tätigkeit konnten sie auch einen gewissen Einfluss auf das Stadtregiment gewinnen.805 Blotevogel geht in seiner Darstellung der zentralen Orts- und Raumbeziehungen Westfalens in offenbarer Unkenntnis des Wanderverhaltens der Gesellen davon aus, dass die „Territorial-, Konfessions- und Zollgrenzen“ … „Lippstadt von seiner Umgebung abgeriegelt“ hätten.806 Der Konfessionsgegensatz habe „noch lange Zeit die Zentrenverbundenheit der Bereichsbevölkerung beeinflusst“. Dieser Auffassung korrespondiert Elkars Feststellung, dass „die Konfession … dort eher eine Rolle gespielt zu haben (scheint), wo sich das Handwerk aus seinem Nahbereich ergänzte.“807 Das Wanderverhalten der Lippstädter Gesellen, die doch ganz überwiegend aus benachbarten Orten stammten, widerlegt durchaus diese bislang vertretenen Ansichten, so dass die Frage nach den das Wanderziel bestimmenden Überlegungen der Gesellen neu gestellt werden muss. Antworten sollen zunächst wiederum am Beispiel Lippstadts gesucht werden. Dabei zeigt sich bald, dass es in 799 In den Grenzen von 1801; vgl. die Übersichtskarte: Die westfälischen Länder 1801. Politische Gliederung, bearbeitet von Günther Wrede, Braunschweig o. J. 800 Einschl. Amt Reckenberg. 801 Ohne Lippstadt und nicht bestimmbare Territorien. 802 Ohne die Jahre 1731–1735. 803 Ohne die Jahre 1760–1765. 804 Bürgerbuch der Stadt Lippe/Lippstadt (1576–1810) (1983), S. XXI. 805 Bürgerbuch der Stadt Lippe/Lippstadt, s. Anm. 804, S. XXI; immerhin zählten zwischen 1800 und 1809 37 % der Neubürger in Lippstadt zu den Katholiken. 806 Blotevogel (1975), S. 222. 807 So Elkar (1984), S. 292 (für Oberdeutschland); vgl. auch Schultz (1983), Bd. I, S. 49–62; Reininghaus (1984), S. 226 ff.

196

II. Die gewerbliche Ausbildung

der Tat andere als die zumeist in der Literatur genannten Aspekte waren, die das Wanderverhalten der dortigen Schuhmachergesellen bestimmten:808 (1) In Westfalen gab es kaum bedeutende städtische Gewerbezentren wie beispielsweise die süddeutschen Großstädte Augsburg und Nürnberg oder die bedeutenden Residenzstädte des Reiches. Die das Land zwischen Rhein und Weser prägenden gewerbetreibenden Mittel- und Kleinstädte, zu denen Lippstadt zählte, waren für die typischen Fernwanderer, deren Zahl vergleichsweise gering gewesen sein muss, nicht sehr attraktiv.809 (2) Die Teilung des deutschsprachigen Raumes in voneinander geschiedene Wanderzonen, die für das Mittelalter festgestellt worden ist,810 wirkte fort. Schon aus dem Rheinland suchte kaum einmal ein Geselle Lippstadt auf. Noch viel weniger gelangten Handwerker aus Süddeutschland dorthin. Um die vorhandenen Arbeitsplätze mussten die westfälischen Gesellen demnach kaum mit auswärtigen Berufsangehörigen konkurrieren. Sie standen weitestgehend ihnen selbst zur Verfügung. (3) Da der Wunsch nach einem möglichst nahe gelegenen Arbeitsort offenbar der entscheidende Aspekt bei der Auswahl des Wanderziels war, traten konfessionelle Gesichtspunkte, die in dieser Frage dominierend hätten sein können, zurück. (4) Das im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch weit überwiegend protestantische Lippstadt stellte für einen Nahbereich von ca. 50 km Entfernung die wichtigste Anlaufstation dar. Das Interesse an diesem Arbeitsort war in dem skizzierten Radius aber keineswegs gleichgewichtig verteilt. Es konzentrierte sich, wie festgestellt, in bestimmten Regionen der südlich und östlich angrenzenden katholischen Territorien, während das im Norden anschließende – ebenfalls katholische – Münsterland sowie die westlich gelegene, protestantische Grafschaft Mark kaum vertreten waren. Der Wanderradius deckte sich demnach, wie bereits Reininghaus bemerkt hat, weitgehend mit dem Neubürger-Einzugsbereich Lippstadts.811 Dass die Städte Soest und Bielefeld im Gegensatz zu ihrem Umland als Herkunftsort Lippstädter Bürger stark vertreten waren, widerspricht den genannten Tatsachen nicht, sondern dürfte allein aus ihrer Größe folgen. Wie aber erklärt sich dieses signifikante, nicht an die Konfession, sondern an die Herkunftsregion gebundene Wanderverhalten der Lippstädter Gesellen? Es waren die tradierten Raumbeziehungen und städtischen Zuwanderungsfelder, die das Verhalten auch der Hilfskräfte im Handwerk prägten. Die Lippe als uralte Grenze zwischen dem Siedlungsgebiet der Engern und Westfalen und die Ausrichtung nahezu des gesamten Oberstifts auf den Zentralort Münster812 ließen das Münsterland als Einzugsgebiet Lippstadts für zuwandernde Gesellen – mit Ausnahme der Nachbargemeinden Liesborn und Wadersloh – stark zurücktreten. Dasselbe gilt für die wirtschaftliche Zentralität, die Soest und Hamm für den Bereich der nördlichen

808 Zum folgenden maßgeblich Reininghaus (1993), S. 437, 438. 809 Vgl. Elkar (1980), S. 51–82; zum Reisen gegen Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Griep/Jäger (1983). 810 S. Ammann (1983), S. 284–316 (314). 811 Reininghaus (1993), S. 438. Dazu instruktiv das Schaubild zum Neubürger-Einzugsbereich der Stadt Lippstadt 1750–1809 bei Junk (1985), S. 653. 812 S. dazu eine kartographische Darstellung bei Blotevogel (1975), S. 161.

197

D. Das Wandern der Gesellen

Grafschaft Mark813 besaßen. Deren Funktion als bedeutsame Zentralorte schloss ihr Umland als Arbeitskräftereservoir für Lippstadt weitestgehend aus.814 Natürlich muss sich der Historiker, welcher auf der Basis einer sehr schmalen Quellengrundlage argumentiert, stets vor allzu weitreichenden Schlüssen hüten. Bei dem hier zu betrachtenden Forschungsproblem ist insbesondere zu beachten, dass Fakten des ausgehenden 18. nicht ohne weiteres als noch im frühen 19. Jahrhundert gleichermaßen gegeben erachtet werden können. Andererseits änderten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar die rechtlichen, noch nicht aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, mit und in denen das Handwerk lebte und arbeitete, grundlegend. Es lässt sich deshalb vermuten, dass sich das Wanderverhalten und die Wanderziele im frühen 19. noch nicht allzu sehr von denjenigen unterschieden, welche im ausgehenden 18. Jahrhundert präferiert wurden. Diese Annahme bestätigt sich in der Tat: Zufälligerweise enthält das Lippstädter Schuhmachergesellen-Einschreibebuch auch ein Verzeichnis der in der Stadt gegen Ende des Jahres 1834 tätigen Schuhmacher- und Schneidergesellen.815 Tabelle 29: Herkunft der 1834 in Lippstadt tätigen Schuhmacher- und Schneidergesellen nach Heimatregionen816817 Herzogt. Fst. Fst. Westfalen Pader- Münster born 17

16

2

Preußen Grafsch. Mark

Preußen, übrige Prov.

Rheda

Rietberg

Osnabrück

Reichsfreie Städte

sonstige

Gesamt817

2

2

-

-

-

1

7

47

Darin zeigt sich, dass die Lippstädter Schuster- und Schneidergesellen auch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts noch immer ganz überwiegend aus jenen Regionen stammten, die dieser Stadt schon seit Jahrhunderten gleichsam zugeordnet waren: Kamen im 18. Jahrhundert etwa zwei Fünftel der Schuhmachergesellen aus dem Herzogtum Westfalen, so hatte sich daran auch 1834 (incl. Schneidern) keineswegs etwas geändert. Der Anteil der Zuwanderer aus dem Hochstift Paderborn entsprach ebenfalls dem langjährigen Mittel: Hatte dieser nach 1750 bei durchschnittlich 30 % gelegen, so betrug er 1834 (incl. Schneider) ca. 35 %; damit setzte er den schon im 18. Jahrhundert erkennbaren, zunehmenden Trend fort. Der frühere Anteil des Fürstbistums Münster von 10 % war bis 1834 merkwürdigerweise auf weniger 813 S. die Abb. zur wirtschaftlichen Zentralität der westfälischen Städte im 19. Jahrhundert bei Blotevogel (1975), S. 94. 814 Als 1856 in Hamm darüber geklagt wurde, dass zahlreiche der dort tätigen Gesellen weder geprüft waren noch über einen Pass oder ein Wanderbuch verfügten, stellte sich heraus, dass diese alle aus den kleinen münsterländischen Nachbarstädten nach Hamm gekommen waren; s. Schreiben des Magistrats der Stadt Hamm an die Reg. v. 2.10.1856 in: STAM Reg. Münster Nr. 5781. 815 Zusammengestellt nach: Reininghaus (1993), S. 501–504. 816 Die Differenzierung ist, um die Vergleichbarkeit mit der Tab. 35 herzustellen, nach den Grenzen von 1801 erfolgt. Die Bezeichnungen geben die Namen der vor Errichtung der Provinz Westfalen bestehenden Territorien wieder. 817 Ohne Lippstadt und nicht bestimmbare Territorien.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

als 4 % gesunken. Auch hier aber bestätigt sich die im 18. Jahrhundert bereits feststellbare, langfristige, in diesem Fall abnehmende Entwicklungstendenz im 19. Jahrhundert. An der geringen Bedeutung der bereits im 18. Jahrhundert zu Preußen gehörenden Nachbarregionen, insbesondere der Grafschaft Mark, für die Zuwanderung nach Lippstadt hatte sich 1834 ebenfalls nichts geändert. All dies weist nach, dass das Wanderverhalten der in Lippstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tätigen Gesellen der Bekleidungshandwerke noch weitgehend dem des vorangegangenen Säkulums entsprach. Bei aller Zurückhaltung des Urteils, welche die beschränkte Quellengrundlage gebietet, lässt sich doch feststellen, dass es auch in der Zeit der Frühindustrialisierung die Nahwanderung mit ihren Eigenheiten und nicht das vielbeschriebene Zunftideal der in die Ferne führenden Reise war, welche das Bild im Schuster- und Schneiderhandwerk prägte. Eben dieser Umstand hatte dem Gesellenstatus in Lippstadt schon im ausgehenden 18. Jahrhundert jedenfalls tendenziell eine andere als die aus den Großstädten bekannte Physiognomie verliehen – wie sich leicht belegen lässt: 1767 hatte das Lippstädter Schuhmachergewerk bestimmt, dass unzünftige Gesellen bei den Amtsmeistern ebenso gut wie zünftige Hilfskräfte beschäftigt werden könnten. Die Zunftfreien wurden lediglich verpflichtet, ein im Vergleich zu den Zünftigen um einen halben Groschen erhöhtes Auflagegeld zu zahlen.818 Allein für das Jahr 1789 verzeichnet das Schuhmachergesellenbuch nicht weniger als 7 Gesellen, die solche Zahlungen leisteten, also als Unzünftige in Lippstadt Arbeit gefunden hatten.819 Daraus folgt, dass die Zuwanderung der Gesellen vom Lande für die Meister derartig wichtig war, dass sie sich bereit fanden, auf das Kernstück der Zunftordnung, welches die zünftige Handwerkslehre doch darstellte, zu verzichten. Und dies geschah, obgleich daraus unerwünschte Weiterungen folgen konnten. Denn damit setzte sich das Lippstädter Gewerk der Gefahr aus, im überregionalen Verbund der zünftigen Handwerker nicht länger als gleichberechtigt angesehen zu werden, was auch für andere westfälische Mittelstädte, wie das Beispiel Bocholts zeigt, offenkundig nicht untypisch war. Wenn die unzünftigen Gesellen ordentliche Mitglieder der Gesellenbruderschaft werden und damit einen Platz in der Zunftordnung Lippstadts finden konnten, erweist dies einmal mehr, dass die elementaren Bedürfnisse des Arbeitsmarktes jedenfalls in Westfalen die strengen Regeln der idealtypischen Zunftordnung820 außer Kraft zu setzen vermochten. Wurden die Spezifika der zünftigen Ausbildungsordnung aber schon im 18. Jahrhundert nicht geachtet, bedarf es nur geringer Phantasie, sich vorzustellen, um wie vieles mehr das Arbeitsverhältnis der Gesellen im zunftlosen Westfalen des 19. Jahrhunderts der Aura einer höheren Form qualifizierter Ausbildung entkleidet war. Diese – wenig spektakuläre – Realität der Gesellenjahre ist stets zu beachten, wenn man die Bedeutung der zahlreichen Vorschriften zum Gesellenwandern, die im Preußen des 19. Jahrhunderts ergingen, zutreffend zu würdigen sucht. 818 S. Reininghaus (1993), S. 438. 819 Reininghaus (1993), S. 504, 505. 820 S. dazu Wissell (1971), S. 145 ff.; wichtig auch Grießinger (1981); zum Stellenwert des Landhandwerks in der Zunftordnung s. Frensdorff (1907), S. 1–89.

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Die bisherigen Feststellungen ruhen, worauf bereits wiederholt hingewiesen wurde, auf einer durchaus schmalen Quellenbasis. Daraus resultiert die Frage, ob das vorhandene Quellenmaterial Erkenntnisse von allgemeinerer Bedeutung zu vermitteln vermag. Hierzu bedarf es subtiler Überlegungen, in deren Mittelpunkt die Frage, ob die für das Schuhmacherhandwerk gewonnenen Feststellungen für die Gesellen anderer Professionen Geltung beanspruchen können, zu stehen hat. Untersuchungen zur räumlichen Mobilität der Bevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert haben ergeben, dass die verschiedenen sozialen Schichten in dieser Hinsicht schon damals ein durchaus heterogenes Verhalten zeigten821. Blotevogel hat festgestellt, dass – ebenso wie heute – auch in vorindustrieller Zeit schon eine positive Korrelation zwischen dem höheren sozialen Rang und einer größeren Wanderungsentfernung bestanden hat.822 Im Umkehrschluss bedeutet dies nicht weniger, als dass die zahlreichen Dienstboten und Tagelöhner, aber auch die Lehrlinge und Gesellen jedenfalls der weniger einträglichen Professionen, welche in den Bürgerbüchern der Städte nicht erfasst wurden, in aller Regel Wanderungen in für sie überschaubaren Räumen präferierten – und deshalb aus der nächsten Umgebung in die Städte einwanderten. Eben dieser Befund ist es, der sich auch am Beispiel Lippstadts nachweisen lässt. Die Gesellen jedenfalls der eher ärmeren Massenhandwerke, die allenthalben das Bild des Handwerks insgesamt prägten, orientierten sich in der für die Provinz Westfalen durchaus typischen Mittelstadt keineswegs an den besseren Ausbildungsmöglichkeiten oder anderen, spezifischen Vorzügen größerer Orte; sie wanderten vielmehr in diejenige Stadt, zu deren Zuwanderungsgebiet ihr Heimatort traditionell zählte. Diese Rekrutierungsregionen legten sich nicht als konzentrische Kreise um die Städte, sondern wurden durch die jeweiligen Einflusszonen, die sich die verschiedenen Stadtgemeinden in der Konkurrenz mit anderen zu verschaffen verstanden hatten, bestimmt. Das Wanderverhalten der Lippstädter Schuhmachergesellen bildet damit – jedenfalls in Westfalen – keine singuläre Erscheinung, sondern spiegelt – cum grano salis – den geringen Mobilitätsimpetus der unteren sozialen Schichten insgesamt wieder. Richtung und Ziel der Wanderung der Gesellen aus den Massenhandwerken bestimmte weitestgehend die Stadt, mit der – gegenüber dem Heimat- oder Ausbildungsort – nächsthöheren zentralen Funktion. All dies lässt sich in der Tat am Beispiel anderer Städte der Provinz Westfalen verifizieren: So wanderten auch die in dem siegerländischen Hilchenbach tätigen Gesellen aus einem Umkreis von durchschnittlich nicht mehr als 40 km zu.823 Die Bauhandwerker der abgelegenen Regionen des Sieger- und Wittgensteiner Landes verzichteten zumeist auf die Fernwanderung.824 Die bereits erwähnte Ortsgebundenheit der Gesellen in Dortmund und Bocholt bestätigt dieses Phänomen. Zutreffend ist darauf hingewiesen worden, dass die aus der Umgebung stammenden Gesellen „häufig den migranten Dienstboten männlichen oder weibli821 S. Blotevogel (1975), S. 160; vgl. auch Hohenstein (1935); Penners (1956), insbes. S. 89, 118. 822 S. Blotevogel (1975), S. 160. Reith hat am Beispiel Augsburgs nachgewiesen, daß es für die verschiedenen handwerklichen Berufsgruppen voneinander abgrenzbare Teilarbeitsmärkte gab, so Reith (2001), S. 327–356 (333–351). 823 Vgl. Elkar (1985), S. 33–35. 824 S. Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 92–94.

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chen Geschlechts und sonstigen Hilfskräften vom Land näher als den nach Handwerksbrauch wandernden Fremden“ gestanden hätten.825 Wegen des fast völligen Fehlens bedeutender Städte in Westfalen dürfte dies – allerdings zu pointiert – die Situation zahlreicher Gesellen in der Provinz beschreiben. Die umliegenden Landgemeinden stellten eben das natürliche Arbeitskräftereservoir für die Städte, und dies galt in Westfalen auch für das Handwerk. Natürlich bedeutete für die Gesellen aus den Landgemeinden Westfalens selbst die Wanderung in relativ nahe gelegene Städte schon eine gewisse Erweiterung des Horizonts. Der Landrat des Kreises Meschede, in dessen Sprengel die dort vorhandenen drei Städte nicht größer als gewöhnliche Dörfer waren, beschrieb die Nahwanderung aus seinem Verwaltungsbezirk deshalb noch für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus unkritisch als die Norm: „Die Handwerksburschen wandern, sobald sie ihre Lehrzeit beendigt haben, zu ihrer Ausbildung in die größeren Städte der Rheinprovinz und Westfalens“.826 Die Nahwanderung in die westfälischen Mittel- und Kleinstädte als Regelfall war offenkundig auch kein singuläres Phänomen Westfalens, sondern ausweislich der Quellen aus anderen deutschen Regionen auch bei den Gesellen größerer Städte gewöhnlich. Von den 1.465 Gesellen, die im Sommer 1855 in Bonn beschäftigt waren, stammten 14 aus der Stadt selbst und 974 aus der Rheinprovinz; 420 waren von weiterher, aus anderen Provinzen zugereist, und nur 57 kamen aus dem nichtpreußischen Deutschland.827 Es ist festgestellt worden, dass 36 % der in Chemnitz tätigen Buchbindergesellen aus einem Umkreis von 100 km stammten, und 20 % rekrutierten sich aus einer Entfernung von über 200 km. Nur 17 % hatten sich zu einer wirklichen Fernwanderung entschlossen, indem sie aus Orten zwischen 300 und 400 km zugereist waren.828 Auch in Berlin dominierte jedenfalls im 18. Jahrhundert noch die Nahwanderung aus der Mark. Zuwanderung aus entfernteren Regionen in die preußische Hauptstadt lässt sich nur feststellen, wenn diese über ein großes Reservoir überschüssiger Arbeitskräfte verfügten.829 Ebenso ist für österreichische Kleinstädte die Nahwanderung als besonders häufig nachgewiesen worden.830 Die Wanderdistanzen waren, wie bereits festgestellt, in den verschiedenen Berufen aber unterschiedlich. Dies galt auch bei der Präferenz für einzelne Regionen.

825 So Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 104; diese Auffassung lässt sich – wiederum am Beispiel Lippstadts – bestätigen, wo, wie festgestellt, im 18. Jahrhundert – entgegen dem Zunftbrauch – zünftige und unzünftige Gesellen nebeneinander arbeiteten. Dasselbe konnte für das Münsterland gezeigt werden, s. o., Anm. 748, 749. 826 Statistische Darstellung des Krs. Meschede (1874), S. 17; Eversberg zählte 1818 317 (1867: 941), Fredeburg1818 661 (1867: 923) und Meschede 1818 1336 (1867: 2415) Einwohner, s. Gemeindestatistik des Landes Nordrhein-Westfalen (1966), S. 249. 827 S. Perthes (1883), S. 13. Ein Beispiel für die typische Nahwanderung gibt der Rheinländer Johann Kirchgaesser in seiner Autobiographie; s. Wisotzky (1990) (mit Hinweisen auf zahlreiche weitere Biogrophien rheinischer Handwerker). 828 S. Elkar, Umrisse … (1983), S. 104. 829 S. Schultz (1983), S. 54. 830 So Jaritz (1979), S. 54.

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Verbindet man diese für andere deutschsprachige Regionen getroffenen Feststellungen mit dem Bild, welches sich nach den spärlichen westfälischen Quellen zeichnen lässt, so ergibt sich, dass die wohl überwiegende Zahl der in den westfälischen Klein- und Mittelstädten ausgebildeten Handwerker keineswegs ein spezifisches, dem jeweiligen Gewerbe eigentümliches Wanderverhalten gezeigt haben dürfte, sondern sich vielmehr dem orts- bzw. regionaltypischen Muster der LandStadt-Wanderung anpasste.831 Der berufspädagogische Wert solcher Ausbildung war naturgemäß begrenzt. „Hochschule des Handwerks“ im Sinne Wissells kann die Nahwanderung jedenfalls nicht gewesen sein. Andererseits kann aus dem Umstand bloßer Nahwanderung keineswegs generell auf ein Fehlen handwerklichen Standesbewusstseins geschlossen werden. Anders verhielt es sich – auch in Westfalen – lediglich bei den Angehörigen der wohlhabenden, Kapital voraussetzenden und einen höheren Grad der beruflichen Qualifikation erfordernden Gewerke. Aber auch in diesem Segment des handwerklichen Berufsspektrums ist wiederum zu differenzieren: Bei den – in der Regel – besserverdienenden Nahrungsmittelhandwerkern scheint die Wanderschaft – zumal nach ferneren Zielen – keine besondere Rolle gespielt zu haben. Bei der Migration jedenfalls eines Teils der Bauhandwerksgesellen dürfte gewöhnliche Arbeitssuche die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Erben der wenigen größeren Bauunternehmen, die es in Westfalen, insbesondere in der Stadt Paderborn, gab, und vergleichsweise wenige andere, besonders ambitionierte junge Leute aus den Bauberufen genossen dagegen eine sorgfältigere Ausbildung.832 Die eigentliche Fernwanderung ausschließlich aus Gründen der beruflichen Qualifizierung dürfte vor allem für die vergleichsweise wenigen Handwerker charakteristisch gewesen sein, die in anspruchsvolleren Berufen – wie beispielsweise dem des Goldschmieds – arbeiteten und die sich zumeist in größeren Städten, wo mit Konkurrenz zu rechnen war und das Publikum höhere Ansprüche stellte, niederlassen wollten. Generell gilt, daß der Wanderradius zunahm, je spezialisierter oder anspruchsvoller der ausgeübte Beruf des Gesellen war. Ein Beispiel für einen solchen lernwilligen jungen Mann gibt der Warendorfer Tischlergeselle Gerhard Budde,833 der 1840 über Dresden nach Prag und schließlich nach Wien wanderte, dort in bedeutenden Werkstätten arbeitete und 1847 wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte, um die bekannte Kunsttischlerei der Familie zu übernehmen. Der Vater wie auch der Großvater hatten schon die nämliche Wanderroute gewählt. Handwerker mit solcher Vita, die füglich von sich sagen konnten, dass sie der Wanderschaft eine weit überdurchschnittliche berufliche Qualifizierung verdankten, blieben im Westfalen des 19. Jahrhunderts allerdings stets eine kleine Minderheit.

831 Natürlich gab es auch Ausnahmen wie jenen Lippstädter Gesellen Berend Freige, der 1600 Schaffer der Rigaer Schneidergesellen war: „Berend Freige von der Lippe“; s. Stieda/Mettig (1896), S. 507. 832 S. dazu die Ausführungen zur theoretischen Fachbildung der westfälischen Handwerker im Untersuchungszeitraum. 833 S. Seibert (1997), S. 62.

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c. Die Arbeitsphasen und die Dauer der Wanderschaft Angesichts der These, dass die hohe Arbeitslosigkeit im Handwerk des ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Gesellenwanderung ein Ventil gefunden habe, ist es wichtig zu wissen, wie sich die produktiven Phasen zu solchen der Arbeitssuche bzw. des Umherreisens verhielten. Auch zur Beantwortung dieser Fragen reicht das in Westfalen vorhandene Quellenmaterial nicht aus. Am Beispiel der Gesellen in der Stadt Chemnitz ist aber gezeigt worden, dass die Arbeitsphasen auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Zeit des Reisens und des von den liberalen Zeitgenossen viel beklagten „müßigen Umherschweifens“ bei weitem übertrafen. Nach diesen Feststellungen entfielen bei einer durchschnittlichen Gesamtwanderzeit von 40,8 Monaten 83,9 % auf Arbeitszeiten und nur 16,1 % auf die Arbeitssuche.834 Angesichts solcher Zahlen relativierten sich die zeitgenössischen Klagen über die Walz als Hort des Müßigganges und der Laster natürlich ganz beträchtlich – wäre da nicht die Tatsache, daß ein Viertel oder gar die Hälfte der in den 1830er und 1840er Jahren nach Wien zuwandernden Gesellen dort keine Arbeit aufnahm. Zum Wandern gehörten also Arbeit und Freiheit von der Arbeit oder gar Muße dazu; Art und Maß derselben gestaltete sich aber höchst unterschiedlich – abhängig vom Gewerbe, der Region, der Arbeitsmarktlage, den Interessen des Gesellen u. ä. Auch die Frage, welchen Zeitrahmen der Geselle im Durchschnitt für seine Wanderschaft üblicherweise vorsah, läßt sich aufgrund des vorhandenen Quellenmaterials für die Provinz Westfalen des 19. Jahrhunderts nicht schlüssig beantworten. Die zahlreichen überlieferten Zunfturkunden der westfälischen Territorien des 18. Jahrhunderts verlangten in der Regel eine dreijährige Wanderzeit, was immerhin gewisse Hinweise auch auf den Usus im 19. Jahrhundert gibt.835 Leider bieten die westfälischen Quellen auch keinen Einblick in die Dauer der Arbeitsverhältnisse, die auf der Wanderschaft eingegangen wurden. Aufgrund von 834 S. Bräuer (1983). Es wird allerdings auch die Auffassung vertreten, die Wanderzeit sei im frühen 19. Jahrhundert immer länger und die Zeiten der Beschäftigung zugleich geringer geworden; s. Thamer (1992), S. 232. Dasselbe ist aber auch schon für die Zeit „seit dem Ende des Spätmittelalters“ festgestellt worden; so Bräuer (1990), S. 93. Von dem Hamburger Tischlergesellen Joachim Friedrich Martens wird berichtet, daß er von 1826 an 17 Jahre auf der Wanderschaft zubrachte; solange er in Deutschland wanderte, fand er im Durchschnitt nur etwa 6 Monate im Jahr Arbeit; erst seine Tätigkeit in der Schweiz machte dem ständigen Umherziehen ein Ende; so John Breully/Wieland Sachse, Joachim Friedrich Martens (1806–1877) und die deutsche Arbeiterbewegung, Göttingen 1984, S. 16, 21 f., hier zitiert nach Thamer (1992), S. 231–236 (232). 835 Schon für das 18. Jahrhundert ist aber bemerkt worden, daß in kleineren westfälischen Städten wie Coesfeld, Olpe oder Oelde Hinweise auf die Einhaltung von Gesellenjahren fehlen. In Coesfeld konnte nach bestandener Gesellenprüfung sogar ausdrücklich sofort das Meisterstück gefertigt wurden; s. Bade (1982), S. 22. Für die süddeutsche Reichsstadt Hall ist dagegen festgestellt worden, dass die Handwerker, die sich dort im 17. und 18. Jahrhundert niederließen, in der Regel 6 ½ Jahre gewandert waren; s. Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 100. Zum Wanderverhalten in den unterschiedlichen Branchen vgl. Reininghaus (1988), S. 186,187. S. Ehmer, Handwerkliche Arbeitsmärkte (2009), 202,203. Zu den Klagen über den Müßiggang s. u., Kap. „Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung während der Wanderschaft“

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Angaben aus anderen Regionen für die Jahre 1731 bis 1812 ist aber festgestellt worden, dass die Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse nicht länger als ein halbes Jahr währte (bis 3 Monate: 27,78 %; bis 6 Monate: 24,10 %).836 Längerfristige Beschäftigungsverhältnisse fanden sich demgegenüber nur in geringerer Zahl (bis 1 Jahr: 17,91 %; bis 1,5 Jahre: 8.57 %; bis 2 Jahre: 7.14 %). Hieraus können immerhin gewisse Rückschlüsse auch auf die im 19. Jahrhundert bestehenden Usancen gezogen werden. d. Fehlender Wanderbrauch Der Stellenwert der Wanderschaft für das Handwerk relativierte sich insgesamt dadurch, dass, wie bereits angedeutet, in manchen Handwerksberufen generell nicht gewandert wurde. Dies galt beispielsweise für die Metzgergesellen. Aber auch für die Maurer in Minden und Herford oder die Weber in Bielefeld ist festgestellt worden, dass sie „wegen der Eigenart ihres Gewerbes“ nicht wanderten.837 Dies bedeutet, wie noch zu zeigen ist, natürlich nicht, dass die Maurergesellen generell völlig immobil gewesen wären. Fehlender Wanderbrauch war aber keineswegs nur ein Signum bestimmter Berufe. Auch jene Gesellen, welche sich als Landhandwerker niederlassen wollten, legten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht anders als zur Zunftzeit auf eine fundierte, auch einige Wanderjahre umfassende Ausbildung keinen Wert. Bis zum Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 währte, so berichtete der Amtmann von Marsberg im Kreise Brilon 1860, „die Lehrlingszeit höchstens zwei Jahre und nach kaum einjähriger Gesellenzeit war schon ein selbständiger Betrieb in den meisten Fällen an der Tagesordnung“.838 Erst seit Erlass der Gewerbeordnung des Jahres 1849 „werden die Handwerke auch auf dem Lande etwas besser erlernt und mit einem besseren Erfolg betrieben“, fügte er immerhin hinzu.

836 Vgl. dazu Elkar, Schola migrationis … (1987), S. 99; auch aus anderen Quellen ist bekannt, dass die Arbeitszeit der Wandergesellen an einem Ort allgemein zwischen einer Woche und 14 Monaten schwankte; vgl. Wothrich (1979), S. 77. In Wien blieben 1836 10 % der Schneidergesellen weniger als eine Woche, ein Drittel zwei bis vier Wochen und ein weiteres Drittel zwei bis drei Monate beschäftigt, während 6 Prozent länger als ein halbes Jahr und 3 % länger als ein Jahr in der Stadt arbeiteten; s. Ehmer (2009), S. 201. Zur Dauer der Wanderschaft vgl. auch Kuba (1990), S. 82. 837 So Reininghaus (1985), S. 147 m. w. Nachw.; für andere Regionen ist gerade hinsichtlich der Bauhandwerker allerdings Gegenteiliges festgestellt worden. So wanderten beispielsweise Tiroler Maurer noch im frühen 19. Jahrhundert bis nach Westfalen. Vgl. auch Höck (1988). 838 So Bericht des Amtmannes von Marsberg vom 16.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9, fol. 79 RS, 80. Die Folge der unzureichenden Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen sei, so fuhr der Amtmann fort, gewesen, „dass die meisten Handwerker ihr Geschäft nicht verstanden, deshalb keinen gehörigen Verdienst hatten und nach nicht geraumer Zeit sich entweder dem Trunke ergaben und verarmten oder aber dem Bettelstab anheimfielen“.

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e. Migration zur Arbeitssuche Neben dem klassischen, jahrhundertelang in den Zunftordnungen vorgesehenen und nach deren Beseitigung gewohnheitsmäßig tradierten Wanderbrauch der Gesellen, mit dem – jedenfalls dem Anspruch nach – nicht zuletzt berufspädagogische Ziele verfolgt wurden, spielten, wie schon bemerkt, auch in Westfalen durch den Zwang zur Arbeitssuche veranlasste Handwerkerbewegungen eine bedeutsame Rolle. Hierzu waren nicht allein zahllose Tagelöhner, lippische Ziegler (Bauleute und Ziegeleiarbeiter) beispielsweise, sondern durchaus auch eigentliche Handwerksgesellen gezwungen. Diese Art der Migration hatte zwar wenig mit dem hergebrachten Bild der Gesellenwanderschaft gemein, da ihr der berufspädagogische Impetus weitgehend abging. Auch sie war aber schon seit dem Mittelalter eine typische Form der Gesellenwanderung, zumal die verschiedenen Intentionen der Wanderschaft ohnehin nicht zu trennen sind. So ist sie der Erwähnung wert, denn die entsprechenden Vorschriften galten natürlich auch für die derartig motivierten Reisen der Gesellen. Mobilität der Hilfskräfte ausschließlich zum Zwecke der Arbeitssuche lässt sich innerhalb ebenso wie außerhalb der Provinzgrenzen nachweisen.839 Die bloße Arbeitsmigration ersetzte eben auch für zahllose Handwerker Westfalens die „klassische“ Gesellenwanderung. Vielfach belegt und bereits erwähnt ist, dass sich die Bauleute aus dem östlichen Teil des Hochstifts Paderborn schon im 17. und 18. Jahrhundert als Wanderarbeiter verdingten.840 Bekannt waren vor allem die Wander-Maurer aus den Weserdörfern, insbesondere aus Lüchtringen, Albaxen, Stahle und Brenkhausen.841 Diese Handwerker waren auch noch im 19. Jahrhundert genötigt, weitere Strecken zurückzulegen, um Arbeit zu finden. So wurde im Jahre 1811 aus Lügde berichtet, dass die dortigen Zimmerer- und Maurergesellen „theils im Auslande, theils im Königreiche (Westphalen) ihr Brot verdienen“.842 Hieran hatte sich auch Jahrzehnte später nichts geändert: In den vierziger Jahren fanden noch immer viele Bauhandwerker aus dem östlichen Westfalen in der Wanderarbeit ihre Existenzgrundlage.843 In Dortmund wurde schon 1832 vermerkt, dass dort „im Sommer fremde Maurer-

839 Zur Zuwanderung nach Westfalen, die es ebenfalls gab, s. u. Wegen der hohen Fluktuation der Gesellen läßt sich die Gewerbestatistik des 19. Jahrhunderts nur mit Zurückhaltung interpretieren; vgl. Thamer (1992), S. 232. Die hier dargestellte bloße Arbeitsmigration, zu der auch der Typus des Wanderarbeiters zählte, unterschied sich in mancherlei Hinsicht von der „klassischen“ Gesellenwanderung, zu der auch Phasen der Arbeitssuche zählten; s. dazu unten, Z. 5c, „Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung“… 840 Art. 37 der Paderbornischen Polizeiordnung von 1665 hatte diese Wanderarbeit noch verboten; s. Fstl. Paderbornische Polizeiordnung von 1665, in: Hochfürstlich Paderbornische Landesverordnung T. 1 (1785). 841 S. Leesch (1966), S. 228 f. 842 Der Hinweis, dass die Lügder Handwerker „ihr Brod theils kümmerlich“ verdienen, „theils“ aber „zugleich von etwas eigenem Vermögen leben“, wird in diesem Zusammenhang nicht vergessen; s. STAM, Kgr. Westphalen, Gruppe C, Fach 2 Nr. 1 (betr. Produktion und Fabrikatur, Distrikt Höxter, 1811). 843 So Gülich (1843), S. 112.

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und auch andere Gesellen Arbeit“ suchten.844 Die größeren Städte Westfalens waren auf die Zuwanderung von Bauhandwerkern angewiesen. Auch in Minden wurden im Sommer auswärtige Maurer beschäftigt. Die Meister entließen diese aber im Herbst und meldeten sie bei der Gesellenkasse ab. Die wenigen damals für Maurer auch im Winter zu erledigenden Arbeiten wurden dann von den einheimischen, dauerhaft in der Stadt lebenden Hilfskräften ausgeführt – eine Verfahrensweise, die für das Baugewerbe des 19. Jahrhunderts typisch gewesen sein dürfte. Da die eher als Bauarbeiter denn als Gesellen zu bezeichnenden Maurer jedenfalls in den größeren Städten im Herbst wegen mangelnder Arbeit ihre Arbeitsorte verließen, unterschied sich ihr Wanderverhalten durchaus von dem der Gehilfen anderer Berufssparten. Schon seit dem 17. Jahrhundert waren Gruppen von Wanderarbeitern aus dem Fürstentum Lippe und den umliegenden Gegenden auch in die Niederlande gezogen, um sich dort als Saisonarbeiter, u. a. im Baugewerbe, zu verdingen. Als spezifische Form saisonaler Wanderarbeit der agrarisch geprägten Regionen Nord-OstWestfalens, aber auch des Westens der Provinz blieb diese „Hollandgängerei“ lange Zeit von erheblicher Bedeutung. Schätzungen ergaben, dass in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehrere zehntausend Westfalen pro Jahr in die Niederlande wanderten. Im Vest Recklinghausen wurde diese Form der Arbeitsauswanderung damals gar zu den typischen Erwerbszweigen des Landes gezählt und an zweiter Stelle, gleich nach der Leineweberei, genannt.845 Nicht wenige westfälische Handwerker blieben schließlich dauerhaft in dem Nachbarland und bauten sich dort eine neue Existenz auf.846 Überall in Westfalen, wo das Arbeitskräftepotential die Erwerbsmöglichkeiten in der Region überstieg, hielt sich die Hollandgängerei neben der eigentlichen Auswanderung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als einer der wichtigsten Auswege für unterbeschäftigte Arbeitskräfte und damit wohl auch für einen bestimmten, in ihrem Beruf nicht reüssierenden Teil der Handwerksgesellen. In den noch für lange Zeit kaum industrialisierten Regionen wie dem Lipperland existierte diese Erwerbsform sogar bis zum 1. Weltkrieg weiter.847 Neben der Arbeitsauswanderung aus dem nördlichen, östlichen und westlichen Westfalen lassen sich vergleichbare Tendenzen auch in den südlichen Landesteilen erkennen. Aus diesen Regionen der Provinz suchten – und fanden – zahlreiche junge Leute in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine dauerhafte Existenz im damals bereits weitgehend industrialisierten, dauerhaft prosperierenden Wuppertal. Mit Beginn der Hochindustrialisierung in Westfalen änderten sich die Wanderströme in der Provinz grundlegend. Dass die arbeitsuchenden Handwerksgesellen hiervon nicht nur betroffen waren, sondern diese Entwicklung maßgeblich mittrugen, bedarf keiner Frage. Mit dem Aufschwung in den fünfziger Jahren und der daraus resultierenden schnellen Zunahme des Stellenangebots verlor die Saisonarbeit in 844 S. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund Best. 202 B XIII, 125, Bd. 1, S. 89. 845 S. Schmidt-Breilmann (1953), S. 24. 846 S. Wischermann (1984), S. 56. Vgl. dazu Lourens/Lucassen (1987); Notflatscher (1993); Bölsker-Schlicht (1987); Bölsker-Schlicht (1992). 847 Vgl. Wischermann (1984), S. 57.

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den Niederlanden für die Westfalen an Attraktivität,848 stattdessen zog die Region südlich der Emscher in großem Umfang Arbeitskräfte an. Zunächst bevorzugten diese die sog. Wanderarbeit. Zahllose junge Männer aus dem Kreis Recklinghausen, vor allem Maurer, Zimmerleute und Schreiner, zogen zum Wochenbeginn in die Industrieorte der Mark, um auf den Großbaustellen insbesondere der südlichen Emscherzone zu arbeiten.849 Auch in den Fabriken und auf den Zechen fanden viele Handwerker in ihrem Beruf Beschäftigung. Vor allem aber schuf die Industrialisierung eine Fülle von Arbeitsplätzen außerhalb der handwerklichen Berufsfelder, die für Gesellen, nicht selten aber auch für Meister jedenfalls finanziell attraktiv waren. So wanderten zu Beginn der großen Aufschwungphase nach 1850 zahlreiche selbständige Handwerker zu den Zechen und Fabriken ab.850 Insbesondere Angehörige der schlecht bezahlten Massenhandwerke wie der Schuster- oder Schneiderprofession, aber auch der anderen, durch die technisch-industrielle Entwicklung zurückgehenden Handwerkszweige nahmen, sobald sich ihnen die Gelegenheit bot, eine Tätigkeit im Bergbau auf,851 da der Tagesverdienst zwischen 1855 und 1870 dort zumeist mehr als doppelt so hoch wie der im Handwerk erzielbare war.852 Auch durch stundenlange Fußmärsche ließen Meister und Gesellen sich nicht davon abhalten, die schwere Arbeit in den Gruben zu leisten, um gut zu verdienen. Einwohner des Amtes Datteln wanderten bis nach Castrop-Rauxel, um auf der dortigen Zeche Viktor zu arbeiten.853 Es war die Periode, in welcher die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielbeklagte „Übersetzung“ mancher Handwerke, der Arbeitskräfteüberhang also, binnen weniger Jahre durch Bergbau und Industrie aufgesogen wurde. Jedenfalls im Umkreis des Industriegebietes verschwanden die traditionell zahlreichen Kümmerexistenzen im Kleingewerbe damals schnell.854 Die Zuwande848 Keineswegs verschwanden diese Erscheinungen aber vollständig. In den sechziger Jahren war die Arbeitsauswanderung nach Holland noch gewöhnlich. Bauhandwerker (Maurer, sog. „Flickarbeiter“, Gesellen und Handlanger aus dem Krs. Ahaus) arbeiteten dort in den größeren Städten, vor allem in Amsterdam; s. Statistische Darstellung des Krs. Ahaus (1865), S. 14. 849 Die gewerbe- und industriereichen Kreise Dortmund, Bochum und Essen zogen in den sechziger Jahren Arbeitskräfte aus dem damals noch überwiegend agrarisch strukturierten Krs. Recklinghausen an, weil an der Ruhr höhere Löhne gezahlt wurden; s. v. Reitzenstein (1865), S. 2; ders. (1863), S. 10. Die wirtschaftliche Situation auch im Krs. Recklinghausen war damals dadurch gekennzeichnet, dass bei den Landwirten Wohlstand herrschte, während die Masse der Bevölkerung nach Einschätzung des Landrats noch immer „nur die zur Befriedigung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse erforderlichen Mittel“ besaß. 850 Vgl. Schmidt-Breilmann (1953), S. 54; so z. B. für den Krs. Coesfeld, s. Statistische Nachrichten für den Krs. Coesfeld (1865), S. 59. 851 So Schmidt-Breilmann (1953), S. 30, 52, 53; zur Abwanderung insbesondere aus dem Schuster- und Schneiderberuf sowie den im Zuge der Industrialisierungsvorgänge allmählich verschwindenden Handwerken s. Deter (2005); zur Herkunft der Bergarbeiterschaft im 19. Jahrhundert s. Tenfelde (1977). 852 S. Tabelle bei Schmidt-Breilmann (1953), S. 58; exakte statistische Angaben über die Abwanderung aus den Handwerken und die Hinwendung von Angehörigen dieser Berufe zu Bergbau und Industrie fehlen allerdings. 853 Schmidt-Breilmann (1953), S. 30. 854 Die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Ruhrgebiet in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist untersucht worden von Tenfelde (1976), S. 1–59. Die Abwanderung aus den ländlichen Regionen Westfalens ins Ruhrgebiet war so stark, dass es in den Herkunftsgebieten trotz eines

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rung zahlreicher Bauhandwerksgesellen aus den östlichen Randzonen Westfalens insbesondere in den Regierungsbezirk Arnsberg wurde durch den seit der Mitte des Jahrhunderts immer fühlbarer werdenden Mangel einheimischer Arbeitskräfte in Südwestfalen noch gefördert. Als 1852 ein neuer Prüfungsentwurf mit erleichterten Anforderungen für die Bauhandwerker diskutiert wurde, um die Zahl der Meister in diesen Berufen zu erhöhen, ließen die Unternehmer aus den Kreisen Lippstadt und Hamm die Regierung in Arnsberg wissen, es mangele keineswegs an selbständigen Maurern und Zimmerleuten, sondern an qualifizierten Gesellen in diesen Berufen. Ihre Klagen ließen an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig: „… hat wirklich ein Meister das Glück, die Ausführung irgend eines Baues in Auftrag zu bekommen, so geht sofort die zweite Noth, die Beschaffung der Handwerksgesellen los …“.855 Die riesigen Bauprojekte und die Gründung zahlreicher neuer Wirtschaftsunternehmen machten Teile Westfalens zudem zum Focus bedeutender Zuwanderung von Arbeitskräften, die von weither in die Provinz strömten.856 Andererseits verschwand aber selbst in der Hochkonjunkturphase der sechziger Jahre die Arbeitsmigration aus der Provinz nicht völlig, da auch kurzfristige Baissen – wie diejenige infolge des preußisch-österreichischen Krieges im Jahre 1866 – den Verlust des Arbeitsplatzes zahlreicher Gesellen zur Folge hatten.857 f. Die Zuwanderung nach Westfalen Aus dem oben skizzierten Wanderverhalten der in Lippstadt beschäftigten Schuhmachergesellen können auch Erkenntnisse über die Zuwanderung junger Handwerker aus Regionen jenseits der Provinzgrenzen nach Westfalen gewonnen werden: Die für das Land zwischen Rhein und Weser so typischen Mittel- und Kleinstädte zogen weitgereiste Gesellen nur in geringem Umfang an. Dies lässt sich anhand der Lippstädter Quellen zwar nur für die an der Fernwanderung ohnehin wenig intereserheblichen Geburtenüberschusses zu einer deutlichen Verringerung der Bevölkerungszahl kam. Aus diesem Grunde verminderte sich z. B. die Bevölkerung des Krs. Wiedenbrück zwischen 1867 und 1871 von 42.265 auf 41.591; s. Statistische Darstellung des Krs. Wiedenbrück (1872), S. 11, 12; auch aus dem Krs. Paderborn zogen damals viele Arbeiter wegen des höheren Verdienstes „in die Fabrikgegenden der Grafschaft Mark und des Großherzogthums Berg“, s. Grasso (1869), S. 3. Auch für andere sich industrialisierende Regionen Deutschlands machte sich schon in den fünfziger Jahren ein signifikanter Arbeitskräftemangel in den Handwerksberufen bemerkbar. So berichtete die Handwerkskammer für Mittelfranken 1858: „Bei den Gewerben, welche für industrielle Artikel sich beschäftigten, ebenso bei den Lokal-Gewerben macht sich ein Mangel an tüchtigen brauchbaren Gesellen in empfindlicher Weise fühlbar. Während einerseits die besseren Kräfte bei den bestehenden Fabriken bereitwillig Aufnahme finden und den entsprechenden Gewerben entzogen wurden, macht sich andererseits die Lücke doppelt bemerkbar, daß durch die Aufhebung des Wanderzwanges solche Kräfte von auswärts nicht mehr herbeiströmen“; zitiert nach Elkar, Umrisse … (1983), S. 112. 855 Schreiben der Lippstädter Bauhandwerker an den Landrat des Krs. Lippstadt v. 16.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; s. auch Gutachten der Bauhandwerksmeister des Krs. Hamm v. 25.4.1852, a. a. O. 856 Zu der durch die Industrialisierung ausgelösten Binnenwanderung in Deutschland s. Köllmann (1959), S. 45–70. 857 S. Deter (2005).

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II. Die gewerbliche Ausbildung

sierten Schuhmacher- und Schneidergesellen zeigen. Weitergehende Schlüsse lassen sich aber aus der spezifischen Gewerbestruktur der westfälischen Landstädte ziehen. Sie können, wenn man von der reinen Arbeitsmigration beispielsweise der Maurer insbesondere seit der Jahrhundertmitte einmal absieht, nur für eine vergleichsweise geringe Zahl von weither zureisender Gesellen attraktiv gewesen sein. Natürlich gab es Ausnahmen, sofern sich einzelne Orte durch das ungewöhnliche Niveau eines bestimmten, dort betriebenen Gewerbes einen über die Grenzen Westfalens hinausreichenden Ruf erarbeitet hatten. Die Warendorfer Leinenherstellung bietet hierfür ein Beispiel, und es lässt sich in der Tat zeigen, dass dieses Gewerbe lernwillige Gesellen von weither in die münsterländische Stadt zog. So bestimmte schon das Regulativ für die Leineweber im hessischen Oberamt Alsfeld vom 25.3.1785, dass Gesellen, die nach „Warendorf gereiset“ waren, „und sich dort in der Weberei, Bleiche und dgl. vorzüglich umgesehen haben“, nur das halbe Meistergeld entrichten mussten; ein in der Emsstadt verbrachtes Wanderjahr sollte gar „für zwei andere gelten“,858 Von seinem außerordentlichen Ruf als innovativer Standort der Leinenerzeugung dürfte Warendorf auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts profitiert haben.859 Vieles spricht dafür, dass auch Münster Wanderziel für Gesellen aus entfernteren Regionen war. Sein seit Jahrhunderten entwickeltes, stark differenziertes Handwerk und die kaufkräftige Kundschaft aus Militär, Adel, Verwaltung und Geistlichkeit, die ein über den Qualitätsstandard in den Landstädten hinausgehendes Warenangebot nachfragte, muss für eine größere Zahl von Fernwanderern attraktiv gewesen sein. Anziehend für leistungsorientierte Gesellen war Münster auch wegen seiner schulischen Fortbildungsmöglichkeiten. Da die Stadt sowohl über eine Gewerbeschule mit anspruchsvollem Bildungsprogramm als auch über eine Handwerkerfortbildungsschule verfügte, bestanden hier weitaus bessere Möglichkeiten, sich in der notwendigen Weise auf die Ablegung der Gesellen- und Meisterprüfung vorzubereiten als anderwärts.860 Auch die vergleichsweise gute medizinische Versorgung der Gesellen in der Provinzialhauptstadt ist erwähnenswert (s. u.). Vor allem aber war es die Betriebsstruktur seiner Werkstätten, welche Münster für auswärtige Gesellen anziehend machte. Von der Regel, dass die Handwerker nicht nur der Landgemeinden, sondern auch der Städte Westfalens mit ihrer landwirtschaftlichen Neben- oder Haupttätigkeit einen wesentlichen Teil des Familieneinkommens erwirtschafteten und folglich auch Lehrlinge und Gesellen sich an Ackerbau und Viehzucht zu gewöhnen hatten, machte allein Münster eine Ausnahme: Dort befassten sich die „Professionisten“ ausschließlich mit ihrem Gewerbe und verfügten schon deshalb über einen höheren Grad an Kunstfertigkeit, so dass sie auch den von 858 Zitiert nach Emig (1968), S. 215; das Regulativ gab der Hochschätzung der Gesellenausbildung in Warendorf noch deutlicheren Ausdruck: „Falls derselbe (der Geselle) aber irgend eine dem ganzen Gewerb und Handlung zu statten kommende Erfindung mitbringt, so soll er von allen Receptionsabgaben nicht nur frei seyn, sondern ihm auch eine verhältnismäßige Belohnung gemacht werden“; s. Emig, a. a. O. 859 So war an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in der ravensbergischen Leinenherstellung „seit langem“ das „Bleichverfahren Warendorfer Art“ gebräuchlich; s. Flügel (1993), S. 126. 860 S. dazu das Kap. „Die theoretische Fachbildung“.

D. Das Wandern der Gesellen

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weiter her zuwandernden Gesellen als geeignete Arbeitgeber erschienen sein müssen. Dass es sich so verhielt, beweist der schnelle, außerordentliche Erfolg des Kolpingschen Gesellenvereins in der Stadt,861 dessen Herberge gerade den von auswärts Zugewanderten eine Heimstatt bot. g. Auswanderung Natürlich hat die Auswanderung im eigentlichen Sinne nichts mit der Gesellenwanderung gemein. Deshalb bezogen sich die für die Gesellen geltenden Vorschriften auch nicht auf Auswanderer. Die Auswanderung nach Übersee beeinflusste aber auch in Westfalen nachhaltig den Arbeitsmarkt. Sie kann deshalb im Rahmen dieser Untersuchung nicht gänzlich unerwähnt bleiben. Der erste Massenexodus aus ökonomischen Gründen wurde in der Provinz nicht durch eine Krise in der gewerblichen Wirtschaft, sondern durch die Agrarreformen des frühen 19. Jahrhunderts ausgelöst. Die Markenteilungen sowie die Wiedereinführung des in der Provinz hergebrachten Anerbenrechts in den dreißiger Jahren führten zu regelrechten Auswanderungswellen aus dem Tecklenburger Land und dem Wiedenbrücker Raum, dem Hochstift Paderborn und dem östlichen Sauerland.862 In den vierziger Jahren vergrößerte sich die Zahl der Auswanderer durch den schnellen Niedergang des Handleinengewerbes in Nordwestfalen und die Entlassung zahlreicher Gesellen in den Krisenjahren 1846/47. Die Arbeitslosigkeit im Handwerk wurde damals binnen kurzem zu einem derartig drängenden Problem, dass die Paderborner Meister 1848 forderten, der Staat solle auswanderungswillige Gesellen bei der Realisierung ihres Vorhabens unterstützen.863 Die westfälischen Gewerbegehilfen trugen nach alledem weit überproprtional, und zwar im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung wohl wie die ländlichen Unterschichten, die Spinner und Weber vor allem, sowie die Tagelöhner zur Auswanderung nach Übersee bei, wie auch die folgende Tabelle 37 zeigt. Das entstehende Ruhrgebiet mit seiner rapide zunehmenden Nachfrage nach Arbeitskräften ebenso wie nach landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeugnissen ließ die Auswanderung bald aber, wie festgestellt, schon Ende der vierziger Jahren in eine stärkere Binnenwanderung umschlagen.864 In den Jahren 1854 und 1857 erreichte die Migration nach Übersee dann mit 5.000 bzw. 5.700 Auswanderern nochmals eine weitere Spitze. Mit dem anhaltenden industriellen Aufschwung kam die Auswanderung in den sechziger Jahren dann aber weitgehend zum Erliegen.865 Aus dem Umstand, dass die große Zeit der Auswanderung aus Westfalen nur 861 S. dazu u. das Kap. „Das christliche Herbergswesen“. 862 So Wischermann (1984), S. 57. 863 S. Petition der Handwerker der Stadt Paderborn v. 20.6.1848, in: Deutsches Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 24. Ein besonders hoher Anteil von Handwerkern an den Auswanderern läßt sich für Deutschland insgesamt feststellen; s. Bade (1982), S. 36. 864 S. Wischermann (1984), S. 59. Im Krs. Recklinghausen war die Auswanderung nach Nordamerika in den Jahren 1862 bis 1864 fast völlig erloschen; s. Statistische Nachrichten über den Krs. Recklinghausen … (1865), S. 3. 865 Eine Ausnahme bildete das Jahr 1866, als, wie bereits festgestellt, infolge des preußisch-österreichischen Krieges zahlreiche Gesellen arbeitslos wurden. 1866 wanderten aus dem Krs. Me-

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 30: Prozentuale Verteilung der Berufsgruppen männlicher Auswanderer aus Westfalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts RegierungsKreis Heimliche Regierungsbezirk Tecklenburg Auswanderer bezirk Münster (1832–1850) Rbz. Münster Minden1) (1832–1850) (1832–1850) (1832–1860)

Regierungsbezirk Osnabrück1) (1832–1860)

Ländliche Unterschicht

43,5

65,4

67,8

61,6

68,0

Kötter und Kleinbauern

7,0

5,2

1,0

7,7

7,1

Mittel- und Großbauern

6,9

6,0

0,6

6,7

4,4

Gesellen und Lehrlinge

7,0

3,3

6,0

6,3

3,6

Handwerker ohne weitere Angabe

28,3

16,2

20,4

13,0

13,3

Handwerksmeister

0,7

0,6

0,1

0,2

0,0

Tertiärer Sektor, Industrie

4,8

3,2

4,1

4,5

3,4

3 925

1 423

828

794

639

Zahl der Fälle

1) Die zugrundeliegenden Quellen sind unvollständig und erfassen nicht das ganze Gebiet. Quelle: Kamphoefener (1982), S. 59

etwa 30 Jahre währte, muss geschlossen werden, dass die existenzbedrohende Not weiter Teile der Unterschichten in der Provinz vergleichsweise schnell überwunden werden konnte.866 Nach Übersee ging aus dem Umkreis des Ruhrreviers in der Hochindustrialisierungsphase kaum noch ein junger Mann, wie sich am Beispiel des Krs. Recklinghausen zeigen lässt: Zwischen 1859 und 1861 kehrten nur noch 16 Personen dem Vest – einst eines der wichtigsten Reservoirs für die Hollandgängerei – den Rücken und gingen nach Amerika, Holland oder Ungarn.867 Dabei scheint die Zahl der Handwerker unter den Auswanderern stärker als die der Angehörigen anderer Berufsgruppen abgenommen zu haben. Unter den 76 Personen, die

schede 27 Handwerker nach Nordamerika aus, 1867 dagegen nicht mehr einer; s. Statistische Darstellung des Krs. Meschede … (1874), S. 15. Auch in Sachsen wurden wegen des Krieges 1866 Tausende von Gesellen arbeitslos; viele von ihnen wanderten damals in die Schweiz, um dort Arbeit zu finden. 866 Vgl. Wischermann (1984), S. 58. 867 v. Reitzenstein, Statistische Darstellung des Krs. Recklinghausen 1863, S. 10. Zur Auswanderung nach Amerika s. Kamphoefner (1982). Zur Saisonwanderung in die Niederlande vgl. Lucassen (2007), S. 812–818 u. Lourens/Lucassen (2007), S. 770–772.

D. Das Wandern der Gesellen

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den Kreis Borken in den Jahren 1862 bis 1864 verließen, befanden sich nurmehr vier Handwerksmeister und ein Handwerksgeselle.868 Zu einer Massenauswanderung von Handwerkern aus Westfalen kam es demnach nicht, obgleich ihre Chancen in der Neuen Welt durchaus nicht ungünstig waren. Keineswegs nur in der Landwirtschaft konnten Auswanderer ihr Glück machen, sondern auch im Gewerbe. Denn in den USA mangelte es im 19. Jahrhundert allenthalben an Handwerkern. Münsterländische Auswanderer ließen 1836 ihre in der Heimat verbliebenen Verwandten wissen, dass in Baltimore ein Weber „in halber Zeit mehr Dollars als in Detten Groschen“ verdiene869. 4. Die Untersagung des Wanderns ins Ausland a. Die Demagogenverfolgung In den zwanziger Jahren noch förderte die preußische Regierung den Wunsch junger Handwerker, in Frankreich neue Eindrücke und Erfahrungen für die Berufspraxis zu sammeln. 1827 wurde deshalb sogar ein Vertrag zwischen Preußen und dem westlichen Nachbarland geschlossen, der diesen Austausch erleichtern sollte.870 Solche Offenheit währte aber nicht lange. Nachdem im Juli 1830 in Paris die Revolution ausgebrochen war, erfasste – nicht ohne Grund, wie man weiß – die deutschen Höfe die Revolutionsfurcht. Die vor allem gegen Professoren und die korporierten Studenten sowie gegen das Erscheinen politischer Druckschriften gerichteten Maßnahmen der „Demagogenverfolgung“ wurden verschärft; in Preußen ging man mit unnachsichtiger Strenge gegen Verdächtige vor. Seit der intensiven Erforschung der Wurzeln der Arbeiterbewegung ist bekannt, dass sich das Misstrauen der Regierungen nicht allein gegen die Universitäten, sondern ebenso gegen die Gesellen richtete. Auch die westfälischen Handwerker sollten zum Objekt der Observation werden. Am 1. September 1830 untersagte Preußen das Wandern nach Frankreich. Der moderate münsterische Oberpräsident von Vincke, der die Verfolgung der liberalen Opposition ansonsten kaum forcierte,871 tat sich bei der Überwachung der Handwerker in seiner Provinz überraschender868 Hamelburg, Statistische Nachrichten über den Krs. Borken … (1865), S. 2. 869 Vgl. Schulte (1954), S. 155. 870 S. Vertrag v. 21.7.1827, in: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 Bd. III 1 Nr. 3 Bd. 1 fol. 159, 160. Nicht nur die rechts-, sondern auch die sozialhistorische Literatur hat den Einfluß der Rechtsregeln auf das Wanderverhalten bislang weitgehend ignoriert. Bräuer hat immerhin darauf hingewiesen, daß für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen der Wanderung im Inland und derjenigen ins Ausland zu unterscheiden sei, s. Reininghaus (1988), S. 189. Rainer S. Elkar vertritt die Auffassung, die verschiedenen Bestimmungen zur Regulierung der Arbeitsmärkte hätten die optimale Allokation der Arbeitskräfte verhindert; so Elkar (1999), S. 219 f.; a. A. Reith (2001), S. 353. 871 So jedenfalls Hanns Hubert Hofmann (1995), Sp. 2992, 2993: „Ebenso wie er sich den altständischen Ideen des Landtagsmarschalls seiner Provinzialstände, Stein, entgegenstellte, blieb er gegenüber dem Zentralismus Hardenbergs zurückhaltend, bremste im Zeitalter der Restauration die Demagogenverfolgung und gründete lieber Lehrerseminare, um hiermit ebenso wie

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II. Die gewerbliche Ausbildung

weise desto mehr hervor: Im April 1831 wandte er sich an das Ministerium und schlug nicht allein eine schärfere Beobachtung der einwandernden Handwerksgesellen, sondern auch die Anwerbung von „vertrauten“ Beobachtern, Spitzeln also, vor.872 Nach der Zustimmung des Ministers zu diesem Vorhaben wies der Regierungspräsident in Münster die Landräte in seinem Bezirk an, solche Zuträger zu benennen.873 Das schlechte Gewissen wegen der wenig ehrenhaften Vorgehensweise gegenüber den – zweifellos zumeist ganz unbescholtenen – Handwerkern im konservativen Westfalen konnte Vincke dabei jedoch nicht verhehlen: „Es ist hiermit keineswegs eine gehässige und verabscheuungswürdige sog. geheime Polizei verstanden, sondern es sollen nur gegen diejenigen dieselben Waffen gewählt werden, welche sie anzuwenden suchen, um schändliche Grundsätze und Verbindungen zu verbreiten. Wer im Finstern sein Wesen treibt, muss darin belauscht und mit denselben Mitteln bekämpft werden, die er anwendet“. Die Reaktion der Landräte auf dieses Ansinnen der vorgesetzten Behörde war jedoch zurückhaltend bis ablehnend; offenkundig wollten sie ihren wenig revolutionär gestimmten Münsterländern die Ausforschung durch Spitzel nach Möglichkeit ersparen. Deshalb wiesen sie den Regierungspräsidenten darauf hin, dass die eingesessene Bevölkerung keineswegs anfällig für den Aufruhr sei. Ordentliche Bürger ließen sich, so ihre Argumentation, zudem nicht als Spitzel gewinnen. Trotz dieser Bedenken kamen sie aber der Anordnung der vorgesetzten Behörde nach und suchten – und fanden auch – die gewünschten Spione. Lediglich der Landrat des Kreises Borken weigerte sich beharrlich mit der Begründung, rechtlich denkende Männer gäben sich nicht dazu her, Zuträgerdienste zu leisten. Gleichwohl konnte der Regierungspräsident in Münster gegen Ende des Jahres 1831 die Installierung eines Ausforschungssystems, welches gezielt auf die einwandernden Gesellen gerichtet war, melden: „Hoffentlich wird das Schicksal der Aufwiegler den noch Verblendeten endlich die Augen öffnen; und wenn auch nicht aus Überzeugung, doch aus Furcht vor ähnlichem Übel werden sie mit der Ruhe zufrieden sein, welche sie bisher genießen, und wenigstens in ihren Träumereien keine ärgerliche Störung veranlassen“.874 Obgleich das Misstrauen des Oberpräsidenten und der münsterischen Regierung ganz offenkundig in keinem rechten Verhältnis zu den zaghaften oppositionellen Aktivitäten weniger Gesellen in der Provinz stand, begann so auch in Westfalen die Fahndung nach aufrührerischen Handwerkern. 1832 wurde der Siebmacher Rössler aus Lippborg wegen „demagogischer Umtriebe“ angeklagt. Anlass war die Autorenschaft eines angeblich staatsgefährdenden „elenden Machwerks“.875 Doch wurden weniger die einheimischen als vielmehr die aus Frankreich und vor allem die aus der Schweiz zurückkehrenden Gesellen bespitzelt. Schon der bloße Aufenthalt in der Alpenrepublik machte verdächtig. Aus Anlass der geplanten Niederlassung des aus Münster stammenden Druckers und Färbergesellen Franz Wilhelm

872 873 874 875

durch die Unterstützung wissenschaftlicher Institute die geistige Entwicklung zu fördern“. Diese Auffassung ist offenkundig nicht ganz zutreffend. Schreiben Vinckes v. 13.4.1831, vgl. Schulte (1954), S. 440. Schreiben des Regierungspräsidenten in Münster v. 26.8.1831, s. Schulte (1954), S. 440. Zitiert nach Schulte (1954), S. 440. Vgl. Schulte (1954), S. 445.

D. Das Wandern der Gesellen

213

Artmann veranlasste der Regierungspräsident in Münster eine Untersuchung seiner politischen Zuverlässigkeit, da er auch in Frankreich und in der Schweiz gewandert war. Die Unterstützung verbotener „Umtriebe“ konnte ihm aber nicht nachgewiesen werden.876 Wohl nicht zuletzt wegen der offenkundigen Unangemessenheit des kollektiven Verdachtes gegen alle aus Frankreich zurückkehrenden Gesellen wurde das Verbot des Wanderns in das westliche Nachbarland allerdings schon am 18.11.1831 wieder aufgehoben.877 aa. Die „Umtriebe“ in der Schweiz und in Frankreich Die Entspannung der Situation war jedoch nur von kurzer Dauer. Denn wenig später schon schreckte das im Gefolge der revolutionären Ereignisse in Frankreich im Jahre 1832 organisierte Hambacher Fest, die erste Massenkundgebung für ein freies und einiges Deutschland und machtvolle Demonstration der ursprünglich auf die Ideen der Burschenschaften zurückgehenden Oppositionsbewegung, die deutschen Regierungen erneut auf. Deshalb beschäftigte sich auch das Berliner Außenministerium wiederum mit der Frage, ob das Wandern der Handwerksgesellen in das außerdeutsche Ausland aus politischen Gründen generell untersagt werden solle.878 Der Gewerbe- wie auch der Polizeiminister lehnten eine solche rigorose und undifferenzierte Maßnahme zunächst aber übereinstimmend ab. Da Frankreich nur Gesellen einwandern ließ, die über Wanderpässe und Heimatscheine verfügten, die Erteilung derselben in Preußen jedoch von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wurde, war nach Auffassung der Minister jedenfalls im Grundsatz noch immer die Gewähr gegeben, dass die an einem Aufenthalt in dem zur „Insurrektion“ neigenden Nachbarland interessierten Handwerker nicht aus politischen, sondern lediglich aus Gründen der beruflichen Qualifikation nach Westen wandern wollten. Schon die vergleichsweise geringe Zahl der einen Auslandsaufenthalt in Frankreich anstrebenden preußischen Gesellen schloss in der Tat faktisch aus, dass diese Wenigen nach ihrer Rückkehr zu wirksamen Multiplikatoren der jenseits des Rheines gärenden revolutionären Ideen werden konnten. Zwar war die Gesellenwanderung in das Nachbarland bei den Rheinländern traditionell durchaus beliebter als bei den Westfalen, doch gingen nach Einschätzung des preußischen Ministeriums damals auch die Zahlen der ins welsche Ausland reisenden Handwerker vom Rhein zurück. 876 Der Geselle war während seiner Wanderschaft weit herumgekommen: Krefeld (3 Monate), Cromford bei Ratingen, Mülheim, Koblenz (4 Wochen), Frankenthal in Baden, Lörrach, Basel, St. Gallen (7 Wochen), Cortaillod in der französischen Schweiz (31/2 Monate), Lyon, Paris (1 Jahr), Amiens, Valenciennes und von dort zurück nach Münster; s. Schulte (1954), S. 446. 877 So Schreiben des preußischen Handels- und Gewerbe- sowie des Polizeiministers an das Außenministerium v. 10.5.1834, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 50 ff. Ohne Bezugnahme auf die sich wandelnde Rechtslage und unter Hinweis auf zeitgenössische Beobachter spricht Thamer pauschal von einer „ungeheuren Masse“ deutscher Handwerksgesellen, die nach 1830 ins westliche Ausland gewandert sei; s. Thamer (1992), S. 234 unter Hinweis auf Grandjonc (1975), S. 14 f. Danach befanden sich z. B. 1850 18.000–22.000 deutsche wandernde Handwerksgesellen in der Schweiz; s. Grandjonc, a. a. O., S. 7, 17. 878 S. Schreiben v. 10.5.1834, wie Anm. 877.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Außerdem waren die nach Frankreich ziehenden deutschen Gesellen nach Auffassung der Minister gegenüber den „ultraliberalen“ Ideen, die das Bürgertum ebenso wie die proletarisierten Massen in dem Nachbarland bewegten, im Grunde immun.879 Bei dieser Einschätzung der politischen Ansichten der Wanderburschen dürfte allerdings auch ein gewisser Zweckoptimismus eine Rolle gespielt haben. Denn jedenfalls der Gewerbeminister fürchtete ausdrücklich wirtschaftliche Nachteile für den Fall, dass den preußischen Gesellen durch ein rigoroses Wanderverbot in das westliche Ausland die Möglichkeit zur fachlichen Qualifizierung in solchen Handwerksberufen, die „in Frankreich vorzugsweise blühen“, rigoros abgeschnitten werde. Noch im Jahr 1834 nahm die Diskussion um das Gesellenwandern ins Ausland aber eine abrupte Wende, da die Regierungen des Deutschen Bundes durch Zusammenschlüsse oppositioneller deutscher Handwerker in der Schweiz, welche mehr als verdächtig erschienen, nunmehr ernsthaft beunruhigt wurden. Neue Nachrichten von dort besagten nämlich, dass der in der Alpenrepublik existierende „Verein“ politischer Flüchtlinge aus Deutschland, dem der preußische Innen- und Polizeiminister von Rochow gewollt übertreibend das Attribut einer „revolutionären Partei“ beilegte, die deutschen Handwerker für seine politischen Ziele zu gewinnen suche.880 In der Tat hatten sich damals in dem Nachbarland verschiedene Zirkel deutscher Handwerksgesellen gebildet, deren Mitglieder mit den revolutionären Ideen des Initiators des Hambacher Festes, des Publizisten Siebenpfeiffer,881 in Kontakt gekommen waren.882 In Bern trafen sich diese Gesellen zu Versammlungen mit agitatorischen Zielen.883 Hieraus schloss man in Berlin sans phrase, dass die Teilnehmer an solchen Zusammenkünften nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz in ihren deutschen Heimatstaaten revolutionäre Ideen in den sog. „unteren Volksklassen“ verbreiten würden.884 Noch bevor der Bundestag in Frankfurt zu gemeinsamen 879 S. Schreiben v. 10.5.1834, wie Anm. 877. 880 Der preußische Polizeiminister bezeichnete die Flüchtlinge sans phrase als „politische Verbrecher“; s. Schreiben an die Regierung Münster v. 26.11.1834, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144; in der Tat ist vom „Handwerksburschenkommunismus“ der 1830er Jahre gesprochen worden (F. Mehring), s. Jantke (1955), S. 115; vgl. vor allem auch Schieder (1963), S. 82 ff. 881 Dem Aufruf der Publizisten P. J. Siebenpfeiffer (1789–1845) sowie J. G. A. Wirth (1798–1848) zur Kundgebung auf dem Hambacher Schloss waren vom 27. bis 30. Mai 1832 etwa 30.000 Menschen gefolgt. 882 So Schreiben des Gesandten Nagler an den preußischen Außenminister Ancillon v. 3.10.1834, in: GStA/PK, Rep. 120, B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 58–61. 883 Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster v. 14.11.1834, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 60, 61; zu den deutschen Emigranten in der Schweiz s. Büsch (1975). 884 Schreiben des Innen- und Polizeiministers von Rochow an den Oberpräsidenten von Vincke v. 13.8.1834, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 55. Wie nachhaltig die Furcht vor Infiltration durch aufrührerisches Gedankengut in Deutschland war, zeigt eine Bemerkung des Bonner Prof. Perthes aus dem Jahr 1855 im Hinblick auf die Dreißiger und Vierziger Jahre: Er sprach von der Gefahr, daß das Handwerk zum „Heerd, auf welchem mancher politische Gifttrank gebraut ward, der von hier aus schnell in weite Kreise des Volkslebens verbreitet(wird). Der Handwerksbursche ist beweglicher und entzündlicher wie der Bauernbursche …“; so Perthes (1855), S. 28 f., hier zitiert nach Kocka (1990), S. 340.

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Initiativen der Bundesstaaten aufrief, traf Preußen deshalb Vorkehrungen, um der befürchteten Infiltration aus dem Süden entschlossen und wirksam entgegentreten zu können.885 Die Polizeibehörden im Rheinland wurden im August 1834 angewiesen, die aus der Schweiz zurückwandernden Gesellen besonders sorgfältig zu kontrollieren und „alle“ Handwerkerversammlungen zu observieren.886 In den Fällen „von einiger Erheblichkeit“, d. h. tatsächlichem oder vermeintlichem Interesse für die Polizei, wollte das Ministerium selbst informiert werden. In Berlin glaubte man, ganz im Gegensatz zu der noch wenige Jahre zuvor vertretenen Position, inzwischen, dass die westlichen Provinzen der Monarchie für die Einflussnahme der „Revolutionairs“ besonders empfänglich seien. Offenkundig hielt das Polizeiministerium die Zahl der von dort in die Schweiz gewanderten Gesellen für weit höher als sie es tatsächlich war. Den Metternichschen Prinzipien folgend ließ es die Regierung bei bloß reaktiven Kontrollen deshalb nicht mehr bewenden. Nur drei Monate nach Erlass der Verordnung vom 13.8. 1834 griff Preußen zu einer weit rigoroseren Maßnahme gegenüber seinen in den als besonders verdächtig geltenden Kanton Bern gewanderten Untertanen: Es wurde ihnen befohlen, das dortige Gebiet in kürzester Frist zu verlassen.887 Zwar durften sie sich weiterhin im Ausland – und damit auch in der Schweiz – aufhalten, sofern die in ihrem Pass hierfür vorgesehenen Fristen dies zuließen. Doch sollten sich die Gesellen in jedem Fall unverzüglich bei dem preußischen Geschäftsträger in der schweizerischen Hauptstadt melden. Diejenigen, welche an den inkriminierten Handwerkerversammlungen in Bern teilgenommen hatten, kamen dieser Auflage allerdings „größtenteils“ nicht nach – was angesichts der kompromisslosen Entschlossenheit der preußischen Regierung zur Bekämpfung jedweder oppositioneller Regungen unter den Handwerkern durchaus nicht verwundern kann. Auch mit derartig eingreifenden Maßnahmen gab sich Preußen aber noch nicht zufrieden. In Berlin zögerte man nicht, die beständige Kontrolle, mit der die deutschen Bundesstaaten ihre Untertanen in der Alpenrepublik zu überziehen suchten, nach deren Rückkehr in die Heimat fortzusetzen,888 obgleich die Monarchie durch die Vorgänge im Süden in Wahrheit allenfalls marginal tangiert wurde. Aus Westfalen hatte sich lediglich ein Lohgerber-Geselle als Teilnehmer der Agitation in der schweizerischen Hauptstadt verdächtig gemacht.889 Diesem, Johann Bernhard Wissing aus Coesfeld, war nachgewiesen worden, dass er sich seit dem 25.8.1834 in Bern aufgehalten hatte; nach eigenem Eingeständnis nahm er dort öfters an den allsonntäglich stattfindenden Versammlungen deutscher Handwerker und auch an dem am 22. Oktober im „großen Haus zum Stern“ gefeierten Handwerkerfest teil. 885 Zu den Aufgaben der preußischen Sicherheitspolizei und der Praxis staatlicher Repression im Vormärz s. Lüdtke (1977), S. 190–211; Obenaus (1940). 886 S. Schreiben v. 13.8.1834, wie Anm. 884. 887 S. Schreiben des preußischen Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster v. 14.11.1834, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 58. 888 Diejenigen, welche sich bspw. durch das Zerreißen der preußischen Fahne hervorgetan hatten, waren namentlich festgehalten worden; s. Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster v. 14.11.1834, wie Anm. 887, fol. 60, 61. 889 S. Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster v. 14.11.1834, wie Anm. 887, fol. 60, 61.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Er war dann aber noch im Oktober nach Paris weitergewandert. Nachdem der preußische Geschäftsträger in Bern ein Verzeichnis derjenigen Handwerker, welche bei den die Regierungen so echauffierenden Versammlungen zugegen gewesen waren, nach Berlin gesandt hatte, wurde der Magistrat in Coesfeld unverzüglich davon in Kenntnis gesetzt, dass Wissing zu dem Kreis der politisch unzuverlässigen Gesellen gehöre.890 Die Lokalverwaltung solle den jungen Mann nach seiner Rückkehr wegen der Teilnahme an den Handwerker-Versammlungen ausführlich befragen und ihn zu Aussagen über andere preußische Gesellen, welche ebenfalls bei den verdächtigen Zusammenkünften in Bern zugegen gewesen waren, veranlassen; über das Ergebnis der Recherche sollte dem Ministerium alsbald berichtet werden. Zugleich wurden der Regierung in Münster die Namen der in der Schweiz politisch aktiven deutschen Gesellen zu dem Zweck mitgeteilt, niemanden dieser imaginierten potentiellen Rebellen künftig noch in ihrem Bezirk zu dulden. Soweit es sich um Ausländer handelte, sollten sie bereits an der Grenze zurückgewiesen werden, während preußische Untertanen mittels eines sog. Zwangspasses unverzüglich an ihren Heimatort zu expedieren seien. In der Tat wurde aufgrund der ministeriellen Anordnungen ein Verfahren gegen Wissing eröffnet, da er 1834 in Paris auch Mitglied des sog. „Bundes der Geächteten“891 gewesen sein sollte.892 Eine Untersuchung des Falles durch den Landrat in Coesfeld ergab aber, dass Wissing „ein sehr anständiger, vorwurfsfreier, ruhiger junger Mann“ sei, der „in der Fabrik seines Vaters treu und fleißig arbeitet und zum Verdachte falscher politischer Richtung nicht die geringste Veranlassung gibt“.893 Wenig später befasste sich auch der Deutsche Bundestag in Frankfurt mit den aus dem Ausland zurückkehrenden Gesellen. Das Präsidium der Bundesversammlung wies darauf hin, dass den „Umtrieben“ der Handwerker durch gemeinsames Handeln der deutschen Regierungen entgegengewirkt werden müsse. Der badische Gesandte in Frankfurt, der in dieser Angelegenheit Berichterstatter war, erachtete die von dem „Jungen Deutschland“ in Bern ins Leben gerufene Vereinigung deutscher Handwerksgesellen als „sehr gefährlich“. Bei einem in der Nähe der schweizerischen Bundeshauptstadt am 27.7.1833 gefeierten Fest dieser „Verbindung“ seien die Fahnen Württembergs, Bayerns und Badens „zerrissen und zerstampft“

890 Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster v. 14.11.1834, wie Anm. 887. 891 Hierbei handelte es sich um einen Geheimbund, der sich Anfang der dreißiger Jahre in Paris bildete. Träger dieses Zusammenschlusses, der den Beginn der deutschen Arbeiterbewegung markiert, waren Flüchtlinge, die nach der deutschen Revolution und dem Hambacher Fest 1832 nach Frankreich entkommen waren. Der Bund propagierte, in durchaus sozialrevolutionärer Attitüde, ein proletarisches Deutschland. Angesichts der geringen Mitgliederzahl von 120 Personen ging von diesem Zusammenschluss allerdings keine ernstzunehmende Gefährdung der bestehenden Ordnung in Deutschland aus. 1836/37 spaltete sich vom „Bund der Geächteten“ der sog. „Bund der Gerechten“ ab, der vor allem von Handwerksgesellen getragen wurde und sich in der Schweiz und nach London ausbreitete; s. dazu ausführlich Schraepler (1972). Zu den deutschen Handwerkern in Paris vgl. König (2003). 892 Vgl. Schulte (1954), S. 445. 893 Zitiert nach Schulte (1954), S. 446.

D. Das Wandern der Gesellen

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worden.894 Um das latente Misstrauen der deutschen Regierungen noch weiter anzufachen, bemerkte er, dass ähnliche Vereinigungen von Handwerkern auch in Frankreich und Belgien bestünden. Ob von der ebenfalls „Junges Deutschland“ geheißenen, politisch oppositionellen literarischen Bewegung, die ihre größte Wirksamkeit in der Tat nach der Juli-Revolution 1830 entfaltete, wirklich ein nachhaltiger politischer Einfluss auf die in der Schweiz tätigen deutschen Handwerker ausging, mag dahinstehen. Angesichts des damals herrschenden politischen Klimas nimmt der Vorschlag des badischen Geschäftsträgers beim Bundestag, das Reisen der Gesellen aus allen deutschen Bundesstaaten nach Frankreich, Belgien und der Schweiz bis Ende 1836 generell zu verbieten und allenfalls einzelne Ausnahmen zuzulassen, jedenfalls nicht wunder. Der dem System Metternich geschuldete inquisitorische Impetus der Regierungen des Deutschen Bundes ließ den Gesandten zudem fordern, dass auch über alle in Deutschland selbst wandernden Gesellen „strenge polizeiliche Aufsicht“ geführt werden solle. Die politisch Verantwortlichen fürchteten eben tatsächlich, dass die „Revolutionairs“ ihren Einfluss, den sie damals seit bereits 20 Jahren auf die jedenfalls zahlenmäßig noch ganz unbedeutende akademische Jugend ausübten, auf die breite Schicht des Handwerkernachwuchses in Deutschland ausdehnen könnten. Deshalb machte sich Baden dafür stark, dass alle Bundesstaaten das Gesellenwandern in solche Länder, welche politische Vereinigungen mit oppositionellen Zielen duldeten, künftig verbieten oder nur mehr ausnahmsweise gestatten sollten.895 Dieser Appell an die Solidarität der Mitglieder des Deutschen Bundes verfehlte seine Wirkung auf die preußische Regierung nicht. Der Polizeiminister forderte daraufhin, dass jenen Gesellen, die trotz Verbotes ins Ausland wanderten, die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes in ihrem Heimatstaat generell untersagt werden solle.896 In Berlin – wie auch in den süddeutschen Hauptstädten – wurden Vorschriften, die das Wandern nach Belgien, Frankreich und der Schweiz zu unterbinden suchten, vorbereitet.897 Am 29. November 1834 trat die „Verordnung, die in der Schweiz bestehenden Handwerker-Vereine betreffend“, im Großherzogtum Hessen in Kraft.898 Baden untersagte durch Verordnung vom 14.2.1835 allen Hand894 So Vortrag des badischen Bundesgesandten Frh. von Blittersdorff, 33. Bundestagssitzung am 11.9.1834, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 62–65; der Gesandte führte Klage darüber, dass Revolutionäre in der Schweiz unterschiedlich behandelt würden; während einige Kantone sie festsetzten, ließen andere ihnen die Freiheit. Blittersdorff ging davon aus, dass die Aufrührer insbesondere die Handwerksgesellen, welche in den Städten einen nicht unbedeutenden Anteil der Bevölkerung stellten, für ihre Ziele zu gewinnen suchten. Er sah deshalb eine „Gefahr für ganz Deutschland“ heraufziehen. Zum „Jungen Deutschland“ und den Handwerksgesellenvereinen in der Schweiz vgl. Specker (1986), S. 11–13. 895 Schreiben des Gesandten Nagler v. 3. Oktober 1834 an den preußischen Außenminister Ancillon, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 58–61. 896 Schreiben des Polizeiministers von Brenn an den Außenminister Ancillon v. 23.10.1834, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 66, 67. 897 S. Schreiben an den Innen- und Polizeiminister v. Rochow v. 22.11.1834, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 69. 898 In: Großherzogl. Hessisches Regierungsblatt v. 29.11.1834, Nr. 83; desgl. in GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 74, 75; die Verordnung untersagte den hessischen Handwerks-

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II. Die gewerbliche Ausbildung

werksgesellen, und zwar auch den ausländischen, das Einwandern über die badischen Grenzen in die Schweiz. Diese Bestimmung wurde auch in den westfälischen Amtsblättern bekannt gemacht.899 Eine weitere badische Verordnung wurde am 9.7.1835 erlassen.900 Andere süddeutsche Staaten folgten. Preußen publizierte den am 21.3.1835 gefassten Verbotsbeschluss des Bundestages ebenfalls in seinen Amtsblättern.901 Darin wurde den Gesellen aus den deutschen Bundesstaaten das Wandern in jene Länder, die „Assoziationen und Versammlungen“ duldeten, „wodurch die öffentliche Ruhe im In- oder Auslande bedroht oder gestört werden könnte“, untersagt. Der Beschluss gab den Regierungen des Bundes auf, ihre Untertanen aus diesen Nachbarstaaten zurückzurufen, und die in Deutschland selbst wandernden Gesellen wurden, dem Petitum der badischen Regierung folgend, unter „strenge polizeiliche Aufsicht“ gestellt. Zu dem Bundestagsbeschluss verfasste Preußen detaillierte Ausführungsbestimmungen.902 Die Begründung nahm ausdrücklich auf die herrschende Revolutionsfurcht Bezug: Das Wandern in die Schweiz werde „zur kräftigen Abwehr der Gefahren, welche der bürgerlichen Ordnung aus der an verschiedenen Orten des Auslands versuchten systematischen Verführung des Handwerkers drohen …“, verboten.903 Das Wanderregulativ vom 24.4.1833 blieb in Kraft, das Reglement vom 21.3.1835 verschärfte die Kontrolle der Gesellen aber außerordentlich: Wanderpässe in das benachbarte, nicht dem Deutschen Bund angehörende Ausland durften seither den preußischen, aber auch den sich in Preußen aufhaltenden ausländischen Handwerkern nur noch mit Genehmigung des Berliner Innenministeriums erteilt werden. Das Reiseziel musste im Pass vermerkt sein. Unter Bezugnahme auf den Bundesbeschluss vom 21.3.1835 untersagte Preußen seinen Staatsangehörigen das Wandern in der gesamten Schweiz wenig später „unbedingt“.904 Wanderpässe für die Schweiz wurden grundsätzlich nicht mehr ausgestellt. Zur Begründung dieser rigorosen Maßnahmen behauptete der Minister, gesellen das Wandern in die Schweiz; für den Fall des Verstoßes wurde Rückkehrern zweijährige Polizeiaufsicht am Heimatort angedroht. 899 S. Verfügung des Oberpräsidenten Vincke v. 23.2.1835, in: Amtsblatt Reg. Münster (1835), S. 35. 900 S. GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 100. 901 S. Bekanntmachung v. 21.3.1835, in: Amtsblatt Reg. Minden (1835), S. 119; desgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg (1835), S. 113, 114; desgl. in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 65, 68–73. Durch Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierung Münster war das Wanderverbot in diejenigen Länder, „in welchen Vereine oder Versammlungen von Handwerksgesellen mit politischen Zwecken offenkundig geduldet werden“, bereits angekündigt und die Regierung aufgefordert worden, die wandernden Gesellen über die lokalen Polizeibehörden entsprechend aufzuklären; s. Schreiben v. 26.11.1834, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144. 902 Reglement in Betreff des Wanderns der Gewerksgehilfen v. 21.3.1835, in: Preußische Annalen, 1835, S. 210; desgl. in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 92–97. 903 S. Vietinghoff (1972), S. 42. 904 Verordnung des Innen- und Polizeiministers von Rochow v. 11. April 1835, in: Amtsblatt Reg. Minden, 1835, S. 158; desgl. in: Amtsblatt Reg. Münster, 1835, S. 154; desgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg, 1835, S. 143; STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 74. In der Verordnung wurde darauf hingewiesen, dass auf den Versammlungen deutscher Handwerker in der Schweiz „die

D. Das Wandern der Gesellen

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dass die deutschen Handwerker in der Alpenrepublik „gewaltthätige Unternehmungen gegen Deutschland verabredet“ hätten. Es galt bei den deutschen Regierungen inzwischen eben als Gemeinplatz, dass es sich bei den Mitgliedern der deutschen Handwerkervereinigungen in der Schweiz um kommunistisch gesonnene Gesellen handele, die sich um den Schneidergesellen Weidling gesammelt hätten.905 Ein absolutes Wanderverbot wie hinsichtlich der Schweiz wurde im Verhältnis zu den anderen als unzuverlässig geltenden Staaten Frankreich und Belgien zwar nicht ausgesprochen. Doch auch in diesen Fällen rückte der preußische Innenminister von der relativ liberalen Haltung, die er noch im Jahre 1834 eingenommen hatte, ab. Stattdessen gab er den Regierungsbehörden unter Hinweis auf das Reglement vom 21.3.1835 auf, den preußischen Gesellen künftig grundsätzlich keine Pässe mehr zur Wanderung in diese Länder auszustellen.906 Ausnahmen sollten nur dann noch zulässig sein, wenn das zuständige Regierungspräsidium selbst Feststellungen zur Unverdächtigkeit des Antragstellers getroffen hatte. Allein wenn die Behörde zu der Überzeugung gelangt war, dass der Geselle sich als „zuverlässiger, sittlicher und der Verführung nicht zugänglicher Mensch“ erwiesen hatte und zudem glaubhaft machen konnte, dass gerade ein Aufenthalt in Frankreich oder Belgien seine berufliche Weiterbildung in einer Weise zu fördern vermöchte, wie dies anderwärts nicht möglich war, durfte ein Wanderpass ins westliche Ausland erteilt werden. Auch diese Restriktionen hielt man in Berlin aber noch immer nicht für ausreichend. Die Ministerial-Kommission, welche sich im Sommer 1835 mit dem Gegenstand befasste, forderte deshalb unter Hinweis auf das „gefährliche Treiben der deutschen Handwerker in der Schweiz“ nunmehr vom König insbesondere die Erweiterung der bereits in Kraft getretenen Vorschriften um dezidierte Strafbestimmungen.907 Wanderungen in Länder außerhalb des deutschen Bundes sollten künftig nur noch nach vorheriger Erlaubnis durch das Innenministerium selbst gestattet sein. Allen Handwerksgesellen wollte man Reisen in die Schweiz sowie nach Belgröbsten Schmähungen gegen die deutschen Fürsten“ vorgelesen und durch Handwerksgesellen in den Nachbarländern Deutschlands verbreitet würden. 905 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 405. Nicht allein das Entstehen revolutionärer Vereinigungen deutscher Handwerksgesellen, insbesondere in der Schweiz, beunruhigte die deutschen Regierungen. Es gab vielmehr Hinweise auf propagandistische Initiativen, die nach Deutschland zielten, und entsprechende Organisationstätigkeit; s. Thamer (1984), S. 494; vgl. dazu die Untersuchungsberichte der Frankfurter Bundeszentralbehörde, in: Kowalski (Hrsg.) (1978). Verbindungen gab es auch nach Frankreich: Als die Pariser Schneider (unter ihnen auch Deutsche) gegen die politische Repression streikten, baten sie um Unterstützung durch ihre deutschen Genossen; s. Der Bund der Kommunisten (1970), S. 123 ff. 906 So Mitteilung des Polizei- und Innenministers an die preußischen Regierungen vom 13.6.1835, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 77. Diese Vorschrift wurde offenbar beachtet. So berichtete der Wandergeselle Johann Eberhard Dewald, daß seine wiederholten Versuche, eine Erlaubnis zur Wanderschaft nach Frankreich zu bekommen, scheiterten; s. Dewald/Hoffman (1936), S. 98 f., hier nach Wadauer (2005), S. 157, 158. Kocka ist dagegen der Auffassung, die „halbabsolutistischen Regierungen“ des Deutschen Bundes hätten „das Gesellenwandern in die Schweiz, nach Frankreich und nach Belgien zeitweise verboten, wenn auch regelmäßig ohne allzu viel Erfolg“; s. Kocka (1990), S. 341. 907 Schreiben der sog. „Ministerial-Commission“ (Unterzeichner v. Kamptz u. Mühler) an den König v. 17.9.1835, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 115, 116.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gien, Frankreich und Spanien bis auf Widerruf grundsätzlich untersagen. Wer gegen diese Vorschrift verstieß, sollte der Rechte eines preußischen Untertanen verlustig gehen, das Erbrecht auf inländisches Vermögen einbüßen und, sofern er preußisches Territorium noch einmal betrat, als Landstreicher über die Grenze abgeschoben werden. Ausländischen Gesellen, welche sich seit Anfang 1833 in der Schweiz, in Frankreich, Belgien oder Spanien aufgehalten hatten, wollte man ebenfalls untersagen, nach Preußen einzureisen. Auch die Arbeitgeber solcher Gesellen sollten mit Strafe bedroht werden. Dem König gegenüber versah die Kommission ihr Anliegen mit dem Attribut der „höchsten Wichtigkeit“. In grotesker Überschätzung der Zahl revolutionär gesonnener Handwerksgesellen erachtete das ministerielle Gremium die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Staate ganz offenbar als von den Bestimmungen über das Wandern der Handwerksgesellen abhängig. Die Kommissionsangehörigen fanden mit ihren harschen Petita beim König allerdings kein Gehör. Rechtskraft erlangten die Vorschläge deshalb nicht. Nach Jahren, 1839, entschloss sich Preußen auch, das strikte Verbot des Gesellenwanderns in die Schweiz wenigstens partiell zu lockern: Auf Antrag konnte das Innenministerium seither wenigstens die Erteilung von Wanderpässen mit dem Reiseziel Neuchâtel, dem zu Preußen gehörenden, in der West-Schweiz gelegenen Fürstentum, genehmigen.908 bb. Weitere Initiativen einzelner Bundesstaaten Andere deutsche Regierungen wurden dagegen auch nach der Mitte der dreißiger Jahre nochmals aktiv, um die befürchtete politische Agitation von Gesellen zu unterbinden. Sachsen verlangte eine Radikallösung: Die dortige Regierung beantragte 1836 bei der Bundesversammlung in Frankfurt, die im Rahmen der in den meisten deutschen Staaten noch fortlebenden Zunftordnung existierenden Gesellenverbände oder –bruderschaften aufzuheben, um den Hilfskräften dieses für die politische Willensbildung leicht nutzbare Forum zu nehmen.909 Preußen unterstützte die Initiative aber nicht. Das Berliner Polizeiministerium wies darauf hin, dass es trotz intensiver Beobachtung keinerlei Anzeichen gebe, die darauf hindeuteten, dass die in der Monarchie bestehenden Gesellenvereine ihre Organisation zu politischen Zwecken missbrauchten. Der Innen- und Polizeiminister von Rochow ging deshalb davon aus, dass etwaigen politischen Gefahren „durch eine strenge und sorgfältige Ausführung der im Betreff des Wanderns der Handwerksgesellen diesseits bestehenden Vorschriften“ hinreichend vorgebeugt werden könne.910 Im übrigen war 908 Bekanntmachung des Reskripts des Innen- und Polizeiministers v. 13.8.1839, in: Amtsblatt Reg. Münster, 1839, S. 291. 909 Schreiben des preußischen Polizeiministers v. Rochow an den Handels- und Gewerbeminister v. Brenn v. 16.1.1836, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 124. 910 Schreiben des Polizeiministers v. Rochow an den Handels- und Gewerbeminister v. Brenn v. 11.4.1836, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 130–132. Zum Melde- und Kontrollwesen in Österreich im 19. Jahrhundert vgl. Hahn (2008), S. 132–138.

D. Das Wandern der Gesellen

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Preußen damals an so wesentlichen Rechtsänderungen wie dem Verbot der Gesellenverbände nicht interessiert, da die Verhältnisse der gewerblichen Hilfskräfte in der geplanten Gewerbeordnung ohnehin neu geregelt werden sollten. Unter Hinweis auf die Beratungen des Gewerbepolizeigesetzes für die Monarchie lehnte Preußen ein Verbot der Gesellenvereinigungen in der Frankfurter Bundesversammlung deshalb dezidiert ab.911 Die Diskussion um die Auflösung dieser Verbände fand damit aber keineswegs ein Ende. Die sächsische Regierung versuchte nach dem Scheitern ihres Vorstoßes im Bundestag durch bilaterale Vereinbarungen zwischen einzelnen Staaten des Deutschen Bundes, ihr Ziel doch noch zu erreichen. Auch diese Bemühungen führten zunächst aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis. 1840 griffen dann die freien Städte den Gegenstand beim Bundestag auf, da es in Lübeck, Hamburg und Bremen zu „Umtrieben“ der Handwerksgesellen gekommen war.912 Untersuchungen in den Hansestädten hatten eine „weitverzweigte“ Verbindung unter den Gesellen aufgedeckt, welche, so die Begründung der Initiative, das Ziel verfolge, die Mitglieder bei „Widersetzlichkeiten“ gegen die Meister oder die Ortsobrigkeit zu unterstützen. Auch hatten die Hansestädte festgestellt, dass die Gesellengerichtsbarkeit mit ihrem typischen Mittel, dem Verruf bestimmter Orte oder einzelner Meister, noch immer lebendig war. Alsbald schlossen sich das besonders interessierte Sachsen, aber auch weitere der größeren Bundesstaaten dem neuerlichen Antrag, den „missbräuchlichen Verbindungen unter den Handwerksgesellen entgegenzuwirken“, an.913 Preußen selbst klagte über das Fortleben solcher Konnexionen und Bräuche auf seinem Territorium dagegen nicht.914 Niemand mehr in der Monarchie fürchtete ernsthaft die standeseigene Jurisdiktion der Gesellen und ihre Zwangsmittel. Der Staat hatte diese bereits an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mit brachialer Gewalt unterdrückt.915 Zwar war es in Paderborn zu Beginn der zwanziger Jahre noch einmal zu Verabredungen gekommen, welche die aus der Zunftzeit bekannten Sanktionen hätten auslösen können.916 Doch nun, zwanzig Jahre später, waren auch in Westfalen schon lange keine Aktivitäten der inkriminierten Art mehr aktenkundig geworden. Die standeseigene Gerichtsbarkeit und der damit verbundene Gesellen911 Schreiben des preußischen Außenministers Ancillon an den preußischen Gesandten von Schöler v. 11.5.1836, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 140. Nachdem Preußen ein Verbot der Gesellen-Verbindungen durch den Deutschen Bund abgelehnt hatte, schlug Sachsen eine Vereinbarung der Bundesstaaten vor, um die Wandergesellen auf dem Gebiet des Deutschen Bundes nach einheitlichen Regelungen überwachen zu können; s. Schreiben des Polizeiministers v. 3.12.1836, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 154. 912 Schreiben an den Finanzminister v. 13.9.1840, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 40 ff. 913 So die Formulierung der zuständigen preußischen Minister in ihrem Schreiben an den König v. 8.2.1841, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 55–56 RS. Zur Gesellengerichtsbgarkeit im 19. Jahrhundert vgl. Deter (1987). 914 S. Schreiben v. 8.2.1841, wie Anm. 913; in Ostelbien war die Gesellengerichtsbarkeit damals aber noch nicht völlig verschwunden. 915 S. dazu Deter (1987), S. 89 ff. 916 S. Bd. 1, Kap. „Arbeitsrecht“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

brauch galten jedenfalls in den westlichen Provinzen Preußens als längst abgestorben. Da alle übrigen Bundesstaaten aber die von den Hansestädten vorgeschlagenen Maßregeln gegen die sog. Gesellen-Verbindungen für notwendig erachteten, um die in den „Seestädten“ als ernsthaft gefährdet angesehene öffentliche Sicherheit und den ungestörten Gewerbebetrieb zu gewährleisten, wollte Preußen nicht hindernd im Wege stehen. Am 3.12.1840 fasste die Bundesversammlung in Frankfurt deshalb einstimmig einen Beschluss zur „Abstellung der unter den Handwerksgesellen entdeckten Verbindungen und Missbräuche“. Hierbei handelte es sich um einen Katalog von Verwaltungsmaßregeln, die gegen solche Gesellen, welche sich „durch Theilnahme an unerlaubten Gesellen-Verbindungen, Gesellen-Gerichten, Verrufserklärungen und dergleichen Missbräuchen gegen die Landesgesetze vergangen haben“, verhängt werden sollten. Es traten also zusätzliche Sanktionen für die Verwirklichung von Tatbeständen, die durch Landesrecht längst untersagt waren, in Kraft. Dieser Bundestagsbeschluss wurde in Preußen durch Patent v. 17. März 1841 in Kraft gesetzt.917 Vereinbarungsgemäß publizierten die Amtsblätter der preußischen Regierungen den Beschluss der Bundesversammlung.918 Mittelbar konnte sich auch die preußische Administration diese Bestimmungen nutzbar machen, und zwar im Zusammenhang mit dem Wandern ins Ausland. Die Vorschriften eröffneten nämlich die Möglichkeit, auf dem Verwaltungswege nochmals gegen Landeskinder vorzugehen, die nicht im eigenen, sondern in anderen Staaten durch unerlaubte Aktivitäten aufgefallen waren: Gesellen, die sich im Ausland eines der in dem Beschluss genannten „Vergehen“ schuldig gemacht hatten, sollten nach erfolgter Bestrafung aufgrund dortiger, landesgesetzlicher Vorschriften durch den Heimatstaat das Wanderbuch bzw. der Reisepass abgenommen, die Übertretung nebst der verhängten Strafe in seinem Ausweis vermerkt und die Papiere seiner Heimatbehörde übersandt werden (Ziff. 1). Nach „überstandener Strafe“ sollte ein solcher Delinquent auf festgelegter Reiseroute in seinen Herkunftsstaat zurückgeschickt und dort, so wörtlich, „unter geeigneter Aufsicht gehalten“ werden. In keinem anderen Bundesstaat durfte er künftig mehr ein Arbeitsverhältnis eingehen. Ausnahmen von dieser Regel sollten nurmehr bei „dauerhaftem Wohlverhalten“ des Gesellen durch die Regierung des Heimatstaates zugelassen werden (Ziff. 2). Zur besseren Kontrolle jener Gewerbegehilfen, die an ihren alten Bräuchen festhielten, wollten die Regierungen Verzeichnisse der „abgestraften und in die Heimath zurückgewiesenen“ Delinquenten austauschen (Ziff. 3). Damit die neuen Vorschriften die intendierte Wirkung auch zeitigten, sollten sie jedem Gesellen vor Aushändigung des Wanderpasses oder des Wanderbuches oder Reisepasses eigens durch die Ortspolizeibehörde bekannt gemacht werden (Ziff. 4).

917 Seit Inkrafttreten des Bundestagsbeschlusses führten die deutschen Länder Listen über Gesellen, die gegen diese Vorschriften verstoßen hatten; s. Weber (1843), S. 52. Zu den Verfolgungsmaßnahmen vgl. Zwahr (1981). 918 Der Text findet sich in: Amtsblatt Reg. Minden, 1841, S. 141, 142; Amtsblatt Reg. Münster, 1841, S. 141, 142; Amtsblatt Reg. Arnsberg, 1841, S. 113, 114; desgl. in: GStA/PK, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Vol. 3, fol. 61, 62.

D. Das Wandern der Gesellen

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Damit standen erstmals Regelungen zur Verfügung, welche die dauerhafte Kontrolle auch solcher Gesellen ermöglichten, die wegen unerlaubter Aktivitäten in einem anderen Bundesstaat bestraft worden waren. Wenngleich der spezifische Ehrbegriff der Zünftler seinen für den Gesellenverband konstitutiven Charakter damals in der zunftlosen Provinz Westfalen bereits weitgehend eingebüßt hatte, musste das Einschärfen dieser diskriminierenden Vorschriften vor Beginn jeder Wanderschaft aber auch auf die westfälischen Gewerbegehilfen einschüchternd und – wegen des Sonderrechts ausschließlich für die Handwerksburschen – erniedrigend wirken. Freiheit und Selbstbewusstsein der jungen Leute wurden tief verletzt. Die Wirkung dieser Maßregeln für die Reputation der Gesellen im sozialen Gefüge Deutschlands zur Zeit des Vormärz war verheerend – zumal der Erlass der Sonderbestimmungen mit dem steigenden Angebot an Arbeitskräften im Handwerk und der daraus notwendig resultierenden allmählichen Verschlechterung auch der wirtschaftlichen Situation jedenfalls eines Teils der Hilfskräfte zusammenfiel. Angeregt durch die verschiedenen Initiativen in der Frankfurter Bundesversammlung, befasste sich die preußische Ministerialbürokratie im gleichen Jahr 1840, in dem die diskriminierenden Bundesvorschriften erlassen worden waren, nochmals mit der politischen Betätigung einzelner Gesellen. Es waren wiederum konspirative Verbindungen im Ausland entdeckt worden, die ihren Mittelpunkt nun in Paris hatten.919 Deshalb wurde erörtert, wie die trotz Verbots in die Schweiz bzw. nach Frankreich gewanderten Gesellen bei ihrer Rückkehr nach Preußen bestraft werden sollten.920 Der zuständige Minister vertrat die Auffassung, dass Paragraph 14 des Wander-Reglements auch auf die aus Paris zurückkehrenden Gesellen Anwendung finden solle. Da es sich allerdings um Einzelfälle handelte, ergaben sich aus dieser Rechtsfrage keine Probleme für den Gesetzgeber. Die durch den Bundestag am 3.12.1840 beschlossenen Sondermaßregeln für die wandernden Gesellen markierten aber noch keineswegs den Endpunkt der Verschlechterung der Gesellenrechte. Nur wenig später, 1842, war es das Großherzogtum Hessen, welches einen Antrag auf Erlass eines „allgemeinen Verbots aller unter den Handwerksgesellen bestehenden Verbindungen“ bei der Bundesversammlung einbrachte. Offenbar sollte nun mit einer Radikallösung jedweder organisierte soziale Zusammenhalt unter den gewerblichen Hilfskräften unterbunden werden. Hessen sah sich zu diesem Vorschlag veranlasst, weil die damals seit zwei Jahren in Kraft befindlichen Normen zwar die Mitgliedschaft des Handwerkernachwuchses in einer „unerlaubten Gesellen-Verbindung“ untersagten, der Bundesgesetzgeber es aber versäumt hatte, konkret zu definieren, welche Zusammenschlüsse der Handwerker als unerlaubt zu betrachten seien.921 Preußen war zu einer abschließenden Klärung dieser Frage nicht bereit. Da es den Entwurf einer neuen Gewerbeordnung 919 Schreiben des Polizeiministers v. Rochow v. 5.11.1840, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 40, 40 RS. 920 Schreiben des preußischen Außenministers an den Finanz- und Gewerbeminister v. Alvensleben v. 6.12.1840, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 3, fol. 36–39 RS. 921 So Schreiben der Minister v. Bodelschwingh und v. Arnim an den Außenminister v. 10.11.1842, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 1, fol. 77, 78.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

noch nicht verabschiedet hatte und die preußische Regierung sich nicht ohne Not durch Bundestagsbeschlüsse in ihrer Gestaltungsfreiheit einschränken lassen wollte, verweigerte sie sich der hessischen Initiative. Das brachte die übrigen Bundesstaaten aber keineswegs dazu, sich mit dem Fortleben von Gesellenorganisationen abzufinden. Mit kaum verhohlener Missbilligung fragte Sachsen 1844 in Berlin an, weshalb die Erteilung sog. Gesellenscheine in Preußen nicht zu den durch den Bundesbeschluss vom 3.12.1840 untersagten „Handwerks-Missbräuchen“ gezählt werde.922 Sachsen sah in der Unterschrift anderer Handwerksgesellen auf diesen Papieren, welche den Wandergesellen attestierten, dass sie ihr Gewerbe zünftig erlernt und ihren Beitrag zur Gesellenlade, der Krankenkasse, geleistet hatten, offenbar mehr als ein bloßes Indiz für das Fortleben unerlaubter „Gesellen-Verbindungen“ in Preußen. Der Hinweis des Berliner Ministeriums auf die §§ 396 ff. Tit. 8 T. 2 des ALR vermochte die Sachsen keineswegs von der Legitimität des Kassenwesens der Gesellen und ihrer damit unleugbar verbundenen selbständigen Organisationen zu überzeugen. Die Regierung in Dresden beharrte deshalb auf der konkreten Bezeichnung jener Gesellenverbände, welche man in Preußen als verboten erachte. Da die Berliner Regierung aber unverdrossen die Ansicht vertrat, dass „unerlaubte Gesellen-Verbindungen“ auf ihrem Territorium nicht bestünden, berief sie sich wiederum auf die §§ 396 bis 400 Tit. 8 T. 2 und Tit. 20 T. 2 ALR, das Edikt vom 20.10.1798 und das Patent vom 29.7.1794.923 Diese Bestimmungen galten noch und das Berliner Ministerium bemerkte ausdrücklich, dass sie bis zum Inkrafttreten des damals gerade beratenen neuen Strafgesetzbuches sowie der neuen Gewerbeordnung in Kraft bleiben sollten. Bis dahin aber sollte es den preußischen Behörden selbst obliegen, in Zweifelsfällen zu prüfen und zu entscheiden, ob eine „Verbindung“ unter den Handwerksgesellen als verboten zu erachten sei oder ob man sie als erlaubt betrachten wolle. Das weitgehende Fehlen oppositioneller Gesellenverbände auf seinem Boden hatte zur Folge, dass Preußens Haltung gegenüber den Zusammenschlüssen der Gesellen jedenfalls Anfang der vierziger Jahre um Nuancen moderater als diejenige anderer Bundesstaaten ausfiel. In dieses Bild relativer Mäßigung fügt sich der Circular-Erlaß v. 24.11.1842, der das strikte Einwanderungsverbot für solche Gesellen, die sich in der Schweiz aufgehalten hatten, modifizierte.924 Man nahm damals in Berlin an, dass die „revolutionären Umtriebe“ in der Eidgenossenschaft inzwischen der Vergangenheit angehörten. 922 Schreiben des preußischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten an die Minister v. Bodelschwingh und v. Arnim v. 6.3.1844, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 85– 85 RS. 923 Novum corpus constitutionum (Preußische Ediktensammlung) 1794, S. 2381. 924 S. STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 129; Amtsblatt Reg. Arnsberg 1842, S. 363. Der Minister erklärte ausdrücklich, dass die Gründe, welche Anlass des Wanderverbots in die Schweiz gewesen waren, „in dem damaligen Umfang nicht mehr obwalten“. Es wurde deshalb bestimmt, dass Handwerksgesellen aus anderen deutschen Staaten, welche nachweisen konnten, mit Genehmigung ihres Heimatstaates in die Schweiz gewandert zu sein, zukünftig auch die Einreise nach Preußen gestattet werden konnte. Voraussetzung war, dass der Geselle ein Visum vorweisen konnte.

D. Das Wandern der Gesellen

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Schon 1843 aber wurde das preußische Polizeiministerium durch den Bericht einer Untersuchungskommission des Kantons Zürich neuerlich aufgeschreckt, wonach die Anhänger kommunistischer Ideen dort wiederum – und zwar durchaus aktiv – ihre Überzeugungen zu verbreiten suchten. Darauf setzte der Minister das Verbot des Einwanderns aus der Schweiz nach Preußen unverzüglich wieder in Kraft.925 In Westfalen allerdings teilte man die Revolutionsfurcht der Regierungen des Deutschen Bundes damals nicht mehr. Als der Schneidergeselle Johann Eberhard Heemann aus dem münsterländischen Ibbenbüren 1843 in seine Heimat zurückkehrte und die dortige Polizeibehörde ausweislich des Wanderbuches feststellte, dass er seine Reiseerlaubnis weit überschritten und sich in Frankreich, der Schweiz und Savoyen aufgehalten hatte, erklärte die in der Frage der Ahndung dieses Verhaltens um Entscheidung angegangene münsterische Regierung,926 dass von einer Polizeistrafe gegen Heemann abzusehen sei.927 Der preußische Innenminister Graf v. Arnim allerdings war mit dieser großzügigen Haltung der Behörden gegenüber den Gesellen keineswegs einverstanden. Er wies den westfälischen Oberpräsidenten v. Vincke unverzüglich auf das Fortbestehen des Wanderverbots nach der Schweiz hin und vergaß nicht anzuordnen, dass solche Gesellen, die aus der Alpenrepublik zurückkehrten, seitens der Polizei ganz besonders sorgfältig überwacht werden sollten.928 Das alte Misstrauen war demnach jedenfalls in Berlin wieder lebendig. Das zeigte sich noch deutlicher, als 1845 endlich die neue Gewerbeordnung für Preußen in Kraft trat. Sie schuf ein Sonderstrafrecht für die gewerblichen Arbeitnehmer. § 183 des Gesetzes untersagte die Bildung von Verbindungen der Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen ohne Erlaubnis der Polizeibehörden ausdrücklich.929 Sofern das allgemeingültige Strafrecht keine schärferen Sanktionen vorsah, sollten die „Stifter und Vorsteher“ solcher Vereinigungen mit einer Geldbuße bis zu 50 Rtl. oder Gefängnis bis zu 4 Wochen bestraft werden, während die gewöhnliche Mitgliedschaft mit einer Geldbuße bis zu 20 Rtl. oder Gefängnis bis zu 14 Tagen geahndet wurde. 925 § 14 des Reglements v. 21.3.1835; eine Modifikation bestand darin, dass das Verbot nunmehr für alle Gesellen gelten sollte, die sich seit dem 11.1.1834 in der Schweiz aufgehalten hatten. Dieses Datum hatte der preußische Polizeiminister gewählt, weil damals der Schneidergeselle Weitling die kommunistischen Ideen in der Schweiz zu verbreiten begonnen hatte: Das Verbot für preußische Gesellen, in die Schweiz zu wandern, wurde damals noch einmal bekräftigt; s. Verordnung des preußischen Innen- und Polizeiministers v. 5.10.1843, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 129. Zu den Aktivitäten Wilhelm Weitlings und des „Bundes der Gerechten“ in der Schweiz seit 1841 vgl. Specker (1986), S. 18,19. 926 Schreiben des Landrates des Kreises Tecklenburg, Frh. v. Grüter, an die Regierung Münster v. 10.10.1843, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 130. 927 Die Regierung überließ der Ortspolizeibehörde die Entscheidung der Frage, ob sie die Lokalbehörde am künftigen Wohnsitz des Gesellen von dem Vorgang unterrichten wollte; s. STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 130. 928 Schreiben des Innenministers Graf v. Arnim an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 22.11.1844, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 131. 929 Gewerbeordnung v. 17.1.1845, in: Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 41–78.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

b. Die Revolution als Befreiung Fast alle diese von der „eschatologischen Revolutionsfurcht“930 des konservativen Establishments in den deutschen Bundesstaaten diktierten Restriktionen verschwanden mit der Revolution von 1848/49. Die Märzereignisse des Jahres 1848 wurden bekanntlich durch den sozialen Protest und die revolutionären Motive eines Teiles der „arbeitenden Klassen“ befeuert. Deren zunehmende Unruhe hatte ihre Gründe nicht allein in der unzureichenden Leistungskraft der Landwirtschaft, sondern eher noch in der ungenügenden Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft in Deutschland. Die Schere zwischen starkem Bevölkerungswachstum und stagnierendem Arbeitskräftebedarf klaffte vor Beginn der Hochindustrialisierung deutlicher denn je auseinander. Die schwere Agrar- und Hungerkrise 1846/47 führte zu steigenden Nahrungsmittelpreisen, sinkender Kaufkraft, verringertem Absatz und schwächerer Produktion der Gewerbe – Entwicklungen, welche, verstärkt durch eine industriell-kommerzielle Rezession, die Unterbeschäftigung der Handwerker überall in Deutschland schnell wachsen ließen.931 Der Breslauer Magistrat verband seine erschütternde Beschreibung der Lebensumstände zahlreicher Gesellen932 damals mit der Forderung nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nicht minder nachdrücklich mit dem Verlangen nach Aufhebung aller Wanderbeschränkungen für die Gesellen. Die zunehmende Not der Hilfskräfte im Handwerk, die sich vom allmählichen Aufstieg der Fabrik in jenen Jahren, und, damit ursächlich verbunden, ebenso vom Niedergang eines Teils des Kleingewerbes bedroht fühlten, konnte das preußische März-Ministerium unter Führung der rheinischen Liberalen Camphausen und Hansemann nicht länger ignorieren. Um den Druck der revolutionären Situation abzuleiten, erschien die unbeschränkte Freizügigkeit der Gesellen plötzlich als das erhoffte Remedium gegen die ausufernde Arbeitslosigkeit, von dem sich die deutschen Bundesstaaten mittelbar auch eine Beruhigung der aufgebrachten Unterschichten erhofften. Schon Anfang April 1848 hob die Frankfurter Bundesversammlung deshalb die Ausnahmegesetze aus dem Jahre 1819 auf, und im Mai 1848 erklärte sie sich mit der Beseitigung der Beschränkungen des Wanderns deutscher Gesellen ins Ausland einverstanden.933 Sogleich verzichteten das Großherzogtum

930 So Nipperdey (1983), S. 595. 931 Zu Westfalen vgl. die Statistiken in Deter (2005). 932 „Die völlige Stockung alles Verkehrs und der sich täglich vergrößernde Geldmangel haben uns nach der Noth der Vorjahre in einen Zustand gebracht, welcher für unsere Stadt das schrecklichste befürchten läßt. Tausende von Gesellen, namentlich gegen 2.000 Schneider, Schuhmacher und Tischler sind brotlos und, da viele verheirathet sind, mit ihren Familien dem Elend Preis gegeben, welches sie in der Verzweiflung zu dem Äußersten treiben wird“; so Schreiben des Magistrats der Stadt Breslau an das Finanzministerium v. 28.4.1848, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 91. Auch für die zahlreichen Gesellen, die in den industrialisierten Regionen in den vierziger Jahren in der Fabrik arbeiteten, ist für diese Zeit von „unterständischer Negativ-Identität“ gesprochen worden; so Kaschuba (1984), S. 381–406 (388). 933 Verordnung des Ministers für Handel, Gewerbe etc., Milde, und des Innenministers Kühlwetter v. 30.6.1848, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 98, 98 RS. Vor allem die Hand-

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Hessen und das Königreich Hannover auf diese Restriktionen,934 und im Juni 1848 folgte auch Preußen. Das Erfordernis der ministeriellen Genehmigung zur Erteilung von Wanderpässen für Reisen in außerdeutsche Staaten wurde ebenso beseitigt wie das Verbot der Einreise nach Preußen für solche Handwerksgesellen, die sich in der Schweiz aufgehalten hatten. Ebenso verschwand das Wanderverbot, welches preußische Gesellen seit 1835 daran gehindert hatte, die Schweiz zu besuchen.935 Die Regierungen hatten in zutreffender Einschätzung der Lage erkannt, dass die Gesellen der fortwährenden Beschränkung ihrer Reisefreiheit überdrüssig und gegebenenfalls auch bereit waren, diese zu erkämpfen. Auf ihrem Kongress in Frankfurt im Juli 1848 forderten sie nicht nur die angemessene Entlohnung ihrer Arbeit, sondern den freien Arbeitsmarkt für den Gesellen: „Wo ihm Arbeit geboten wird, soll er sie nehmen können …“, hieß es unmissverständlich in den Petita, welche die Teilnehmer der Gesellenversammlung dem Volkswirtschaftlichen Ausschuss der Nationalversammlung vorlegten.936 In dieser Frage wurden sie ausweislich der von dem Handwerkerkongress in Frankfurt 1848 entworfenen Handwerker-Ordnung von den Meistern vorbehaltlos unterstützt. Die Arbeitgeber im Kleingewerbe verlangten die Aufnahme der Bestimmung: „Das Wandern ist in keinerlei Weise zu erschweren“937 – eine Formulierung, welche unübersehbar auf die Behandlung der Gesellen durch die Behörden Bezug nahm. Erläuternd machten die Meister sich die Kritik der Gesellen zu eigen und forderten das Ende der staatlichen Tyrannis, welcher die Wanderburschen im vormärzlichen Deutschland jahrzehntelang ausgesetzt waren: „Da die Wanderung für den jungen Handwerker eine dringend gebotene Nothwendigkeit ist, so soll sie auch auf jede Weise, im Auslande durch die deutschen Gesandten und Consuln, gefördert und nicht durch lästige Plackereien und unnütze Formalitäten erschwert werden“. c. Die Restituierung des Kontrollsystems Bewirkt haben diese Programmsätze zunächst allerdings wenig. Die lediglich durch den revolutionären Furor erzwungene Liberalisierung hinderte Preußen nämlich keineswegs, sogleich nach dem Ende des Aufruhrs wieder zur scharfen Kontrolle der Gesellen und ihrer Organisationen zurückzukehren – wozu sich schon bald Anlass und Gelegenheit boten. Bereits 1850 war es einmal mehr die sächsische Regierung in Dresden, die darauf drang, gegen solche Gesellen, welche sich zu der in ihrem Territorium besonders wirkmächtigen,1848 gegründeten sog. „Deutschen Arbeiter-Verbrüderung“ bekannten, vorzugehen. Diese zu den Vorläufern der deutschen Arbeiterbewegung zählende Vereinigung protestierte nicht nur gegen Sonderwerker, Gesellen wie verarmte Kleinmeister, zählten bekanntlich zu den Trägerschichten der Revolution; s. Bade (1982), S. 37. 934 GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 99. 935 S. Verordnung v. 30.6.1848, wie Anm. 933. 936 Vorschläge des Frankfurter Gesellenkongresses …, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen …, 1849 (1980), Bd. 1, S. 213. 937 § 24 des Entwurfs einer allgemeinen Handwerks- und Gewerbe-Ordnung, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen …,1849 (1980), Bd. 1, S. 181, 182.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gesetze und Schikanen, welche die wandernden Gesellen empfindlich trafen. Sie stellte ihren Mitgliedern auf der Walz vielmehr auch eigene Wanderbücher aus, um sie als Angehörige des Verbandes zu legitimieren. Dass es den so organisierten Gesellen um politischen Einfluss zu tun war, unterlag bei der Obrigkeit sehr zu Recht keinem Zweifel. Preußen schloss sich deshalb sogleich der sächsischen Initiative zur Unterdrückung der in der „Arbeiter-Verbrüderung“ zusammengeschlossenen Gesellen an. Der Innenminister bestimmte, dass gegen ausländische Handwerksgesellen, die sich im Besitz eines Legitimationspapiers des inkriminierten Bundes befanden, vorzugehen sei. Sie sollten unverzüglich als „der Theilnahme an unerlaubten Verbindungen schuldig“ ausgewiesen und in ihre Heimat „zurückdirigiert“ werden.938 Allen Gesellen, die mit Wanderbüchern dieses Arbeitervereins angetroffen wurden, sollten die Papiere abgenommen und gegen sie die für die Mitgliedschaft in der Vereinigung vorgesehene Strafe verhängt werden. Zudem erließ der preußische Gesetzgeber nach dem für die bestehende Ordnung glimpflichen Ausgang der Achtundvierziger-Revolution schleunigst Vorschriften zur Einschränkung des Versammlungs- und Vereinigungsrechts, welche gegen die Gesellen und die sie ggf. schützenden Herbergswirte angewandt werden konnten – und sollten.939 § 12 dieser Verordnung sah vor, dass das Abhalten einer Versammlung, die der zuständigen Polizeibehörde nicht angezeigt worden war, mit einer Geldbuße von 5 bis 50 Rtl. zu ahnden sei.940 Versäumte ein zugelassener Verein es, seine Statuten oder das Mitgliederverzeichnis in der bestimmten Frist bei der Ortspolizeibehörde zur Kenntnis einzureichen, so war der Vorsteher des Vereins mit einer Geldbuße in gleicher Höhe zu belegen (§ 13).941 Diese Vorschriften blieben auch in Westfalen nicht ohne Relevanz. Schon kurz nach der Revolution, bereits 1852, hatte sich das nahegelegene Bremen zu einem Zentrum demokratischer Bestrebungen entwickelt. Handwerksgesellen, die von dort kamen, führten „häufig“ von den Behörden als „aufrührerisch“ bezeichnete Schriften bei sich.942 Sie waren nach Auffassung der offenbar vom Innenministerium instruierten münsterischen Regierung „von der revolutionären Propaganda in Bremen verführt“ worden und ließen sich „als Sendlinge und Zwischenträger der 938 S. Verordnung des preußischen Innenministers v. Manteuffel v. 22.8.1850 an die preußischen Regierungen, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a. Zur Bekämpfung der Arbeiterverbrüderung in Preußen s. Balser (1962), S. 273–283, 294–299. Kocka hat darauf hingewiesen, daß die Arbeiterverbrüderung vor allem von Handwerksgesellen getragen wurde; s. Kocka (1986), S. 341 m. w. Nachw; s. auch Büsch/Herzfeld (1975); Quarck (1924); vgl. auch Bopp (1932); zur Bedeutung der Handwerker in der frühen Arbeiterbewegung im internationalen Vergleich s. Lenger (1991), S. 1–23. Beispiele für die Verfolgung sächsischer Gesellen wegen der Teilnahme an der Revolution finden sich bei Bräuer (1982), S. 13; vgl. auch Balser (1962), S. 283– 294. Die „Arbeiterverbrüderung“ fand vor allem durch die Errichtung von Wanderunterstützungskassen Anklang; s. Lenger (1988), S. 82 939 So Promemoria v. 9.12.1854, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a. 940 Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechts v. 1.3.1850, s. Promemoria v. 9.12.1854, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a. 941 § 13 der Verordnung, wie Anm. 940. 942 Schreiben der Reg. Münster an den Magistrat der Stadt Münster v. 20.4.1852, in: Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19.

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Umsturzpartei“ benutzen. Da das Wandern in einen deutschen Bundesstaat, und ein solcher war die Hansestadt Bremen bekanntlich, nicht untersagt werden konnte, wies die zuständige Regierung den Magistrat der Stadt Münster an, künftig die Habseligkeiten der aus Bremen zuwandernden Gesellen genauestens zu untersuchen. Falls „verbrecherische“ Schriften gefunden wurden, sollten unverzüglich gerichtliche Schritte eingeleitet werden. Einschneidender noch war die rabiate Anordnung, allen Gesellen, welche sich in Bremen aufgehalten hatten, das weitere Wandern zu untersagen und sie in ihre Heimat zurückzuschicken.943 Binnen kurzem wurden gleich eine ganze Reihe von Gesellen, die aus Münster stammten und auf ihrer Wanderschaft auch Bremen besucht hatten, in ihre Heimatstadt zurückgeschickt.944 Das Spitzelwesen blühte. Zwar ließ sich in Westfalen noch immer kein Zentrum der, wie es im Behördenjargon hieß, „revolutionären Bewegung“ ausmachen, doch beteiligten sich westfälische Wandergesellen damals anderwärts durchaus an politischen, dem Staate unliebsamen Aktivitäten. So wurde 1852 der Schneidergeselle Bernhard Weingärtner nach Münster zurückgewiesen, weil er in Breslau, wo er seit 1850 arbeitete, „demokratische“ Bestrebungen unterstützt hatte und deshalb dort bei der Polizei angezeigt worden war.945 Wenig später sah sich der preußische Innenminister veranlasst, für die gesamte Monarchie entsprechende Anordnungen zu treffen. Er schärfte das Wanderregulativ aus dem Jahre 1833 erneut ein und bestimmte, dass ausländische, also nicht aus Preußen stammende Wandergesellen, bei denen auf unerlaubte „Verbindungen“ hinweisende „Erkennungszeichen“ oder „aufrührerische“ Schriften gefunden wurden, sogleich ausgewiesen werden sollten, sofern nicht besondere Gründe zu einer näheren Untersuchung der konkreten Umstände des Falles vorlägen.946 Diese Bestimmungen blieben keineswegs unbeachtet. Das Wanderverbot für alle Gesellen, die Bremen besucht hatten, wurde allerdings schon 1853 wieder aufgehoben, da „sich die Zustände in der Freien Stadt Bremen in neuester Zeit gebessert haben“,947 wie die Regierung in Münster befriedigt feststellte. Nichtsdestoweniger blieb die Furcht vor unkontrollierten – und damit langfristig unkontrollierbaren – Zusammenschlüssen der wandernden Gesellen bei den preußischen Behörden aber virulent. 1854 wurden die Landräte des Regierungsbezirks Minden aufgefordert, festzustellen, ob in ihrem Verwaltungsbezirk Mitglieder der sog. „Gesellschaft der Fremden Maurer“ vorhanden seien.948 Schon in den drei943 Schreiben der Reg. Münster an den Magistrat der Stadt Münster v. 20.4.1852, wie Anm. 942. 944 So z. B. der Brauergeselle Keller, der aus Düsseldorf zurückgewiesen wurde; s. Schreiben des Polizeidirektors von Düsseldorf v. 3.5.1852, in: Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19; weitere Fälle sind a. a. O. dokumentiert. 945 S. Schreiben des Polizeipräsidiums Breslau an den Magistrat der Stadt Münster v. 28.4.1852, in: Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19. Zur Kontrolle im Kgr. Sachsen s. Bräuer (1982), S. 13, 14. 946 Erlass des Innenministers v. Westphalen an sämtliche preußische Regierungen v. 11.7.1852, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 6, Bd. 1, fol. 23. 947 Schreiben der Reg. Münster an den Oberbürgermeister der Stadt Münster v. 26.10.1853, in: Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19. 948 Z. B. Schreiben der Reg. Minden an sämtliche Landräte v. 22.12.1854, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a.

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ßiger und vierziger Jahren hatte in Norddeutschland, aber auch in Dänemark und den baltischen Provinzen Russlands ein solcher Verband bestanden, der die wandernden Maurergesellen ganz in der Tradition des Alten Handwerks organisierte. Die hergebrachte Gesellengerichtsbarkeit mit ihrem wichtigsten Machtmittel, dem sog. Verruf, welcher über einzelne Meister, bestimmte Herbergen oder ganze Städte verhängt wurde, war von diesen Maurern tradiert worden. Ihr Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein signalisierender Gestus nährte naturgemäß den besonderen Abscheu der misstrauischen Obrigkeit gegen die „Fremden Maurer“.949 Mitglieder dieses Gesellenverbandes konnten nur solche Hilfskräfte werden, welche als Fremde in jene Stadt eingewandert waren, in der sie sich in den Verband hatten aufnehmen lassen. Sie blieben – ganz der Tradition des Alten Handwerks entsprechend – dieser Gesellenschaft solange zugehörig, wie sie unverheiratet waren.950 Für den Zusammenhalt der in Norddeutschland trotz des Verbots noch in den fünfziger Jahren sehr aktiven „Fremden Maurer“ spielten die Herberge und der Herbergswirt eine große Rolle. In den Herbergslokalen ihres Gewerks erkannten sich die einander unbekannten Mitglieder des Verbandes nach altem Handwerksbrauch durch bestimmte Klopfzeichen an der Tür; aus Gründen des Selbstschutzes korrespondierten die Gruppen in den verschiedenen Städten miteinander, indem sie die Adressen der Herbergswirte benutzten.951 Diese Vorsichtsmaßregeln waren auch durchaus notwendig. Denn schon die bloße Mitgliedschaft eines Gesellen in dem Verbande wurde nach § 98 des preußischen Strafgesetzbuches mit Gefängnis bis zu 6 Monaten, die Wahrnehmung einer Vorsteher-Funktion mit Haft zwischen einem Monat und einem Jahr bestraft. Auf die Herbergswirte, welche den Gesellen, ihren Gästen, die Unterstützung – schon aus eigenem ökonomischen Interesse – nicht versagen konnten, wollte das Ministerium § 34 des preußischen Strafgesetzbuches angewendet wissen.952 Außerdem mussten die Mitglieder der „Fremden Maurer“ auch noch die zusätzlich zu verhängenden „strengsten Maßregeln“ des Bundesbeschlusses vom 3.12.1840 gewärtigen. Diese sahen, wie bereits bemerkt, vor, dass den auffällig gewordenen Gesellen das Wanderbuch abgenommen wurde und sie mit „gebundener“, d. h. exakt vorgeschriebener Reiseroute in ihre Heimat abgeschoben wurden. Westfalen war allerdings auch während der fünfziger Jahre kein Hort aufrührerischen Gedankenguts. In einem Verzeichnis der Ortsverbände der „Fremden Maurergesellen“ aus dem Jahre 1854 findet keine westfälische Stadt Erwähnung. In 949 Eine Darstellung des Streiks der „fremden Maurergesellen“ in Norddeutschland im Jahre 1839 findet sich bei Bergmann (1973), S. 111 ff. Vgl. auch den Hinweis bei Lenger (1988), S. 63. 1841 war in Lübeck eine Schrift unter dem Titel: „Die Verbindungen der Maurergesellen, oder authentische Darstellung der bei diesen Verbindungen üblichen Gebräuche, nebst Mittheilungen über die neueste Geschichte derselben“ (o. Verf.) erschienen; s. Weber (1843), S. 123. 950 So Promemoria v. 9.12.1854, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a; als sich das Hamburger MaurerGewerk erst nach erheblichen Zahlungen von dem Verruf durch die „fremden Maurer“ befreien konnte, hatte die Frankfurter Bundesversammlung durch Bundesbeschluss v. 3.12.1840 bereits die „strengsten Maßregeln“ gegen die Angehörigen dieses Verbandes verhängt. 951 Wie Anm. 950. 952 Wie Anm. 950.

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Paderborn wies der Bürgermeister 1855 ausdrücklich daraufhin, dass dort solche Verbindungen unbekannt seien.953 d. Der Ertrag Kaum bündig zu beantworten ist die Frage, inwieweit die zahlreichen Vorschriften, welche das Wandern preußischer Gesellen ins Ausland zu behindern suchten, den intendierten Zweck auch erreichten. Die altbekannte Methode des Vergleichs hilft hier immerhin ein wenig weiter: Nach den Feststellungen Jeschkes betrug die für die Zunftgesellen im 19. Jahrhundert vorgeschriebene Wanderzeit im Königreich Hannover zwischen 2 und 5 Jahren, wobei zumeist 3 Jahre verlangt wurden954 – eine Zeitspanne, die den einschlägigen Regelungen der Zunfturkunden im Westfalen des 18. Jahrhunderts entsprach. Eine zwei- oder vierjährige Walz hatte sich auch bei den westfälischen Zünften nur selten gefunden. Trotz fortlebender Zunftverfassung und der damit verbundenen Weitergeltung der entsprechenden Vorschriften wurde die Wanderschaft im Königreich Hannover im 19. Jahrhundert aber nicht mehr als unabdingbar für die Gewinnung der Meisterschaft betrachtet.955 Aus diesem Umstand muss – argumentum a fortiori ad minus – geschlossen werden, dass der Wanderbrauch erst recht im weitestgehend zunftlosen Westfalen auch schon vor der Jahrhundertmitte seine Selbstverständlichkeit verloren haben muss. Solche Veränderungen dürften auch das Interesse an der Wanderung ins Ausland betroffen haben. Andererseits übte die Handwerkstradition aber auch noch im Zeitalter der Gewerbefreiheit jedenfalls in manchen Berufen einen gewissen Zwang auf die Gesellen aus, der Wanderpflicht zu genügen956 – zumal selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer viele vom berufspädagogischen Nutzen der Wanderschaft überzeugt waren. Dieser Befund bestätigt sich auch für den preußischen Handwerkernachwuchs: Obgleich die Wanderpflicht in Preußen entweder – wie in Westfalen – durch die Beseitigung der Zünfte oder – wie in Ostelbien – aufgrund der Aufhebung des Zunftzwanges durch die Gewerbegesetzgebung der Jahre 1810/11 obsolet geworden war957, wanderten dennoch preußische Gesellen in das

953 Das Verzeichnis führt 44 Städte, vor allem aus Norddeutschland, aber auch aus Dänemark auf; auch das ostelbische Preußen ist mit zahlreichen Orten vertreten; s. Promemoria v. 9.12.1854, in: Stadtarchiv Paderborn 711 a. Schon unmittelbar jenseits der Ostgrenze der Provinz Westfalen, in Holzminden, ließ sich ein solcher Zusammenschluss nachweisen. 954 S. Jeschke (1977), S. 165; auch nach hessischen Zunftquellen war zumeist die dreijährige Wanderzeit vorgeschrieben, s. Emig (1967), S. 212. 955 Jeschke kommt aufgrund der zahlreichen Dispense von der Wanderpflicht zu dieser Auffassung; s. Jeschke (1977), S. 166. 956 In Stade beispielsweise wurden 1832 nur gewanderte Gesellen von ihren Gewerks-Genossen mit „Du“ angeredet, während die ungewanderten zu ihrem Verdruss durch eine förmlichere Anrede ausgegrenzt wurden; s. Jeschke (1977), S. 166. 957 In den wenigen Landesteilen Preußens, in denen die Wanderpflicht noch fortbestand, wurde sie durch das Wanderregulativ des Jahres 1833 aufgehoben; s. „Regulativ des Wanderns der Gewerbsgehülfen für Preußen“ v. 24. April 1833.

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benachbarte Königreich Hannover.958 Die Bemühungen der norddeutschen Vormacht, das „nutzlose Umherwandern“ der Landeskinder jedenfalls im Ausland einzuschränken, war deshalb – nach Auffassung von Jeschke – nur von mäßigem Erfolg gekrönt – eine Ansicht, die durch den Quellenbefund insgesamt bestätigt wird.959 Angesichts der Vielzahl der Verbotsbestimmungen lässt sich vor allem feststellen, dass die preußische Obrigkeit den wandernden Gesellen nichts schenkte. Die Wiederbelebung des korporativen Geistes im Handwerk, welche die Gesetzgebung der Jahre 1845/49 – wenngleich in höchst moderater Weise – beförderte, hatte nur in den engen, seitens des Gesetzgebers gezogenen Grenzen Raum, und der staatliche Ordnungs- und Überwachungsanspruch duldete Reminiszenzen an die Autonomie des Alten Handwerks nicht. In Westfalen spielte die Verfolgung wandernder Gesellen als Mitglieder übernationaler Zusammenschlüsse allerdings nur eine geringe Rolle. Immerhin wurden die Handwerksburschen aber auch in den westfälischen Städten mit besonders aktiver demokratischer Opposition, zu denen Hamm, Minden und Paderborn zählten, und auch in den aufblühenden Industriestädten wie Dortmund scharf kontrolliert.960 Wegen des besonderen Misstrauens vor allem gegenüber den Maurern und des Zustroms von Bauhandwerkern, welche durch die außerordentlich rege Bautätigkeit in den aufblühenden Industriegemeinden des entstehenden Ruhrreviers angezogen wurden, waren insbesondere die Leute vom Bau das Ziel staatlicher Überwachungsmaßnahmen. 5. Die Aufhebung der Wanderpflicht a. Das Verbot des Einwanderns Aufgrund der revolutionären Ereignisse in Frankreich und Polen wurden im Berlin des Jahres 1830 auch wieder der Zuzug fremder Gesellen nach Preußen und die Wanderung des einheimischen Handwerkernachwuchses ins Ausland kritisch diskutiert.961 Im Innen- und Polizeiministerium verlangte man, die Wanderpflicht aufzuheben und die Gesellenverbände zu verbieten.962 Da dies wegen der sozialen Aufgaben der altehrwürdigen, in Ostelbien allenthalben noch existierenden Verbindungen aber nicht ohne weiteres möglich schien, hätten, wollte Preußen der Gesellenorganisationen gänzlich ledig werden, zuvor Ersatzlösungen zur Wahrnehmung dieser Funktionen gefunden werden müssen. Zu den geforderten schwerwiegenden Eingriffen in das Organisationsgefüge der Gesellen kam es deshalb nicht. Doch ordnete der zuständige Minister von Brenn 958 So Jeschke (1977), S. 167. 959 Eine andere Einschätzung der Wirkung des Wanderregulativs findet sich allerdings in Osnabrück, s. Jeschke (1977), S. 430; vgl. Anm. 1008. 960 S. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund Best. 202, B XIII 125, Bd. 3, S. 599. 961 Votum v. 25.11.1830, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 197–200. 962 Votum v. 28.12.1830, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 204.

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1831 immerhin an, das Einwandern ausländischer Handwerksgesellen zu beschränken und die „deshalb besorglichen Nachtheile zu verhüten“.963 Jenen Gewerbegehilfen, welche aus „insurgenten Gegenden oder aus solchen Ländern, wo neuerdings unruhige Bewegungen stattgefunden haben“, kamen, sollte „in der Regel“ die Einreise nach Preußen verwehrt bleiben. Ausnahmen durften nur dann gemacht werden, wenn die Neuankömmlinge aufgrund des schriftlichen Arbeitsangebotes eines preußischen Gewerbetreibenden zuwanderten oder der Grenzübertritt wegen Erbangelegenheiten, eines Vormundschaftsverhältnisses o. ä. schlechterdings nicht versagt werden konnte. Mit diesen Maßregeln wollte die preußische Regierung nicht allein aufrührerische Umtriebe auf ihrem Gebiet verhindern. Die neuen Vorschriften sollten auch die Durchreise von als Wandergesellen getarnten Revolutionären nach Polen, wo damals gerade der sog. Novemberaufstand blutig niedergeschlagen wurde, unmöglich machen. b. Die Aufhebung der Wanderpflicht Der Handels- und Gewerbeminister stand der durch den Innenminister verfügten Einschränkung des Gesellenwanderns keineswegs kritisch gegenüber. Er kam den Intentionen seines Kollegen vielmehr weit entgegen, indem er 1831 erklärte, die Wanderpflicht könne unverzüglich unter dem Gesichtspunkt der „allgemeinen Sicherheitspolizei“ aufgehoben werden, da eine solche Maßnahme nicht in bestehende Rechte eingreife.964 Die völlige Beseitigung der Zünfte in Preußen könne dagegen erst im Zusammenhang mit der Aufhebung der noch bestehenden Zwangs- und Bannrechte erfolgen. Das Gewerbeministerium führte für seine Forderung nach Beseitigung der Wanderpflicht für die zünftigen Handwerksgesellen, welche im ostelbischen Preußen noch immer dominierten, allerdings nicht allein politische Gründe an. Das Ministerium argumentierte vielmehr auch mit der Notwendigkeit, „wirksamere Maßregeln zur Erleichterung der Last der Armenpflege“ zu treffen.965 Der Polizeiminister unterstützte dieses Vorhaben. Man versprach sich in Berlin davon, dass die Zahl der Wandernden stark zurückgehen werde – und damit auch der Anteil jener jungen Leute, welche aufgrund notorischer Mittellosigkeit auf der Reise und in Zeiten der Arbeitslosigkeit verpflegt werden mussten.966 Unübersehbar ließ die deutliche Zunahme der Zahl der Gesellen mögliche Befürchtungen, dass der Arbeitsmarkt bei Aufhebung der Wanderpflicht nicht mehr ausreichend mit Arbeitskräften für das Handwerk versorgt sein könnte, damals bereits obsolet erscheinen. 963 Schreiben des Innen- und Polizeiministers von Brenn v. 11.2.1831 an die Oberpräsidenten, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 206, 207. 964 Schreiben des Gewerbeministers an den Innenminister v. 6.3.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 210. 965 Votum v. 30.5.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 219. 966 Schreiben des Polizeiministers von Brenn an den Gewerbeminister von Schuckmann v. 14.5.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 220. Die von den Zunftstatuten verlangte Wartezeit zwischen dem Ende der Handwerkslehre und der Meisterprüfung sollte nach dem Willen des Ministeriums aber weiter eingehalten werden.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Noch im selben Jahr war es dann soweit: Dort, wo die Wanderpflicht durch die – insbesondere in Ostelbien fortbestehenden – Zünfte noch als Voraussetzung für die Erlangung des Meisterrechts betrachtet und aufgrund der Bestimmungen des ALR vom Staat auch anerkannt worden war, hob Preußen sie zum 1. August 1831 auf.967 Um nicht das Missverständnis aufkommen zu lassen, dass mit der Beseitigung der Wanderpflicht auch die vom Zunftrecht vorgesehene Gesellenzeit entbehrlich geworden sei, stellte die Kabinetts-Order ausdrücklich klar, dass auch zukünftig kein Zunftgeselle vor Ablauf der in den Zunftartikeln vorgeschriebenen Wanderzeit Meister werden könne. Ausnahmen hiervon durften seither überall dort, „wo die Zunftverfassung mit mehr oder weniger Beschränkung in der Monarchie noch besteht“, lediglich durch Genehmigung der zuständigen Provinzial-Regierung erteilt werden. Trotz der weitestgehenden Zunftlosigkeit Westfalens gewann diese Bestimmung aber auch in der westfälischen Provinz Relevanz, und zwar für den Landkreis Wittgenstein sowie für jene westfälischen Gesellen, die sich in anderen preußischen Landesteilen, welche noch die Zünfte kannten, niederlassen wollten. Die Beseitigung der Wanderpflicht auch im Osten signalisierte auch den Gesellen in den westlichen Provinzen unmissverständlich, dass der preußische Staat die hergebrachten Traditionen des Handwerks nicht länger zu schützen bereit war – und er sich insoweit nicht allzu sehr von der vergangenen französischen Fremdherrschaft unterschied. Einmal mehr erfuhren sie, dass ihre überkommenen Ausbildungs- und Lebensformen der in wirtschaftlichen Fragen liberal denkenden Administration in Berlin nur noch wenig bedeuteten. Doch hielt der Gesetzgeber diese seine Intention keineswegs stringent durch. Denn das aus Gründen des Verbraucherschutzes als unerlässlich betrachtete Beharren auf der Ableistung einer bestimmten Zahl von Gesellenjahren orientierte sich doch auch wieder am Zunftbrauch. Dass diese Regelung, sieht man von Wittgenstein ab, nach wie vor nicht in den westlichen Landesteilen, sondern nur im Bereich des ehemaligen „Rumpfpreußens“ galt, wies zudem darauf hin, wie sehr sich die Gewerbeverfassung Ostelbiens noch immer von der gewerbefreiheitlichen Situation in den westlichen Provinzen unterschied. Am 967 Kabinetts-Order des Königs Friedrich Wilhelm v. 1. August 1831, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3, fol. 26; desgl. in: Preußische Annalen 1831, S. 472. Der Text wurde in den Amtsblättern der westfälischen Regierungen zunächst nicht veröffentlicht. 1832 ordnete das Handels- und Gewerbeministerium die Publizierung der Kabinetts-Order auch in Westfalen an; die Bekanntmachung sollte in der weitestgehend zunftlosen Provinz aber mit dem Hinweis verbunden werden, dass sie dem Zwecke diene, Unterstützungsansprüche wandernder Gesellen gegenüber Gewerksgenossen und Gemeinden künftig desto überzeugender zurückweisen zu können; s. Schreiben des Innen- und Polizeiministers an den Oberpräsidenten v. Vincke v. 12.4.1832, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1; vgl. auch Amtsblatt Reg. Minden 1832, S. 155; s. Handbuch zum Amtsblatt Reg. Minden Bd. 1 (1839), S. 417; vgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg 1832, S. 157 (mit dem o. a. Hinweis); desgl. Amtsblatt Reg. Münster 1832, S. 211, 212. Gänzlich unzutreffend ist die Darstellung bei Elkar, Umrisse … (1983), S. 92. Dieser behauptet, der Wanderzwang sei in Deutschland erst durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes v. 21.6.1869 aufgehoben worden. Durch die Einführung der Wanderpässe in Preußen ab 31.8.1831 sei „das Wandern der Handwerksgesellen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gerade erst neu geregelt worden“, s. Elkar, a. a. O.

D. Das Wandern der Gesellen

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Beispiel des Gewerberechts wurde für jedermann einmal mehr deutlich, dass das Königreich keineswegs ein einheitliches Rechtsgebiet bildete. Die Diskussion um mögliche Gefahren durch das Einwandern wirklicher oder angeblicher Handwerksgesellen aus Ländern, in denen damals „politische Aufregung“, wie der Begriff „Revolution“ verharmlosend umschrieben wurde, herrschte, verstummte trotz des Erlasses der Kabinetts-Order v. 1. August 1831 aber nicht. Von verschiedenen Seiten wurde gefordert, ausländischen Gesellen die Einreise in die preußischen Staaten ohne Ausnahme zu verbieten. Weitergehend gab es sogar Überlegungen, das Wandern der Gesellen in der Monarchie grundsätzlich zu untersagen.968 Der Gewerbeminister von Schuckmann fühlte sich deshalb genötigt darauf hinzuweisen, dass er ein generelles Verbot des Einwanderns ausländischer Handwerksgesellen „wegen Furcht vor Verbreitung antisocialer Grundsätze“, wie er die Revolutionsfurcht euphemistisch zu umschreiben sich bemühte, ablehne,969 und auch der Innenminister von Brenn wandte sich gegen so weitreichende Forderungen.970 c. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung während der Wanderschaft Selbst im ostelbischen Teil Preußens, in welchem die Zunftverfassung damals noch weitgehend unbehindert und funktionstüchtig fortexistierte und die Korporationen am Brauch der Unterhaltsleistung für die Wanderer jedenfalls dem Grundsatz nach festhielten, war das Elend pauperisierter Gesellen ausweislich der Feststellungen der Berliner Ministerialbürokratie groß. Schon 1832 hatte der Zustrom arbeitsuchender Gehilfen nach Berlin derartig zugenommen, dass das Gewerbe- und das Polizeiministerium unter Missachtung des Zunftbrauchs das Einwandern in die Hauptstadt untersagen wollten.971 Von dem Verbot sollten lediglich jene Gesellen ausgenommen werden, welche bereits einen Arbeitsplatz bei einem Berliner Meister nachweisen konnten. Grund für diese Restriktionen war die befürchtete Gefährdung des Einkommens der unteren Schichten der Berliner Bevölkerung, welche nicht zuletzt durch öffentliche Bauten ihren Unterhalt fanden, sich durch die Konkurrenz so zahlreicher Neuankömmlinge aber existentiell bedroht sahen. Die Stadt Dresden konnte den Ansturm wandernder Gesellen damals ebenfalls nicht mehr

968 So Schreiben des Innen- und Polizeiministers von Brenn v. 8.9.1831, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3, fol. 24. 969 Votum des Handels- und Gewerbeministers von Schuckmann v. 4.8.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 1, fol. 224, 225. 970 Wie Anm. 968. 971 Schreiben des preußischen Gewerbe- sowie des Polizeiministers an den König v. 22.5.1832, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2. In den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war es zu einem erheblichen Reallohnverfall gekommen. In den zwanziger Jahren verbesserten sich die Reallöhne der handarbeitenden Schichten erheblich, während sie nach 1830, bis um die Jahrhundertmitte, wieder deutlich fielen. Am Ende der vierziger Jahre war das Lebenshaltungsniveau wieder auf den Stand der Zeit um 1800 gesunken; so Saalfeld (1984), S. 230.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

bewältigen, und für Leipzig oder Wien ist das nämliche beschrieben worden.972 Natürlich gab es auch im zunftlosen Westfalen, welches erst seit den zwanziger Jahren wieder einige wenige Selbsthilfeeinrichtungen zur Versorgung der Wanderer entwickelte, mancherorts Not unter den Angehörigen dieses Bevölkerungssegments. Die Kommunen mussten die Mittellosen unterhalten, versuchten aber, wie Beispiele aus Soest zeigen, sich dieser Pflicht zu entziehen.973 Unzweifelhaft ist, dass Staat und Gesellschaft jedenfalls nicht bereit waren, sich mit der wachsenden Zahl arbeitslos herumziehender Gesellen abzufinden: „Das Umherstreichen fechtender Gesellen, welche als „arme Reisende“ massenweise die Thüren in Stadt und – besonders – Land belagerten, erreichte in der That während des Zeitraumes von 1815 bis 1848 einen Grad, welcher augenfällig eine Abhilfe nothwendig machte“,974 bemerkte der handwerkskundige Zeitgenosse Hasemann rückblickend. Von einer Massenarbeitslosigkeit unter den Gesellen zu sprechen verbietet sich, entgegen bisher herrschender Meinung, aber: Die für Westfalen nachgewiesene Vergrößerung der Werkstätten in jenen Jahren zeigt eben auch, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Gesellen damals kontinuierlich, und zwar überproportional,975 anwuchs. Dass das Gesellenwandern gleichwohl aber auch Ausdruck sozialer Probleme war, lässt sich kaum übersehen. Angesichts der „Allgemeinheit der Klagen“ wollte und konnte der preußische Polizeiminister von Brenn nicht leugnen, dass sich zahllose Handwerksburschen arbeitslos im Lande herumtrieben. Zu diesen aus seiner Sicht offenkundigen Missständen habe es kommen können, weil die vorhandenen Vorschriften nicht „in ihrer vollen Strenge“ angewandt worden seien, räumte Brenn 1831 ein: Nicht der Bekämpfung revolutionärer Umtriebe diene die Gesetzgebung zum Gesellenwandern eigentlich; es gehe vielmehr um soziale Probleme größeren, tendenziell kaum überschaubaren Ausmaßes. Mit seinem ehrlichen, bis dahin peinlichst vermiedenen Eingeständnis gab der Innenminister der Diskussion um das Gesellenwandern eine andere Richtung. Er schärfte den Polizeibehörden das geltende Recht nochmals als „strengste Pflicht“ ein und drohte ihnen neuerlich Geldbußen für den Fall an, dass sie gegenüber wandernden Gesellen Nachsicht übten.976 Der Gewerbeminister von Schuckmann wollte da nicht zurückstehen: 1832 wies er erneut darauf hin, dass nur noch diejenigen Gewerbegehilfen wandern dürften, welche über die nötige Barschaft verfügten; Mittellose dagegen, die nur dem Gemeinwesen zur Last fielen, sollten unverzüglich in ihre Heimat zurückgeschickt werden. Ausländische Gesellen sollten künftig ausschließlich dem allgemeinen Polizeirecht unterworfen sein.977 Mit den „schonenden Rücksichten“, welche die Obrigkeit bislang gegenüber bettelnden Gesellen geübt habe, müsse es ein für allemal vorbei 972 S. Kuba (1990), S. 63. In Wien entfielen auf einen Arbeitsplatz im Schneiderhandwerk zwischen 1836 und 1850 sieben bis acht Zuwanderer. In Leipzig kamen im Jahr 1834 auf einem Arbeitsplatz im Handwerk fünf bis sechs Zuwanderer; s. Ehmer/Reith (2002); S. 249. 973 S. Joest (1978), S. 113; der Soester Bürgermeister warnte 1824 davor, bettelnde Handwerksburschen zu unterstützen; vgl. dazu auch Hüffer (1952), S. 395. 974 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 975 Dazu ausführlich die Auswertung der Statistiken, s. Deter (2005). 976 Wie Anm. 968. 977 So Schreiben des Gewerbeministers von Schuckmann an den Polizeiminister von Brenn v. 29.1.1832, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 4.

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sein. Der Einsicht, dass die zunehmende Bettelei vor allem auch durch Arbeitslosigkeit unter den Handwerksgesellen veranlasst war, korrespondierte merkwürdigerweise aber nicht die naheliegende Erkenntnis, dass die Probleme durch soziale Maßnahmen oder eine effiziente Handwerksförderung wenigstens gemildert werden könnten. Etwas Besseres als die altbekannte Repression gegenüber den Gesellen fiel den Ministern nicht ein.978 Immerhin stimmten sie überein, dass die bisherigen Vorschriften keineswegs ausreichten, um das „Umherschweifen“ mittelloser in- und ausländischer Handwerksgesellen zu unterbinden und den aus deren Mobilität resultierenden „Übelständen“ entschlossen entgegenzuwirken. Denn die als Remedium gedachte Aufhebung der Wanderpflicht blieb, so zeigte sich bald, den erwünschten Effekt, die Zahl der arbeitslos im Lande herumwandernden Gesellen deutlich zu reduzieren, schuldig. Unverändert wurden in Preußen Jahr für Jahr etwa 4.000 bettelnde Handwerker durch die Polizei aufgegriffen, und der zuständige Minister hegte keinerlei Illusionen darüber, dass die Zahl der nicht aktenkundig gewordenen „Stromer“ um ein Vielfaches höher lag.979 Dass es sich bei diesem Problem vor allem in Ostelbien, aber auch in Westfalen um eine Folge der Bevölkerungszunahme bei noch unzureichender Aufnahmefähigkeit der gewerblichen Wirtschaft, keineswegs aber um das Ergebnis der Gewerbefreiheit handelte, belegt einmal mehr die einfache Methode des Vergleichs: Dieser zeigt nämlich, dass eben jene Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in den an der Zunftverfassung festhaltenden Nachbarländern Preußens damals mit nicht geringerer Intensität erörtert und ähnliche Lösungen wie seitens der norddeutschen Vormacht gesucht wurden. Jeschke hat für das Königreich Hannover festgestellt, dass die zwanziger Jahre, der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung entsprechend, zunächst noch keinen Arbeitskräfteüberschuss im Handwerk kannten.980 Dies habe sich gegen Ende des Dezenniums aber durchaus geändert: „Die Zahl der Handwerker vermehrt sich mit jedem Jahr, Gesellen sind im Überfluss zu haben, dahingegen die Arbeit merklich abnimmt“, hieß es 1829 in Stade;981 Klagen mit ähnlichem Tenor rissen in der Zeit des Vormärz nicht mehr ab. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass das Gesellenwandern seit dem Ende der zwanziger Jahre aufgrund der Bevölkerungsentwicklung eine größere Dimension gewann. Um exakt festzustellen, ob und inwieweit die veränderte sozio-ökonomische Situation einerseits Einfluss auf die Gesetzgebung hatte und andererseits die Legislatur das Wanderverhalten zu bestimmen vermochte, wäre es wichtig zu wissen, wie sich die Arbeitsmarktlage in den verschiedenen Handwerkssparten entwickelte. Die Beschäftigungsmöglichkeiten der Wandergesellen in Westfalen oder gar im größeren Rahmen Preußens en detail darzustellen ist allerdings nicht möglich: 978 Zwar gab es in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus Ansätze für gezielte Wirtschaftsförderung zugunsten des Handwerks durch den Staat. Die Erfolge blieben aber marginal. S. dazu ausführlich Deter (1990), S. 101–126. 979 S. Schreiben des Polizeiministers von Brenn an den Handels- und Gewerbeminister von Schuckmann, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 32. 980 S. Jeschke (1977), S. 427. 981 Zitiert nach Jeschke (1977), S. 427.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Die Hinweise in den wenigen überlieferten Wanderbüchern reichen als Grundlage genereller Antworten auf diese Frage nicht aus, und die Daten der Handwerkerstatistiken, welche keine Angaben ´über die Zahl arbeitsloser Handwerker enthalten, lassen es lediglich zu, die großen Linien der Entwicklung nachzuzeichnen. Jeschke hat die Einschreibebücher für zugewanderte Buchbindergesellen aus Hildesheim und Osnabrück ausgewertet und bemerkt, dass die Zahl der in diese Städte einwandernden Gesellen nach 1820 stark anstieg, in den Jahren 1830 bis 1835 zurückging, um dann aber, bis zum Beginn der großen Krise 1847, in einem bis dahin unbekannten Maße zuzunehmen.982 Die Arbeitslosigkeit unter den Wandergesellen erreichte eben auch in den Zunftländern jenseits der preußischen Grenzen einen der Obrigkeit bedrohlich erscheinenden Umfang, und die daraus resultierenden Folgeerscheinungen, die Bettelei zumal, stießen auch in den Nachbarländern weder bei den Behörden noch bei der Bevölkerung auf das mindeste Verständnis.983 Zwar können solche Feststellungen zur Entwicklung in einzelnen Orten und bestimmten Handwerken, noch dazu solchen von marginaler Bedeutung, nicht verallgemeinert werden. Doch lässt sich aus den vorhandenen Quellen immerhin erkennen, dass die in den dreißiger und vierziger Jahren schnell wachsende Zahl umherziehender Handwerksburschen zum typischen Ausdruck einer für manche Gewerbesparten signifikanten, spezifischen Form der Unterbeschäftigung geworden war. Aus alledem folgt, dass der Nexus zwischen Arbeitsmarktlage und Gesetzgebung zur Gesellenwanderschaft nicht en detail, sondern nur im Grundsatz nachweisbar ist. Da die Situation in den Nachbarländern Preußens nicht anders als in Berlin beurteilt wurde, fielen die Bestimmungen, welche erlassen wurden, um der unliebsamen Begleiterscheinungen des Beschäftigungsmangels Herr zu werden, dementsprechend ähnlich aus. Gesellen, die stellungslos wurden und am Ort keinen neuen Arbeitsplatz fanden, mussten aufgrund der ortspolizeilichen Bestimmungen auch im Königreich Hannover unverzüglich die jeweilige Stadt verlassen.984 Damit geriet die Arbeitslosigkeit jener Gewerbegehilfen, welche aus ihrem Heimat- oder Ausbildungsort weggewandert waren, zu einem staatlichen Problem. Der – idealiter auch intendierte – Charakter der Wanderschaft als Zeit der Aus- und Fortbildung trat unter diesen Umständen naturgemäß hinter dem Aspekt der Arbeitsuche zurück.985 Wie die preußische Ministerialbürokratie bemühte sich auch das hannover982 S. Jeschke (1977), S. 431, 432. Auch für das Kieler Buchbinderamt konnte ermittelt werden, dass dort zwischen 1680 und 1865 stets ein Überangebot an Gesellen bestanden hat, und zwar zumeist um mehr als 50 %. Tendenziell nahm die Arbeitslosigkeit dort zu, und zwar am stärksten im 19. Jahrhundert; s. Fröhlich (1976), S. 128 unter Bezugnahme auf Hähnsen (1923). 983 So behauptete der Zeitgenosse Hasemann, am meisten hätten gegen die restriktiven, die Freiheit beschränkenden Gesetze „die alten Stromer“ raisonniert, „welchen das Fechten und das Nichtsthun besser gefiel als das Arbeiten, Lernen und Sparen“; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 984 So Jeschke (1977), S. 428. 985 1832 beantragte bspw. ein Buchbindergeselle in Hildesheim die Niederlassung als Meister mit der Begründung, es sei sehr schwierig, am Ort oder in anderen Städten einen angemessen bezahlten Arbeitsplatz als Geselle zu finden; er würde „wochen-, ja monatelang wandern müssen, ehe er Arbeit erhalte“; zitiert nach Jeschke (1977), S. 322. Ein aussagekräftiger Hinweis auf die Arbeitsmarktsituation der Wandergesellen in jenen Jahren ergibt sich auch aus dem Wander-

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sche Innenministerium, die zunehmende Zahl bettelnder und auf der Straße „herumschweifender“ Gesellen zu reduzieren; es verlangte, „dass kein fremder Handwerks-Bursche über die Gränze gelassen werden soll, welcher nicht ein gewisses Zehrgeld (3 bis 5 Rtl.) bey sich führt“.986 Eine solche Regelung war auch schon in Kurhessen in Kraft getreten. Der Osnabrücker Magistrat unterstützte ebenfalls diesen Vorschlag seiner Regierung, da sich Gesellen als „Bettler“ und „Müßiggänger“ umhertrieben.987 Sensibilität für soziale Missstände im allgemeinen und die existenziellen Probleme des nicht reüssierenden Teils der Bevölkerung im besonderen waren allenthalben noch wenig entwickelt; erst mit der Pauperismusdiskussion der vierziger Jahre fanden derartige, an der humanitas orientierte Empfindungen breiteren publizistischen Niederschlag. d. Die Beschränkung der Wandererlaubnis auf bestimmte Berufe 1833 stellte der preußische Innen- und Polizeiminister von Brenn neuerlich fest, dass eine große Zahl von wandernden Handwerksgesellen „zwecklos im Lande herumschweift“, welche die Gewerksgenossen und die Bevölkerung insgesamt belästige und die öffentliche Sicherheit gefährde.988 Der Erlass einer auf die nachhaltige und dauerhafte Reduzierung der Zahl der Wandergesellen gerichteten Regelung wurde deshalb zu einem wichtigen politischen Ziel989 der preußischen Politik, zumal die zu diesem Gegenstand bereits „wiederholendlich erlassenen Verordnungen“ offensichtlich wirkungslos geblieben waren: Brenn glaubte deshalb, dass es an der Zeit sei, eine Verordnung zu erlassen, welche diesen Übelstand durch ein ganzes Bündel rigoroser Maßregeln endgültig

buch eines Nürnberger Töpfergesellen, der 1808 geboren, 1835 die Wanderschaft antrat und 1842 in Stade starb. Die längsten Arbeitsverhältnisse hatten 6 Monate angedauert (2mal), am häufigsten hatte er für 2 Monate Arbeit gefunden, 4mal aber auch nur für 2 Wochen. Arbeitslosigkeit von ca. 1 Monat hatten diese Erwerbsbiographie immer wieder unterbrochen. Dementsprechend bestand die Hinterlassenschaft dieses Gesellen neben der Kleidung auch nur aus einem winzigen Bargeldbetrag (1 Louis d’or, 1 Dukat, 1 Rtl., 3 Gr.), s. Jeschke (1977), S. 430. Für Passauer Handwerker ist festgestellt worden, dass der Durchschnitt der Arbeitsdauer bei einem Meister während der Wanderschaft nicht mehr als 3 Wochen betragen hat. 80 % der in dieser Analyse untersuchten Arbeitsverhältnisse währten weniger als 1 Jahr; s. Kuba (1990), S. 82. Gleichwohl unterscheidet sich die hier beschriebene Wanderung zur Arbeitssuche sehr von der oben dargestellten „Migration zur Arbeitssuche“ in das entstehende Ruhrrevier. Letztere betraf vor allem „Arbeiter-Gesellen“, die einen längerfristig einigermaßen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz, nicht aber berufliche Weiterbildung erstebten. Zur Dauer der Wanderschaft s. oben. 986 So Schreiben v. 20.10.1828, zitiert nach Jeschke (1977), S. 429. 987 So Jeschke (1977), S. 430, m. w. Nachw. 988 Die preußischen Handwerkertabellen vermögen die hier zu erörternden Fragen naturgemäß nicht erschöpfend zu beantworten, da sie lediglich die Zahl der in Arbeit befindlichen Gesellen wiedergeben, die Zahl der arbeitslos auf der Walz umherwandernden Hilfskräfte aber nicht mitteilen. 989 So Schreiben des Polizeiministers von Brenn an den Gewerbeminister von Schuckmann v. 23.3.1832, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 11.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

beseitigen sollte:990 Ein sogenanntes „Regulativ“ stellte das Recht der wandernden Gesellen auf eine völlig neue Basis. Wanderpässe durften seither nur noch solchen Inländern erteilt werden, in deren Handwerk die Walz allgemein üblich und zur Vervollkommnung der beruflichen Fertigkeiten unzweifelhaft erforderlich war. Die reiselustigen Gesellen mussten „völlig unbescholten“, bei guter Gesundheit, noch nicht 30 Jahre alt, mit den erforderlichen Kleidungsstücken „nebst Wäsche“ und – bei Antritt der Wanderschaft – einem Reisegeld von mindestens 5 Talern versehen sein. Wer bereits 5 Jahre fort gewesen war, erhielt keinen Wanderpass mehr. Besonderen Wert legte der Gesetzgeber aus naheliegenden Gründen nunmehr auf die genaueste Kontrolle des Reiseweges. Im Wanderbuch oder –pass musste der jeweils nächste Bestimmungsort angegeben und das Legitimationspapier nach der Ankunft sogleich durch die örtliche Polizeibehörde „visirt“, also mit einem Sichtvermerk versehen werden. Dem Wandernden war es untersagt, von der in dem Pass angegebenen Route und dem dafür erforderlichen Zeitrahmen abzuweichen – es sei denn, er ließ einen anderen Weg in das Papier eintragen. Fand der Geselle am Bestimmungsort keine Arbeit oder wollte er sich dort nicht verdingen, musste er nach Ablauf eines von der Polizeibehörde festgesetzten Zeitrahmens weiterwandern. Die Fortsetzung der Wanderschaft wurde untersagt, wenn der Geselle die im Pass angegebene Route nicht eingehalten oder am Bestimmungsort über die erlaubte Zeit hinaus verweilt hatte, über 8 Wochen arbeitslos war, seine Gewerbegenossen oder andere Personen um eine Unterstützung gebeten, also gebettelt oder sich einer Straftat schuldig gemacht hatte. Denjenigen Handwerksgesellen, welche keine vollständigen Legitimations-Papiere bei sich führten, war das Wandern ohnehin nicht gestattet. Handwerksburschen, die mit beschränkter Reiseroute zu ihrem Ausgangsort zurückgeschickt wurden, durften – unter Androhung sofortiger Verhaftung – nur mit Genehmigung der örtlichen Polizeibehörde von diesem Weg abweichen. Im Falle einer solchen Zurückweisung war es den Behörden frühestens nach Ablauf von 6 Monaten gestattet, erneut einen Wanderpass zu erteilen. Die Papiere behielten ihre Gültigkeit seither lediglich für die Dauer von 5 Jahren. Wegen der latenten Revolutionsfurcht wurden die Anforderungen an ausländische Wanderburschen noch strenger als diejenigen an die preußischen Untertanen gefasst: Ausländer durften in der Monarchie nurmehr dann wandern, wenn sie ein von der zuständigen Heimatbehörde ausgestelltes Wanderbuch oder einen Wanderpass bei sich führten, in den letzten 8 Wochen mindestens 4 Wochen gearbeitet hatten991 und im übrigen auch alle für preußische Untertanen geltenden Bedingun990 Regulativ in Betreff des Wanderns der Gewerks-Gehilfen v. 24.4.1833, in: Amtsblatt Reg. Minden 1833, S. 150–154; desgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg 1833, S. 135–138; desgl. Amtsblatt Reg. Münster 1833, S. 183–188; desgl. Preußische Annalen 1833, S. 800; desgl. in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3, fol. 43–46; desgl. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 35–40; 1837 wurde klargestellt, dass Unterbrechungen der Wanderzeit, z. B. durch den Militärdienst, auf die auf 5 Jahre beschränkte Wanderzeit nicht angerechnet werden sollten, es sei denn, der Geselle überschritte durch diese Verlängerungsmöglichkeit das 30. Lebensjahr ; s. Verordnung v. 20.12.1836, in: Amtsblatt Reg. Minden 1837, S. 3. 991 Ausländische Gesellen, die 8 Wochen ohne Arbeit waren, sollten, „mag die Arbeitslosigkeit übrigens verschuldet oder unverschuldet gewesen sein“, über die Grenze zurückgewiesen werden.

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gen (Gesundheit und Besitz der Reisemittel, „um nach pflichtmäßigem Ermessen der Grenz-Behörden ohne Unterstützung an den Bestimmungsort gelangen zu können“) erfüllten.992 Lediglich jene ausländischen Gesellen, die einen Arbeitsvertrag mit einem in der Monarchie wohnhaften Meister vorweisen konnten, waren von den genannten Bedingungen befreit. In diesem Falle reichte es aus, wenn die Neuankömmlinge gesund waren und die für die Reise notwendige Barschaft besaßen. Um die Durchsetzung der zahlreichen Detailbestimmungen des Regulativs zu gewährleisten, drohte der Gesetzgeber den Polizeibehörden „nachdrückliche Ordnungsstrafen“ sowie den Ersatz der Transportkosten eines abzuschiebenden Gesellen für den Fall an, dass sie ihren aus der Verordnung resultierenden Amtspflichten nicht minutiös nachkämen.993 Auch in Westfalen verlor das Problem des – aus der Sicht der Behörden nunmehr unerwünschten – Gesellenwanderns trotz dieser rigorosen Bestimmungen aber nichts von seiner Aktualität. Gegen Ende des Jahres 1834 schon schärfte die Mindener Regierung den Polizeibehörden wie den Handwerkern erneut jene die Bewegungsfreiheit der Gesellen beschränkende Verordnung vom 24.4.1833 ein.994 Offenbar ließ die Beachtung der Bestimmungen zu wünschen übrig; jedenfalls wies die Regierung nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die Wanderburschen bei Antritt der Wanderschaft das Reisegeld von 5 Tlr. besitzen müssten und ihnen im Falle der Bettelei bzw. der Nachsuche um das sog. Viatikum die Fortsetzung der Wanderschaft ohne Pardon untersagt werden sollte. In Minden machte man kein Hehl daraus, dass mit dem Regulativ beabsichtigt war, den schlechter gestellten Gesellen das Wandern zu vergällen: Die Regierung stand nicht an zu betonen, dass mit diesen Maßregeln der „wohltätige“ Zweck verfolgt werde, das „arbeitslose Umhertreiben unbemittelter Gesellen zu beschränken“. e. Die Gewerbeordnung des Jahres 1845 Die Haltung des preußischen Gesetzgebers zur Wanderschaft der Gesellen blieb, wie so oft im Bereich des Handwerksrechts jener Jahre, allerdings durchaus ambivalent: Einerseits bestätigte die 1845 in Kraft getretene Gewerbeordnung in ihrem § 143 die Aufhebung des Wanderzwangs noch einmal.995 Mehr noch, sie suchte die Wirkung der auf die Reduzierung der Zahl der Wandergesellen gerichteten Bestimmungen aus den Jahren 1831/33 zu verstärken und zu unterstützen, indem sie ausdrücklich die Verpflichtung der Gewerke wie der Gesellenkassen beseitigte, aufgrund bis dahin gültiger Bestimmungen oder des Handwerksbrauchs den Wande-

992 Zum Einreiserecht ausländischer Handwerksgesellen s. Votum des Polizeiministers von Brenn v. 26.10.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 227. 993 Die Vorschriften des Wanderregulativs sind kurz dargestellt bei Rohrscheidt (1898), S. 619, 620. 994 Amtsblatt Reg. Minden, 1834, S. 576, 577. 995 Allgemeine Gewerbeordnung v. 17.1.1845, in: Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 41 ff.; Rudolph (1935), S. 36, ist fälschlicherweise der Auffassung, die Wanderpflicht sei in Preußen erst durch die Gewerbeordnung des Jahres 1845 aufgehoben worden.

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rern „Geschenke“ zu geben (§ 143 GewO).996 Andererseits erklärte das sog. „Normalstatut“ zur Gewerbeordnung von 1845: „Der Wanderzwang ist zwar aufgehoben; jedoch sind die Vortheile der Wanderung unverkennbar, und wird das Wandern daher, soweit es aus eigenen Mitteln erfolgen kann, als nützlich den Gesellen empfohlen“.997 Das Wandern sollte demnach noch immer nur dem pauperisierten Teil der Gesellen verleidet werden, während der Gesetzgeber dem ohnehin begünstigten Nachwuchs in den expandierenden Gewerben die berufspädagogischen Vorzüge dieses Brauches durchaus nicht vorenthalten wollte. Das Entgegenkommen gegenüber den Forderungen der Handwerker, welches die Gewerbeordnung prägte, fand auch in dem ausdrücklichen Hinweis auf die positiven Aspekte der Wandersitte seinen Ausdruck. Nicht zuletzt dürfte es aber die Obsorge für die Prosperität des preußischen Staates gewesen sein, welche dem Ministerium bei der Formulierung des Normalstatuts die Feder geführt hatte. f. Die Auffassungen der Gesellen und Meister Die gleichwohl seitens des preußischen Gesetzgebers so unübersehbar intendierte Erschwerung des Wanderns lag – naturgemäß – keineswegs im Interesse der Meister und Gesellen. Vor allem letztere wussten die Vorzüge dieses ehrwürdigen Instituts noch immer zu schätzen – die berufspädagogische Nützlichkeit ebenso wie die Möglichkeit, sich in Zeiten knapper Arbeitsplätze einen größeren Arbeitsmarkt zu erschließen. Als der Druck des Staates auf die Gesellen infolge der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 kurzzeitig nachließ und die Gewerbegehilfen sich erstmals mit ihren Petita in qualifizierter Form an eine größere Öffentlichkeit wenden konnten, verlangten sie sans phrase das sofortige Ende der Behinderung des Gesellenwanderns durch den Staat: „Allgemeine Wanderpflicht der Gesellen und möglichste Erleichterung des Wanderns hinsichtlich der Legitimationspapiere, der Ableistung der Militärpflicht und Beseitigung der bisherigen Schikanen durch Nachweis eines Reisegeldes“ forderte – unter Bezugnahme auf den im Juni 1848 in Frankfurt abgehaltenen Handwerkerkongress998 – keineswegs allein der publizistisch hervortretende Breslauer Gürtler-Geselle Weiß,999 sondern auch zahlreiche Meister aus Westfalen. In ihren Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung empfahlen sie immer wieder eine obligatorische zwei- oder dreijährige Wanderzeit für diejenigen Gewerbegehilfen, welche sich selbständig machen wollten.1000 Eine 996 Nach den Feststellungen Hasemanns behielten die meisten „geschenkten“ Handwerke die sog. „Geschenke“ aber bei; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. Zur Sitte eben dieses „Zehrgeldes“ s. das Kap. „Das Viaticum“. 997 Zitiert nach Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 998 Der Entwurf des Volkswirtschaftlichen Ausschusses des Paulskirchen-Parlaments für eine Gewerbeordnung des Deutschen Reiches bestimmte in seinem 2. Abschnitt, dass „das Wandern von jeder Erschwerung zu befreien“ sei; s. Schmigalla (1950), S. 75 f. 999 W. Weiß, Beleuchtung der Ursachen des Verfalls der Handwerker … (1980), S. 225. 1000 So Petitionen der Handwerker in Paderborn v. 20.6.1848, der Handwerker des Kreises Siegen v. 25.7.1848, der Gußschmiede in der Stadt Soest v. 11.10.1848, der Bäcker der Stadt Soest v. 28.8.1848, der Schuhmacher der Stadt Soest v. 31.10.1848, der Schreiner der Stadt Soest v. 3.9.1848, der Kürschner der Stadt Soest v. 11.9.1848, des Handwerkervereins des Kreises

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Ausnahme sollte lediglich für solche Meistersöhne gelten, deren Väter nicht mehr arbeitsfähig waren und die deshalb baldiger Entlastung bedurften.1001 Natürlich ist auch der Eigennutz, von dem sich die Meister bei diesen Forderungen leiten ließen, nicht zu übersehen: Sie wollten durch eine Verlängerung der Ausbildungszeit die Zahl der Selbständigen im Kleingewerbe reduzieren. Auf die Beibehaltung des Wanderbuches als eines Kontrollmediums gegenüber den Gesellen legten sie ebenso Wert1002 – und teilten so ganz ungeniert die Ziele ihrer Obrigkeit. g. Die Wirkung der Aufhebung der Wanderpflicht Ist schon der Einfluss demographischer Veränderungen auf das Wanderverhalten nicht exakt zu analysieren, so lässt sich – jedenfalls im Detail – noch weniger eindeutig nachweisen, inwieweit die Aufhebung der Wanderpflicht in Preußen die Wandersitte der Gesellen zu bestimmen vermochte. Nichtsdestoweniger soll aber wenigstens die Annäherung an eine gültige Antwort auf die komplexe Frage nach dem Verhältnis von Rechtssatz und Rechtswirklichkeit auch in diesem Regelungsbereich versucht werden. Zweifellos tut Differenzierung not: Einerseits brachte die Beseitigung der Wanderpflicht den Handwerksbrauch weder in Westfalen noch anderwärts zum Erliegen. Die Genehmigungspflicht hinderte den Nachwuchs ebenso wenig generell daran, ins nichtpreußische „Ausland“ zu reisen. Auch nach Erlass des Wanderregulativs von 1833 gingen, wie bereits festgestellt, preußische Gesellen in das Königreich Hannover.1003 Selbst die – allerdings wenig typische – Gesellenreise nach Süddeutschland oder Österreich brach nicht ab, wie die Biographien einzelner Handwerker zeigen. So holte der Tischlergeselle Gerhard Heinrich Budde aus Warendorf 1840 die Genehmigung für einen fünfjährigen Aufenthalt im Ausland ein; diese Jahre verbrachte er dann, der Familientradition folgend, vor allem in Prag und in Wien.1004 Sogar Fälle ausgedehnter Wanderungen in ferne WeltgegenMeschede v. 30.8.1848, der Handwerker der Stadt Hamm v. 18.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 24, 74, 90, 104, 137, 169, 188, 195, 206. Reith weist aufgrund Berliner Quellen darauf hin, daß gewanderte Gesellen in einigen Gewerken als höher qualifiziert galten; so Reith (1992), S. 68. 1001 So Petition der Paderborner Handwerker v. 20.6.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 24. 1002 So die Schuh- und Kleidermachermeister in Minden in ihrer Petition v. 25.5.1848, die Handwerker des Kreises Siegen in einer Petition v. 25.7.1848 sowie die Schlossermeister in Soest v. 26.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 9, 89a, 192. 1003 S. Jeschke (1977), S. 167. 1004 Seibert (1997), S. 62, 63; Budde wanderte 1840 nach Dresden, wo er 3 Wochen arbeitete, war dann in Pirna zunächst 3 Tage und eben dort dann in einer anderen Werkstatt 6 Wochen tätig. Wenige Tage später trat er in Trietzschewitz einen siebenwöchigen Arbeitsaufenthalt bei einem Orgelbaumeister an; darauf folgten weitere kurzzeitige Arbeitsverhältnisse. Nach dreitägiger Wanderung erreichte er von Dresden aus Teplitz, wo er 6 Wochen beschäftigt war. In Prag verblieb er 6 Jahre; zunächst war er fast 4 Jahre bei einem Meister und dann nochmals 2 Jahre bei einem sog. „Tischlerfabrikanten“ tätig. Schließlich war er noch 14 Monate in Wien beschäftigt, bevor er nach Warendorf zurückkehrte; diese kaum durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Arbeitsbiographie des Tischlergesellen aus Warendorf mag untypisch gewesen sein. Gerhard Budde stammte aus einer bekannten Werkstatt und dürfte überdurchschnittlich

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den lassen sich in jenen Jahren auch für andere westfälische Gesellen belegen. So durchzog der Schneidergeselle Holthaus aus Werdohl 1824 bis 1840 Osteuropa und Westasien; seine Erlebnisse hielt er in einem Buch fest, welches von den Zeitgenossen viel gelesen wurde.1005 Dass das Gesellenwandern trotz aller „Paßquälerei“ in den dreißiger und vierziger Jahren jedenfalls in absoluten Zahlen stark zugenommen haben muss, lässt sich auch mit dem vermehrten Erscheinen einschlägiger Sachbücher belegen: Während in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur eine Informationsschrift über das Wandern erschien, kamen in dem Dezennium zwischen 1830 und 1840 mehr als ein Dutzend Reise- und Wanderbücher für Gesellen auf den Markt, die rasch aufeinanderfolgende Auflagen erlebten. Hieraus ist zu Recht geschlossen worden, „dass die Wanderlust der deutschen Handwerksgesellen in dieser Zeit nicht nachgelassen hat“.1006 Andererseits blieben die harschen Vorschriften jener Jahre aber auch nicht ganz folgenlos. Als die altwestfälische, damals aber bereits zum Königreich Hannover gehörende Stadt Osnabrück es dem preußischen Gesetzgeber gleichtat und ein Einwanderungsverbot für mittellose und länger als 8 Wochen arbeitslose bzw. nicht gegen Pocken geimpfte Gesellen erließ, kam es dort sogleich zu einem fühlbaren Arbeitskräftemangel insbesondere in den Bauberufen und bei den Schlossern und Tischlern. Der Osnabrücker Magistratsbericht machte hierfür aber auch das preußische Wanderregulativ verantwortlich, da dieses aufgrund der geographischen Situation nicht allein das Einwandern nichtpreußischer Ausländer in das Königreich Hannover erheblich erschwere (Hannover lag zwischen den damals räumlich noch getrennten Landesteilen Preußens, nämlich den Westprovinzen Rheinland und Westfalen einer- und Ostelbien andererseits), sondern auch den preußischen Untertanen selbst die Wanderschaft innerhalb ihres Landes ebenso wie auch das Reisen ins Ausland verleide.1007 In Osnabrück hatten die städtischen im Verein mit den preußischen Vorschriften die missliche Folge, dass von Süden, aus der Provinz Westfalen, eine geringere Zahl von Gesellen als zuvor zuwanderten. Handwerker, die aus dem Norden Deutschlands in den Süden reisen wollten, mieden die Stadt ebenfalls und nahmen den Weg über Hannover, um bei der Weiterreise nicht preußisches Territorium betreten zu müssen.1008 Aus diesen Wirkungen der restriktiven Wandergesetzgebung Preußens zu schließen, dass die Gesellen all die kleinlichen Bestimmungen, die der Gesetzgeber ihnen zumutete, exakt eingehalten hätten, wäre allerdings auch verfehlt. So galt es

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qualifiziert gewesen sein. Sein Bruder wanderte ebenfalls nach Süden; er kehrte nicht in die Heimat zurück und ließ sich 1840 in Triest nieder. S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. So Schieder (1963), S. 88. S. Jeschke (1977), S. 430, unter Hinweis auf den Magistratsbericht v. 22.6.1838. Reith belegt aufgrund von Quellen aus Bayern und Sachsen, daß die Beseitigung der Wanderpflicht dort zu einer Verkürzung der Wanderzeit der Gesellen führte; s. Reith (1992), S. 68. S. Jeschke (1977), S. 430. Inwieweit es für das frühe 19. Jahrhundert noch zutrifft, dass westfälische Gesellen den oberdeutschen Raum mieden und umgekehrt, bedarf ebenfalls noch genauerer Untersuchungen. So Reininghaus (1985), S. 133; s. dazu auch Reininghaus (1984), S. 219–241. Zur Einwanderung Tiroler Bauhandwerker nach Westfalen s. Pieper-Lippe/ Aschauer (1967), S. 119–193.

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als notorisch, dass die Polizei hinsichtlich der von den Hilfskräften mitzuführenden Barschaft und Wäsche „sehr oft betrogen“ wurde. Bei der Einhaltung der Altersgrenze von 30 Jahren für Wanderburschen, welche leicht zu kontrollieren war, kannte die Polizei dagegen kein Pardon.1009 Die „alten Stromer“ wurden von den Landstraßen vertrieben: „… gerade sie sollten getroffen werden, und sie wurden getroffen, zum Wohle des Handwerkerstandes“, stellte der Zeitgenosse Hasemann 1856 rückblickend fest.1010 Will man die Wirkung der Vorschriften beurteilen, kann demnach nicht genug differenziert werden. Cum grano salis lässt sich feststellen, dass die restriktiven rechtlichen Rahmenbedingungen durchaus Wirkungen zeitigten, den Westfalen, sofern sie dafür überhaupt aufgeschlossen waren, das Wandern aber nicht grundsätzlich vergällten. Aufgrund der schnell zunehmenden Gesellenzahlen dürfte die Anzahl der Wanderer bis zur Jahrhundertmitte sogar noch gestiegen sein. h. Unauflösbarer Problemstau Merkwürdig berührt bei den wiederholten Versuchen des preußischen Gesetzgebers, das Wandern mittelloser Gesellen und damit das Betteln dieser – auch für die Zeitgenossen – unzweifelhaft Armen zu unterbinden, das völlige Fehlen jedweder Auseinandersetzung mit den Ursachen der zunehmenden Verelendung jedenfalls eines Teils der Hilfskräfte im Kleingewerbe. Ebenso wenig trieb der Gedanke der Fürsorge für diese Benachteiligten den Gesetzgeber um. Ziel seiner Überlegungen war es, wie bereits festgestellt, allein, die Bevölkerung vor Bettelei, Kriminalität, gesundheitlichen Gefahren und – durch die Inanspruchnahme der örtlichen Armenkassen – höheren Steuern zu schützen. Offenkundig wollte die Obrigkeit – ebenso wie die Bürger – durch die Folgen des starken Bevölkerungswachstums im Vormärz, welches wegen der beschränkten Aufnahmefähigkeit von Landwirtschaft und Gewerbe in der Zeit vor Beginn der Hochindustrialisierung jedenfalls partiell zu Arbeitslosigkeit und verdeckter Unterbeschäftigung führen musste, möglichst wenig belästigt werden. So suchte sie Symptome zu kurieren, statt sich den Wurzeln des Übels anzunehmen. Dabei war den Zeitgenossen durchaus nicht gänzlich verborgen geblieben, worauf die Verelendung immer größerer Teile der Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruhte: 1848 schrieb der schon genannte Breslauer Gürtlergeselle W. Weiß: „Es ist allgemein anerkannt, dass der Hauptsitz unseres sozialen Elendes in dem gänzlichen Verfall des Handwerkerstandes zu suchen sei, und dieser Schluss ist vollkommen richtig. … der gewöhnliche Mensch sagt, die Übervölkerung sei schuld an diesem Verfall unseres Handwerkerstandes; dem ist aber nicht so …“.1011 Die Handwerker selbst, und so auch Weiß, machten die Gewerbefreiheit für ihre Anpassungsprobleme an die größer gewordenen Märkte und den Niedergang einzelner, in Folge der industriellen Fertigung nicht mehr konkurrenzfähiger Produktionshandwerke verantwortlich. Sein Hinweis auf die Mehrheitsmeinung, welche die Übervölkerung als Ursache betrachte, verrät 1009 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 1010 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 1011 S. W. Weiß, Beleuchtung der Ursachen des Verfalls der Handwerker … (1980), S. 221, 222.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

aber, dass die zutreffende Situationsanalyse durchaus verbreitet war. Das Problem des schnell wachsenden Arbeitskräfteangebots konnte vor Beginn der Hochindustrialisierung nicht gelöst werden, da – mit Ausnahme der Forcierung der Auswanderung – die Mittel, insbesondere das notwendige Wirtschaftswachstum, fehlten, um der latenten Arbeitslosigkeit einer stetig größer werdenden Zahl von Angehörigen der „handarbeitenden Klassen“ und den daraus resultierenden Verelendungstendenzen wirksam und dauerhaft entgegentreten zu können. Die ältere Literatur, welche stereotyp behauptete, der Fortfall zünftlerischer Bindungen sei für das Elend so vieler Gesellen auf der Walz verantwortlich gewesen, ist den Beweis für diese – die Argumentation der Handwerkerbewegung des 19. Jahrhunderts unkritisch übernehmende – These nicht von ungefähr schuldig geblieben.1012 6. Die Legitimationspapiere a. Die Übergangszeit Schon seit Jahrhunderten hatte den Gesellen und ihren Verbänden die besondere Aufmerksamkeit der Gesetzgeber gehört. Auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit verloren, wie bereits gezeigt, die verschiedenen, in Westfalen Herrschaft ausübenden Territorien das Interesse an dieser mobilen Bevölkerungsgruppe nicht. Die völlige Liberalisierung der Gewerbeordnung, als welche die Gewerbereform in Westfalen zu begreifen ist, löste in den Rheinbundstaaten gar den merkwürdigen Reflex aus, die politisch-polizeiliche Kontrolle der Gesellen intensiver denn je auszubilden. Schon vor der Aufhebung der Zünfte1013 war es Jerôme, dem König des napoleonischen Modellstaates Westphalen, ein Anliegen gewesen, die administrativen Möglichkeiten zur Überwachung der Gesellen zu verbessern. Durch das Dekret vom 9.1.18081014 „verstaatlichte“ er die Kundschaften, welche das Reichsrecht des 18. Jahrhunderts als Legitimation der wandernden Gesellen verlangt hatte. Diese Papiere waren bis dahin von den Zunftvorstehern oder den Meistern ausgestellt worden; nunmehr sollten sie durch die Ortsobrigkeit „visiert“ und als echt legitimiert werden (Art. 1) – was innerhalb eines Monats zu geschehen hatte (Art. 2). Nach Ablauf dieser Frist verloren die nicht bestätigten Kundschaften ihre Gültig1012 Dasselbe gilt auch noch für einen Teil der gegenwärtigen Literatur. Dies berührt um so merkwürdiger, als doch schon für die Zeit um 1800 festgestellt worden ist, daß die Gesellen der großen Massenhandwerke „ihre traditionellen Kontrollansprüche auf dem Arbeitsmarkt … aufgrund des latenten Überangebotes an Arbeitskräften nicht mehr durchsetzen konnten“; so für viele Grießinger/Reith (1986), S. 199. Zum handwerklichen Konfliktverhalten im 18. Jahrhundert vgl. Grießinger/Reith (1983). 1013 Der Zunftzwang wurde im Königreich Westphalen durch Gesetz vom 5.8.1808 beseitigt, s. Kgl. Gesetz vom 5.8.1808, die Einführung einer Patentsteuer betreffend, in Gesetzes-Bulletin des Kgr. Westphalen 1808, S. 275 ff.; desgl. in: Westphälischer Moniteur vom 1.9.1808, Nr. 107; s. Fehrenbach (1974) S. 195 (Anm. 119). Die Aufhebung der Zünfte wurde dort durch Gesetz vom 22.1.1809 bestimmt, s. Kgl. Dekret vom 22.1.1809, in: Gesetzes-Bulletin des Kgr. Westphalen (1809), S. 107 ff. 1014 Dekret vom 9.1.1808, in: Gesetz-Bulletin des Kgr. Westphalen, Jahrg. 1808, 1. T., S. 149–151.

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keit. Außerdem wurde den wandernden Gesellen aufgegeben, einen Pass bei sich zu führen, der ihnen aber nur ausgestellt werden durfte, wenn sie eine bestätigte Kundschaft vorweisen konnten (Art. 3). Handwerksburschen, die ohne Pass reisten, sollten verhaftet und „wie ein Landstreicher bestraft“ werden (Art. 6). Da in den Pässen seitens der ausstellenden Behörde das Reiseziel zu vermerken war (Art. 7), konnte der Reiseweg der Wandernden lückenlos kontrolliert werden. Im Großherzogtum Berg wurden ganz ähnliche Vorschriften kurz nach der Einführung der Gewerbefreiheit1015 in Kraft gesetzt.1016 In diesem staatlichen Gebilde von Napoleons Gnaden hatte jeder Geselle ein sog. „Büchelchen“ bei sich zu tragen, welches von dem Maire seines Aufenthaltsortes ausgestellt worden war und seine persönlichen Daten enthielt (Art. 25, 28). Der Besitz eines solchen Papiers war Voraussetzung für die Arbeitsaufnahme (Art. 29). Anlässlich jedes Ortswechsels musste der Geselle diesen Ausweis, in dem das Reiseziel anzugeben war, bei der Ortsbehörde vorweisen (Art. 35). Während Konskriptionspflichtige selbst für die Übersiedlung in den Nachbarort einen Pass benötigten (Art. 36), war dies bei den übrigen Gesellen nur bei Wanderungen ins Ausland erforderlich. Niemand durfte einen Gewerbegehilfen, der sein „Büchelchen“ nicht sofort nach seiner Ankunft bei der Ortsobrigkeit vorgelegt hatte, in seinem Haus beherbergen (Art. 39). Wer Arbeit suchte, ohne mit Visum und Siegel „gehörig versehen“ zu sein, sollte „als Landstreicher eingezogen“ und in einem „Depot“ (sic!) für Bettler solange festgehalten werden, bis er die zur Ausstellung eines „Büchelchens“ notwendigen Bedingungen erfüllte (Art. 42).1017 Die Meister hatten Beginn und Ende des Arbeitsverhältnisses des Gesellen in dem Papier zu vermerken (Art. 45, 46). Da die Gemeindeverwaltungen über die Zu- und Abreise der Gesellen Register zu führen verpflichtet waren (Art. 44), wurde auch im Großherzogtum Berg eine lückenlose Kontrolle der Wandernden möglich. Ganz ähnliche Bestimmungen traten, ebenfalls im Zusammenhang mit der Einführung der Gewerbefreiheit,1018 auch im Großherzogtum Hessen in Kraft,1019 dem 1015 Die Gewerbefreiheit wurde im Großherzogtum Berg durch folgende Vorschriften eingeführt: „Dekret, wodurch eine allgemeine Patentsteuer eingeführt wird“, vom 31.3.1809, Art. 8, in: Gesetz-Bulletin des Großherzogtums Berg, 1. Abt. IX (1810), S. 342 ff. (346); im Ruhr-Departement wurde dieses Dekret durch Verordnung vom 5.2.1810 zur Ausführung gebracht, s. Sammlung der Präfectur-Verhandlungen des Ruhr-Departements 1810, Dortmund 1811, S. 15, 16; vgl. auch Verordnung vom 2.7.1810, in: Verhandlungen der Präfectur des RuhrDepartements 1810, S. 173, 174; desgl. im Sieg-Departement durch Verordnung vom 7.2.1810, in: Verhandlungen der Präfectur des Sieg-Departements, 1810, S. 55. 1016 Dekret vom 3.11.1809, die gegenseitigen Verbindlichkeiten der Gesellen und ihrer Meister betreffend, in: Gesetz-Bulletin des Großherzogtums Berg (1809), S. 164 ff. (174–190). 1017 Zu dem Dekret vom 3.11.1809, „die gegenseitigen Verbindlichkeiten der Gesellen und ihrer Meister betreffend“, wurden Ausführungsbestimmungen erlassen; so die Verordnung vom 7.7.1810, in: Verhandlungen der Präfectur des Sieg-Departements Nr. 244, 1810, S. 238, 239. 1018 S. Verordnung vom 1.4.1811, in: Sammlung der in der Großherzoglich-Hessischen Zeitung vom Jahre 1811 publicirten Verordnungen und Verfügungen, Großherzogl. Hess. Zeitung Nr. 46 vom 16.4.1811. 1019 Dekret vom 13.11.1809, in: J. J. Scotti (Hrsg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind (1463–1816), Bd. 2, Th. 1, Düsseldorf 1831, Nr. 363, S. 474, 475.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

das zuvor kurkölnische Herzogtum Westphalen bei Napoleons großem Länderschacher zugeordnet worden war. Durch Dekret vom 13.11.1809 ersetzten die Hessen die Kundschaften mit Wirkung vom 1.1.1810 durch sog. „Wanderbücher“. Mit diesem energischen Ausbau des polizeilichen Meldewesens und der Einführung der Wanderausweise schufen sich die neuen Staaten auf westfälischem Boden Möglichkeiten zur Erfassung und dauerhaften Kontrolle der Gesellen, wie man sie bis dahin in dem Land zwischen Rhein und Weser nicht gekannt hatte. b. Der Passzwang aa. Das Passgesetz des Jahres 1813 Im ostelbischen „Rumpfstaat“ Preußen war die Gewerbefreiheit derweil durch das Gewerbesteueredikt vom 2.11.1810 und das Gewerbepolizeiedikt vom 7.9.18111020 eingeführt worden. Letzteres traf in den §§ 6–31 nur dürftige Regelungen zur Kontrolle der wandernden Gesellen. Den herrschenden liberalen Überzeugungen der preußischen Reformer entsprechend überließ das Gesetz die Ordnung des gewerblichen Arbeitsverhältnisses der freien Vereinbarung zwischen den Meistern und ihren Hilfskräften (§ 8). Nachdem nicht nur das Reichs-, sondern auch das preußische Zunftrecht mit der Aufhebung des Zunftzwanges seine Verbindlichkeit verloren hatte, bestand für die Gesellen keine Pflicht mehr, die durch die Reichszunftordnung und das ALR vorgeschriebene Kundschaft bei sich zu führen. Das Gewerbepolizeiedikt bestimmte zwar, dass die Lehrlinge nach dem Ende der Lehrzeit vom Lehrherrn „statt Lehrbriefes oder Kundschaft“ Leistungs- und Führungszeugnisse verlangen konnten (§ 11), welche die Ortspolizeibehörde zu beglaubigen verpflichtet war (§ 12). Dieser Leistungsnachweis ersetzte die Kontrollfunktion der Kundschaft, die auch als Ausweispapier Verwendung gefunden hatte, aber nicht. Zunächst allerdings hatte der preußische Gesetzgeber geglaubt, auf die Legitimation der wandernden Gesellen verzichten zu können1021 – eine Auffassung, welche, wie sich bald zeigen sollte, trog. Die weitherzige Rechtssituation rief – keineswegs unversehens – Kritiker auf den Plan. Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der 1811 von Hardenberg in die Festung gesperrte, entschiedenste Gegner der Gewerbefreiheit in Preußen, 1020 Preußische Gesetzessammlung 1811, S. 263. 1021 Der spätere Staatsrat Hoffmann, der sich – vom liberalen Standpunkt aus – bereits zu Beginn des Jahrhunderts gegen den Zunftzwang und die damit verbundene Wanderpflicht ausgesprochen hatte, erwartete damals, dass bei Abschaffung der Wanderpflicht nicht mehr „Tausende von jungen kräftigen Männern planlos im Lande umherirrten und einen großen Teil ihrer Zeit unter dem Vorwande, Arbeit zu suchen, in verderblichem Müßiggange verschwendeten. Der Handwerkerstand werde allmählich die bisher gewöhnliche Wanderschaft entbehren lernen und der Geselle sich nur dann auf Reisen begeben, wenn er einen hinreichenden Zehrpfennig besitze. Er werde nicht mehr ziellos umherstreifen, sondern nur noch solche Orte aufsuchen, wo er Erwerb und Belehrung zu finden hoffe. Es könne überhaupt nur nach gänzlicher Auflösung des Gesellenverbandes und Abschaffung der bestehenden Formen des Wanderns dahin kommen, dass Vermögen und Bildung sich wieder dem Handwerkerstand zuwendeten und darin verblieben“; s. Rohrscheidt (1898), S. 608.

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malte die Folgen der neuen Gesetzgebung in den düstersten Farben: „Der Meister ward der Knecht seiner Gesellen. Er hatte keine Mittel mehr, die Faulen und Liederlichen zu zwingen; sie liefen von einem Meister zum anderen und wanderten bettelnd im Lande umher. Obgleich es allenthalben für sie Arbeit gegeben hätte, wenn sie nur hätten arbeiten wollen“.1022 Diese Vorwürfe gegen die liberale Gesetzgebung verhallten nicht ungehört. Zunächst wollte die Berliner Ministerialbehörde das „Herumstreichen“ arbeitsunwilliger Gesellen im Inland unterbinden. Deshalb erwog das Ministerium, bei der Erteilung von Pässen und Visa an Handwerksgesellen zu überprüfen, wie lange der den Ausweis beantragende Geselle im zurückliegenden Jahr gearbeitet hatte. Wer eine Arbeitszeit von weniger als neun Monaten aufwies, sollte als verdächtig angesehen, notorische Müßiggänger als Vagabunden behandelt und in ein „Korrektionshaus“ gesperrt werden.1023 Bestimmungen von solch rücksichtsloser Härte wurden zunächst allerdings noch nicht in Kraft gesetzt. Das noch 1813 erlassene preußische Passgesetz1024 erleichterte die Zuwanderung von Gesellen aus dem Ausland nicht gerade.1025 Merkwürdigerweise tat sich die der existentiellen Gefährdung gerade entronnene Monarchie bei der Kujonierung ihrer Untertanen durch das Passwesen besonders hervor. Die Regelungen des Passgesetzes konnten ihren Charakter als Instrumente des Polizei- und Bevormundungsstaates nicht verleugnen. Preußen unterwarf seine Untertanen im In- und Ausland einer beständigen Kontrolle, da jeder Reisende nicht allein verpflichtet war, Pass oder Wanderbuch stets bei sich zu führen, sondern diese Papiere an allen Orten, wo er sich länger als 24 Stunden aufhielt, der lokalen Polizeibehörde zur Einsicht und Stempelung vorweisen musste. Niemandem war es gestattet, ohne gültigen Pass ein- oder auszureisen. Und selbst im Inland mussten alle Reisenden, welche die Post benutzten, und die Juden stets ihre Pässe bei sich tragen. Untertanen, die in einer fremden Stadt länger als 2–3 Tage zu verweilen beabsichtigten, waren genötigt, das Ausweispapier abzugeben; dafür erhielten sie eine Aufenthaltskarte. Wiesen der Pass oder das Visum irgendeinen Mangel auf, so zögerte die preußische Polizei nicht, den Reisenden als verdächtige Person, als Landstreicher gar, zu behandeln, ihn festzunehmen und, sofern er Inländer war, mit gebundener Marschroute in seine Heimat zurückzuweisen. Ausländer wurden in diesem Falle über die Grenze abgeschoben. Die wandernden Gesellen litten unter dieser „Paßquälerei“1026 der Preußen naturgemäß am stärksten. Da es sich bei der Passgesetzgebung um das typische Mittel des Überwachungsstaates des Vormärz handelte, nimmt es nicht wunder, dass die Kontrollen in politisch aufgeregten Zeiten, wie es die Jahre 1819, 1830 und 1848 bekanntlich waren, besonders scharf gehandhabt wurden. 1022 Zitiert nach Rohrscheidt (1898), S. 544; s. dazu auch Schmigalla (1950), S. 47. 1023 So Schreiben des Ministeriums des Innern, Dep. für Gewerbe und Handel, v. 4.3.1813, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 5 ff. 1024 Pass-Reglement für die Staaten der preußischen Monarchie vom 20.3.1813, in: Preußische Gesetzessammlung 1813, S. 47–57. Zur Paßgesetzgebung in Österreich vgl. Burger (2000), S. 3–172. 1025 S. dazu Beschwerde des Bürgermeisters von Sommerfeld vom 20.3.1813, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1 fol. 23–25. 1026 So schon Steuer (1928), S. 21.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

All dies war naturgemäß geeignet, den nach den Napoleonischen und den Befreiungskriegen mit ihren Rekrutierungen und zahlreichen Opfern zunächst allenthalben fühlbaren Gesellenmangel noch zu verstärken.1027 Daraus folgten für den Gesetzgeber gewisse Probleme. Denn als die Passvorschriften ergingen, hatte – zwangsläufig – zunächst auch das Gesellenwandern für die Zeitgenossen deutlich erkennbar an Bedeutung verloren.1028 Um Arbeitskräfte aus dem Ausland durch die rigiden Bestimmungen nicht abzuschrecken, wurden 1814 Ausnahmevorschriften für Gesellen erlassen: In den preußischen Grenzstädten sollten stets nicht ausgefüllte Pässe für wandernde Handwerker bereitgehalten werden, die den Arbeitsuchenden ohne bürokratische Umstände sogleich ausgehändigt werden konnten,1029 ordnete der Polizeiminister Wittgenstein an. Das Ziel, Arbeitskräfte in das Land zu ziehen, verfolgte er allerdings nicht konsequent. Zugleich nämlich übten die Kontrollmöglichkeiten, welche die Einführung der Wanderbücher den Rheinbundstaaten eröffnet hatten,1030 auf ihn eine derartige Faszination aus, dass er diese Neuerungen sobald als möglich auch in Preußen realisiert wissen wollte.1031 Noch 1814 legte Wittgenstein daher den Entwurf eines Ediktes vor, welches der für die Gewerbe zuständige Finanzminister von Bülow aber kurzerhand als „unanwendbar“1032 bezeichnete. Bülow, der die neue, liberale Ausrichtung der preußischen Wirtschaftspolitik durch das harte Passregiment gefährdet sah, vertrat die Auffassung, dass die beabsichtigte fortwährende Kont-

1027 So Schreiben des Chefs des Polizei-Departements im Innenministerium, Fürst Wittgenstein, an den Handels- und Gewerbeminister vom 7.5.1814, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 28; das Departement für Handel und Gewerbe im Innenministerium wies 1813 darauf hin, dass „die inländischen Gesellen … in der Regel in einem Alter und Verhältnissen“ seien, „in welchen sie eben jetzt unfehlbar zum Militärdienste eingezogen werden, und es würde daher sogar große Verlegenheit entstehen, wenn nicht der Zufluss von Ausländern den Meistern zu Hülfe käme“; s. Schreiben des Ministeriums des Innern, Dep. für Handel und Gewerbe an den Fst. Wittgenstein v. 4.3.1813, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 5. Für den Mangel an Gesellen war aber nicht allein die Aushebung der zahlreichen Soldaten verantwortlich, sondern auch die französische Handelsgesetzgebung. So nahm damals der traditionelle Handel der Sauerländer mit Eisenwaren einen enormen Aufschwung. „Jene Handelsleute machten an den Scheit- und Eisenwaaren, und zwar in jenen Gegenden, welche mit Französischen Truppen besetzt waren, einen starken Absatz und verdienten dabei rasend Geld … Sowohl die Gesellen wie auch die Meister … warfen ihre Handwerksgerätschaften auf die Seite und führten Handlung in jenen Weltteilen, welche mit Französischen Truppen ocopirt waren“. 1028 So auch Schreiben der Regierung Münster an das Innenministerium vom 10.3.1826, in: GStA/ PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49 ff. 1029 Schreiben des Chefs des Polizei-Departements, Fürst Wittgenstein, an den Handels- und Gewerbeminister vom 7.5.1814, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 28. 1030 Bayern hatte 1808 als erster deutscher Staat Wanderbücher als ausschließliche Legitimationspapiere für reisende Handwerksgesellen eingeführt; s. Kuba (1990), S. 24. 1031 S. Schreiben des Polizeiministers an den Finanzminister v. Bülow v. 20.10.1814, in: GStA/ PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 49–51. 1032 So Schreiben des Finanzministers an den Polizeiminister vom 8.11.1814, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 52–54.

D. Das Wandern der Gesellen

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rolle der Gesellen und ihres Wohlverhaltens1033 mit dem Prinzip der Gewerbefreiheit nicht zu vereinbaren sei. Vor allem wandte er sich gegen die intendierte Regelung, wonach nur demjenigen sich als Meister niederzulassen gestattet werden sollte, welcher nach Abschluss seiner Wanderzeit ein „untadelhaftes“ Wanderbuch vorlegen konnte. Der Dissens zwischen dem Polizei- und dem Finanzminister schien unüberbrückbar. In Berlin suchte man einen Ausweg. Da die Westfalen unter der Fremdherrschaft Erfahrungen mit den Wanderbüchern der Gesellen gesammelt hatten, befragte man die dortigen Mittelbehörden gegen Ende des Jahres 1814 nach ihrer Ansicht zum Wert oder Unwert eines solchen Kontrollinstrumentes. Die Antworten der sog. Regierungskommissionen, welche nach dem Zusammenbruch der „Modellstaaten“ auf westfälischem Boden von der preußischen Regierung zur Reorganisation der staatlichen Verwaltung eingesetzt worden waren, fielen eindeutig positiv aus: Die Beamten lobten die Geeignetheit der Wanderbücher zur lückenlosen Kontrolle des Aufenthaltes der Gesellen einhellig. Der Wanderer könne sich jederzeit legitimieren und Obrigkeit sowie Meister von seiner „guten Aufführung“ überzeugen. Die Papiere gewährten die „vollständigste Übersicht von der Persönlichkeit eines jeden Gesellen“ und verhinderten die bei den früheren Kundschaften leicht möglichen Fälschungen, wie sie von Deserteuren und Vagabunden so oft begangen worden seien. Besonders erfreut haben dürfte die preußischen Beamten der Hinweis, dass sich mit Hilfe der Wanderbücher die Militärpflicht der Gesellen kontrollieren ließe.1034 Die Kommission in Bielefeld bemerkte zudem, dass die Gesellen durch die in diesen Papieren enthaltenen Instruktionen unzweideutig über ihre Pflichten und die polizeilichen Vorschriften sowie die ihnen bei Verstößen drohenden Strafen unterrichtet würden.1035 Der Landesdirektor in Dortmund, v. Romberg, glaubte gar, den Wanderbüchern die Befreiung seines Verwaltungssprengels von der Bettelei danken zu sollen: „Vor der Einführung dieser Bücher war es häufig der Fall, dass die hiesige Gegend oft schaarenweise von arbeitsscheuen und liederlichen Handwerksburschen durchzogen wurde, die bei dem Mangel an Unterstützungs-Fonds oft die Sicherheit gefährdeten … Seit der Einführung der Wanderbücher ist dieser Unfug gänzlich behoben.“.1036 Dass für solchen Wandel vor allem die durch die fortwährenden Kriege Napoleons veranlassten Konskriptionen ursächlich waren, bemerkte Romberg nicht – oder er wollte es nicht wahrhaben. Wie die Gesellen die permanente Überwachung empfanden, interessierte niemanden. Trotz der aus der Sicht der westfälischen Behörden positiven Erfahrungen verhin1033 Alle Verfehlungen sollten in dem Wanderbuch eingetragen werden und dadurch den Behörden dauerhaft bekannt bleiben. 1034 So Schreiben der Kgl. Regierungs-Kommission in Minden vom 3.12.1814, in: GStA/PK, Oberpräsidium Nr. 2774. 1035 S. Schreiben der Kgl. Regierungs-Kommission Bielefeld an das Militär-Gouvernement Münster v. 15.12.1814, in: STAM Oberpräsidium Nr. 2774. 1036 Schreiben des Landesdirektors in Dortmund, v. Romberg, an das Militär-Gouvernement Münster vom 21.12.1814, in: STAM Oberpräsidium Nr. 2774. Die Kgl. Pr. Regierungskommission Paderborn schließlich stellte vor allem darauf ab, dass sich die Wanderbücher im Großherzogtum Berg bewährt hätten und alles das leisteten, was durch Pässe nicht erreicht werden könne; s. Schreiben vom 24.12.1814 an den Zivilgouverneur von Vincke, in: STAM Oberpräsidium Nr. 2774.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

derte das Gewerbe-Departement in Berlin zunächst aber die Einführung der Wanderbücher. 1816 schon unternahm der Polizeiminister jedoch einen neuen Versuch, dieses Kontrollinstrument durchzusetzen, indem er den sechzehn Paragraphen umfassenden, revidierten Entwurf einer Verordnung zur Einführung von Wanderbüchern für Gesellen in Preußen zur Diskussion stellte.1037 Obgleich die meisten Behörden des Landes eine solche Regelung wünschten, ließ sie sich wegen der Kollision mit dem geltenden Gewerbepolizeirecht wiederum nicht realisieren. Der Initiator, Wittgenstein selbst, bat daher schließlich den Staatskanzler Hardenberg, das Vorhaben auf sich beruhen zu lassen.1038 Damit waren die Versuche, sich an dem Recht der französischen Modellstaaten auf westfälischem Boden zu orientieren und die Wanderbücher wieder einzuführen, erneut gescheitert.1039 Abfinden mochten sich die Behörden in Westfalen mit dieser Situation aber nicht. Die gegebenen Kontrollmöglichkeiten erschienen den Beamten trotz der vorhandenen Passgesetzgebung als unzureichend, da sie eben seit langem daran gewöhnt gewesen waren, dass für die Gesellen hinsichtlich der Legitimationspapiere ein Sonderrecht galt. Nachdem dies mit der Beseitigung der französischen Gesetzgebung entfallen war, glaubten sie es mit einer Regelungslücke zu tun zu haben. In der Tat hatten die Kundschaften den amtlichen Charakter, den sie im 18. Jahrhundert besessen hatten, verloren, und konnten deshalb nicht mehr als eigentliche Ausweispapiere für die Wandergesellen betrachtet werden. Die Vorstellung von der Existenz spezifischer Bestimmungen für die mobilen Gesellen war in Westfalen aber so verfestigt, dass manche Unterbehörden damals noch immer der Überzeugung waren, dass es sich bei den Kundschaften um amtliche Dokumente handele. Noch 1820 wurde im Münsterland ein Bürgermeister bestraft, weil er unter Verstoß gegen die Verordnung vom 23.9.18171040 die Kundschaft eines wandernden Handwerksgesellen mit einem Visum versehen hatte.1041 Das Fehlen von Sonderregelungen für die auf der Walz befindlichen Gesellen erschien Behörden wie Meistern in Westfalen je länger desto mehr als inakzeptabel. Daraus entwickelte sich ein deutlicher Dissenz zwischen der Provinzialverwaltung und der Berliner Regierung. Die preußische Ministerialbürokratie begriff die Begrenzung der Kontrollen wandernder Gesellen auf das durch die allgemeinen Vorschriften bestimmte Maß als der Gewerbefreiheit geschuldet. In Westfalen wurde diese Sichtweise aber weder von den Regierungen noch von den Lokalbehörden akzeptiert. Den Stein des Anstoßes bildete die größere Freizügigkeit, welche die Gesellen nach Wegfall der Pflicht zur Führung von Wanderbüchern zweifellos ge1037 Entwurf vom 19.6.1816, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 72–77. 1038 Schreiben des Fürsten Wittgenstein an den Staatskanzler Hardenberg v. 3.1.1819, in: GStA/ PK Rep. 74 K VIII Nr. 25, fol. 2. 1039 Den „völlig beglaubigten“ Wanderbüchern der Gesellen aus anderen Staaten des Deutschen Bundes wurde in Preußen allerdings die Bedeutung von Pässen beigelegt, so dass sie durch die dortigen Behörden „visiert“ wurden; s. Verordnung vom 3.10.1820, in: Amtsblatt der Regierung Münster v. 14.10.1820, S. 302. Anderes gilt natürlich für die Kundschaften. 1040 Amtsblatt Reg. Münster 1817, S. 370. 1041 S. Bekanntmachung der Regierung Münster v. 7.9.1820, Amtsblatt Reg. Münster 1820, S. 269.

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nossen. Dies wirkte sich nach Auffassung der westfälischen Verwaltung angeblich unmittelbar auf die Qualität der Ausbildung im Handwerk aus. Als die Bürgermeister im Jahre 1818 über ihre Erfahrungen mit der Gewerbefreiheit berichten sollten, kritisierten selbst die Vertreter der seit je zunftfreien Landgemeinden den Verfall der früher geordneten Ausbildung des Nachwuchses,1042 zu der sie noch ganz selbstverständlich die Absolvierung einer mehrjährigen Wanderzeit zählten.1043 Zwar fühlte man sich damals nach den erheblichen Menschenverlusten durch die napoleonischen Kriege noch nicht wieder ernsthaft durch umherziehende, bettelnde Handwerksgesellen belästigt,1044 zumal der Wegfall einer verbindlichen Lehr- und Gesellenzeit erheblich zur Verknappung des Arbeitskräfteangebotes im Gewerbe beitrug. Doch lamentierten die Meister in den Städten, welche die Zunftordnung noch gekannt hatten, über die größere Freiheit der Hilfskräfte nur desto lauter. In der Tat waren die Gesellen der überkommenen Bindungen und Kontrollmechanismen weitgehend ledig geworden: Die Beseitigung der Pflicht zur Führung von Wanderbüchern traf mit dem Fortfall jedweder geregelter Arbeitsrechtsbeziehungen zwischen Meistern und Gesellen zusammen. Die freie Vereinbarung zwischen den Parteien war maßgebend, da die Bestimmungen des ALR, welche nach der Beseitigung der Zünfte in Westfalen nur noch partiell anwendbar waren, die Absprachen lediglich zu ergänzen vermochten.1045 Das Zusammenwirken dieses Bündels von Veränderungen verschaffte den Gesellen in der Tat größere Bewegungsmöglichkeiten, als sie die Zunftzeit ihnen je gewährt hatte – und die neue Freiheit wussten sie zu nutzen:1046 Warendorfs Bürgermeister klagte 1819 über Arbeitskräftemangel. Die Gesellen verließen die Meister oft gerade dann und wanderten fort, wenn die Arbeitgeber der Hilfskräfte am meisten bedurften: „Der Geselle setzt seinen Stab weiter und lebt in anderen Orten gleich ungebunden“.1047 Statt zu arbeiten, wollten sie, so jedenfalls die Jeremiade aus dem Münsterland, von den nach Handwerksbrauch noch immer gewährten sog. Geschenken leben; wo diese nicht ausreichten, verlegten sie sich auf’s Betteln. Zur Zunftzeit hingegen hätten die Gesellen die Wanderzeit genutzt, um sich ernsthaft fortzubilden; daher habe es den Meistern nie an soliden Hilfskräften gefehlt. Dem 1042 So z. B. Schreiben des Bürgermeisters von Liederen, v. Graes, v. 11.12.1818, in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. 1043 So der Schultheiß v. Assinghausen, s. Schreiben v. 23.1.1819, in: STAM Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1388: „Meines Erachtens ist zu behaubten, sofern Künste, Sitte, Zucht in das alte Geleite zurückgeführt werden soll, dass jeder Lehrling, der sich einer Profession widmen will, wenigstens 4 Jahre als Lehrling in Condition stehen muss, um sich nach dem zu vervollkommnen, ebenfalls wenigstens noch 2 Jahre als Geselle zu wandern hat …“. Auch der Bürgermeister der münsterländischen Kleinstadt Freckenhorst forderte dezidiert die Einführung der Wanderschaft der Gesellen durch Polizeiverordnung; s. Schreiben v. 4.1.1819, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt, Nr. 458. 1044 Der Bürgermeister der Freiheit Raesfeld schrieb am 27.12.1818: „Auch befinden sich hier keine … Gesellen, welche unterm Namen als reisende Handwerks-Bursche herum vagieren und sich zu betteln erkühnen …“, in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. 1045 Zu den arbeitsrechtlichen Verhältnissen im Vormärz s. Bd. 1, Kap. „Das Arbeitsrecht“. 1046 Vgl. dazu Bd. 1, Kap. „Das Arbeitsrecht“. 1047 Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Warendorf v. 30.1.1819, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Warendorfer Bürgermeister scheinen bei seiner bekannte Vorurteile transportierenden Beschreibung die örtlichen Meister die Feder geführt zu haben. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass sich gegen Ende des ersten gewerbefreiheitlichen Jahrzehnts in Westfalen die Klagen über arbeitsunwillige Gesellen, welche die Wanderschaft zum Anlass nahmen, sich regelmäßiger Tätigkeit zu entziehen, häuften. Vor allem im Müllergewerbe scheinen solche Hilfskräfte anzutreffen gewesen zu sein. Denn dessen Gesellen waren auf eine besonders subtile Weise in der Lage, sich den notwendigen Unterhalt zu verschaffen, ohne dauerhaft einer Beschäftigung nachgehen zu müssen: Wenn ein Wandergeselle bei einem Meister nach altem, auch nach Einführung der Gewerbefreiheit selbst bei den unzünftigen Müllern noch nicht vergessenen Brauch um ein „Zehrgeld“ bat und dieser ihm stattdessen Arbeit anbot, lehnte der Wanderer bei einem Wassermüller mit dem Hinweis, er sei Windmüller – und umgekehrt – die Offerte ab. Mit solch unangreifbarer Argumentation konnten die „Feierburschen wie oft geschieht, Monate lang ohne zu arbeiten den Meistern durch Betteln beschwerlich fallen“.1048 Um diesem Treiben ein Ziel zu setzen, ordnete die Regierung in Arnsberg 1817 an, dass die Polizei-Behörden in den Pässen – und bei Ausländern ggf. auch Wanderbüchern – der Müllergesellen künftig jeweils zu vermerken hätten, ob es sich bei dem Inhaber des Papiers um einen Wind- oder Wassermüller handele. Die Kritik aus Westfalen an den arbeitslos herumwandernden Gesellen lenkte die Aufmerksamkeit der Behörden auf ein Problem, welches der preußische Staat – in seinen Ursachen sich wandelnd – noch jahrzehntelang nicht befriedigend zu lösen vermochte. Nach den Befreiungskriegen herrschte noch kein signifikantes Überangebot, sondern, wie bereits festgestellt, eher ein Mangel an Gesellen. Wenn manche Zeitgenossen den Fortfall von Kundschaft und Wanderbuch für die größere Unabhängigkeit des Nachwuchses verantwortlich machten, so blieb ihre Analyse folglich durchaus unvollständig. Denn mehr noch als die Rechtslage war es die für die Hilfskräfte günstige Arbeitsmarktsituation, welche ihnen damals Freiräume eröffnete, die sie zuvor so nicht gekannt hatten. Ihre neue Bewegungsfreiheit verdankten sie deshalb keineswegs der Liberalisierung des Arbeitsrechts allein, sondern ebenso dem Recht auf Freizügigkeit, von dem nicht wenige in ganz individueller Weise Gebrauch machten. Die Ablehnung der Folgen der Gewerbefreiheit sensibilisierte die Amtsträger für ganz unterschiedliche Rechtsbereiche, die, des waren sie gewiss, allesamt schleuniger Reform bedurften. Die Stadt Münster nahm sogar zur Selbsthilfe Zuflucht: Da sie die weitgehende Liberalisierung nicht länger hinnehmen wollte, ergriff sie im Jahre 1816 die Initiative und erließ, sich staatliche Kompetenzen zumessend, eine Verordnung, die den Meistern ausdrücklich die Aufsicht über die Gesellen übertrug. Für den Fall der sog. Arbeitsflucht, des Kontraktbruchs also, wurde den Hilfskräften Gefängnis, ggf. sogar Zuchthaus angedroht und den Wirten die Bedienung und Beherbergung solcher Gesellen untersagt.1049 Die Sorge, dass die Hilfskräfte aufgrund geringerer Kontrolle die Arbeitsvermittlung der wandernden Gesellen wie zur Zunftzeit wieder bei sich monopolisieren 1048 S. Verordnung der Regierung Arnsberg v. 8.3.1817, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1817, S. 161. 1049 S. Goeken (1925), S. 26 m. w. Nachw.

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könnten, spricht überdeutlich aus diesen Vorschriften. Sie dürfte in der Tat nicht unbegründet gewesen sein, wie Beispiele aus dem Paderborn jener Jahre zeigen.1050 bb. Das Passreglement des Jahres 1817 Zwar war der Versuch, dem Vorbild anderer deutscher Staaten zu folgen und auch in Preußen die Wanderbücher einzuführen, zunächst gescheitert. Doch bedeutete dies keineswegs, dass der westfälische Gewerbenachwuchs der Überwachung durch die Behörden dauerhaft ledig geblieben wäre. 1817 erließ Preußen ein neues Pass-Reglement. Obgleich die Passgesetze anderer deutscher Staaten noch restriktivere Bestimmungen enthielten,1051 waren doch auch diese preußischen Vorschriften durchaus geeignet, den Gesellen das Wandern zu vergällen. § 16 des Pass-Edikts vom 22.6.1817 bestimmte, dass nicht nur die Ein- und die Ausreise aus dem preußischen Staat durch Visa genehmigt werden mussten; vielmehr war der Inhaber verpflichtet, den Pass an jedem Ort, an welchem er sich länger als 24 Stunden aufhielt, von der dortigen Polizeibehörde „visieren“ zu lassen. Die Wanderburschen mussten, falls sie nur durchreisten, in jeder größeren Stadt, die sie passierten, ihren Pass vorweisen; mindestens aber hatten sie sich auf der Wanderschaft wöchentlich bei zwei verschiedenen Polizeibehörden zu melden. Ziel dieser Bestimmungen war es, durch die Einträge im Pass oder – bei Ausländern – im Wanderbuch die Wanderroute exakt kontrollieren und jederzeit den Nachweis der „Unverdächtigkeit“ des Wanderers verlangen zu können. Den Polizeibehörden wurde nicht nur aufgegeben, die Passbestimmungen genauestens einzuhalten; vielmehr sollten sie auch auf diejenigen Gesellen, deren Wandernachweis Lücken aufwies, „besondere Aufmerksamkeit richten“.1052 Diese Bestimmungen wurden allerdings, wie die Regierung in Arnsberg – unter Berufung auf das zuständige Ministerium – 1822 klagte, zunächst nicht gehörig eingehalten.1053 Neben dem Erlass des neuen Passgesetzes ergriff der Polizeiminister, ebenfalls noch 1817, weitere Kontrollmaßnahmen, welche einer gewissen Härte nicht entbehrten; sie betrafen die eigentlichen Handwerksgesellen zwar nicht unmittelbar, lassen aber doch etwas von dem Denken aufscheinen, das damals zunehmend bemerkbar wurde: So untersagte er, sog. „Freiknechte“, wie die Abdecker und die Angehörigen ähnlich verachteter Berufe damals – euphemistisch umschreibend – genannt wurden, nach Preußen einwandern zu lassen, sofern man ihren Pässen entnehmen zu können glaubte, „dass sie das Wandern nur als Gelegenheit zum Herumziehen gebrauchen“.1054 Auch die Familien dieser Entwurzelten sollten zurückge1050 S. dazu ausführlich Bd. 1, Kap. „Das Arbeitsrecht“; vgl. auch Schreiben der Tischler der Stadt Paderborn an den Magistrat v. 22.9.1821, in: Stadtarchiv Paderborn Nr. 373 f. 1051 In Preußen benachbarten Staaten mussten die Reisenden die Pässe „in jedem Nachtquartier“ visieren lassen, s. Verordnung vom 9.8.1822, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1822, S. 371– 373 (372). 1052 S. Verordnung v. 9.8.1822, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1822, S. 371–373 (372). 1053 S. Verordnung v. 9.8.1822, wie Anm. 1051. 1054 Schreiben des Polizeiministeriums an die Regierung Münster v. 27.5.1817, betr. die Beschränkung der Wanderung der Freiknechte, in: STAM, Regierung Münster, Nr. 4144, fol. 1; desgl.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

wiesen werden, wenn sie kein festes Unterkommen nachweisen konnten. Den inländischen „Freiknechten“ aber sollten Wanderpässe nur für ihre Person, nicht hingegen für ihre Familien erteilt werden. Da diese Vaganten gewöhnlich mit ihren Angehörigen unterwegs waren, stellten sie frühe, nichtsdestoweniger aber bereits typische Vertreter des im Vormärz schließlich so zahlreichen, aus allen sozialen Bindungen herausgefallenen Lumpenproletariats dar, welche die Arbeitsuche auf die Straße getrieben hatte und die so irgendwie zu überleben versuchten. 1831 wurden die Vorschriften gegenüber den „Freiknechten“ noch einmal verschärft. Seither durften ihnen keine förmlichen Wanderpässe mehr erteilt werden. Inländer, die ihnen zugezählt wurden, erhielten lediglich einen auf ein bestimmtes Ziel ausgestellten Reisepass, während ausländische Freiknechte nur unter den Bedingungen, die auch für andere Ausländer galten, einreisen durften.1055 Nicht diesen unerwünschten Außenseitern, sondern den eigentlichen Gesellen aber galt weiterhin die bevorzugte Aufmerksamkeit des Staates: Auf die möglichst gründliche Kontrolle der einwandernden Handwerker durch das Passwesen wollte die Obrigkeit je länger desto weniger verzichten. Daher wurde den Grenzbehörden Anfang der zwanziger Jahre wiederum eingeschärft, die traditionellen Kundschaften, welche ausländische Gesellen noch immer bei sich führten, keinesfalls als den Pässen gleichwertig zu betrachten und mit Visa zu versehen.1056 Dasselbe galt für die Wanderbücher von Ausländern.1057 Ausländische Gesellen, denen zur Ein- und Ausreise nach Preußen Pässe ausgehändigt worden waren, mussten diese beim Verlassen der Monarchie abgeben, um zu verhindern, dass die Legitimationspapiere an „Vagabunden“ weitergereicht wurden.1058 Diese phobisch anmutenden Regelungen hatten ihre Ursache in demographischen Veränderungen, die sich damals allmählich bemerkbar zu machen begannen. 1822 schon war, so verlautbarte jedenfalls – wohl übertreibend – die Regierung in Minden, „das arbeitslose Herumlaufen der Handwerksgesellen Gegenstand allgemeiner Klage“ geworden.1059 Zwar zeigte Verordnung v. 14.6.1817, in: Amtsblatt der Regierung Minden 1817, S. 301; desgl. Verordnung v. 21.6.1817, in: Amtsblatt Regierung Münster 1817, S. 231. 1055 Verordnung v. 10.2.1831 und Verordnung v. 2.4.1833, in: Amtsblatt der Regierung Minden 1833, S. 126. 1056 Schreiben des Polizei-Ministers an die Regierung Münster vom 10.9.1817, in: STAM, Regierung Münster Nr. 4144, fol. 2; s. auch Amtsblatt der Regierung Münster 1817, S. 370. Diese Verfügung erging mit gleichem Inhalt noch einmal am 21.4.1820, s. STAM, Regierung Münster, Nr. 4144, fol. 11. Die Beachtung gerade dieser Verordnung ließ offenbar sehr zu wünschen übrig; vgl. deshalb Amtsblatt der Regierung Münster 1821, S. 100. So auch Verordnung v. 29.9.1817, in: Amtsblatt der Regierung Arnsberg 1817, S. 516; desgl. Verordnung v. 1.12.1819, in: Amtsblatt der Regierung Arnsberg v. 15.1.1820, S. 27. 1057 Daraus ergab sich ein weiteres Problem: Manche Polizeibehörden versahen die Wanderbücher ausländischer Gesellen mit Visa und händigten deren Eigentümern zudem noch Eingangs- und Ausgangspässe aus. Diese besaßen also doppelte Legitimationspapiere; wegen der Missbrauchsmöglichkeiten wollte das Innenministerium das verhindern und untersagte es; s. Verordnung vom 3.6.1820, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1820, S. 287. 1058 So Verfügung des Polizei-Ministeriums v. 11.11.1818 an die Regierung Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144; so auch Verordnung der Regierung Arnsberg v. 16.12.1818, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1818, S. 703, 704; desgl. Amtsblatt Regierung Minden 1819, S. 1, 2. 1059 S. Amtsblatt Regierung Minden 1822, S. 469.

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sich die Arbeitsmarktlage in den zwanziger Jahren im allgemeinen noch deutlich günstiger als in den Jahrzehnten danach. Doch begann sich die Situation damals bereits in manchen Gewerbesparten allmählich zu verschlechtern. Der „jetzt häufig vorkommende“1060 Verlust von Reisepässen stand mit diesen Veränderungen im Zusammenhang. Durch immer neue Kontrollvorschriften suchte das Innenministerium den „Unterschleifen“ zu wehren. Vor allem sollten die aus der Weitergabe von Reisedokumenten folgenden Missbrauchsmöglichkeiten unterbunden werden. Verlorene Papiere erhielten die wandernden Gesellen deshalb nur noch nach genauester Prüfung ihrer Identität ersetzt.1061 Das Ministerium präzisierte seine diesbezüglichen Vorschriften zudem insoweit, als ein inländischer Wandergeselle, dessen Pass abhanden gekommen war, nur dann eine neue Reiselegitimation erhalten sollte, wenn er ein Zeugnis desjenigen Meisters vorlegen konnte, bei welchem er in den letzten vier Wochen gearbeitet hatte. Für Ausländer, die des Legitimationspapiers verlustig gegangen waren, galt eine andere Regelung: Sie mussten während der ersten vier Wochen ihres Aufenthaltes in Preußen von jener Behörde, die das ursprüngliche Dokument ausgestellt hatte, ein Ersatzpapier beschaffen, so dass sie genötigt waren, zurückzuwandern.1062 Damit aber noch nicht genug: Solche Ausländer, welche den Verlust ihres Passes anzeigten und nicht nachweisen konnten, bei wem sie in den zurückliegenden Wochen in Lohn und Brot gestanden hatten, schoben die Behörden über die Grenze ab, während die Inländer in diesem Falle „mittels Marschroute“ sogleich an ihren Heimatort zurückgewiesen wurden. Ausnahmen von den harschen Bestimmungen sah der preußische Gesetzgeber nur für diejenigen Gesellen vor, welche „Behinderungen durch Krankheit oder dergleichen“ nachweisen konnten.1063 Was solche Vorschriften für einen mittellosen jungen Mann, der von einem derartigen Missgeschick betroffen war, bedeutet haben müssen, lässt sich durchaus erahnen. Ob die allgegenwärtige „Paßquälerei“ die Bereitschaft der jungen Leute, auf die Walz zu gehen, beeinträchtigte, lässt sich nur schwer einschätzen. Die seitens des Gesetzgebers geschaffenen zusätzlichen Risiken dürften die Reiselust der Gesellen jedenfalls kaum beflügelt haben.1064 Das lässt sich bereits aus der schnellen 1060 S. Verordnung v. 8.5.1822, in: Amtsblatt Regierung Minden 1822, S. 221. 1061 So Cirkular-Verfügung des Polizei-Ministers v. 14.4.1822, in: STAM, Regierung Münster, Nr. 4144. 1062 Dies galt allerdings nur in den ersten vier Wochen ihres Aufenthaltes in Preußen; s. Amtsblatt Regierung Minden 1822, S. 221; STAM Regierung Münster Nr. 4144. Unter „Ausländern“ waren damals vor allem solche Reisende zu verstehen, die aus den nichtpreußischen deutschen Bundesstaaten stammten. Elkar erwähnt immerhin die „scharfe fremdenpolizeiliche Kontrolle“; s. Elkar (1991), S. 61. 1063 S. Verordnung v. 8.5.1822, in: Amtsblatt Regierung Minden 1822, S. 221; auch diese Vorschrift musste wegen ungenügender Beachtung zunächst wiederholt werden, s. Amtsblatt Regierung Minden 1822, S. 469; Amtsblatt Regierung Münster 1822, S. 456. 1064 Selbst bei den Gesellen des Krs. Berleburg, wo die Zünfte damals noch bestanden, hatte die Wanderschaft der Gesellen an Bedeutung verloren. Der Landrat berichtete 1823: „Von der alten Strenge der Zunft in Hinsicht auf Wanderschaft und Meisterstück hat sich auch hier vieles verlohren …“; s. Schreiben des Landrats des Krs. Berleburg vom 1.2.1823, in: STAM, Regierung Arnsberg B Nr. 56 I, fol. 12.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Novellierung der rabiaten Bestimmungen schließen: 1824 modifizierte die preußische Ministerialbürokratie ihre Anordnung, Personen ohne Pass umgehend in ihre Heimat zurückzuweisen, mit dem Bemerken, dass diese Vorschrift ihrer ganzen Strenge nach nur gegen arbeitsscheue und mittellose Gesellen, welche die öffentliche Sicherheit gefährdeten, angewandt werden sollte. Seither überließ es der Minister den Landräten und Bürgermeistern, die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, statt die Arbeitslosen unnachsichtig in ihre Heimat zurückzuweisen.1065 Eine Quelle weiterer Behinderungen erwuchs den Gewerbegehilfen aus den spezifischen Kontrollvorschriften, welche die Ableistung ihrer Militärdienstpflicht1066 gewährleisten sollten. 1825 erging eine Instruktion, welche die „Heranziehung der Handwerksgesellen und Handwerksburschen zum Militärdienste“ regelte.1067 Während der durch den Wanderpass bewilligten Wanderzeit war „ein solches Individuum“, wie die preußischen Behörden die Gesellen zu bezeichnen beliebten, immerhin davor sicher, eingezogen zu werden. Nach Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist wurde der junge Mann dann aber von der Wehr-Ersatz-Kommission des Kreises, „wo er sein eigentliches Domizil hat“, einberufen. Entzog er sich dieser Verpflichtung, wurde er als „entwichener Militärpflichtiger“ behandelt. Handwerkern zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr, die ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet hatten, durften die Polizeibehörden nur mit Genehmigung der Mitglieder der „Kreis-Ersatz-Commissionen“ Wanderpässe ausstellen.1068 Außerdem sollte ein solcher Pass erst dann gültig sein, wenn er mit einem Visum eben dieser Kommission versehen war. Sanktionen für den Fall der Zuwiderhandlung hatten die Minister auch nicht vergessen: Fehlte dem Wanderpass eines militärpflichtigen Gesellen das vorgeschriebene Visum oder wurde der junge Mann nach Ablauf der genehmigten Wanderzeit noch auf der Reise angetroffen, so sollte er an eben jenem Ort, an dem er aufgegriffen worden war, zum Militärdienst eingezogen werden. cc. Die Einführung der Wanderbücher Mit der Einführung des Passzwanges war die Kontrolle der wandernden Gesellen durchaus möglich geworden. Nichtsdestoweniger blieb der Wunsch nach Einführung von Wanderbüchern gerade in Westfalen, aber auch anderwärts virulent. Da der Gesetzgeber diesem Petitum der Mittel- und Lokalbehörden nicht nachkam, ergriff schließlich der Oberpräsident der Rheinprovinz die Initiative, indem er ausdrücklich auf die Zweckmäßigkeit eines solchen Ausweispapiers hinwies. Zur Begründung bezog er sich auf die „bisher dafür geltenden Vorschriften“, die „den seit den eingetretenen neueren Verhältnissen auf eine für die Königliche Rheinprovinz gleichförmige Weise anzupassen“1069 seien. Damit rekurrierte er auf die Fortgel1065 Cirkular-Verfügung des Polizei-Ministers v. 27.1.1824, in: Amtsblatt Regierung Münster v. 6.3.1824, s. STAM, Regierung Münster Nr. 4144, fol. 17. 1066 S. dazu das Kap. „Die Militärdienstpflicht der Wandergesellen“. 1067 § 10 der Instruktion v. 13.4.1825, s. Amtsblatt Regierung Münster 1826, S. 19–21. 1068 S. Instruktion v. 13.4.1825, wie Anm. 1067. 1069 Verordnung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz v. 22.9.1827, in: Amtsblatt Regierung Trier 1827, S. 295–297.

D. Das Wandern der Gesellen

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tung des französischen Rechts im Rheinland, die es ermögliche, zu neuen Lösungen zu finden. Auf dieser Grundlage bestimmte der Oberpräsident, dass jeder aus dem Rheinland gebürtige Wandergeselle ein Wanderbuch als Ausweis bei sich zu führen habe. Neben den für Legitimationspapiere üblichen Angaben zur Identifizierung der Person enthielt das Wanderbuch Mitteilungen über die bereits abgeleistete oder noch bevorstehende Militärzeit. Arbeitsaufnahme und Arbeitsende wurden vom Meister und der örtlichen Polizeibehörde in dem Heft vermerkt, sofern der Geselle seinen Verpflichtungen nachgekommen war. Die wandernden Handwerker waren gehalten, an jedem Ort, an welchem sie übernachteten, ihr Wanderbuch der Polizei vorzulegen, welche dieses testieren musste. Damit waren die Handwerksburschen im Rheinland eben jener lückenlosen Kontrolle unterworfen, welche die Unter- und Mittelbehörden seit langem wünschten – ein Sonderrecht, das die bereits rabiaten, in Preußen insgesamt geltenden Bestimmungen noch übertraf. Die Überwachung erstreckte sich nicht nur auf den Wanderzwang, sondern bezog selbst die wirtschaftliche Situation der Gewerbegehilfen ein. Denn sogar deren noch nicht getilgte Schulden mussten in dem Wanderbuch vermerkt werden. Den Westfalen blieb solche unausgesetzte Überwachung dagegen zunächst noch erspart. Die Verschärfungsmaßregeln, welche die Administration im Rheinland ergriff, wiesen aber schon den Weg, auf dem die Entwicklung dann in der Tat fortschreiten sollte. Bis gegen Ende der zwanziger Jahre förderte der preußische Staat das Wandern der Gesellen jedenfalls ins Ausland noch. 1828 beispielsweise informierte die Regierung in Minden darüber, dass die Gesellen, welche nach Frankreich reisen wollten, einer Erlaubnis ihrer Heimatbehörden zur Arbeitsaufnahme in dem Nachbarland bedürften. Fehle diese, müssten sie damit rechnen, an der französischen Grenze zurückgewiesen zu werden. Die Regierung forderte die Ortsbehörden auf, interessierte Handwerker über diese Umstände zu unterrichten und sie mit der erforderlichen Bescheinigung zu versehen.1070 1827 schlossen die preußische und die französische Regierung einen Vertrag, der die Staaten wechselseitig verpflichtete, die auf das jeweils andere Territorium eingewanderten Handwerker bei ihrer Rückkehr wieder aufzunehmen.1071 Jenen Gewerksgenossen, die einen Aufenthalt in dem Nachbarland nutzen wollten, um sich beruflich zu qualifizieren, sollte ein sog. Heimatschein erteilt werden, der zur jederzeitigen Rückkehr in den Herkunftsstaat berechtigte.1072 Um ein reibungsloses Verwaltungsverfahren zu gewährleisten, erhielten zunächst die Landräte die Zuständigkeit zur Erteilung dieser Papiere. Sie hatten darüber ein besonderes Register zu führen. Ein solcher Schein sollte – der ursprünglichen Intention zufolge – allerdings nur „wirklichen“ Gesellen ausgestellt werden, die „auf ihr Handwerk reisen“ wollten. Die Papiere sollten keine Beschränkungen durch Rückkehrfristen enthalten. Lediglich gegenüber militärpflichtigen Handwer1070 Verordnung der Regierung Minden v. 14. Juli 1825, in: Amtsblatt Reg. Minden 1825, S. 336. 1071 Bekanntmachung v. 21. Juli 1827, „in betreff zwischen dem Kgl. Preußischen und dem Kgl. Französischen Gouvernement betreffs der gegenseitigen Gewähr der Wiederaufnahme solcher zur Handwerk treibenden Klasse gehörenden Untertanen, welche sich zur Ausübung ihres Gewerbes auf das Gebiet des anderen Staates begeben, abgeschlossenen Übereinkunft“, in: Preußische Gesetzessammlung 1827, Nr. 13, S. 81, 82. 1072 Die Ausführungsbestimmungen finden sich in: Amtsblatt Reg. Minden 1828, S. 2.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

kern war es gestattet, Fristen zur Rückreise festzusetzen. Versäumten die Gesellen es, rechtzeitig die Heimreise anzutreten, so durfte ihnen die Rückkehr in ihre Heimat zwar nicht verwehrt werden; sie waren aber den gesetzlichen Maßregeln wegen unerlaubter Entfernung aus dem Heimatland unterworfen. Wenige Monate nach dem Erlass schon erläuterten das Innen- und das Außenministerium diese Verordnung gemeinsam dahingehend, dass die Bestimmungen künftig nicht allein auf Handwerker, sondern auf alle Gewerbetreibenden Anwendung finden sollten.1073 Außerdem wurde nunmehr in der Regel die Zuständigkeit für die Erteilung der Heimatscheine auf die Provinzial-Regierungen beschränkt. Auch diese Vorschriften waren noch Ausdruck jener Haltung des Berliner Gewerbeministeriums, welche die fortwährende Überwachung der mobilen Gesellen durch den Staat mit der liberalen preußischen Gewerbegesetzgebung und Wirtschaftspolitik in irgendeiner Weise in Einklang zu bringen suchte. Nachdem manche Gesellen Anfang der dreißiger Jahre aber Anlass gegeben hatten, an ihrer politischen Zuverlässigkeit zu zweifeln, ließ die Entschlossenheit der preußischen Regierung zur dauerhaften Kontrolle der Wanderburschen in den folgenden Jahren keine Zeichen der Mäßigung mehr erkennen. 1835 wurde, wohl unter dem Druck des wachsenden politischen Misstrauens, in Preußen insgesamt das Wanderbuch eingeführt. Der Innen- und Polizeiminister ordnete an, dass Pässe für Handwerker, in welchen weder ein bestimmtes Reiseziel noch ein anderer Reisezweck als die Arbeitssuche angegeben wurde, künftig lediglich auf dazu vorgesehenen Formularen in Buchform ausgestellt werden durften.1074 Mit entwaffnender Offenheit erklärte er, dass diese neue Regelung „der besseren Beaufsichtigung der wandernden Handwerker“ dienen solle. Im Jahr darauf schon klagte er aber darüber, dass die Neuerung „häufig“ unbeachtet bleibe oder dadurch umgangen werde, dass den Wandergesellen ganz gewöhnliche Reisepässe mit der Angabe eines bestimmten Reisezieles ausgestellt, ihnen durch die „visierenden“ Behörden dann aber gestattet werde, die Reise in beliebiger Richtung anzutreten oder fortzusetzen.1075 Dadurch wurde natürlich die angestrebte minutiöse Kontrolle des Reiseweges verhindert. Deshalb schärfte der Minister den Beamten die einschlägigen Vorschriften der Zirkular-Verfügung vom 21.3.1835 schon im Herbst des nächsten Jahres erneut ein. Es sollte nur dann von der Ausfertigung des Wanderbuches abgesehen und ein gewöhnlicher Pass ausgestellt werden, wenn der Geselle erklärte, ausschließlich an einem bestimmten Orte, dem Wanderziel, Arbeit aufnehmen zu wollen. Den Polizeibehörden wurde für diesen Fall untersagt, das Legitimationspapier mit Visa zur Reise nach anderen Orten zu versehen. Auch diese Kontrollmaßnahmen vermochten das latente Misstrauen der Staatsgewalt gegenüber den wandernden Untertanen aber nicht zu vertreiben. Als sich 1073 S. Bekanntmachung der Reg. Minden v. 20. Juni 1828, in: Amtsblatt Reg. Minden 1828, S. 151, 152. 1074 Reglement v. 21.3.1835, s. Schreiben des Innen- und Polizeiministers v. 7.11.1836 an die Regierungen in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3. Zu den ständigen Kontrollen der wandernden Gesellen in den dreißiger Jahren vgl. Schieder (1963), S. 86 f. 1075 Schreiben des Innen- und Polizeiministers an die Regierungen v. 7.11.1836, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3.

D. Das Wandern der Gesellen

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nämlich zeigte, dass eine zunehmende Zahl findiger Gesellen die Angaben in den Pässen und Wanderbüchern verfälschten und solche unrichtigen Urkunden sogar selbst herzustellen begannen, ohne belangt werden zu können, schritt das zuständige Innenministerium erneut zur Tat. Die Verfolgung dieser Fälschungen war bis dahin nur möglich gewesen, wenn sie mit betrügerischer Absicht oder aus strafbarem Eigennutz begangen worden waren (§ 1256, Tit. 20 T.II ALR). Konnten solche Motive aber nicht nachgewiesen werden, was in der Regel der Fall war, musste der Täter straffrei bleiben. Um die bereits geschaffenen Kontrollmechanismen nicht leer laufen zu lassen, ordnete der Innenminister deshalb 1837 an, dass die „Verfälschung“1076 von Pässen, Wanderbüchern, Gesindescheinen und Zeugnissen und die Anfertigung falscher Urkunden künftig polizeilich untersucht werden solle.1077 Wer eine solche Handlung begangen und zudem von den verfälschten Legitimationspapieren „zum bessern Fortkommen oder aus Eitelkeit“ Gebrauch gemacht hatte, musste seither aufgrund des § 1264 Tit. 20 T. II ALR mit der Verhängung einer Geldbuße von 1 bis 50 Thalern, ersatzweise Gefängnisstrafe, rechnen. Wie so häufig in Bezug auf die Gesellen erfuhr auch diese Vorschrift bald noch eine deutliche Verschärfung, und zwar durch eine Zuständigkeitsänderung. 1838 erging eine Kabinetts-Ordre, welche die „Verfälschung von Dienst-Entlassungsscheinen, Wanderbüchern, Pässen und ähnlichen polizeilichen Attesten“ der Sanktionsgewalt der Verwaltungsbehörden entzog und der ordentlichen Gerichtsbarkeit überantwortete. Das Delikt sollte künftig auch dann nach den §§ 1264, 1265 Tit. 20 T. II ALR bestraft werden, wenn eine betrügerische Absicht oder „strafbarer Eigennutz“ nicht nachgewiesen werden konnten. Die Bekanntmachung vom 15.7.1837 wurde aufgehoben und die Polizeibehörden zugleich verpflichtet, Delikte der genannten Art umgehend den Gerichten anzuzeigen.1078 Dass sich die Fälschung von Pässen und Wanderbüchern damals so signifikant häufte, hatte eine durchaus naheliegende Ursache: Das Wanderregulativ des Jahres 1833 bestimmte nämlich, dass Wanderpässe nur noch an die Angehörigen solcher Gewerkssparten, „welche eine besondere, vermittelst des Wanderns zu erlangende Ausbildung erfordern“, ausgestellt werden sollten. Natürlich wurde auch gegen diese Bestimmungen verstoßen. 1840 wandte sich die Regierung in Münster gegen Dienststellen, welche jenen Gesellen Ausweispapiere aushändigten, die zu ihrer beruflichen Vervollkommnung der Wanderschaft angeblich nicht bedurften.1079 Anlass war der Fall eines Holzschuhmachergesellen aus Emmerich, der wegen Bettelei nach den Vorschriften des Wanderregulativs bestraft und in seinen Heimatort zurückgewiesen worden war. Nach Auffassung der Regierung hätte einem Holzschuhmacher kein Wanderpass erteilt werden dürfen. Behörden, welche insoweit gegen die Bestimmungen verstießen, sollten durch die Polizeidienststellen namhaft 1076 Der Begriff der Verfälschung wird hier selbstverständlich nicht im Sinne der gegenwärtigen strafrechtlichen Terminologie, sondern derjenigen der Quellen benutzt. 1077 Verordnung des Ministeriums des Innern und der Polizei v. 15.7.1837, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1837, S. 227. 1078 Verordnung v. 19.6.1838, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1838, S. 183, 184. 1079 So Schreiben der Reg. Münster an den Landrat Mersmann in Coesfeld v. 31.7.1840, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 101.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gemacht werden. Da eine konkrete Enumeration wanderberechtigter Gewerke nicht existierte, war der Administration mit dieser Vorschrift aber eine weitere, wirksame Möglichkeit zur Zurückdrängung der Wandersitte eröffnet worden. Die schwere Hand des autoritären Staates legte sich auf die Gesellen, und ein Schlupfloch nach dem anderen, durch welches sie der permanenten Kontrolle und Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit hätten entkommen können, versperrte der Gesetzgeber. Wie enervierend die ständige Überwachung im Alltag der jungen Handwerker gewesen sein muss, erhellt das Wanderbuch des Warendorfer Tischlergesellen Gerhard Budde mehr als alle Vorschriften:1080 Als der damals zweiundzwanzig Jahre1081 alte junge Mann 1840 seine Wanderschaft beginnen wollte, hatte er sich zunächst von seiner Heimatstadt nach Münster zu verfügen, wo ihm die Regierung nach Vorlage der notwendigen Unterlagen und Zahlung einer Gebühr1082 am 8. April 1840 ein vorgedrucktes Wanderbuch für die Dauer von fünf Jahren ausstellte. Da er ins Ausland reisen wollte, wurde ihm die Genehmigung für eine vergleichsweise lange Wanderzeit erteilt. Den Vorschriften entsprechend trug die Behörde die vorgesehene Wanderroute „behufs der Vervollkommnung in seinem Gewerbe, auf die Wanderschaft über Paderborn, Cashel und Leipzig und so weiter in die deutschen Bundesstaaten“ in das Papier ein. Dabei hatte Budde Glück gehabt: Es war nämlich keineswegs selbstverständlich, dass die Genehmigung für eine Auslandsreise erteilt wurde. Da der Münsterländer aber den Beruf des Vaters gewählt hatte und seine Rückkehr zur Übernahme des elterlichen Betriebes deshalb zu erwarten stand, erhielt er die Erlaubnis, Preußen zu verlassen. Das Wanderbuch wies ihn ausdrücklich darauf hin, dass Veränderungen desselben bestraft würden und die Wandererlaubnis bei Verlust des Ausweises erlösche. Neben der Beschreibung des Gesellen vermerkte der Warendorfer Landrat die Abreise des jungen Mannes am 28. April 1840. Es wurde ihm aufgegeben, in fünf Tagen den nächsten Bestimmungsort Kassel über Paderborn zu erreichen. Am 1. Mai 1840 wurde Budde von der Kurfürstlich Hessischen Polizei mit dem Vermerk „Geht nach Leipzig“ weitergeschickt. Nach Meldungen in Gotha (3. Mai 1840) und Weimar (5. Mai 1840) erreichte er am 7. Mai 1840 Leipzig. Dort trug die Polizei als nächstes Ziel Dresden in den Pass ein, wo er am 8. Mai ankam und seine erste Arbeitsstelle antrat. Die folgenden Arbeitsaufenthalte in Sachsen, Böhmen und Wien sind durch die dortigen Behörden mit dem An- und Abreisetag minutiös dokumentiert.1083 Die Kgl. Preußische Gesandtschaft in Wien gestattete Budde nach Vorlage des Passes am 19. Juli 1847 die Rückreise in die Heimat, welche über Linz und Regensburg zu erfolgen hatte. Das Beispiel zeigt, dass die Passvorschriften und das daraus resultierende Überwachungssystem die intendierte Wirkung nicht verfehlten. Trotz aller Verstöße gegen die Bestimmungen war die weitestgehende Kontrolle der Wandergesellen in den deutschen Bundesstaaten zur Wirklichkeit geworden. 1080 S. Seibert (1997), S. 62. 1081 Nach den Feststellungen von Kuba betrug das Durchschnittsalter wandernder Gesellen etwa neunzehn Jahre; s. Kuba (1990), S. 53; vielleicht hat die gute Auftragslage im elterlichen Betrieb den Beginn der Wanderschaft des Gerhard Budde verzögert. 1082 Diese betrug 1/5 Rtl und 6 Pfg. 1083 Sein Vater und sein Großvater hatten bereits dieselbe Wanderroute gewählt.

D. Das Wandern der Gesellen

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c. Die Reformentwürfe Das ungewöhnliche Maß an Bevormundung, dem sich die Gesellen ausgesetzt sahen, beschädigte den ihnen verbliebenen Rest an Reputation mehr und mehr. Auch in Westfalen dürfte deshalb gegolten haben, dass eine „lieblose und barsche Behandlung gegen die Gesellen“ die Regel war, „da nun einmal die seltsame Voraussetzung gilt, dass die Vermuthung gegen die Wanderburschen streite, und es rechtfertige, ihnen mit Argwohn und Strenge entgegen zu treten“.1084 Man geht allerdings fehl, wenn man unterstellt, dass die so wenig Verständnis für die Nöte der wandernden Gesellen offenbarenden Vorschriften allein im Interesse des Staates gelegen hätten. 1848, als sich die Meister erstmals selbst in großer Zahl zu Fragen der Handwerksgesetzgebung äußerten, forderten sie in ihren Petitionen an das Frankfurter Paulskirchen-Parlament zwar den Wanderzwang, wobei die dreijährige Wanderschaft zumeist als notwendig und angemessen erachtet wurde. Die Bielefelder Gewerbetreibenden hielten die Wanderschaft sogar für derart unabdingbar, dass sie vom Gesetzgeber die Einräumung eines „unbedingten Wanderrechts“ verlangten.1085 Dementsprechend sah auch der sog. „Entwurf einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Teutschland“, welchen der im Sommer des Jahres 1848 in Frankfurt tagende Meisterkongress vorlegte, eine mindestens dreijährige Wanderschaft aller Gesellen vor (§ 23); alle Erschwernisse, insbesondere durch lästige Formalitäten, sollten fortfallen (§ 24).1086 Diese Forderung nach Liberalisierung fand in der Provinz Westfalen aber keineswegs ungeteilte Zustimmung. Andere Meister scheuten sich nämlich nicht, eben damals der unausgesetzten Kontrolle der Gesellen durch die Polizeibehörden das Wort zu reden und das staatliche durch ein weiteres, handwerkseigenes Überwachungssystem zu ergänzen und das Kontrollwesen damit zu perfektionieren. So verlangten die selbständigen Handwerker des Kreises Siegen in einer Petition an das Paulskirchen-Parlament in der Tat, dass sich die wandernden Gesellen an jedem Aufenthaltsort bei der Innung ihres Gewerbes melden, dem dortigen Vorstand das Wanderbuch vorlegen und immer wieder aufs neue das notwendige Reisegeld nachweisen mussten. Hatte der Geselle 1084 So Böhmert (1858), S. 37; sein dezidierter, den Zunft- und Wanderzwang ablehnender Standpunkt nimmt seiner Beschreibung nichts von ihrer Aussagekraft, da sie durch zahlreiche andere Quellen belegt wird. Insbesondere das archivierte Schriftgut der Behörden bestätigt eindrucksvoll die Feststellung des zeitgenössischen Zunftkritikers Viktor Böhmert. 1085 Bericht des Volkswirthschaftlichen Ausschusses über den Entwurf einer Gewerbe-Ordnung (1849), S. 883. 1086 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 411; eine Begründung zu § 23 lieferten die Meister gleich mit: „Die Fremde ist für jeden Menschen eine Schule der Bildung und Erfahrung mannichfachster Art, und für den Handwerker und Gewerbsmann um so unerläßlicher, als er nur durch eigene Anschauung fremder Zustände und Verhältnisse eine Vergleichung mit dem ihm Bekannten anstellen und daraus eine richtige Erkenntniß des Wahren, Schönen und Nützlichen schöpfen, sich als Mensch und Gewerbsmann zugleich auszubilden vermag. Nur die unabweisbarsten Gründe sollen von der Pflicht der Wanderung entbinden dürfen“. Zu § 24 hieß es: „Da die Wanderung für den jungen Handwerker eine dringend gebotene Nothwendigkeit ist, so soll sie auch auf jede Weise im Ausland durch die teutschen Gesandten und Consuln gefördert und nicht durch lästige Plackereien und unnütze Formalitäten erschwert werden“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

an einem Ort keine Arbeit erhalten oder diese ausgeschlagen, so sollte er sich hierfür bei der Innung rechtfertigen. Gelang ihm dies nicht, so wollten die Siegener Meister ihn vermittelst der Polizeibehörde sogleich wieder in seine Heimat zurückweisen lassen.1087 Was an diesem Petitum so irritiert, ist weniger die Undurchführbarkeit der Vorschläge als vielmehr die beabsichtigte gänzliche Entmündigung der jungen Berufskollegen, welche offenbar von ihren Arbeitgebern nurmehr als allseits verfügbare Produktionsmittel betrachtet wurden. Dass eine solche fortdauernde Kujonierung des eigenen Nachwuchses das Ansehen des Handwerks insgesamt nachhaltig schädigen musste, sahen die ignoranten Meister merkwürdigerweise nicht. Die Teilnehmer des Frankfurter Gesellen-Kongresses fanden in der Frage der Freizügigkeit des Handwerkernachwuchses im Gegensatz zu manchen Arbeitgebern zu einer durchaus rationaleren Auffassung, da sie sich an den sie beschwerenden Missständen orientierten. Sie maßen der Wanderschaft des Gesellen „zur Ausbildung und Aneignung eines richtigen Urtheils“ und „zur Sammlung von Kenntnissen, sowohl in seinem Berufe, als auch in den verschiedenen Bildungs-Anstalten“ große Bedeutung zu. Es nimmt nicht wunder, dass sie, von den revolutionären Ereignissen optimistisch gestimmt, auf das Ende der andauernden Bedrückung durch das Passregiment der deutschen Bundesstaaten hofften. Wer ihre Gravamina unvollständig oder unberechtigt fand, musste ihnen, so ihre Überzeugung, übel wollen: „Frei und ungehindert soll er (der Geselle) reisen, keiner anderen Legitimation als der der reisenden Staatsbürger überhaupt bedürftig, soll er, überall vor der Brutalität und Willkür visirender Beamter geschützt und unnöthiger Kosten überhoben sein“,1088 forderten sie – die Klage über das so vielen von ihnen widerfahrene Ungemach und die fortwährende Beeinträchtigung der Reisefreiheit durch die autoritäre Staatsgewalt nicht verhehlend. Unbeschränktes Wanderrecht, Begrenzung der Militärpflicht, Freiheit der Arbeitsaufnahme ohne die Zuschickregelungen des Alten Handwerks, das waren zentrale Forderungen der Gesellenbewegung in der Revolutionszeit. Die Wünsche waren ebenso vernünftig wie moderat. Sofern preußische Untertanen an der Formulierung der Petita beteiligt waren, verdienen sie dieses Lob in besonderer Weise: Hatte sich doch die preußische Polizei den wenig schmeichelhaften Ruf außerordentlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber den Wanderburschen erworben.1089 Der kundige Zeitgenosse Hasemann nannte das Verhal1087 Art. 23 der Petition der Handwerker des Kreises Siegen vom 25. Juli 1848, in: Deutsches Bundesarchiv, DB 51/141, fol. 90. 1088 Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Kongresses zur Hebung der gewerblichen Arbeiter … (1980), S. 208 ff. (213); der Text ist auch wiedergegeben bei Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 414; zu den Forderungen der Gesellen im Zusammenhang mit der Revolution des Jahres 1848. s. ausführlich Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 407, 408. Diese Petita der Gesellen wurden von den Meistern unterstützt: Der Entwurf der „Allgemeinen Handewerker- und Gewerbeordnung“ des Frankfurter Meisterkongresses 1848 bestimmte in § 24: „Das Wandern ist in keinerlei Weise zu erschweren“. Die Wanderung sollte „…auf jede Weise, im Auslande durch die deutsche Gesandten und Consuln, gefördert und nicht durch lästige Plackereien und unnütze Formalitäten erschwert wurden“; zit. nach John (1987), S. 218. 1089 In den anderen deutschen Territorien wurden die vergleichbaren Vorschriften moderater gehandhabt; s. Hasemann Art. „Geselle“ (1856), S. 403.

D. Das Wandern der Gesellen

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ten der Staatsdiener gegenüber den Gesellen nicht allein unklug, sondern unmenschlich: „In der That kann man viele preußische Polizeiagenten, welche mit der Überwachung der wandernden Gesellen betraut waren, von jener Brutalität nicht freisprechen, welche den Gesellen, oft ohne allen Grund, nicht blos nahezu als einen Verbrecher oder mindestens als einen Unmenschen behandelte, sondern auch dazu beitrug, ihn störrisch, roh und oppositionell zu machen, wenn er es noch nicht war.“1090 Die Gewerbegesetze der Jahre 1845/1849 förderten das Gesellenwandern aber ebenfalls nicht. Obgleich sich die neuen Vorschriften unübersehbar an der Ausbildungsordnung des Alten Handwerks orientierten, sah sich der preußische Gesetzgeber keineswegs genötigt, die Wanderpflicht als Spezifikum der handwerklichen Ausbildung wieder einzuführen oder die Wandersitte zu beleben. Das Wanderregulativ aus dem Jahre 1833 hatte mit seiner Bestimmung, Wanderpässe nurmehr Angehörigen solcher Handwerksberufe auszustellen, bei denen das Wandern allgemein üblich war oder als notwendig erachtet wurde, an der Wendung des Gesetzgebers gegen den Gesellenbrauch keinen Zweifel gelassen, und daran änderten auch die Reformvorschriften der Jahre 1845/49 nichts, gar nichts. Durch die Verordnung vom 9.2.1849 machten der Gewerbe- und der Innenminister das Ausstellen des Wanderpasses an einen Handwerksgesellen zudem davon abhängig, dass derselbe die Gesellenprüfung bestanden hatte. Nach Auffassung der Minister ergab sich aus den §§ 31, 32, 37, 48, 35 Abs. 2, 44, 36 der Verordnung v. 9.2.1849, dass lediglich jene Gesellen, die schon vor Erlass der Verordnung als Gehilfen tätig gewesen waren, auch künftig ohne den Nachweis der Prüfung Anspruch auf Erteilung des Ausweispapiers hätten.1091 Da sich die Gesellenprüfung aber nicht sogleich als allgemeiner Usus durchsetzte,1092 dürfte der Pass in vielen Fällen nicht erteilt worden sein, was zu der unbestrittenen Verringerung jedenfalls der relativen Zahl der Wandergesellen nach der Jahrhundertmitte beigetragen haben mag. In der Tat scheint die restriktive Auffassung des Innenministers nicht unbeachtet geblieben zu sein. 1856 führte die Regierung in Arnsberg bei der Münsteraner Behörde Klage darüber, dass in Hamm mehrere junge Handwerker erschienen seien, die zwar noch kein Gesellenexamen abgelegt, gleichwohl aber im münsterischen Bezirk ein „Abzugs1090 So Hasemann, wie Anm. 1088. Die Kontrolle des Staates erstreckte sich nicht allein auf die wandernden Gesellen, sondern auch auf die Dienstboten, deren Mobilität ebenfalls erheblich war. 1846 erging in Preußen das Gesetz „wegen Einführung von Gesinde-Dienst-Büchern (Preußische Gesetzessammlung 1846, S. 467). Dieses verpflichtete jeden Dienstboten, ein solches Gesindedienstbuch zu besitzen, welches er jeweils vor Antritt eines neuen Dienstes der Polizei-Behörde des Aufenthaltsortes vorzulegen hatte (§ 1–3 des Gesetzes). Aufgrund des § 11 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 11.3.1850 drohte die Regierung Münster am 4.9.1855 für den Fall des Verstoßes gegen diese Bestimmungen eine Geldstrafe bis zu zwei Thl. oder „verhältnismäßige Gefängnisstrafe“ an. S. Amtsblatt Regierung Münster v. 22.10.1855, S. 263. 1091 Stellungnahme des Ministers von der Heydt v. 10.4.1851, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 110; Schreiben des Innenministers von Westphalen an die Reg. Köln v. 24.4.1851 in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 111. 1092 S. dazu das Kap. „Das Prüfungswesen“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

attest“ als Gesellen erhalten hätten.1093 Eigentliche Wanderpässe hatte ihnen allerdings niemand ausgestellt. Diese ungeprüften Hilfskräfte stammten allesamt aus Hamm benachbarten Orten.1094 Die Arnsberger Beamten wiesen ihre Kollegen in Münster damals ausdrücklich darauf hin, dass Wanderpässe nach dem ZirkularReskript v. 20.4.1851 nur den geprüften Handwerksgesellen erteilt werden dürften. Ob es aufgrund dieser Regelung auch untersagt sei, die „Abzugsatteste“ an Ungeprüfte auszustellen, wollte man in Arnsberg allerdings nicht abschließend beurteilen, sondern überließ dies der Entscheidung der Münsteraner Regierung.1095 Noch in anderer Weise konnte die Reformgesetzgebung das Gesellenwandern beeinflussen: Erstaunlich genug, war hierfür das Kassenwesen verantwortlich1096 – was folgende Bewandtnis hatte: Nachdem die „Laden“ oder „Auflagen“ – nicht zuletzt aufgrund ihrer offiziellen Anerkennung durch die Gewerbe-Ordnung und die Verordnung v. 9.2.1849 – endlich der öffentlichen Förderung gewiss sein konnten, suchten ihre Mitglieder die strikte Kontrolle der wandernden Gesellen durch die Passgesetzgebung für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Die Soester Krankenladen der Gesellen bestimmten statutarisch, dass den in der Bördestadt tätigen Hilfskräften das Wanderbuch erst dann wieder ausgehändigt werden sollte, wenn sie durch Vorweisen eines quittierten sog. „Ladenscheins“ belegt hatten, dass sie ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber der Kasse nachgekommen waren. 1851 wandten sich die Vorstände der Gesellenkassen mit der Bitte an den Magistrat, diese Bestimmung durchzusetzen und das Wegwandern derjenigen Gesellen, die ihren Verpflichtungen gegenüber den Kassen nicht nachgekommen waren, durch das Einbehalten der Legitimationspapiere zu verhindern.1097 Damit war der Mobilität der Gesellen eine weitere Grenze gesetzt. Solche Papiere mussten allerdings durchaus nicht immer hinderlich sein; sie konnten sich als Ausweis der Rechtschaffenheit auch als nützlich erweisen. In manchen der deutschen Länder war die Führung sog. „Arbeitsbücher“, welche den „Dienstbüchern“ der Knechte und Mägde entsprachen, auch für die Handwerksgesellen vorgeschrieben.1098 Der Meister war dann gehalten, ein solches Arbeitszeugnis auszustellen. Offenbar geschah dies aber allenfalls auf Verlangen der Gesellen, häufig jedoch unterblieb es auch. Für das gewerbefreiheitliche Westfalen fehlten solche Vorschriften; im Einvernehmen dürften die Meister ein derartiges Papier im Interesse des guten Fortkommens des Gesellen aber ausgestellt haben. Über die Zweckmäßigkeit solcher Atteste der guten Führung, welche den Gesellen auf der Wanderschaft hilfreich sein konnten, diskutierten auch die Gesellenvereine Adolf Kolpings. Auf der Generalversammlung seines Werkes im Jahre 1093 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an die Reg. Münster v. 5.11.1856, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 1094 S. Schreiben des Magistrats Hamm an die Reg. v. 2.10.1856, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 1095 Schreiben der Reg. Arnsberg an die Reg. Münster v. 5.11.1856, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 1096 Dazu ausführlich das Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“. 1097 Schreiben der Soester „Gesellen-Kassen-Vereine“ an den dortigen Gemeindevorstand v. 9.2.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1098 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 423.

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1853 wurde die Einführung eigener Wanderbücher für die Mitglieder beantragt. Der jeweilige Präses sollte Führungszeugnisse ausstellen, welche in das Buch eingetragen wurden; die Papiere wollten die Vereine denn untereinander anerkennen. Wegen der Probleme, welche aus einer individuellen Beurteilung der Mitglieder durch den Präses für die Vereine notwendig erwachsen mussten, wurden feste Formulierungen für die Atteste vorgeschlagen.1099 Diese vereinsinternen Wanderbücher scheinen dann allerdings keine größere Bedeutung erlangt zu haben. d. Die Beseitigung der „Paßquälerei“ Mit der beschleunigten Entwicklung von Wirtschaft und Verkehr nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ließ sich das strikte Passreglement der deutschen Länder schließlich aber immer weniger vereinbaren. Insbesondere der Siegeszug der Eisenbahn trug dazu bei, jedermann die Unzuträglichkeit, endlich gar die Undurchführbarkeit der hergebrachten Art der Passkontrolle vor Augen zu führen. Unter dem Druck der gerade in Teilen Westfalens zu Beginn der Hochindustrialisierungsphase stürmischen wirtschaftlichen und technischen Veränderungen schlossen die deutschen Regierungen am 21.10.1850 in Dresden eine Passkonvention, in der sie sich gegenseitig verpflichteten, die Passkarten auch ohne die bis dahin vorgeschriebene und übliche sog. Visierung als ausreichende Legitimation anzuerkennen.1100 Bezeichnenderweise profitierten die Handwerksgesellen von dieser wesentlichen Erleichterung des Reisens aber nicht, da die Konservativen darauf hinwirkten, dass die Arbeiterschaft, Gewerbegehilfen, Dienstboten, Tagelöhner – und damit auch die wandernden Handwerksgesellen – von der Neuregelung ausgeschlossen blieben. Dass der preußische Gesetzgeber zunächst noch keineswegs beabsichtigte, das Wandern der Handwerksgesellen zu erleichtern, folgt auch aus einer weiteren Verschärfung des geltenden Wanderregulativs im Jahre 1852: Zur besseren Kontrolle der aus den Nachbarstaaten zuwandernden Gesellen wurde die preußische Grenzpolizei damals verpflichtet, bei der Erteilung eines Visums jeweils zu vermerken, dass die Vielzahl der in dem Regulativ genannten Versagungsgründe geprüft worden sei, solche aber nicht vorlägen.1101 Das alte Misstrauen war eben noch immer nicht geschwunden. Mitte der fünfziger Jahre, als die Regierungen des Deutschen Bundes neuerlich von der Furcht vor der „Gesellschaft der fremden Maurer“1102 geplagt wurden, richtete die Polizei auch in den Zentren der Demokratiebewegung in Westfalen, in Hamm, Minden und Paderborn, besondere Kontrollstationen für wandernde Handwerksgesellen ein.1103 In Dortmund mit seinem außerordentlichen Bedarf an Arbeitskräften aus den Bauberufen drang die Stadtverwaltung damals ebenfalls auf eine scharfe Überwachung 1099 S. Kracht (1975), S. 9. 1100 S. Steuer (1928), S. 22. 1101 Erlass des Innenministers v. Westphalen an die preußischen Regierungen v. 11.7.1852, in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 307, Nr. 6, Bd. 1 fol. 23. 1102 S. dazu das Kap. „Die Restituierung des Kontrollsystems“. 1103 Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 3, S. 599.

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der wandernden Gesellen.1104 Dies war allerdings nicht ganz unverständlich, hatte doch ein Kommunist aus Köln dort 1850 versucht, die Arbeiter mit umstürzlerischen Ideen bekannt zumachen1105 – was aber sogleich vereitelt wurde. Dementsprechend misstrauisch verhielt sich seither der Dortmunder Magistrat: 1851 verlangte er von den Bauhandwerksmeistern eine Namensliste der bei ihnen arbeitenden Gesellen, und wenig später wollte er auch die Namen der Schneider- und Schuhmachergesellen erfahren, um dem Landrat über alle Wohnungsänderungen und den Zuzug fremder Handwerker berichten zu können.1106 In anderen westfälischen Städten waren die Kontrollen nicht minder rigoros, so dass die Lokalbehörden sicher sein konnten, dass von seiten der Gesellen kein neuerlicher Aufruhr zu befürchten stand, wie der Bürgermeister Bielefelds 1857 denn auch befriedigt feststellte: „Die wandernden Handwerksgesellen und die Herbergsmeister sind schon seit längerer Zeit einer strengen Controllierung durch die Polizei-Beamten unterworfen, und es ist bisher über deren Verhalten keine Beschwerde eingelaufen“.1107 Der Erlass einer besonderen, vom Handels- und Gewerbeminister vorgeschlagenen Polizeiverordnung zur Unterdrückung etwaiger Renitenz der Gesellen sei, so fuhr der Bürgermeister fort, „unter diesen Umständen zur Zeit nicht erforderlich“. Wirklich aktiv waren die „fremden Maurer“ auch nicht in Westfalen, sondern in Teilen Ostelbiens: 1856 führte die Regierung in Potsdam Klage über „Missbräuche verschiedener Gesellen-Verbindungen“.1108 Deshalb wiesen der Innen- und der Gewerbeminister 1857 nochmals darauf hin, dass gegen die „Ausführung ungesetzlicher Beschlüsse“ der „geheimen Bruderschaften der wandernden unverheiratheten Gesellen“ insbesondere § 98 des Strafgesetzes angewandt werden müsse. Bedrohung der Meister und die altbekannten Verrufserklärungen sollten durch die Strafbestimmungen des § 182 der Gewerbeordnung geahndet werden. Vor allem aber wollten die Minister das Wanderregulativ v. 21. März 1835 angewandt wissen, welches die Möglichkeit bot, unliebsamen Gesellen die Fortsetzung der Wanderschaft zu untersagen und sie „mittels Zwangspasses“ an ihre Heimatorte zurückzuschicken. Sämtlichen Polizeibehörden wurde diese Bestimmung erneut eingeschärft1109 und auf die Möglichkeit des Erlasses von spezifischen Polizeiverordnungen hingewiesen.1110 Die Westfalen mit ihrer damals bereits seit einem Menschenalter abgerissenen Zunfttradition verstanden die Aufregung der Berliner Regierung aber nicht 1104 1105 1106 1107

Wie Anm. 1103. Wie Anm. 1103, S. 609. Wie Anm. 1103, S. 651. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bielefeld v. 13.6.1857, in: Stadtarchiv Bielefeld Rep. I C Nr. 51. 1108 Auf das Schreiben der Regierung Potsdam v. 19. Mai 1856 wird Bezug genommen in: Schreiben des Innen- und Gewerbeministers v. 28. Februar 1857 in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 42. 1109 Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ausweisung auch ohne Verletzung des Strafgesetzes und lediglich aufgrund polizeilicher Ermittlungen erfolgen könne, der Pass eingezogen und eine erneute Wiederausstellung desselben durch Benachrichtigung der Heimatbehörde verhindert werde; s. Schreiben des Innen- und Gewerbeministers v. 28. Februar 1857, wie Anm. 1108. 1110 Aufgrund des Gesetzes über die Polizei-Verwaltung v. 11. März 1850.

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mehr so recht, wie der Bemerkung des Bielefelder Bürgermeisters zu entnehmen ist.1111 Die restriktive Haltung bei der Erteilung von Pässen an Handwerker war keineswegs ein Spezifikum Preußens. Auch anderwärts blieb das Ausstellen solcher Papiere an Angehörige der sog. „handarbeitenden Klassen“ zunächst noch von staatlichem Gutdünken abhängig. Als 1857 viele Handwerker aus Kurhessen in „benachbarte preußische Gegenden“, also nach Westfalen, wandern wollten, um dort besser bezahlte Arbeit zu finden, verfügte das hessische Ministerium kurzerhand, dass Arbeiter in größerer Zahl künftig nurmehr mit Genehmigung der zuständigen Landratsämter ins „Ausland“ reisen dürften – und diese versagten die Papiere dann. Pässe und Wanderbücher wurden nicht ausgehändigt.1112 Die ständige Kontrolle der Gesellen durch die Wanderbücher, Reisepässe und Visen gipfelten im Voraus-Visiren der Wanderrouten. Von dieser „gebundenen Marschroute“ konnten die Gesellen dann ohne neuerliche Genehmigung nicht mehr abweichen. Solch rigorose Maßnahmen bezweckten Dreierlei: (1) Die Bewegung der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ständig wachsenden Zahl der Wandergesellen, welche jedenfalls in den Großstädten bedrohliche Aussmaße anzunehmen schien, sollte soweit wie möglich gesteuert werden; (2) die verbreitete Bettelei mochte die Obrigkeit nicht zum Massenphänomen werden lassen; (3) schließlich war es den Behörden um die politische Kontrolle der Wandergesellen zu tun, zumal wenn diese aus dem westlichen Ausland in das Gebiet des Deutschen Bundes zurückkehrten. In den Beschreibungen der Wanderjahre hallen die Klagen über die Durchsuchungen und Befragungen, das sinnlose Warten auf Polizeistationen und die unausgesetzten Kontrollen wider.1113 „Vom Staate kennen sie nichts als die Polizei; aber diese freilich genau“, pointierte Prof. Perthes 1855 die Erfahrungen der Wandergesellen.1114 Die Kontrollwut der Behörden fand in immer neuen Polizeivorschriften ihren Niederschlag, die Ludwig von Rönne 1851 in seiner Übersicht über die „GewerbePolizei des preußischen Staates“ auflistete: Dort finden sich Reskripte „Über die Beaufsichtigung wandernder Gewerbsgehilfen“ v. 22. Juni 1817, 17. Juli 1817, 24. April 1833 und 21. März 1835, die „Aufsicht auf die Gesellen-Herbergen“ vom 9. August 1820 und 15. September 1833, das „Verbot des willkürlichen Feierns der Gewerksgehülfen“ v. 15. November 1823, 2. Juni 1824, 21. April 1837, das „Verbot der Neujahrs-Gratulationen von Seiten der Gesellen und Lehrburschen“ vom 15. Januar 1825, 4. Juni 1825, 4. Januar 1818, 27. Oktober 1821, 18. Dezember 1823, die „Beschränkung der Zahl des Leichengefolges bei Begräbnissen der Handwerksgesellen“ v. 12. April 1825, 28. April 1825, 30. Mai 1825, 15. Dezember 1828, die „Abstellung der Mißbräuche der Müllergesellen“ v. 19. Februar 1823, 12. März 1823, 15. März 1823, die Abstellung der Handwerksmißbräuche der Papiermacher“

1111 1112 1113 1114

Vgl. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bielefeld v. 13. Juni 1857, wie Anm. 1107. Vgl. Steuer (1928), S. 29. Zahlreiche Beispiele hierfür finden sich bei Kocka (1990), S. 348, Anm. 128, S. 618,619. Hier zitiert nach Kocka (1990), S. 348.

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v. 28. Januar 1817 und die „Abstellung der Handwerksmißbräuche der Buchdruckergesellen“ v. 8. Oktober 1803.1115 Victor Böhmert faßte die Wirkung dieses Traktamentes der Gesellen seitens des Staates nicht ohne Bewegung zusammen: „Der polizeiliche Druck, der auf den wandernden Gesellen lastet, spricht sich gleich im Anfange des Wanderbuches in einer Reihe der lästigsten Anordnungen und Vorschriften, z. B. dem Vorweisen von Reisegeld, der Ertheilung von Zwangspässen u. s. w. aus. Er offenbart sich ferner in den meisten Fällen in einer lieblosen und barschen Behandlung gegen die Gesellen, da nun einmal die seltsame Vorraussetzung gilt, daß die Vermuthung gegen die Wanderburschen streite, und es rechtfertige, ihnen mit Argwohn und Strenge entgegenzutreten.“1116 In Preußen wurde das restriktive Passrecht unter dem Einfluss des liberalen Denkens aber schließlich doch wieder gelockert. Mit Beginn der sog. „Neuen Ära“ nahm der Einfluss der konservativen Abgeordneten in Berlin zusehends ab. Dies eröffnete der norddeutschen Vormacht die Möglichkeit, zu wesentlichen Erleichterungen des Passreglements zu finden und die wandernden Gesellen damit allmählich aus ihren Fesseln zu befreien. 1858 ordnete die Regierung eine weniger rigide und gerechtere Anwendung des Gesetzes an.1117 Vor allem enthob sie die Reisenden der lästigen Verpflichtung, bei längerem Aufenthalt in einer Stadt jeweils eine Aufenthaltskarte lösen zu müssen. Diese durch den Siegeszug freiheitlicher Ideen und Überzeugungen geförderte Entwicklung machte auch vor den Nachbarländern Preußens nicht halt. Schweden, Frankreich, Belgien, die Niederlande und die Schweiz beseitigten damals den Passzwang sogar. 1862 legte auch die preußische Regierung dem Landtag einen Gesetzentwurf zur Änderung des Passrechts vor, doch scheiterte dieser an der mangelnden Übereinstimmung der beiden Häuser des Parlaments.1118 Neue Impulse erhielt die einmal angestoßene Diskussion um die Reisefreiheit, als Bayern, Württemberg, Hannover und Sachsen 1865 einen im wesentlichen auf dem Grundsatz der Passfreiheit beruhenden Vertrag über das Passwesen und die Fremdenpolizei schlossen, dem sogleich mehrere andere deutsche Staaten beitraten.1119 Allerdings litt auch diese Übereinkunft unter dem Mangel, dass sie die große Masse derjenigen, welche Arbeit in der Fremde suchten, von den Erleichterungen der Passfreiheit, die den übrigen Reisenden zugute kam, ausschloss. Die Polizeibehörden der vertragschließenden Länder verlangten von den wandernden Gesellen weiterhin den Nachweis der Mittel zum Unterhalt; außerdem blieb es in das Ermessen der Behörden gestellt, ob sie den Reisewilligen einen Pass erteilen oder verweigern wollten – eine Regelung, die naturgemäß gerade von den Arbeitsuchenden als unerträglich empfunden wurde. Das alte Skandalon lebte also vorerst fort. Allerdings war der Reformbedarf durch die in einigen Bundesstaaten in Kraft getretene Neuregelung in den anderen deutschen Ländern nicht länger zu 1115 Rönne (1851), S. 767–769; dazu zahlreiche weiterreichende Hinweise bei Kocka (1990), wie Anm. 1114. 1116 So Böhmert (1858), S. 36 f., hier zitiert nach Kocka (1990), S. 348. 1117 Vgl. Steuer (1928), S. 22. 1118 S. Steuer (1928), S. 22, 23 m. w. Nachw. 1119 Steuer (1928), S. 23.

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leugnen. Deshalb stand die Änderung des Passrechtes auch in Preußen auf der Agenda. Der Dortmunder Abgeordnete im preußischen Landtag, Dr. Hermann Becker, der „Rote Becker“, einer der Kämpfer der Achtundvierziger-Revolution und spätere Oberbürgermeister von Dortmund und Köln, setzte sich 1866 entschieden für die Aufhebung der Arbeitsbücher und die Abschaffung des Passzwanges für die Handwerker ein.1120 Doch beseitigte erst der Norddeutsche Bund den Reformstau, der in Preußen auf diesem Gebiet so sichtbar entstanden war. § 4 der Verfassung des Bundes zählte das Passwesen und die Fremdenpolizei zu den Bundeskompetenzen. Der Reichstag, das Vertretungsorgan des Zusammenschlusses, erkannte sofort, wie dringlich es vor allem aus wirtschaftlichen Gründen war, Freizügigkeit auch – und gerade – für die arbeitende Bevölkerung des sich damals jedenfalls in manchen Regionen schnell industrialisierenden Bundesgebietes zu schaffen. Schon am 1. Januar 1868 trat das Passgesetz des Norddeutschen Bundes in Kraft, welches weitgehend dem preußischen Entwurf des Jahres 1862 folgte.1121 Seither bedurften Bundesangehörige weder zur Ausreise aus noch zur Rückkehr in das Bundesgebiet sowie zum Aufenthalt oder zu Reisen innerhalb des Bundesgebietes eines Legitimationspapiers (§ 1 Abs. 1). Das ständige „Visieren“ der Ausweise durch die Polizeibehörden schon bei bloßen Reisen innerhalb des Staatsgebietes gehörte endgültig der Vergangenheit an (§ 2). Dass diese Reform vor allem die wandernden Gesellen von der Last der bis dahin geltenden, inzwischen aber allgemein als atavistisch empfundenen Regelungen befreien sollte, verschweigen die Motive zu dem Gesetz merkwürdigerweise.1122 Sie weisen immerhin aber darauf hin, dass der Passzwang in der hergebrachten Form nicht mehr durchsetzbar war. Die Mobilität der Bevölkerung dürfe nicht länger „durch Maßregeln gehemmt und gestört werden, welche keinen anderen Zweck haben, als den Verdächtigen auf die Spur zu kommen, deren Anzahl gegen die stets wachsende Zahl der Reisenden überhaupt doch immer nur verschwindend klein ist.“ Diese auf dem Höhepunkt des liberalen Denkens in Deutschland gefundene Formulierung entdeckt den fundamentalen Wandel in der Haltung des Gesetzgebers gegenüber den wandernden Gesellen: Während die Wanderburschen in den dreißiger und vierziger Jahren als tendenziell Verdächtige behandelt wurden, hatte der Gesetzgeber nun erkannt, dass latentes Misstrauen des Staates und die Entmündigung des Bürgers mit den Erfordernissen einer dynamischen Wirtschaftsgesellschaft nicht länger zu vereinbaren waren. Als Frucht dieser den Weg zum Grundrecht der Freizügigkeit weisenden Überzeugung wurde den Bundesangehörigen durch das Reformgesetz ein Anspruch auf Erteilung von Pässen oder sonstigen Ausweisen gesichert, sofern ihrem Recht zu Reisen keine gesetzlichen Hindernisse entgegen standen (§ 1, Abs. 2). Die Regelung gewann auch für die Handwerksgesel1120 Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 4, S. 982. Becker wollte mit seiner Haltung in dieser Frage Anhänger für die Genossenschaftslehre der Fortschrittspartei gewinnen. 1121 Gesetz über das Passwesen v. 12. Oktober 1867, in: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Jahrg. 1867, Nr. 5, S. 33–35. 1122 Motive zu dem Entwurf eines Gesetzes über das Passwesen, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 167, 168.

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len einiger der Preußen benachbarten Staaten außerordentliche Bedeutung. Denn in manchen Ländern des Bundes bestand damals noch die Zunftverfassung; die Niederlassung als selbständiger Handwerker war in diesen Gebieten – jedenfalls nach den Buchstaben des Gesetzes – an den Nachweis einer mehrjährigen Gesellenwanderung geknüpft, welcher nur durch das regelmäßig geführte Wanderbuch erbracht werden konnte. Die Aushändigung eines amtlichen Dokumentes lag demnach im Interesse der Gesellen selbst. Aber nicht nur die Handwerksgesellen, sondern auch andere Arbeitsuchende fanden eher eine neue Stelle, wenn sie einen amtlich beglaubigten Ausweis über ihre Tätigkeit vorlegen konnten. Auch sie profitierten deshalb von der neuen Regelung. Von der Verpflichtung zur Führung eines Wanderbuches sah der Bundesgesetzgeber aber mit Bedacht ab. Dies ergab sich einerseits fast selbstverständlich aus den herrschenden liberalen Überzeugungen, andererseits aber auch aus der neuen Rücksichtnahme auf die wandernden Gesellen, welche am meisten unter dem Passzwang und der andauernden Kontrolle ihrer Reiselegitimation zu leiden gehabt hatten. Auch den Behörden kam es durchaus entgegen, dass der Gesetzgeber auf die Verpflichtung zur Führung eines Wanderbuches verzichtete. Der im gegenteiligen Falle notwendige bürokratische Aufwand erschien ihnen inzwischen, eingedenk der großen Zahl wandernder Handwerker und sonstiger Arbeitsuchender, als ganz und gar unangemessen. Pässe, Wander- oder Dienstbücher, welche die zuständigen Behörden eines Bundesstaates auf Antrag ausgestellt hatten, besaßen, sofern sie nicht ausdrücklich beschränkt waren, nach dem neuen Recht für das gesamte Bundesgebiet Gültigkeit.1123 Alle Bundesbehörden hatten diese Reisepapiere fortan als genügende Legitimation anzuerkennen (§ 4) – eine Regelung, welche die Mobilität der Bevölkerung in Deutschland entscheidend erhöht haben dürfte. Natürlich blieben Bundesangehörige wie Ausländer gemäß § 3 des Passgesetzes verpflichtet, sich auf amtliche Aufforderung hin über ihre Person auszuweisen. Dies war damals wie heute schon aus Gründen strafrechtlicher Prävention unverzichtbar. Insofern behielten die in den Einzelstaaten geltenden Vorschriften ihre Rechtskraft.1124 Der Passzwang galt auch für den Fall fort, dass Auswanderer das Bundesgebiet zu verlassen beabsichtigten. Schließlich änderte das Passgesetz auch nicht die Bestimmungen über die Kontrolle neu zuziehender und fremder Personen an ihrem Aufenthaltsort, das Melderecht also, ab.1125 Die skizzierten Regelungen des Passgesetzes lassen sich in ihrer Bedeutung für die wandernden Gesellen kaum überschätzen. Denn sie setzten an die Stelle der Präventivkontrolle, welche den jungen Handwerker in der Form steter Polizeiaufsicht bis dahin unausgesetzt begleitet hatte, den modernen Begriff der persönlichen Freiheit. Der Pass wurde zu einer bloßen Bescheinigung der Identität des Inhabers und einer Empfehlung zum Schutz und zur wohlwollenden Behandlung durch auswärtige Behörden – und hatte damit seine ursprüngliche Bestimmung endlich wiedererlangt. 1123 S. Steuer (1928), S. 25 m. w. Nachw. 1124 S. Steuer (1928), S. 25. 1125 S. Steuer (1928), S. 26.

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Mit der Liberalisierung des Passrechts ging die Gewährung allgemeiner Freizügigkeit auf dem Gebiet des Norddeutschen Bundes einher. Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 18671126 besaß jeder Bundesangehörige das Recht, sich innerhalb des Bundesgebietes an jedem Orte aufzuhalten oder niederzulassen, sofern er dort eine Wohnung besaß oder sich zumindest ein „Unterkommen“ zu verschaffen vermochte (§ 1 Abs. 1 Z. 1). Landes- oder Gemeindeangehörigkeit durften seither nicht mehr Voraussetzung für den Aufenthalt, die Niederlassung, die Errichtung eines Gewerbebetriebes oder den Erwerb von Grundeigentum sein (§ 1 Abs. 3). Ausnahmen konnten nur aufgrund von Vorstrafen, u. a. auch wegen Bettelns oder Landstreicherei, seitens der Landespolizeibehörde gemacht werden (§ 3 Abs. 2). Abgewiesen werden durfte ein Zuzügler nur, wenn von vornherein ersichtlich war, dass er sich und seinen Angehörigen den nötigen Lebensunterhalt nicht zu verschaffen vermochte. Beweispflichtig hierfür war die Gemeinde, und auch diesen Grund für eine Abweisung konnte der Landesgesetzgeber beschränken (§ 4). Natürlich trugen solche Bestimmungen nachhaltig dazu bei, das Wandern ebenso wie die spätere Niederlassung der Gesellen zu erleichtern. Den Gesellen hätte diese radikale Abkehr von den alten Restriktionen als Signal zum Aufbruch in eine neue Zeit erscheinen können – wenn diese damals nicht schon längst begonnen hätte. Die Reformbestimmungen als Baustein der neuen, der industriellen Welt zu qualifizieren fällt nicht schwer, doch kamen sie viel zu spät. Dem Kleingewerbe erleichterten sie die notwendige Anpassung an die Erfordernisse der sich stürmisch entwickelnden Wirtschaftsgesellschaft immerhin noch maßgeblich. Diese aufgrund der ex post-Betrachtung getroffene Einschätzung teilten die zeitgenössischen Meister allerdings nur kurzfristig. Die nach dem Ende der liberalen Euphorie der sechziger Jahre zunehmende Kritik an der Freizügigkeit der Gesellen fand auch in Westfalen bald wieder ihre Vertreter. 1872 berichtete der Landrat des Krs. Wiedenbrück, dass die dortigen Handwerker die „nachteiligen Folgen der Befreiung der Gesellen vom Paßzwange“ bereits beklagten.1127 Der Beamte selbst nahm die obrigkeitliche Argumentation aus den Jahren der Repression gegenüber den Gewerbegehilfen wieder auf, indem er die stereotype Behauptung hinzufügte, dass „die Arbeitscheu und Bettelei sehr zugenommen“ hätten. Angesichts des außerordentlichen Arbeitskräftebedarfes während der Jahre des Gründerbooms erscheint diese Äußerung allerdings eher als Ausdruck konservativer Kritik an der liberalen Gesetzgebung denn als realistische Zustandsbeschreibung. Das nahende Ende der Dominanz freiheitlicher Überzeugungen in der Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung kündigte sich eben auch in der westfälischen Provinz an.

1126 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Jahrg. 1867, Nr. 16, S. 55 ff. Durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21.6.1869 wurde die Beseitigung des Wanderzwanges nochmals ausdrücklich bestätigt – eine Regelung, die nach der Reichsgründung seitens der süddeutschen Staaten übernommen wurde. 1127 Statistische Darstellung des Krs. Wiedenbrück (1872), S. 51.

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7. Die Arbeitsvermittlung Zu den vielfältigen Aufgaben, welche die Zunft während der langen Jahrhunderte ihrer Existenz wahrgenommen hatte und die mit ihrer Beseitigung keineswegs obsolet geworden waren, zählte die Arbeitsvermittlung. Überall dort, wo die Korporationen ungebrochen fortbestanden, hielt man noch bis über die Jahrhundertmitte an der hergebrachten Form der Arbeitsvermittlung fest:1128 Die in eine Stadt einwandernden Gesellen suchten zunächst die Herberge auf. Dort lag zumeist ein Verzeichnis jener Meister aus, die Gesellen benötigten. War die Herberge eine Einrichtung der Meister, schickte der Herbergswirt den Ankömmling zu dem Obermeister. Zeichneten die Gesellen allein für die Herberge verantwortlich, wandte sich der Arbeitsuchende an den Altgesellen, der ihm den Meister nannte, welcher zuerst erklärt hatte, dass er einen Gesellen benötige. Die lokalen Unterschiede bei diesem Verfahren waren allerdings beträchtlich. In machen Orten war es zulässig, dass sich der Neuling ohne jede Vermittlung selbst den Arbeitgeber suchte. Andererseits gab es aber auch im 19. Jahrhundert noch Zünfte, die darauf beharrten, dass die Gesellen keinen Einfluss auf die Wahl des Meisters nehmen konnten, sondern der Reihe nach oder in anderer Weise verteilt wurden. Selbst die Sitte, dass der Geselle nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses bei keinem anderen Meister am Orte seine Arbeit fortsetzen durfte, war damals noch nicht verschwunden. Im ersten Jahrzehnt nach der Auflösung der Handwerkerverbände in Westfalen wurden noch kaum Ansätze zu einem neuerlichen Zusammenschluss der Gewerksgenossen bemerkbar. Offenbar hatten die Zunftaufhebung sowie die wiederholten staatlichen Zusammenbrüche und administrativen Neuanfänge in jenen Jahren den Organisationswillen der Handwerker in der neuen preußischen Provinz zunächst gelähmt. Doch zu Beginn der zwanziger Jahre zeigten sich wieder Bestrebungen, genossenschaftliche Lösungen für praktische, Meister wie Gesellen in je eigener Weise betreffende Probleme zu finden. Hierzu zählte nicht zuletzt die Arbeitsvermittlung, die für die wandernden Gesellen von zentraler Bedeutung war.1129 Die sog. „Umschau“ stand in engem Zu1128 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 423, 424. Ehmer hat jüngst festgestellt, die Forschung zur institutionalisierten Arbeitsvermittlung sei am weitesten entwickelt, s. Ehmer (2009), S. 194; für die rechtlichen Aspekte dieses Gegenstandes kann das aber keineswegs gelten. Zur Arbeitsvermittlung in der Entstehungszeit der Gesellenverbände vgl. Reininghaus, Die Entstehung … (1981), S. 152–161; Wesoly (1985), S. 375 ff. Das Procedere der Arbeitsvermittlung im Alten Handwerk (Umschau) wurde detailliert beschrieben von Reith (1988), S. 165–170. Die außerordentliche Bedeutung der Arbeitsvermittlung für die Gesellen des Alten Handwerks ist ebenfalls bei Reith (2007), S. 177–219 (218, 219) herausgestellt worden. Er weist darauf hin, daß in anderen Ländern Gesellenstreiks in der Regel durch Lohnkonflikte, in Deutschland jedoch durch Auseinandersetzungen um die Arbeitsmarktkontrolle und die Autonomie der Gesellenverbände verursacht wurden. Durch die Migration und die Gesellenorganisationen übten die Gesellen die Kontrolle über den Arbeitsmarkt aus. Dieses Faustpfand nutzten sie zur Durchsetzung ihrer Ziele. Auf jede Einschränkung ihrer daraus resultierenden Macht reagierten sie deshalb mit Gegenwehr. Auch Pierenkemper weist darauf hin, daß die „Herrschaft über den Arbeitsmarkt“ durch die Kontrolle der Arbeitsnachweise erlangt worden sei; s. Pierenkemper (1982), S. 10. 1129 Im schnell wachsenden Berlin mit seinem expandierenden Arbeitsmarkt konnten die dort auch nach Einführung der Gewerbefreiheit fortbestehenden Zünfte die Aufgabe der Arbeits-

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sammenhang mit der altehrwürdigen Institution der Herberge. Denn häufig wurde der Herbergswirt auch im zunftfreien Westfalen nicht nur mit der Aufnahme der wandernden Gesellen, sondern auch mit deren Zuweisung an die Meister betraut. Für die Machtverteilung zwischen Meistern und Gesellen am Orte war es von großer Bedeutung, ob die Meister oder ihre Hilfskräfte als Auftraggeber des Herbergswirtes erschienen. Denn wer diesen anweisen konnte, beherrschte die Arbeitsvermittlung und besaß so ein entscheidendes Faustpfand im latenten Kräftemessen zwischen den Arbeitgebern und ihren Gehilfen. 1821 knüpften die Tischlergesellen in Paderborn an diese Erfahrungen aus der Zunftzeit an: Aus ihren Auflagegeldern lobten sie für zuwandernde Gesellen 8 gute Groschen aus; Bedingung für die Auszahlung war, dass die Neuankömmlinge darauf verzichteten, bei einem der örtlichen Meister Arbeit anzunehmen. Auf diese einfache Weise wollten sie das Arbeitskräfteangebot künstlich verknappen und damit die Voraussetzung schaffen, um Lohnerhöhungen zu erzwingen. Um das sinnige Verfahren durchsetzen zu können, bedienten sie sich des Herbergsvaters: Sie drohten ihm, sofort das Lokal zu verlegen, sofern er nicht jeden zugereisten Gesellen sogleich von der Vereinbarung der Schreinergesellen zur Kontrolle des Arbeitsmarktes unterrichte.1130 Der Tort, der den Paderborner Meistern mit dieser Absprache angetan wurde, veranlasste sie – was Wunder – alsbald zu Gegenmaßnahmen. Die Arbeitgeber des Tischlerhandwerks beschlossen, nun ihrerseits die Arbeitsvermittlung bei sich zu monopolisieren, indem sie einen sog. Zuschickmeister, bei dem sich die einwandernden Gesellen auf Hinweis des Herbergsvaters melden sollten, bestimmten. Selbiger ermittelte dann, welcher Schreiner eines neuen Gehilfen bedurfte. Bei dem Meister, der eine offene Stelle angeboten hatte, musste der Ankömmling mindestens vierzehn Tage tätig sein.1131 War er mit seinem Dienstherrn nicht zufrieden, konnte er, an eine bestimmte Reihenfolge gebunden, die Werkstatt wechseln, bis er einen ihm zusagenden Arbeitsplatz gefunden hatte. Um diesem Verfahren die notwendige Beachtung zu sichern, vereinbarten die Paderborner Tischlermeister, dass derjenige, welcher einen Gesellen unter Verstoß gegen die Vereinbarung beschäftigte, 5 Rtl. zu zahlen hätte.1132 Der vom Stadtdirektor in der Angelegenheit um Rat vermittlung nicht mehr befriedigend erfüllen. Mit der Entfaltung der gewerblichen Wirtschaft wurde eine effiziente Arbeitsvermittlung auch außerhalb der Zunft als Bedürfnis erkannt. Deshalb eröffneten dort bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts findige Privatleute Büros, in denen „Erkundigungen über Arbeit angestellt“ wurden; s. Mieck (1965), S. 18/19. 1130 Schreiben der Tischler der Stadt Paderborn an den Magistrat vom 23.9.1821, in: Stadtarchiv Paderborn Nr. 373 f. Bei dem von den Paderborner Gesellen erdachten Verfahren handelt es sich um ein typisches Beispiel dafür, wie die Anbieter der Arbeitskraft ihren Nachteil am Arbeitsmarkt gegenüber den Nachfragern durch organisatorische Maßnahmen auszugleichen suchten; s. dazu Pierenkemper (1982), S. 25. Weitere Beispiele finden sich für England bei Webb (1995) und für die deutschen Bergarbeiter bei Tenfelde (1977), S. 345 ff.; vgl. auch Lederer/ Marschak (1927), S. 137 ff., 159 ff. 1131 In Österreich waren im 19. Jahrhundert sogar bestimmte Wochentage und Stunden festgelegt, zu denen sich die Gesellen auf der Herberge einfinden und die Arbeitsangebote der Meister erwarten mussten; s. Otruba (1979), S. 44. 1132 Schreiben der Tischlermeister an den Stadtdirektor der Stadt Paderborn vom 15.5.1821, in: Stadtarchiv Paderborn Nr. 373 f.

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gefragte örtliche Polizeikommissar wollte die Absprache der Meister allerdings nur dann dulden, wenn jene Gewerksgenossen, die sich an der Übereinkunft nicht beteiligt hatten, auch ohne Einschaltung des sog. „Zuschickmeisters“ Gesellen annehmen konnten.1133 Er wies dezidiert darauf hin, dass die Regelung, sofern sie die Wiederbelebung der alten „Amts“-, also Zunftgebräuche zum Ziel haben sollte, keine Unterstützung verdiene, da der „freie Wille“ der Gesellen in einem solchen Falle „zu sehr unterdrückt“ werde. In diesem Sinne beschied der Magistrat dann die Paderborner Tischlermeister. Ausdrücklich bemerkte die Verwaltung, dass es sich bei der Vereinbarung um eine private Übereinkunft handele, die für diejenigen, welche ihr nicht beitreten wollten, keinerlei Bindungswirkung entfalte. Die Beseitigung der Zünfte dürfe durch solche Absprachen nicht unterlaufen werden. Sollten sich aus dem neuen Verfahren Streitigkeiten ergeben, werde die Zuschickregelung untersagt.1134 Man ist geneigt, in der restriktiven Haltung der Paderborner Behörden gegenüber der erneuten Monopolisierung des Arbeitsmarktes durch die Meister ein weiteres Exempel für die – vielbeschriebene – liberale Attitüde des preußischen Bürger- und Beamtentums in der Zeit des Vormärz zu erkennen und dessen Vertreter als Apologeten der Gewerbefreiheit im zunftlosen Westfalen zu apostrophieren, welche den Ansätzen zur Reanimierung korporativer Zusammenschlüsse der Handwerker geradezu selbstverständlich ablehnend gegenüberstanden. Doch ein solches Bild zeichnen hieße, die auch in den westlichen Provinzen durchaus komplexere Wirklichkeit unzulässig zu simplifizieren. Das entdeckt sich alsbald, wenn man die Beurteilung neuer Organisationsansätze der Gesellen durch die Behörden in Münster zu eben dieser Zeit betrachtet. Dort hatten die Hilfskräfte in den Jahren 1821 und 1822 nicht weniger als sechs Unterstützungskassen errichtet,1135 welche sich nicht allein die Obsorge für ihre erkrankten Mitglieder, sondern auch für die zugewanderten Gewerksgenossen angelegentlich sein ließen. Gerade letztere Zielsetzung fand die ausdrückliche Anerkennung des münsterischen Oberbürgermeisters1136 wie auch der dortigen Regierungsbeamten. Die Mittelbehörde wies gegenüber dem Innenministerium auf die positiven Aspekte des Wanderns hin, indem sie eigens herausstellte, dass erst durch das „Besuchen anderer Städte und Länder“ die notwendigen beruflichen Fertigkeiten erworben werden könnten. Die Wanderschaft diene darüber hinaus aber auch der Arbeitssuche der Gesellen und gebe den Meistern zugleich die Möglichkeit, tüchtige Hilfskräfte zu finden, erklärte man – durchaus nüchtern beobachtend – in Münster. Die Regierung betonte ausdrücklich, dass das 1133 Schreiben des Polizeikommissars an den Paderborner Magistrat vom 20.6.1821, in: Stadtarchiv Paderborn, Nr. 373 f. 1134 So Schreiben des Magistrats an die Tischlermeister v. 2.7.1821, in: Stadtarchiv Paderborn, Nr. 373 f. 1135 Es handelte sich um die Kassen der 1. Tischler und Schreiner, 2. Schlosser, Messerschmiede und Büchsenmacher, 3. Drechsler, 4. Schuster, 5. Schneider sowie 6. der Schmiede und Kupferschläger; s. Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster an die dortige Regierung vom 28.2.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49 ff.; s. dazu auch Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“. 1136 Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster an die dortige Regierung vom 28.2.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49 ff.

D. Das Wandern der Gesellen

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Wandern für die berufliche Ausbildung, aber auch für die „Anregung nützlicher Eigenschaften“ des Nachwuchses nicht allein wünschenswert, sondern auch notwendig sei. Stabilitas loci der jungen Handwerker führe unweigerlich zu Rückschritt.1137 Da Meister wie Gesellen dies „fühlten“, lebe die Wandersitte ebenso wie die Unterstützung der Gesellen seitens der Meister auch ohne den früheren Zwang in Westfalen unverändert fort. Nicht zuletzt um eben der Betreuung der arbeitsuchenden bzw. durchreisenden Gesellen den unerlässlichen organisatorischen Rahmen zu geben, seien die Auflagen, also die Gesellenkassen, in Münster wiedererrichtet worden. Die Regierung in der Provinzialhauptstadt wollte deshalb den Gesetzgeber bewegen, die Zwangsmitgliedschaft aller Gesellen anzuordnen. Das Misstrauen der Behörden gegenüber den Vereinigungen der Gesellen war in Münster offenbar deutlich geringer als dasjenige der Paderborner Amtswalter gegenüber den dortigen Meistern. An der Notwendigkeit der korporativen Zusammenschlüsse ließen die Beamten in Münster jedenfalls keinen Zweifel. Trotz ihrer Forderungen blieb das Ministerium gegenüber neuen Verbindungen der Gesellen aber unverändert misstrauisch. Die Furcht vor ihrem kollusiven Zusammenwirken hatte einen durchaus realen Hintergrund, wie Beispiele nicht allein aus Paderborn, sondern auch aus anderen Regionen Westfalens zeigen: Als die Soester Bäcker-Gesellen 1845 eine Herberge und Unterstützungskasse errichten wollten, sollten die Meister verpflichtet werden, künftig nur Mitglieder dieser neuen Gesellen-Korporation zu beschäftigen.1138 Wenngleich es den Gewerbegehilfen vor allem um die Sicherung der Beiträge zur Krankenlade gegangen sein dürfte, so hätten sie mit der angestrebten Regelung doch auf den Zutritt der Neuankömmlinge zum örtlichen Arbeitsmarkt direkten Einfluss nehmen können. Dass sie dieses auch bezweckten, kann angesichts der Tradition der Gesellenverbände kaum geleugnet werden. Als die Mindener Steinhauer-Gesellen 1848 eine Satzung für ihre Lade entwarfen, vergaßen sie keineswegs, die in die Stadt einwandernden Berufsgenossen zu verpflichten, sich zunächst auf der Herberge des Gewerks zu melden. Um diese Regelung durchzusetzen, sollte sie mit einer Sanktion bewehrt werden: Wer sich nicht sogleich nach der Ankunft auf der Herberge einfand, sollte des traditionellen „Geschenks“ verlustig gehen.1139 War die Gesellenschaft bzw. der von ihr beauftragte Herbergsvater aber der erste Ansprechpartner des Ankömmlings, konnten, wie bereits festgestellt, die organisierten Hilfskräfte entscheidenden Einfluss auf dessen Arbeitsaufnahme am Orte nehmen. Zudem erreichten die Gesellen auf diese Weise, dass die einwandernden Gewerksgenossen, welche in Minden arbeiten wollten, der Lade beitraten. Folgerichtig wurden die Ziele dieser Regelung auch in dem Satzungsentwurf normiert.1140 Angesichts solcher Tatsachen erkannte das Mi1137 Schreiben der Regierung Münster an das Innenministerium vom 10.3.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49. 1138 S. Schreiben von 22 Bäcker-Gesellen an den Magistrat der Stadt Soest vom 26.9.1845, in: Stadtarchiv Soest, XIX g 12. 1139 So § 18 des Entwurfs einer Satzung der Mindener Steinhauer-Gesellen zur Errichtung einer Gesellenlade (Antrag auf Genehmigung durch die Polizeibehörde vom 4.5.1848), in: Stadtarchiv Minden F 206. 1140 Wie Anm. 1139, § 3.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

nisterium die Gefahr, dass die in den Laden organisierten Gewerksgehilfen denjenigen, welche ohne Gesellenschein auf die Walz gingen, die Arbeitsaufnahme erschweren oder gar unmöglich machen könnten. Damit hätten sie die Arbeitsvermittlung wieder – wie teilweise schon zur Zeit des Alten Handwerks – bei sich zu monopolisieren vermocht.1141 Den gleichfalls feststellbaren Versuchen der Meister, die Arbeitsvermittlung zu beherrschen, begegnete der zuständige Minister allerdings ebenfalls mit Misstrauen: In Ostelbien, wo der Herbergswirt zumeist vom Innungsvorstand eingesetzt wurde und zu dessen Pflichten nicht nur die Bewirtung, sondern auch die Zuweisung der neu eingetroffenen Gesellen an die Meister gehörte, nahmen die noch immer das Geschehen beherrschenden Zünftler ein „Exclusivrecht“ hinsichtlich der Personalanwerbung für sich in Anspruch, was natürlich die massive Benachteiligung der zunftfreien Gewerbeangehörigen implizierte – und deshalb von dem Minister zu den „Ungebührnissen“ gezählt wurde, auf die es zu verzichten gelte.1142 In Ermangelung von Zünften konnten solche Monopole in Westfalen naturgemäß kaum entstehen. Der Soester Magistrat bemerkte zu der ministeriellen Abneigung gegenüber den hergebrachten Organisationsformen der Meister und Gesellen deshalb lapidar: „Von den hervorgehobenen Übelständen haben wir bis dahin keine bemerken können“.1143 Mit der Auflösung der dort „Ämter“ geheißenen Zünfte und der Gesellenverbände in Westfalen waren die organisatorischen Voraussetzungen für eine – wie auch immer geartete – geordnete Arbeitsvermittlung entfallen. Versuche der Wiederbelebung solcher Formen, die sich, wie gezeigt, für einige Städte nachweisen lassen, blieben schon wegen des Widerstandes mancher Behörden Episode. Mit der Wiedererrichtung von Herbergen in Westfalen in den zwanziger Jahren hätten die Handwerker zwar neuerlich an die alte Form des Arbeitsnachweises anknüpfen können. Doch da es sowohl bei den Meistern als auch bei den Gesellen an ehrenamtlichen Funktionsträgern fehlte, derer eine solche Einrichtung nun einmal bedurfte, kam es zwischen Rhein und Weser nicht zu einer dauerhaften Reanimierung der zunfttypischen Form des Arbeitsnachweises.1144 Jedenfalls entnimmt man den Quellen kaum Anhaltspunkte für eine solche Entwicklung. In den Herbergen der Provinz dürfte ein Verzeichnis der Hilfskräfte suchenden Meister ausgelegen haben. Eine differenziertere Form der Arbeitsvermittlung lässt sich in Westfalen vor der Jahrhundertmitte nicht mehr nachweisen. Bezeichnenderweise war es dann aber der von Adolf Kolping gegründete Gesellenverein, der in Münster schon 1852, sogleich mit seiner Gründung, einen funk1141 Votum für den Finanzminister v. Flottwell v. 15.8.1846, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 185–187. 1142 So Schreiben des Finanz- und Innenministers an den Magistrat der Stadt Soest vom 31.7.1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1143 Bericht des Magistrats der Stadt Soest vom 13.10.1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1144 Eben dies gilt z. B. auch für den Gesellenstreik: Während der preußische Innen- und der Gewerbeminister 1857 noch über „Verrufserklärungen … geheimer Brüderschaften der wandernden unverheiratheten Gesellen“ klagten (so Schreiben des Innen- und des Gewerbeministers an sämtliche Regierungen v. 28.2.1857, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 7 Bd. 1, fol. 41 RS.), sind solche Vorfälle aus Westfalen nicht mehr bekannt geworden.

D. Das Wandern der Gesellen

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tionsfähigen Arbeitsnachweis für seine Mitglieder schuf.1145 Ebendies wird auch für die anderen Kolping-Vereine in Westfalen gegolten haben, da die Arbeitsvermittlung von Anfang an zu deren Aufgaben zählte.1146 Gerade durch den Arbeitsnachweis und die Stellenvermittlung wurden diese katholischen Vereine auch den Meistern bald unentbehrlich, da sie den Arbeitgebern gegenüber die „Gewährleistung“ für ihre Mitglieder übernahmen.1147 Das Beispiel der Wiederbelebung des Arbeitsnachweises zeigt, dass manche Aufgaben der Zunftordnung, durch den preußischen Gesetzgeber dauerhaft ignoriert, erst von der Kirche wiederentdeckt werden mussten, um im Interesse der Handwerker neuerlich wahrgenommen werden zu können. 8. Das Viaticum a. Die Regelungen des ALR Zum Zunftbrauch des Alten Handwerks gehörte seit Jahrhunderten das Recht der Gesellen, jedenfalls der sog. „geschenkten“ Handwerksberufe, bei den Meistern und ggf. auch bei Gesellenbruderschaften ihres Gewerbes um das „Viaticum“, das sog. Zehrgeld, nachzusuchen. Nach der Beseitigung der Zünfte in Westfalen wollten nicht wenige Meister von ihrer traditionellen Verpflichtung, die Wanderer zu unterstützen, aber nichts mehr wissen. Die Folge war, dass mittellose Handwerksburschen immer wieder in Not gerieten. Als im Westfalen der zwanziger Jahre die ersten Krankenladen der Gesellen wiedererstanden, suchte der Oberbürgermeister Münsters diese deshalb zu verpflichten, auch Leistungen für die durchreisenden Gewerksgenossen zu erbringen. Naturgemäß sollten die Ausgaben der Kassen begrenzt werden. Dem trug bereits § 341 T.2, Tit. 8 ALR Rechnung, der bestimmte, dass diejenigen zugewanderten Gesellen, welche an einem Orte keine Arbeit fänden oder ohnehin weiterreisen wollten, sich dort nur drei Tage aufhalten durften. Da der notdürftige Unterhalt für die Wanderer in den zwanziger Jahren etwa eineinhalb Sgr. täglich betrug, hielt der münsterische Oberbürgermeister die Zahlung von siebeneinhalb Sgr. an einen durchreisenden Gesellen durch die Kasse des Gewerks damals für ausreichend.1148 1145 So Göken (1925), S. 58; die Arbeitsnachweise der Innungen wurden in Münster erst nach 1870 eingerichtet (Barbiere: 1876; Fleischer: 1876; Schuhmacher: 1892; Schornsteinfeger: 1900; Schneider: 1901; Bäcker: 1904). 1146 S. Schweitzer (1905), S. 402. 1147 S. Brüll (1900), S. 200. 1148 Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster an die dortige Regierung vom 28.2.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49 ff. Der Oberbürgermeister vertrat die Auffassung, dass sich die meisten Gesellen der Einführung eines Zwangsbeitrages zu den Kassen „willig fügen“ würden. Nur einige „Übelgesinnte“ kündigten die Arbeit auf. Dies seien aber die „Trägeren“, „welche leicht ersetzt werden, da im allgemeinen an Gesellen kein Mangel“ sei. Der Oberbürgermeister wünschte die baldige Einführung der Zwangsmitgliedschaft: „Die Vereine müssen ganz nothwendig eine gleichförmige Verfassung erhalten, wenn sie sich nicht vollständig auflösen sollen“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Die Rechtslage war hinsichtlich der Frage, wie die wandernden Gesellen unterstützt werden sollten, allerdings alles andere als eindeutig. Symptomatisch für die selbst den zeitgenössischen Juristen kaum durchschaubare Rechtssituation des Handwerks im zunftlosen Westfalen des Vormärz war der Umgang mit der Frage, ob das allenthalben als lästig empfundene Betteln der wandernden Gesellen zulässig sei oder nicht. Der preußische Gesetzgeber hatte das „Fechten“ untersagt, der altehrwürdige Handwerksbrauch aber gestattete den reisenden Gewerbegehilfen das Nachsuchen um das sog. Viaticum bei den Meistern seiner Profession sans phrase. Dass diese Situation konfliktgeneigt war, blieb weder den Behörden noch den Gesellen verborgen. Als der Ortsbürgermeister von Gemen im Münsterland zwei auswärtige Buchbindergesellen aufgriff, die einen Meister ihres Fachs wegen Unterstützung angegangen waren,1149 wiesen die empörten Gehilfen darauf hin, dass sie lediglich nach Arbeit gefragt und um ein Viaticum gebeten hätten, was ihnen durchaus erlaubt sei. Die örtliche Polizeigewalt scherte sich um ihre Einlassungen und die allseits bekannte Handwerkssitte aber nicht länger; der Bürgermeister nahm den beiden ohne viel Federlesens die Legitimationspapiere ab und schickte sie, nicht ohne die für die Marschroute zuständigen Behörden zu benachrichtigen, „mittels Zwangspässen“ in ihre Heimat zurück. Dabei berief er sich auf § 334 Tit. 8 II ALR, welcher den wandernden Gesellen das Betteln untersagte. § 340 Tit. 8 II ALR beschränkte sie in der Tat auf solche Unterstützung, welche der „Zunftgebrauch“ vorsah. Da die Buchbinder im Münsterland aber stets ein unzünftiges Gewerbe gewesen und die Zünfte ohnehin schon durch die Fremdherrschaft aufgehoben worden seien, könne, so argumentierte der Landrat, die „Einholung“ des sog. Zehrpfennigs als „rechtlich fortbestehend nicht betrachtet werden“. Es handele sich bei dem Verhalten der Gesellen um nichts anderes als einen gesetzwidrigen Missbrauch – eben Bettelei. Der Borkener Landrat erklärte nicht ohne Stolz, er habe die Handwerkssitte des Viaticums in seinem Amtsbezirk ausgemerzt, so dass von einem „fortbestehenden Gebrauch“ im Sinne des ALR keine Rede mehr sein könne. Die beiden Buchbinder setzten sich in diesem Falle aber gegen ihre Ausweisung zur Wehr. Sie beschwerten sich bei der Münsteraner Regierung. Diese vertrat die Auffassung, dass das Nachsuchen um ein Viaticum keineswegs als Bettelei zu betrachten sei – und stellte den Gesellen neue Pässe aus. Daraufhin suchte der Borkener Landrat von Basse beim Innenminister zu erreichen, dass den wandernden Gesellen die Bitte um den sog. Zehrpfennig generell untersagt werde. Der zuständige Staatsrat Beuth im Berliner Ministerium war in der Tat der Auffassung, dass nicht einzusehen sei, weshalb nach Beseitigung der Zünfte in Westfalen „gerade das Betteln als noch bestehend betrachtet werden soll, während alle anderen Zunfteinrichtungen aufgehoben sind1150“; demgegenüber wurde in seinem Hause aber argumentiert, ebenso wenig wie das Wandern sei der Brauch des Viaticums in Westfalen abgeschafft1151 – und deshalb sei das Verhalten der Gesellen durchaus nicht verboten. Wegen der zweifelhaften Geltung der einschlägigen Bestimmungen des ALR in 1149 Schreiben des Landrats des Kreises Borken, v. Basse, an den Innenminister v. Schuckmann v. 16.12.1827, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 1, fol. 166–170. 1150 Votum des Staatsrats Beuth v. 9.1.1828, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol 171. 1151 Wie Anm. 1150.

D. Das Wandern der Gesellen

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Westfalen war der Konflikt mit den Mitteln des vorhandenen Rechts offenkundig nicht lösbar. Da solche aus der unzulänglichen Rechtssituation resultierenden Auseinandersetzungen unangenehm zu werden drohten, erließ der Innenminister v. Schuckmann noch 1828 eine Verfügung an sämtliche Regierungen, worin er beklagte, dass die Zahl der in der Monarchie arbeitslos herumwandernden Handwerksgesellen groß sei und die Bürger sich durch die Bettelei derselben belästigt fühlten.1152 Die Regierungen und dann auch Bürgermeister und Polizeibeamte wurden aufgefordert, die vorhandenen Vorschriften, welche nochmals wiederholt wurden, „auf das sorgfältigste“ anzuwenden. Beamte, die gegen diese Bestimmungen verstießen, sollten mit einer Ordnungsstrafe belegt werden. Die geplante Gewerbeordnung werde neue Vorschriften enthalten, die der Bettelei der Gesellen entschlossener als bisher entgegenzuwirken geeignet seien, kündigte der Minister an. Aus § 4 Tit. 19 T. II des ALR ergebe sich aber bereits, dass arbeitsuchende Handwerksburschen aus dem Ausland nicht nach Preußen einwandern dürften, wenn zu befürchten stehe, dass sie dem Land durch Betteln zur Last fielen. Als unerwünscht seien diejenigen anzusehen, die nicht nachweisen könnten, dass ihnen entweder ein inländischer Meister Arbeit angeboten habe, ihre materielle Existenz in anderer Weise gesichert sei oder sie zumindest ein für einige Wochen ausreichendes Reisegeld von wenigstens 5 Talern besäßen. Fehle es an einer dieser Voraussetzungen, solle den Gesellen die Einwanderungen nach Preußen verwehrt werden.1153 Lägen die Bedingungen aber vor, habe die Polizeibehörde dies auf dem Pass der Wandernden zu vermerken. Könnten wegen besonderer örtlicher Verhältnisse oder durch Zeitablauf bedingte Änderungen die Bestimmungen nicht mehr durchgesetzt werden, müsse dies der zuständigen Regierung angezeigt und dem Ministerium darüber berichtet werden. b. Die Reformgesetzgebung In Berlin wollte man demnach von der hergebrachten Unterstützung der Wandergesellen nichts mehr wissen. Als das unter Bezugnahme auf die Aufhebung der Wanderpflicht in Preußen durch die Kabinetts-Order v. 1. August 1831 erlassene Wanderregulativ 1833 in Kraft gesetzt wurde, mussten auch die westfälischen Regierungen die auf die Verringerung der Zahl der Wanderburschen zielenden, harschen Vorschriften in ihren Amtsblättern veröffentlichen.1154 Damals wurde nicht nur das Betteln der Gesellen untersagt; vielmehr verbot der Minister auch das Nachsuchen um das „Viaticum“ bei den Meistern des jeweiligen Gewerbes erstmals ausdrück-

1152 Verordnung des Ministers v. Schuckmann v. 2.6.1828, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 177, 178; desgl. in STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 34; desgl. Amtsblatt Reg. Münster 1828, S. 245–246. 1153 S. Verordnung der Reg. Minden v. 5.7.1828, in: Amtsblatt Reg. Minden 1828, S. 302; Verordnung der Reg. Arnsberg v. 12.7.1828, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg 1828, S. 287. 1154 Regulativ in Betreff des Wanderns der Gewerksgehilfen v. 24.4.1833, in: Amtsblatt Reg. Minden 1833, S. 150–154; desgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg 1833, S. 135–138.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

lich.1155 Wurden die Behörden eines Gesellen, der sich gegen dieses Verbot verging, habhaft, hatten sie demselben die Fortsetzung der Wanderschaft zu untersagen. Lediglich das „Geschenkgeben“ seitens der Meister ohne Aufforderung durch die Gesellen blieb erlaubt. Diese Sitte war trotz der Zunftlosigkeit der Provinz damals in Westfalen noch nicht gänzlich verschwunden. Deshalb sah sich die Regierung in Münster veranlasst, eigens auf ihr „Zutrauen“ hinzuweisen, dass die Meister wandernden Gesellen keine „Geschenke“ reichten und so das Ihre dazu beitrügen, „das arbeitslose Umhertreiben unbemittelter Gesellen zu beschränken“.1156 Die 1845 in Kraft getretene Allgemeine Gewerbeordnung bestätigte die Rechtslage, indem sie in § 143 Satz 2 ausdrücklich bestimmte, dass die Wanderburschen „auf besondere Unterstützung von seiten der Gewerksgenossen keinen Anspruch“ hätten.1157 Auch diese insoweit nochmals präzisierte Formulierung des geltenden Rechts machte den traditionellen Anspruch der wandernden Gesellen, das Viaticum bei den Gewerksgenossen einzufordern, allerdings nicht vergessen. Noch im Jahre 1845 musste das zuständige Ministerium – kaum erfreut natürlich – zur Kenntnis nehmen, dass Gesellen-Krankenladen gegen Gebühr mit ihrem Siegel versehene Bescheinigungen an wegwandernde Mitglieder ausstellten, in denen sie nicht nur bestätigten, dass diese keine Verbindlichkeiten hinterlassen hätten, sondern die Inhaber der Papiere anderen Brüderschaften ausdrücklich zur Unterstützung empfahlen.1158 Zweck der Urkunden war es demnach, das Einsammeln der traditionellen „Geschenke“ auf der Wanderschaft zu erleichtern. Das Ministerium ließ unter Hinweis auf die königliche Ordre v. 1.8.1831 wegen Aufhebung der Wanderpflicht sowie der Bestimmung Nr. 8 c des Wanderregulativs v. 24.4.1833 keinen Zweifel daran, dass es dieses Verfahren als „Missbrauch“ betrachte.1159 Die Regierung in 1155 Der Innen- und Polizeiminister bestimmte durch Verordnung vom 24. April 1833 u. a., dass ein Wandergeselle, „wenn er seine Gewerbsgenossen oder andere Personen um eine Unterstützung angesprochen hat, ohne Rücksicht darauf, ob eine sonstige Bestrafung statt findet oder nicht“ (Z. 8 c der Verordnung), die Wanderschaft nicht fortsetzen durfte, sondern mittels „beschränkten Passes oder vorgeschriebener Reise-Route“ an den Ort der Ausstellung des Passes zurückgeschickt wurde. Ausländer wurden über die Grenze abgeschoben; s. Verordnung v. 24.4.1833, in: Amtsblatt Reg. Minden 1833, S. 150–154 (153). Dass auch das traditionelle „Nachsuchen“ um das Geschenk untersagt war, ist Thamer offenbar verborgen geblieben. Er unterstellt, dass die „Fähigkeit und Bereitschaft zur Unterstützung der wandernden Gesellen mitunter“ geschwunden seien. Das „Geschenk geben“ soll sich statt dessen mit dem Gesellenbrauch „aufgelöst“ haben. Dabei beruft er sich auf die Erinnerungen des Gerbergesellen Dewald, Biedermeier auf der Walz … (1936); s. Thamer (1984), S. 493. Schon Rohrscheidt verkannte die Rechtslage, indem er lapidar feststellte, bereits die Aufhebung der Wanderpflicht durch die Kabinetts-Order v. 1. August 1831 habe zur Folge gehabt, dass auch „die mit der Wanderpflicht in Zusammenhang stehende Verbindlichkeit zur Verabreichung von Unterstützungen an Wanderburschen“ wegfiel; s. Rohrscheidt (1898), S. 621. 1156 Amtsblatt Reg. Minden 1834, S. 576, 577; zur Sitte des „Geschenks“ vgl. Otruba (1979), S. 44, 45. 1157 § 143 der Allgemeinen Gewerbeordnung v. 17. Januar 1845, in: Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 41 ff. 1158 Schreiben des Innen- und Finanzministers v. 22.6.1845 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 134. 1159 Rudolph hat später behauptet, die Aufhebung der Wanderpflicht und der „damit verbundenen Wanderunterstützung“ habe „eine Quelle des Vagabundentums“ beseitigt; s. Rudolph (1935),

D. Das Wandern der Gesellen

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Münster wies damals in merkwürdiger Verkennung der Tatsachen zunächst darauf hin, dass in ihrem Bezirk vermutlich keine Gesellen-Krankenladen bestünden und deshalb die inkriminierte Gewohnheit auch nicht bestehen könne.1160 Nach Befragen der Landräte1161 stellte sie dann aber zurückhaltender fest, dass derartige Missbräuche in ihrem Bezirk nicht vorgekommen oder jedenfalls nicht bekannt geworden seien.1162 In Ostelbien, aber auch im Bezirk der Regierung Düsseldorf war die Erteilung dieser sog. Gesellenscheine dagegen durchaus nicht unüblich. Neben bloßen Bescheinigungen über das ordnungsgemäße Ausscheiden aus der Gesellenlade wurden dort eben auch solche Papiere ausgestellt, die den Inhaber anderen Bruderschaften besonders empfahlen.1163 Obgleich diese Gesellenscheine den Straftatbestand der Bettelei naturgemäß nicht tangierten, schlug das erboste Finanzministerium doch vor, anlässlich der nach § 144 der Gewerbeordnung vorgesehenen Revision der Statuten der Gesellenkassen eigens Vorschriften in dieselben aufnehmen zu lassen, die nicht allein das Nachsuchen um ein Viaticum, sondern auch schon das bloße Ausstellen solcher Gesellenscheine, welches diese Sitte natürlich zu fördern geeignet war, mit Strafe bedrohten. Entsprechende Bestimmungen sollte auch das sog. „Normalstatut“, eine Mustersatzung für die Kassen, enthalten. Erlaubt bleiben sollten dagegen Formulierungen, die regelten, in welchem Umfange die GesellenLaden „fremd zureisende“ Gesellen unterstützen durften, um auch für die eigenen, wegwandernden Mitglieder andernorts die Unterstützung zu sichern.1164 Eine klare Abgrenzung zwischen verbotener Bettelei und erlaubter Hilfe für die Wandergesellen war bei diesen Regelungsvorschlägen allerdings noch immer nicht zu erkennen. Die Diskussion um die Gesellenscheine war vielmehr Ausdruck des hilflosen Kampfes der Behörden gegen die – mit der wachsenden Zahl der Gesellen – zunehmende Bettelei. Die Wurzel des Übels nicht in der Böswilligkeit, sondern in der Verelendung immer größerer Teile der Bevölkerung aufgrund deren starken Wachstums und der ökonomisch-technischen Veränderungen in der Zeit des Vormärz zu erkennen, war den Staatsdienern aber merkwürdigerweise nicht gegeben. Sie wollten – bar jedes tieferen Verständnisses – Symptome bekämpfen, wo Ursachenforschung not getan hätte. Unzweifelhaft witterten die Behörden in dem Phänomen der Gesellenscheine aber auch einmal mehr neuerliche Ansätze zu einer überregionalen Verbindung der Gewerbegehilfen, welche Preußen an der Schwelle zum 19. Jahr-

S. 36. In England dagegen wurde die Zahlung einer Unterstützung an die wandernden Handwerker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend institutionalisiert, s. Schulte Berbühl (1991), S. 226, 227. 1160 Schreiben der Reg. Münster an den Innen- und Finanzminister v. 2.7.1845, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144. 1161 Z. B. Schreiben der Reg. Münster v. 12.7.1845 an den Landrat des Krs. Recklinghausen, in: STAM, Krs. Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63. 1162 So Schreiben der Reg. Münster an das Innen- und Finanzministerium v. 26.9.1845, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 147. 1163 Votum für den Finanzminister von Flottwell v. 15.8.1846, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 185–187. 1164 Wie Anm. 1163.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

hundert nach langem Kampf weitgehend zerstört hatte und fünfzig Jahre später ebenso wenig zu dulden bereit war.1165 Hinweise auf das Fortleben dieser damals schon seit Generationen verfolgten überörtlichen Gesellenverbindungen ließen sich in Westfalen allerdings nicht mehr finden. Auch das rechtswidrige Nachsuchen um das sog. „Viaticum“ scheint in der Provinz um die Mitte des Jahrhunderts nicht mehr häufig vorgekommen zu sein. Für die Unterstützung bedürftiger wandernder Gesellen kam in Soest etwa die städtische Armenkasse auf. Deren „Geschenke“ waren allerdings eher unbedeutender Art und dürften den tatsächlichen Erfordernissen kaum gerecht geworden sein. In der „heimlichen Hauptstadt“ Westfalens am Hellweg betrugen sie im jährlichen Durchschnitt insgesamt nicht mehr als 4 Rtl. u. 9 Sgr.1166 Als sich der korporative Geist nach Erlass der Gewerbeordnung des Jahres 1845 auch in der zunftlosen Provinz allmählich wieder zu regen begann, erinnerten sich die Soester Meister allerdings daran, dass die Unterstützung der wandernden Gesellen traditionell zu den ureigensten Aufgaben der Handwerker selbst gehört hatte. Offenkundig wurde es ihnen peinlich, den eigenen Nachwuchs auch in Notlagen vor aller Augen sich selbst zu überlassen. Nachdem sich in der Bördestadt ein Gewerbeverein gebildet hatte, nahmen sich die Meister deshalb dieser traditionellen Aufgabe wieder an.1167 Als nach Inkrafttreten der Verordnung vom 9.2.1849 einige westfälische Städte Ortsstatuten erließen, welche Rahmenregelungen insbesondere für das Kassenwesen der Meister und Gesellen sowie Bestimmungen zur Ausbildung der Lehrlinge trafen, wurden die „Laden“ verpflichtet, die durchreisenden oder arbeitsuchenden Gesellen, sofern sie hilfsbedürftig waren, zu unterstützen.1168 So war es in Brilon, und nichts anderes galt in Lippstadt, wo das Ortsstatut vom 3.9.1852 keineswegs vergaß, den Handwerksmeistern am Ort aufzugeben, aus eigenen Mitteln zu den „Einrichtungen“ zur Unterstützung arbeitsuchender oder hilfsbedürftiger Gesellen beizutragen.1169 Diese damals vielerorts zu beobachtende Tendenz zur Wiederbelebung einer Regelung, die liberale Zeitgenossen mit der Zunft versunken glaubten, blieb natürlich auch dem Gewerbeminister von der Heydt nicht verborgen. Er meinte zunächst einen Zielkonflikt zwischen der Beseitigung der Wanderpflicht einer- und der in den Statuten normierten Heranziehung der Meister zur Unterstützung der wandernden Gesellen andererseits erkennen zu können. In der Tat hatte die Gewerbeordnung des Jahres 1845 in § 143 die Beseitigung der Wanderpflicht 1165 S. dazu Kap. „Die Restituierung des Kontrollsystems“. 1166 So Schreiben des Magistrats der Stadt Soest an den dortigen Gewerbeverein vom 9.9.1850, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9; die Situation dürfte andernorts in Westfalen ähnlich gewesen sein. 1167 Sie ersuchten den Magistrat, die bis dahin „observanzmäßig“ gewährten Mittel aus der städtischen Armenkasse nunmehr der Wanderkasse des Gewerbevereins zur Verfügung zu stellen; s. Schreiben des Vorstandes des Soester Gewerbevereins an den Magistrat der Stadt v. 19.8.1850, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1168 So z. B. § 3 des Entwurfes eines Ortsstatuts für die Stadt Brilon, 1852, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 1169 § 2 Z. 1 des Ortsstatuts für die Stadt Lippstadt v. 3.9.1852, in: Stadtarchiv Lippstadt D 38; auch der Satzungsentwurf der Mindener Steinhauergesellen aus dem Jahr 1848 sah die Zahlung des Viaticums durch die Gesellenlade vor, s. § 18 des Entwurfs, in: Stadtarchiv Minden F 206.

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aus dem Jahre 1833 nochmals bestätigt. Damit war jeder Anspruch auch der in Wittgenstein oder im ostelbischen Preußen noch zünftig ausgebildeten Gesellen auf Unterstützung seitens der Gewerksgenossen ausdrücklich ausgeschlossen. Andererseits blieb es den Meistern aber durchaus nachgelassen, den Gesellen das traditionelle „Viaticum“ auszuhändigen. In der Tat konnte niemand bestreiten, dass diese Zahlungen der Innungen den Meistern halfen, stets über die notwendigen Hilfskräfte zu verfügen – und somit in deren ureigenstem Interesse lagen. Der Minister jedoch fürchtete, dass finanzielle Unterstützungen die Zahl der Wandernden vergrößern und auf diese Weise die solange und intensiv bekämpfte Bettelei arbeitsloser Gewerbegehilfen befördern könnte. Zwar war man in Berlin im Grundsatz der Überzeugung, dass die 1833 erlassenen und seither unablässig wiederholten und ergänzten Bestimmungen ausreichten, um arbeitsscheue und die öffentliche Sicherheit gefährdende Gesellen vom Wandern abzuhalten.1170 Dennoch erachtete von der Heydt 1853 aber die Frage der Klärung bedürftig, ob es ratsam sei, eine statutarische Verpflichtung der Meister zur Zahlung des Viaticums zuzulassen. Anfang 1854 bestimmte er dann, dass die Gewährung von Unterstützungsleistungen aus den Innungskassen für wandernde Gesellen mit jenen Vorschriften, die „dem müßigen Umherschweifen arbeitsscheuer Gesellen gerade entgegenwirken“ sollten, keineswegs im Einklang stehe.1171 Konsequenterweise musste der Minister deshalb darauf hinwirken, dass die dieser Rechtsauffassung widersprechenden Innungs- und Ortsstatuten in seinem Sinne geändert wurden. Dass dies geschehen ist, lässt sich in der Tat feststellen. 1857 berichtete der Bielefelder Bürgermeister, die Statuten der Gesellen-Unterstützungskassen seien inzwischen ausnahmslos revidiert und von der Regierung genehmigt worden. Die Stadtverwaltung habe Meister wie Innungsvorstände veranlasst, jede missbräuchliche Abweichung von den Vorschriften sofort anzuzeigen. Es würden in Bielefeld keine Reiseunterstützungen mehr gezahlt.1172 1170 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers von der Heydt v. 19.11.1853, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 6 Bd. 1, fol. 30 RS; desgl. Schreiben des Ministers von der Heydt an den Innenminister v. Westphalen v. 18.11.1853, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 129. 1171 So Schreiben des Ministers v. der Heydt an die Regierung Merseburg v. 30.1.1854, in: GStA/ PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 137. Nicht erst § 143 der Gewerbeordnung habe jeden Anspruch wandernder Gesellen auf Unterstützung durch die Meister beseitigt; vielmehr lasse schon Nr. 8 e des WanderReglements v. 24.4.1833 keinen Zweifel daran, dass allen Gesellen, welche Meister ihres Gewerbes um eine Unterstützung angingen, ohne Rücksicht auf sonstige Bestrafungen in jedem Fall die Fortsetzung der Wanderschaft untersagt werden müsse; sie seien unverzüglich an den Ort der Ausstellung ihres Wanderpasses zurückzuweisen. Aus dieser Auslegung folgte zwar noch nicht, dass die Bereitschaft der Meister, ihre wandernden Gewerksgenossen zu unterstützen, gesetzwidrig war. Da die Innungsstatuten aber der Genehmigung bedurften und der Minister die Behörden anwies, entsprechenden Verpflichtungen der Innungen die Zustimmung zu versagen, war ein Hebel gefunden, mit dem die institutionalisierte Unterstützung der Wandergesellen verhindert werden konnte. 1172 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bielefeld v. 13.6.1857, in: Stadtarchiv Bielefeld Rep. I C Nr. 51. Im ostelbischen Preußen verhielt es sich aber anders. 1857 klagten der Innen- und der Gewerbeminister in einem Schreiben an die Regierungen: „… Auch eine Verpflich-

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Zieht man die Summe des bisherigen Feststellungen, so lassen sich vier Funktionen des Viaticums erkennen: (1) Sein wesentlichster Zweck war natürlich der der notwendigen Wanderunterstützung. (2) Das Viaticum gehörte bei den geschenkten Handwerkern aber auch zu den berufsspezifischen Formeln und Ritualen, deren Funktion die des Erkennens der Zugehörigen war. (3) Indem den jungen Handwerkern das Viaticum gereicht wurde, erfuhren sie einerseits jenen berufsspezifischen Zusammenhalt zwischen Meistern und Gesellen ihres Gewerks, der in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen das unselbständige Handwerk noch von der enstehenden Arbeiterschaft schied. (4) Da das Viaticum uns nicht als Brauch, sondern als Gewohnheitsrecht gegenübertritt, erkennen wir hier andererseits aber auch selbst im gewerbefreiheitlichen Westfalen des 19. Jahrhunderts Reste eines Rechts, welches nicht nur den Gruppenzusammenhalt gewährleistete. Vielmehr trennte dieses zugleich die Gesellen von den Meistern in der hergebrachten handwerkstypischen Weise. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß sich nicht wenige Gesellen, die Protagonisten radikalen Gedankengutes zumal, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Arbeiter“ verstanden. Daneben finden sich aber die vielen, denen mit ihren Organisationen die institutionell verfestigte rechtliche Sicherung des „Alten Handwerks“ abhanden gekommen war und die sich daher an das Recht des Geschenks klammerten, welches den Wanderbrauch seit je stabilisiert hatte und so – jedenfalls außerhalb Westfalens – noch immer maßgeblich zum Gesellen-Zusammenhalt beitrug.1173 c. Kirchliche Initiativen Dass es aber ungeachtet der so nachdrücklich vorgetragenen Bedenken des Ministers ein unleugbares Bedürfnis nach Unterstützung wandernder Gesellen gab, zeigt die Belebung der Viaticums-Sitte durch eine Institution, die der Anknüpfung an missliebige Zunfttraditionen ebenso wie der Beförderung der Bettelei unverdächtig war. Gemeint ist die katholische Kirche, die frühzeitig erkannte, dass das Verschwinden der Zünfte im Bereich der sozialen Fürsorge und Vorsorge ein Vakuum hinterlassen hatte, welches es im Interesse der betroffenen Menschen dringend zu füllen galt. Insbesondere der münsterische Generalvikar und Minister Franz von Fürstenberg,1174 der dortung zum Wandern findet nach § 143 der Gewerbeordnung nicht mehr statt, und der wandernde Geselle hat auf besondere Unterstützung von seiten der Gewerbegenossen keinen Anspruch. Dessen ungeachtet halten sich noch viele Gesellen für verpflichtet, durch die Zahlung einer Abfindung an ihre Genossen die Erlaubnis zur Beschäftigung bei Handwerksmeistern und den Anspruch auf Reise-Unterstützungen zu erkaufen“; s. Schreiben des Innen- und des Gewerbeministers vom 28.2.1857, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 40 RS. Die Gewähr solcher „Abfindungen“ ist aus Westfalen nicht bekannt geworden. Offenkundig stand sie in direktem Zusammenhang mit der Ausstellung der Gesellenscheine (s. o.). „Abfindungen“ waren demnach – jedenfalls außerhalb Westfalens – trotz der seit 1845 wiederholten Versuche, diese Sitte zu unterbinden, noch 1857 in Gebrauch. 1173 S. Kocka (1990), S. 346, 347. 1174 Franz Friedrich Wilhelm Freiherr von Fürstenberg, Domherr, Generalvikar und Minister in Münster (1729–1810); s. dazu Hanschmidt (1983), S. 615 ff.; vor allem aber Hanschmidt (1967).

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tige Theologieprofessor Johann Heinrich Brockmann1175 und der Bischof der Provinzialhauptstadt, Bernhard Georg Kellermann,1176 hatten die dem Jesuitenorden eng verbundenen sog. Marianischen Sodalitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westfalen verbreitet.1177 Diese kirchlichen Vereine nahmen sich auch der wandernden Gesellen an. Die Mitglieder der Sodalitäten wurden vor Antritt ihrer Wanderschaft mit einem sog. „Reise-Testimonium“ ausgestattet, welches sie in der Fremde überall dort, wo ein solcher Zusammenschluss bestand, vorweisen konnten. Die Wanderer erhielten dann von dieser Gemeinschaft das Viaticum, so dass sie während der Reise und etwaiger Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht ohne Unterstützung blieben. Mit Bettelei, wie der misstrauische Minister meinen mochte, hatte diese gegenseitige Hilfe keineswegs etwas zu tun. Die katholische Kirche reagierte vielmehr mit ihren Sodalitäten unbürokratisch und wirksam auf akute soziale Missstände, die der Staat damals nicht erkannte, wohl auch nicht erkennen wollte und noch viel weniger zu beheben suchte. So beurteilten es auch schon die Zeitgenossen: „Daher auch die … auffallende Erscheinung, dass alle humanistischen Staats- und Provinzial-Anstalten mit großer Mühe und schweren Geldopfern unterhalten werden müssen, während die im guten Glauben auf die Werke der Liebe ohne alle Mittel gegründeten katholischen Wohltätigkeitsanstalten sich in voller Blüthe zeigen …,1178 berichtete der Warendorfer Bürgermeister 1855. Die Breitenwirkung dieser Vereine war im katholischen Westfalen erheblich. Zuvor schon, 1854, hatte die münsterische Regierung festgestellt, dass die Errichtung von Unterstützungskassen für Handwerksgesellen im Kreise Warendorf nicht notwendig sei, da dort die meisten „unselbständigen Gewerbetreibenden“ den Marianischen Sodalitäten angehörten.1179 Auch der Umstand, dass viele katholische Gesellen es vorzogen, in katholischen Gegenden Deutschlands zu wandern, dürfte nicht zuletzt durch diese Art der Fürsorge veranlasst worden sein. Eine neue Qualität und andere Dimension erhielt die kirchliche Zuwendung zu den wandernden Gesellen durch die Gründung der Kolping-Vereine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den Marianischen Sodalitäten zählten sie ausschließlich Gesellen zu ihren Mitgliedern – und konnten sich deren spezifischen Bedürfnissen desto besser annehmen. Deshalb war es selbstverständlich, dass sich die Kolping-Vereine nicht damit begnügten, den durchreisenden Gesellen ein „anständiges Unterkommen“1180 zu bieten. Sie wollten die Fremden darüber hinaus 1175 Johann Heinrich Brockmann (1767–1837), Professor der Theologie, vgl. dazu Hegel (1983), S. 353. 1176 Bernhard Georg Kellermann (1776–1847), Bischof in Münster 1846; s. Hegel (1983), S. 352 f., 357, 383. 1177 Vgl. Schreiben des Bürgermeisters von Warendorf, Neuhaus, an den Landrat des Krs. Warendorf v. 3.2.1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. Die Leitung der einzelnen Marianischen Sodalitäten hatte jeweils ein Priester (Präses) inne, der von frei gewählten sog. Sodalen unterstützt wurde. Auch in den anderen westfälischen Bistümern entstanden diese Vereinigungen. 1178 So Schreiben des Bürgermeisters von Warendorf, Neuhaus, v. 3.2.1855, wie Anm. 1177. 1179 Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Warendorf v. 29.11.1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1180 So der Aufruf des Vorstandes des katholischen Gesellenvereins in Warendorf v. 9.1.1852, zitiert nach Rohleder (1978), S. 13. Zu den Gesellenvereinen vgl. Grosinski (1985), S. 228–240.

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„nach Möglichkeit unterstützen“.1181 Und sie beließen es nicht bei den sprichwörtlichen guten Vorsätzen. Ihre örtlichen Vereine halfen den jungen Handwerkern auf der Walz in der Tat erforderlichenfalls auch mit Geldmitteln.1182 Damit wurde die aus praktischer Notwendigkeit geborene und durch jahrhundertelange Bewährung geheiligte Idee des Viaticums in Westfalen wieder nachhaltig gefördert. Der Vorstand des 1852 gegründeten katholischen Gesellenvereins in Warendorf bat die dortigen Bürger, die Bemühungen der Gesellen, welche in einer Gastwirtschaft der Stadt eine Herberge eingerichtet hatten, „zu unterstützen, um dadurch dem Betteln und Fechten ein Ende zu machen und vorkommenden Falls reisenden Handwerkern unser Etablissement zu empfehlen“.1183 Wenn der Gewerbeminister glaubte, das Betteln der Gesellen durch die Beseitigung der Sitte des Viaticum-Gebens bekämpfen zu sollen, um auf diese Weise die Zahl der mittellosen Wandergesellen zu verringern, so entschieden sich die Kolping-Vereine für den gerade entgegengesetzten Weg, indem sie den bedürftigen Handwerkernachwuchs förderten. Das so wiederbelebte Viaticum dürfte das Wandern der Kolping-Brüder durchaus erleichtert haben. Der Erfolg hat Kolping und seinem Werk jedenfalls Recht gegeben. Die barsch-autoritäre Attitüde und das latente Misstrauen, welches der preußische Staat gegenüber den Gesellen ebenso provozierend wie dauerhaft zur Schau trug, erwiesen sich dagegen als völlig ungeeignet, die offensichtlichen sozialen Probleme, welche sich durch das schnelle Anwachsen der Zahl der Gesellen während des Vormärz entwickelt hatten, zu lösen. Der Spannungsbogen, der sich durch die gegensätzliche Vorgehensweise zwischen Staat und katholischen Gesellenvereinen notwendig aufbaute, wurde von Kolping und seinen Mitstreitern auch durchaus erkannt. Sie zogen die politische Dimension ihrer Aktivitäten von Anfang an ins Kalkül. Einerseits beschlossen die Vertreter der Gesellenverbände schon auf einer der ersten Generalversammlungen, 1853, dass der politischen Betätigung in den Vereinen enge Grenzen gesetzt sein sollten.1184 Man wollte dem preußischen Staat, der – nicht erst seit der glimpflich überstandenen Revolution – alle politisch relevanten Äußerungen der organisierten Gewerbegehilfen kritisch beobachtete, keinen Vorwand bieten, die Vereinsaktivitäten zu stören oder zu behindern. Andererseits bemerkte Kolping frühzeitig, dass eine kritische Position gegenüber dem preußischen Staat, welcher der katholischen Kirche bekanntlich ebensowenig wie den Gesellenverbindungen besonders zugetan war, die Anziehungskraft seiner Vereine auf die katholische Jugend und deren Zusammenhalt fördern musste. 1853 erklärte er deshalb eindeutig: „Einige Anfechtungen von außen, sogar das oft erklärte Misstrauen der preußischen Regierung schaden uns im Grunde nicht …“.1185 Mit dieser Analyse sollte er Recht behalten, zumal sich der Gesetzgeber zu einer entschlossenen Bekämpfung der Vereine nicht verstehen mochte. Wenngleich der

1181 1182 1183 1184 1185

Wie Anm. 1180. So z. B. in Dülmen; s. Gesellenverein Dülmen (1910), S. 18. Wie Anm. 1180. S. Kracht (1975), S. 9. Zitiert nach Kracht (1975), S. 9.

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Staat gegenüber den katholischen Gesellenverbänden kritisch blieb,1186 wurden diese Zusammenschlüsse durch das Vereinsverbot des Bundestages von 1854 nicht betroffen. d. Exkurs: Das Viaticum in der Industriearbeiterschaft Das uralte Institut der Wanderunterstützung hatte seine Anziehungskraft aber auch außerhalb kirchlicher Kreise nach der Mitte des Jahrhunderts noch nicht völlig verloren. Dies erhellt schon der Umstand, dass das Viaticum nicht auf die Handwerksgesellen im engeren Sinne beschränkt blieb. Die 1848/49 geschaffene sog. Deutsche Arbeiterverbrüderung suchte sogleich eine Wanderunterstützung einzuführen. Diese wurde bald zu der bedeutendsten Einrichtung der Arbeiterverbrüderung. Ähnliche Ziele verfolgte die Assoziation der Zigarrenarbeiter Deutschlands. So wurde auch die Unterstützungskasse der schlecht bezahlten und wenig angesehenen Zigarrenarbeiter in Dortmund in den fünfziger Jahren mit einem Wanderunterstützungsverein verbunden. Ähnliche Zusammenschlüsse der Zigarrenarbeiter mit gleichen Zielen bestanden auch in anderen westfälischen Städten wie Bielefeld, Bünde, Hagen, Herford, Höxter und Paderborn, aber auch in Berlin, Bremen, Duisburg, Frankfurt, Hamburg oder Hannover.1187 Ebenso wenig wollten die Buchdrucker auf das Viaticum verzichten. Der 1867 gegründete Deutsche Buchdruckerverband, eine Gesellenorganisation, richtete 1875 eine sog. „Reisekasse“ ein, und selbst der 1869 ins Leben gerufene Deutsche Buchdruckerverein, dem nur Arbeitgeber angehörten, zählte es zu seinen Aufgaben, wandernde Gewerksgenossen durch das „Viaticum“ zu unterstützen.1188 Die Vitalität des Wanderbrauches und die Gewohnheit des Geschenkgebens noch in der hochindustriellen Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und selbst in Gewerbesparten, die nicht zu den typischen Zunfthandwerken gezählt hatten und im 19. Jahrhundert zur industriellen Fertigung übergegangen waren, macht Staunen.1189 Das zähe Festhalten der Gesel1186 So Wendling (1937), S. 37. 1187 S. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 2, S. 665. Zur deutschen Arbeiterverbrüderung s. Balser (1962), S. 45 ff.; zu deren Wanderunterstützung vgl. Balser, a. a. O., S. 103 ff. 1188 So Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, Stadtarchiv Dortmund, Bst. 202, B XIII, 125, Bd. 2, S. 665; vgl. auch Kulemann (1908), S. 665. 1189 Die Frage der evolutionären Entwicklung der Arbeiterorganisationen des späten 19. Jahrhunderts aus den Gesellenverbänden wird in der Sozialgeschichtsforschung lebhaft diskutiert. Wie Reininghaus geht auch Offermann von einer kontinuierlichen Entwicklung der Gesellenbruderschaften zu gewerkschaftlichen Organisationen aus: „Trotzdem bestehen zwischen den Gesellenbruderschaften und den Gewerkschaften der späten sechziger und siebziger Jahre keine absoluten Gegensätze. Erstere konnten durchaus als altbewährte gewerkschaftliche Organisationen der Gesellen im zünftlerisch verfassten Handwerk, parallel zur Durchsetzung der Gewerbefreiheit und der Industrialisierung, evolutiv in eine moderne gewerkschaftliche Organisationsform finden, wie dies ja auch für die Entwicklung der Buchdruckerorganisation, ebenfalls bei den Hutmachern, zutraf“; so Offermann (1979), S. 138. Offermann hat allerdings jene deutschen Territorien vor Augen, in denen die Zunftverfassung und damit auch die traditionellen Gesellenverbände bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts ungebrochen

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len und Arbeiter am Hergebrachten noch unter den völlig veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen des Kaiserreichs lehrt eindrucksvoll, dass das Wandern weit mehr als ein archaisches Medium der Berufsqualifizierung oder der Überbrückung von Phasen der Arbeitslosigkeit war. Die Wandersitte und der damit verbundene Regelungskanon konstituierten, jenseits bloßer Nützlichkeit, einen wesentlichen Teil der Lebensordnung des Handwerkers, wie sie sich seit dem Mittelalter entwickelt hatte. Dieser während vieler Generationen durch Rechtsregeln befestigte Kosmos prägte die Menschen, welche sich zu ihm bekannten, an ihm teilhatten und ihn dadurch immer wieder erneuerten, zutiefst. Das mit dem Institut der Gesellenwanderung verbundene „Geschenkgeben“ schwand deshalb erst, als der Staat dessen Rechtsverbindlichkeit schon lange zu verleugnen sich gewöhnt hatte. 9. Das Betteln a. Die wirtschaftliche Situation der wandernden Gesellen aa. Die Zeit des Vormärz Mit dem Gesellenwandern verband sich in der Vorstellung der Bevölkerung seit je das Bild des „fechtenden“, d. h. bettelnden Handwerksburschen. Dieses durchaus vielschichtige Phänomen bedarf der differenzierten Betrachtung, da es einerseits Züge des zu Gewohnheitsrecht geronnenen Gesellenbrauches trug, andererseits aber auch Ausdruck der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht besiegten Massenarmut war, welche aufgrund der zyklischen Hungerkrisen immer wieder dramatische Erscheinungsformen annahm. Die Folgen des Elends, weniger aber dessen Ursachen suchten Regierung und Gesetzgeber zu bekämpfen. Die Hungersnöte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren das Ergebnis von Missernten, welche in der vorindustriellen Zeit regelmäßig wiederkehrten. Sie verursachten den für die Zeit des Vormärz viel beschriebenen „Pauperismus“ nicht eigentlich, kennzeichneten aber dessen Extrempunkte. Gleichwohl fielen die Ernährungskrisen im Westfalen des Vormärz aber bereits weniger schwer aus als diejenigen früherer Jahrhunderte oder die zeitgleichen Hungersnöte in anderen Teilen Europas.1190 Die Missernten 1816/17, 1830/31 und 1846/47 hatten kein Massensterben wie in früheren Zeiten mehr zur Folge. Für die betroffenen Unterschichten, zu denen auch die Gesellen zählten, war die Situation aber immer noch prekär genug, da die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der akuten regionalen Notlafortbestanden. Durch die frühe Beseitigung der Zunftordnung in Westfalen und die scharfe Überwachung neu entstehender Zusammenschlüsse der Gesellen in Preußen ist die dortige Entwicklung gänzlich anders zu beurteilen. Dies räumt auch Offermann selbst ein, wenn er auf die Intention des preußischen Gesetzgebers hinweist, die Gesellenverbände durch das Gesetz vom 3.4.1854 zu disziplinieren. s. Offermann (1979), S. 136. Zum Übergang von den Gesellenbruderschaften zu den Arbeitervereinen und Berufsgewerkschaften vgl. Offermann (1979), S. 137, 138. 1190 S. Wischermann (1984), S. 51.

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gen über ein „System von Aushilfen“, wie Reinhart Koselleck pointiert formuliert hat, nicht hinausgelangten.1191 Die seit der Reformzeit dem wirtschaftsliberalen Dogma verpflichtete Politik der preußischen Regierung sah ihre Aufgabe eben bereits mit der Linderung der schlimmsten Missstände als erfüllt an. Als eigentliche Ursache für die Bettelei der Gesellen in diesen Jahren verdienen weniger die zyklisch auftretenden und sich dramatisch zuspitzenden Erscheinungen akuten Nahrungsmangels als vielmehr das beschleunigte Bevölkerungswachstum der ersten neuzeitlichen Bevölkerungswelle genannt zu werden. Dieses begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und währte bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Wie fast in ganz Deutschland kam es damals auch in Teilen Westfalens zu Überbevölkerungserscheinungen, welche die „Verelendung einer sich rasch verbreitenden Unterschicht landlos und zunftlos gewordener Elemente“1192 zur Folge hatte. Rohrscheidt hat die These vertreten, dass die „Handwerksburschen“ sich während der großen Hungerkrise des Jahres 1817 zudem „nach den wohlhabenderen Landestheilen hinzogen und hier in ungewöhnlich grosser Zahl auftraten“.1193 Trifft diese Auffassung zu, sind auch Teile Westfalens in den wiederkehrenden Jahren der „Teuerung“ ein solcher Anziehungspunkt gewesen. Ohnehin sollen die neugewonnenen preußischen Provinzen, und damit auch Westfalen, damals eine größere Zahl von Gesellen als zuvor zu unterhalten gehabt haben, weil die einheimischen Hilfskräfte wegen der Militärpflicht zumeist nicht mehr ins Ausland wandern konnten, sondern im Lande bleiben mussten.1194 Aus alledem resultierte seit Ende der zwanziger Jahre ein allmählich zunehmendes Überangebot an Arbeitskräften jedenfalls in bestimmten Handwerksberufen. Die wirtschaftliche Lage des Kleingewerbes im 19. Jahrhundert ist aber ein viel zu komplexes Problem, als dass einfache Erklärungen die zahlreichen Facetten der Entwicklung zureichend zu beschreiben vermöchten. Dies gilt insbesondere für das westfälische Handwerk, welches sich in mehr als einer Hinsicht von demjenigen der mittleren und östlichen Provinzen Preußens, aber auch des Rheinlandes unterschied. Wenig differenzierte Feststellungen trifft Wolfgang Köllmann, der in seinen zahlreichen Schriften gerade in Bezug auf „Rheinland-Westfalen“ immer wieder einen „Prozess der Übersetzung der Handwerker“ behauptet.1195 Zwar befasste er sich vor allem mit der Situation der Meister, doch vermitteln seine Darstellungen auch von der Situation der Gesellen ein kaum zutreffendes Bild. Die Einführung der 1191 Zur wirtschaftlichen Situation der Unterschichten in Ost-Westfalen in der Zeit des Vormärz s. ausführlich Klocke (1974); Wischermann (1983), S. 126–147; zum Vergleich heranzuziehen ist die Darstellung des Pauperismus-Problems in Südwestdeutschland durch von Hippel (1976), S. 270–371. 1192 So Jantke (1955), S. 41. Die Einkommenssituation der Unterschichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dargestellt bei Saalfeld (1984), S. 215–253. 1193 So Rohrscheidt (1898), S. 617. Diese Beobachtung bestätigt die naheliegende Annahme, daß die wirtschaftliche Situation und die Lage des Arbeitsmarktes verschiedener Regionen die Bereitschaft zur Wanderung und das Ziel der Wanderschaft beeinflußte; s. Pierenkemper (1982), S. 28. 1194 S. Rohrscheidt (1898), S. 617. 1195 So z. B. Köllmann (1983), S. 151; so auch schon Köllmann, Industrialisierung … (1974), S. 107 f.

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Gewerbefreiheit habe – in Gestalt der uneingeschränkten Niederlassungsfreiheit – steigende Meisterzahlen und ein zunehmendes Missverhältnis zwischen der Zahl der Meister einerseits und jener der Gesellen und Lehrlinge andererseits zur Folge gehabt. Zur Begründung verweist er darauf, dass die Zahl der Bäcker-, Metzger-, Schuhmacher-, Schneider-, Schmiede-, Tischler- und Uhrmachermeister in Rheinland-Westfalen zwischen 1843 und 1849 von 82.469 auf 90.015, d. h. um 9,2 %, die ihrer Hilfskräfte aber nur von 41.249 auf 42.628, um 3,3 % zugenommen habe.1196 Die große Zahl der Alleinmeister, welche aus diesen Zahlen erkennbar wird, habe „keine handwerkliche Vollstelle mehr“ besessen, sondern aus „proletaroiden Elementen ohne gesicherte Existenz bestanden“. Die arbeitslosen Gesellen hätten versucht, sich selbständig zu machen und als „Meister“ ihren Unterhalt zu verdienen. Die „Übersetzung“ der Handwerke sei eine Folge des Übervölkerungsprozesses gewesen, die Zahl der im Handwerk Beschäftigten sei über den Bedarf hinaus gewachsen und habe so die Einkommenschancen der einzelnen Meister und Gesellen vermindert.1197 Zu diesem Befund konnte Köllmann allerdings nur gelangen, indem er die statistischen Quellen nur sehr selektiv wahrnahm, den jedenfalls im westfälischen Handwerk mit Ausnahme Münsters allgemein üblichen agrarischen Nebenerwerb völlig außer acht ließ und zudem den zahllosen zeitgenössischen Klagen der Meister und anderer Gegner der liberalen preußischen Gewerbepolitik über die „Übersetzung“ des Handwerks ungeprüft Glauben schenkte. Eine umfassendere Analyse der Handwerkertabellen, deren Ergebnisse hier nur angedeutet werden können,1198 ergibt demgegenüber aber anderes: Will man den Einfluss der Einführung der Gewerbefreiheit auf die Bewegung der Handwerkerzahlen in Preußen betrachten, ist es unzulässig, lediglich Statistiken der vierziger Jahre heranzuziehen – schließlich wurde die Gewerbefreiheit in Westfalen wie im damaligen Rumpf-Preußen bereits zwischen 1808 bis 1811 eingeführt. Vergleicht man die Zahlen der Jahre 1822 und 1846, so zeigt sich, dass ein Meister in Preußen insgesamt 1822 auf 41 Personen und 1846 auf 39 Personen entfiel, die Zahl der Handwerksbetriebe also kaum schneller als die Bevölkerung gewachsen ist. In Westfalen allerdings erhöhte sich die Zahl der selbständigen Handwerker in der Tat stärker: 1822 waren 36 Personen auf einen Meister entfallen, 1846 nurmehr 31.1199 Diese Tatsache ist aber nicht, wie Köllmann meint, Ausdruck einer Proletarisierung weiter Teile des selbständigen Handwerks in der Provinz, sondern liegt in der höheren Nachfrage nach gewerblichen Erzeugnissen und Dienstleistungen begründet, was auf die – jedenfalls im Vergleich zu dem ostelbischen Preußen – bereits entwickeltere und daher stärker wachsende gewerbliche Wirtschaft in Teilen der Provinz zurückzuführen war.1200 Deutlicher als die Zahl der Meister hatte zwischen 1822 1196 Köllmann (1983), S. 151. 1197 So Köllmann (1983), S. 152; ähnlich auch ders. (1966), S. 19, 21; immer wieder macht Köllmann „die ungehemmte Gewerbefreiheit“ für „die Krise der Handwerker“ verantwortlich; so z. B. ders. (1974), Rheinland und Westfalen … S. 215. 1198 Die Entwicklung verlief naturgemäß in den verschiedenen Handwerkssparten sehr unterschiedlich; s. dazu ausführlich Deter (2005). 1199 Allgemeine Betrachtungen … (1849), S. 4. 1200 So schon Allgemeine Betrachtungen … (1849), S. 4.

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und 1846 die Zahl der Gesellen und Lehrlinge zugenommen. Im Durchschnitt der preußischen Monarchie entfiel 1822 eine Hilfskraft auf 71, 1846 dagegen auf nurmehr 47 Personen.1201 In Westfalen ist in Bezug auf die Gesamtbevölkerung die nämliche Steigerung der Zahl der Hilfskräfte wie im gesamten Preußen zu beobachten: 1822 kam ein Geselle bzw. Lehrling auf 75, 1846 dagegen nurmehr auf 51 Personen. Diese Entwicklung ist auch in dem traditionell kleinbetrieblich strukturierten Handwerk Westfalens bereits Ausdruck des zukunftweisenden Konzentrationsprozesses, der zu größerer Effizienz der Betriebe führte. Im Gegensatz zu Köllmanns Vermutung ist aus dem Rückgang der Anzahl der Kleinmeister auf eine günstige Entwicklung der Kleingewerbe – und damit auch auf eine Verbesserung der Lage der Gesellen insgesamt – zu schließen, wenngleich die Entwicklung in den einzelnen Handwerkssparten durchaus unterschiedlich verlief. Wegen der stärkeren Zunahme der Zahl der Meister in den westlichen Provinzen vergrößerten sich die Betriebe in Westfalen allerdings nicht ebenso stark wie in Gesamtpreußen – eine Entwicklung, die allerdings insbesondere im Rheinland, weniger dagegen in der anderen Westprovinz festzustellen ist.1202 Es ist nicht zu bestreiten, dass ein Teil der Gesellen während mancher Phasen der Wanderschaft oder infolge von Entlassungen längerfristiger Arbeitslosigkeit und damit der Verelendung anheimfiel. Denn angesichts der weit verbreiteten Not kann die Unterstützung für den einzelnen Bedürftigen in der großen Mehrzahl der Gemeinden nur äußerst gering gewesen sein. Köllmann geht davon aus, dass es auch im Westfalen des Vormärz eine breite Schicht am Rande der Verelendung lebender Handwerker, Gewerbetreibenden und Kleinbauern gegeben hat.1203 In der Tat zählten in der Provinz 1826 rund 80 % der Bevölkerung zur klein- und unterbäuerlichen bzw. zur klein- und unterbürgerlichen Schicht, die von der Wahlberechtigung ausgeschlossen war.1204 Nach zeitgenössischen Schilderungen hat die Belästigung der Landbevölkerung durch bettelnde „Handwerksburschen“ und das von diesem Begriff offenbar schon damals miterfasste, auf den Straßen umherziehende Lumpenproletariat selbst im nordwestlichen Westfalen bereits gegen Ende der zwanziger Jahre ein bedrückendes Ausmaß angenommen.1205 Es muss vermutet werden, dass jedenfalls in den vierziger Jahren die Mehrheit der Bewohner der Provinz nur dürftig ihre Existenz fristen konnte – und zu diesem stets von existentieller Not bedrohten Segment zählten natürlich auch die Gesellen, denn die Teuerungsjahre führten stets zu einem erheblichen Rückgang der Nachfrage nach gewerblichen Produkten, so daß ein Großteil der im Handwerk Beschäftigten seinen Arbeitsplatz verlor.1206 Die Zahl der Unterstützungsempfänger lag selbst im ver1201 Allgemeine Betrachtungen … (1849), S. 6. 1202 S. dazu ausführlich Deter (2005). 1203 Köllmann, Rheinland und Westfalen … (1974), S. 217. 1204 Köllmann, wie Anm. 1195. 1205 So der Landrat des Kreises Recklinghausen, Graf v. Westerholt, s. Schreiben v. 11.9.1826, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 28. 1206 So auch Köllmann, wie Anm. 1195. S. auch Saalfeld (1984), S. 227. Pierenkemper weist darauf hin, daß wegen der überproportional wachsenden Zahl der Gesellen die Unterbeschäftigung zugenommen und deren Einkommen „gelegentlich“ unter das Existenzminimum gesunken sei; s. Pierenkemper (1994), S. 13.

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gleichsweise wohlhabenden Münsterland außerhalb der Hungerjahre etwa zwischen 4 und 9 % der Bevölkerung, stieg aber in den eigentlichen Krisenjahren bis auf das Doppelte an. Das „Westfälische Dampfboot“ veröffentlichte 1847 einen Bericht aus dem Herforder Raum: „Niemals habe ich größere Scharen von Bettlern gesehen als in diesem Jahr. In einem Haus belief sich die Zahl der bettelnden Männer, Frauen und Kinder, die nacheinander an demselben Morgen sich einstellten, auf 250. Mit dem Bettelgesetz ist gegen solche Armut nichts mehr auszurichten“.1207 Bis etwa 1850 mussten nicht weniger als 30 bis 40 v. H. aller Ausgaben der Gemeinden und Armenfonds in der Provinz für die Unterstützung der Mittellosen ausgegeben werden.1208 Die Zahl der Vaganten und auch der unbeschäftigten Handwerksgesellen dürfte damals in der Tat beständig, und während der Hungerjahre 1846/47 sogar in ganz ungewöhnlichem Ausmaß zugenommen haben. Doch weisen die Handwerkertabellen aus, dass die Zahl der beschäftigten Gesellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Westfalen schneller als die Bevölkerungszahl insgesamt anstieg, der Arbeitsmarkt sich in diesem Segment demnach durchaus nicht ungünstig entwickelte. Zwar unterschieden sich die Verhältnisse in den einzelnen Regionen und Handwerkssparten der Provinz deutlich voneinander, doch kann – trotz zunehmenden Risikos phasenweiser Arbeitslosigkeit – cum grano salis nicht von einer signifikanten oder gar dramatischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Gesellen insgesamt gesprochen werden. Aus alledem folgt, dass die auch in der neueren Literatur vertretene These von der Verelendung weiter Teile der Gesellenschaft aufgrund eines dauerhaften Überangebotes an Arbeitskräften jedenfalls für Westfalen so apodiktisch nicht gelten kann. Ein derartiges Massenelend wie die Spinner und Weber Westfalens hat die Gesellen zwischen Rhein und Weser ausweislich der Statistiken jedenfalls nicht betroffen, wobei allerdings stets zu berücksichtigen ist, daß die Arbeitslosen in keiner Statistik auftauchten.1209 bb. Die Phase der Hochindustrialisierung Seit der Jahrhundertmitte erlebte der Arbeitsmarkt für Handwerker in Westfalen wegen des außerordentlichen industriellen Aufschwungs im entstehenden Ruhrrevier dann aber eine bemerkenswerte Sonderentwicklung. Als die Missernte 1845/47 weite Teile der Bevölkerung auf oder unter das Existenzminimum drückte, war es vor allem der Eisenbahnbau, der vielen Hilfe brachte, da die von den Bahngesellschaften gezahlten Löhne die durchschnittlichen Tagelöhne etwas überschritten. 1207 Zitiert nach: Schulte (1954), S. 157. 1208 So Wischermann (1984), S. 55. 1209 S. dazu Deter (2005). Die These von der zunehmenden Verelendung der Gesellen ist Teil der verbreiteten Annahme, daß die Löhne der abhängig Beschäftigten mit dem Einsetzen der Industrialisierung allgemein gesunken seien. Hierüber ist es zu einer anhaltenden Kontroverse gekommen; s. Pierenkemper (1982), S. 25; dazu ausführlich Fischer/Bajor (Hrsg.) (1967); zu den Lebensumständen der Gesellen und Lehrlinge in der Frühen Neuzeit vgl. Friedeburg (2002). S. dazu auch die Autobiographie des Schlossers Johann Kirchgaesser, hrsg. v. Wisotzky (1990).

D. Das Wandern der Gesellen

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Schaubild: Entwicklung des Eisenbahnnetzes im westfälischen Raum bis 1855 Quelle: Ditt/Schöller (1995) S. 59, hier nach Wischermann (1984), S. 134.

1847 wurde die Köln-Mindener Eisenbahn eröffnet;1210 durch die bald folgende Errichtung größerer Fabriken im märkischen Sauerland und am Hellweg sowie die außerordentliche Ausweitung des Bergbaus ergaben sich dann ganz neue Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für zahlreiche Arbeiter.1211 Von der folgenden Epoche der Hochindustrialisierung in Westfalen sagte der Arnsberger Regierungsrat Jakobi, der scharfsinnige zeitgenössische Beobachter und Chronist dieser Vorgänge, damals, dass „zwei Herren hinter einem Arbeiter hergelaufen“ seien.1212 1210 Bis 1862 war das Eisenbahnnetz in Westfalen bereits auf 719 km angewachsen. 405 km entfielen davon allein auf den Regierungsbezirk Arnsberg; s. Wischermann (1984), S. 135; zur Köln-Mindener Eisenbahn s. Steitz (1974); zur Entlastungswirkung des Eisenbahnbaus für den Arbeitsmarkt vgl. auch Koselleck (1967), S. 634. Zur Bedeutung der Eisenbahn für das Landhandwerk s. Lenger (1995), S. 9. 1211 Zur Herkunft der Bergarbeiterschaft an der Ruhr s. Tenfelde (1977); desgl. Tenfelde (1976). 1212 Zitiert nach Hopff (1922), S. 42.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Auf die Einkommen der Handwerker hatte diese günstige Entwicklung des Arbeitsmarktes zunächst allerdings noch keine erheblichen Auswirkungen. Für Hagen ist – wenig überraschend – gezeigt worden, dass sich die Tagelohnsätze der Bäcker, Schlächter, Schlosser und Schreiner zwischen 1819 und 1853 nicht veränderten, während die Einnahmen der Schneider in dieser Zeitspanne sogar deutlich sanken. Lediglich die Maurer und Schmiede konnten bereits erhebliche Zuwächse verzeichnen, was unmittelbar auf die Errichtung neuer Fabriken und den Eisenbahnbau zurückzuführen gewesen sein dürfte.1213 Nach Angaben von Jakobi beliefen sich die durchschnittlichen Gesellenlöhne in den größeren Städten des Kreises Hagen noch 1857 auf nur 20 Sgr. bis 1 Tlr. pro Woche. Die Vertreter der „dürftigen“ Gewerbe wie Schuster, Schneider oder Seiler erzielten noch weniger, Gesellen der „besseren“ Handwerker etwas mehr.1214 Der Jahresverdienst eines Gesellen lag demnach bei 30 bis 50 Tlr., während der Knecht bei einem Bauern in Westfalen nach Jakobis Feststellungen damals 20 bis 50 Tlr., ausnahmsweise 60 Tlr. erhielt.1215 Auch nach Jahren des industriellen Aufschwungs hatten sich die Gesellenlöhne demnach selbst in den prosperierenden Regionen noch nicht signifikant erhöht. Individuelle Notsituationen von Gesellen waren deshalb auch in den fünfziger Jahren noch an der Tagesordnung. Köllmann hat bemerkt, der Arbeitskräfteüberschuss habe sich nicht in Arbeitslosigkeit, sondern in der Verminderung des Arbeitseinkommens aller niedergeschlagen.1216 Dies traf jedenfalls für die Handwerksgesellen nicht ganz uneingeschränkt zu, da das gelegentliche Betteln der wandernden Gesellen gerade auch Ausdruck der Notwendigkeit war, Phasen der Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Immerhin wuchs die Sensibilität für das Unhaltbare dieses Zustandes nach der letzten großen Hungerkrise 1846/47 spürbar. Der zu den Dortmunder Honoratioren zählende C. A. von der Leyen gründete 1850 einen „Dortmunder Hilfskasse“ genannten Verein, dessen Mitglieder sich durch Darlehen gegenseitig zu unterstützen verpflichteten. Handwerksgesellen konnten aber in aller Regel wegen fehlender Mittel nicht von dieser Einrichtung profitieren. Als sich deren Zahl aufgrund des 1850 beginnenden Wirtschaftsaufschwungs in der Stadt schnell erhöhte, wurden auch die anwachsenden sozialen Probleme der Gesellen und Arbeiter unübersehbar. Mit Hilfe gesammelter Beiträge errichtete von der Leyen deshalb 1852 den „Dortmunder Hilfsverein“, der es auch unselbständigen Handwerkern ermöglichte, Kredite zu erhalten, die sie vor gänzlicher Verarmung schützen sollten.1217 1213 S. Hopff (1922), S. 47; 1847 betrug der Tagelohn der Schneidermeister auf dem Lande, die für Lohn in den Häusern arbeiteten, gar nur 2 Sgr. Dies veranlasste Meister aus Pelkum bei Hamm, die Regierung zu bitten, eine Verdoppelung dieses Betrages anzuordnen, da sie ansonsten von dem Lohn nicht existieren könnten; s. Hopff (1922), S. 48. 1214 S. Hopff (1922), S. 48 unter Hinweis auf Jacobi (1857), S. 529. 1215 Zum Vergleich: Der Jahresverdienst eines Meisters lag laut Jacobi 1857 im günstigsten Falle bei 150 Tlr., bei Beschäftigung mehrerer Gesellen konnte er auf 250 Rtlr. jährlich steigen; s. Jacobi (1857), S. 529; Hopff (1922), S. 48. 1216 Köllmann, wie Anm. 1237, S. 79. Köllmann vertritt die Auffassung, dass Arbeitslosigkeit „in der Regel erst in einer durchgebildeten industriellen Wirtschaft zu den auffallendsten Krisenerscheinungen“ gehöre; s. Köllmann, wie Anm. 1237, S. 82. 1217 Die Unterstützer dieses Vereins, dem ein Komitee aus Honoratioren, Kaufleuten und Handwerkern vorstand, wurden auf mögliche Verluste ausdrücklich hingewiesen: Leyen bemerkte,

D. Das Wandern der Gesellen

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Anders die wirtschaftliche Situation der Fabrikarbeiter: Deren Einkommen waren in Hagen schon zwischen 1819 und 1853 ganz erheblich gestiegen – und dies dürfte durchaus typisch gewesen sein. Unstreitig war die materielle Lage der damals noch vergleichsweise wenigen Industriebeschäftigten in Westfalen durchaus günstiger als die der Handwerksgesellen – doch handelte es sich hierbei bloß um eine relative Besserstellung.1218 Die Einkommenssituation und die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft können im allgemeinen ebenfalls nur als schlecht bezeichnet werden,1219 und zwar trotz des außerordentlich starken Wirtschaftswachstums der Jahre nach der Jahrhundertmitte.1220 Ursächlich waren vor allem die Koalitionsverbote, welche die Arbeiter hinderten, höhere Löhne durchzusetzen.1221 Diesen Bestimmungen korrespondierten im Bereich des Handwerks die zahlreichen diskriminierenden Sondervorschriften, die für die wandernden Handwerksgesellen galten.1222 Bei den unleugbar erzielten Lohnsteigerungen, auf welche zeitgenössische Presseorgane aus dem liberalen Lager damals immer wieder hinwiesen, handelte es sich im allgemeinen lediglich um Anpassungen der Nominallöhne. Zutreffende Berechnungen der Realeinkommen sind für die fünfziger Jahre wegen der Lohnschwankungen, der örtlichen und regionalen Lohn- und Preisdifferenzen, der Nebeneinkommen durch die Mitarbeit von Frauen und Kindern sowie des verbreiteten agrarischen Zuerwerbs kaum möglich. Immerhin gibt es aber einige Anhaltspunkte: So ist festgestellt worden, dass ein Jahresverdienst unter 250 Tlr. für einen verheirateten Arbeiter ohne Nebeneinkommen in Norddeutschland nicht mehr als das Existenzminimum gewährleistete.1223 Einen solchen Lohn erhielten in Preußen aber nur wenige Arbeiter, so dass die Verheirateten regelmäßig auf die Mitarbeit der Angehörigen angewiesen waren und trotzdem dauerhaft am Rande des Existenzmider „Dortmunder Hilfsverein“ dürfe vor der größeren Wahrscheinlichkeit des Verlustes nicht zurückweichen; „für ihn ist es Aufgabe, die Mittel zur Rückerstattung der Vorschüsse erst zu schaffen, indem er seinen Schuldner nach und nach so weit bringt, dass er die geliehene Summe – wenn auch nur allmählich – zurückzugeben vermag“; s. Winterfeld, Die Stadt Dortmund (Manuskript), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 2, S. 653. 1218 S. dazu Offermann (1979), S. 276–278. 1219 Vgl. dazu ausführlich Fischer (1962); Fischer/Bajor (1967); insbesondere Fischer (1968). 1220 Zu der konjunkturellen Entwicklung nach der Jahrhundertmitte vgl. Spree/Bergmann (1974), S. 289–325. 1221 Vgl. Engelhardt, Gewerkschaftliche Interessenvertretung … (1976). 1222 Die Lebensumstände der Gesellen blieben auch über die Jahrhundertmitte hinaus bedrückend. So berichtete Prof. Perthes noch 1855: „Sehr gewöhnlich z. B. muss jeder Geselle, der nicht drei oder vier Groschen für ein besonderes Bett bezahlen kann, sich gefallen lassen, mit einem oder, ist die Herberge voll, auch mit zwei anderen zusammenzuliegen“. Er forderte deshalb, um solches zu unterbinden, eine Vorschrift der Ordnungsbehörden; s. Perthes (1883), S. 40, 41. 1223 Der Statistiker von Reden hatte 1849 für die fünfköpfige Durchschnittsfamilie in Preußen ein Existenzminimum von 200 Tlr. jährlich errechnet; dieses erreichten 90 % aller Familien aber nicht; s. Offermann (1979),S. 277, Anm. 54 m. w. Nachw.: Noch 1862/63 verdiente der Arbeiter in Preußen täglich häufig nicht mehr als 6 bis 18 Silbergroschen. Ein unverheirateter Gerbergeselle konnte in Breslau 1854 von einem Wochenlohn von 3 Tlr. seinen Lebensunterhalt aber nicht bestreiten (s. Wolfram Fischer, (1957), S. 143). Wochenlöhne von 4 ½ bis 5 Tlr. reichten 1863 in Elberfeld nicht aus, um die Existenz der Buchdrucker zu sichern; s. Offermann (1979), S. 277, m. w. Nachw.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

nimums lebten.1224 Die von Hoffmann berechneten Daten zur Entwicklung der Arbeitseinkommen in Deutschland lassen immerhin aber eine steigende Tendenz der Arbeitslöhne und Einkommen jedenfalls der Selbständigen bereits seit Anfang der fünfziger Jahre erkennen.1225 Neben den zu geringen Löhnen wirkten die ständige Bedrohung durch konjunkturelle Schwankungen und gesundheitliche Gefährdungen auch in der Phase der Hochindustrialisierung noch immer bedrückend auf Arbeiter wie Handwerksgesellen. Nur in wenigen Zweigen der gewerblichen Wirtschaft wie der Gold- und Silberwarenfertigung, der Uhrmacherei und dem Maschinenbau konnten qualifizierte Beschäftigte gut verdienen. Während die Alleinmeister in den sog. „pauperisierten“ Massenhandwerken insbesondere der Schuster und Schneider einen geringeren Durchschnittsverdienst als qualifizierte Fabrikarbeiter erzielten, konnten sich die Meister der Mehrzahl der Handwerke auf eine besondere wirtschaftliche Notlage nach der Jahrhundertmitte eigentlich nicht mehr berufen, wie sich aus der Entwicklung der Handwerkerzahlen in den meisten Berufssparten schließen lässt.1226 Dies bedeutet natürlich nicht, dass ihre Einkommen ausreichend gewesen wären, sie der Mitarbeit der Angehörigen nicht bedurft und ihre Gesellen bereits deutlich besser bezahlt hätten. Dass die Kleingewerbetreibenden selbst ihre Situation nach der Jahrhundertmitte als schlecht beurteilten, ist eine vielfach belegte Tatsache. 1855 wandten sich die Mitglieder der Bielefelder Innungen mit einer Petition an den preußischen Landtag, in der sie ihre Sicht unmissverständlich deutlich machten: „… Der Handwerker in seiner größten Mehrzahl ist zum gewöhnlichen Arbeiter herabgesunken und die Standesehre zur Chimäre geworden, daher all überall die zunehmende Armuth, der allgemeine Druck, die Entartung in Förderung des gewöhnlichen Fleißes, ja die totale Demoralisation dieses, neben dem Bauernstande, die Mehrzahl der Bevölkerung bildenden Standes …“.1227 Die trotz dieser Jeremiade damals bereits durchaus positive Ent1224 Nichts anderes ist für Süddeutschland festgestellt worden; s. Offermann (1979), S. 278 m. w. Nachw. 1225 S. Köllmann, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential … (1974), S. 84 m. w. Nachw. 1226 Dazu Deter (2005). Zur Kritik an diesem Schluß s. Lenger (2006). S. dazu auch Bd. 1, S. 116, Anm. 236. Pierenkemper hat darauf hingewiesen, daß die Beschäftigung schon seit etwa 1800 nicht nur im sich entfaltenden industriellen Sektor, sondern ebenso in den traditionellen Wirtschaftssektoren überall kräftig anstieg; s. Pierenkemper (1982), S. 24. 1227 So die Petition der Bielefelder Handwerker an den preußischen Landtag v. 10.12.1855, in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194. Die Begründung für die als misslich geschilderten Verhältnisse ist allerdings verräterisch: „Aus den unglücklichen Zuständen geistiger Verkommenheit und physischer Verderbtheit erstand eine nie geahnte Macht, die den Handwerkern vollends den Todesstoß versetzte: es war die Macht des Capitals, durch welche der schaffende Geist kaufmännischer Speculationen allenthalben Magazine etablierte“. Aus der Verdrängung einzelner Handwerkssparten durch die industrielle Konkurrenz und die Entfaltung des Handels wurde sans phrase auf den Untergang des Handwerks insgesamt geschlossen: „Demoralisiert durch die Epidemie zerrütteter und drückender häuslicher Verhältnisse liegt der Handwerker vollends in einer Lethargie, in welcher er nicht mehr fähig ist, über sich und die Verbesserung seiner Zustände reiflich nachzudenken.“… „Es kann uns ja Alles doch nichts helfen, das sind, eingeschüchtert durch die Macht der Gewohnheit eines jahrelangen Schlendrians, die trostlosen Worte aller“. Zur Einschätzung ihrer sozialen und politischen

D. Das Wandern der Gesellen

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wicklung blieb dem Gewerbeminister von der Heydt aber nicht verborgen. In einem Schreiben an den Mindener Regierungspräsidenten wies er 1856 ausdrücklich darauf hin, dass „die Verhältnisse des Handwerkerstandes … seit Emanation der Verordnung vom 9. Februar 1849 sich unverkennbar wesentlich gebessert“1228 hätten und eine weiterhin günstige Entwicklung erwartet werden dürfe.1229 Und 1855 schrieb der um das Handwerk besorgte Bonner Prof. Perthes von dem „großartige(n), vor einem halben Jahrhundert noch nicht geahnten Aufschwung aller Gewerbe“.1230So belegen die deskriptiven Quellen den aus den Handwerkertabellen erschlossenen Befund. Zwischen 1857 und 1875 zeigen die Lohnsätze für Industriearbeiter wie auch für die Gesellen dann in der Tat eine stetige Zunahme.1231 Die erhebliche Nachfrage nach Arbeitskräften durch den andauernden Eisenbahnbau und die sich schnell vergrößernden Fabriken im westlichen Westfalen ermöglichten es nun beinahe allen Beschäftigten im gewerblich-industriellen Sektor, höhere Lohnforderungen durchzusetzen,1232 so dass in den sechziger Jahren auch die Reallöhne deutlich stiegen.1233 Der Minister von der Heydt hatte sich mit seiner Prophezeiung aus dem Jahre 1856 nicht getäuscht:1234 Es ging aufwärts, und zwar auch für die Gesellen. Die Klagen über den Pauperismus als zeittypisches Phänomen begannen bereits in Situation durch die Meister und Gesellen nach der Jahrhundertmitte vgl. Offermann, Mittelständisch-kleingewerbliche Leitbilder … (1984), S. 528–551 mit zahlreichen weiteren Literaturnachweisen; desgl. Offermann (1979), S. 269. Die Haltung der Handwerker wurde auch in Westfalen durch die Furcht vor weiterem materiellen, vor allem aber sozialen Abstieg bestimmt. Die nämliche Problematik, welche mit der Einführung der Gewerbefreiheit unausweichlich verbunden war, hat Gerard Schwarz am bayrischen Beispiel deutlich gemacht; s. Schwarz (1974). 1228 Schreiben des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit, von der Heydt, an den Regierungspräsidenten Peters in Minden vom 29.3.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 324. 1229 Zum Anteil des Handwerks am Wirtschaftswachstum nach der Jahrhundertmitte s. Schmidt (1974), S. 720–744. 1230 So Perthes (1883), (1. Aufl. 1855), S. 1. Hier wird – vielleicht erstmals – auch im Bezug auf das ansonsten in notorische Larmoyanz verfallene Kleingewerbe der typische Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts deutlich: „Der großartige, vor einem halben Jahrhundert noch nicht geahnte Aufschwung aller Gewerbe hat eine Bewunderung des Fortschreitens erzeugt, die bei vielen bis zum anbetenden Staunen entartet ist …“. 1231 Zur sozialen Situation der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung vgl. Fischer/Bajor (1967); Fischer (1962); Fischer (1968). 1232 So Hopff (1922), S. 49; Wolfgang von Hippel hat für Württemberg festgestellt, dass der Reallohn 1860/65 den Stand von 1830/39 zu übertreffen begann; s. auch Offermann (1979), S. 278 m. w. Nachw. 1233 S. Offermann (1979), S. 278. 1234 Der Minister hatte damals an den Regierungspräsidenten in Minden geschrieben, die positiven Wirkungen des Gesetzes vom 9. Februar 1849 träten hervor, „ je mehr insbesondere im Laufe der Zeit die Zahl der Meister abnimmt, die schon vor dessen Erscheinen den selbständigen Betrieb ihres Gewerbes begonnen hatten und deshalb zur Führung des Befähigungsnachweises nicht angehalten werden können“; s. Schreiben v. 29.3.1856, in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194, fol. 143 ff. Unverkennbar überschätzte der Minister hier aber die Wirkungen der Gesetzgebung, während er zugleich die Bedeutung der ökonomischen Ursachen für die Besserung der Verhältnisse zu gering achtete.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

den fünfziger Jahren zu verstummen. Auch daraus lässt sich erkennen, dass sich der Bevölkerungsstau allmählich auflöste. Der Abfluss erfolgte einerseits durch die Auswanderung und andererseits, in viel stärkerem Maße, durch die von der Industrialisierung ausgelöste Binnenwanderung.1235 Diese Binnenwanderung war wegen des außerordentlichen Arbeitskräftebedarfs im entstehenden Ruhrgebiet in Westfalen besonders ausgeprägt. Für das Kleingewerbe des „Industriereviers“ bedeutsam wurde vor allem der schon seit dem 18. Jahrhundert bemerkbare Zustrom von Handwerkern aus Hessen und Waldeck.1236 Damit fanden die jahrhundertelangen Bemühungen des Staates, das Betteln der wandernden Handwerksgesellen zu unterbinden, ihr natürliches Ende, da dasselbe jedenfalls als Massenphänomen ganz einfach verschwand. Köllmann hat es unternommen, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials aufgrund von Schätzungen zu quantifizieren: Tabelle 31: Geschätztes Arbeitsplatzangebot im Verhältnis zum Arbeitskräftepotential 1822 Arbeitsplätze in Tausend

1849 Arbeitsplätze in Tausend

je 100 Arbeitskräfte

1864 Arbeitsplätze in Tausend

je 100 Arbeitskräfte

Nordostdeutschland

1.196,4

1.332,6

79,9

1.582,0

83,6

Königreich Sachsen

588,0

654,9

74,2

751,2a)

73,5a)

Provinz Sachsen

588,7

655,7

80,1

778,4

88,1

Rheinland

887,9

989,0

79,0

1.174,1

80,5

Westfalen

495,6

552,0

85,6

655,3

90,4

Badenb)

532,5

593,1

95,2

704,1

105,9

Württemberg

671,3c)

750,7

93,7

891,2

105,5

Quelle: Köllmann (1974), S. 76; zu den Berechnungsgrundlagen s. Köllmann, a. a. O., S. 74 a) 1861 b) Ausgangswert berechnet: s. Köllmann, a. a. o., S. 74 c) 1821

Unterstellt man, dass diese Schätzung des Arbeitsplatzangebotes zutrifft, lässt sich eine Entlastung des Arbeitsmarktes nach 1850 gerade auch in Westfalen erkennen. Während der Bevölkerungszuwachs in der ersten Jahrhunderthälfte von der Wirt1235 Vgl. dazu Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und soziale Frage … (1974), S. 108, 109. 1236 Vgl. auch Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und soziale Frage … (1974), S. 109.

D. Das Wandern der Gesellen

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schaft nicht aufgenommen werden konnte,1237 kam es danach zu einer deutlichen Zunahme der Zahl der Beschäftigten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Wanderschaft angesichts der wirtschaftlichen Situation der Unterschichten bis in das Zeitalter der Hochindustrialisierung Not, Hunger und Elend bedeuten konnte. Die arbeitslosen Handwerker teilten ihr Schicksal mit den zahlreichen Angehörigen der außerständischen Massen, ohne aber in deren Milieu in sozialer Homogenität aufzugehen. Denn in der Zeit des Vormärz und auch noch in den Jahren danach suchte der größte Teil der Gesellen die alte Ordnung des Handwerks wiederzubeleben, um so, mit Hilfe der hergebrachten Formen des handwerklichen Organisationsmodells, den Anschluss an das Kleinbürgertum wiederzufinden. Mit dem neuerlichen Erstarken des Liberalismus gegen Ende der fünfziger Jahre wurde dieses Ziel für einen wachsenden Teil der Gesellen aber zur Utopie. Denn einerseits verlor der Assoziationsgedanke, der um die Jahrhundertmitte noch als Allheilmittel gegen jedwedes Übel im Handwerk galt und Meister wie Gesellen zusammenführte, dadurch rasch an Anziehungskraft,1238 und andererseits wanderte mit dem schnell fortschreitenden Industrialisierungsprozess der nicht reüssierende Teil der Handwerker – wenngleich durchaus widerstrebend – in die Fabriken und Bergwerke ab. b. Die Reaktionen des Gesetzgebers aa. Die Armengesetzgebung Seit dem Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts fanden keineswegs mehr alle arbeitswilligen Gesellen eine Stelle, so dass sie mitunter monatelang arbeitsuchend herumwandern mussten.1239 Reininghaus vertritt daher – zutreffend – die Auffassung, dass das Wandern nach der Aufhebung der Zunftordnung seinen Bildungscharakter jedenfalls teilweise eingebüßt und seither mehr als zuvor der Überbrückung von Phasen der Arbeitslosigkeit gedient habe.1240 Da die Gesellen während der Wanderjahre kaum etwas ersparen konnten, lebten sie in solchen Phasen von den „Geschenken“ anderer Handwerker oder vom „Fechten“. Diese Verhältnisse waren, ebenso wie die sonstigen Existenzbedingungen der unteren Schichten, auch der preußischen Regierung durchaus nicht unbekannt geblieben. Schon 1817 hatte der Staatskanzler Hardenberg höchstselbst in einem Rundschreiben an alle Oberpräsi1237 Köllmann unterstellt deshalb generell die „Übersetzung der Handwerke“; s. Köllmann, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential … (1974), S. 77 ff.; zur tatsächlichen Situation in Westfalen siehe Deter (2005). Feststellbar sein dürfte eine „Übersetzung“ dagegen wohl nur für die Massenhandwerke der Schuster und Schneider, gegebenenfalls auch der Schreiner sowie derjenigen sonstigen Handwerkssparten, die damals bereits durch die industrielle Konkurrenz ihren Absatzmarkt verloren. 1238 Perthes beschrieb diesen Wandel im Denken der Handwerker schon 1855: „In allen Städten, in den kleinen wie den großen, schwindet von Jahr zu Jahr schneller der lebendige genossenschaftliche Zusammenhang unter Handwerkern gleicher Art, selbst wenn Formen des Zusammenhangs sich erhalten haben sollten“; so Perthes (1883), S. 4. 1239 Beispiele hierfür finden sich bei Emig (1967), S. 229. 1240 So z. B. Reininghaus (1983), Bd. 1, S. 269.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

denten „fabrikreicher“ Provinzen nach den „Mitteln, wodurch es überhaupt zu verhindern ist, dass die Fabrikation, von welcher die Kultur und der Wohlstand der blühendsten Länder ausgeht, nicht eine zahlreiche Menschenklasse erzeuge, die in den besten Jahren dürftig, und bei jeder Missernte und bei jeder Stockung des Absatzes dem tiefsten Elende preisgegeben ist“, befragt.1241 Der westfälische Oberpräsident Vincke wies auf die hergebrachten rigorosen Maßnahmen wie Heiratsverbote oder das Festhalten an den Zunftordnungen hin,1242 doch stießen in Berlin jene Voten auf Zustimmung, welche „die Grenzen zwischen den Rechten des Staates und denen der Untertanen“1243 nicht überschritten wissen wollten. Der Staat blieb während des Vormärz in ökonomischen Fragen liberaler, als es die Konservativen gewünscht hatten – und diese Haltung fand den Beifall des Wirtschaftsbürgertums. Selbst der für soziale Fragen durchaus sensible westfälische Unternehmer Harkort war sich nicht zu schade, die Armensteuer zum Ausdruck des verkappten Kommunismus zu erklären.1244 Zwar versuchte die preußische Regierung immer wieder, durch Notstandsarbeiten, Getreideverteilung, Brottaxen und Steuernachlässe akuten Notlagen abzuhelfen. Doch versagten diese Einzelfallmaßnahmen angesichts des Ausmaßes der Probleme und der zugleich fortdauernden liberalen Zielsetzung der preußischen Politik fast völlig. Es war die Not, welche nicht allein ein Heer ungelernter Handarbeiter, sondern auch viele Handwerksgesellen auf die Straßen trieb. Da die Familien zumeist keine Hilfe leisten konnten und Gesellenladen in Westfalen in größerer Zahl erst in den vierziger Jahren wieder errichtet wurden,1245 waren die bedürftigen Handwerker auf die Fürsorge der Kommunen angewiesen, sofern ihnen nicht karitative Organisationen, insbesondere kirchlicher Provenienz, zu Hilfe kamen. Das Allgemeine Landrecht hatte den Gemeinden die Last der Armenfürsorge aufgebürdet. Die Kodifikation formulierte die grundlegenden Prinzipien der Armengesetzgebung, und diese blieben während des 19. Jahrhunderts auch in Westfalen gültig. Zwar erklärte das ALR die Versorgung der Mittellosen, welche sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und diesen auch nicht von anderen Personen erhalten konnten, zur Aufgabe des Staates, doch delegierte das Gesetz diese Pflicht zugleich auf die Gemeinden. Die Kommunen traf die Armenlast aber nicht generell, sondern nur für solche Personen, welche das Bürgerrecht besaßen oder die Gemeindesteuern gezahlt hatten. Während in den meisten deutschen Ländern die Heimatgemeinde (aufgrund eines durch Geburt oder Erwerb entstandenen „Heimatrechts“) für die Armenunterstützung zuständig war, galt in Preußen in der Regel der Grundsatz, dass die Wohnsitzgemeinde für die Armenversorgung aufzukommen hatte. Diese Bindung des Anspruchs auf Armenversorgung an den Wohnsitz und dessen gleichzeitige Trennung vom Heimatbegriff war konstitutiv für die Verwirklichung des Freizügigkeitsprinzips, welches zu den zentralen Anliegen der preußischen Reformer gezählt hatte. Die Folgen der Beschränkung der Armenversorgung auf Bürger oder Steuerpflichtige mit einem bestimmten Wohnsitz waren allerdings insbe1241 GStA/PK, Rep. 74 K3 VIII 24, zitiert nach Koselleck (1967), S. 624. 1242 So Koselleck (1967) S. 625. 1243 So der Kölner Oberpräsident Solms-Laubach, zitiert nach Koselleck (1967), S. 625. 1244 So Harkort, Bemerkungen über die Hindernisse … (1844), S. 78. 1245 S. dazu Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“.

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sondere für die Gesellen fatal: Denn diejenigen, welche weder das Bürgerrecht besaßen noch Gemeindesteuern zahlten, hatten keinen Anspruch auf kommunale Unterstützungsleistungen. Die Unterscheidung der preußischen Armengesetzgebung zwischen „Ortsarmen“ und „Landarmen“, die trotz diverser Modifikationen während des 19. Jahrhunderts erhalten blieb, zeitigte für die Gesellen katastrophale Folgen, da sie, sofern sich auch Verwandte ihrer nicht annahmen, wegen fehlender Bürgerrechte und mangelnder Steuerentrichtung im Falle von Arbeitslosigkeit mit der Abschiebung in das Landarmenhaus, welches nichts anderes als ein Arbeitshaus war, rechnen mussten. Schwer erträglich war für die Handwerker auch die jahrzehntelange Rechtsunsicherheit, welche aus dem Umstand resultierte, dass nicht bestimmt war, wie lange der Bedürftige Gemeindesteuern gezahlt haben musste, um mit Erfolg einen Anspruch auf Unterstützung geltend machen zu können.1246 Viele Mittellose hatten nur für kurze Zeit zu den Gemeindelasten beigetragen, erwarteten nichtsdestotrotz aber unter Umständen lebenslange Zahlungen aus der öffentlichen Kasse. Erst im Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. Dezember 1842, welches eine generelle Regelung der Armenfürsorge in Preußen traf, konkretisierte der Staat die Voraussetzungen für den Anspruch auf Armenhilfe, und zwar in durchaus restriktiver Weise: Seither setzte ein solcher Anspruch einen dreijährigen Aufenthalt in der Gemeinde sowie die Zahlung von Kommunalsteuern während dieser Zeit voraus. Wandernde Gesellen waren damit von der Zuwendung der Armenmittel weiterhin faktisch ausgeschlossen. Mit dieser Restriktion allein hatte es aber noch nicht sein Bewenden. Die Gesellen wurden durch eine andere Einschränkung noch härter getroffen: Der Gesetzgeber räumte den Gemeinden die Möglichkeit ein, neu Zuziehenden, von denen zu gewärtigen stand, dass sie sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst zu verschaffen vermochten, die Aufnahme zu verweigern. Die Kommunen besaßen damit eine wirksame Handhabe, sich der Inanspruchnahme durch von auswärts Hinzugekommene weitestgehend zu entziehen.1247 Trotz der einheitlichen Rechtslage blieben die örtlichen und regionalen Unterschiede in der Fürsorge für die Bedürftigen aber auch innerhalb Westfalens beträchtlich, da die finanzielle Ausstattung der kommunalen Armenfonds noch immer maßgeblich vom Umfang der privaten Stiftungsmittel abhing, die ihnen zuflossen. Waren diese, wie in Münster, seit je reich bemessen, so gestaltete sich die Versorgung der Minderbemittelten natürlich bedeutend günstiger als in solchen Gemeinden, deren Armenfonds ihre Aufgaben lediglich durch direkte kommunale Zuwendungen finanzieren mussten. bb. Die Bekämpfung des Bettelunwesens Nicht allein die Furcht vor der Infiltration durch revolutionäres Gedankengut, sondern auch der entschlossene Wille der damals noch aufgeklärt-absolutistisch regierten Staaten, Müßiggang und Bettelei unter den Gesellen zu verhindern, hatte in den 1246 So Wischermann (1984), S. 54. 1247 Wischermann bezweifelt allerdings, dass diese Schutzklausel in Westfalen eine größere Bedeutung erlangt hat; s. Wischermann (1984), S. 54.

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meisten deutschen Ländern spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zur ständigen Überwachung der wandernden Gesellen geführt. Die Wanderschaft galt der Obrigkeit als lediglich durch den Weiterbildungszweck gerechtfertigt. Daraus folgte, dass der Geselle während der Wanderjahre vor allem zu schaffen hatte und möglichst wenig Zeit mit Reisen hinbringen sollte. Das Lob der Arbeit folgte auch noch für den lediglich in wirtschaftlichen Fragen liberalen, im übrigen aber durchaus autoritären Staat des Vormärz aus dem Umstand, dass jene Gewerbegehilfen, welche in einem Arbeitsverhältnis standen, der Aufsicht lokaler Polizeibehörden unterfielen, wohingegen ihre Berufsgenossen während der Reisezeiten der Kontrolle naturgemäß weitgehend ledig waren. Allen, die länger arbeitslos umherwanderten, unterstellte die Obrigkeit sans phrase Bettelei oder gar Diebstahl. In der Tat konnte nicht geleugnet werden, dass es sich bei einem erheblichen Teil der Vagabunden auch in Westfalen um verwahrloste Handwerker handelte.1248 Mit nicht geringem Eifer ging der preußische Staat deshalb daran, das sog. „Streunen“ der Gesellen durch Strafen und möglichst lückenlose Kontrolle während der gesamten Wanderschaft zu verhindern.1249 Die fortwährende Überwachung der reisenden Gesellen und die strenge Bestrafung der Bettelei in den Städten führte bald dazu, dass immer mehr Wanderer es vorzogen, sich auf dem Lande aufzuhalten, und zwar durchaus eingedenk des Umstandes, dass sie dort keine Arbeit fanden. Der Landrat des Kreises Recklinghausen, Graf Westerholt, klagte deshalb schon 1826, dass „diese Landplage“, als welche er die Handwerksburschen zu apostrophieren für angemessen hielt, die Bewohner des platten Landes zunehmend belästige. Die Eingesessenen gäben den bettelnden Gesellen aus Furcht vor Racheakten „mit vollen Händen“ und gewährten ihnen sogar Obdach, was dann nicht selten Hausdiebstähle zur Folge habe.1250 Das „Fechten“ der Gesellen hatte natürlich seine Ursache: Die unbedeutenden „Geschenke“, welche die Gewerksgehilfen gelegentlich noch in den Städten erhielten, reichten keineswegs aus, um ihren Lebensunterhalt während der zunehmend längeren, oft zwei- bis dreimonatigen Arbeitslosigkeit, die während der Wanderzeit durchaus auftreten konnte, zu bestreiten. Solche Gesellen hatten sich, so jedenfalls die Jeremiade des Landrats von Westerholt, an „müßiges Umherschlendern“ oder gar an „gröbere Laster“ gewöhnt, so dass sie schließlich als Taugenichtse endeten. Unabweisbar sei es deshalb auch auf dem Lande, das Betteln gänzlich zu unterbinden. Der Landrat schlug der Regierung in Münster vor, dass zukünftig nur noch solche Gesellen einen Wanderpass erhalten sollten, die über ausreichende finanzi1248 Von den während der Hungerjahre 1816/17 in Westfalen aufgegriffenen und in den Amtsblättern der westfälischen Regierungen verzeichneten 206 Vagabunden sind 71 mit einer Berufsangabe kenntlich gemacht. Von diesen waren 25 Handwerker, 23 Soldaten, 8 zählten zum Gesinde, 4 Händler, 4 Tagelöhner, 3 Bauern, 2 Schulmeister und 2 Musikanten; s. Wigger (1982), S. 84. 1249 S. dazu Küther (1983), S. 40–45 und 56–61. Die sich allmählich entwickelnde wissenschaftliche Befassung mit der Kriminalität ging im frühen 19. Jahrhundert davon aus, daß sich fahrendes Volk, Heimatlose und Wanderer stets äußerst nah an der Grenze zur Kriminalität bewegten; so Becker (2002), S. 186 ff., hier nach Ehmer (2009), S. 307–320 (316). 1250 Schreiben des Landrats des Kreises Recklinghausen, Graf Westerholt, v. 11.9.1826, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 28.

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elle Mittel verfügten; nötigenfalls sei auch der Ortsarmenfonds heranzuziehen, um diese bereitzustellen. Der Bestand und die Verwendung der den Gesellen zur Verfügung stehenden Geldsumme solle auf dem Wanderpasse vermerkt und durch Meister und lokale Polizeidienststellen regelmäßig kontrolliert werden. Bei fortdauernder Arbeitslosigkeit ohne Verbesserung der finanziellen Situation des Wanderers könne dann ohne viel Federlesens auf Bettelei geschlossen werden. Solcher Verdacht solle bereits ausreichen, um den Wanderburschen in das nächstgelegene Landarmenhaus einzuweisen. Im übrigen müsse es den Gesellen ganz generell untersagt werden, in Bauernschaften oder Dörfern zu übernachten; sie dürften auf der Wanderschaft die ihnen seitens der Behörden vorgegebenen Straßen nicht verlassen. Die Pässe der Gesellen sollten allmorgendlich kontrolliert werden; auf dem Papier sei minutiös die Zeit des Abgangs, der Zielort sowie die zur Zurücklegung des Weges erforderliche Stundenzahl zu vermerken. „Sogleich beim Eintreffen“ am Bestimmungsort habe sich der Geselle bei der Polizeidienststelle zu melden und seinen Pass dort abzugeben; Verspätungen seien auf dem Ausweispapier zu vermerken. Kämen solche Verzögerungen auf der Reise des öfteren vor, habe die Behörde den Gesellen dem Landarmenhaus zu überstellen. Abschließend bemerkte der der Empathie offenbar gänzlich unverdächtige Graf, dass ein solches Polizeigesetz „zwar anfänglich drückend und lästig erscheinen, jedoch bald den wohltätigsten Einfluss üben, das Gesindel zu Ordnung und Arbeit nötigen oder in der Heimath zurückhalten, den besseren Teil der Wanderer aber durchaus nicht benachtheiligen“ werde. Wie sind die rabiaten Forderungen des Recklinghäuser Landrats zu erklären? Die Bedenkenlosigkeit, mit welcher der sich hier artikulierende Vertreter der Staatsgewalt einen Teil seiner Mitbürger der elementarsten Freiheitsrechte zu berauben trachtete, lässt ein Maß an Verachtung für die handwerktreibende Bevölkerung erkennen, welches Erschrecken macht. Zwar hatte sein Vorschlag keine Chance auf Verwirklichung. Dass Westerholt seine Ideen der vorgesetzten Behörde aber auf dem Dienstweg empfahl, zeigt, dass die von ihm gewollte fortdauernde Entmündigung der Gesellen und die Absicht, sie einer Art besonderem Gewaltverhältnis zu unterwerfen, den juristisch gebildeten Zeitgenossen durchaus denkbar und diskussionswürdig erschienen sein muss. Zwar ist es ein Gemeinplatz, dass der preußische Staat des Vormärz sich nur im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung liberal gerierte, während zugleich Polizeirecht und polizeiliche Praxis das vielfach kolportierte Bild des überwachenden und bevormundenden Obrigkeitsstaates keineswegs zu kaschieren sich bemühten. Doch lässt der Vorschlag des Landrates weit mehr von dem im Vormärz herrschenden Geist aufscheinen als das damals geltende Recht: Das Verhältnis der Obrigkeit zu den Kleingewerbetreibenden hatte sich mit der Beseitigung der korporativen Ordnung grundlegend und nachhaltig geändert. Die Handwerker erkannten, wie ihre immer wiederkehrende Forderung nach Neubelebung der Zunftordnung zeigt, intuitiv sehr zu Recht, dass dies eher rechtlichadministrative als ökonomische Ursachen hatte. Auch die Zunftzeit kannte unter den Professionisten durchaus bedeutsame Einkommensunterschiede, und die zeitgenössischen Berichte über das elende Dasein insbesondere der durch Krankheit in Not geratenen Gesellen beschönigen die wenig erfreuliche Seite ihrer Existenz un-

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ter den Herrschaft der Zunftverfassung keineswegs. Doch als städtische Handwerker hatten auch sie – jedenfalls mittelbar – Anteil an der reputierlichen Stellung, die den Meistern als konstitutivem Element der bürgerlichen Ehrbarkeit und zumeist am Stadtregiment partizipierender, also privilegierter Schicht zukam. Die Perspektive des Grafen Westerholt ist dagegen eine völlig andere: Er stellte die wandernden Gesellen mit dem auf den Straßen „vagierenden“, um das bloße Überleben kämpfenden Lumpenproletariat auf eine Stufe und wollte sie den gleichen freiheitsberaubenden Kontroll- und drakonischen Strafmaßnahmen unterwerfen, wie sie dem bettelnden „Pöbel“ gegenüber damals keineswegs als anstößig erachtet wurden. Der soziale Abstieg der Gesellen, welcher sich in Westerholts Vorschlägen zur Reglementierung des Gesellenwanderns zeigt, ist tief. Der Landrat behauptete zwar, er wolle „den besseren Teil der Wanderer aber durchaus nicht benachtheiligen“, doch trug er zu gleicher Zeit keinerlei Bedenken, auch diesen weitgehend zu entmündigen. Parallelen zur rechtlichen Depossedierung der Meister durch die Einführung der Gewerbefreiheit in Westfalen sind nicht zu übersehen. Die selbständigen Handwerker wurden ihres angestammten – und gesicherten – Einflusses auf die städtischen Angelegenheiten fast völlig beraubt1251 – und gingen so eines Gutteils ihrer Reputierlichkeit verlustig. Härter noch traf es die Gesellen: Sie waren, so die offenkundige Einschätzung des Recklinghäuser Landrats, auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter angekommen. Dass sich die vorgesetzte Behörde Westerholts Vorschläge nicht zu eigen machte, nimmt seinen Äußerungen keineswegs ihre Aussagekraft. Die Regierung zu Münster vertrat die Auffassung, die Bettelei der Gesellen ließe sich mit den bereits vorhandenen Mitteln durchaus verhindern:1252 Auf die Aufsicht der Polizeidiener könne man rechnen; Bettler und Vaganten würden, sobald man sie aufgriffe, unter Aufsicht der Ortspolizei gestellt und seien daher unschädlich; Ausländer schöbe man unverzüglich über die Grenze ab. Zu fordern, dass die Gesellen mit den gesamten für die Reise notwendigen Geldmitteln versehen sein müssten, sei zu hart für den armen, aber arbeitswilligen und leistungsfähigen Handwerksburschen. Auch das Verbot, in Landgemeinden zu übernachten, sei für unbescholtene Bürger unzumutbar und außerdem nicht durchsetzbar. Zur Bekämpfung der Bettelei auf dem Lande sei es sinnvoll und ausreichend, die 1821 von dem Oberpräsidenten erlassene Bestimmung über die Einweisung der Bettler in das damals neu geschaffene Landarmenhaus Benninghausen im Kreis Lippstadt unter den Landbewohnern nochmals bekannt zu machen und einzuschärfen.1253 Nach dieser Vorschrift erhielt jeder, der einen Vagabunden dingfest machte, eine Prämie von 20 Rtl. sowie für die „Absendung“ desselben zusätzlich 10 Rtl. und die Erstattung der Transportkosten. Die Stellungnahme zeigt, dass die Haltung der Münsterischen Regierung in dieser Frage durchaus moderater als die des Grafen war. Die Behörde wies auch auf die 1251 S. dazu Kap. „Die politische Repräsentation des Kleingewerbes“. 1252 Schreiben der Regierung Münster an den „landräthlichen Kommissair“, Graf von Westerholt, v. 29.9.1826, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144. 1253 Anweisung des Oberpräsidenten für den Transport der „Bettler nach dem Landarmenhause“, v. 8.2.1821, s. STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 33. Zu den Armenhäusern und ihren Insassen in Sachsen im 19. Jahrhundert vgl. Schlenkrich (2010), S. 143–157 (150 ff.).

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– aus berufspädagogischer Sicht – positiven Aspekte der Wanderschaft hin.1254 Gleichwohl verrät die durch den Oberpräsidenten angeordnete Bestrafung bettelnder Gesellen mit Zwangsarbeit noch genug von dem Geist, der damals im Lande wehte. Nachsicht mit den jungen Männern auf der Walz kannte die Obrigkeit im Vormärz jedenfalls nicht. Die Wanderschaft war schlecht beleumundet, der Handwerksbrauch in Misskredit geraten. Der Konsequenz signalisierende Tenor der Vorschriften suggeriert eine eindeutige Rechtslage, die so aber gar nicht bestand.1255 1828 erließ der Innenminister von Schuckmann deshalb eine Verordnung, die er damit begründete, dass die Bürger sich durch die Bettelei der Handwerksgesellen zunehmend belästigt fühlten.1256 Er schärfte die bestehenden Vorschriften, insbesondere das Einwanderungsverbot für mittellose Handwerker nach § 4 Tit. 19 T. II des ALR, erneut ein und wies darauf hin, dass die geplante Gewerbeordnung härtere Bestimmungen gegen das Betteln der Gesellen enthalten sollte. Preußen stand mit seiner restriktiven Haltung in der Frage der Einwanderung mittelloser Handwerker keineswegs allein da. Ebenfalls 1828 bestimmte eine kurhessische Verordnung, dass nur noch solche ausländischen Wandergesellen das Territorium betreten dürften, welche die notwendigen Pässe besäßen, während der zurückliegenden Monate nicht arbeitslos gewesen seien, über das notwendige Kleingeld verfügten, die vorgeschriebenen Impfungen nachweisen könnten, gesund seien und eine Rückreisegenehmigung ihres Heimatstaates vorlegen könnten. Diese Bestimmungen wurden auch im Amtsblatt des Hessen benachbarten Regierungsbezirks Arnsberg bekannt gemacht, um „die heimischen Gesellen, die dorthin wandern wollten“, über die restriktiven Voraussetzungen für eine Einreise nach Hessen zu unterrichten. Bei dieser Gelegenheit wurde den unteren Behörden nochmals die „Verordnung wegen der polizeilichen Aufsicht auf arbeitslose ausländische Handwerks-Burschen“1257 mit dem Hinweis eingeschärft, dass sich im Sauerland „noch immer eine Menge arbeitsloser und sich zwecklos umhertreibender HandwerksGesellen“ aufhalte, welche der Bevölkerung durch ihre Bettelei lästig falle und sogar die öffentliche Sicherheit gefährde.1258 In dieselbe Richtung zielte auch das Wanderregulativ, welches Preußen 1833 erließ. Der Gesetzgeber wollte mit dessen Vorschriften ausdrücklich die große Zahl von Gesellen, welche „zwecklos im Lande herumschweifen“ und nicht nur die Gewerksgenossen, sondern auch die übrige Bevölkerung belästigten, verringern. Ob es vor allem das gelegentliche Betteln der Gesellen oder aber eher politische Gründe waren, welche den Gesetzgeber eben damals, auf dem Höhepunkt der sog. „Dema1254 Schreiben der Regierung Münster an das Innenministerium v. 10.3.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49. 1255 Vgl. z. B. Schreiben des Landrats des Kreises Borken, v. Basse, an den Innenminister v. Schuckmann, v. 16.12.1827, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 1, fol. 166–170. 1256 Verordnung des Ministers v. Schuckmann v. 2.6.1828, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 177, 178; desgl. in STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 34; desgl. Amtsblatt Reg. Münster 1828, S. 245–246. 1257 Amtsblatt Reg. Arnsberg 1828, S. 287. 1258 So die Regierung Arnsberg, in: Amtsblatt Regierung Arnsberg 1828, S. 412, 413.

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gogenverfolgung“, zum Erlass dieser Vorschriften trieben, mag dahinstehen. Dass es ihm jedenfalls auch um die Zurückdrängung der Bettelei ging, zeigt die Bestimmung, wonach jeder Wanderer bei Antritt der Reise mindestens 5 Taler Reisegeld besitzen musste. Wer beim Betteln ertappt oder deswegen angezeigt worden war, sollte umgehend in seinen Heimatort zurückgeschickt werden.1259 Der preußische Staat suchte die Bettelei der Wanderburschen eben mit Aplomb durch gesetzliche und administrative Maßnahmen zu bekämpfen. Weshalb aber wollte er nur die Symptome, nicht aber die Ursachen jenes seit den dreißiger Jahren schnell zunehmenden Massenphänomens kurieren, statt ernsthafte sozialpolitische Initiativen zu ergreifen, um die Lebensumstände der Unterschicht zu verbessern? Die Verwaltung blieb in dieser sich während des Vormärz dramatisch zuspitzenden Situation ostentativ untätig. Während Preußen durchaus aktive Wirtschaftsförderung trieb – man denke nur an die Unternehmen der Seehandlung oder Beuths Bemühungen um die Hebung der technischen Bildung – weigerte es sich seit den großen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts beharrlich, den sozialen Pflichten, die es sich im Allgemeinen Landrecht selbst auferlegt hatte,1260 nachzukommen. Weshalb nur solche Indolenz in einer für Staat und Gesellschaft lebenswichtigen Frage? Zunächst noch mochte man glauben, der technische Fortschritt werde die sich potenzierenden Probleme im sozialen Bereich wie von Geisterhand lösen. 1838 schrieb der Brockhaus: „Auf den eisernen Bahnen rollt unser Jahrhundert einem glänzenden, herrlichen Ziele entgegen“.1261 Der aus Hagen stammende Unternehmer und Philantrop Friedrich Harkort dagegen analysierte wenig später schon, 1844, hellsichtig, „man vergesse nicht, dass eine große Krisis sich nähert!“ Er erachtete die drohend wachsende Zahl der Proletarier „als sicheres Zeichen dafür“, dass „der rechte Weg verfehlt wird“.1262 Und der rheinische Bankier und Politiker Gustav Mevissen sekundierte ihm: Die Zahl der Proletarier nehme in höchst beunruhigender Weise zu, während sich der Besitz immer mehr in den Händen weniger konzentriere.1263 Beide Unternehmer wandten sich mit ihren Appellen an den Staat, von dem sie eine Antwort auf die soziale Frage, welche in den vierziger Jahren unausweichlich zum zentralen Thema der öffentlichen Diskussion wurde, erhofften. Denn die Situation trieb, da das Massenelend in Preußen schließlich die Hälfte der Bevölkerung erfasste,1264 vor aller Augen, aber offenbar unaufhaltsam, der revolutionären Katharsis entgegen. Die Bevölkerung vor allem des flachen Landes nahm immer schneller zu, ohne dass bereits ein ausreichendes Industriepotential vorhanden gewesen wäre, welches der Arbeitskräfte bedurft hätte. Der Staat des aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts hatte es zwar übernommen, seine Bürger vor Armut zu schützen und ihnen nötigenfalls Arbeit zu

1259 „Regulativ in Betreff des Wanderns der Gewerks-Gehilfen“ v. 24.4.1833, in: Amtsblatt Reg. Minden 1833, S. 150–154; desgl. Amtsblatt Reg. Arnsberg 1833, S. 135–138. 1260 S. dazu Kap. „Die Armen-Gesetzgebung“. 1261 Brockhaus der Gegenwart (1838) Bd. 1, Sp. 1136. 1262 Harkort (1840), S. 60,26, zitiert nach Koselleck (1967), S. 620. 1263 Hansen, 1. Bd. (1906), S. 129 ff. 1264 So Koselleck (1967), S. 620.

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verschaffen.1265 Mit der Befreiung der Individuen aus den Bindungen der intermediären Gewalten des Ancien régime und dem damit verbundenen Schwinden ständischer Hilfe wurde die Armut wenig später gleichsam staatsunmittelbar1266 und die Pflicht der öffentlichen Gewalt zur Hilfe konkret.1267 Doch die liberale Wirtschaftspolitik des preußischen Ministeriums seit Hardenberg setzte sich souverän über den Imperativ des Gesetzes und die Forderungen der zeitgenössischen Staatstheoretiker hinweg und überließ – allerdings auch aus Mangel an Mitteln – diese Verpflichtungen weiterhin einer Gesellschaft, die sie zu erfüllen außerstande war, da ihre ständischen Bindungen selbst aufgelöst wurden.1268 Die persönliche Freiheit des 19. Jahrhunderts vergrößerte so die Not der Unterschichten, welche zunehmend nicht nur die ungelernten Handarbeiter, sondern auch Fabrikarbeiter, die fluktuierenden Gesellen, aber auch selbständig Tätige jedenfalls der durch die industrielle Konkurrenz bzw. ein Überangebot an Arbeitskräften in Mitleidenschaft gezogenen Handwerkssparten erfasste.1269 Traditionell streng geschiedenen Ständen entstammend, einte diesen Teil der Bevölkerung jetzt seine Schutzlosigkeit, die Zugehörigkeit zum Proletariat der neuen Zeit; dessen Kern aber bildeten die besitzlosen Vaganten, bei denen es sich zu einem guten Teil um entwurzelte Handwerksgesellen handelte. Erst als schon lange niemand mehr leugnen konnte, dass die soziale Frage weder an bestimmte Provinzen gebunden noch auf einzelne Bevölkerungsgruppen begrenzt, sondern ein gesamtstaatliches Phänomen geworden war, erließ der preußische Gesetzgeber 1842/43 ein Gesetzesbündel, das die Einwohnerbestimmungen, Zuzugsbedingungen, die Armenfürsorge und die Bestrafung der Bettelei erstmals für den gesamten Staat zu regeln suchte.1270 Die neue Gesetzgebung bekräftigte den 1265 §§ 1 ff. T. II, Tit. 19 ALR; bereits Svarez hatte allerdings eingeräumt, dass der Fiskus mit diesen Aufgaben überfordert sei; s. Kamptz, Jahrbücher 41, S. 182. 1266 Schon Kant hatte festgestellt, dass mit der Emanzipation der Individuen aus der Familie die Pflicht des Staates gegenüber dem Einzelnen zunehme, „die zu ihrem Dasein nötige Vorsorge“ zu treffen; s. Kant (1907), S. 326. 1267 Auch Hegel übertrug die Pflicht zur Versorgung der Armen dem Staat: „Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen“, s. Hegel (1956), § 241. 1268 So Koselleck (1967), S. 622. 1269 Eben dies beschreiben die Stadtverordneten einer westfälischen Kleinstadt in einer Petition an den westfälischen Landtag: „Die Klage über einreißenden Pauperismus ist allgemein … Seit der französischen Occupation bis auf den heutigen Tag drängen sich eine Menge Handwerker … in die Stadt, die sich verheirathen und bald darauf den Armenfonds und den wohlhabenden Bürgern zur Last fallen. Die Stadtbehörden haben keine Gewalt, sich derselben zu erwehren, seitdem es jedem Preußen erlaubt ist, sich da niederzulassen, wo es ihm beliebt, ohne dass er Bürgschaft leistet für seine künftige Subsistenz. … Ein zweiter Grund zur Herunterbringung selbst der früher wohlhabenden Handwerker ist die uneingeschränkte Niederlassung von Handwerksgesellen, die, wenn sie kaum der Lehre entronnen, noch nicht die nöthige Ausbildung für ihr Geschäft erlangt haben. Auf diese Weise haben sich eine Menge Leute hier niedergelassen, die ihr Handwerk entweder nicht richtig erlernt oder nicht soviel Vermögen haben, solches gehörig betreiben zu können“; so Petition v. 14.2.1845, zitiert nach Wigger (1982), S. 257, 258. 1270 Gesetz vom 31.12.1842 „über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan“ (Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 15 ff.); Gesetz „über die Aufnahme neu anziehender Personen“ (Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 5 ff.); Gesetz „über die Ver-

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Unterschied zwischen Gemeindemitgliedschaft, Wohnsitz und Anwesenheit, und diesen Kategorien entsprechend wurden die Hilfspflichten gestaffelt. Der liberalen Theorie zuwider beschränkte man damals sogar die Freizügigkeit. Wer nicht über ein hinreichendes Vermögen verfügte oder die Fähigkeit besaß, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, musste, wie bereits festgestellt, gewärtigen, dass ihm der Zuzug verweigert wurde.1271 In Westfalen wurden noch weitergehende Bestimmungen als in den anderen Teilen des Königreichs erlassen: Den westfälischen Städten räumte der Gesetzgeber das Recht ein, besondere Zuzugsgebühren zu erheben.1272 Da die Kommunen hiervon alsbald regen Gebrauch machten, sahen sich die Regierungen schließlich genötigt, auf die Reduzierung dieser Gebühren zu dringen. Die Regelungen trafen Dienstboten und Fabrikarbeiter, ebenso aber auch die Handwerksgesellen hart. Denn Teile der Unterschichten waren aufgrund dieser Vorschriften außerstande, sich durch ihr Arbeitsverhältnis einen festen Wohnsitz zu erarbeiten. Im Notfall wurden sie deshalb nicht an ihrem letzten Arbeits- oder Aufenthaltsort versorgt, sondern an ihren Herkunftsort verwiesen. Dessen Hilfspflicht aber war erloschen, wenn sie länger als drei Jahre abwesend gewesen waren.1273 Daraus folgte, dass eben die Schichten, welche am notwendigsten der Hilfe bedurften, durch die Lücken des Gesetzes fielen und faktisch schutzlos gestellt wurden. Das Schubsystem, welches schon im 18. Jahrhundert der Schrecken erkrankter und in Not geratener Gesellen gewesen war, blieb auf diese Weise legalisiert. Statt die Gesetzeslücke, in welche die mobile Unterschicht fiel, zu schließen, griff der Staat zu längst überholten Mitteln.1274 Beinahe zwangsläufig mehrte sich deshalb die Zahl der Angehörigen des heimatlos umherziehenden Lumpenproletariats. Wurden sie als Bettler oder Vagabunden bestraft, so konnten sie anschließend auch noch auf dem Verwaltungsweg bis zu drei Jahren in einer „Korrektionsanstalt“ festgesetzt und zur Arbeit gezwungen werden.1275 Der Weg des aktenkundigen Pauper begann auch in Westfalen damit, dass er zwischen Heimatgemeinde und Wohnsitz hin- und hergewiesen wurde. Irgendwann fiel er dann der Gemeinde zur Last, in welcher er sich gerade befand. Diese suchte ihn schließlich in der Provinzialarmenanstalt – dem ehemaligen Kloster Benninghausen – unterzubringen. Diese Einrichtung der

pflichtung zur Armenpflege“ (Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 8 ff.); Gesetz „über die Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen“ v. 6.1.1843 (Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 19 ff.). 1271 So das Zuzugsgesetz, wie Anm. 1270, § 4. 1272 S. Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen v. 31.10.1841 (Preußische GesetzesSammlung 1841, S. 297), §§ 18 ff.; Gesetz v. 24.1.1845 wegen der Befugnis der Städte der Provinz Westfalen zur Erhebung von Eintrittsgeldern (Preußische Gesetzes-Sammlung 1845, S. 39). 1273 So das Armenpflegegesetz (Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 8 ff., §§ 1–4). 1274 So Koselleck (1967), S. 633. 1275 S. das „Landstreichergesetz“ § 8, wie Anm. 1270; um den Armen die schließliche Einweisung in ein solches „Arbeitshaus“ zu ersparen, schlug Friedrich Harkort die Einrichtung sog. Armenkolonien vor, wie man sie in den Niederlanden kannte. Dort sollten die Entwurzelten bei der Kultivierung bislang ungenutzten Bodens eine sinnvolle Beschäftigung finden; s. Berger (1890), S. 317.

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Landstände bot zumeist aber nicht genügend Platz. Zuletzt musste dann doch der Staat eingreifen, dem aber die notwendigen Mittel fehlten.1276 Dass der Staat sich seinen sozialen Pflichten nicht entschlossen stellte, hatte aber nicht allein finanzielle Ursachen, sondern einen gewichtigeren, leicht einleuchtenden Grund: Er wollte sich nicht von seiner urliberalen Überzeugung trennen, dass nur derjenige arm sein könne, der nicht die „physischen Kräfte“ besitze, um sich zu ernähren. Notleidenden, welche nicht der Kategorie der offenkundig Arbeitsunfähigen angehörten, mangelte es nach Auffassung der Obrigkeit an der Bereitschaft, für sich selbst aufzukommen: „Arbeitsscheue“, denen lediglich „der Wille fehlt“, sollten aber „zur Arbeit gezwungen werden“.1277 Diese Sicht der Dinge war auch in Westfalen verbreitet. Der Münsteraner Oberbürgermeister J. H. Hüffer berichtete in seinen Erinnerungen über das Jahr 1847 „von einem Andrang von müßigem und böswilligem Gesindel, das in einer größeren Stadt leichtes Fortkommen zu finden hoffte und daher die Niederlassungsfreiheit für sich in Anspruch nahm“.1278 Zu diesem „Gesindel“ dürften auch nicht wenige der zahlreichen, während der Hungerjahre 1846/47 entlassenen Gesellen gezählt haben.1279 Der unverhohlene Zynismus, der in Hüffers Urteil über die Ursachen der Verelendung der Unterschichten zum Ausdruck kommt und den die Staatsorgane offenbar teilten, führte zwangsläufig zu der zunehmenden Kriminalisierung auch der gelegentlich zum Betteln gezwungenen Gesellen.1280 Da sich eine exakte Trennlinie zwischen „verschuldeter“ und „unverschuldeter“ Armut nicht finden ließ, verschwammen auch die Grenzen zwischen Arbeitshäusern und Gefängnissen schließlich immer mehr.1281 Dass die sozialen Missstände in den vierziger Jahren ein kaum mehr beherrschbares Ausmaß erreichten,1282 war nicht der Böswilligkeit des „Gesindels“ geschul1276 Vgl. Koselleck (1967), S. 634. 1277 So ALR § 3 T. II Tit. 19; § 4 T. II Tit. 20. 1278 Zitiert nach Haunfelder (1976), S. 27. 1279 Dies folgt schon aus dem Umstand, dass die Erwerbsmöglichkeiten des Kleingewerbes durch die Krise in überdurchschnittlicher – und längerfristiger – Weise reduziert wurden. Die schon bestehenden Konkurrenz- und Absatzprobleme verschärften sich damals so, dass Teile des Handwerks verelendeten. Die Folge war, dass Handwerker in weit überproportionaler Zahl an der Revolution des Jahres 1848 teilnahmen und auch die größte Gruppe der politischen Flüchtlinge stellten; s. Bergmann (1984), S. 334, 333; vgl. auch Hoppe/Kuczynski (1964), S. 200–276; Rupieper (1977); ders. (1978); Lenger (1986), S. 15 ff. 1280 Die Mindener Regierung äußerte sich ähnlich wie der Münsteraner Oberbürgermeister: Es sei schwierig geworden, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, da arbeitslose Handwerksburschen und andere „Herumstreicher“ an der „Aufstachelung“ der Bevölkerung arbeiteten; so Bericht der Regierung Minden v. 8. Juni für April und Mai 1848, zitiert nach Klocke (1974), S. 77, 78. Als es in Dortmund im Dezember 1848 zu Tumulten kam, geschah dies im Anschluss an eine Gesellenversammlung auf der Herberge; s. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, S. 522. 1281 S. Koselleck (1967), S. 633 m. w. Nachw. 1282 Zum Ausmaß der Verelendung und Bettelei in Westfalen während der Hungerkrise seit 1846 s. Schulte (1954), S. 152. Die Agrarkrise 1846/47 stürzte die Handwerker gleich auf zweifache Weise in existenzbedrohende Schwierigkeiten. Zum einen verursachte die Verteuerung der Nahrungsmittel erhöhte Aufwendungen für den Lebensunterhalt, zum anderen reduzierte

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det. Neben dem bereits erwähnten starken Bevölkerungswachstum und dem gänzlich unzureichenden Hilfssystem ist noch eine weitere, und zwar nicht die unwichtigste, Ursache für die desaströse Entwicklung zu nennen: Das Vertragsrecht des freien Arbeitsmarktes berücksichtigte soziale Erfordernisse nicht.1283 Erst das Zusammentreffen dieser schwerwiegenden Defizite verhinderte, dass das Armutsproblem im Vormärz auch nur im Ansatz gelöst werden konnte. Aber nicht nur vom Staat und seiner gänzlich unzureichenden Rechtsetzung, sondern auch von ihren Arbeitgebern hatten die Gesellen auf der Walz wenig zu hoffen: So drangen die Handwerksmeister des Kreises Siegen in einer Petition an das Paulskirchen-Parlament 1848 ausdrücklich darauf, dass das sog. „Fechten“, das Betteln also, verboten bleibe,1284 und die Mitglieder der Bielefelder Innungen berichteten in einer Petition an den preußischen Landtag von den „in endloser Verwilderung lebenden Gesellen“ …, welche sie durch die neu geschaffenen Korporationen zu bessern hofften: „Ja die Zwangs-Innung ist eine förmliche Verbesserungsanstalt für die Handwerksgesellen, die in ihrer größten Mehrzahl die Zeit des Wanderns nicht mehr als Schule ihrer Fortbildung, vielmehr als geeigneten Lückenbüßer für’s Wirthshausleben, für end- und zweckloses Eisenbahnfahren, für Schwelgerei, und um alle Vergeudungen, die mit diesen Untugenden verknüpft sind, bestreiten zu können, für tägliche Bettelei benutzen“.1285 Der Graben zwischen Meistern und Gesellen war tief geworden. Die Auslassungen der Bielefelder Meister zeigen, wie unerbittlich diese auch in der Zeit der größten Not vieler Gesellen an die Verringerung der Kaufkraft breiter Schichten die Nachfrage nach Erzeugnissen und Dienstleistungen des Handwerks. Dies führte zu einem Umsatzeinbruch und damit zu starken Einkommenseinbußen. Die Folge war die Verringerung der Zahl der Gesellen und die Zunahme der Selbständigen zwischen 1846 und 1849 – ein Vorgang, welcher als „Flucht in die Selbständigkeit“ vieler Gesellen zu erklären ist; s. Bergmann (1984), S. 325. Zu den Ursachen für die Arbeitskämpfe der Gesellen in der Revolutionszeit s. Bergmann (1984), S. 330. 1283 S. dazu Bd. 1, Kap. „Das Arbeitsrecht“. 1284 Petition v. 25.7.1848, in: Deutsches Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 90. Theodor Hildemann, „Hofbuchbinder“ in Osnabrück, schilderte, ebenfalls in einer Petition an das Paulskirchen-Parlament, das Elend unter den Wandergesellen in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit, die infolge der Hungerkrise seit 1846 entstanden war: „Es ist hinreichend bekannt, dass hunderte Gesellen in einem Tage aus den großen Städten und Fabrikörtern entlassen werden, und ohne sichere Hilfsmittel herumirren, und leider finden sich unter diesen ganze Scharen, die mehrere Monathe wol ein ganz Jahr brotlos auf Rechnung der (in Osnabrück damals noch bestehenden (G. D.) Ämter und Gilden ihr fortkommen suchen“. Um diesem Übel abzuhelfen, schlug Hildemann vor, im ganzen Reiche „Anstalten“ einzurichten, in welchen die arbeitslosen wandernden Gesellen ein Unterkommen und, „wenn sie ganz verarmt sein sollten, mit einem Kittel, Schuhe, Strümpfe und Hemd versehen“ werden sollten. Diejenigen, welche im Handwerk keine Beschäftigung fanden, sollten zum Militär eingezogen werden. Insbesondere wandte sich der Petent – im Gegensatz zu den Meistern aus Siegen und Bielefeld – aber gegen die soziale Deklassierung der Wandergesellen: „Ich mache aber vor allem darauf aufmerksam, dass diese verlassenen Menschen – nein! Ich sage nein, in eine Kategorie von Vagabunden gestellt werden, falls sie auch wirkliche Vagabunden seien, so müssen sie doch mit Mitleids-Gefühl behandelt werden …“; s. Petition des Buchbinders Hildemann v. 20.6.1848, in: Bundesarchiv, Abt. Frankfurt DB 51, 141, fol. 28, 29. 1285 Petition der Mitglieder der Bielefelder Innungen v. 10.12.1855 an den preußischen Landtag, in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur, Nr. 194.

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ihrem selbstischen Standpunkt festhielten. Eben damals löste sich in den Städten allmählich auch das Meisterhaus als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft aller in der Werkstatt Tätigen auf, und von ihrer hergebrachten Fürsorgepflicht wollten die Meister nichts mehr wissen. Damit provozierten sie geradezu die Suche der Gesellen nach neuen organisatorischen Formen zur kollektiven Selbstbehauptung.1286 Differenzierter muss das Urteil für die Zeit nach der Jahrhundertmitte ausfallen. Die wiederholten Strafandrohungen gegenüber bettelnden Gesellen hatten, betrachtet man Preußen als Ganzes, offenbar auch damals noch nicht allzu viel bewirkt. Wieder häuften sich die Klagen über die große Zahl in- und ausländischer Gesellen, die „müßig umherschweifen“. Der preußische Innenminister von Westphalen unterstellte ihnen 1852 ausdrücklich, dass sie das Wandern lediglich dazu benutzten, um ihren Unterhalt statt durch Arbeit „durch Betteln und andere unerlaubte Mittel zu gewinnen suchen, dadurch aber die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden“.1287. Von der Feststellung ausgehend, dass das Wanderregulativ vom 24.4.1833 „häufig“ unbeachtet bleibe, schärfte er damals die strikte Befolgung dieser Vorschriften erneut ein und wies insbesondere die Grenzpolizei darauf hin, dass der Gesetzgeber ausländischen Gesellen gleich in einer ganzen Reihe von Fällen die Einwanderung nach Preußen untersage. Ausdrücklich nannte Westphalen das Einwanderungsverbot für Gesellen, die älter als 30 Jahre waren, bereits mehr als fünf Jahre auf der Wanderschaft zugebracht hatten, in den letzten acht Wochen weniger als vier Wochen gearbeitet hatten sowie nicht mit dem erforderlichen Reisegeld oder aber, man mag es kaum glauben, nicht mit der nötigen Wäsche versehen waren. Aber auch auf die innerhalb des Staatsgebietes wandernden Gesellen sollten die Behörden nach dem Willen des Innenministers besondere Obacht geben. Der bloße Verdacht der Arbeitsscheu oder des Bettelns genügte, so wollte es das rigorose Wanderregulativ, bereits, den betreffenden Gesellen mit vorgeschriebener Reiseroute in seinen Heimatort zurückzuweisen. Dass die preußische Regierung auch nach der für den Staat eben noch glimpflich ausgegangenen, nicht zuletzt von den

1286 Vgl. Verhandlungen der deutschen verfassunggebenden Reichsversammlung …, Bd. 1 (1848/49), S. 874; s. Noyes (1966). Wolfgang Kaschuba stellte fest, daß die „Gesellenarbeiter“ aufgrund der ihnen so ungünstigen wirtschaftskonjunkturellen Situation in den Vormärz- und Revolutionsjahren zu Lohnstreiks übergegangen seien; s. Kaschuba (1984), S. 389. Für Westfalen lassen sich solche Streiks aber nicht nachweisen. Eine Erklärung hierfür könnte die von Reith – allerdings für das ausgehende 18. Jahrhundert – entwickelte Auffassung sein, daß sich Lohnstreiks „nahezu ausschließlich in Handwerken, in denen im Stück- oder Tagelohn gearbeitet wurde und in denen die Gesellen aufgrund der Konstellation des Einkommens (Dominanz des Geldlohns) stärker in die Konjunktur eingebunden bzw. in den Markt integriert waren“, nachweisen lassen; für die Gesellen, die im Wochen- oder Halbjahreslohn arbeiteten und noch im Meisterhaushalt wohnten und dort beköstigt wurden, seien allenfalls Konflikte um die Kost oder Arbeitslosigkeit naheliegend gewesen. Denn für die Wochenlöhner habe die Teuerung den Effekt gehabt, daß der Reallohn angestiegen sei; s. Reith (1994), S. 85–106 (104). 1287 Erlass des Innenministers von Westphalen an sämtliche preußischen Regierungen v. 11.7.1852, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 23.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Handwerksgesellen getragenen Revolution1288 noch immer nicht bereit war, sich mit den wirklichen Ursachen des Vagantentums auf den Straßen ernsthaft auseinanderzusetzen, berührt zwar merkwürdig. Doch für das Westfalenland muss jedenfalls festgestellt werden, dass das Betteln jedenfalls in den prosperierenden Regionen in den fünfziger Jahren – so es denn noch vorkam – zu Recht den Verdacht der Arbeitsscheu nahelegte.1289 Auch die Grundlage für die rechtliche Beurteilung des „Fechtens“ der Gesellen hatte sich durch den Erlass der Reformgesetzgebung des Jahres 1849 grundlegend geändert. Wegen der Wiederbelebung des Innungsgedankens durch die Verordnung vom 9.2.1849 ließ sich nämlich der Frage, inwieweit die neuen Gewerksgenossenschaften die traditionellen Aufgaben der verblichenen Zünfte übernehmen sollten, nicht länger ausweichen. Zu diesen hatte jahrhundertelang die Unterstützung durchreisender Gesellen aus der Zunftlade gehört. Folgerichtig sahen jetzt nicht wenige der neuen Innungsstatuten ebenfalls vor, dass die wandernden Gesellen Leistungen aus der Innungskasse erhalten sollten. Der zuständige Gewerbeminister von der Heydt war zwar der Ansicht, dass das Wanderreglement vom 24.4.1833 als Rechtsgrundlage ausreiche, um arbeitsscheue und ggf. die öffentliche Sicherheit gefährdende Gesellen vom „müßigen Umherschweifen“ abzuhalten. Gleichwohl fürchtete er aber, dass die institutionalisierte Unterstützung der Wandergesellen das arbeitslose Umherreisen fördern bzw. wieder neu beleben könne.1290 Deshalb wies von der Heydt 1853 gegenüber den Regierungen auf das unzweideutige Betteleiverbot des Wanderreglements hin, welches durch § 143 der preußischen Gewerbeordnung von 1845 erneuert und bestärkt worden war.1291 In der Tat hatte auch dieses Gesetz jeden Anspruch wandernder Gesellen und Gehilfen auf besondere Zuwendungen seitens der Gewerksgenossen untersagt. Daraus folgte allerdings noch nicht, dass die individuelle Bereitschaft der Meister, ihre wandernden Gewerksgenossen zu unterstützen, gesetzwidrig war. Und ob das Nachsuchen um das Viaticum bei einem Meister des eigenen Gewerbes unter den Begriff der Bettelei subsumiert werden konnte, erschien immer noch ebenso fraglich.1292 Der Minister war davon aber – aus naheliegenden Gründen natürlich – überzeugt. 1288 So ging der Aufruhr in Münster – schon am 12. März 1848 – vor allem von den Handwerksgesellen aus; es kam zu Zusammenrottungen insbesondere vor dem Haus des Oberbürgermeisters. Eine Schwadron Husaren musste die Rebellen vertreiben und der Bischof sah sich genötigt, zur Ruhe aufzurufen; s. Schulte (1954), S. 174. Für Norddeutschland hat Husung (1983), S. 215, festgestellt, dass die Protestaktivität der Handwerker im Vormärz stärker als die aller anderen sozialen Schichten war. Die Protestträger verteilten sich wie folgt (in v. H.): Städtisches Bürgertum: 17,4; Studenten: 11,2; Handwerker: 37,3; Arbeiter und Tagelöhner: 20,5; Landbevölkerung: 13,6. 1289 Zur wirtschaftlichen Situation der Gesellen s. Deter (2005). 1290 Schreiben des Ministers von der Heydt an den Innenminister von Westphalen v. 18.11.1853, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1, Nr. 3, Bd. 3, fol. 129. 1291 Nr. 8 lit.e, das preußische Wanderreglement v. 24.4.1833 betreffend; so Schreiben des Ministers von der Heydt an die Regierung Merseburg v. 30.1.1854, in: GStA/PK; Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 137. 1292 Vgl. dazu das Kap. „Das Viaticum“.

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Ironischerweise förderten die zahlreichen und in schöner Regelmäßigkeit wiederholten Kontrollvorschriften, mit denen das Betteln der Handwerksgesellen unterbunden werden sollte, eben dieses aber in gewisser Weise. Die unnachgiebige Strenge, mit der die Polizei die Bestimmungen durchsetzte, hatte nämlich zur Folge, dass die Gesellen nicht von der vorgeschriebenen Wanderroute abweichen und ihren Reiseplan keineswegs ändern durften, bevor sie den im Wanderbuch angegebenen Zielort erreicht hatten. Dadurch konnten sie sich unvermutet ergebende Gelegenheiten, Arbeit zu finden, nicht wahrnehmen.1293 Stattdessen verrann den täglich vor Polizeibüros wartenden Wanderern unendlich viel Zeit. Zeigte sich dann, am Ziel angekommen, die Unmöglichkeit, auf dem vorgeschriebenen Weg in Lohn und Brot zu kommen, so blieb nur Betteln übrig. Wurde der Geselle dabei aber erwischt und deswegen ins Gefängnis gesteckt, folgte in jedem Fall ein entsprechender Eintrag in das Wanderbuch. Die gesamte übrige Wanderzeit war der Unglückliche dann gebrandmarkt, so dass er kaum noch ordentliche Arbeitsstellen fand. In solchen Fällen wurde die fortgesetzte Wanderschaft in der Tat zum Synonym für verdeckte Arbeitslosigkeit. „Erfahrungsgemäß beträgt den Wanderbüchern zufolge die wirkliche Arbeitszeit in mehreren Wanderjahren manchmal wenige Wochen“, meinte der liberale Viktor Böhmert,1294 ein exponierter Kritiker des Zunftwesens und der Wanderpflicht, der zwar nicht unbedingt ein objektiver Zeitzeuge ist. Seine Beschreibung dieser Verhältnisse enthält bei aller offenkundigen Übertreibung aber doch auch etwas Wahres, denn auch der den Gesellen wohlgesonnene Bonner Professor Perthes berichtete noch 1855: „Wochen und Monate muss oftmals der Wandergeselle kreuz und quer umherziehen, ohne Arbeit zu finden, auch wenn er sie wirklich sucht; bald glaubt er links, bald rechts sich wenden zu müssen“.1295 Individuelle Notlagen blieben für die wandernden Gesellen eben auch nach Einsetzen des aus den Industrialisierungsvorgängen resultierenden allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs noch durchaus etwas Gewöhnliches.1296 Und das Betteln als Unart oder Laster so manches Gesellen verschwand ebenso wenig.1297 Staat und 1293 S. dazu die Schilderung bei Böhmert (1858), S. 37. 1294 Böhmert (1858), S. 38; Dies war allerdings, wie neuere Untersuchungen zeigen, nicht der Regelfall; andererseits war die Zahl der Zuwanderer vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den großen Städten bedeutend, so dass dort nur ein geringer Teil der Arbeitsuchenden Beschäftigung finden konnte: In Frankfurt/M. wanderten zwischen 1837 und 1868 nicht weniger als 9.000 Buchbindergesellen zu; und von 1829 bis 1846 suchten dort 3.700 Seifensiedergesellen Arbeit; s. Lerner (1979), S. 37. 1295 So Perthes (1883), S. 22. Die Arbeitsuche gestaltete sich oft auch deshalb so schwierig, weil Gesellen, die noch „auf Handwerksehre“ hielten, sich nur schwerlich entschlossen, sich z. B. jedenfalls zeitweise als Eisenbahnarbeiter zu verdingen; s. Perthes (1883), S. 23. 1296 1855 stellte Perthes fest: „Auch der ehrenhafteste Geselle kann, wenn ihm die Arbeit unerwartet ausgeht, in die Notwendigkeit gebracht werden, um Schlafgeld oder einen Groschen zu einem Stück Brot zu bitten, und fast jeder gibt ihm gern“, s. Perthes (1883), S. 24. 1297 Perthes klagte hierüber: „Vagabondierender Bettellust leisten zahllose Herbergsväter Vorschub, indem sie den Einkehrenden Verzeichnisse der Häuser mitteilen, in denen die Gesellen Gaben zu erhalten pflegen“; so Perthes (1883), S. 38. Den „Herbergsvätern“ in den Gasthäusern gab er eine erhebliche Mitschuld an der sittlichen Verwahrlosung so manches Gesellen. „Ein Mehr oder Minder des Bösen findet sich aber, im großen und ganzen sind die Herbergen Stätten, in welchen die Sünde gepflanzt, verbreitet und vertieft wird, und die Herbergsväter

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Gesellschaft fühlten sich seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre aber offenbar nur mehr so wenig belästigt, dass die gesetzgeberische Tätigkeit zur Bekämpfung dieses so lange und so heftig beklagten Phänomens vollständig zum Erliegen kam. Wie tiefgreifend sich die wirtschaftliche Situation für die Gesellen nach der Jahrhundertmitte in den prosperierenden Westprovinzen Preußens veränderte, erhellt schon der Umstand, dass das Lamento über bettelnde Handwerksburschen damals abrupt aus den dort entstandenen behördlichen Akten verschwand. Jetzt, nach dem Beginn des sog. „take off“, der Hochindustrialisierung, welche Teilen des Westfalenlandes binnen weniger Jahre ein völlig neues Gesicht gab, verlor der Betteleivorwurf gerade in den westlichen Provinzen Preußens sein Gewicht. Denn der schnell zunehmende Arbeitskräftebedarf der Zechen und Fabriken, aber auch des Baugewerbes reduzierte das Arbeitskräfteangebot damals deutlich. War die Walz für viele Gesellen im Vormärz eine Elendswanderung gewesen, so lässt sich dies für das Westfalen einer Epoche, in der die Provinz zahllose Arbeitskräfte aus entfernten Regionen anzog, so nicht mehr sagen. Nicht nur durch diesen Umstand, sondern mehr noch durch die liberalen Überzeugungen der führenden Beamten veranlasst, gaben die preußische Regierung und Bürokratie ihre weitgehend passive Rolle als Beobachter der Lebensumstände und Rechtsverhältnisse der Gesellen auch in den folgenden Jahrzehnten nicht auf. Sozialpolitische Initiativen ergriffen sie nicht.1298 Es war die Industrie, nicht aber private Wohltätigkeit und noch viel weniger der Staat, welcher die soziale Frage schließlich löste. 10. Die Herberge Zu den signifikantesten Aufgaben der Gesellenverbände des Alten Handwerks gehörte der Unterhalt einer Herberge, der typischen Unterkunft wandernder Handwerker.1299 Gewöhnlich kehrten die zureisenden Gesellen in einer fremden Stadt in der Herberge ihrer Profession ein. Nach alter Tradition wies das obligate Herbergsschild auf die Heimstatt der jeweiligen Berufsgruppe hin. In den westfälischen Kleinstädten war dieser Treffpunkt zumeist für die Angehörigen mehrerer Gewerke gemeinsam bestimmt. Sofern die Vereinbarung mit dem Meister weder Unterkunft noch Kost im Meisterhaushalt vorsah, wohnten die Gesellen zunächst auch auf der Herberge. In der Regel allerdings blieben sie lediglich eine oder zwei Wochen, vielfach auch nur wenige Tage, in dem Herbergslokal zu Gast. Mehrwöchige Aufenthalte waren selten.1300 sind Spekulanten auf die Sünde und die Liderlichkeit ihrer Gäste“; s. Perthes (1883), S. 39. Solchen Herbergsvätern sollte deshalb, so forderte Perthes, die Konzession entzogen werden; s. Perthes, a. a. O., S. 42. 1298 Vgl. Köllmann, Rheinland und Westfalen an der Schwelle … (1974), S. 223; eine Ausnahme bildete das Kinderschutzgesetz des Jahres 1839. 1299 Einer der Gründe, weshalb die Bocholter Handwerker von den Zünften größerer Städte Deutschlands nicht als zünftig erachtet wurden, war, dass die „Ämter“ der Stadt keine Herbergen besaßen; s. Langenberg, in: Stadtarchiv Bocholt Z-SB XXVI Nr. 18. 1300 Die Auswertung des Bamberger Herbergsbuches durch Elkar (1984), S. 271, ergab, dass die meisten Gesellen nur wenige Tage, vielfach aber auch eine oder zwei Wochen auf der Herberge blieben.

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Die Herberge war demnach eigentlich der Aufenthaltsort für die wandernden, nicht aber für die in Arbeit stehenden Gesellen. Mit der Beseitigung der Zünfte in Westfalen hörten auch diese als Treffpunkte und Versammlungsorte für die Gesellen hoch bedeutsamen Einrichtungen zu bestehen auf. a. Vorsichtiger Neubeginn Die Erinnerung an die Institution der Herberge blieb allerdings bei Meistern wie Gesellen lebendig, da die Unterkünfte einem praktischen Bedürfnis entsprochen hatten und zudem in den der Provinz benachbarten Staaten noch unverändert fortbestanden.1301 So nimmt es nicht wunder, dass schon zu Beginn der zwanziger Jahre, als sich der korporative Geist zwischen Rhein und Weser neuerlich zu regen begann, wieder Herbergen eingerichtet wurden.1302 Bereits 1818 scheint in Paderborn ein solcher Versammlungsort für Schuhmachergesellen bestanden zu haben,1303 der von den Meistern gefördert wurde. Binnen weniger Monate richteten auch die Schmiede, Schreiner und Schneider in der Bischofsstadt derartige Treffpunkte der Gesellen ein, die, mit Schildern zur Straße geschmückt, sichtlich an die Zunfttradition anknüpfen sollten. Der Landrat wurde ob dieser so offen zur Schau getragenen Reminiszenz an die korporative Vergangenheit aber misstrauisch und vermutete, Meister und Gesellen wollten die Zünfte wiederbeleben. Der Stadtdirektor Meyer erklärte die Einrichtungen dagegen „an sich“ für zweckmäßig. Die Paderborner Handwerker ließen sich durch die obrigkeitlichen Verdächtigungen nicht beirren und fuhren fort, weitere Herbergen ins Leben zu rufen.1304 Auch die Schreinergesellen in Lippstadt ergriffen wenig später die Initiative und schufen 1820 einen solchen Versammlungsort.1305 Das erscheint um so bemerkenswerter, als diese Mittelstadt keineswegs an einer der großen Wanderrouten des deutschsprachigen Raumes lag. Die bei einem Gastwirt etablierte Unterkunft, welche mit einer Unterstützungskasse für erkrankte Gesellen verbunden war, wurde mit Musik und Tanz eröff1301 Vgl. dazu Jeschke (1977), insbes. S. 213 ff.; Husung (1983), insbes. S. 134 ff.; Bovensiepen (1909); Schnell (1936); Gerber (1933), S. 82, der allerdings die wechselseitige Beeinflussung zünftiger und nichtzünftiger Regionen im 19. Jahrhundert bezweifelt. 1302 Auch im ostelbischen Preußen hatten die Herbergen – wegen der dort fortlebenden Zunfttradition – noch Bestand. Ihre Existenz stieß aber keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. So hieß es in den von einem Privatmann verfassten „Vorschlägen zu einer neuen Gewerbeordnung …“: „Das bedenklichste bei der Gesellen-Verfassung ist jedoch, dass ihr Vereinigungspunkt in dem Herbergswesen beruht …“; s. Carl Knoblau, „Vorschläge zu einer neuen Gewerbeordnung …“, v. 10.10.1824, in: Stadtarchiv Lippstadt Nr. 2971. 1303 Vgl. Reininghaus (1985), S. 140. 1304 Die Krankenauflagen waren durch die Satzung nicht selten an das Bestehen einer Herberge geknüpft. So bestimmte das Statut der „Vereinigten Tischlermeister“ in Paderborn „hinsichtlich der Pflege kranker und bedürftiger Tischler-Gesellen“, dass bis zur Ansparung hinreichender Geldmittel zunächst offen bleiben solle, ob erkrankte Gesellen im Krankenhaus oder „auf der Herberge“ gepflegt werden sollten; s. Schreiben der Tischlermeister der Stadt Paderborn vom 1.1.1824, in: Stadtarchiv Paderborn, Nr. 373 f.; zum Handwerk in Paderborn s. Vockel (1920). 1305 S. Schreck (1945), S. 31, 32; vgl. die Übersicht über die Verbreitung der Unterstützungskassen bis 1850 bei Reininghaus (1985), S. 134–142.

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net.1306 Auch hier brachten die Schreinergesellen nach einem festlichen Aufzug am Herbergshause in hergebrachter Weise ein Schild an. Die Gesellenschaft gab sich eine 23 Artikel umfassende Satzung, welche – an die Traditionen des Alten Handwerks anknüpfend – nicht nur Krankenauflage und Herberge verband, sondern auch die Unterstützung armer Wanderer und die Bestattung verstorbener Mitglieder zu Hauptzwecken der Einrichtung erklärte. In der wichtigsten Industriestadt der Provinz Westfalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Iserlohn, waren es ebenfalls die Schreinergesellen, welche frühzeitig, 1823, die Notwendigkeit der Einrichtung einer Herberge erkannten, da, wie sie beklagten, dort „durchreisende Gesellen öfter kein Unterkommen finden konnten“. Auch diese Herberge wurde mit einer Krankenlade verbunden, die Regularien durch ein Statut geregelt.1307 Diese Satzung, wie die Schreiner es wünschten, eigens zu sanktionieren, sah der zuständige Landrat aber keinen Anlass, da „die ganze Einrichtung als freiwilliger Verein zur Erreichung eines erlaubten und wohlthätigen Zwecks für das Privatinteresse der Theilnehmer“ zu gelten hatte.1308 Auch hier suchten die Behörden, wie schon in Paderborn, den Anschein einer Anknüpfung an den hoheitlichen Charakter der Zunft zu verhindern. Die Schreinerherberge blieb keine singuläre Einrichtung in Iserlohn. Bis 1845 entstanden in der Stadt eine ganze Reihe solcher Treffpunkte.1309 Auch in Altena war schon 1826 eine Gesellenunterkunft errichtet worden, die nach Fastnacht 1836 aber wegen angeblicher „Unordnungen“ aufgelöst wurde.1310 Die Hattinger Gesellen einigten sich am 28.3.1826 auf „eine Regulacion für die zu Hattingen constituirende von die 4 Provessionen nemlich Schumacher Schneider Schlosser und Schreiner Gesellen Herberge“.1311 Auch diese neue Einrichtung scheint zunächst aber wenig Bedeutung erlangt zu haben, denn schon 1829 war es offenbar notwendig geworden, sie wiederzubeleben. In Bochum suchten nicht die Gesellen, sondern die Meister recht frühzeitig eine Herberge und Gesellenkasse einzurichten. Der Landrat verweigerte hierzu aber mit der Begründung, dass nicht alle Meister der Kasse ihre Zustimmung gegeben hätten, seine Genehmigung. So kam es zunächst auch nicht zur Errichtung der geplanten Herberge. Erst nach 1838 wies der Bochumer Handwerksverein darauf hin, dass er dieselbe „durch unermüdlichen Eifer …“ zustande gebracht hätte.1312 In Dortmund waren es die Schneider- und Schustergesellenlade sowie die Vereinigte Gesellenlade, die 1839 feierlich ihre Herbergen einweihten. Auch in Witten wurde nach zweijährigen Bemühungen – ebenfalls 1839 – eine solche Einrichtung ins Leben gerufen, wobei nicht ganz geklärt ist, ob es sich eher um eine 1306 Im 19. Jahrhundert waren die Herbergen fast immer in Gasthöfen „niederen Ranges“ eingerichtet; so Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 431; im 18. Jahrhundert befanden sich Herbergen noch häufig in Meisterhäusern; daher rührten die Bezeichnungen „Herbergsvater“ und „Krugvater“ bzw. „Herbergsmutter“, welche im 19. Jahrhundert verschwanden. 1307 Statut der in Iserlohn errichteten Schreinerherberge v. 28.7.1823, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1308 So Schreiben des Landrats v. 23.8.1823, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1309 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Iserlohn an die Stadt Soest v. 29.5.1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1310 S. Reininghaus (1985), S. 134. 1311 Vgl. Reininghaus (1985), S. 136. 1312 Zitiert nach Reininghaus (1985), S. 135.

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Gesellenlade oder eine Herberge handelte.1313 In Iserlohn bestand 1840 eine Schneidergesellenherberge.1314 In Schwelm schließlich errichteten die Schneider- und Schustergesellen im Jahre 1841 gemeinsam eine solche Gesellenunterkunft, der sie, wie üblich, eine Auflage, d. h. eine Krankenkasse, angliederten.1315 Mehr als auffällig ist, dass die Gesellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westfalen vor allem im Bereich der ehemaligen Grafschaft Mark an die große Herbergstradition des Alten Handwerks anknüpften. In den meisten der bedeutenderen Städte des übrigen Westfalens wurden im Vormärz zwar Unterstützungskassen für erkrankte Gesellen begründet; Herbergen für Wanderer gehörten aber nicht selbstverständlich dazu. Die Erklärung für dieses nur auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Ungleichgewicht in der räumlichen Verteilung der Einrichtungen liegt auf der Hand: Die frühzeitige Industrialisierung der Mark hatte zu einer erheblich höheren Handwerkerdichte in dieser Region geführt.1316 Da viele der dort heimischen Gesellen es damals bereits vorzogen, eine besser bezahlte Tätigkeit in einer der dort prosperierenden Fabriken anzunehmen, war das märkische Handwerk auf den Zuzug Arbeitssuchender, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere aus Hessen und Waldeck in das spätere Ruhrrevier kamen, angewiesen. Und diese Zuwanderer bedurften, im Gegensatz zu den eingesessenen Gesellen, eher der Fürsorge, welche ihnen eine Herberge, die damit gewöhnlich verbundene Arbeitsvermittlung und die Krankenauflage boten. Da die aus entfernteren Regionen zuwandernden Hilfskräfte zumeist aus eigenem Erleben die Zunfteinrichtungen in ihrer Heimat kannten,1317 stieß das Herbergswesen im westlichen Westfalen bereits wieder auf großes Interesse, als es in den anderen Landesteilen noch daniederlag. Die wichtige soziale Funktion, welche diese Herbergen erfüllten, zu würdigen vergaß der Magistrat der Stadt Iserlohn denn auch, ganz im Gegensatz zur Paderborner Verwaltung, nicht. In der prosperierenden Industriestadt wurden diese traditionsreichen, gleichwohl aber neuen Einrichtungen – der vor 1845 bestehenden Rechtslage entsprechend – zwar als „Privatvereine“ betrachtet und behandelt, doch „so viel wie möglich in Schutz genommen, weil sie einen guten Zweck hatten“.1318 Hieran konnte in der Tat kein Zweifel bestehen: Wie der schriftliche Kontrakt zwischen Ladenmeister und –gesellen des Iserlohner Schneidergewerks einerseits sowie dem dortigen Herbergsvater andererseits zeigt, war letzterer verpflichtet, jeden zuwandernden Schneidergesellen in seinem Hause aufzunehmen und auch gegen 1313 Vgl. Reininghaus (1985), S. 141. 1314 S. Stadtarchiv Soest Akten Abt. B XIX g 9. 1315 S. Reininghaus (1985), S. 140. 1316 S. dazu ausführlich Deter (2005). 1317 Die Zünfte bestanden beispielsweise im Großherzogtum Hessen bis 1866 fort, s. dazu Emig (1967); zu den Zünften in Kurhessen vgl. Bovensiepen (1909); Reininghaus vertritt die Auffassung, dass vor allem aus Hannover und den Hansestädten zugewanderte Gesellen Einfluss auf die Wiederbelebung von Zunfttraditionen in Westfalen genommen hätten; s. Reininghaus (1985), S. 147. 1318 So Schreiben des Magistrats der Stadt Iserlohn an die Stadt Soest v. 29.5.1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9.

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Entgelt zu beköstigen.1319 Die Vorzüge dieser Institution wussten bald immer mehr Gesellen zu schätzen. Als die Soester Klempner-, Tischler- und Schuhmachergesellen 1845 ihre Krankenkasse gründeten, verbanden sie diese ganz selbstverständlich mit einer Unterkunft für Wanderer.1320 Schon wenig später, 1847, schrieben die Soester Schreinergesellen voller Stolz an die Stadtverwaltung, dass ihre Herberge „für viele große Wirkung gehabt“ habe.1321 Auch die Soester Administration teilte diese Ansicht. Mit ihrem positiven Urteil über die Herbergen setzte sich die Verwaltung der Bördestadt, welche die Verhältnisse aus eigener Anschauung kannte, allerdings in direkten Gegensatz zur Auffassung des preußischen Finanz- und Innenministers in dieser Frage. Der Minister verwies nämlich auch damals noch unverändert auf „vielfache Ungebührnisse, welche die bisherige Einrichtung der Gesellenherberge zugelassen hat“.1322 Wo aber fanden die wandernden Gesellen im übrigen Westfalen, in welchem es seit der Aufhebung der „Ämter“ und Gesellenverbände keine seitens der Handwerker eingerichteten und unterhaltenen Herbergen mehr gab, Unterkunft? Ihnen blieben in den Städten nur die Wirtshäuser der untersten Kategorie, die sich auf die wenig bemittelte Klientel aus dem Handwerk eingestellt hatten.1323 Dass die Betroffenen selbst sich mit diesem Zustand nicht abfinden mochten, kann nicht überraschen. Als nach dem Erlass der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 auch in der weitestgehend zunftlosen Provinz Westfalen wieder Innungen errichtet und Gesellenverbände ins Leben gerufen wurden, durften deshalb – nunmehr auch außerhalb des märkischen Sauerlandes – die Herbergen wegen ihrer unleugbaren praktischen Notwendigkeit nicht mehr fehlen. Dass das zuständige Ministerium diese Entwicklung förderte, konnte man noch immer nicht behaupten. Zwar wandte sich die Behörde in Berlin nicht direkt gegen die Wiedererrichtung von Herbergen. Sie beharrte aber auf der Beaufsichtigung dieser Einrichtungen durch die Innungsvorstände. In dem Normalstatut zu der neuen Gewerbeordnung kam das Bedrohliche, welches die ministerielle Obrigkeit in der Herberge nach wie vor erblicken zu müssen glaubte, unübersehbar zum Ausdruck. Eigens wurden Strafen für Unruhestiftung und Widersetzlichkeiten gegen den Innungsvorstand vorgesehen und bestimmt, dass der Gewerksbeisitzer einem Gesellen den Besuch der Herberge untersagen konnte.1324 1319 Vertrag vom 20.3.1840, in: Stadtarchiv Soest, Akten Abt. B XIX g 9, Z 3. 1320 Stadtarchiv Soest XIX g 12; in den kleineren Orten war ein Herbergslokal gewöhnlich Treffpunkt mehrerer Gewerke; so auch in Soest und in anderen westfälischen Städten. 1321 So Schreiben des Vorstands des Schreinergesellenvereins an die Stadt Soest v. 1.3.1847, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 5. 1322 So Schreiben des Finanz- und Innenministers v. 31.7.1845 an die Stadt Soest, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1323 Der Bonner Prof. Perthes berichtete 1855: „… in den meisten Gegenden aber ist die Gesellenherberge zu einem Wirtshaus geworden, welches ohne allen Zusammenhang neben dem Handwerk der Stadt, in der sie sich befindet, steht und keine Beziehung irgendeiner Art zu den Meistern hat als die, ihnen die arbeitsuchenden Gesellen zuzuführen“; s. Perthes (1883), S. 37. 1324 „Der Innung steht es frei, für das Unterkommen zureisender sowie für die Erholung anwesender Gesellen in den Mußestunden eine Herberge einzurichten und in dem von ihr mit dem

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Mehr noch, der Minister scheute sich nicht, all die Argumente, die der aufgeklärtabsolutistische preußische Staat des 18. Jahrhunderts schon gegen die Gesellenverbände des Alten Handwerks vorgebracht hatte, fast ein halbes Jahrhundert nach deren Untergang, 1845, noch einmal vor dem Soester Magistrat auszubreiten. So hätten die Gesellen ihre Zusammenkünfte auf der Herberge dazu benutzt, sich zu „unzulässigen Vereinen“ mit eigenmächtig gewählten Vertretern zusammenzufinden; dadurch sei das „Widerstreben gegen polizeiliche Beaufsichtigung und schwelgerischer Müßiggang unter ihnen gefördert worden“.1325 Für diese Behauptungen gaben die dem Minister zur Verfügung stehenden aktuellen Informationen keineswegs etwas her; es waren nichts als tradierte Stereotypen, die er benutzte, um der fortdauernden Abneigung der Staatsgewalt gegen selbstorganisierte Zusammenschlüsse der Gesellen die notwendige Begründung zu schaffen. Eben deshalb vertrat der Innenminister auch die Auffassung, dass sich die Verbindung von GesellenKasse und Herberge keineswegs grundsätzlich bewährt habe. Daraus zog er dann den weitergehenden Schluss, dass im Zusammenhang mit der Regelung des Innungswesens durch die Gewerbeordnung grundsätzlich diskutiert werden müsse, ob die Herbergen beibehalten werden könnten. Das Misstrauen des Staates gegenüber der Verbindung der Gesellenkassen mit der Herberge hielt die Westfalen aber auch nach Inkrafttreten der Gewerbeordnung keineswegs davon ab, an dieses aus der Zunftzeit hergebrachte Organisationsmodell wieder anzuknüpfen. Als die Steinhauergesellen in Minden 1848 einen Antrag auf Errichtung einer eigenen Kasse stellten, gehörte für sie die gleichzeitige Einrichtung einer Herberge selbstverständlich dazu.1326 Dasselbe galt auch für die Mindener Kistenmachergesellen.1327 So wurde die Herberge um die Mitte des Jahrhunderts wieder zum ideellen und tatsächlichen Mittelpunkt der Gesellenverbände in Westfalen. Sie bot damit neuerlich ein von der Obrigkeit kaum kontrollierbares Forum für die Willensbildung der Gewerksgenossen. Insofern findet das ministerielle Misstrauen als typischer Ausdruck des Überwachungsstaates im Zeitalter Metternichs seine zutreffende Erklärung. Herbergswirthe abzuschließenden Vertrage Fürsorge zu treffen, dass die Gehilfen ein billiges und anständiges Unterkommen finden. Die Herberge steht unter specieller Aufsicht des Innungsvorstandes, der den Herbergswirth hinsichtlich der Erfüllung seiner Pflichten beaufsichtigt und dessen Anordnungen unbedingt und vorbehaltlich des Recurses an den Magistrat Folge gegeben werden muss. Diejenigen Gesellen, welche Unruhe auf der Herberge erregen, oder den vom Vorstande getroffenen Anordnungen sich nicht fügen, verfallen in eine Strafe bis zu 20 Thlrn. oder 11-tägiges Gefängnis; auch kann vom Beisitzer der Besuch der Herberge zeitweise untersagt worden. Der Besuch der Herberge findet in den zur Arbeit bestimmten Stunden nicht statt, und dürfen in denselben bei einer Strafe von 2–5 Thalern vom Herbergswirthe Speisen und Getränke nur an solche Gesellen verabreicht, desgleichen darf der Aufenthalt in der Herberge nur den Gesellen gestattet werden, welche nicht in Arbeit stehen“; so § 45 des Normalstatuts der Gewerbeordnung vom 17.1.1845, zitiert nach: Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 406. 1325 Schreiben des Finanz- und des Innenministers v. 31.7.1845 an die Stadt Soest, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1326 Antrag der Steinhauergesellen v. 4.5.1848, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1327 Antrag der Kistenmachergesellen v. 23.7.1848, in: Stadtarchiv Minden, F 206.

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b. Die staatliche Förderung seit 1849 Mit dem Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 änderte sich die Haltung des Staates gegenüber den Herbergen grundlegend. Durch die Revolution erzwungen, trat nun Förderung an die Stelle langwährender Obstruktion. Den Städten sandte das Ministerium jetzt Musterentwürfe für Ortsstatuten und Satzungen der Kassen nebst erläuternden Bemerkungen zu; letztere sahen ausdrücklich vor, dass Mittel der KrankenLaden auch für die Einrichtung von Gesellen-Herbergen verwandt werden durften.1328 Die aufgrund der neuen Gewerbegesetzgebung erlassenen Ortsstatuten und Satzungen der Gesellenladen und Auflagen verlangten sogar die Wiederbegründung dieser für das Alte Handwerk so typischen Kommunikationseinrichtungen der Gesellen. Auch deren Finanzierung wurde nun auf eine neue Grundlage gestellt. Im allgemeinen waren die Herbergen zuvor teilweise durch die Gesellen allein, teilweise aber – bis zur Jahrhundertmitte – auch durch die Innungskassen unterhalten worden. Aus dem Umstand, dass es in Westfalen zunächst nur zur Errichtung weniger Innungen kam, kann geschlossen werden, dass die Gesellen für die Finanzierung ihrer Herbergen bei den Meistern nur geringe Unterstützung fanden. Die – allerdings keineswegs in allen westfälischen Städten eingeführten – Ortsstatuten verpflichteten nun aber die Arbeitgeber und ggf. auch die Gesellenkassen zu Beitragsleistungen, so dass die Finanzierung dieser Treffpunkte der Hilfskräfte endlich auf eine breitere Basis gestellt werden konnte. So bestimmte das Ortsstatut der Stadt Lippstadt v. 3.9.1852, dass die Handwerksmeister zu den „Einrichtungen zur Unterbringung arbeitsuchender oder hilfsbedürftiger Gesellen“ beizutragen hätten,1329 und das Ortsstatut für die Stadt Brilon aus dem Jahre 1852/53 sah ebenso selbstverständlich vor, dass Einrichtungen zur Unterbringung arbeitsuchender oder hilfsbedürftiger Gesellen geschaffen werden sollten. Das 1853 von der Regierung Arnsberg bestätigte Statut der Handwerksgesellen-Lade der Stadt Brilon traf entsprechende Regelungen zur Beherbergung durchreisender Gesellen.1330 Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Die Genehmigung solcher Ortsstatuten zeigt, dass nun auch die Lokal- und Mittelbehörden die Wiedererrichtung von Herbergen förderten. Aber auch das Statutarrecht der Gesellen selbst nahm sich des Herbergswesens an: So vergaß das Statut der Lade, also der Krankenkasse der Bäckergesellen in Soest, welches 1850 bestätigt wurde, keineswegs, Regelungen zur Herberge und zu dem Rechtsverhältnis zwischen dem Gesellenverband einer- und dem von ihm bestellten Herbergsvater andererseits zu treffen.1331 Des letzteren Rechte und Pflichten sollten in einem Vertrag geregelt werden, der ihn nicht nur zur Bewirtung der Mitglieder des „Bäckergesellen-Unterstützungsvereins“ und der zugewanderten Gesellen anhielt; es sollten auch Vereinbarungen über die „Aufnahme und Behandlung“ der wandernden Gewerksgenossen und die traditionellen Aufgaben des 1328 Bemerkungen zu dem Entwurf eines Ortsstatuts in Betreff der Gesellenkassen (1850), S. 6 (zu § 13), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15 Nr. 552. 1329 § 2 Z. 1 des Ortsstatuts für die Stadt Lippstadt v. 3.9.1852, in: Stadtarchiv Lippstadt D 38. 1330 Statut für die Handwerksgesellen-Lade der Stadt Brilon, durch die Regierung Arnsberg bestätigt am 31.10.1853, in: STAM Krs. Brilon, Landratsamt, Nr. 1444. 1331 § 17 des Statuts der Soester Bäcker-Gesellen-Kasse v. 31.3.1850, in: Stadtarchiv Soest XIX g 12.

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Herbergsvaters wie die „sichere Aufbewahrung der Lade“ – und damit des Vermögens der Krankenkasse – oder die „Leistung von Vorschüssen“ an die Vereinsmitglieder getroffen werden.1332 In den gewerbereicheren Städten selbst wurde die Notwendigkeit einer Einrichtung wie der Gesellenherberge damals kaum mehr ernsthaft in Zweifel gezogen, wenngleich manche Gehilfen wegen der damit verbundenen Zahlungspflichten skeptisch blieben. Ein Beispiel hierfür liefert das seit 1850 aufgrund des außerordentlichen industriellen Aufschwungs schnell wachsende Dortmund. In der entstehenden Hellwegmetropole empfand man die Errichtung einer Herberge für die große Zahl der zuwandernden Handwerksgesellen allgemein als ein „dringendes Bedürfnis“.1333 Dennoch gelang es durchaus nicht sogleich, die Handwerker dort für die neue Gemeinschaftseinrichtung einzunehmen. Bezeichnenderweise ging die Initiative zur Eröffnung eines solchen Treffpunktes weder von den Meistern noch von den Gesellen aus. Es war vielmehr der Lehrer an der städtischen Sonntags- und Handwerkerschule, der die Bauleute im Januar 1850 zu bestimmen suchte, eine Herberge zu errichten. Doch fand er nicht die notwendige Resonanz für sein Vorhaben.1334 Deshalb unternahm man nur vier Wochen später – diesmal auf Veranlassung des Magistrats – einen weiteren Versuch, den Plan zu realisieren. Das Gründungskomitee beraumte eine Versammlung der Bauhandwerksmeister an, um die Statuten der geplanten Herberge zu beraten, während der Gewerbeschullehrer zu gleicher Zeit die Gesellen zu veranlassen suchte, „rasch die Hand mit ans Werk zu legen, um diesen schönen Bau zu vollenden“, wie sich die Lokalpresse in der blumigen Sprache der Zeit vernehmen ließ. Auch diese Bemühungen scheiterten zunächst aber am Desinteresse der örtlichen Gewerksgehilfen, zu deren Nutzen die neue Einrichtung doch vor allem geschaffen werden sollte. Der Fehlschlag zeitigte allerdings keine dauerhaften Folgen: 1851 schon bestanden in Dortmund eine Bauhandwerkergesellen-Lade und eine Herberge.1335 Ein jahrhundertelang außerordentlich typischer Aspekt des Herbergswesens wurde mit dessen Renaissance um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Westfalen allerdings nicht wieder belebt: Es waren dies die schon im 18. Jahrhundert seitens des Staates bekämpften Gesellenbräuche oder –missbräuche wie das „Schelten“, d. h. das Inverrufbringen einer Stadt, eines Meisters oder eines Gesellen als Ergebnis einer förmlichen Verhandlung.1336 Mittelpunkt der Ausübung dieser Bräuche, welche eine standeseigene Gerichtsbarkeit der Gewerbegehilfen konstituierten, war seit je die Herberge. Wegen seiner insoweit reduzierten Funktion unterschied sich 1332 Wie Anm. 1331. 1333 So Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 3, S. 599. 1334 Dies verwundert – hatte doch der lokale „Anzeiger“ den Plan unterstützt und eigens darauf hingewiesen, dass der vorgesehene „Herbergsvater auf das Recht sieht und keine fremden Gesellen 8 Tage hier liegen lassen will“; zitiert nach Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 3, S. 600. 1335 Am 9.11.1851 beriet der Bauhandwerker-Gesellenverein auf der Herberge über die Feier eines Stiftungsfestes; s. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 3, S. 600. 1336 Zur Gesellengerichtsbarkeit in Westfalen s. Deter (1987), S. 74 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

das Herbergsleben in Westfalen im 19. Jahrhundert trotz aller Reminiszenzen an die Vergangenheit doch deutlich von demjenigen während der Zunftzeit. Durch die radikale Beseitigung des handwerklichen Korporationswesens in Westfalen zu Beginn des Jahrhunderts fehlte dort der Nährboden, auf dem die archaischen Rituale der standeseigenen Gerichtsbarkeit der Hilfskräfte im Handwerk neuerlich hätten gedeihen können.1337 Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsentwicklung galt dies aber keineswegs für den Gesamtstaat. Zwar hatte Preußen schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts die in jurisdiktionelle Formen gekleideten Äußerungen des hergebrachten Selbstbehauptungswillens der organisierten Gesellenschaft mit brachialer Gewalt weitestgehend unterdrückt. Doch verschwand die Gesellengerichtsbarkeit in Ostelbien, wo die Zünfte trotz der Beseitigung des Zunftzwangs ohne eigentlichen Traditionsbruch fortbestanden, nicht vollständig. Obgleich gegen jurisdiktionsgleiche oder ähnliche Verabredungen auf der Herberge nach wie vor „besonders in Preußen die strengsten Maßregeln fortwährend gerichtet waren“, vermochten es weder Administration noch Polizei, dort „die verbotenen resp. geheimen Verbindungen vernichten zu können“, las man 1856.1338 Mit diesen „Verbindungen“ waren im wesentlichen die „Fremden Maurer“ gemeint. Anders in Westfalen: Sieht man von einigen Vorkommnissen in Paderborn zu Beginn der zwanziger Jahre einmal ab, wurde die eigenständige Gesellengerichtsbarkeit in der Provinz nach der Aufhebung der Zünfte nicht mehr wiederbelebt.1339 Für den Westen Preußens galt trotzdem nicht weniger als für die anderen preußischen Provinzen, dass die Herbergen – trotz der staatlichen Förderung nach Erlass der Verordnung vom 9. Februar 1849 – auch in den fünfziger Jahren „noch unter strenger polizeilicher Beaufsichtigung“ standen.1340 In Dortmund durften wandernde Gesellen ohne Aufenthaltskarte in den Herbergen nicht länger als 4 Tage übernachten. Nach Ablauf dieser Frist musste sich jeder in die Stadt Zuziehende bei der Polizeibehörde angemeldet haben. Die Zusammenkünfte der Gesellen in dem schnell wachsenden Industriezentrum wurden stets beobachtet – und diese Kontrollen verheimlichten die Behörden auch keineswegs. Hatten sich die Bauhandwerksgesellen bis Juli 1853 allmonatlich zu einer Versammlung auf ihrer Herberge getroffen, so mussten sie diese Sitzungen danach – zwecks Überwachung und naturgemäß auch Einschüchterung – im Dortmunder Rathaus abhalten. Der Magistrat verlangte die Tagesordnung der Sitzungen zu genehmigen. Erst ab Sep1337 Zu den – im Gegensatz zur Provinz Westfalen – im ostelbischen Preußen weitgehend fortlebenden Gesellenbräuchen, zu denen auch die standeseigene Gerichtsbarkeit zählte, vgl. Bergmann (1973), S. 111 ff.; zur Handwerksgerichtsbarkeit im Westfalen des 19. Jahrhunderts s. Deter (1987). 1338 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 404. 1339 S. dazu ausführlich Deter (1987), S. 117 ff. 1340 Zur Situation allgemein Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 431; ebenso ders., a. a. O., S. 421, wo Hasemann von dem „polizeilichen Druck“ auf die Gesellenvereine nach 1848 berichtet. Die Situation in Westfalen beschrieb der Bielefelder Bürgermeister, als er darauf hinwies, dass „die wandernden Handwerksgesellen schon seit längerer Zeit einer strengen Controllierung durch die Polizei-Beamten“ unterworfen seien, das Verhalten der Gesellen bislang aber keinen Anlass zur Klage gegeben habe; s. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bielefeld v. 13.6.1857, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C Nr. 51.

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tember, mit dem Ende der Hauptbauzeit, durften die Bauhandwerksgehilfen wieder auf ihrer Herberge zusammenkommen.1341 Wie erniedrigend solche Maßregeln gewirkt haben müssen, lässt sich leicht erahnen.1342 Und diese Attitüde fortwährender Kontrolle und latenter Unterdrückung, die der preußische Staat gegenüber den Gesellen zur Schau trug, bestand fort. Als die Regierung in Potsdam 1857 Klage über „Missbräuche“ der Gesellenverbindungen führte, replizierten der Gewerbe- und der Innenminister mit der Aufforderung, dass die Lokalbehörden auf die Herbergswirte besondere Obacht zu geben hätten, „da diese auf die bei ihnen verkehrenden Gesellen einen großen Einfluss ausüben“1343 – was, wie aus den Handwerkerbiographien bekannt, durchaus zutreffend war.1344 Die Minister unterstellten den Herbergswirten, dass sie ihre Adresse für die Korrespondenz der Gesellenverbindungen untereinander zur Verfügung stellten, den Brüderschaften die Lokale zum Abhalten geheimer Versammlungen beschafften und die Neuankömmlinge von etwaigen Verrufserklärungen unterrichteten. Um diese – tatsächliche oder imaginierte – Unterstützung renitenter Gesellen zu unterbinden, forderten die Minister die Lokalbehörden auf, „unzuverlässigen“ Herbergswirten die Gewerbekonzession zu entziehen.1345 Die Polizei sollte die Herbergen sorgfältiger überwachen und sich dabei der Mitwirkung der Innungsvorsteher versichern. Weitergehend noch sollten die Lokalbehörden daran erinnert werden, dass das „Gesetz über die Polizei-Verwaltung“ v. 11. März 1850 die Möglichkeit eröffne, besondere „Polizei-Verordnungen“ zu erlassen, um „gefährlichen Missbräuchen“ ein Ende zu setzen.1346 Die in den fünfziger Jahren allenthalben wieder spürbar werdenden, latenten Aversionen des Staates gegen die Gesellenvereinigungen und damit auch gegenüber ihren Herbergen förderte diese Einrichtungen natürlich nicht 1341 S. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 2, S. 666. 1342 Dass diese Kontrollmaßregeln – aus der Sicht der Behörden – ihre Gründe hatten, ist allerdings ebenfalls anzunehmen: Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die ersten Vertreter der Sozialdemokratie in Dortmund später Bauhandwerker und Schneider waren; s. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Rep. 202, Best. 202, B XIII 125, Bd. 2, S. 666. 1343 Schreiben des Gewerbe- und des Innenministers an sämtliche Regierungen v. 28.2.1857, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 42 RS. 1344 So z. B. die Schilderung der Gestalt eines „Gesellenvaters“ durch den Leineweber-Gesellen Riedel, der 1803–1816 unterwegs war; s. Riedel (1938), S. 44 ff. 1345 Nach den §§ 2 und 5 des Erlasses v. 7.2.1835 „über die Zulassung zum Schank- und Gastwirthschaftsbetriebe“ musste die Erlaubnis jährlich verlängert werden. Dies konnte versagt werden, wenn der Gewerbebetrieb des Inhabers zu begründeten Beschwerden Anlass gab; s. Schreiben des Gewerbe- und des Innenministers v. 28.2.1857, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 42 RS. 1346 Nach § 15 dieses Gesetzes durften solche Polizei-Verordnungen allerdings nicht mit den allgemeinen Gesetzen in Widerspruch stehen – und damit auch nicht gegen den Grundsatz der Vereinigungsfreiheit verstoßen, der in Artikel 30 der preußischen Verfassung und dem preußischen Vereinsgesetz v. 11.3.1850 garantiert war. Immerhin mahnten die Minister auch, dass das Verbindungswesen der Gesellen keinen unnötigen Belästigungen ausgesetzt werden solle; s. Schreiben des Innen- und des Polizeiministers v. 28.2.1857, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 43.

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eben. So ließ die Qualität mancher von den „Laden“ und „Auflagen“ unterhaltenen westfälischen Herbergen nach der Jahrhundertmitte erheblich zu wünschen übrig. 1868 führten die Gesellen in Schwerte darüber Klage, dass der Herbergswirt der dortigen Gesellenlade lediglich ein Bett für durchreisende Gesellen bereit halte. Falls die Mitglieder der Lade nicht „viel“ bei ihm verzehrten, drohte er ihnen ganz offen damit, sie im Krankheitsfalle schlecht zu pflegen.1347 Diese für die zweite Jahrhunderthälfte zwar nicht mehr typischen, aber auch nicht ganz ungewöhnlichen Verhältnisse machen einmal mehr deutlich, dass sich die Versorgung der auf der Wanderschaft erkrankten Gesellen durch die aufgezeigten Initiativen zwar erheblich gebessert hatte, die hergebrachten Mängel nicht allein der Gesundheitsfürsorge, sondern auch der Unterbringung gerade hilfsbedürftiger Wanderer aber noch nicht überall der Vergangenheit angehörten. Dies bestätigen auch die wenigen Quellen, welche Auskunft über das Interieur eines Herbergslokals und den Gesellenalltag dort geben. Der dürfte sich – angesichts der allgemeinen Mittellosigkeit der Gewerbegehilfen – auch zwischen Rhein und Weser kaum von jenen Zuständen unterschieden haben, welche der liberale Zunftgegner Victor Böhmert wohl kaum übertreibend 1858 so schilderte: „Doch die Polizeistuben wären noch zu ertragen, wenn das wüste und rohe Herbergsleben den Handwerksburschen nicht völlig verderben müsste. Da sitzen sie auf schmutzigen Bänken in finsteren verräucherten Stuben, in welche ein anständiger Mensch oft nicht einmal gern hineinsieht und müssen sich mit karger Kost, mit elenden Spirituosen, mit schmutzigen Betten oder, sobald sie das Schlafgeld nicht vor dem Schlafengehen bezahlen können, mit einer Lagerstatt auf unreinlichen Holzbänken begnügen und dabei oft die schnödeste Prellerei und Behandlung des Herbergsvaters, sowie die Rohheit der älteren Gesellen ruhig dahinnehmen“.1348 Wegen dieser Zustände zogen es nicht wenige Gesellen vor, wenn möglich in einer Scheune im Stroh zu übernachten, um nicht in einer solchen Herberge – unter Lärm, Gestank und Ungeziefer leidend – die Nacht in steter Sorge um Gesundheit und Eigentum zubringen zu müssen.1349 Die Herbergen in Norddeutschland sollen allerdings zahlreicher und besser geführt gewesen sein als diejenigen in Süddeutschland und in Österreich.1350 c. Das christliche Herbergswesen Die unaufhörlichen Kontrollen, das ständige „Visiren“ des Wanderbuchs, das Vorschreiben einer Zwangsroute, aber auch die unerfreulichen Lebensumstände auf der Herberge, der dadurch bedingte einseitige Umgang nur mit den Genossen des eige1347 Beschwerden verschiedener Mitglieder der Gesellenlade über den Herbergswirt v. 18.4.1868, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7516. 1348 So Böhmert (1858), S. 38; bei dieser Schilderung ist allerdings zu beachten, dass die Herbergsgäste in aller Regel dort nicht länger wohnten, sondern nur kurzfristig Unterkunft fanden. Wie bereits festgestellt, waren wenige Tage bis zu 2 Wochen Aufenthalt in der Herberge die Regel. Mehrwöchige Dauer blieb die Ausnahme, s. Elkar (1984), S. 271. 1349 Beispiele hierfür finden sich bei Emig (1969), S. 225. 1350 So Emig (1967), S. 225.

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nen Handwerks – all diese Spezifika der Handwerksburschenexistenz hatten im 19. Jahrhundert eine allgemeine Missachtung der Gesellen zur Folge, unter der diese unverdient leiden mussten.1351 Der schon zitierte Böhmert war deshalb der Auffassung, dass die fortwährende Herabsetzung des Handwerkernachwuchses erst dann aufhören werde, wenn „das Zunft- und Herbergswesen gründlich beseitigt ist“.1352 An die Stelle des „wüsten Herbergslebens“ müsse eine „allseitigere Berührung mit der gebildeten Außenwelt“ treten. Dadurch sollten die Gesellen angeregt werden, Formen der Geselligkeit zu suchen und zu entwickeln, welche ihre „geistige und sittliche Fortbildung“ beförderten. Dass es sich bei Böhmerts Kritik am hergebrachten Herbergswesen nicht um Übertreibungen eines liberalen Ideologen handelte, zeigen die gleichzeitigen Zustandsbeschreibungen Adolf Kolpings, die sich kaum von denjenigen Böhmerts unterscheiden. Das Herbergswesen bedurfte der grundlegenden Reform – und zwar dringlichst. Die ideelle Förderung seitens des Gesetzgebers wurde durch das Misstrauen der Behörden gegenüber den Gesellenvereinigungen entwertet und bewirkte insgesamt zu wenig, denn es fehlte nicht allein an finanziellen Mitteln und staatlichen Initiativen; der ebenfalls latente Soupcon der Gesellen gegenüber der Obrigkeit hätte diese – wären sie denn vorhanden gewesen – aber auch zum Scheitern verurteilt. Das liberale Bürgertum nahm sich der Probleme der Handwerksburschen ohnehin nicht an. Dennoch bestanden um die Mitte des Jahrhunderts aber durchaus Voraussetzungen für eine positive Entwicklung des Herbergswesens, die auch in Westfalen gegeben waren. Dass sich auch dort neuerlich korporativer Geist unter den Gewerbegehilfen regte, lässt sich nicht leugnen. Denn mit der Wiedererrichtung zahlreicher Laden und Auflagen insbesondere in den vierziger und fünfziger Jahren war, wie gezeigt werden konnte, nicht selten auch die Errichtung eines Gesellenvereins und einer Herberge für Wanderer verbunden.1353 Solche Initiativen – so unzureichend ihre Ergebnisse mancherorts auch gewesen sein mögen – gaben nicht nur der Verselbständigung, sondern auch dem neu erwachten Standesbewusstsein der Gesellen – und damit ihrer ungebrochenen organisatorischen Kraft – sichtbaren Ausdruck.1354 Diese Entwicklung hatte leicht nachvollziehbare Gründe. Damals löste sich der gemeinsame Haushalt des Handwerkers und seiner Mitarbeiter jedenfalls in den größeren Städten auf: Von den 1465 im Jahre 1855 in Bonn tätigen Gesellen erhielten nur noch 387 Kost und Logis bei ihren Meistern,1355 die Gesellen waren also mehr und mehr auf sich gestellt. Diese Entwicklung traf mit der Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation jedenfalls in den durch die Industrialisierungsvorgänge bedrängten handwerklichen Berufssparten zusammen. Selbsthilfe durch Zu1351 S. Böhmert (1858), S. 40. 1352 So Böhmert, wie Anm. 1348. 1353 S. dazu ausführlich Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“. 1354 Dies hatte auch schon der Zeitgenosse Perthes 1845 konstatiert: „Die an allen Orten entstehenden Gesellenvereine, die zahllosen Associationen … sind ein Zeichen, dass das Leben überall auf die Hervorbildung eines selbstständigen Gesellenstandes hindrängt; s. Perthes (1883), S. 9. 1355 S. Perthes (1883), S. 15; andernorts, so z. B. in Gotha, war dies damals aber noch nicht der Fall, s. Perthes, a. a. O., S. 16.

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sammenschlüsse wurde deshalb wichtiger denn je, da die bis dahin ergriffenen Initiativen nicht ausreichten. Dieser Umstand wurde von sozialpolitisch engagierten Zeitgenossen auch bald erkannt. aa. Die Kolpingvereine Es waren Männer der Kirche, welche Entwicklungen anbahnten, die ihre Ursprünge erstmals außerhalb der handwerklichen Traditionsstränge hatten; binnen weniger Jahrzehnte gelang es ihnen, auch in Westfalen ein Herbergswesen von ganz neuer Art und bis dahin nicht gekannter Effizienz zu schaffen. Der badische Politiker Franz Josef (v.) Buß war schon in den dreißiger Jahren mit sozialpolitischen Petita hervorgetreten, welche – im Gegensatz zu den in Frankreich formulierten Ideen der utopischen Sozialisten – die Forderung nach Gesetzen zum Schutze der Arbeiter mit dem Ideal organisatorischer Selbsthilfe der englischen Assoziationsbewegung verbanden.1356 Die Bemühungen des Rechtslehrers und Abgeordneten Buß um eine soziale Gesetzgebung blieben zwar zunächst erfolg-, doch keineswegs wirkungslos. Sie beförderten nämlich nachhaltig den damals gerade neu erwachenden, karitativ engagierten Katholizismus,1357 der dem in den vierziger Jahren in Deutschland aufblühenden politischen Vereinswesen den Gedanken der Selbsthilfe entlehnte. Die Aufgaben, welche zu lösen waren, lagen offen zutage: Die Zahl der unterstützungsbedürftigen Armen nahm vor der Jahrhundertmitte derartig zu, dass die hergebrachte Wohlfahrtspflege ihren Aufgaben nicht länger gewachsen war. In dieser Situation entwickelten sich, freilich ohne Verbindung miteinander, die katholischen und protestantischen Caritasbewegungen. Deren Erfolg wirkte auf das religiöse Leben breiter Bevölkerungsschichten zurück, wie schon der zeitgenössische Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl 1851 feststellte:1358 „Die streng gläubigen Katholiken und Protestanten wetteifern, die Kirche als erste, ja einzige Retterin aus unseren gesellschaftlichen Notständen erscheinen zu lassen. Das ist ein Ereignis von unabsehbarer Tragweite. Der Satz, dass das organische Naturgebilde der Gesellschaft eine göttliche Ordnung sei, hat noch Tausende von Bekennern gefunden. Viele würden vor 10 Jahren nur ein mitleidiges Lächeln dafür gehabt haben, wenn man ihnen die Gesellschaft als von Gott aufgebaut hätte dartun wollen“. Die mit der religiösen Neubesinnung breiter Schichten verbundene Caritas-Bewegung der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre prägte nicht allein westfälische Adelige wie den die Rechte der Arbeiter einfordernden Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler oder den Gründer der landwirtschaftlichen Standesorganisationen, Burghard von Schorlemer-Alst, sondern auch Adolf Kolping, den „Gesellenvater“.1359 Diese katholischen Sozialreformer dachten in konservativen und ständisch-korporativen Kategorien, welche ihrem Werk dauerhaft eigentümlich blieben. 1356 S. dazu Franz (1914), S. 49 ff.; zu Buß s. Schnabel (1911) und Sellier (1998), S. 30–33. 1357 So Franz (1914), S. 58. Zu den Kolpingvereinen vgl. auch Neitzel (1987) und Sperber (1984). 1358 In seiner Darstellung „Die bürgerliche Gesellschaft“ (1851), hier zitiert nach Franz (1914), S. 92. 1359 Außerhalb der katholischen Kirche verdienen in diesem Zusammenhang auch Schulze-Delitzsch, Fliedner, Wichern, Huber und Raiffeisen erwähnt zu werden.

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Der Rheinländer Kolping und die von ihm initiierte kirchliche Gesellenarbeit waren es, welche das Herbergswesen jedenfalls im katholischen Teil Westfalens auf eine ganz neue, den Erfordernissen der Zeit entsprechende und langfristig tragfähige Basis stellten. Der ehemalige Schuhmachergeselle Kolping (1813–1865), seit 1845 Priester, gründete 1846 in Elberfeld und 1849 in Köln Gesellenvereine, die nach dem Willen ihres Initiators das Ziel verfolgten, den jungen Handwerkern religiöse und sittliche Unterstützung zu gewähren und ihren Anspruch auf soziale Gerechtigkeit durchsetzen zu helfen.1360 Die Aufgaben der katholischen Gesellenbewegung sind folgendermaßen skizziert worden: „Förderung der Handwerkerorganisationen, Erziehung des jungen Nachwuchses im Handwerk, der Gesellen, zu der einstigen zielbewussten Vertretung ihrer Standesinteressen als selbständige Meister: Das ist demnach die eigentliche soziale Aufgabe der katholischen Gesellenvereine in unserer Zeit“.1361 Hauptzweck der Vereine war die Unterstützung der Gesellen nicht nur in beruflicher, sondern auch in religiöser und geistiger Hinsicht. Insbesondere durch Bildung wollte Kolping das Absinken der Handwerksgesellen in das Proletariat und ihre drohende Entfremdung vom Christentum verhindern. Die Gesellen sollten ihre soziale Welt selbst gestalten und dazu beitragen, eine berufsständische Ordnung zu schaffen, die als Bollwerk gegen den liberalen Individualismus wie den sich verbreitenden Sozialismus zu dienen vermochte. Kolping wollte vor allem die Wanderburschen erreichen, die er vor Verwahrlosung zu schützen suchte. Sein Arbeitsfeld waren insbesondere die größeren Städte als die bevorzugten Wanderziele der Gesellen.1362 Die aus dem Schwinden der hergebrachten Hausgemeinschaft zwischen Meister und Gesellen resultierende Schwierigkeit der Hilfskräfte, angemessene Unterkunft und Verpflegung, aber auch Geselligkeit und Unterhaltung, eben ein Heim zu finden, veranlasste ihn, den Gesellenvereinen die Errichtung eigener Vereinshäuser aufzugeben. Es war nicht zu übersehen, dass die Errichtung solcher „Hospize“ für die Gesellen nicht länger allein im Interesse der jungen Burschen auf der Walz lag, sondern zunehmend auch ein Bedürfnis der am Orte arbeitenden jungen Leute darstellte. Die Idee Kolpings von einem katholischen Standesverein mit wirtschaftlichsozialen Aufgaben fand erstaunlich bald auch in Westfalen Anhänger. Als erste dieser Gründungen in der Provinz kann der Kolpingverein in Lippstadt gelten.1363 Der Geselle Fritz Kamp war 1850 von Elberfeld nach Lippstadt gegangen und hatte dort 1360 Kolping gehörte damit zu den Gründern der ein Jahrhundert später in Deutschland geschichtsmächtig gewordenen katholischen Soziallehre; seine Vorstellungen wurden vor allem von dem bedeutendsten der katholischen Bischöfe des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Emanuel von Ketteler, aufgegriffen und verbreitet. Den Gesellenverein in Elberfeld hatte der Lehrer Johann Gregor Breuer 1845/46 gegründet; Kolping war der erste Präses. Zur Gründung eines Kolpingvereins in Düsseldorf in Jahre 1849 s. Lenger (1986), S. 220–223. 1361 Zitiert nach Schweitzer (1905), S. 193. Volle Mitglieder der von Kolping initiierten Vereine konnten nur ledige Gesellen ab 17 Jahre werden. 1362 S. Franz (1922), S. 29. Zu den Gesellenhäusern s. Grosinski (1985), S. 228–240 (230). 1363 S. Kracht (1975), S. 2; auf der Generalversammlung der katholischen Vereine im September 1851 lernte Kolping verschiedene Persönlichkeiten kennen, denen er sein Anliegen zu vermitteln wusste. Diese trugen bald zur Verbreitung der Gesellenvereine in Westfalen nachhaltig bei.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

sogleich maßgeblich an der Gründung eines Gesellenvereins mitgewirkt. 1852 riefen Kolping und der Kaplan Johann Heinrich Reinermann den münsterischen Gesellenverein ins Leben.1364 Die 1853 beschlossenen Statuten des Zusammenschlusses in der Provinzialhauptstadt postulierten als Ziel die „Fortbildung und Unterhaltung der Gesellen von Münster zur Anregung und Pflege eines kräftigen religiösen und bürgerlichen Sinnes und Lebens, um dadurch einen tüchtigen, ehrenwerten Meisterstand heranzubilden“. Erreicht werden sollte dieses durch „öffentliche Vorträge, Unterricht, Gesang, Lesen passender Schriften, gegenseitige Besprechung, Unterhaltung, gemeinsame Erheiterung und gegenseitige Hilfe in der Not“.1365 Die Mitglieder des Gesellenvereins in der Provinzialhauptstadt gehörten ausnahmslos der Marianischen Junggesellen-Sodalität an. Sie alle nahmen an deren religiösem Leben teil.1366 Kolping selbst allerdings legte größten Wert darauf, dass seine Gesellenvereine keine „kanonischen Bruderschaften“ wie die Sodalitäten, sondern Standesvereine sein sollten, die ihren Mitgliedern lediglich die allgemein für die Katholiken geltenden religiösen Pflichten auferlegten.1367 Damit erschöpfte sich, wie bereits festgestellt, der Zweck der neuen Zusammenschlüsse aber nicht. In Münster konnte Kolpings Auftrag, für die auf der Wanderschaft durchreisenden und die am Ort tätigen Mitglieder des „Kolpingwerkes“, wie es bald hieß, ordentliche und preiswerte Quartiere zur Verfügung zu stellen und deshalb ein eigenes Haus zu errichten, um den Gesellen – unabhängig von Gaststätten oder gemieteten Räumen – eine Heimstatt zu bieten,1368 erstaunlich schnell realisiert werden. Nach der Gründung 1852 trafen sich die 30 Vereinsmitglieder zunächst in einem wenig einladenden Hintergebäude der ehemaligen Dompropstei. Nach einem Jahr hatte sich die Mitgliederzahl bereits verzehnfacht. Schon 1855 erwarb der Gesellenverein die ehemalige Domkurie an der Ostseite des Domplatzes für die erhebliche Summe von 7.500 Talern.1369 Die außerordentlich günstige, repräsentative Lage des Hauses im Zentrum der Stadt förderte das Vereinsleben sehr, so dass die Mitgliederzahl weiterhin schnell wuchs. In den Jahren 1852–57 wurden nicht weniger als 791 Mitglieder aufgenommen. Vermutlich erhöhte die geräumige Herberge des Kolpingvereins, das attraktive Bildungsangebot1370 und die Geselligkeit, die dort gepflegt wurde, 1364 S. Franz (1914), S. 146. 1365 Zitiert nach Schröer (1977), S. 98; bemerkenswert ist, dass der Präses Reinermann bei der Abfassung der Statuten des münsterischen Gesellenverbandes die Gilderolle des münsterischen Schmiedeamtes vom 15. Juli 1727 heranzog und so bewusst an die religiösen Traditionen der alten münsterischen Gilden anknüpfte. 1366 Schröer (1977), S. 98; in fast jeder katholischen Kirchengemeinde in Westfalen bestand damals eine solche Sodalität. Die meisten wurden in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründet; s. für das Bistum Münster die Übersicht bei Kleyboldt (1904), S. 236–238. In der Diözese Münster bestanden 1908 235 und in der Diözese Paderborn 190 solcher Kongregationen (zum Vergleich: Bayern 35, Baden 25, Hessen 25); s. Kirchliches Handbuch, hrsg. v. H. A. Krose (1908), S. 246. 1367 S. Schröer (1977), S. 97. 1368 S. Kracht (1975), S. 9. 1369 S. Schöer (1977), S. 99. 1370 Der in der Satzung skizzierte Unterrichtsplan sah Lehrangebote in Religion, in geistlichem und weltlichem Gesang, im Lesen, Schreiben, Rechnen, im Zeichnen und Modellieren sowie in Geographie, Geschichte und Naturkunde vor; s. Schröer (1977), S. 98; die Vikare unter-

D. Das Wandern der Gesellen

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auch den Stellenwert Münsters als Wanderziel für Fernwanderer. Jedenfalls stammten nicht wenige der Münsteraner Vereinsmitglieder in den fünfziger Jahren aus dem Rheinland, aus Schlesien, Sachsen und sogar aus Österreich.1371 Die anderen Vereine in Westfalen waren ähnlich erfolgreich. Schon 1853 bestanden auch in Bochum, Dortmund und Soest katholische Gesellenvereine.1372 In Bochum zählte der Kolpingverein 1864 2.136 Mitglieder; aktiv nahmen davon 334 am Vereinsleben teil. Von den Vereinsangehörigen waren im Jahre 1863 234 von auswärts zugereist. Die jährlichen Herbergskosten betrugen in Bochum damals die erhebliche Summe von 800 Talern.1373 Wie sehr diese Vereine ein allenthalben vorhandenes Bedürfnis befriedigten, zeigen keineswegs nur die Bruderschaften in den Industriestädten, sondern alle Gründungen in Westfalen. Die 1860 in der ländlichen Kleinstadt Dülmen ins Leben gerufene Kolping-Gemeinschaft beispielsweise zählte schon nach kurzer Zeit 150 Mitglieder.1374 Die außerordentlich schnelle Verbreitung dieser neuen Form der Gesellenassoziation und damit auch die Errichtung von Herbergen für wandernde und fremde Gesellen katholischer Konfession in der Provinz Westfalen ergibt sich aus der folgenden Tabelle 32.1375 Die kirchlichen Vereine übernahmen soziale Aufgaben, denen sich die Behörden nicht gewachsen gezeigt hatten. Dabei legten die Kolpingvereine eine gewisse Großzügigkeit an den Tag. Üblicherweise erhielten die wandernden Gesellen in ihren Vereinshäusern unentgeltlich Unterkunft. Wo ein eigenes Haus noch fehlte, übernahm der örtliche Verein die Übernachtungskosten. Die größeren Kolpinghäuser, die bald über den Rahmen der Herbergen des Alten Handwerks hinauswuchsen, boten auswärtigen Gesellen gegen geringes Entgelt dauerhaft Kost und Logis.1376 Aus der Tatsache, dass viele der Vereine bald über eigene Häuser in guter Lage der Innenstädte verfügten, muss geschlossen werden, dass die katholische Bevölkerung das Anliegen der Gesellenvereine sogleich in ganz erheblichem Maße finanziell richteten die Gesellen; s. Festschrift … des katholischen Gesellenvereins zu Münster (1902), S. 7. 1371 So Schröer (1977), S. 99. Ob die relative Zahl der wandernden Gesellen nach 1850 zurückging, ist umstritten; diese Ansicht vertritt Kocka (1990), S. 340 unter Bezugnahme auf Elkar (1984); s. auch Elkar (1983); Bade (1982). Auch Jeschke (1977) S. 431 sieht den quantitativen Höhepunkt des Wanderns schon in den vierziger Jahren. Birnbaum (1984), S. 182 ff. stellt einen Rückgang der Zahl der Wanderer seit den fünfziger Jahre fest. A. A. die Zeitgenossen Perthes (1856), S. 18 ff. für die fünfziger und Viebahn (1868) für die sechziger Jahre. 1372 So Kracht (1975), S. 8; Brüll (1900), S. 199, behauptet, 1853 hätten schon 300 Vereine, „meist in Rheinland und Westfalen“, bestanden; nach Hasemann, Art. „Geselle“ (1857), S. 421, waren es 1852 79 Vereine; s. Hasemann, a. a. O., S. 422; 1853 waren in 60 lokalen Vereinen bereits 10.000 Gesellen organisiert. Damit waren diese schon die größte soziale Organisation in Deutschland. 1879 bestanden im Reich 403 Kolpingvereine mit 40.000 Mitgliedern und 82 Häusern; so Franz (1914), S. 144. 1373 S. Franz (1914), S. 146. 1374 S. Festschrift … des katholischen Gesellenvereins Dülmen (1910), S. 18. 1375 Zusammengestellt nach Schweitzer (1905), S. 489–491; vgl. auch Kleyboldt (1904), S. 239, 240. Hier wurden nur die Gründungen bis 1869 berücksichtigt. Natürlich nahm die Zahl der Vereine auch in den Jahrzehnten danach noch erheblich zu. 1376 S. Brüll (1900), S. 200; das Kölner Gesellenhospiz z. B. beherbergte mit 2 Filialen um 1900 durchschnittlich nicht weniger als 300 Gesellen.

332

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 32: Gründungsjahr der Kolpingvereine in Westfalen (bis 1869) Bistum Münster

Bistum Paderborn

Münster

1852

Lippstadt

1852

Bochum

1853

Soest

1852

Warendorf

1853

Dortmund

1852

Ahlen

1856

Brakel

1852

Westerholt

1856

Paderborn

1853

Coesfeld

1861

Hagen

1859

Telgte

1864

Hamm

1859

Buer

1865

Höxter

1859

Dorsten

1865

Werl

1860

Rheine

1868

Schwelm

1862

Greven

1869

Arnsberg

1863

Siegen

1863

Witten

1863

Minden

1863

Meschede

1864

Büren

1865

Minden

1866

Geseke

1868

Hörde

1869

Castrop

1869

unterstützt hat.1377 Für Münster lässt sich exemplarisch zeigen, wie die Mittel für die Errichtung der Gesellenhäuser aufgebracht wurden: In der Provinzialhauptstadt bildeten, wie in Dülmen auch, die angesehensten Bürger der Stadt den Schutzvorstand des Gesellenvereins.1378 Das 1855 gekaufte Haus wurde durch Spenden fi1377 Um Spenden wurde seitens der Vereine nachgesucht. So wandte sich der Vorstand des Warendorfer Gesellenvereins 1852 an die Bevölkerung: „Wir ersuchen freundlichst die geehrten Einwohner unserer Stadt, im Interesse der Ordnung unsere Bemühungen zu unterstützen, um dadurch dem Betteln und Fechten ein Ende zu machen …“; zitiert nach Rohleder (1978), S. 13. Die Geistlichen schufen Verbindungen zu den wohlhabenden Bürgern, so dass es an finanzieller Unterstützung der Vereine in der Tat nicht fehlte. Daraus glaubte Hasemann noch 1857 schließen zu müssen, dass die katholischen Gesellenvereine ebenso wie die evangelischen „christlichen Herbergen den Nahrungssaft des Bestehens nicht aus dem Gesellenleben selbst, sondern aus dem Geldbeutel der Stifter und Gönner“ bezögen und deshalb über geringere Zukunftsaussichten verfügten als die „freien“, konfessionell ungebundenen Gesellenvereine; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1857), S. 421. Hier irrte Hasemann allerdings gründlich. Merkwürdigerweise gestand er zugleich zu, dass die katholischen Gesellenvereine „jetzt zahlreicher“ würden; s. Hasemann, a. a. O., S. 431. 1378 Festschrift des katholischen Gesellenvereins zu Münster (1902), S. 6.

D. Das Wandern der Gesellen

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nanziert. 1871 baute der Verein die Herberge, welche 1866 eingerichtet worden war, im Stadtzentrum neu.1379 Alles dies war nur möglich, weil die Gesellen mit Hilfe des kirchlichen Einflusses die Unterstützung der sog. „ersten Kreise“ der Stadt fanden. Um 1900 verfügten die meisten der Vereine über ein eigenes Haus und damit über ein Domizil, das den Gesellen – im Gegensatz zu den Herbergen „alten Typs“ – ggf. auch für längere Zeit Unterkunft bot. Mit der Errichtung dieser Vereinshäuser waren allerdings Schwierigkeiten verbunden, welche den preußischen Gesetzgeber in einem wenig günstigen Licht erscheinen lassen. Es musste die Frage des Eigentums an den Immobilien geklärt werden, was für die Kolpingvereine außerordentliche Probleme aufwarf. Angelpunkt war die Erlangung sog. Korporationsrechte, denn nur als juristische Person konnte ein Verein Eigentümer eines Hauses werden. Die Gesellenorganisationen hatten aber keinen Anspruch darauf, als „Korporationen“ in diesem rechtlichen Sinne anerkannt zu werden. Tatsächlich gelang das nur wenigen größeren Kolpingvereinen, die über besondere Protektion verfügten. Ihnen wurden durch königliche Kabinettsordre auf dem Gnadenwege die Korporationsrechte verliehen. Dies geschah gewöhnlich dadurch, dass dem sog. Schutzvorstand des Vereins, einem Gremium aus örtlichen Honoratioren, die Rechte einer juristischen Person verliehen wurden, so dass dieser Schutzvorstand Träger des Vereinseigentums werden konnte. Aus der Gewährung der Korporationsrechte folgte allerdings auch, so wollte es das preußische Vereinsgesetz vom 11.3.1850, das Recht der Behörden, den Verein zu beaufsichtigen.1380 Kolping selbst suchte durch eine Immediateingabe an König Friedrich Wilhelm IV. die Verleihung von „Korporationsrechten“ an alle seiner Organisation angehörenden katholischen Gesellenvereine zu erreichen und damit deren Rechtsfähigkeit zu gewährleisten. In der Begründung wies er auf die unverzichtbare Bedeutung der Herbergen zur Realisierung des Vereinszwecks hin: „Um dem Gesellenstand möglichst viel Gutes zu tun, und namentlich ihn aus den meist mit Recht verrufenen Herbergen herauszuhalten, haben wir zunächst in Cöln mit dem Lokale des Gesellenvereins eine Vereinsherberge verbunden, worin die wandernden Mitglieder anständige Unterkunft und christliche Pflege erhalten. Soll der Gesellenverein dem schädlichen Wirtshausleben entgegen wirken, dann sollen die Gesellenhospizien das wüste Herbergsleben zerstören helfen. Die Vereinsherberge ist die nötige Ergänzung des Vereins, der damit seine ganze Aufgabe in der Hand hat“.1381 Diese 1379 Festschrift des katholischen Gesellenvereins zu Münster, wie Anm. 1378, S. 6, 7, 13; s. auch Goeken (1925), S. 61. 1380 Preußisches Vereinsgesetz v. 11.3.1850, in: Preußische Gesetzes-Sammlung (1850), S. 277– 283. 1381 Zitiert nach Schweitzer (1905), S. 314, 315. Die „Zwecke des Gesellenhospitiums“ in Köln wurden folgendermaßen beschrieben: „a) als Herberge für die wandernden Mitglieder des katholischen Gesellenvereins zu dienen, b) Räumlichkeiten darzubieten zur geselligen und belehrenden Unterhaltung für die Mitglieder des Cölner katholischen Gesellenvereins während der Feierzeit, und c) den Unterricht in allen das Gewerbe betreffenden Gegenständen und Vorträge mit strengem Ausschluss jeder Politik und religiöser Polemik zu vermitteln. Die im Hospitium aufgenommenen Gesellen zahlen eine geringe Vergütung für Kost und Wohnung“; zitiert nach Schweitzer (1905), S. 315.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

überzeugenden Argumente verfingen bei dem protestantischen König und seiner Administration aber nicht: Die Rechtsfähigkeit blieb der großen Mehrheit der Kolpingvereine versagt.1382 Da nichtsdestoweniger aber Immobilien erworben und Herbergen errichtet werden sollten und deshalb jeweils ein rechtsfähiger Träger derselben vorhanden sein musste, blieb den vielen Bruderschaften, die keine Rechtsfähigkeit besaßen, nichts anderes übrig, als sich auf andere Weise zu helfen. Sie ließen den Präses oder eine andere Vertrauensperson als Eigentümer der Liegenschaften des Vereins eintragen. Dieser Notbehelf führte allerdings, sofern der Präses versetzt wurde oder plötzlich starb, zu allerlei Unannehmlichkeiten und Kosten.1383 Die Verweigerungshaltung des preußischen Staates gegenüber den katholischen Verbänden zeigte sich keineswegs nur in der Frage der Rechtsfähigkeit. Sie wurde ebenso gut auch in der Ablehnung jeglicher finanzieller Unterstützung sichtbar. Als Kolping der Regierung in Düsseldorf 1849 ausführlich die Bemühungen des Elberfelder Vereins um die Bildung der Handwerksjugend in der Stadt schilderte und um eine finanzielle Unterstützung für seine Aufgabe bat, wurde diese verweigert.1384 Und solche Zurücksetzung blieb kein Einzelfall: 1858 erklärte der Innenminister v. Flottwell, der 1846–1849 Oberpräsident in Westfalen gewesen war, es eigne die „an die katholische Kirche sich enger anschließende Organisation des katholischen Gesellen-Vereins-Wesens sich nicht dazu, dass die Staatsbehörden von derselben irgend in offizieller Weise Kenntnis zu nehmen hätten.“ Zugleich trug er den Regierungspräsidenten auf, „gefälligst dafür Sorge zu tragen, dass diesem Gesichtspunkt entgegen weder von der dasigen Königl. Regierung noch von der betreffenden Orts-Polizei-Behörde des Departements verfahren werde“.1385 Der Minister suchte demnach das für die zahlreichen Gesellen im überwiegend katholischen Westfalen außerordentlich hilfreiche und von der Unterstützung zahlreicher Bürger getragene Werk Kolpings durch die Nichtachtung der Obrigkeit gezielt zu beschädigen. Damit aber noch nicht genug: Die örtlichen Polizeibehörden wies er an, die neuen Vereine zu observieren. Zur Begründung nahm Flottwell keinen Anstand, auf 1382 1856 klagte der Kölner Abgeordnete Reichensperger im preußischen Abgeordnetenhaus darüber, dass dem katholischen Gesellenverein in Köln, obgleich er „Tausende von Mitgliedern“ zähle, die „Corporationsrechte“ versagt blieben, während man sich beeilt habe, dem „ganz kleinen sogenannten Jünglingsverein“ evangelischer Konfession in Bonn dieselben zu erteilen; so Protokoll der 41. Sitzung des Abgeordnetenhauses v. 14. März 1856, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1, fol. 107. Der Gewerbeminister von der Heydt erwiderte auf die Vorwürfe Reichenspergers, dass ihm die genannten Anträge des Kölner Gesellenvereins aus der Vergangenheit nicht bekannt seien. Zur Zeit prüfe das Innenministerium allerdings einen solchen. Er, von der Heydt, habe Anträge auf Geldunterstützung abgelehnt, da die Förderung der Gesellenvereine Aufgabe der Kommunen sei. „In einzelnen Fällen“ seien solche Unterstützungen aus Mitteln anderer Ressorts aber gezahlt worden. Im übrigen unterstütze die Regierung „die Bestrebungen der Gesellenvereine, soweit sie als wohlthätige anerkannt werden“. 1383 S. Schweitzer (1995), S. 336. 1384 So Franz (1922), S. 34. 1385 Schreiben des Innenministers v. Flottwell an den Regierungspräsidenten v. Möller zu Köln v. 13.10.1858 (Abschrift desselben an den Regierungspräsidenten in Arnsberg), in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515.

D. Das Wandern der Gesellen

335

deren die „Hebung des Handwerks und des Handwerkerstandes“ bezweckenden Grundsätze hinzuweisen. Da die Anliegen der katholischen Gesellenorganisationen „das gewerbliche Leben und das soziale Gebiet vielfach berühren“, beabsichtigten sie nach Flottwells Auffassung die „Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten im Sinne des § 2 des Gesetzes v. 11. März über das Vereins- und Versammlungsrecht“. Deshalb fänden die §§ 2 bis 7 des Versammlungsgesetzes und damit die in diesen Vorschriften normierten Aufsichtsbefugnisse der Polizei Anwendung. Die Ordnungskräfte sollten von diesen „den Umständen nach angemessenen Gebrauch … machen, und von den in der Vereinstätigkeit etwa hervortretenden bemerkenswerthen Erscheinungen eventuell Anzeige … machen“.1386 Teuteberg hat zu Recht festgestellt, dass die diskriminierende Behandlung der katholischen Kirche durch die Berliner Regierung, die sich nicht zuletzt auch in solchen Anordnungen zeigte, der schlimmste Fehler gewesen sei, den die Preußen in Westfalen begangen hätten. Die westfälischen Katholiken wurden in eine Abwehrhaltung gegenüber dem protestantischen Herrscherhaus – und damit gegenüber dem Staat – gedrängt. Diese konfessionellen Konflikte zeitigten auch Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben.1387 In der Abneigung der Obrigkeit gegenüber dem durch eine zutreffende Problemanalyse und ein überzeugendes Lösungskonzept hervorragenden Werk Kolpings fand allerdings mehr als ein Motiv seinen Ausdruck: Hier zeigte sich nicht allein die hinreichend bekannte Benachteiligung der Katholiken durch den preußischen Staat des 19. Jahrhunderts. Der Widerwille des Gesetzgebers gegen jedwede Form der Gesellenverbindung, welcher in dem Koalitionsverbot des ALR seinen Ausdruck gefunden hatte1388 und der – noch gänzlich unverändert – in dem sich explizit gegen Gesellenverbände, Gesellengerichte und Verrufserklärungen richtenden Bundestagsbeschluss vom 3. Dezember 18401389 fortwirkte, reichte durchaus so weit, dass Preußen auch das keineswegs wirtschaftlich-gewerkschaftliche Ziele verfolgende Werk Kolpings boykottierte und sogar zu sabotieren trachtete. Die damals geltende Koalitionsgesetzgebung suchte, um ein Diktum Gustav Schmollers aufzunehmen, eben „die Umgestaltung des Arbeiterrechts im Sinne ihrer Unterordnung unter Polizei, Meister und ruhigen Gang der Geschäfte“ zu erreichen,1390 und da galten selbst so wenig gegen die Meister wie den Staat gerichtete, ausschließlich philantropisch orientierte Initiativen wie die Kolpings als verdächtig. 1386 Wie Anm. 1385. Erstaunen konnte diese destruktive und – angesichts der drängenden sozialen Probleme skandalöse – Haltung des preußischen Innenministers die Westfalen allerdings nicht. Eduard Heinrich (v.) Flottwell hatte als Oberpräsident von Posen bei dem Versuch der Eindeutschung der Polen seit 1830 in scharfer Auseinandersetzung mit den dortigen Katholiken und insbesondere mit der Geistlichkeit gestanden. 1846 war er Oberpräsident von Westfalen geworden. Als Abgeordneter für Sachsen in der Frankfurter Nationalversammlung unterschrieb er den Antrag der Linken auf Beseitigung des Zölibats, was zu zahlreichen Protesten in Westfalen (s. Schulte (1954), S. 584, 585) und zu seiner Versetzung als Oberpräsident nach Ostpreußen führte. 1387 So Teuteberg (1984), S. 163–311 (301). 1388 Dort waren Arbeiterverbindungen zur Erzielung günstigerer Arbeitsbedingungen mit bis zu sechs Monaten Gefängnis und Prügelstrafe bedroht worden. 1389 S. dazu das Kap. „Das Koalitionsverbot“. 1390 Zitiert nach Franz (1922), S. 10.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Der ungewöhnliche Erfolg der Kolpingvereine – im Todesjahr des Initiators, 1865, zählte man bereits über 400 Ortsvereine mit etwa 24.000 Mitgliedern1391 – wurde naturgemäß schon von den Zeitgenossen wahrgenommen und durchaus anerkannt.1392 Es war eben nicht zu übersehen, dass die außerordentliche Vitalität des Werkes des rheinischen Kirchenmannes darauf gründete, dass nach der Desintegration der ständischen Gesellschaft ein Vakuum entstanden war, welches weder das Handwerk selbst noch der Staat zu füllen vermochten. Die Erkenntnis, dass die Kirche hier eine höchst wichtige Aufgabe gefunden, sie erfolgreich gelöst und so einen wesentlichen Teil der Jugend für sich eingenommen hatte, dürfte auch noch zu der Verfolgung der katholischen Kirche durch den eifersüchtigen preußischen Staat im sog. Kulturkampf beigetragen haben. bb. Das protestantische Herbergswesen Wegen der unleugbaren Gefahr der Verwahrlosung jedenfalls eines Teiles der wandernden Gesellen lag es nahe, dass auch von protestantischer Seite Initiativen ergriffen wurden, um die jungen Handwerker davor zu bewahren, sog. „wilde“ Herbergen aufzusuchen. Nach 1848 wurden durch die „Innere Mission“ und den Kirchentag einige Herbergen mit christlicher Ausrichtung geschaffen.1393 1854 – nur wenig später als Kolping also – gründete Prof. Perthes in Bonn die erste der „Herbergen zur Heimat“.1394 Im Unterschied zu den Häusern des Kolpingwerkes nahmen diese im protestantischen Geiste geführten Einrichtungen alle wandernden Gesellen auf, sofern ihre Papiere zu Beanstandungen keinen Anlass gaben. Zunächst allerdings fanden diese Herbergen nur geringe Verbreitung.1395 Das mag 1391 S. Rempe (1966), S. 40; die Angaben bei Dowe (1974), S. 74, treffen für die Gesellenvereine nicht zu. Auch Lenger räumt ein, daß der katholische Gesellenverein in Düsseldorf „weit“ erfolgreicher gewesen sei als „seine linksliberalen und sozialdemokratischen Konkurrenten“; s. Lenger (1986), S. 222. Er spricht gar von einem „ungeheueren Organisations- und Mobilisierungserfolg des Katholizismus“; so Lenger (1986), S. 227. 1392 In einem 1863 erschienenen Werk über Münster wurde mit Lob nicht gespart: „Dass die in ihrer Ausführung so überaus wohltätig und erfolgreich wirkende Idee des genannten edlen Mannes (Kolping) auch in dem gesitteten und frommgläubigen Münster einen fruchtbaren Boden finden musste, bedarf nicht erst der Erwähnung, und so blüht und gedeiht auch dort der Verein der jungen Leute vom Handwerk, und treibt und zeitigt alle die schönen, erfreulichen Blüthen und Früchte, die ihn als eine der besten Schöpfungen der Neuzeit überall erscheinen lassen …“; so Brückmann (1863), S. 176. 1393 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1857), S. 431. Zu den Anfängen der evangelisch-sozialen Bewegung vgl. Sellier (1998), S. 29 mit zahlreichen weiteren Nachw. 1394 Dazu ausführlich Perthes (1883), S. 79 ff.; vgl. auch Balser (1959), S. 214; Perthes’ Einrichtung in Bonn litt zunächst darunter, dass die in der Stadt arbeitenden Gesellen den Kontakt mit den „schmutzigen und oft von allerlei Anhängseln behafteten Wandergesellen“ mieden; s. Perthes (1883), S. 82. 1395 Tenfelde (1981), S. 253–274. Nichtsdestoweniger erwähnte der preußische Beamte Georg v. Viebahn in seiner wichtigen und verbreiteten „Statistik des nördlichen und zollvereinten Deutschland“ anerkennend das Werk des Prof. Perthes, während er den ungleich größeren Erfolg Kolpings und die schnelle Verbreitung seiner Herbergen gänzlich unbeachtet ließ. Einmal mehr zeigt sich hier die Benachteiligung der Katholiken und ihres Vereinswesens im Preußen des 19. Jahrhunderts; s. Viebahn (1868), S. 747.

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eine Folge der zurückhaltenden bzw. ausdrücklich ablehnenden Haltung protestantischer Geistlicher gegenüber dem Vereinswesen der Arbeiterschaft gewesen sein.1396 Erst seit den achtziger Jahren nahm die Zahl der „Herbergen zur Heimat“ zu. Um die Jahrhundertwende waren sie dann über ganz Deutschland verbreitet. Mancherorts in Westfalen wurde das Angebot dieser Häuser durch eigene kirchliche Initiativen ergänzt. Schon in den dreißiger Jahren waren einzelne protestantische „Jünglingsvereine“ entstanden. 1848 schlossen sie sich zum „RheinischWestfälischen Jünglingsbund“ zusammen. Da diese Vereinigungen aber keine Standesorganisationen waren und auch nicht die Förderung der beruflichen Bildung ihrer Mitglieder zum Ziele hatten, verband sie mit den Gesellenvereinen Adolf Kolpings vor allem der konfessionelle Charakter und das Anliegen, die Mitglieder vor sittlicher Verwahrlosung zu schützen.1397 Der Rheinisch-Westfälische Jünglingsbund hielt in einer Reihe von Orten Zimmer bereit, in welchen Vereinsmitglieder unentgeltlich übernachten konnten.1398 Insofern übernahm auch er Aufgaben, wie Kolping sie seinen Vereinen aufgetragen hatte. Aus dem Umstand, dass sich der in Dortmund bestehende Zusammenschluss ausdrücklich „Rheinisch-Westfälischer Jünglings- und Handwerkerverein“ nannte, sich also vorzugsweise der Gesellen annahm, kann ebenfalls geschlossen werden, dass dieser Verband in der aufstrebenden westfälischen Industriestadt Herbergsaufgaben wahrnahm.1399 Ganz im Gegensatz zu den katholischen Kolpingvereinen wurden die protestantischen Jünglingsvereine durch den preußischen Staat großzügig gefördert.1400 11. Die Gesundheitsfürsorge Zu den vielfältigen Erschwernissen des Wanderns zählte auch die seit Aufhebung der Zünfte in Westfalen gänzlich fehlende Obsorge der Gewerksgenossen für die kranken Wandergesellen.1401 a. Die Krätze Keineswegs waren es nur akute Erkrankungen, welche die – in aller Regel mittellosen – Wandergesellen in eine unsägliche Situation bringen konnten. Zahlreiche der jungen Handwerker plagten vielmehr inzwischen längst verschwundene, für die Lebensumstände der Gesellen des 19. Jahrhunderts aber typische, heutigen Berufskrankheiten nicht unähnliche Leiden. Viele der Wanderburschen waren mit der sog. 1396 S. dazu Krumwiede (1967), S. 147–184. Der Verband evangelischer Gesellenvereine wurde erst 1894 gegründet. 1397 Vgl. Franz (1914), S. 135. 1398 S. Perthes (1883), S. 45; auch in Berlin gab es damals bereits eine christliche Herberge für protestantische Gesellen; vgl. Perthes, a. a. O. Perthes forderte die Errichtung christlicher Herbergen, die allen wandernden Gesellen ohne Ansehen der Konfession offen stehen sollten. 1399 Der Verein lässt sich in Dortmund 1848–1854 nachweisen; s. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Rep. 202, Best. 202, B XIII 125, Bd. 2, S. 542. 1400 S. Franz (1922), S. 10. 1401 Zur Versorgung erkrankter Gesellen s. das Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

„Krätze“ infiziert, gegen die sie sich wegen der selbst einfachsten hygienischen Anforderungen Hohn sprechenden Zustände in den Herbergen kaum schützen konnten.1402 Eine solche Erkrankung vermochte die Wanderschaft nachhaltig zu beeinträchtigen oder sogar bald zu beenden. Der preußische Staat ergriff deshalb Maßnahmen, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern. 1818 hatte der preußische Polizeiminister Wittgenstein verordnet, dass von dem Leiden befallene Gesellen nicht länger nach Preußen einwandern durften. Seither sollten ausländischen Hilfskräften Eingangspässe an den Grenzen nur noch dann erteilt werden, wenn sie im Verdachtsfall von einem Chirurgen untersucht und als gesund befunden worden waren. Die bereits im Lande befindlichen infizierten Ausländer sollten „entweder auf dem Wege, auf dem sie eingewandert, zurück – oder mit Verschreibung eines nicht zu verlassenden Weges in ihre Heimat“ geschickt werden.1403 Für das ländliche Westfalen waren diese Bestimmungen allerdings wenig passend. Da sich im Münsterland nicht einmal in jedem Kreis ein sog. „Chirurgus forensis“ fand, erwies sich die in den Amtsblättern bekannt gemachte Regelung als kaum durchführbar, zumal man die zu untersuchenden Handwerksgesellen an der Grenze nicht bis zur Ankunft des Wundarztes „in einer Art Verwahrung halten“ könne, wie die Regierung Münster in zutreffender Einschätzung der Lage erklärte;1404 außerdem waren Mittel zur Bezahlung der Ärzte nicht vorhanden. Das Ministerium wies die Regierung aufgrund dieser Schilderung immerhin aber an, die Kosten aus ihrem Fonds zu erstatten.1405 Schon wenig später erkannte man zudem, dass die 1818 erlassene Bestimmung, wonach von der Krätze befallene ausländische Gesellen, welche bereits weit auf preußisches Gebiet gewandert waren, wieder über die Grenze abgeschoben werden sollten, eine neue Gefahrenquelle eröffnete. Denn jeder Rücktransport bedeutete eine ernsthafte Ansteckungsgefahr für eine Vielzahl anderer Handwerksburschen. Deshalb wurde 1822 bestimmt, dass von der Krankheit befallene Gesellen künftig dort behandelt und kuriert werden mussten, wo das Leiden diagnostiziert worden war. Unversorgt zurückgewiesen werden durften erkrankte Gesellen seither nur noch vor der Einreise, also unmittelbar an der preußischen Grenze.1406 Die Vorschriften wurden in der Regel aber nicht beachtet.1407 Daher sah sich die Regierung in Minden 1828 genötigt, die Verordnung aus dem Jahre 1818 in

1402 Bei diesem Leiden handelte es sich um eine durch die sog. „Krätzmilbe“ hervorgerufene Hautkrankheit, die nicht nur durch Kontaktinfektion von Mensch zu Mensch, sondern auch durch von Milben befallene Bettwäsche oder Kleidungsstücke übertragen wird. 1403 Schreiben des Polizeiministers Fürst Wittgenstein an die Reg. Münster v. 14.7.1818, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 4; s. auch Amtsbl. Reg. Münster 1822, S. 361. 1404 Schreiben der Reg. Münster an das Polizeiministerium v. 8.9.1818, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 5. 1405 Schreiben des Polizeiministers an die Reg. Münster v. 19.9.1818, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 6. 1406 S. Amtsbl. Reg. Arnsberg 1822, S. 256, 257; Amtsbl. Reg. Münster 1822, S. 186. 1407 S. Verfügung des Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten v. 15.6.1819, in: Amtsbl. Reg. Minden, Minden 1819, S. 298.

D. Das Wandern der Gesellen

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modifizierter Weise erneut einzuschärfen:1408 Die aus dem Ausland zugereisten, an Krätze erkrankten Gesellen sollten nunmehr wieder über die Grenze abgeschoben werden, es sei denn, sie waren bereits weiter als 6 Meilen auf das Gebiet der preußischen Monarchie eingewandert. Für die inländischen Hilfskräfte verbot sich, wie man inzwischen bemerkt hatte, die Lösung des Problems durch bloßes Wegschicken der Kranken: § 355 Tit. 8 T. 11 des ALR untersagte nämlich das Fortschaffen erkrankter Handwerksburschen vor ihrer Genesung – eine Unsitte, welche im 18. Jahrhundert noch durchaus gewöhnlich gewesen war. Dass „Krätzige“ zu den Kranken zu zählen seien, konnte – und wollte – man nun nicht länger bestreiten. Sie sollten deshalb, wie nochmals betont wurde, an dem Aufenthaltsort, an welchem das Leiden festgestellt worden war, geheilt werden. Um diesen Vorschriften zum Erfolg zu verhelfen, wurde gleichzeitig angeordnet, dass die „Altgesellen der Gewerke“ sowie die Herbergswirte ihnen bekannt gewordene Erkrankungsfälle sofort der Polizeibehörde zu melden hatten.1409 Dadurch sollten die Betroffenen vor weiteren gesundheitlichen Gefahren geschützt und die Verbreitung der Krätze und anderer ansteckender Krankheiten möglichst verhindert werden. Bezeichnend für die Ignoranz der Berliner Bürokratie im Umgang mit der rechtlichen Sondersituation Westfalens war, dass in diesem wie den anderen offenkundig vom Ministerium vorgegebenen Rechtstexten wie selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass die Gesellen im gesamten Preußen funktionsfähige, den Usancen des Alten Handwerks entsprechende Organisationen besäßen. Die Berliner Beamten ließen einmal mehr außer acht, dass Gesellenverbände im zunftlosen Westfalen damals noch fehlten und erst allmählich wieder neu entstanden.1410 Auch diesen Vorschriften des Jahres 1828 blieb daher aber die Beachtung weitgehend versagt, wie die Mindener Regierung schon 1829 klagte.1411 Sie sah sich deshalb veranlasst, für den Fall des Verstoßes „empfindliche Ahndung“ in Aussicht zu stellen. Im Münsterland standen die Dinge nicht besser. In der Provinzialhauptstadt drängten sich die an der Krätze erkrankten Gesellen, welche eigens dorthin gewandert waren, weil sie sich in der über reiche Armenstiftungen verfügenden Stadt zu Recht bessere Heilungschancen als anderwärts versprachen. Die münsterische Regierung sah in diesem Umstand durchaus zutreffend ein Indiz dafür, dass die loka1408 So Verordnung der Reg. Minden v. 5.12.1828, in: Amtsbl. der Reg. Minden 1828, S. 461 sowie Amtsbl. Reg. Minden 1837, S. 174; STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 36. Verstöße gegen die Verordnung sollten durch Auferlegung der Kur- und Verpflegungskosten der eingewanderten erkrankten Gesellen sowie durch „nachdrückliche Ordnungsstrafen“ geahndet werden. 1409 So Verordnung v. 19.2.1828, in: Amtsbl. Reg. Minden 1828, S. 89. 1410 In Ostelbien dagegen lebten die Gesellenverbände ebenso wie die Zünfte der Meister fort: „Bei den meisten Gewerken wenigstens hält ein gemeinsamer Verband sämtlicher Gesellen immer noch zusammen, und macht es ihnen möglich, gemeinnützige Zwecke zu erreichen, wie z. B. die Vertheilung von Kranken-Unterstützungen, Reise-Geschenksgeldern …“, schrieb ein gewisser Carl Knoblau in seinen „Vorschlägen zu einer neuen Gewerbeordnung der Stände der Mark Brandenburg und des Markgraftums Niederlausitz v. 10.10.1824, in: Stadtarchiv Lippstadt Nr. 2971. 1411 S. Verordnung v. 8.2.1829, in: Amtsbl. Reg. Minden 1829, S. 23, 55; desgl. Verordnung v. 15.2.1833, in: Amtsbl. Reg. Minden 1833, S. 57.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

len Polizeibehörden die vorgeschriebenen Kontrollen der Gesellen nicht durchführten.1412 Auch sie schärfte deshalb im März 1829 die diesbezüglichen Bestimmungen erneut ein. Die Wirte sollten bei „unbekannten Fußreisenden“ nicht allein die Pässe verlangen und der Polizeibehörde vorlegen; ihnen wurde zudem aufgegeben, der Verwaltung die an Krätze erkrankten Gesellen zu melden und sie sogleich an Ort und Stelle behandeln zu lassen. Da die Heilungskosten der zumeist mittellosen Wandergesellen der Gemeindekasse auferlegt wurden, verpflichtete die münsterische Regierung die örtlichen Polizeibehörden, in jedem einzelnen dieser Fälle einen Bericht zu verfassen. Der Nachweis sollte dem Zweck dienen, die Kur- und Verpflegungskosten für den Rekonvaleszenten ggf. bei jener Behörde eintreiben zu können, die den bereits erkrankten Gesellen vorschriftswidrig hatte weiterreisen lassen, um Kosten zu sparen. Schon im Juni 1829 sah sich aber auch die Münsteraner Regierung genötigt, ihre früheren Erlasse zum Umgang mit den an der Krätze erkrankten Gesellen zu erneuern.1413 Die Vorschriften belegen erstaunlich Widersprüchliches: In der Sache selbst lassen sie durchaus Fortschritt, bis dahin so nicht gekannte Sorge um die Gesundheit der Gesellen erkennen. In der Form, der Gesetzgebungstechnik hingegen erscheinen sie ganz rückwärtsgewandt: Wie im 18. Jahrhundert glaubten Gesetzgeber und Verwaltung in Preußen auch noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die administrative Unzulänglichkeit durch andauernde Wiederholung bestehender Vorschriften ausgleichen zu können. Das gebetsmühlenartige Ceterum censeo der Erlasse fruchtete dauerhaft aber nichts. Zu Beginn des Jahres 1839 klagte man im Münsterland erneut über eine ungewöhnliche Ausbreitung der unter den Gesellen notorischen Krankheit. Allein im Monat Januar dieses Jahres wanderten in die Provinzialhauptstadt nicht weniger als 16 „Krätzige“ zu, die sich dort kurieren lassen wollten. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Bekanntmachungen der Jahre 1818, 1822 und 1828 wies die Regierung deshalb nochmals auf das geltende Recht hin, nicht ohne eigens zu betonen, dass die aus dem Ausland eingereisten und infizierten Handwerksburschen, sofern sie noch nicht weiter als 6 Meilen in das preußische Staatsgebiet eingewandert waren, „ohne weiteres“ über die Grenze zurückzuschicken seien.1414 Eine Verringerung der Erkrankungen brachte natürlich auch dieses neuerliche Einschärfen der Vorschriften nicht. Bis Ende April 1839, in nur 4 Monaten also, zählte man schon 43 Gesellen, die in Münster von ihrer Krankheit geheilt werden konnten.1415 Einmal mehr bestätigte sich, dass die Wanderer die Stadt gerade wegen der vergleichsweise guten medizinischen Versorgung aufsuchten – was die dortige Kommunalkasse allerdings vor finanzielle Probleme stellte. Da das Regierungspräsidium nach seinen wiederholten, aber gescheiterten Bemühungen keine Möglichkeit mehr sah, die Zuwanderung Erkrankter – und die daraus resultierenden Kosten – auf dem Verordnungswege zu reduzieren, regte es bei der Münsteraner Stadtverwaltung an, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Grenzpolizei den Gesellen ggf. 1412 1413 1414 1415

Verordnung v. 28.3.1829, in: Amtsbl. Reg. Münster 1829, S. 157, 158. Bekanntmachung in: Amtsbl. Reg. Münster 1829, S. 251. Bekanntmachung v. 25.2.1839, in: Amtsbl. Reg. Münster 1839, S. 98. Zeitungsbericht der Stadt Münster für April 1839, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 100.

D. Das Wandern der Gesellen

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unter Verletzung der entsprechenden Vorschriften nach Preußen hatte einwandern lassen.1416 Dass diese Maßnahme alsbald eine Verringerung der dem städtischen Haushalt auferlegten Heil- und Pflegekosten in der Provinzialhauptstadt zur Folge hatte, darf füglich bezweifelt werden. Trotz des so signifikanten Scheiterns der administrativen Bemühungen begann aber seit den vierziger Jahren die Krätze als spezifische Krankheit der eine geordnete Häuslichkeit entbehrenden wandernden Gesellen allmählich ihre Schrecken zu verlieren. Dies war allenfalls mittelbar den immer wiederholten Vorschriften zu danken. Wichtiger dürfte gewesen sein, dass die sich verbreitende Aufklärung über Gesundheitspflege Wirkung zeigte und die hygienischen Zustände in den Herbergen, Gasthöfen und sonstigen Unterkünften sich verbessert hatten; damit verringerte sich auch die Gefahr der Ansteckung. Die Handwerker begannen jetzt auch selbst, aktiv auf eine Hebung ihrer Lebensumstände hinzuwirken. Als 1840 das Iserlohner Schneidergewerk einen Vertrag mit dem Herbergsvater schloss und dessen Rechte und Pflichten genau definierte, fehlten auch Vorschriften über die Einhaltung gewisser Hygienestandards in dem Gasthaus nicht. Der Wirt wurde – unter ausdrücklichem Hinweis auf die Vermeidung ansteckender Krankheiten – verpflichtet, jeden durchreisenden Schneidergesellen bei seiner Ankunft zunächst auf offenkundige körperliche Beeinträchtigungen zu untersuchen. Den Gesunden hatte er ein „reinliches Bett“, den „Unreinen“, also den an der Krätze Erkrankten, lediglich ein Strohlager zur Verfügung zu stellen.1417 Man war inzwischen also allgemein über die Infektionswege dieser Krankheit informiert. Merkwürdigerweise wurde die Krätze von den Handwerkern selbst nicht als gewöhnliche Krankheit betrachtet. In Iserlohn verpflichtete das Schneidergewerk den Herbergsvater zwar, mit der Krätze behaftete Gesellen, deren Krankheit nach dem Dafürhalten des behandelnden Arztes nicht im Hause der Meister kuriert werden konnte, in der Herberge aufzunehmen. Die Heilungskosten trug die Gesellenlade aber nicht. Ausdrücklich nämlich wurden diejenigen Gesellen von der Leistungspflicht der Kasse ausgenommen, „welche mit der Krätze oder ähnlichen Krankheiten durch ein schlechtes Betragen eine ansteckende Krankheit sich zugezogen haben“,1418 wie es in der unbeholfenen Diktion der Gesellen hieß. Die Krätze wurde demnach wie eine venerische Krankheit stigmatisiert und auf eigenes Verschulden zurückgeführt. Mit dieser diskriminierenden Regelung sollte vermutlich – wenngleich in sehr grober Weise – auf eine Verbesserung der Hygiene unter den Gesellen hingewirkt werden. Vor allem aber wollten Meister und Gesellen ihre Lade vor den hohen Kosten, welche die Heilung der zahlreichen an dieser Krankheit leidenden Hilfskräfte notwendig verursachen musste, schützen.

1416 Schreiben der Reg. Münster an den Oberbürgermeister der Stadt Münster v. 11.5.1839, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 100. 1417 Vertrag vom 20.3.1840, in: Stadtarchiv Soest Akten Abt. B XIX g 9. 1418 Wie Anm. 1417.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

b. Blattern und Cholera Keineswegs jedoch ging es bei den Vorschriften zur Bekämpfung der typischen Krankheiten wandernder Gesellen allein um die Krätze. Die Aufmerksamkeit, welche Ministerium und Verwaltung dem Gesundheitszustand der Gesellen widmeten, unterschied die Gewerbegehilfen durchaus von anderen Schichten der Bevölkerung. Die stets wiederholte Klage über die mangelnde Beaufsichtigung der mobilen Gesellen durch die Lokalbehörden hatte nicht zuletzt in der durchaus zutreffenden Vermutung ihre Ursache, dass die Wanderburschen zu den potentiellen Überträgern von Seuchen zählten. 1829 klagte die Reg. Minden, dass in die Grenzorte die sog. Blattern, heute unter dem Namen „Pocken“ bekannt, durch ausländische Handwerksburschen eingeschleppt worden seien. Das Polizeiministerium bemerkte daraufhin, dass man anderwärts ähnliche Erfahrungen mit dieser Krankheit, die endemisch oder als Epidemie mit schneller, seuchenartiger Ausbreitung und hoher Sterblichkeit auftrat, gemacht habe.1419 Den Handwerksgesellen sollten deshalb Pässe zur Wanderschaft nur noch dann erteilt werden, wenn sie nachweisen konnten, dass sie eine Blattern-Infektion überstanden hatten oder gegen diese Krankheit geimpft worden waren. Ausländischen Gesellen wollte der Innenminister die Einreise nach Preußen versagen, wenn sie die Blattern-Prophylaxe nicht nachweisen konnten.1420 Bezeichnenderweise sollten die Maßregeln aber nur auf Handwerksgesellen beschränkt werden.1421 Der Gewerbeminister erachtete gesonderte Bestimmungen allein für diesen Personenkreis jedoch als ebenso ungerechtfertigt wie undurchführbar.1422 Solche Maßnahmen allein gegen Handwerksgesellen zu richten wäre in der Tat sinnlos gewesen. Denn die westlichen Provinzen Preußens zogen damals bereits arbeitsuchende Tagelöhner aus den benachbarten Ländern Hessen, Lippe, Waldeck und sogar aus den Niederlanden an.1423 Wegen des Dissenses sah der Innen- und Polizeiminister schließlich vom Erlass einer entsprechenden Verordnung ab.1424 Immerhin dürften die Bemühungen der Berliner Ministerialbürokratie um die Bekämpfung der Pocken aber manchen Gesellen für die Gesundheitsgefahren, welche mit der Wanderschaft verbunden waren, sensibilisiert haben. So bestimmten die Iserlohner Schneidergesellen 1840 ausdrücklich, dass ihre Lade für die Heil- und Pflegekosten der an „natürlichen Menschenblattern“ Erkrankten aufzukommen habe.1425 1419 S. Schreiben des Innen- und Polizeiministers v. Brenn an den Gewerbe- und Handelsminister v. Schuckmann v. 18.2.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1. 1420 Schreiben des Innen- und Polizeiministers v. Brenn an den Gewerbe- und Handelsminister v. Schuckmann v. 31.3.1831, in:GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 215. 1421 Schreiben des Innenministers v. Brenn an den Gewerbeminister v. Schuckmann v. 31.3.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 215. 1422 Antwort des Gewerbeministers v. Schuckmann an den Innenminister v. Brenn v. 15.4.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 216. 1423 Schreiben v. 14.3.1831, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 212. 1424 GStA7PK, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1, fol. 218. 1425 Vertrag v. 20.3.1840, in: Stadtarchiv Soest Akten Abt. B XIX g 9; noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die Pocken in Europa endemisch verbreitet; 1871 bis 1873 wurden in Deutschland 175.000 Fälle mit mehr als 100.000 Todesopfern registriert.

D. Das Wandern der Gesellen

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Zu den Seuchen, deren Verbreitung man ebenfalls mit den Wanderburschen in Zusammenhang brachte, zählte auch die Cholera. 1832 untersagten deshalb gleich mehrere Staaten das Einwandern ausländischer Gesellen, um das Einschleppen dieser Epidemie zu verhindern. Daraufhin stellte die preußische Regierung Überlegungen an, ihrerseits die Zuwanderung von Gewerbegehilfen aus den Ländern mit Verbotsregelungen nach Preußen zu verbieten.1426 Zu solchen Maßnahmen kam es aber nicht. c. Die Krankheitskosten Die Meister waren seit der Aufhebung der Zünfte nicht mehr zum Unterhalt erkrankter Gewerksangehöriger verpflichtet und weigerten sich demgemäss zu zahlen; dasselbe galt aber auch für die Ortsarmenkassen, da die Kommunen davon ausgingen, dass Reisende für ihren Unterhalt selbst aufkommen müssten.1427 Wiederholt wurde dieser Missstand im Gewerbedepartement und auch im Innenministerium in Berlin diskutiert, ohne dass eine Lösung gefunden werden konnte. 1817 kündigte das Gewerbeministerium an, das Problem im Rahmen einer neuen Gewerbeordnung beheben zu wollen.1428 Die entsprechende Regelung ließ aber auf sich warten.1429 Als man in Berlin endlich zu der Überzeugung gelangt war, dass die bisherigen unhaltbaren Zustände nicht bis zu dem in weite Ferne gerückten Erlass eines Gesetzes fortdauern könnten, bestimmte das Innenministerium 1824, dass die Kur- und Verpflegungskosten für einen erkrankten auswärtigen Handwerksgesellen künftig gemäß § 353, 354 Tit. 8, T. II des ALR von der Armen- bzw. Gemeindekasse des Ortes, an dem sich der Erkrankte aufhielt, zu tragen seien.1430 Für Ausländer galt diese Regelung aber nicht. Um den daraus resultierenden Missständen abzuhel1426 Schreiben v. 6.2.1832, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 6. Zur Bekämpfung der Cholera in Preußen vgl. Frevert (1984), S. 128–135. Sie erklärt die Geschichte der Cholera gar zu einer „Geschichte der Klassenbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Begüterten zunehmend von den unbemittelten „kranken“ Bevölkerungsschichten bedroht fühlten“; s. Frevert, a. a. O., S. 128. 1427 S. z. B. Schreiben v. 7.3.1823, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 34. 1428 Schreiben des Gewerbeministeriums an den Innenminister v. Schuckmann v. 9.10.1817, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 6; zu polizeilichen Maßregeln zur Verhütung der Verbreitung der Krätze s. schon Amtsbl. der Reg. Arnsberg v. 26.10.1818; desgl. Amtsbl. Reg. Münster 1822, S. 186. 1429 Vgl. Schreiben des Innenministers v. Schuckmann an den Gewerbeminister v. Bülow v. 17.11.1820, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 16. 1430 Verordnung des Ministeriums des Innern v. 20.2.1824, in: Amtsbl. Reg. Münster 1824, S. 118. Schon Ende des 18. Jahrhunderts kam es nicht selten vor, dass auf der Wanderschaft erkrankte Handwerksgesellen „ohne Rücksicht auf ihren elenden Zustand, blos um ihrer Cur und Verpflegung entledigt zu werden, von Ort zu Ort bis zu ihrer Heimath auf den Transport“ geschickt wurden; hier zitiert nach Frevert (1984), S. 157. Dagegen wandte sich eine Verfügung des preußischen Königs aus dem Jahre 1783, der die Instanzen des Aufenthaltsortes verpflichtete, die Verpflegungs- und Genesungskosten zu tragen; so „Kgl. Preußische Verordnung, wie es mit der Cur und Verpflegung der auf der Wanderschaft oder in Werkstätten krank werdenden Handwerksgesellen gehalten wurden soll, vom 07.01.1783“, in: Beyträge … (1790), S. 102–105.

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fen, schlug der zuständige Beamte des Ministeriums 1830 vor, die Gemeinden auch zur Unterstützung erkrankter oder aus sonstigen Gründen hilfsbedürftiger wandernder Gesellen aus dem Ausland zu verpflichten. Die Kommunen sollten dann, um sich die notwendigen Mittel zu verschaffen, die Gehilfen beschäftigenden Gewerbetreibenden anteilig zu Beiträgen zur Ortsarmenkasse heranziehen. Dieser Lösungsansatz wurde aber nicht realisiert, so dass die ausländischen Gesellen noch Jahrzehnte auf eine adäquate Regelung warten mussten.1431 All dies zeigt, dass die offenbaren gesundheitlichen Probleme vieler der wandernden Gesellen durchaus thematisiert und jedenfalls in Ansätzen Maßnahmen zur Verbesserung ihrer unerfreulichen Lebensumstände ergriffen wurden. Auch die Stadtverwaltungen standen nicht länger abseits. 1851 verlangte der Dortmunder Magistrat von den Bauhandwerksmeistern der Stadt eine Namensliste der bei ihnen beschäftigten Hilfskräfte, um diese in der Herberge ärztlich untersuchen lassen zu können.1432 Seit ihrer Gründung nach der Jahrhundertmitte nahmen sich vor allem aber die zahlreichen katholischen Gesellenvereine in den westfälischen Städten der Krankenversorgung ihrer wandernden bzw. von auswärts stammenden Mitglieder an. Zu den Zielen dieser Bünde gehörte von Anfang an die Errichtung eigener Krankenkassen.1433 Damit übernahmen die kirchlicherseits initiierten Assoziationen eine Aufgabe von elementarer Bedeutung, welcher schon die Gesellenladen des Alten Handwerks – wenngleich in unzureichender Weise – zu genügen gesucht hatten. Etwa gleichzeitig, Anfang der fünfziger Jahre, stellte auch der preußische Staat neuerlich Überlegungen an, wie das seit unvordenklichen Zeiten schwärende Problem der Unterhalts- und Heilungskosten für die in der Fremde erkrankten Handwerksgesellen zu lösen sei. Für Inländer gab es damals bereits seit langem entsprechende Regelungen, doch schon bei Wanderungen ins benachbarte, deutsche „Ausland“ waren die Gesellen noch immer schutzlos; wegen der noch immer unverändert großen Gesundheitsgefahren gingen die jungen Handwerker mit ihren Reisen wie eh und je beträchtliche Risiken ein. 1853 traf Preußen deshalb endlich eine Übereinkunft mit den anderen Bundesstaaten, in der sich die vertragschließenden Parteien gegenseitig zur Übernahme der Verpflegungskosten erkrankter Staatsbürger verpflichteten.1434 Die Vielzahl dieser Initiativen und Bemühungen, so schwerfällig und wenig ertragreich sie im Einzelfall auch gewesen sein mögen, belegen doch eines: Der Wille zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Gesellen war in der Zeit 1431 Zu der endlich im Jahre 1853 für diesen Personenkreis gefundenen Regelung s. u., Anm. 1434. 1432 Winterfeld, in Stadtarchiv Dortmund, Rep. 202, Best. 202, B XIII 125, Bd. 3, S. 561; Winterfeld vermutete allerdings, dass es dem Magistrat mit dieser Maßnahme vor allem um die politische Überwachung der Gesellen gegangen sei. 1433 S. Brüll (1900), S. 200; zum Kassenwesen der Gesellen s. ausführlich das Kap. „Die soziale Sicherung der Gesellen“. Die institutionalisierte Unterstützung und Krankenversorgung von Fremden ist als „Spannungs- und Konfliktlösung“ beschrieben worden, welche den sozialen Zusammenhalt und die Gruppenidentität zu fördern geeignet gewesen sei; s. Elkar (1988), S. 371–386 (378). 1434 Vertrag zwischen Preußen und mehreren anderen deutschen Staaten wegen der Verpflegung erkrankter und der Beerdigung verstorbener Angehöriger eines anderen kontrahierenden Staates v. 11.7.1853, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, tit. 307 Nr. 6 Bd. 1, fol. 28–29 RS.

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der Frühindustrialisierung vorhanden, und längerfristig blieb den Anstrengungen, die Staat und Gesellschaft auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge unternahmen, der Erfolg auch nicht versagt. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts verschwanden die Klagen über den unzureichenden Gesundheitszustand der wandernden Gesellen aus den Vorschriften und Verwaltungsakten. Die Jeremiade über die unsäglichen Lebensumstände der „handarbeitenden Klassen“, welche auch die neuere Literatur zur Geschichte der Arbeiterbewegung prägt, beruht, bei aller Anerkennung der zutreffenden und gebotenen Kritik an der bedrückenden wirtschaftlichen und sozialen Lage der Unterschichten im 19. Jahrhundert, doch auch auf einseitiger Quellenauswahl.1435 Schon das marginale Beispiel der Gesundheitsfürsorge für die Wanderburschen zeigt, wie sehr sich die Verhältnisse um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Vergleich zu denjenigen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Besseren zu wenden begonnen hatten. 12. Die Militärdienstpflicht der Wandergesellen Die Einführung der Konskription der Militärdienstpflichtigen in Westfalen durch die französische Fremdherrschaft tangierte den Wanderbrauch empfindlich. Das Wandern wurde in den Rheinbundstaaten teilweise sehr erschwert und, wenn die Reise ins Ausland gehen sollte, nicht selten sogar verboten.1436 Nach der Restituierung ihrer Herrschaft führten die Preußen die allgemeine Wehrpflicht auch in der wieder- bzw. – in Teilen – neugewonnenen Provinz Westfalen dauerhaft ein, so dass die Militärzeit seither auch die Ausbildungsjahre des dortigen Handwerkernachwuchses zerschnitt. Daraus resultierten für die Betroffenen naturgemäß zahlreiche Probleme. Aus Herbergsbüchern lässt sich entnehmen, dass sich die Gesellen zumeist im Alter zwischen 18 und 22 Jahren auf der Walz befanden.1437 Gerade in diesen Jahren aber waren sie der seitens des preußischen Staates 1435 Schon Frevert hat auf die „gespaltene Wahrnehmung“ der Debattierenden in der PauperismusDiskussion des Vormärz hingewiesen; s. Frevert (1984), S. 124. Vermutlich hatte sich die Einkommenssituation der Unterschichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich verschlechtert (s. dazu Conze (1973), S. 115 und Abel (1966)). Doch dürfte auch zutreffen, was der Breslauer Arzt Grätzer 1854 schrieb: „Nicht Breslau allein birgt ein großes hilfsbedürftiges Proletariat in sich, und nicht die neue Zeit hat es zu Tage gefördert. Auch die alte Zeit hat ein Proletariat, und welches! – gehabt, nur, daß das unsrige neben dem allgemeiner gewordenen Wohlstande einen um so traurigeren Eindruck macht, und daß unsere Zeit ihren Blick auch von dem Traurigsten nicht abwendet, sondern nach hilfebringenden Mitteln sucht“ (J. Grätzer, Beiträge zur Bevölkerungs-, Armen-, Krankheits- und Sterblichkeits-Statistik der Stadt Breslau, Breslau 1854, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 124.) Ebenso sah es der preußische Oberrregierungsrat Hoffmann: „So erscheint uns das Elend der unteren Volksklassen jetzt drückender, als in früheren Zeiten, wo das Loos derselben zwar mehrentheils viel härter, aber die Neigung es billig zu würdigen, auch viel geringer war (Hoffmann, Bemerkungen über die Ursachen der entsittlichenden Dürftigkeit oder des sogenannten Pauperismus, in : Medicinische Zeitung, Jg. 14, 1845, S. 241, zitiert nach Frevert (1984), S. 368. 1436 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 395. 1437 Älter als 33 Jahre war kaum mehr einer der Wanderer. Die 1.276 Einträge im Bamberger Herbergsbuch vermitteln folgendes Bild: 13jährige: 5; 14jährige: 14; 15- bis 19jährige: 326;

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als sakrosankt erachteten Militärdienstpflicht unterworfen und damit ihrer Bewegungsfreiheit beraubt. Von Anfang an machte die den Westfalen oktroyierte Staatsgewalt kein Hehl aus ihrer Entschlossenheit, auch die Gewerbsgehilfen nicht entkommen zu lassen. Schon am 15. Oktober 1816, also kurz nach Errichtung der neuen preußischen Provinz, erließ das Kriegsministerium eine Zirkularverfügung,1438 um zu verhindern, dass sich der Handwerkernachwuchs unter Ausnutzung der Mobilität, die der Wanderschaft nun einmal eigentümlich war, der Dienstpflicht entzog.1439 Insbesondere sollte die Ausgabe von Pässen an diesen Personenkreis streng begrenzt werden. Junge Männer unter 20 Jahren erhielten nur dann ein solches Dokument, wenn die ausstellende Behörde sicher sein konnte, dass die Inhaber ihrer Militärpflicht nachkamen. Bestanden hieran Zweifel, musste die Rückkehr durch vorherige „vollständige Sicherheitsgewährung“ gewährleistet werden. In der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren wurden nur denjenigen Gesellen Pässe ausgehändigt, welche der Militärpflicht entweder bereits genügt hatten oder die als untauglich befunden worden waren. Dasselbe galt selbst noch für jene, die das 25. Lebensjahr bereits überschritten hatten. Angehörige letzteren Personenkreises wurden immerhin insofern etwas großzügiger behandelt, als ihnen auch noch dann ein Pass erteilt werden konnte, wenn sie bei der Aushebung lediglich aus gesetzlichen Gründen nicht eingezogen worden waren. Natürlich war nicht zu bestreiten, dass das Wandern so vieler Gesellen die Rekrutierung von Soldaten im Kriegsfall behindern musste. Deshalb versuchten die Militärs, Wert und Notwendigkeit der Gesellenwanderung grundsätzlich anzuzweifeln.1440 Zwar erreichten sie nicht deren Verbot, setzten aber doch die Regelung durch, dass die Kontrolle der Wandergesellen nicht den örtlichen Polizeibehörden, sondern der Militärverwaltung überantwortet wurde: Jungen Handwerkern zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr, die den Militärdienst noch nicht absolviert hatten, durften Wanderpässe allein mit ausdrücklicher Genehmigung „der permanenten Mitglieder der Kreis-Ersatz-Commissionen“ ausgestellt werden. Die Papiere besaßen nur dann Gültigkeit, wenn sie mit dem Visum eben dieser Behörde versehen waren. Wurde ein Wandergeselle ohne solches Visum oder nach Ablauf der ausweislich des Passes bewilligten Wanderzeit auf der Wanderschaft angetroffen, zog die Militärverwaltung ihn ohne Pardon an jenem Ort, an welchem man ihn aufgegriffen hatte, zum Militärdienst ein. Dass solche rigiden Bestimmungen die Mobilität vor allem all jener rheinischen und westfälischen Gesellen, die über den Heimatbereich hinausstrebten, 20- bis 24jährige: 547; 25- bis 29jährige: 204; 30- bis 34jährige: 79; 35- bis 39jährige: 32; 40- bis 44jährige: 18; 45- bis 49jährige: 15; 50- bis 54jährige: 14; 55- bis 59jährige: 15; 60- bis 64jährige: 7; s. Elkar (1984), S. 270. 1438 S. STAM, Reg. Münster Nr. 4144, fol. 24. 1439 Solche Regelungen waren durchaus zeittypisch. Selbst in jenen Ländern, in welchen mit dem Zunftzwang auch die Wanderpflicht fortbestand, wurde diese aus Rücksicht auf die Militärdienstpflicht eingeschränkt. So bestimmte das Königreich Württemberg 1819, dass nur solche Gesellen außer Landes wandern durften, welche entweder der Militärpflicht bereits genügt hatten oder aber dazu untauglich waren; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 403. 1440 Hellwag (1924), S. 159, 160.

D. Das Wandern der Gesellen

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nachhaltig zu beeinträchtigen geeignet waren, liegt auf der Hand. Denn die neuen preußischen Provinzen wurden damals, als die Monarchie noch kein zusammenhängendes Staatsgebiet bildete, sowohl im Norden als auch im Osten und Süden von anderen Territorien umschlossen. Rheinländer und Westfalen waren deshalb in ihrer Bewegungsfreiheit weitaus stärker eingeschränkt als die Handwerker der mittleren oder östlichen Provinzen. Wie schwierig es für einen jungen Westfalen geworden war, eine weitere als die übliche Nahwanderung anzutreten, zeigt der Fall des Bäckergesellen Franz Peter Heinrich Bövingloh. Als der 19jährige aus dem ländlichen Lamberti-Kirchspiel bei Münster 1826 einen Reisepass beantragte, um nach Kassel und Leipzig zu wandern und sich dort in seinem Berufe zu vervollkommnen, fragte der zuständige Landrat zunächst bei der Münsteraner Regierung nach, ob das Papier erteilt werden könne, obgleich der junge Mann weder Eltern noch Vermögen habe1441 – eine Gewähr für die Rückkehr demnach nicht bestehe. Die vorgesetzte Behörde erwies sich in diesem Falle allerdings als einsichtig: Zwar könne dem Antragsteller wegen der Dienstpflicht eigentlich kein Reisepass ins Ausland ausgestellt werden. Um die weitere Ausbildung des Gesellen aber nicht zu behindern, solle der Pass dennoch ausgehändigt werden. Dies geschah allerdings nur unter bestimmten Bedingungen: Bövingloh hatte zu versprechen, im Mai 1828 nach Münster zurückzukehren und sich der Kreis-Ersatz-Commission zu stellen. Seinem Onkel musste er „von Zeit zu Zeit“ über seinen Aufenthalt Nachricht geben. Falls er diese Auflagen nicht erfülle, werde er, so bedeutete man ihm, nach seiner Rückkehr als „ungehorsam Ausgetretener“ betrachtet und ein Verfahren nach ALR T. II, Tit. 10 §§ 49 und 50 sowie ALR T. II, Tit. 20 §§ 469–471 gegen ihn eingeleitet. Wie verlangt, gelobte der junge Mann „handschlags“, die ihm auferlegten Bedingungen zu erfüllen. In gleicher Weise verpflichtete sich sein Onkel, der Behörde Anzeige zu erstatten, sofern Bövingloh den Forderungen der Behörde nicht nachkäme. Dieses Exempel macht überdeutlich, dass die Gesellen in ihren Dispositionen vom Gutdünken der preußischen Militärverwaltung abhängig geworden waren. Mag Bövingloh sein Wanderziel auch erreicht haben – wie viele andere sind wohl an der Unnachsichtigkeit der Administration gescheitert? An der Rigidität der Vorschriften änderte sich auch nichts, als das Innen- und das Kriegsministerium 1826 neue, detailliertere Grundsätze zur Heranziehung wandernder Handwerksgesellen zum Militärdienst vereinbarten.1442 Als Regel stellte die Administration fest, dass die Gehilfen und Lehrlinge, welche nach Fertigung der Aushebungslisten ihren Wohnsitz geändert hatten, dort eingezogen werden sollten, wo sie sich zur Musterungszeit aufgehalten hatten. Der Ordnung halber sollten sie dann nachträglich in die Aushebungslisten ihres neuen Wohnorts aufgenommen werden. Eine Ausnahme von dieser Grundregel galt für die größeren Städte, in denen mehrere Aushebungs-Bezirke bestanden: Dort wurden die Gesellen in demjenigen Bezirk, in welchem sie z. Zt. der Anfertigung der Aushebungslisten gewohnt 1441 Schreiben des Landrats des Krs. Münster, Hammer, vom 21.4.1826, in: STAM, Reg. Münster Nr. 4144. 1442 S. Verordnung der Reg. Arnsberg vom 6.2.1826, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg (1826), S. 65– 67.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

hatten, eingezogen. Komplizierter gestaltete sich die Situation naturgemäß hinsichtlich jener Gesellen, die sich bereits auf der Wanderschaft befanden. Sie blieben, wie die Verordnung offenherzig betonte, der besseren Kontrolle halber während „der Zeit ihrer gehörig begründeten Wanderung“ dort militärpflichtig, wo ihre Eltern oder Vormünder wohnten. Als auf der Wanderschaft befindlich wurden jene Gesellen angesehen, welche mit einem von der zuständigen Behörde ausgestellten Wanderpass ihre Heimat oder den Ort ihrer Lehre verlassen hatten. Deshalb machte es auch keinen Unterschied, ob der Geselle während der Geltungsdauer des Passes von einem Ort zum anderen wanderte oder an einem Ort längere Zeit arbeitete. „Ein solches Individuum“, wie sich die preußische Bürokratie mit all der Verachtung, welcher sie den Unterschichten gegenüber fähig war, auszudrücken beliebte, konnte demnach für die Geltungsdauer des Wanderpasses nicht einberufen werden. Nach Ablauf der Wanderjahre sollte der Geselle dann aber an seinem Wohnort eingezogen werden. Falls der Gesuchte sich dieser Pflicht entzog, wurde er als Fahnenflüchtiger behandelt. Dass die aus der Militärdienstpflicht resultierenden Einschränkungen bei den Gesellen auf wenig Begeisterung stießen, liegt auf der Hand. Als sich ihnen in der Revolution des Jahres 1848 erstmals Gelegenheit bot, öffentlich auf ihre Situation hinzuweisen und Forderungen zu stellen, machten sie ihrem Unmut über die Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfreiheit und damit auch der Ausbildung durch die Militärdienstpflicht unmissverständlich Luft. Auf dem Gesellenkongress, der im Juli 1848 in Frankfurt stattfand, standen sie nicht an zu verlangen, dass die Wanderjahre durch die Militärzeit nicht länger beeinträchtigt werden dürften. Deshalb müsse die Dienstpflicht „an jedem deutschen Orte“ abgeleistet werden können. Befinde sich der Geselle im Ausland, müsse die Einberufung bis zu seiner Rückkehr aufgeschoben werden.1443 Mit dem baldigen Ende der Nationalversammlung wurde allerdings auch der aufgrund dieser Forderungen formulierte Entwurf zu den Vorlagen für den Volkswirtschaftlichen Ausschuss gegenstandslos. 13. Jüdische Gesellen Die Attitüde steter Kontrolle und Bevormundung, welche der preußische Staat gegenüber den Gesellen zur Schau trug, zeigte sich am eindruckvollsten in seinem Verhältnis zu den jüdischen Gewerbegehilfen. Die preußischen Juden waren seit dem Erlass des sog. Juden-Ediktes vom 11. März 1812 jedenfalls auf dem Gebiet der Wirtschaft gleichberechtigt.1444 Das Bemühen des Staates um fortschreitende 1443 Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Kongresses, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen, hrsg. von Köllmann/Reulecke (1980), Bd. 1, S. 213; sich grundsätzlich gegen die allgemeine Wehrpflicht zu wenden, lag den Gesellen wenige Jahrzehnte nach der französischen Fremdherrschaft und den Befreiungskriegen offenkundig fern. 1444 Das preußische Judenedikt des Jahres 1812 (Preußische Gesetzessammlung 1812, S. 17 ff.) bestimmte ausdrücklich, dass aus dem Staatsbürgerrecht die Gewerbefreiheit und der freie Handel fließe (§ 12); in § 11 hieß es, dass die Juden „alle erlaubten Gewerbe mit Beobachtung der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften treiben“ könnten; s. dazu Koselleck (1967), S. 60.

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Emanzipation bestimmte auch in Westfalen das Verhalten der Behörden gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe. Die Regierung in Münster modifizierte deshalb die restriktiven Bestimmungen, welche sie bezüglich „reisender unbemittelter Juden“ noch 1821 erlassen hatte,1445 schon wenig später durch die Verfügung vom 5. Juni 1824, um den jüdischen Gesellen das Wandern überhaupt erst zu ermöglichen.1446 Da, wie die Regierung bemerkte, „die Erlernung und der Betrieb nützlicher Handwerke Seitens der Juden alle Begünstigungen verdient“, sollten jedenfalls jene unbemittelten „Professionisten“ mosaischen Glaubens, die zu den Einheimischen zählten, ihr Gewerbe „gehörig“ erlernt hatten und als unbescholten galten, Pässe erhalten, um, wie die christlichen Gesellen auch, auf die Wanderschaft gehen zu können. Nichtsdestoweniger wurden den Juden gegenüber aber besonders strenge Maßstäbe angelegt: Die Behörden hatten bei der Feststellung der Voraussetzungen für die Erteilung eines Ausweises an Angehörige dieses Personenkreises „besondere Vorsicht“ walten zu lassen. Eine strenge Prüfung der „Unverdächtigkeit“ der Wanderer wurde vorgeschrieben. In den Pässen musste bei den jüdischen Gewerbegehilfen stets der Anlass der Reise genauestens vermerkt werden, und der Ausweis durfte ihnen ausdrücklich nur zu dem angegebenen Zweck ausgestellt werden. Die Regierung vergaß auch nicht den Hinweis, dass die restriktiven Aufenthaltsbestimmungen für fremde, d. h. ausländische Juden durch die Erleichterungen für die einheimischen jüdischen Gesellen, welche sich auf die Walz begeben wollten, keineswegs eingeschränkt wurden. Trotz dieser Maßnahmen ließ die Verwaltung in Westfalen an der Unterstützung des Ziels besserer Ausbildung junger Handwerker mosaischen Glaubens keinen Zweifel. Als nicht nur in Minden, sondern auch in der Provinzialhauptstadt Münster 1825 ein Verein zur Förderung der Ausbildung junger jüdischer Glaubensgenossen gegründet wurde, erkannte der Oberpräsident die Gemeinnützigkeit dieser neuen Einrichtung sogleich an.1447 Er forderte die Landräte und Oberbürgermeister auf, den Vereinszweck nach Kräften zu unterstützen. Um ein positives Exempel zu geben, trat Vincke dem Verein selbst als förderndes Mitglied bei. Ein Jahrzehnt später zeigte sich auch die politische Führung Preußens entschlossen, die berufliche Emanzipation der einheimischen Juden im Bereich des Handwerks nachhaltig zu unterstützen. 1835 wiesen das Innen- und das Gewerbeministerium die Regierungen ausdrücklich an, jüdischen Gesellen keine besonderen Schwierigkeiten auf der Walz mehr zu bereiten. Sie sollten das gleiche Maß an Freizügigkeit innerhalb des Staates genießen wie die christlichen Gewerksgenossen Der Gesetzestext findet sich auch in der „Sammlung der die religiöse und bürgerliche Verfassung der Juden in den Königl. Preuß. Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen, Gutachten, Berichte und Erkenntnisse“ (1976), S. 1 ff. (2,3). 1445 Verordnung v. 13.8.1821. 1446 Verordnung v. 5.6.1824, in: Amtsbl. Reg. Münster 1824, S. 205. 1447 Bekanntmachung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen v. 6.12.1825, in: Amtsbl. Reg. Münster 1825, S. 555, 556. Die beiden Vereine schlossen sich zusammen („Verein für die Provinz Westfalen zur Bildung von Elementarlehrern und Beförderung von Handwerk und Künsten unter den Juden“). Dieser Verein verfügte über reiche Stiftungen; die Geldmittel verwendete er dazu, jüdischen Handwerksgesellen Vorschüsse zur Wanderschaft zu gewähren; s. Schulte (1954), S. 495; s. dazu ausführlich Freund (1997).

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II. Die gewerbliche Ausbildung

auch. Begründet wurde die liberalere Haltung ausdrücklich damit, dass es „wünschenswerth sei, die Juden zu einem edleren Geschäftsbetriebe als dem Kleinhandel und besonders zu Handwerken anzuleiten“.1448 Restriktiver verhielt sich Preußen dagegen noch immer gegenüber ausländischen Wandergesellen, sofern sie keine Christen waren. 1835 betonte das Ministerium, dass für die ausländischen Gesellen zwar das preußische Gesetz vom 11.3.1812 gelte, jüdischen Gesellen aus dem Ausland aber das Einwandern nach Preußen weiterhin untersagt sei.1449 Schon einige Jahre später änderte die Berliner Administration diese wenig konsequente Haltung. Denn 1839 wurde immerhin den aus den deutschen Bundesstaaten stammenden jüdischen Gesellen gestattet, in Preußen zu arbeiten.1450 Voraussetzung für die Einwanderung jüdischer Gesellen in die Monarchie war allerdings, dass mit dem Herkunftsstaat „Reciprocität“ vereinbart worden war. Dieser Grundsatz besagte, dass jüdischen Gesellen aus dem Ausland nur dann nach Preußen einzuwandern erlaubt wurde, wenn jüdische Gesellen aus Preußen ebenfalls in den jeweils anderen Staat reisen konnten.1451 Außerdem mussten die allgemein geltenden Vorschriften über das Zuwandern ausländischer Handwerksgesellen eingehalten sein. War dies der Fall, so hatte die örtliche Polizeibehörde den Aufenthalt ausweislich der Ministerialverfügung vom 19.1.1839 zunächst für 6 Wochen zu gestatten. Gleichzeitig musste die Gemeindeverwaltung der zuständigen Regierung berichten und die für einen längeren Aufenthalt erforderliche Konzession beantragen. War gegen den Verbleib nichts einzuwenden, erteilte die Regierung die Erlaubnis für einen Zeitraum von 2 Jahren. Zugleich wurde dem Gesellen aber deutlich gemacht, dass ihm die sofortige Ausweisung drohe, wenn sein Betragen dazu Veranlassung gebe. Bei einem Ortswechsel war er verpflichtet, den Polizeibehörden des vorherigen und des neuen Aufenthaltsortes sogleich Mitteilung zu machen. Die Beamten vermerkten die Änderung von Aufenthaltsort und Arbeitsstelle dann auf der Konzession. Dort wurde auch festgehalten, wie lange und bei welchen Meistern der Geselle gearbeitet hatte, ob die Arbeitgeber mit der „Aufführung“ des jungen Mannes, aber auch mit seiner fachlichen „Brauchbarkeit“ zufrieden gewesen waren oder ob derselbe zu „polizeilichen Rügen“ Anlass gegeben hatte. Bei nachweislich positivem Betragen des Ausländers konnte die Konzession durch die zuständige Regierung noch um ein weiteres auf ein drittes Aufenthaltsjahr verlängert werden. Nach Ablauf dieser Zeit aber wurde der Handwerker unverzüglich in seinen Heimatstaat „zurückgewiesen“. Geldbußen bei Zuwiderhandlungen auch für die Arbeitgeber auszuloben vergaß der Minister nicht: Beschäftigte ein preußischer Meister einen ausländischen jüdischen Gesellen ohne Erlaubnis der örtlichen Polizeibehörde bzw. 1448 S. Schreiben des preußischen Polizei- und Gewerbeministers v. 31.3.1835 an die Regierungen, in: GStA/PK, Ministerium für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 89. 1449 S. Anm. 1448. 1450 Kabinetts-Order v. 14.10.1838, s. Ministerial-Verfügung des Innen- und Polizeiministers v. Rochow v. 19.1.1839, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg 1839, S. 27, 28. 1451 Da preußische Juden nicht gehindert waren, in Dänemark Arbeit anzunehmen, gestattete Preußen 1842 jüdischen Gesellen aus Dänemark, „unter denen in der Ordre v. 14.10.1838 festgesetzten Bedingungen“ in Preußen tätig zu sein; s. Verfügung des Königs Friedrich Wilhelm v. 19.2.1842, in: Amtsbl. der Arnsberg 1842, S. 134.

D. Das Wandern der Gesellen

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ohne Konzession, so hatte er eine empfindliche Polizeistrafe in Höhe von 5 bis 10 Thalern zu gewärtigen. Es bedarf keiner subtilen Vergleiche, um festzustellen, dass die über die preußische Grenze zugewanderten ausländischen Juden gegenüber den jüdischen Gewerbegehilfen mit preußischem Pass deutlich benachteiligt blieben. Dass es sich bei den Bestimmungen für jüdische Wandergesellen gleichwohl – horribile dictu – um eine Privilegierung handelte, zeigt der Vergleich mit den damals in Preußen für jüdische Reisende geltenden Regelungen: Ausländer mosaischen Glaubens, die nicht zu den wandernden Handwerksgesellen zählten, waren dort noch wie eh und je einer besonders eingehenden Kontrolle unterworfen, die den ausdrücklichen Zweck verfolgte, „heimliche Niederlassungen“ von jüdischen Zuwanderern aus anderen Staaten und damit deren dauerhaften Aufenthalt zu verhindern.1452 Die skizzierten, jüdische Gesellen gegenüber ihren christlichen Berufsgenossen noch immer zurücksetzenden Regelungen gleichwohl als Teil der damals durch den preußischen Staat geförderten Assimilierung zu verstehen, fällt aufgrund der unübersehbar wohlmeinenden Intentionen nicht schwer: Die Juden sollten ausdrücklich typisch „bürgerliche“ Berufe erlernen und sich so auf eine bis dahin nicht gekannte Weise in die Gesellschaft integrieren. Zur Vita des qualifizierten Handwerkers gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gesellenwandern noch ganz selbstverständlich dazu, und von dieser Bildungschance sollten die Juden nach dem Willen des preußischen Gesetzgebers und der Verwaltung nicht länger ausgeschlossen bleiben. Gleichwohl lassen die ungewöhnlichen Aufsichtsmaßregeln und die besonderen Anforderungen an die „Bewährung“ der Hilfskräfte jüdischer Herkunft erkennen, dass der Staat noch immer an sein tradiertes Recht zur Erteilung von Aufenthaltsprivilegien, welche er den Juden – nun in erweiterter und generell ausgesprochener Form – gewährte, anknüpfen zu sollen glaubte. Die rechtliche Gleichstellung war damit jedenfalls noch nicht vollständig erreicht. Neue Regelungen wurden durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung jedoch noch im Vormärz erzwungen. Es waren die wirtschaftlichen Notwendigkeiten, welche die tradierten Lebenskreise und Rechtseinheiten zu zerstören begonnen hatten. Die schnell wachsende Zahl wandernder Gesellen machte die Klärung der Bürgerrechtsfrage unabweisbar. Auf diese fand der preußische Staat mit dem allgemeinen Einwohnergesetz des Jahres 1842 schließlich eine Antwort.1453 Danach konnten ausländische Juden ebenso wie andere Ausländer in Preußen eingebürgert werden, sofern die für alle Einwanderer in gleicher Weise geltenden Voraussetzungen erfüllt waren. Dass dieses neue Staatsangehörigkeitsrecht die Assimilierung der Juden förderte, steht außer Frage. Gleichwohl schwand das latente Misstrauen gegenüber den aus dem Ausland zugewanderten Bürgern jüdischen Glaubens in Preußen aber nicht völlig, wie eine zwar marginale, gleichwohl aber verräterische Vor1452 So Ministerial-Verfügung des Innen- und Polizeiministers v. Rochow v. 19.1.1839, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg 1839, S. 27, 28; desgl. STAM, Reg. Münster, Nr. 4144, fol. 97; s. auch Ministerial-Verfügung an die Regierungen v. 28.12.1838, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2, fol. 176, 177. 1453 Gesetz v. 31.12.1842 über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Untertan …, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1843, S. 15.

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schrift zeigt: Während im Grundsatz die Landespolizeibehörden für die Ausfertigung und Erteilung von Naturalisationsurkunden zuständig waren,1454 galt für ausländische Juden eine andere Regelung. Sie bedurften hierzu der vorherigen Genehmigung des Innenministers.1455 Den schnellen, geradezu spektakulären Aufstieg zahlreicher zugewanderter Juden im Wirtschaftsleben Preußens vermochte diese Vorschrift allerdings nicht zu hindern. 14. Das Ende des Gesellenwanderns a. Das Absterben des traditionellen Wanderbrauchs Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor die Sitte des Gesellenwanderns – wenngleich nur sehr allmählich1456 – an Anziehungskraft. Daran änderten die 1848 seitens des Meister- wie des Gesellenkongresses in Frankfurt gefassten Beschlüsse ebensowenig wie manche Vorschriften, die den Wert der Wanderjahre hervorhoben. Gleich ein ganzes Bündel unterschiedlicher Ursachen war für diese Entwicklung verantwortlich: (1) Zunächst und vor allem wurden die allmählichen Veränderungen im Verhalten der Gesellen durch die zeitgenössische Publizistik nachhaltig gefördert. Nach der Mitte des Jahrhunderts standen einander in der öffentlichen Diskussion zwei Auffassungen über Bedeutung und Wert des Gesellenwanderns gegenüber. Die Liberalen wandten sich dezidiert gegen den Wanderzwang, der in den Zunftländern noch bestand. Viktor Böhmert beschrieb das Reisen der Gesellen in seiner 1858 erschienenen programmatischen Schrift „Freiheit der Arbeit“ als „eine Kette herber Entbehrungen, gefährlicher Verlockungen, bitterer Täuschungen! So mancher junge Bursche, den die Seinen gesund und frisch, voll Unschuld und Lebensmuth in die Ferne schickten, schleppt sich von einer Stadt und Herberge zur anderen, und kehrt abgehungert, siech, verdorben zurück, ohne Fortschritte in seinem Gewerbe gemacht zu haben“.1457 Ganz in diesem Sinne beklagten die industriellen Unternehmer, „dass eine große Anzahl Handwerker fortwährend auf der Straße herumvagiert“.1458 Wenig später, 1860, glaubte auch der offenkundig nicht am Hergebrachten hängende Landrat des Kreises Altena auf die „fortdauernde Unsitte des Wanderns der Gesellen, welches in den meisten Fällen in ein reines Vagabundieren von einem Orte zum anderen mit allen seinen Nachtheilen ausartet“,1459 hinweisen zu müssen. Dieses vernichtende Urteil über das Wandern war damals allerdings 1454 § 5 Abs. 1 des Gesetzes, wie Anm. 1453. 1455 § 5 Abs. 2 des Gesetzes, wie Anm. 1453. 1456 1855 schrieb Perthes noch: „… aber es ist die ganze Jugend des Handwerksstandes, welche wandert …“; s. Perthes (1855), S. 20. 1457 So Böhmert (1858), S. 36. 1458 So in einem Artikel der Frankfurter Zeitung „Der Arbeitgeber“ aus dem Jahre 1857, zitiert nach Elkar, Umrisse … (1983), S. 85, 86. 1459 Bericht des Landrats des Kreises Altena vom 26.8.1860 in: GStA/PK, Rep. 120 BI 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9, fol. 7 RS. Der Landrat schlug vor, die Zeit des „Umherlaufens“, d. h. des Vagabundierens ohne Arbeit, nicht länger auf die Gesellenzeit anzurechnen.

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noch keineswegs Gemeingut, sondern durchaus umstritten. Ebenfalls 1858 erschien in Weimar nämlich eine Schrift, welche die Walz in den leuchtendsten Farben malte und junge Leute aufforderte, die Möglichkeiten zur Erweiterung des Horizonts, welche das Reisen bot, zu nutzen.1460 Insbesondere die Handwerker selbst hielten das Wandern als „einfache und bescheidene Art, die Welt zu beschauen“, für unerlässlich.1461 Viele Zeitgenossen waren auch in den sechziger Jahren noch voll des Lobes über die Wandersitte.1462 Auch diese Auffassung verfehlte ihre Wirkung nicht: die Wanderjahre behielten während des 19. Jahrhunderts ihren Stellenwert in der Biographie unzähliger Handwerker. Das Aufblühen der Kolpingvereine seit Mitte des Jahrhunderts, die Errichtung ihrer zahlreichen Gesellenhäuser zeigt, wie sehr die wandernden Gesellen auch der Generationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus – auf der Walz einer Heimstatt bedurften.1463 Ob in Deutschland, wie behauptet worden ist, am Wandern als einem überholten Ausbildungsinstrument zu lange festgehalten worden ist,1464 erscheint immerhin zweifelhaft. (2) Wenn nach den Ursachen für die trotz aller Wertschätzung doch allmählich zurückgehende Anziehungskraft des Wanderns gefragt wird, treten natürlich auch die zahlreichen, diesen Wanderbrauch betreffenden Vorschriften in den Blick. Die wiederholt verschärften Bestimmungen zur Kontrolle der Wanderburschen, die gegen das Betteln gerichtet waren, tatsächlich aber die Bewegungsfreiheit aller Gesellen auf das empfindlichste beeinträchtigten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Jeder junge Handwerker, der über die erlaubten wenigen Wochen hinaus arbeitslos gewandert war, wurde umgehend an den Heimatort zurückgeschickt. Diese Vorschriften handhabten die Polizeibehörden in den fünfziger Jahren „strenger als je“.1465 Der jahrzehntelange Kampf der Obrigkeit gegen die Bettelei nährte schließlich auch im Handwerk selbst die Überzeugung, dass zahlreiche Gesellen durch das Wandern der regelmäßigen Arbeit entwöhnt würden. Ebenso verleidete die ständige Überwachung der Wanderer durch die Polizei, welche durch ihr striktes Regiment die Verbreitung revolutionärer Gesinnungen zu hindern trachtete, den Gewerbsgehilfen das Reisen.

1460 Dazu ausführlich Domonkos (1979), S. 12 ff. m. w. Nachw.; Elkar, Umrisse … (1983), S. 868 1461 So – ebenfalls 1857 – der Uhrmacher Michael Hornstein aus Neuburg an der Donau, zitiert nach Elkar, Umrisse … (1983), S. 86. 1462 So z. B. der Regierungspräsident und Statistiker Georg v. Viebahn, der das Wandern 1868 keineswegs als überholt empfand: „Wenn auch der Wanderzwang aufgehört hat, so bleibt doch das Wandern des deutschen Gesellen Lust, lehrt ihn Land und Leute kennen, vervollkommnet ihn im Handwerk und stählt seinen Charakter. Wenn die mit dem mittellosen und mitunter bettelhaften Umherziehen verbundenen Übelstände vermieden werden, so kann die Beibehaltung dieses wichtigen Erziehungs- und Bildungsmittels nur gewünscht werden“, s. Viebahn (1868), S. 747. 1463 Die Zahl der in den Kolpingvereinen Zu- und Durchreisenden betrug 1904 nicht weniger als 102.000 und war damit auf eine „nie geahnte“ Höhe angewachsen; s. Schweitzer (1905), S. 487. In 344 „Hospitien“ wohnten damals ständig 3.800 Gesellen. 1464 So die Auffassung von Elkar, Umrisse … (1983), S. 113. 1465 So Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 428.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

(3) Auch verlor die Sitte des „Geschenkgebens“, die Unterstützung der Wanderer durch die Meister- oder Gesellenbruderschaften, allmählich an Bedeutung. Hierzu trug vor allem der Bau der Eisenbahnen bei, welche jedem „einigermaßen bemittelten Gesellen ein bequemeres, schnelleres und für weite Entfernungen billigeres Mittel des Reisens“1466 boten. Obgleich die Zahl der Wandergesellen zurückging, klagte niemand über die mangelnde Mobilität gewerblicher Hilfskräfte – was zweifellos ebenfalls dem neuen Verkehrsmittel der Eisenbahnen zu danken war. Die Wanderung „auf gut Glück“ wurde somit unnötig. Folgerichtig war die Zahl der auf den Straßen wandernden Gesellen Mitte der fünfziger Jahre in den deutschen Staaten bereits bedeutend geringer als 10 Jahre zuvor.1467 Mehr und mehr wurde es üblich, dass die Gesellen ihr Arbeitsverhältnis erst kündigten, wenn sie mittels brieflicher Korrespondenz einen neuen Meister gefunden hatten. (4) Der Umstand, dass sich zeitgleich jedenfalls in den Städten der traditionelle Meisterhaushalt auflöste und die Zahl der verheirateten Gesellen auch in anderen als den Bauhandwerken zunahm, wirkte dem Wanderbrauch ebenfalls entgegen. (5) Die Verbreitung gewerblich-technischer Fachzeitschriften und Fachbücher, die Gewerbe- und Sonntagsschulen – all diese modernen, leicht zugänglichen und preiswerten Informationsmöglichkeiten ließen das Wandern allmählich als aufwendige, mit Gefährdungen mannigfacher Art verbundene, archaische Sitte erscheinen. Natürlich brachte die relative Verringerung der Zahl der wandernden Gesellen1468 bedeutende Veränderungen im Brauchtum und im Ordnungsgefüge des Kleingewerbes mit sich.1469 Als Mittel, die Zahl der Meister nicht allzu sehr anwachsen zu lassen, ließ sich das Wandern seitens der etablierten Handwerker nicht länger instrumentalisieren. Im Allgemeinen verkürzte sich die Gesellenzeit. Die jungen Leute nahmen die Möglichkeit der früheren Niederlassung wahr, wenn nicht der Fabrikbetrieb ohnehin bessere Verdienstmöglichkeiten bot und einen Wechsel in die Industrie nahe legte. Für die ausgehenden fünfziger Jahre ist nicht ohne Grund von einem „massenhaften Übergang von Handwerksgesellen ins Lohnarbeiterdasein“ gesprochen worden.1470 In der Tat hatte der Bedeutungsverlust der handwerklichen Ausbildung und des Gesellenwanderns, welcher nicht allein durch die Industrialisierungsvorgänge, sondern, wie festgestellt, auch durch das damals schnell wieder an Einfluss gewinnende liberale Gedankengut gefördert wurde,

1466 So der Zeitgenosse Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 427. 1467 So Hasemann, a. a. O., S. 427. 1468 1801 bis 1810 wanderten in Frankfurt 861 Buchbindergesellen zu; zwischen 1837 und 1850 kamen dann 5.382 Gesellen dieser Profession in die Stadt. In den Jahren 1850 bis 1868 waren es dagegen nur noch 3.582 Buchbindergesellen, die in Frankfurt Arbeit suchten; s. Elkar, Umrisse … (1983), S. 97. 1469 So war die Wanderschaft der Böttcher beispielsweise dadurch beschränkt, dass es Gebiete des „Linksum“ (des Arbeitsablaufs) bzw. des „Rechtsum“ gab. Wer „Linksum“ gelernt hatte, war von der Arbeit im Gebiet des „Rechtsum“ ausgeschlossen und umgekehrt. Solche ungeschriebenen Gesetze des Alten Handwerks verschwanden mit der größeren, nicht mehr an die Einhaltung von Handwerksbräuchen gebundenen Mobilität der Gesellen; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 428, 429 m. w. Beispielen. 1470 So Offermann (1979), S. 137.

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weitreichende Folgen.1471 Die Gesellenverbindungen verloren an Boden, da die zunehmende Zahl verheirateter Hilfskräfte ihren Status nicht mehr als temporäre Sozialform betrachten konnte, sondern als lebenslange Existenzbedingung zu erachten sich gewöhnen musste.1472 Natürlich verlief diese Entwicklung in den einzelnen Handwerkssparten nicht gleichmäßig; vielmehr zeitigte sie ganz unterschiedliche Wirkungen. Zigarrenmacher und Buchdrucker etwa, die niemals zünftig gewesen waren, verstanden sich ohnehin als Arbeiter und organisierten sich in Berufsgewerkschaften.1473 Die Gesellen der Massenhandwerke der Schneider, Schuhmacher und Schreiner, welche einen hohen Proletarisierungsgrad bei niedrigem Sozialprestige aufwiesen,1474 artikulierten sich dagegen politisch1475. Ein kontinuierlicher Übergang von den hergebrachten zu neuen Organisationsformen gelang nicht zufällig den Maurern, da deren Tätigkeit auch in einer durch die Industrie geprägten Arbeitswelt stark handwerkliche Züge bewahrte.1476 In diesen Zusammenhang fügt es sich, dass die Sitte des Viaticums, des Geschenkgebens, trotz des skizzierten Bedeutungsverlustes beim Übergang von der Gesellenbruderschaft zur modernen gewerkschaftlichen Organisation als verbindendes Element zwischen dem vergehenden und dem sich neu formierenden Verbandsmodell noch einmal, ganz unvermutet, Bedeutung erlangte:1477 Der Aufgabenbereich auch der entstehenden Gewerkschaftsbewegung erschöpfte sich nicht in der Streikfinanzierung; vielmehr nahmen sich die neuen Organisationen den aus der Gesellenbruderschaft überlieferten Aufgaben der Unterstützung und des Arbeitsnachweises für die wandernden Gesellen bzw. die Arbeiter an.1478 b. Die neue Arbeitswanderung nach Westfalen Der Umstand, dass Westfalen mit Ausnahme Münsters für die Fernwanderung der Gesellen in der vorindustriellen Zeit kein besonders attraktives Ziel darstellte, änderte sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie bereits festgestellt, grundlegend. Zwar nahm die relative Zahl der Wandergesellen in jenen Jahren zunächst ab.1479 1471 S. dazu das Kapitel „Handwerkliche Ausbildung“. 1472 Zur Handwerkerbewegung in der Zeit des Übergangs von den Gesellenbruderschaften zum modernen Gewerkschaftstypus vgl. Gimmler (1972); s. auch die ältere Arbeit von Goldschmidt (1916). 1473 Der Kampf um die gewerkschaftliche Interessenvertretung und das Koalitionsrecht ist von Engelhardt (1976) dargestellt worden; s. auch Trautmann (1976). 1474 S. dazu Engelhardt (1978), S. 339 f. 1475 Zur Schuhmacherbewegung in der Revolutionszeit vgl. Zinner (1904), S. IV, 21. 1476 So Offermann (1979), S. 138. 1477 S. Offermann (1979), S. 138; zum Viaticum s. ausführlich das Kap. „Das Viaticum“. 1478 Vgl. Offermann (1979), S. 138. 1479 Die Liberalen wandten sich damals dezidiert gegen den Wanderzwang, soweit er noch bestand: „Ein Gesell kann in 8 Tagen jetzt weiter kommen als früher in einem halben Jahre und kann in wenigen Monaten mehr sehen und lernen als früher in eben so vielen Jahren. Die Feststellung eines Zeitraumes von zwei oder drei Jahren, innerhalb dessen der Gesell nicht in seiner Heimath zurückkehren darf, wenn er dereinst der Wanderpflicht genügt haben soll, ist eine Willkür und Härte, welche von den bedenklichsten Folgen begleitet ist. Die Sitte des Wanderns wird sich ohne gesetzlichen Zwang überall und in allen Fällen erhalten, wo sie

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Der Wanderbrauch verschwand aber nicht; er änderte nur seinen Charakter. Westfalen wurde nämlich bald zu einem bevorzugten Ziel arbeitsuchender Gesellen. Es reisten nun – insbesondere im letzten Drittel des Jahrhunderts zahllose Gesellen nach Westfalen, was durch die Errichtung von katholischen Gesellenhäusern in den meisten Städten der Provinz dokumentiert wird. Die Wanderschaft wurde in den Augen der Gewerbegehilfen damals wieder positiv besetzt: Die Bestimmung, dass nur geprüfte Gesellen Wanderbücher erhalten konnten, habe den Handwerkern eine Selbstachtung vermittelt, „welche früher häufig vermisst wurde“, berichtete der Bürgermeister von Brilon schon 1860.1480 Bevorzugte Reiserouten kannte die Zeit der Hochindustrialisierung ebenso wie die Jahrhunderte des Alten Handwerks. Noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert waren während des Frühjahrs die Herbergen in den großen und kleinen Städten, welche an den sog. Heerstraßen, den bevorzugten Reisewegen der Gesellen, lagen, „von Zu- und Durchreisenden geradezu überschwemmt“.1481 Eine dieser präferierten Routen in Deutschland führte damals von Österreich und Oberbayern mit München nach Franken, über Mainz und Frankfurt den Rhein hinunter bis Köln. Ein anderer Hauptwanderweg erreichte, von Württemberg mit Stuttgart seinen Ausgang nehmend, Baden mit Mannheim, um dann über Frankfurt oder Mainz ebenfalls nach Köln zu führen. In Köln reisten noch zu Beginn des 20. Jahrhundert jährlich nicht weniger als 3.000 Gesellen zu.1482 Eine dritte, nicht minder bevorzugte Wanderroute führte dann über Düsseldorf, Duisburg, Essen und Bochum nach Dortmund, also in das Herz des westfälischen Ruhrgebiets. Die Scheidung Deutschlands in ein süd- und ein norddeutsches Wandergebiet scheint gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwunden gewesen zu sein. Westfalen war zu einem der wichtigsten Zuzugsgebiete, zu einem Fokus der Gesellenwanderung in Deutschland geworden. Naturgemäß verdankte sich seine Sogwirkung eher dem reichen Arbeitsangebot als einer ungewöhnlich qualifizierten Weiterbildung, welche die Gesellen im „Kohlenpott“ nicht erwartet haben dürften. Es war eben die schnelle Ausdehnung des Bergbaus an der Ruhr, die den Wanderstrom der Hilfskräfte nach Westfalen in Gang setzte – wobei die kausale Verknüpfung mit dem Bergbau naturgemäß vor allem eine mittelbare war: Wer in der Region zwischen Ruhr und Emscher keine bäuerliche Stelle besaß und einigermaßen gesund war, ging, seit die Zechen zahlreiche gut bezahlte Arbeitsplätze boten, „zum Pütt“. Diese Tätigkeit brachte den Familien Vorteile, mit denen die Handwerksberufe nicht konkurrieren konnten. Die Bergarbeiter verdienten seit ihrem 14. Lebensjahr, so dass sie, bis sie eine eigene Familie gründeten, ihre Eltern finanziell unterstützen konnten. Lediglich diejeniwirklichen Nutzen schafft, der Zwang trifft aber Jeden ohne Unterschied, er berücksichtigt nicht die tausendfach verschiedenen Interessen, Lebensstellungen, Charaktereigenschaften, Familienverhältnisse, nach denen sich entweder gar kein Wandern oder doch nur eine kürzere und erst später eintretende Abwesenheit als die gesetzlich vorgeschriebene empfiehlt“; s. Böhmert (1858), S. 34, 35. Dass die relative Zahl der Wandergesellen seit der Jahrhundertmitte abnahm, hat schon Hasemann beobachtet; s. Hasemann (1856), S. 428. 1480 Bericht des Bürgermeister von Brilon vom 24.7.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9, fol. 75 RS. 1481 So Schweitzer (1905), S. 316. 1482 Vgl. Schweitzer (1905), S. 316.

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gen, welchen es „an körperlicher Kraft oder Geschicklichkeit fehlt, dem mühseligeren Berufe des Bergmannes sich zu widmen“, wandten sich seit dem wirtschaftlichen Aufschwung im Ruhrrevier noch einem Handwerk zu. Dieser Umstand traf – infolge der dort stark zunehmenden Bevölkerungszahl und des Baubooms – mit einer schnell wachsenden Nachfrage nach Handwerksleistungen zusammen, der die vorhandenen Kleingewerbetreibenden keineswegs genügen konnten. Das Defizit an Arbeitskräften wurde durch die Zuwanderung von Handwerkern vor allem aus anderen deutschen Bundesstaaten ausgeglichen. Ein großer Teil der in der Provinz Westfalen benötigten Zimmerer-, Maurer- und Schieferdeckergesellen wanderte, wie schon bemerkt, damals im Sommer auch aus dem Fürstentum Lippe ein und kehrte nach dem Ende der Arbeitssaison wieder in ihre Heimat zurück.1483 Die ebenfalls bereits erwähnte Zuwanderung von qualifizierten Bauhandwerkern aus Tirol nach Westfalen war dagegen offenbar bedeutungslos geworden.1484 Viele Bauhandwerker kamen stattdessen nun aus Hessen und Waldeck. Während sie zunächst nur während der Bausaison an ihrem Arbeitsort blieben, ließ sich im Laufe der Jahre ein immer größerer Teil dieser Migranten dauerhaft zwischen Ruhr und Lippe nieder.1485 Zahlreiche Arbeitskräfte aus Hessen und Nassau fanden auch in der schnell wachsenden gewerblichen Wirtschaft des Siegerlandes Beschäftigung.1486 Dieser Zustrom an Handwerkern war seit Beginn des „take off“ im sog. Industriegebiet außerordentlich stark. 1860 stammten in Wengern an der Ruhr nicht allein die Lehrlinge aus den Ländern jenseits der südöstlichen Grenzen Westfalens; vielmehr war damals auch schon die Mehrzahl der Meister von auswärts zugezogen.1487 Dieses gilt aber nicht nur für das Ruhrrevier selbst: Da die südwestfälischen Kreise Handwerker an das Ruhrgebiet abgaben, wanderten auch in die dortigen ländlichen Regionen Fremde von jenseits der Landesgrenzen zu. So fanden sich z. B. im Kreise Meschede Maurer aus dem benachbarten Hessen ein.1488 Die grundlegende Änderung der Wanderziele so vieler Gesellen nach der Jahrhundertmitte muss mit einer Neubestimmung der Ursachen und Motive für die Wanderschaft seitens der gewerblichen Hilfskräfte verbunden gewesen sein. Movens für den Entschluss, ins Ruhrrevier zu gehen, waren ausschließlich die dort erhebliche Nachfrage nach Arbeitskräften und die vergleichsweise günstige Lohn1483 So Schreiben des Landrats des Krs. Lippstadt an die Reg. Arnsberg v. 19.3.1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 1; als 1869 in Bielefeld über 100 Maurer streikten, um die Verlegung des Arbeitsbeginns von drei (!) auf sechs Uhr morgens zu erreichen, berichtete der Landrat des Krs. Bielefeld, dass „sämtliche auswärtigen Arbeiter, namentlich die aus dem Lippischen hier anwesenden … ihre Arbeit fortgesetzt“ hätten; so Bericht des Landrats des Krs. Bielefeld v. 3.5.1869, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I A Nr. 23. Gesellenstreiks waren in Westfalen nicht sehr häufig; anderwärts aber rissen sie auch im 19. Jahrhundert nicht ab; vgl. die Aufstellung bei Todt/Radandt (1950), S. 68–79. Die starke Zuwanderung aus Ostelbien ins Ruhrgebiet setzte erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein. 1484 S. dazu ausführlich Pieper-Lippe/Aschauer (1967), S. 119 ff. (insbes. S. 145, 146). 1485 Schmidt-Breilmann (1953), S. 38. 1486 S. Frh. v. Dörnberg, Statistische Nachrichten … (1865), S. 20. 1487 So der Bericht des Amtmannes von Wengern v. 6. August 1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 118 RS. 1488 S. Statistische Darstellung des Krs. Meschede (1874), S. 17.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

situation. Die Wanderung, von den Zünften einst als zentrales Bildungserlebnis des jungen Handwerkers erachtet und von Generationen von Historikern als solches glorifiziert, war in Wahrheit nicht mehr nur für die typischen Nahwanderer, sondern auch für die weitgereisten Gesellen, die nach Westfalen kamen, zur bloßen Arbeitsmigration geworden. Von dieser neuen Entwicklung wurde die prosperierende Provinz ebenso frühzeitig wie nachhaltig erfasst. Aufgrund des ungewöhnlich reichhaltigen Arbeitsplatzangebotes in manchen ihrer Regionen begann sich das Arbeitskräftepotential nach der Jahrhundertmitte in Rheinland-Westfalen insgesamt neu zu verteilen, und zwar über die Provinzialgrenzen hinweg. Neben der Auswanderung wurde die Binnenwanderung in Deutschland nun zum bestimmenden Faktor der regionalen Bevölkerungsentwicklung. Hierbei erreichten das Rheinland und Westfalen innerhalb des preußischen Staatsgebietes eine Sonderstellung, indem sie als einzige der Provinzen der Monarchie eine nahezu ausgeglichene Wanderungsbilanz aufwiesen. Die Binnenwanderung ersetzte hier die Auswanderungsverluste, so dass – rechnerisch – Preußens Westen fast der gesamte Zuwachs aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung erhalten blieb.1489 Nach alledem profitierte das Handwerk ganz im Gegensatz zu der lange herrschenden Meinung von der in den fünfziger Jahren in Teilen Westfalens voll einsetzenden Industrialisierung maßgeblich. Denn diese entwickelte das Arbeitsplatzangebot derart, dass es in der Provinz zu einem gravierenden Überhang von Arbeitskräften im Kleingewerbe nicht mehr kam. E. DIE SOZIALE SICHERUNG DER GESELLEN 1. Die Zeit der Fremdherrschaft Mit der Aufhebung der Zünfte, einer Radikalkur gleichsam, widerfuhr den Unterstützungskassen der Gesellen eben jenes Schicksal, welches die fremden Herren aus dem revolutionären Frankreich auch den Versorgungseinrichtungen der Meister bereitet hatten. In Münster wurde wie anderwärts das Vermögen der Gesellenladen an die städtische Armenkommission überwiesen.1490 Doch ließ das von den Hilfskräften als weitaus dringender empfundene Bedürfnis nach sozialer Sicherung jedenfalls in den früh industrialisierten Regionen Westfalens Kirchen wie Kommunen schon bald nach der Reanimierung der Unterstützungskassen streben. In diesen Gegenden gewerblicher Verdichtung kannte man das massenhafte soziale Elend im Gefolge schwankender Konjunkturen, hier auch fehlte den Arbeitern wie den Meistern nicht selten das stabilisierende Element des kleinen Grundbesitzes, der für so viele andere gewerbetätige Westfalen die willkommene Rückversicherung gegen die Launen des freien Marktes war. Das märkische Lüdenscheid war wohl jene westfälische Stadt, in der der Gedanke sozialer Selbsthilfe nach der Aufhebung der Korporationen am ehesten wieder konkrete Gestalt annahm. Im März 1810 trafen sich 19 Lüdenscheider Fabrikanten, um die Statuten der „bis hierhin in Verfall ge1489 S. Köllmann, Demographische Konsequenzen … (1974), S. 51. 1490 S. Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster v. 28.2.1826 an das Innenministerium, in: GStA/PK, Rep. 120, BV Nr. 9, fol. 49 ff.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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kommenen Unterstützungskasse aufs neue zu regulieren“.1491 Der Maire des Industrieortes legte dem Präfekten des Arrondissements Hagen im Jahre 1810 den Entwurf einer Satzung für eine allgemeine Unterstützungskasse vor, die allen Bürgern der Stadt ohne Unterschied des Geschlechtes, Berufes oder der Konfession offen stehen sollte.1492 Es war vorgesehen, alle Handwerker, Fabrikarbeiter und Tagelöhner am Ort zur Mitgliedschaft zu verpflichten. Der Gedanke der Zwangsversicherung, der den Zünften selbstverständlich gewesen war, wurde damit sogleich wieder aufgenommen, nun aber auf alle angesessenen Gewerbetätigen, also auch die Gesellen, ausgedehnt. Die Kasse hatte den umfassenden Zweck, „die in Unglücksfälle geratenen Mitglieder zu unterstützen.“1493 Sie sollte insbesondere bei Krankheit und Tod eintreten und damit die bisher zumeist getrennt geführten Krankenauflagen und Sterbekassen zusammenfassen. Der eigentliche, hoch bedeutsame Fortschritt des neuen Statuts gegenüber dem Sicherungssystem der Ämter und Gilden lag weniger in der bemerkenswerten Leistungsbereitschaft der Einrichtung als vielmehr in dem Umstand, dass Bedürftigkeit nicht länger Voraussetzung für den Eintritt der Leistungspflicht war. Hatte sich ein „Unglücksfall“ ereignet, so sollte die Kasse unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des Betroffenen und seiner Familie zahlen. Demgemäss entfiel auch der Anspruch der Lade auf Rückzahlung der empfangenen Unterstützung, den man zur Zunftzeit noch für selbstverständlich gehalten hatte. Die durch erstaunliche Großzügigkeit und Modernität beeindruckende Konzeption der Lüdenscheider Einrichtung verdient als unmittelbare Antwort einer problembewussten Stadtverwaltung auf den Untergang des zünftischen Kassenwesens, mehr noch als Bindeglied zwischen mittelalterlichen Formen der sozialen Vorsorge und dem modernen Versicherungswesen besondere Aufmerksamkeit. Für die Jahre zwischen 1810 und 1828 fehlen Nachrichten über die Tätigkeit der Kasse. Infolge der instabilen politischen Situation dürfte es während der Franzosenzeit nicht mehr zur Errichtung dieser geplanten „Allgemeinen Auflage“ gekommen sein. Erst 1828 wurde in Lüdenscheid nach der 1810 entworfenen, inzwischen aber erneuerten Verfassung eine lebenskräftige Lade organisiert, die noch dem Gesetzgeber späterer Jahre als Modell eines funktionstüchtigen Versicherungswesens diente.1494 In anderen Städten der Grafschaft Mark überdauerten manche Formen des kollektiven Selbsthilfesystems der Zünfte. Dies war in Iserlohn1495 oder in MärkischLangenberg,1496 wo die 1804 errichtete „große Handwerks-, Kranken- und Sterbeauflage“ noch 1856 blühte, der Fall. Auch in Minden und Bielefeld lebten Laden trotz der Aufhebung der Gilden und Zünfte fort.1497 Die Einrichtungen der IndusS. Reininghaus (1985), S. 139. Satzungsentwurf vom 13. Juli 1810, abgedruckt bei Steinkühler (1931), S. 87, 88. § 2 des Entwurfs, s. Anm. 1492. Vgl. Steinkühler (1931), S. 88; Reininghaus (1985), S. 139 m. w. Nachw. „Seit länger als 80 Jahren haben hier sowohl für Fabrikarbeiter als auch für die übrigen Einwohner Unterstützungscassen bestanden;“ s. STAM, Landratsamt Iserlohn, Nr. 636, fol. 279 (betr. Stadt Iserlohn, 1855), zitiert nach Reininghaus (1980), S. 46 ff. (51). 1496 S. Verzeichnis der im Krs. Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff. 1497 Reininghaus (1985), S. 142. 1491 1492 1493 1494 1495

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II. Die gewerbliche Ausbildung

triestädte wurden Vorbild für ähnliche, bald nach dem Ende der Franzosenzeit ausgebildete Formen des Unterstützungswesens. 2. Die soziale Sicherung der Gesellen in der preußischen Provinz Westfalen a. Das Stadthandwerk aa. Die Jahre des vorsichtigen Neubeginns: 1815–1845 Nach der Aufhebung des Zunftwesens wurde die Frage drängend, wer zukünftig die Heil- und Pflegekosten für erkrankte sowie die Unterstützungslasten für mittellose, insbesondere wandernde Gesellen tragen sollte. Der § 353, Tit. 8, T. 2 des ALR, der diese Aufwendungen den Gesellen- oder Gewerkskassen auferlegt hatte, war unanwendbar geworden, da solche Kassen im allgemeinen in Westfalen nicht mehr existierten. Eine andere Rechtslage bestand nur im Kreis Wittgenstein, wo die Handwerksmeister als Zunftgenossen auch nach der Eingliederung des Landes in das Preußische Staatsgebiet verpflichtet blieben, zum Unterhalt erkrankter Handwerksgesellen beizutragen. Zwar hatte das preußische Polizeidepartement schon 1812 entschieden, dass dort, wo keine Korporationen bestanden, zunächst die Kämmerei- bzw. die Ortsarmenkasse oder der Landarmenfonds gemäß §§ 354, 355 II 8 ALR die Pflegekosten erkrankter, bedürftiger Gesellen erstatten müsse; die Träger dieser Kassen konnten dann die begünstigten Gesellen auf Erstattung in Anspruch nehmen.1498 Diese Entscheidung, die in Westfalen nicht ausdrücklich in publiziert worden war, blieb unbefriedigend, da die Gemeinden entschlossen die Kostenübernahme verweigerten. Sie erklärten, wandernde Handwerksgesellen seien Reisende und diese hätten für ihren Unterhalt selbst aufzukommen. Erkrankte, mittellose Gesellen wurden deshalb häufig unter Verletzung der in § 355 II 8 ALR unzweideutig normierten Hilfspflicht der Gemeinden von den Polizeibehörden abgeschoben, ohne dass man ihnen die erforderliche medizinische Versorgung gewährt hatte. Dem Innenminister von Schuckmann wurden zahlreiche Beispiele dieser menschenverachtenden Praxis der Kommunen bekannt. Die düstere Realität war von der Art, dass der Minister nicht nur Gesundheit und Leben der Betroffenen gefährdet sah, sondern – nicht zu Unrecht – die Verbreitung ansteckender Krankheiten fürchten musste.1499 Die Verhältnisse wurden, und dies galt vor allem für das korporationslose Westfalen, wo die Meister der der Zunftgemeinschaft jahrhundertelang eigenen Verant-

1498 Verordnung des preußischen Polizeidepartements vom 3. Mai 1812, vgl. GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 2. 1499 S. Schreiben des Innenministers an den Finanzminister v. Bülow vom 22. September 1817, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9. Die Vorschriften des ALR, wonach der Aufenthaltsort für die Genesungskosten der Gesellen aufkommen mußte und ein Regreßanspruch gegen die Heimatgemeinde ausgeschlossen war, wurde 1822 ausdrücklich damit begründet, daß „das Interesse sich durch Gegenseitigkeit ausgleicht“; zitiert nach Frevert (1984) m. w. Nachw.

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wortung gegenüber den Gesellen vollends ledig geworden waren, immer unhaltbarer. Das Gewerbeministerium verlangte deshalb schon 1817, das Problem der Kostentragung müsse in dem neuen Gewerbepolizeigesetz, das sich damals bereits in Vorbereitung befand, geregelt werden.1500 Die wiederholte Behandlung dieser Frage1501 zeigt, dass der Arm der Regierung jedoch nicht weit genug reichte, um die Abschiebepraxis der Gemeinden zu unterbinden. Zum Erlass gesetzlicher Bestimmungen kam es aber sobald nicht. Der Gesetzgeber ließ die Gesellen noch Jahrzehnte auf die notdürftigste soziale Sicherung warten. Angesichts der notorischen Abstinenz des Staates entschlossen sich mancherorts die Meister, welche die beklagenswerten Zustände aus eigener Anschauung am besten kannten, die Probleme auf lokaler Ebene in eigener Verantwortung zu lösen.1502 So veranlassten die Gewerbetreibenden einiger größerer westfälischer Städte, in denen korporatives Gedankengut noch nicht ganz erloschen war, ihre Gesellen damals zur Errichtung neuer Unterstützungskassen.1503 Aber auch die Hilfskräfte selbst ergriffen mancherorts die Initiative und traten zu sog. Gesellenladen zusammen. Diese frühen Gründungen hatten ein ganz unterschiedliches Schicksal. (a) Exemplarische Wiederbegründungen In Paderborn existierte auf Veranlassung der Meister schon 1819 wieder eine Auflage der Schuhmacher-, Schneider-, Schmiede- und Schreinergesellen. Doch entglitt den Arbeitgebern dort bald jeder Einfluss auf die Kasse. All die sog. „Missbräuche“, die in der Endzeit des alten Handwerks so oft beklagt worden waren, lebten hier, wo die Korporationen bis zu ihrer Aufhebung ein – im Vergleich zum ostelbischen Preußen – ungewöhnliches Maß an Freiheit besessen hatten, sogleich wieder auf. Die Herbergen der Bischofsstadt präsentierten sich – den örtlichen Liberalen zum Ärgernis – schon bald wieder in traditioneller Weise mit ihren Schildern an der Straßenfront; die Gelder der selbstverwalteten Lade wurden – ganz so wie zur Zunftzeit – nicht selten zu Gelagen verwendet, so dass den kranken und bedürftigen Gesellen die notwendigste Hilfe vorenthalten werden musste.1504 Besonders unerfreulich für die Meister war, dass die Gesellen die Mittel ihrer Kasse,

1500 S. Verordnung der Regierung Minden vom 13. Januar 1821, in: Amtsbl. Reg. Minden vom 7. Februar 1821, S. 62. Auch 1826 verwies die Regierung Minden wieder darauf, daß die Frage der Errichtung von Krankenkassen „jetzt unter einem allgemeinen Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit höherer Behörde auf sich gezogen zu haben scheint, und davon der Erfolg abzuwarten ist“; zitiert nach Frevert (1984), S. 162. 1501 Schreiben des Gewerbeministeriums an den Innenminister v. Schuckmann vom 9. Oktober 1817, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9. Frevert weist darauf hin, daß eine engagiertere Sozialpolitik des preußischen Staates der liberalen Ausrichtung der Gewerbepolitik widersprochen hätte; s. Frevert (1984), S. 149. 1502 Demgemäss kann nur durch die Auswertung von lokalen Quellenbeständen Licht in das Dunkel des Kassenwesens zur Zeit des Vormärz gebracht werden. 1503 Schreiben des Polizeikommissars der Stadt Paderborn vom 15. Juli 1819 an den Landrat von Elberfeld, in: Stadtarchiv Paderborn, 374 a;vgl. auch Reininghaus (1985), S. 140. 1504 So Schreiben der Tischlermeister der Stadt Paderborn vom 8. Januar 1820 und vom 22. September 1821, in: Stadtarchiv Paderborn, 373 f.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

alter Gewohnheit gemäß, auch dazu missbrauchten, ihre Arbeitgeber unter Druck zu setzen, indem sie arbeitsuchenden fremden Handwerkern Unterstützungen zahlten und sie von der Arbeitsaufnahme abhielten. Dadurch erzeugten sie einen künstlichen Arbeitskräftemangel in der Stadt, der naturgemäß die günstigsten Wirkungen auf die Arbeitsbedingungen der einheimischen Gesellen zeitigte. Doch darin erschöpfte sich die Bedeutung der Kasse noch nicht. Die neu errichtete Auflage in Paderborn war – ganz wie zur Zeit des alten Handwerks – nicht nur wirtschaftlicher und sozialer Rückhalt der Bruderschaft in Notlagen. Sie einte vielmehr die Gesellen, wurde ihr gesellschaftlicher Mittelpunkt und eröffnete ihnen die Möglichkeit, eigene Angelegenheiten zu besprechen und zu regeln.1505 Nicht zuletzt diente sie auch als wirtschaftliche Basis für Auseinandersetzungen mit den Meistern. Solches Gewicht stabilisierte naturgemäß. Die wiederholten Versuche der Paderborner Meister, die Kasse aufzuheben oder der eigenen Kontrolle zu unterstellen, schlugen deshalb fehl.1506 Das Beispiel Paderborns, wo sich die Gesellenverbände bis zum Ende des Alten Handwerks frei hatten entfalten können, zeigt, wie lebenskräftig korporative Einrichtungen auch nach der vollständigen Aufhebung der Zünfte in Westfalen wiedererstehen konnten. Das Kassenwesen bildete dort als organisatorische Grundlage der Gesellenverbände bald schon wieder mehr als eine bloße Reminiszenz an die verblichene Zunftordnung. Weniger Korpsgeist entwickelten die Gesellen in Münster. Zwar hatten sich die Angehörigen nahezu aller wichtigen Gewerke auch dort schon in den Jahren 1821 und 1822 wieder in Handwerkerladen zusammengeschlossen.1507 Ebenso wie die Regierungen in Minden und Arnsberg bestand die Münsteraner Behörde zunächst aber auf der Freiwilligkeit des Beitritts zu den Einrichtungen, um den unerwünschten Anfängen neuen Zunftzwanges zu wehren. Daraus erwuchsen den Laden existentielle Probleme, wie noch zu zeigen sein wird. Anders als in Münster lebten die Gesellenladen in den Landstädten des Münsterlandes nicht wieder auf. Zwar hatten bis zur Beseitigung des Zunftwesens auch in Warendorf und Telgte Gesellenvereinigungen bestanden. Neue Laden wurden

1505 Zu diesen Funktionen der Laden allgemein s. Todt/Radanth (1950); Wachenheim (1971); Offermann (1979); S. 156. 1506 Solche Vorstöße unternahmen die Meister in Paderborn in den Jahren 1820, 1821 und 1824; s. Schreiben der Tischlermeister vom 8. Januar 1820 an den Magistrat; desgl. Schreiben vom 22. September 1821 und Schreiben vom 1. Januar 1824, alles in: Stadtarchiv Paderborn, 373 f. Hier darf aber der Hinweis nicht fehlen, daß die westfälischen Gesellen eine durchaus geringere Streikbereitschaft als diejenigen anderer Regionen zeigten. Zwar lassen sich auch in Westfalen, z. B. in Lippstadt, Ausstände nachweisen. Die Dokumentation der Gesellenstreiks im 18. Jahrhundert in Deutschland nennt nicht weniger als 541 solcher Ausstände; darunter findet sich aber nicht einer in Westfalen; s. Reith/Grießinger/ Eggers (1992), S. 456–458. Allein für Bremen wurden dagegen zwischen 1731 und 1811 60 solcher „Unruhen“ ermittelt; s. Schwarz (1975), S. 233–317, 387. Zum Protestverhalten der Gesellen im 15. und 16. Jahrhundert vgl. z. B. Bräuer (1989), S. 129–192. 1507 Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster vom 28. Februar 1826, in: GStA/PK, Rep. 120, B V 1 Nr. 9, fol. 49 ff.; Goeken (1925), S. 26.

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dort aber nicht errichtet.1508 Zwar hat es auch in den Landstädten Versuche zur Wiederbelebung des Kassenwesens gegeben. 1826 berichtete die münsterische Regierung aber, dass die Gesellen außerhalb der Provinzialhauptstadt die notwendige Unterstützung zumeist nicht fänden. Sie weigerten sich deshalb auch in Münster in immer größerer Zahl, Mitglied einer der Kassen zu werden. Die Folge sei, dass diese inzwischen bereits wieder aufgelöst oder der Auflösung nahe seien. Gerade aber die Wanderer bedürften der finanziellen Zuwendungen. Für erkrankte, aber in einem Arbeitsverhältnis stehende Gesellen hätten aufgrund der ministeriellen Verordnung vom 20.2.1824 in Verbindung mit ALR T. 2 Tit. 8, § 355 die Kommunen Sorge zu tragen. Die Wanderburschen blieben sich dagegen selbst überlassen. Die Gemeindekassen auch noch durch Unterstützungsleistungen für diese Gesellen zu belasten verbiete sich, da das nicht nur den Zweck verfehle, sondern auch die an Landstraßen gelegenen Orte in unzumutbarer Weise beschweren werde. Die Gewerbefreiheit habe durch die Auflösung der Zwangskassen eine Lücke gerissen, die geschlossen werden müsse. Blieben die Gewerbe weiterhin ohne rechtlichen Rahmen und ohne das unerlässliche organisatorische Rückgrat, könne „dies gefährdend für die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt sein“.1509 Offenbar war der Regierung die eindeutige, auch die auf der Wanderschaft erkrankten Gesellen betreffende Regelung unbekannt geblieben. Jedenfalls unterstützte sie das Petitum des münsterischen Oberbürgermeisters: Das Stadtoberhaupt hatte vorgeschlagen, die Zwangsmitgliedschaft aller Gesellen in den Kassen anzuordnen und den geforderten Zwangsbeitrag zu den Unterstützungskassen auf ein Dreißigstel des Gesellenlohnes festzusetzen. In Süd- und Ostwestfalen verlief die Entwicklung anders als in den Kleinstädten des Münsterlandes: Dort kam es vielerorts zum Wiederaufbau des Kassenwesens der Gesellen. In Iserlohn beispielsweise wurde 1823 unter maßgeblicher Mitwirkung der Meister eine Schreinerherberge eröffnet.1510 Der Herbergsvater war vertraglich verpflichtet, sowohl die am Ort in Arbeit stehenden als auch die auf der Durchreise erkrankten Gesellen aufzunehmen. Solch eine Einrichtung bestand schon seit 1820 auch in Lippstadt.1511 Die Hattinger Gesellenschaft begründete 1826 die Handwerksgesellen-Herberge nebst Auflage wieder.1512 Und in Minden war schon 1816 wieder eine sog. Maurer-Gesellen-Vereinskasse aufgebaut wor-

1508 So Reininghaus (1985), S. 142. 1509 Schreiben der Reg. Münster an das Innenministerium v. 10.3.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V Nr. 9, fol. 49 ff. 1510 S. Statut der in Iserlohn errichteten Schreinerherberge vom 28. Juli 1823, in: Stadtarchiv Soest XIX 9. 1511 Laut Erlaubnis des Landrats des Krs. Lippstadt vom 18. September 1820, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 58; desgl. s. Schreiben des Landrats in Lippstadt vom 25. Februar 1828, in: STAM, Reg. Arnsberg, B Nr. 58. 1512 Vgl. Verzeichnis der im Krs. Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung vom 6. September 1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. Auch in Dortmund, Altena, Hattingen, Bochum und Witten bestanden schon frühzeitig Gesellenvereine, die vermutlich auch Krankenladen eingerichtet hatten; s. Reininghaus (1980), S. 52.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

den.1513 Die Errichtung weiterer Laden für die Gesellen der anderen Gewerke in der Stadt folgte seit 1826. In Siegen wurde 1833 der sog. „Rothgerber-Verein“ ins Leben gerufen.1514 In Bielefeld hatten die Schuhmacher- und die Eisenarbeitergesellen und andere schon 1819 neue Laden gegründet. 1826 organisierten sich dort die Maurer- und Tischlergehilfen, und auch die Zimmerleute „nebst Gesellen“ errichteten noch im Jahre 1826 das Zimmergewerk neu.1515 Mit diesem war eine Kasse der Gesellen verbunden, aus der erkrankte Gewerksbrüder und zuwandernde fremde Hilfskräfte unterstützt sowie zu den Beerdigungskosten verstorbener Genossen beigetragen wurde. Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der Zeit wurden die Bielefelder Zimmerlehrlinge ebenfalls zu Leistungen verpflichtet, woraus ihnen eine Anspruchsberechtigung zuwuchs. Ausreichend waren diese diversen Ansätze jedenfalls nicht. Dies ergibt sich schon aus den regelmäßig wiederholten Verfügungen und Verordnungen, die sich mit der Versorgung erkrankter Handwerksgesellen befaßten: Sie lassen sich für 1818, 1824, 1828, 1833 und 1838 nachweisen.1516 Das ganz Unbefriedigende der 1513 S. Schreiben des Maurergesellen Bartels an den Magistrat vom 4. März 1857, in: Stadtarchiv Minden, F 206; Reininghaus (1985), S. 139. 1514 Schreiben der Gerbergesellen in Siegen (undatiert), in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1742. 1515 S. Nachrichten über die im Jahre 1826 hierselbst (in Bielefeld) … unter dem Namen „Zimmergewerk“ errichteten Vereine, in: Stadtarchiv Minden, F 206; Pieper-Lippe (1980), S. 75– 78. Dort finden sich auch Abbildungen der prächtigen, in den Jahren 1819 und 1826 neu geschaffenen Willkommpokale der wiedererstandenen Gesellenverbände. Zur Wiedererrichtung von Gesellenkassen in Bielefeld ausführlich Frevert (1981), S. 295–308 1516 In Preußen war den Zünften schon durch die „Verordnung vom 7. Januar 1783, betreffend die Kur und Verpflegung der auf der Wanderschaft oder in den Werkstätten krank gewordenen Handwerksgesellen“ (Neue Ediktensammlung Bd. VII, S. 1769) aufgegeben worden, keinen kranken Gesellen zu entlassen. Als das Berliner Armendirektorium Klage darüber führte, daß diese Vorschrift nicht beachtet werde, wurde dieselbe durch Verordnung vom 31. Dezember 1802 erneut eingeschärft; der Verstoß gegen die Regelung sollte mit einer Geldbuße von 10 Rtl. für das Gewerk und der Pflicht zur Erstattung aller durch die Heilung und Pflege der erkrankten Gesellen entstandenen Kosten geahndet werden. Ergänzt wurde diese Bestimmung durch das Landarmenedikt, welches den Zünften ebenfalls auferlegte, für ihre Armen und damit auch für ihre Kranken Sorge zu tragen. (s. Landarmen- und Invaliden- Reglement für die Kurmark vom 16. Juni 1791, Neue Ediktensammlung Bd. IX, S. 123). Nähere Ergänzungen und Abänderungen zu diesen Regelungen enthielt dann die Verordnung vom 10. August 1812 im Amtsblatt der Kurmärkischen Regierung in Potsdam, Jahrg. 1812, S. 363 (nur für die Marken und Pommern erlassen). Die Neuerung bestand im wesentlichen darin, daß die zahlende Zunft- bzw. Ortsarmenkasse nunmehr bei den Angehörigen des Gesellen bzw. der Heimatgemeinde unter bestimmten Umständen Regreß zur Erstattung der verauslagten Beträge nehmen konnte. Die Details der Bestimmungen sind dargestellt bei Augustin, 1. Bd. (1818), S. 504–506; s. auch ders., Bd. 3 (1824), S. 262 f. Die Regierung in Potsdam stellte 1823 noch einmal klar, daß die genannte Regreßregelung nur in den Marken und Pommern, in den übrigen Landesteilen Preußens aber die Vorschriften des ALR T. 2, Tit. 8, §§ 353–355 gälten; das Innenministerium wies durch Circular- Reskript v. 20. Februar 1824 auch die Regierungen in Minden und Münster darauf hin, daß in ihrem Bereich die genannten Bestimmungen des ALR zu beachten seien; s. Augustin Bd. 4 (1828), S. 379,380. 1828 wandte sich die Regierung in Liegnitz gegen die offenbar vorbereitete Praxis, zuwandernde erkrankte Gesellen „mit einem außergewöhnlichen Zehrgeld und Hinweisung auf die in jenen öffentlichen Heilanstalten zu

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

365

herrschenden Verhältnisse zeigte sich schon darin, daß die Städte durch immer neue Initiativen versuchten, den Unterhaltskosten für auf der Wanderschaft erkrankten Gesellen zu entgehen. Zwar lobte der Bielefelder Magistrat 1821 die dort bereits wieder bestehenden gewerksspezifischen Kassen als „unleugbar zweckmäßige“, „wünschenswerte“ Einrichtungen. Gegen Zahlung von monatlich zwei Silbergroschen hatten die Gesellen im Krankheitsfall Anspruch auf Verpflegung und medizinische Behandlung. Der Bestand der Kassen erschien aber schon kurz nach ihrer Errichtung wieder gefährdet, da zahlreiche zuwandernde Gesellen die Mitgliedschaft und Beitragszahlung verweigerten.1517 Diese verhielten sich allerdings rational, da das geltende Recht bestimmte, daß für sie im Erkrankungsfall die Kommune aufzukommen hatte. So nimmt es nicht wunder, daß der Bielefelder Bürgermeister Delius 1828 dem zuständigen Landrat klagte, die städtische Armenkasse hätte durch krank zugewanderte Gesellen „eine enorme Ausgabe zu bestreiten, wozu sie keine Mittel besitzt.“1518 Das Abschieben erkrankter Gesellen blieb, wie schon im 18. Jahrhundert, ein verbreiteter Mißstand; wieder und wieder beschwerten sich die Städte „über den fortwährenden Andrang krätziger Handwerksgesellen, die von den vorliegenden Polizeibehörden, ohne den Krankheitszustand zu beachten, hierhin dirigiert werden. Häufig scheinen diese die Krankheit absichtlich zu übersehen, um dem vorgeschriebenen Zurückhalten solcher Reisenden und den damit verbundenen Verpflegungs- und Kurkosten auszuweichen.“1519 (b) Die Entwicklung im Überblick Der von Reininghaus erarbeitete umfassende Katalog der Unterstützungskassen der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter im Westfalen für die Zeit zwischen 1815 und 1850 weist nach, wie lebhaft das Interesse an der Wiedererrichtung einer institutionalisierten sozialen Sicherung für Handwerksgesellen schon bald nach der Aufhebung der Zünfte war. Laden für Gewerbegehilfen und Kassen, die neben Arbeitern auch Gesellen aufnahmen, lassen sich in folgenden Orten nachweisen (die zeitliche Einordnung erfolgte nach dem Jahr der Gründung bzw. Erwähnung der ersten Gesellenkasse am Orte):1520

1517 1518 1519 1520

erwartende bessere Pflege unziemlich zur Fortsetzung der Wanderschaft (zu) bewegen“, also in Nachbarstädte abzuschieben; so Bekanntmachung der Reg. Liegnitz v. 12. Dezember 1828 in: Amtsblatt Reg. Liegnitz 1828, S. 318, hier zitiert nach Augustin Bd. 5 (1833), S. 267, 268; dort finden sich auch weitere Reskripte etc. zur „Aufbringung der Kur- und Verpflegungskosten für kranke Handwerksgesellen“, a. a. O. S. 267–270. S. auch Augustin Bd. 6 (1838), S. 431–435. S. Frevert (1984), S. 159. Zitiert nach Frevert (1984), S. 158. Reg. Münster an Reg. Minden v. 28.03.1829, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 158. Zusammengestellt nach den Angaben bei Reininghaus (1985), S. 131 ff. (134–142). Dort finden sich auch detaillierte Angaben zur Gründungsgeschichte der einzelnen Kassen. Die in Klammern gesetzte Zahl gibt die Anzahl der am Orte errichteten Gesellenladen wieder. Zum Zusammenhang von Gesellenladen und Krankenkassen der Fabrikarbeiter vgl. Frevert (1984).

366

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 33: Errichtung von Gesellenkassen in Westfalen vor 1820

1820–1830

1830–1840

1840–1845

Herford (5)

Arnsberg (4)

Altena (1)

Enger (1)

Lüdenscheid (1)

Bielefeld (9)

Borgholzhausen (1)

Hagen (1)

Minden (9)

Bochum (1)

Bünde (1)

Herdecke (1)

Paderborn (7)

Hattingen (1)

Dortmund (3)

Rheda (1)

Iserlohn (1)

Gütersloh (2)

Soest (1)

Lippstadt (1)

Halver (1)

Unna (1)

Münster (10)

Menden (2) Schwelm (3) Siegen (3) Voerde (1) Witten (1)

(1) Die Initiatoren der Kassengründungen Zunächst drängt sich die Frage nach den Initiatoren des Kassenwesens auf. Es waren die Meister, ebenso häufig aber auch die Gesellen selbst und gelegentlich auch die Gemeinden oder private Philanthropen, die den Anstoß zur Kassengründung gaben. Die Gewerbegehilfen hatten nach der Einführung der Gewerbefreiheit die schmerzliche Erfahrung machen müssen, bei Krankheits- oder Unglücksfällen weitgehend schutzlos zu sein. Sich aber für jedermann sichtbar auf die öffentliche Armenfürsorge verlassen zu müssen, galt ihnen als deklassierend. Daher betonten die Vertreter der wiedergegründeten Laden immer ausdrücklich, sie wollten mit ihrer Initiative verhindern, dass die Gewerbegehilfen in Notfällen den Kommunen zur Last fielen.1521 Die Lippstädter Schreinergesellen gar erhoben, gleichsam jeden Verdacht von sich weisend, anlässlich der Einweihung ihrer neuen Herberge im Jahre 1820 eine Umlage für die städtische Armenkasse. Für die Gesellen waren die Laden, ganz im Sinne der bürgerlichen Sozialreformer, Mittel der Hilfe durch Selbsthilfe.1522 Die neuen Einrichtungen sollten, wie es 1845 in Soest hieß, „unter den Gesellen das Gefühl wecken und befördern, ihren Genossen in Zeiten der Noth hülfreiche Hand“1523 sein zu können. Dass sich die Gesellen dennoch über ihre wahre Lage keine Illusionen machten, beweist eine Bemerkung in den Statuten der Lade der Iserlohner Schreinergesellen, welche ohne Umschweife feststellten, dass „diese Herbergseinrichtung in die Cathegorien einer Armenanstalt gehört“.1524 Die zahlreichen Initiativen, welche die Meister zur Kassengründung ergriffen, fanden weniger in deren altruistischer Haltung als vielmehr in begründetem Eigeninteresse ihre Ursache: In Bünde wie in Hemer bildeten die kostspielige Pflege eines erkrankten und die Beisetzung eines verstorbenen Gesellen jeweils den konkre1521 1522 1523 1524

Reininghaus (1985), S. 147. Vgl. Reininghaus (1985), S. 148 m. w. Lit.-Hinweisen. Zit. nach Reininghaus (1985), S. 148. Zit. nach Reininghaus (1985), S. 148.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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ten Anlass für die Errichtung von Laden durch die Meister. Solche finanziell schmerzlichen Erfahrungen ließen die Arbeitgeber vielerorts mit Macht auf die Etablierung von Kassen dringen. In Bochum beispielsweise betrieben sie deren Gründung gegen den jahrelangen Widerstand der Behörden. In Hemer wollten die Meister, gewarnt durch leidvolle Erfahrungen, keinen Gesellen einstellen, der sich nicht der Auflage anschloss.1525 Auch dort handelten sie weniger aus der besonderen Verantwortung des Arbeitgebers; spezifisches Motiv war vielmehr das Interesse des Bürgers, der als Beitragszahler zur kommunalen Armenkasse bis dahin jedenfalls mittelbar für die erkrankten Gesellen aufkommen musste. Wegen dieses Zusammenhangs fanden die neu errichteten Gesellenladen über das Handwerk hinaus Anerkennung und Unterstützung. Bezeichnenderweise galt die Bünder Gesellenlade allgemein als sogenannte „Bürgerstiftung“. Trotz der aus der Genesis der neuen Laden und Auflagen herrührenden starken Stellung der Arbeitgeber in vielen dieser Einrichtungen des Vormärz behielten die Gesellen selbst aber doch den maßgeblichen Einfluss auf die Verwaltung der neuen Institute. In der Regel herrschte bei der Besetzung der wichtigen Positionen wenigstens Parität: Auf einen oder zwei im Vorstand vertretene Meister entfiel zunächst die gleiche Anzahl an Gesellen. Die von diesen gewählten Meister beobachteten das Geschehen am Auflagetage allenfalls als Beisitzer. Von der Verwaltung völlig ausgeschlossen wurden die Gesellen nur selten: So etwa geschah es aber in Altena, wo drei Meister ab 1836 die zerrütteten Finanzen der Lade ordneten; im Vorstand in die Minderzahl gedrückt wurden die Gesellen auch in Bünde – was aber als Ausnahme lediglich die Regel bestätigt.1526 (2) Das Problem der Zwangsmitgliedschaft Da es im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung der neu gegründeten Laden und Korporationen lag, die Zwangsmitgliedschaft durchzusetzen, suchten die Handwerker bei den Behörden immer wieder um eine Bestätigung des Statuts ihrer Kassen nach. Hierbei konnten sie, wie das Beispiel Münsters (s. o.) zeigt, im Einzelfall auch Unterstützung finden: Nachdem die Kassen in der Stadt zunächst zu aller Zufriedenheit tätig geworden waren, zogen sich manche der Gesellen aber bald wieder aus den Laden zurück, und dies nicht ohne Grund: Die Nichtversicherten erhielten nämlich, so stellten die Mitglieder bald fest, im Krankheitsfall durch die öffentliche Armenpflege, die in Münster besonders reich ausgestattet war,1527 die gleichen Leistungen wie diejenigen Gesellen, die selbst Beiträge zur berufsständischen Kasse gezahlt hatten. Bei dieser Sachlage war natürlich die Frage nach der praktischen Notwendigkeit der Kassen gestellt. Um dem befürchteten Mitgliederschwund zuvorzukommen, veranlassten die Schustergesellen das Clemens-Hospital der Stadt, das im Auftrage der Lade die kranken Mitglieder betreute, künftig nur mehr jene Gesellen, die der Lade angehörten, aufzunehmen. Solchen Versuchen, mittelbar die Zwangsmitgliedschaft durchzusetzen, war allerdings nur wenig Erfolg be1525 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 146. 1526 S. Reininghaus (1985), S. 146. 1527 S. Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster vom 28. Februar 1826, in: GStA/PK, Rep. 120, B V 1 Nr. 9, fol. 49 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

schieden. Die Zahl der Gesellen, welche die Zugehörigkeit zu den Auflagen für unnötig hielt, vergrößerte sich ständig. Das Kassenwesen verfiel bald wieder. Damit wiederum wuchs die Gefahr, dass sich die durchreisenden Handwerksburschen, die wegen der formellen Existenz der Laden in Münster seitens der öffentlichen Armenversorgung kein Zehrgeld erhielten, von den inzwischen morbiden Gesellenkassen aber auch nicht unterstützt wurden, aufs Betteln verlegten. Stadt und Regierung Münster forderten deshalb im Jahre 1826 – ganz im Gegensatz zu ihrer wenige Jahre zuvor vertretenen Auffassung – nachdrücklich die Einführung der Zwangsmitgliedschaft aller Gesellen in den Kassen.1528 Der Beitrittszwang sollte nicht auf einzelne Orte beschränkt, sondern allgemein verbindlich gemacht werden, da sonst zu befürchten stehe, dass die Gesellen dorthin abwanderten, wo keine Versicherungspflicht eingeführt sei. Dieser Vorschlag der Stadt wurde der Kommission zur Revision der Gewerbegesetzgebung in Berlin unterbreitet, fand aber kein Gehör. Auch in Bielefeld regte der Magistrat an, die Zwangsmitgliedschaft in den Kassen einzuführen und den Beitrag vom Lohn abzuziehen. Die Mindener Regierung wies aber auf die fehlende Rechtsgrundlage für ein solches Verfahren hin. 1824 fragte der Bielefelder Magistrat dann in Elberfeld und Berlin an, wie die dortigen Gesellenkassen ausgestaltet sein. Das Eberfelder Modell erschien ihm bald geeignet, so daß er dessen Übernahme vorschlug. Kernstück war der Beitritts- und Beitragszwang für alle Gesellen mit Ausnahme der in Bielefeld verheirateten oder dauerhaft ansässigen Hilfskräfte. Nur wer einen „sicheren Bürgen“ nachweisen konnte, der ggf. die Krankheits- bzw. Beerdigungskosten übernahm, konnte von der Beitragspflicht befreit werden. Die meisten Gewerke formulierten sog. „Gesellenreglements“ mit diesem Inhalt. Zwangsmittel, diese für alle Gewerke durchzusetzen, besaß der Magistrat allerdings nicht – worauf die Mindener Regierung auch ausdrücklich hinwies. Angesichts der fehlenden gesetzlichen Grundlage empfahl die Mindener Behörde dem Bürgermeister daher, „die Sache vorläufig im Weg des reinen Privatvereins zu organisieren“.1529 Dieser suchte die Kassen dadurch nachhaltig zu fördern, daß er deren disziplinierende Wirkung auf die Gesellen rühmte: Die Laden hätten „auf das Betragen der Gesellen den günstigsten Einfluß gezeigt, da die Gesellen, seit sie einen Verein bilden, übereinander wachen oder Verstöße unter sich regeln, sobald sie dadurch die ganze Brüderschaft beschimpft glauben“,1530 schrieb er 1826 dem Landrat. Und er vergaß nicht hinzuzufügen, daß die Kassenorganisation der Obrigkeit auch Gelegenheit bot, die Gesellen zu kontrollieren: „… denn gerade dann ist eine scharfe Aufsicht auf die Gesellen möglich, wenn sie sich an einem Orte versammeln“.1531

1528 S. Anm. 1527. Die Auffassung der Stadt wurde von der Regierung Münster geteilt. S. Schreiben der Reg. Münster vom 10. März 1826, in: GStA/PK, Rep. 120, B V 1 Nr. 9. 1529 So Reg. Minden v. 25.04.1826, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 160, 161. Auch die Regierung beharrte darauf, daß der Beitritt zu den Krankenladen „durchaus freiwillig bleiben“ müsse; Gesuche um Genehmigung von Zwangskassen lehnte sie ab; a. a. O., S. 161. 1530 Bürgermeister Delius an Landrat v. Borries v. 13.05.1826, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 164. 1531 Wie Anm. 1530, S. 165.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Im allgemeinen mochten sich die Amtswalter in den zwanziger und dreißiger Jahren – diesen von liberalem Geist durchtränkten, dem handwerklichen Korporationsstreben gänzlich abholden Jahrzehnten – bei aller Anerkennung der unbestreitbaren Meriten des Kassenwesens eben doch nicht dazu verstehen, eine auch nur von Ferne an den Zunftzwang gemahnende, neuerliche Zwangsordnung zu dekretieren. Deshalb bestimmte die Regierung Arnsberg im Jahre 1828 unmissverständlich, Gesellenladen seien „Vereinigungen … welche bloß für diejenigen verbindliche Kraft hat, die ihr freiwillig beigetreten sind“,1532 und Iserlohns Bürgermeister formulierte nicht weniger pointiert, die Lade sei ein „freiwilliger Verein zur Erreichung eines erlaubten und wohltätigen Zweckes für das Privatinteresse der theilnehmenden Schreinergesellen“.1533 Die Gesuche der Gesellen um Bestätigung ihrer Kassen wurden, wie sich insbesondere für den Regierungsbezirk Arnsberg nachweisen lässt, regelmäßig mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei den neuen Einrichtungen bloß um private Vereine handele, deren Aufgabe sich auf die Wahrnehmung der Privatinteressen ihrer Mitglieder beschränke und die deshalb keiner Bestätigung bedürften.1534 In jedem Fall beharrten die Regierungen, die ihr latentes Misstrauen gegenüber jedweder Assoziation der Gesellen nie ganz aufgaben, aber darauf, dass Förmlichkeiten, Gebräuche und Gewohnheiten, die allzu sehr an die Zeiten des Zunftzwanges erinnerten, beseitigt blieben. Waren Reminiszenzen an das Alte Handwerk weder zu erkennen noch für die Zukunft zu gewärtigen, zeigten sich die Beamten eher bereit, den Gesellenorganisationen freie Betätigung und Willensbildung zu gestatten, soweit sie sich politischer Aktivitäten strikt enthielten. Da die erstrebte Zwangsmitgliedschaft allenthalben am Widerstand der Behörden scheiterte, suchten manche Laden, wie beispielsweise die in Gütersloh, die Meister am Orte zu verpflichten, nur solchen Gesellen Arbeit zu geben, die der Kasse auch beitraten. Exemplarisch lässt sich der Kampf um die Stabilisierung der Einnahmen der neuen Einrichtungen, welche nur durch die Zwangsmitgliedschaft erreicht werden konnte, am Beispiel Hattingens zeigen.1535 Dort war einem im Jahre 1839 entworfenen Statut u. a. deshalb die Genehmigung versagt worden, weil es bestimmt hatte, dass scheidende Gesellen ihre Schulden bei der Lade begleichen müssten. 1841 forderten die Altgesellen erneut die Zwangsmitgliedschaft, und 1845 drohten sie, „dass wenn nicht bald den bisher hierselbst nicht beigetretenen Gesellen die Zwangspflicht auferlegt werde, sich dem Institute anzuschließen, dasselbe sich auflösen müsste“.1536 Die Situation in Hattingen war durchaus kein Einzelfall: Die für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts überall zu konstatierende Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in den Gesellenladen hatte zur Folge, dass stets nur ein Teil der Gesellen eines Ortes den Laden angehörte. In Borgholzhausen beispielsweise

1532 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 152 mit weiteren Nachweisen. 1533 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 152. 1534 Z. B. Schreiben des Landrats des Krs. Iserlohn vom 23. August 1823, in: Stadtarchiv Soest XIX g; desgl. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 13. März 1828 an den Landrat v. Schade in Lippstadt, in: STAM, Reg. Arnsberg, B Nr. 58. 1535 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 152. 1536 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 152.

370

II. Die gewerbliche Ausbildung

zählten noch im Jahre 1849 von 18 Gesellen am Orte nur 6 zu den Mitgliedern der Lade – und dieses Zahlenverhältnis dürfte nicht untypisch gewesen sein. (3) Misstrauischer Staat – fördernde Städte Wie sich das Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen gestaltete, kümmerte den in wirtschaftlichen Dingen liberalen Staat hingegen nicht – ganz im Gegensatz zur Zunftzeit, als die preußische Handwerkspolitik unter der Herrschaft der Reichszunftordnung eifrig bemüht gewesen war, jedes solidarische Handeln der Gesellen gegenüber ihren Brotherren zu verhindern. Die Zurückhaltung der Obrigkeit, die feste Basis in den eigenen Organisationen, die höheren Löhne, welche die Gesellen zu Beginn der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts durchsetzen konnten, das alles hatte die Lebensumstände der Unselbständigen im Handwerk zunächst verbessert.1537 So ist es leicht erklärlich, dass sich der Staat – der liberalen Theorie eingedenk1538 – in diesen Jahren jeder Förderung der gewerblichen Unterstützungskassen enthielt. Deren Entfaltung hing damit weitestgehend von lokalen Gegebenheiten ab. Verschiedenste Organisationsformen, langfristiger Erfolg und völliges Scheitern standen deshalb in dieser Zeit allmählichen Wiederaufbaus unvermittelt nebeneinander. Erst zu Beginn der dreißiger Jahre wandte die preußische Regierung den Gewerbegehilfen erneut ihre Aufmerksamkeit zu. Unter dem Eindruck der Revolution des Jahres 1830 in Frankreich suchte sie mit Eifer die allmählich wieder erstarkende Gesellenbewegung auszuschalten. Da die selbstverwalteten Kassen das organisatorische Rückgrat der lohnabhängigen Handwerker bildeten, wollte das Handels- und Gewerbeministerium die Laden und Auflagen der Gesellen völlig zerschlagen und sich auf diese Weise – gerade noch rechtzeitig, wie man glaubte – eines latenten Protestpotentials entledigen.1539 Die Versorgung erkrankter Gesellen sollte, ganz so, wie es die Paderborner Meister schon 1803 verlangt hatten, durch Zwangsbeiträge, welche die Meister durch Lohnabzüge bei den Gesellen einzutreiben hatten, aufgebracht werden. Auch dieser Plan wurde aber nicht verwirklicht. Zwar verschärfte sich die politische Überwachung der Gesellen zu Beginn der dreißiger Jahre; das Kassenwesen selbst blieb aber zunächst von staatlichen Eingriffen unberührt. Die Wirksamkeit der Laden und Auflagen entzog sich auch künftig weitgehend behördlicher Kontrolle. Nur gelegentlich, wenn sich die Gesellen in Unkenntnis ihrer Organisationsfreiheit an staatliche Stellen wandten, finden sich in den Akten Hinweise auf ihre Aktivitäten, insbesondere auf die Gründung weiterer Laden oder Unterstützungsvereine, die in den dreißiger und frühen vierziger Jahren festzustellen ist.1540 1537 Vgl. z. B. Carl Knoblau, Vorschläge zu einer neuen Gewerkordnung, den Ständen der Mark Brandenburg und der Markgrafschaft Niederlausitz, vom 10. Oktober 1824, in: Stadtarchiv Lippstadt, Nr. 2971. Daß die Gesellen in den zwanziger Jahren (mit dem Höhepunkt 1825) erheblich höhere Löhne durchsetzen konnten, bestätigt auch Saalfeld (1984), S. 230. 1538 Dazu grundlegend: Thamer (1983). 1539 S. Votum des Gewerbeministeriums vom 28. Dezember 1830, in: GStA/PK, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Bd. 1. 1540 Z. B. Bescheid vom 27. Dezember 1836, betr. die Erneuerung der Statuten der Gesellen-Kasse der Kleidermacher in Paderborn (seit 1819), in: Stadtarchiv Paderborn, 399 c; desgl. Schreiben der Gerber-Gehilfen in Siegen vom 2. Mai 1836, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Die Meister konnten sich bei ihren Bemühungen um die Errichtung von Gesellenladen der Unterstützung der um die Schonung ihrer Armenkassen besorgten Städte gewiss sein: So erschienen dem Bürgermeister von Halver im Jahre 1839 „diese Vereine mit der Zeit als dringend nothwendig …, wenn nicht die Armenkassen zu förmlichen Steuerkassen umgeschaffen werden sollten“.1541 Auch andernorts erkannten die Lokalbehörden den „lobenswerten Zweck“ (Dortmunder Wochenblatt 1839) der neuen Einrichtungen. Man förderte sie, „um für die Zukunft … die Gemeindekasse von den Ausgaben für die Kur und Verpflegung der erkrankten Gesellen zu entbinden“ (Gütersloh 1835). Sie sollten so viel wie möglich in Schutz genommen werden, weil sie einen guten Zweck haben“ (Iserlohn 1845).1542 (4) Allgemeine oder berufsorientierte Laden? Wer, Meister oder Geselle, das Vorhaben anstieß, entschied auch weitgehend über den Charakter der Gesellenlade als einer „allgemeinen“ oder einer berufsorientierten Einrichtung. Die berufsbezogenen Kassen legten die Mitgliedschaft definitiv fest. Während die strenge Scheidung der Gewerke ein Kennzeichen der Zunftzeit war, kam es nun, in der Zeit des Vormärz, immer häufiger zum Zusammenschluss der Angehörigen verschiedener Professionen zu einer Kasse. So fanden Gesellen vergleichbarer Handwerke wie Schneider und Schuster leicht zusammen. Ihnen als den Angehörigen der „dürftigsten aller Gewerke“ gesellten sich gelegentlich Genossen solcher Berufe zu, die ebenfalls von Existenzsorgen geplagt wurden. Aber auch Gesellen einander ganz fremder Handwerkssparten, wie die Maler, Tischler Nr. 1742. Der Gerbergesellen-Verein in Siegen bestand seit 1833, der dortige Krankenhilfsverein seit 1838, der Gesellen-Kranken-Verein seit 1839. In Bochum wurde 1841 „zum Zwecke der Verpflegung erkrankter und Beerdigung verstorbener Mitglieder“ ein Handwerksgesellen-Verein gegründet; s. Verzeichnis der im Krs. Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff. 1844/45 errichteten die Schneider-, Zimmerer- und Tischlergesellen in Soest eigene Unterstützungskassen, s. Joest (1978). 1541 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 148. Seit Beginn der dreißiger Jahre verfielen die Gesellenlöhne wieder (s. Saalfeld (1984), S. 230); dieser Umstand dürfte das Interesse der Gemeinden an der Funktionsfähigkeit der Laden gestärkt haben. 1542 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 149. Entschlossener als die Westfalen gingen die Rheinländer vor: 1843 wandten sich die rheinischen Stände mit der „unterthänigsten Bitte“ an den preußischen König, „durch gesetzliche Verfügung die Polizei- und Verwaltungsbehörde solcher Orte, wo sich das Bedürfnis herausstellt, Allergnädigst ermächtigen zu wollen, die Aufnahme fremder, arbeitssuchender Arbeiter und Handwerksgesellen an die Bedingung knüpfen zu dürfen, daß sie vor Allem den Beitritt zu den bestehenden oder zu errichtenden Unterstützungs- und Krankenkassen … nachzuweisen haben“. Die zahlreichen Gemeinden, welche solche Kassen errichten wollten, seien mit ihrem Vorhaben „wegen Mangels gesetzlicher Bestimmungen“ gescheitert. Es sei nicht Aufgabe der kommunalen Armenkassen, den Unterhalt erkrankter Gesellen zu finanzieren, da diese doch ebensogut auf dem Wege kollektiver Selbsthilfe für sich aufkommen könnten. Die begrenzten Armenfonds gerade der „Fabrikorte und großen Städte“ müßten dringend entlastet werden. Zudem brächten die selbstverwalteten Kassen volkspädagogischen Nutzen: Die Mitglieder derselben gewönnen durch die Einübung von Verantwortlichkeit „an Selbstachtung, Mäßigkeit und Ordnungssinn“; zit. nach Frevert (1984), S. 161.

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und Schmiede in Hagen beispielsweise, schlossen sich zu einer Lade zusammen.1543 Der Typus der „Vereinigten Gesellenlade“ als einer allen im Handwerk beschäftigten Hilfskräften am Orte gleichermaßen offenstehenden Einrichtung fand insbesondere dort Anklang, wo keine lebendige, nach Differenzierung strebende Zunfttradition vorhanden war. In den kleinen Städten Minden-Ravensbergs und der Grafschaft Mark, in denen die Zünfte kaum Bedeutung besessen hatten, wurde denn auch solchen allgemeinen Gesellenladen der Vorzug gegeben. Dort, in Altena, Bochum, Hemer, Herdecke, Werther, Enger, Bünde oder Borgholzhausen, war zudem für jedermann einsehbar, dass eine wirksame Versorgung der Gesellen nur dann gewährleistet werden konnte, wenn sie alle zusammenstanden. Gerade die Meister hatten an der Gründung solcher „allgemeinen“, allen Handwerksberufen offenstehenden Kassen nicht selten entscheidenden Anteil. (5) Anknüpfen an Zunfttraditionen Ebenso wichtig für die Stabilisierung dieser vom Handwerk selbst organisierten Einrichtungen wie der Rechtsrahmen im engeren Sinne war die das Kassenwesen tragende Einordnung in die traditionelle Vorstellungswelt der Handwerker. Insbesondere die von den Gesellen frühzeitig wiederbegründeten, handwerkstypischen Laden für einzelne Gewerbe, die schon durch die bloße berufsspezifische Beschränkung ihre Anknüpfung an die Organisationsmodelle des Alten Handwerks für jedermann sichtbar dokumentierten, konnten auf die kollektive Erinnerung an die eigene, manchmal weit zurückreichende Geschichte rekurrieren. Besonders deutlich wird diese bewusste Reminiszenz an die Verbände der Zunftzeit in Bielefeld: Dort beriefen sich die Schuhmachergesellen bei der Wiederbegründung der Kassen auf Gesellenstatuten von 1510, 1728 und 1733, die Webergesellen auf Statuten von 1780. Die Schlossergesellen verwiesen voller Stolz auf eine immerhin hundertjährige Vergangenheit, während die Gehilfen der Schuhmacher in § 28 ihres neuen Statuts erklärten, das Quatemberopfer in der Altstädter Kirche beibehalten zu wollen, eine Regelung, die auf Verbindungen noch zu den Gebräuchen der vorreformatorischen Zeit hindeutet.1544 Auch die prächtigen Willkommpokale der Bielefelder Schuhmacher- und Eisenarbeitergesellen (jeweils 1819) sowie der Maurer- und Tischlergesellen (jeweils 1826) sollten die Traditionen einer großen Vergangenheit zum Sprechen bringen und für die Nachgeborenen sinnlich wahrnehmbar machen.1545 In Lippstadt wurde das im 17. Jahrhundert begonnene Einschreibebuch der Schumachergesellen aus eben diesem Grunde im Jahre 1830 fortgesetzt, und die Maurergesellen in Herford erwähnten auf dem Einband ihres Einschreibbuches von 1826 als Gründungsdatum ihrer Lade voller Stolz das Jahr 1700. Es ist kein Zufall, dass gerade bei den Maurergesellen die Überlieferung der Zunfttradition und die Anknüpfung an ältere Modelle der Unterstützungskassen besonders lebendig geblieben war. Wegen der Eigenart ihres Gewerbes wanderten sie nicht, so dass die Weitergabe ihrer Gebräuche durch ortsansässige Gesellen nicht abgerissen 1543 Reininghaus (1985), S. 146. 1544 Reininghaus (1985), S. 147, Fußn. 94. 1545 S. Pieper-Lippe (1980), S. 75–78.

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war.1546 Zudem wurde die Kenntnis der zünftigen Organisationsformen durch das Fortleben bzw. die Wiedereinführung der Zunftordnung in den westfälischen Nachbarländern, in Lippe, Hannover und Hessen etwa, stets wachgehalten, da von dort immer wieder Gesellen zuwanderten. Reininghaus vermutet, dass dieser Einfluss auf die Provinz Westfalen vor allem aus Hannover und den Hansestädten stark gewesen sein muss.1547 Durch die Rettung des Sachgutes schließlich trugen auch die Meister zur Wahrung der Gesellenbräuche bei. Die Bielefelder Maler oder die Schuhmacher in Lippstadt beispielsweise hatten Pokale, Bücher und Fahnen der Gesellenverbände über deren Aufhebung hinweg verwahrt. So wuchsen den Gesellen des 19. Jahrhunderts aus den verschütteten Quellen handwerklichen Selbstbewusstseins und korporativer Tradition erneut Entschlossenheit, organisatorisches Geschick und ein fester Wille zur Selbsthilfe zu. (6) Die öffentliche Armenunterstützung Trotz dieser unübersehbar positiven, expansiven Entwicklung des nach der Aufhebung der Zünfte wiedergeborenen Sozialsystems wurden keineswegs, wie bereits festgestellt, alle oder auch nur die Mehrzahl der Gesellen von den Segnungen der neuen Einrichtungen erreicht. In der Regel blieben bedürftige Gesellen noch immer auf die öffentliche oder private Armenpflege angewiesen. Das berufsspezifische Kassenwesen der Hilfskräfte wuchs eben – wie das der Meister – im allgemeinen nicht über die größeren Städte hinaus. Daher verlor es auch nach 1830 noch nicht den Charakter einer außergewöhnlichen Art der Versorgung. Überall dort, wo sich die Gehilfen, wie insbesondere in den Kleinstädten und auf dem Lande, mangels hinreichender Zahl kaum in eigenen Organisationen zusammenfinden konnten, blieben die örtlichen Armen-, ersatzweise Gemeindekassen gehalten, die Heil- und Pflegekosten für erkrankte auswärtige Handwerksgesellen zu übernehmen, sofern der Erkrankte kein eigenes Vermögen besaß.1548 Inwieweit sie dieser Pflicht nachkamen, lässt sich im einzelnen nicht mehr feststellen. An entsprechenden Mahnungen der Regierungen fehlte es jedenfalls nicht. Dem Staat entstanden hier mit der allmählichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Handwerk, insbesondere aber mit der Zunahme der Zahl der arbeitslos gewordenen Gesellen, immer drängendere Aufgaben, derer er sich durch das bereits erwähnte Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege zum 31. Dezember 18421549 mit leichter Hand entledigte. Nach § 32 dieses Gesetzes blieb die jeweilige Gemeinde verpflichtet, die in einem festen Dienstverhältnis stehenden Handwerksgesellen bis zu ihrer Wiederherstellung auf eigene Kosten pflegen zu 1546 S. Reininghaus (1985), S. 147. 1547 So Reininghaus (1985), S. 147, unter Bezugnahme auf Jeschke (1977), S. 213 ff.; Husung (1983), insbes. S. 134 ff.; zum Problemkreis vgl. auch Bovensiepen (1909); Schnell (1936); Gerber (1933) S. 82 hingegen bezweifelte die wechselseitige Beeinflussung zünftiger und nichtzünftiger Regionen. 1548 S. Schreiben der Reg. Münster an die Stadt Ahlen vom 11. September 1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Stadt Ahlen, B 140. 1549 Pr. Gesetzes-Sammlung 1843, S. 8; s. auch Amtsbl. Reg. Münster vom 15. April 1843, S. 111 ff. (116).

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lassen. Damit wurde nicht mehr geleistet, als die bestehende Rechtslage festzuschreiben. Offenbar war es aber notwendig geworden, den Gemeinden mit der Autorität des Gesetzgebers die Verpflichtung zur Hilfeleistung einmal mehr nahezubringen. Da man in Berlin noch immer nicht bereit war, die Selbsthilfe der seit je gelegentlich, nun aber in schnell zunehmendem Grade von der Verarmung bedrohten Gesellen durch deren Zusammenschluss in Kassen systematisch zu fördern, maß man der Funktionstüchtigkeit der kommunalen Armenpflege notwendigerweise besonderes Gewicht bei. bb. Die Gewerbeordnung von 1845 Die unveränderte Zurückhaltung des preußischen Gesetzgebers in sozialpolitischen Dingen kam auch in den Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 17. Januar 18451550 zum Ausdruck. In § 143 des Gesetzes wurde die Verpflichtung der Gewerke und Gesellenkassen, „Geschenke“ zu geben, aufgehoben, soweit sie noch Bestand hatte.1551 Damit sollte das jahrhundertealte Mittel zünftiger Arbeitslosenfürsorge endgültig seiner Lebenskraft beraubt werden. § 144 des Gesetzes gestattete zwar die Beibehaltung der Unterstützungskassen, bestimmte aber kaum Konkretes über die Förderung der sozialen Sicherung der Gesellen. Statt dessen behielt sich der Staat vor, in die Organisation des Kassenwesens einzugreifen. Die Errichtung neuer Laden und Auflagen wurde von der Genehmigung der Regierung abhängig gemacht. Mit dieser Regelung waren die Kassen erstmals seit dem Ende der Zunftzeit wieder unmittelbar durch gesetzliche Vorschriften in ihrer Freiheit beschränkt worden. Ein weiterer Eingriff in die Autonomie der Kassenvereine, welcher aber deren Intentionen entsprach und sich längerfristig als wesentlichste, wirksamste Maßnahme zur Stabilisierung dieser Einrichtungen der sozialen Sicherung der Gesellen erweisen sollte, ergab sich aus § 169 Abs. 2 der Gewerbeordnung. Die Vorschrift gestattete es den Gemeinden, die Gesellen und Gehilfen durch Ortsstatut zum Beitritt zu den Unterstützungskassen zu verpflichten.1552 Mit dieser Bestimmung wurde 1550 Pr. Gesetzes-Sammlung 1845, S. 68 (§§ 144, 145) und S. 73 (§ 169). Mit dem Erlaß der Gewerbeordnung 1845 wurde das Krankenkassenwesen laut Frevert Gegenstand immer neuer Vorschriften und staatlicher Kontrolle; s. Frevert (1845), S. 149 ff. Tatsächlich gilt dies aber erst für die Zeit nach Erlaß der Verordnung v. 9.2.1849 (s. u.). 1551 Solche Pflichten bestanden im Bereich der Prov. Westfalen bis 1845 nur im Krs. Wittgenstein. 1552 Diese Bestimmung war auch schon im Entwurf einer Gewerbeordnung aus dem Jahre 1835 enthalten; vgl. Tilmann (1935), S. 11, 12. Schon Frevert wandte sich gegen die einseitige Bewertung der Kassen als „sozialpolitische Zwangskollektivierung der Risikoverarbeitung“ (so aber Lenhard/Offe (1977), S. 106), als „materielle Absicherung der Reproduktion der Arbeitskraft“ (Billerbeck (1976), S. 170) oder als „Organe des Klassenkampfes“ (Peschke (1967), S. 62). Vielmehr insistierte sie darauf, die Kassen „im allgemeinen gesellschaftspolitischen Umfeld“ zu betrachten; s. Frevert (1984), S. 150. Auf die potentielle Einführung der Zwangsmitgliedschaft durch § 169 Abs. 2 der Gew.O. bezog sich die Mitteilung des preußischen Ministeriums an den Rheinischen Provinziallandtag vom Januar 1845, wonach dessen Antrag „wegen Errichtung von Kranken- und Unterstützungskassen für Handwerks-Gesellen“… „durch die Publication der allgemeinen Gewerbe-Ordnung seine Erledigung finden“ werde; zit. nach Frevert (1984), S. 162. Die Aufwertung der Kassen durch Verleihung einer Rechtspersönlichkeit und die damit verbundene Stärkung der Gesellenvereinigungen war kei-

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den Kommunen ein wirksames Mittel an die Hand gegeben, um die überforderten Armenkassen wenigstens partiell zu entlasten. Denn die Selbsthilfeeinrichtungen erhielten erstmals wieder einen rechtlich faßbaren Charakter. Die Gemeinden waren bei ihrer Entscheidung für die Beitragspflicht aber nicht autonom: zum einen sollte die Zwangsmitgliedschaft der Gesellen in den Laden nach § 168 Abs. 2 der Gewerbeordnung erst „nach Anhörung beteiligter Gewerbetreibender“ eingeführt werden. Zum anderen setzte die Beitragspflicht das Bestehen einer Gesellenkasse voraus. Deren Errichtung fiel aber nicht in die Kompetenz der Gemeinde; sie blieb vielmehr freiwillig und die Entscheidung darüber dem privaten Vereinsleben zugeordnet. Immerhin kommt der Bestimmung des so wenig praktischen § 169 S. 2 der Gewerbeordnung aber erhebliche systematische Bedeutung zu. Sie markiert nicht weniger als die Anfänge des deutschen Sozialversicherungsrechts.1553 Die Farblosigkeit der Vorschriften und ihre mangelnde Wirksamkeit im sozialen Leben der Zeit hatten eine kaum zufällige Ursache. Noch immer wollte der Staat den Assoziationsgedanken zwar bei den Meistern, nicht aber bei den Gesellen fördern. Allen Zusammenschlüssen der Unselbständigen begegnete die preußische Obrigkeit wie eh und je mit latentem Misstrauen. Unverändert lag der Politik jene Haltung zugrunde, die zwar die soziale Selbsthilfe der Gesellen nicht behinderte, um die gemeindlichen Wohlfahrtseinrichtungen zu entlasten, die aber jede andere Aktivität der Gewerbegehilfen, sofern sie nur im weitesten Sinne als politisch anzusprechen war, strikt ablehnte. Das Innenministerium allerdings rechtfertigte seine unverändert reservierte Haltung gegenüber den Gesellenverbänden immerhin nicht mehr allein mit politischen, sondern auch mit sachlichen Gründen. In Berlin wies man in diesem Zusammenhang auf so unerfreuliche Dinge wie die Erpressung hoher Beitrittsgelder von unerfahrenen Gesellen, die Verabreichung von Unterstützungen an arbeitsscheue Handwerksburschen und ähnliche Rechtsverstöße mehr hin.1554 Den Vereinen wurde seitens der zuständigen Ministerien pauschal der Vorwurf des „Widerstrebens gegen die polizeiliche Aufsicht“ und der „Förderung des schwelgerischen Müßiggangs“ unter den gewerblichen Arbeitnehmern gemacht. Die bei den Gesellen der größeren preußischen Städte noch immer nicht erstorbene Gewohnheit, den wandernden Genossen sog. Gesellenscheine auszustellen, die zum Empfang von sog. „Geschenken“ berechtigten und zugleich als Legitimationspapiere die Arbeitslosen- und Krankenversorgung der Handwerksbrüder sicherstellten, betrachtete das Minisneswegs selbstverständlich; vielmehr war im Vorfeld des Erlasses der Gewerbeordnung auch deren Beseitigung erwogen worden: „Die Auflösung würde zwar einstweilen die Nachteile beseitigen, aber nicht dauernd sein, vielmehr würden sich die Massen bald wieder vereinen und wider das Gesetz Verbindungen bilden, die eben deswegen als ein noch größeres Übel zu betrachten wären“; so Votum Mühler/von Rochow v. 6.5.1836, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 164. 1553 Zur Geschichte des Sozialversicherungsrechts vgl. Miaskowski (1882), S. 474–496; StierSomlo (1906), insbes. S. 46; Schirbel (1929); Oberwinter (1930); Nölting (1932); Schwenger (1934); Rothfels (1935); Tilmann (1935); Ponfick (1940); Sund (1957); Born (1959), S. 29– 44; Zacher (1979); Reininghaus (1980); Frevert (1981); Köhler/Zacher (1981); Tennstedt (1981); Köhler/Zacher (1983), S. 293–319; Reininghaus (1983); Frevert (1984); Reininghaus (1985). 1554 Schreiben des Finanz- und Innenministers vom 31. Juli 1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9.

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terium mit Argwohn, da es – so war jedenfalls die offizielle Begründung – fürchtete, das Verbot der Bettelei werde mit der unveränderten Fortdauer dieses schon Jahrhunderte währenden Brauchs umgangen.1555 Durch nichts gab der Staat seiner Unversöhnlichkeit gegenüber den Kassenvereinen beredteren Ausdruck als durch dieses andauernde Misstrauen. Passivität im Verhältnis zu den Laden blieb die Devise der Berliner Regierung. Der Staat hatte sich, das wurde in jenen Jahren des Vormärz überdeutlich, der Selbstverpflichtung zur Sozialtätigkeit, die er sich im Allgemeinen Landrecht auferlegt hatte, faktisch begeben. Während der Aufbau der gewerblichen Wirtschaft – etwa durch die Zollpolitik oder Beuths berühmte, vielbeschriebene technische Institute – unermüdlich vorangetrieben wurde, verhielt sich Preußen in sozialen Fragen reaktiv. Fast alle seine Hilfen waren technischer, nicht sozialer Natur.1556 Die frühen Unterstützungskassen verblieben demnach in dem archaischen Zustand autochthoner sozialer Gebilde. Die Initiative zur Gründung lag noch immer bei den unmittelbar oder mittelbar Betroffenen, bei den Gesellen oder ihren Arbeitgebern, den Handwerksmeistern. Die Entwicklung der vorhandenen, doch vereinzelten Laden zu einem effizienten Kassenwesen wurde aber nicht nur durch die relative Unbeweglichkeit des Gesetzgebers beeinträchtigt. In Westfalen machte sich zudem der Mangel an Innungen der Meister als spürbares Hindernis auf dem Wege zu einem schnellen Erfolg beim Aufbau eines Systems der sozialen Sicherung der Gesellen unangenehm bemerkbar. Dort, wo es keine Innungen gab, fehlte zumeist auch die Initiative zur Gründung von Kassenvereinen für die Hilfskräfte. Die Gemeinden hatten dann keine Möglichkeit, durch die Einführung der Zwangsmitgliedschaft den Versicherungsschutz der Gesellen auf breiter Basis durchzusetzen.1557 1555 S. Votum vom 15. August 1846, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 1 Nr. 9, fol. 185–187. 1556 Vgl. Koselleck (1967), S. 621. Wesentlich positiver bewertet Frevert die Kassengesetzgebung der Gewerbeordnung: „Elegant konnten so mehrere Zwecke auf einmal erfüllt werden: den Gemeindeverbänden stand eine gesetzlich autorisierte Alternative zur Armenpflege offen, wodurch ein zunächst finanzpolitisches, dann aber auch soziales Problem ersten Ranges aus dem Weg geräumt schien. Die infolge der Freizügigkeits- und Armengesetze von 1842 befürchtete Belastung der kommunalen Armenfonds wurde umverteilt, womit zugleich ein Modell für weitere potentielle Kandidaten der öffentlichen Armenversorgung (Fabrikarbeiter, Tagelöhner) vorgegeben war. Langfristig konnten folglich das Problem einer krankheitsbedingten Pauperisierung handarbeitender Unterschichten in den administrativen Griff genommen und die Armensäckel der Gemeinde von einem unangenehmen Druck befreit werden“; so Frevert (1984), S. 163. Andererseits erachtet Frevert die Gesetzgebung der Gewerbeordnung aber als Medium polizeilicher Überwachung: „Eine korporative Organisation der Handwerksgesellen unterstützte folglich nicht allein die interne Disziplinierung der Mitglieder, sondern erleichterte auch die polizeiliche Überwachung. … In diesem Sinne verformte die staatliche Gesetzgebung von 1845 auch die aus eigener Initiative der Gesellen entstandenen Verbände;“ so Frevert (1984), S. 165. Bei den Beratungen zur Gewerbeordnung war auch diskutiert worden, die Arbeitgeber generell zum Unterhalt der erkrankten Gesellen zu verpflichten; dies wurde aber als „ungerecht und unbillig“ abgelehnt. Dasselbe galt für den Antrag, die Gesellenkassen in die kommunale Armenfürsorge zu integrieren; s. dazu Frevert (1984), S. 162. 1557 S. dazu Koselleck (1975), S. 598; in Soest beispielsweise schlug ein Versuch des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung, der auf den Zusammenschluss aller Gesellen der Stadt in einer einzigen Hilfskasse gerichtet war, zunächst fehl, vgl. Joest (1978), S. 192, 193.

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Andererseits stärkte die neue Gewerbeverfassung des Jahres 1845 trotz ihrer deutlichen Unvollkommenheit doch das Selbstgefühl und den Aufbauwillen der Handwerker zwischen Rhein und Weser. Das Gesetz wirkte, auch wenn es nicht den generellen Beitrittszwang brachte, seither immerhin als spürbarer Impuls für die Verbreitung der Krankenvereine der Gesellen. Das gilt jedenfalls für den engeren Bereich Westfalens, wo die Verwaltung den Unterstützungskassen keineswegs so kritisch gegenüberstand wie das Berliner Ministerium. Besondere Verdienste erwarb sich die rührige, durch den frühindustriellen Aufschwung in ihrem Bezirk an Fragen der Sozialpolitik lebhaft interessierte Arnsberger Behörde. Sie versäumte es nicht, das in Gesellenangelegenheiten defätistische Ministerium, aber auch die Kreis- und Gemeindeämter deutlich auf die notwendige Verbesserung der sozialen Sicherung der Gesellen hinzuweisen.1558 Auch die Regierung in Minden förderte die Errichtung neuer Laden und Auflagen damals nachdrücklich. Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber wirksamen Formen sozialer Sicherung unterschied sich während dieser Jahre in auffälliger Weise von der Indolenz der vorgesetzten Berliner Bürokratie. Insoweit bedarf Reininghaus’ Feststellung, die Unterstützungskassen seien „nicht auf verstärkten Einsatz preußischer Administration“1559 zurückzuführen, der Modifikation: Während das Berliner Handels- und Gewerbeministerium seine Passivität und sein Misstrauen in dieser Frage lange Zeit nicht aufgab, wirkten manche Regierungen, nicht weniger preußische Behörden, bereits aktiv auf die Errichtung von Unterstützungskassen hin. Ihre Bemühungen fielen bei den Kommunalverwaltungen der größeren Städte und Industrieorte, welche die schnell steigenden Kosten der Armenversorgung senken wollten, auf fruchtbaren Boden. Dieser Interessenkonvergenz von Bezirks- und Kommunalverwaltung verdankten zahlreiche selbstverwaltete Unterstützungskassen der Gesellen im Süden und Osten der westfälischen Provinz ihre Existenz. So gründeten oder erneuerten die Bäcker-, Klempner-,Tischler-, Schuhmacher-, Schneider-, Maurer- und Zimmergesellen in Soest noch im Jahre 1845 jeweils eigene, mit Herbergen verbundene Unterstützungsvereine.1560 Im Jahr darauf wurde in Hörde1561 auf Initiative der ortsansässigen Meister eine Gesellenlade errichtet; 1847 machte der Wittener Ortsgesetzgeber die Mitgliedschaft in der Lade für alle Gesellen, die sich in der Stadt aufhielten, obligatorisch. In Paderborn waren es die Maurer- und 1558 S. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 16. Oktober 1846, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1559 So Reininghaus (1985), S. 131 ff. (144). 1560 S. Schreiben von 22 Bäcker-Gesellen an den Magistrat vom 26. September 1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 12; Protokoll der Stadt Soest vom 4. August 1845, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 6; s. dazu auch Stadtarchiv Soest XIX g 9 (betr. ortsstatutarische Anordnungen aufgrund der Gewerbeordnung); Statut der Schreiner-Gesellen-Auflage vom 3. September 1846, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 5; bzgl. der Kasse der Zimmergesellen vgl. Protokoll vom 4. August 1845, in: Stadtarchiv Soest, XXXII c 6; Reininghaus (1985), S. 141; zur Gesellenlade in Dortmund s. Schreiben des Amtmannes der Stadt Hörde an den Landrat zu Dortmund vom 11. August 1846, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552. 1561 S. Schreiben vom 26. November 1846 bzw. 4. Januar 1847, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; Protokoll vom 6. August 1846, betr. d. Errichtung einer Herberge und Gesellenlade, und Schreiben des Amtmannes in Hörde vom 11. August 1846 an den Landrat zu Dortmund, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Steinhauergesellen, die 1847 eine Herberge errichteten, mit der sie eine Auflage verbanden.1562 1848/49 wurden in Bochum und Siegen weitere Krankenpflege-Unterstützungsvereine gegründet bzw. erweitert.1563 Eine Übersicht über die Orte, an denen zwischen 1845 und 1850 Laden neu geschaffen wurden, zeigt folgendes Bild:1564 Tabelle 34: Errichtung von Gesellenladen 1845–1850 1845

1846

Soest

Hemer

Wiedenbrück

Hörde Lübbecke

1847 -

1848

1849

1850

Erwitte

Hamm

Lippstadt

Warburg

Höxter

Halver

Werther Bochum

Die Behörden betrachteten dieses Ergebnis ihrer Bemühungen mit Stolz. Der Magistrat der Stadt Soest geizte nicht mit Lob, wenn er sich zur Tätigkeit der Auflagen äußerte. Sie entlasteten, so berichtete er schon im Jahre 1845 zufrieden, nicht nur die städtischen Armenkassen, sondern vermittelten den Gesellen auch das Gefühl, in Zeiten der Not nicht allein zu stehen.1565 Missstände, gar in der vom noch immer zurückhaltenden Ministerium geschilderten Art, seien dagegen nicht bemerkt worden. Der Iserlohner Magistrat, der sich zur Tätigkeit der Gesellenladen ebenfalls höchst positiv äußerte, suchte die Einrichtungen in jeder erdenklichen Weise zu fördern.1566 Der Amtmann in Hörde sah den Nutzen der Kassen vor allem in der allseits gewünschten Entlastung der Meister von den Kosten der Krankenpflege.1567 Nur im Regierungsbezirk Münster spürte man von der Aufbruchstimmung, die den Zusammenschluss der Gesellen anderwärts vorantrieb, wenig. In der Provinz1562 Schreiben des Maurermeisters Knoop in Paderborn vom 29. November 1847, in: Stadtarchiv Paderborn, A 373. Zum Kassenwesen in Minden in jenen Jahren s. Schreiben vom 28. März 1847, 4. Mai 1848 und 23. Juli 1848, in: Stadtarchiv Minden, F 206; vgl. auch Reininghaus (1985), S. 139. 1563 Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an den Landrat des Krs. Bochum vom 27. April 1855, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; desgl. Verzeichnis der in Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung vom 6. September 1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff. Bzgl. Siegen s. Schreiben vom 22. März 1848, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743. 1564 Zusammengestellt nach Reininghaus (1985), S. 131 ff. (134 ff.) 1565 S. Bericht des Magistrats der Stadt Soest vom 13. Oktober 1845, in: Stadtarchiv Soest, XIX g 9. 1566 Schreiben des Magistrats der Stadt Iserlohn an die Stadt Soest vom 29. Mai 1845, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 1567 Schreiben des Amtmannes der Stadt Hörde an den Landrat zu Dortmund vom 11. August 1846, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552. Wie Reininghaus angesichts dieses Befundes zu seiner Feststellung kommt, die Verwaltungspraxis der Jahre nach 1845 zeige „nicht, daß die unteren und mittleren Behörden den Eifer bei der Kassengründung an den Tag legten, den sich der Gesetzgeber gewünscht hatte“, bleibt unerfindlich. Er meint gar „Widerstand der Gemeinden“ zu erkennen, der sich „aus den örtlichen Machtstrukturen“ erkläre – ohne hierfür aber Belege beibringen können. Offenbar hat er vor allem die Situation der Fabrikarbeiter im Blick; s. Reininghaus (1991), S. 197–206 (203, 204).

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hauptstadt selbst hatte, nachdem die Zünfte aufgehoben worden waren, zunächst die kommunale Armenkasse die Unterhaltskosten für reisende und kranke Gesellen übernommen. 1821 wurden dann, um dieser unerwünschten Last ledig zu werden, die bereits erwähnten besonderen „Gesellschaften“ jeweils mehrerer verwandter Gewerbe unter Mithilfe der Stadt etabliert. Da sich die auswärtigen Gesellen aus Ländern mit intakter Zunftverfassung weigerten, an diese Schöpfungen der Ortsobrigkeit Beiträge zu entrichten, gerieten manche der neuen Unterstützungskassen bald in Schwierigkeiten: Während die Laden der Maurer und Steinhauer, der Zimmer-, Schuhmacher- sowie der Glaser- und Malergesellen (ab 1827) noch 1854 bestanden, ging die Schneidergesellenlade in der Provinzialhauptstadt 1846 ein. Wenngleich die Münsteraner Regierung 1826 auch die Einführung der Zwangsmitgliedschaft gefordert hatte, erfuhr das Kassenwesen von dieser Seite aber doch keine wirkliche Unterstützung. Angesichts der außerhalb Münsters nur schwach entwickelten – und zugleich in ein Umfeld behäbiger agrarischer Wohlhabenheit eingebetteten – gewerblichen Wirtschaft des flachen Landes erschien es unnötig, die Laden eigens zu fördern.1568 Der unübersehbare Aufschwung der organisierten sozialen Sicherung der Gesellen, wie er nach 1845 in Süd- und Ostwestfalen festzustellen war, erhielt bald neue, kräftige Impulse durch die Ereignisse des Jahres 1848. Der Frankfurter Handwerkerkongress hatte in seinem „Entwurf einer Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland“1569 vorgesehen, dass an allen Innungsorten eine allgemeine Gesellenkrankenkasse und eine sog. Gesellenwanderkasse errichtet werden sollten (§ 29). Für beide Einrichtungen war die Zwangsmitgliedschaft vorgesehen (§ 30). Zur Finanzierung der Wanderkasse sollten die Meister einen „angemessenen Theil“ beitragen. Insbesondere diese Wanderkasse lag den westfälischen Handwerkern am Herzen. In mehreren Petitionen hatten sie Einrichtungen zur Unterstützung mittelloser, wandernder Gesellen, verbunden mit einem organisierten Arbeitsnachweis, als probates Mittel gegen die latente Arbeitslosigkeit und ihre abstoßendste Folge, das sog. Fechten,1570 gefordert. Zukunftsträchtiger und deshalb wesentlicher aber war, dass die Handwerkerbewegung erstmals einen Aspekt der organisierten Vorsorge aufgriff und in die öffentliche Diskussion einführte, den das Alte Handwerk noch völlig vernachlässigt hatte: die Invaliditäts- und Alterssicherung. Die neue Sensibilität für soziale Missstände und Unzuträglichkeiten, die sich in dem erwachenden Interesse für diese Frage äußerte, verdankte sich allerdings nicht den Handwerkern selbst. Die Einführung einer 1568 In diesem Sinne äußerte sich die Reg. Münster in einem Schreiben an den Innenminister vom 2. Juli 1845, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 4144. 1569 Der deutsche Handwerker-Kongreß und die von demselben entworfene Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland … (1980), S. 182, 183. Die in Frankfurt versammelten Gesellen repräsentierten vor allem Südwestdeutschland; s. Lenger (1988), S. 80. 1570 So Petition der Handwerker des Krs. Siegen vom 25. Juli 1848 und Petition der Handwerker der Stadt Hamm vom 18. August 1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 90 und 104. Die Gesellen hatten ihre Vorstellungen in einer Denkschrift zum Entwurf einer Gewerbeordnung der Meister zusammengefaßt. Sie forderten die gleichberechtigte Vertretung in den Innungen. Im übrigen stimmten sie mit den Auffassungen der Meister weitestgehend überein; s. Lenger (1988), S. 79.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

familienunabhängigen Alterssicherung für die gewerblich tätigen Handarbeiter hatte in Westfalen vielmehr der hochverdiente Arnsberger Regierungsrat Jacobi angeregt.1571 Seine Pläne waren bei den märkischen Fabrikanten schnell auf Verständnis und Zustimmung gestoßen. Insbesondere die Iserlohner Unternehmer standen den Ideen des Beamten aufgeschlossen gegenüber. Schon seit etwa 1840 hatten sie versucht, auf freiwilliger Basis eine „Arbeiter-Pensions- und Invalidenkasse für den Kreis Iserlohn“ aufzubauen, die es den „handarbeitenden Volksklassen“ ermöglichen sollte, durch eigene Beiträge einen lebenslangen Rentenanspruch zu erwerben.1572 Solche die Zeitgenossen beeindruckenden Beispiele aus der Industrie waren der Handwerkerbewegung des Jahres 1848 Anlass genug, die Forderung nach einer geregelten Alterssicherung auch für Handwerker zu erheben. Die Vorstellungen über die zweckmäßigste Gestaltung der neu zu schaffenden Einrichtung gingen naturgemäß weit auseinander. Während die Kosten der geregelten Versorgung alter und arbeitsunfähiger Gesellen nach den Plänen der Meister allein vom Staat zu tragen waren, dann aber auch nur Unbemittelte in den Genuss der Vorsorgungen kommen sollten,1573 wollten die Gesellen selbst „jeden Arbeitenden“ zur Mitgliedschaft in einer Pensionskasse verpflichten. Im Falle der Invalidität oder auch nach Erreichen der Altersgrenze von 50 Jahren sollte regelmäßig die Pension ausgezahlt werden.1574 Hier trafen erstmals einander widerstreitende Auffassungen über den Charakter sozialer Sicherung aufeinander: Während die Meister noch ganz dem zünftigen Prinzip der auf wirkliche Notfälle beschränkten, kollektiven Hilfe verhaftet waren und nun die Gelegenheit gekommen sahen, sich der befürchteten eigenen Beitragspflicht zu Lasten des Staates zu entledigen, hingen die Gesellen schon dem zukunftsschwangeren Gedanken von der leistungsfähigen, die großen Lebensrisiken möglichst vollständig abdeckenden und über die Linderung der ärgsten Not hinausgehenden, umfassenden Sozialversicherung im modernen Sinne nach. Der Antagonismus dieser beiden Prinzipien konnte, wie die bis heute bestehenden – und stets umstrittenen – Grenzen für die Zwangsmitgliedschaft in der Sozialversicherung zeigen, auch in der Gegenwart nicht vollständig aufgehoben werden. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts aber waren die Vorstellungen der Gesellen von einer geordneten, ausreichenden und familienunabhängigen Altersversorgung noch ganz zu neu und zu revolutionär, als dass sie auf den durchaus reformwilligen Gesetzgeber der Jahre 1848/49 nachhaltigen Einfluss hätten ausüben können.1575

1571 Schulte (1937), S. 266. 1572 Die Iserlohner Invaliden-Unterstützungskassen erfüllten ihren Zweck noch 1865 durchaus erfolgreich; s. Protokoll der Verhandlungen zur Beratung der Koalitionsfrage berufenen Kommission, Berlin 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. 1573 Der deutsche Handwerker-Congreß und die von demselben entworfene Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland … (1980), S. 165 ff. (194). 1574 Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Congresses zur Hebung der gewerblichen Arbeiter … (1980), S. 208–221 (217, 218); s. dazu auch Best (1980), S. 170. Eine Zusammenfassung des Programms findet sich auch bei John (1987), S. 201–205. 1575 Die Zeitgenossen hielten die Pläne der Gesellen für utopisch: … „allein die teutschen Gesellen wollten damals noch nicht von der Ansicht lassen, dass man Alles gleich auf einmal haben müsse;“ so Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 420.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Immerhin bewirkte die mächtige Handwerkerbewegung der Achtundvierziger doch einen Wandel auf anderen Gebieten der staatlichen Sozialpolitik Preußens: Die Ministerialbürokratie gewann unter der Federführung des zuständigen Ministers von der Heydt die Überzeugung, dass auf dem Felde der Vorsorge und Fürsorge wirksamere Maßnahmen als bisher ergriffen werden müssten, sollten die revolutionären Wogen geglättet und dauerhafter sozialer Friede geschaffen werden.1576 Man hoffte nunmehr auch in Berlin, „den Zustand der arbeitenden Bevölkerung in wirtschaftlicher und sittlicher Beziehung“ mit Hilfe eines großzügigen Ausbaus des Kassenwesens verbessern zu können,1577 verfolgte also volkserzieherische Ziele.1578 Die Gemeinden, die wie immer die öffentlichen Armenkassen entlasten wollten, begrüßten die neuen Intentionen naturgemäß besonders lebhaft.1579 cc) Die Verordnung von 1849 und der systematische Aufbau des Kassenwesens (1849–1854) Die Frucht der in Berlin unter dem Druck der revolutionären Ereignisse angestellten Reformüberlegungen, die Verordnung vom 9. Februar 1849, stellte das Kassenwesen der Gesellen auf eine neue, breitere Basis. Zwar hielt man noch immer an dem Grundsatz, dass die Errichtung der Laden nicht generell angeordnet werden solle, sondern dem Ermessen der Beteiligten überlassen bleiben müsse, fest.1580 Der § 57 des neuen Gesetzes brachte aber die grundlegende Wende in der Politik des Staates gegenüber den Gesellenladen und -auflagen deutlich zum Ausdruck. Die Vorschrift ermächtigte den Ortsgesetzgeber, wenngleich nach Anhörung „beteiligter Gewerbetreibender“, die selbständigen Handwerker durch Ortsstatut zur Zahlung von Beiträgen zu den Unterstützungskassen der Gesellen, und zwar bis zur Hälfte des von den Versicherten selbst zu leistenden Betrages, zu verpflichten und den Meistern auch die Einziehung der Beiträge der Kassenmitglieder aufzuerlegen. Den Kassen wurde die Möglichkeit gegeben, ihre Forderungen notfalls im Wege des Verwaltungszwanges beizutreiben. Mit diesen Bestimmungen war das Kassenwesen in finanzieller Hinsicht auf eine wesentlich tragfähigere Grundlage gestellt worden, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Anders als nach dem Erlass der Gewerbeordnung des Jahres 1845 betrieb das Handels- und Gewerbeministerium seit 1849 auch mit innerer Überzeugung und großer Energie den Aufbau eines effizienten Systems sozialer Sicherung für die

1576 Adolf Kolping hat die elende Lage kranker, unversorgter Gesellen eindrucksvoll geschildert; vgl. Franz (1912), S. 53. Zu den gravierenden Mängeln des Kassenwesens vor der Neuordnung durch den Gesetzgeber s. Schweitzer (1905), S. 421–423. 1577 STAM, Landratsamt Bochum 92, fol. 265, zitiert nach Reininghaus, Das erste …, (1983), S. 271–296 (273). 1578 Dieses über die Erfordernisse der Tagespolitik hinausgehende Motiv verweist auf die Elberfelder Heimat des Ministers von der Heydt; s. Bergengrün (1908), S. 209. 1579 So Puppke (1966), S. 53. 1580 An den Bestimmungen der §§ 144, 168 Abs. 2 und 169 Abs. 2 der Gew.O. von 1845 änderte § 57 der Verordnung vom 9. Februar 1849 nichts.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gewerblichen Arbeitnehmer.1581 Die Euphorie der Zentrale beflügelte auch die nachgeordneten Behörden. Insbesondere die Regierungen in Arnsberg und Minden führten von nun an für Jahre einen unermüdlichen, zähen Kampf um die Ausschöpfung der vom Gesetzgeber eröffneten Möglichkeiten in den Städten und Gemeinden.1582 Über Landräte und Magistrate ergoss sich eine wahre Flut von Verfügungen, Anregungen und Informationen. (a) Regierungsbezirk Arnsberg Die Regierung in Arnsberg, die zuvor schon die sozialen Einrichtungen lebhaft gefördert hatte, forderte gleich nach Erlass der „Notverordnung“ vom 9. Februar 1849 sämtliche Magistrate ihres Bezirks nachdrücklich zur Errichtung von Kassen für die gewerbetreibende Bevölkerung auf.1583 Sie versandte die vom Handelsministerium emanierten Ausführungspläne und Musterentwürfe für Orts- und Kassenstatuten1584 und wies die Lokalbehörden empfehlend auf die neue Möglichkeit, die Arbeitgeber zu den Beiträgen der Unterstützungskassen der Gesellen heranzuziehen, hin. Der Erfolg dieser bis dahin unbekannten Propaganda war in der Tat beachtlich: Noch im selben Jahr (1849) reichten Soest1585 und Lippstadt1586 Ortsstatuten ein, die sich vor anderen dadurch auszeichneten, dass sie die Arbeitgeber zu Beitrags1581 Zu den Intention des Ministeriums vgl. Frevert (1984), S. 165 ff. Die Darstellungen zur Geschichte der Sozialpolitik messen den frühen Unterstützungskassen nur wenig Bedeutung zu. So F. Syrup / O. Neuloh (1957); Gladen (1974); Köllmann, Die Anfänge der staatl. Sozialpolitik … (1966); Tennstedt (o. J.) (1977); vgl. auch Frerich/Frey, Bd. 1 (1993). 1582 So Puppke (1966), S. 53. Zwischen 1849 und 1853 wurden in 226 Gemeinden Preußens Ortstuten in Kraft gesetzt, die Gesellen und Fabrikarbeiter verpflichteten, Mitglied einer Krankenkasse zu werden; s. Frevert (1984), S. 166. 1583 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an sämtliche Magistrate vom 4. Mai 1849, in dem den Stadtverwaltungen „dringend“ die Förderung der gewerblichen Unterstützungskassen empfohlen wurde, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. Zu den Bemühungen der Reg. Arnsberg um den Aufbau des Kassenwesens vgl. Reininghaus (1980), S. 46 ff., insbes. S. 48, 49. 1584 Z. B. Entwurf eines Ortsstatuts in Betreff der Gesellenkassen und Statut der Tischlerkasse in N (Musterstatut von 1850), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552. Diese Statuten sollten eine gewisse Gleichförmigkeit in das Kassenwesen bringen. Das Ministerium erwartete, „daß die Communalbehörden von selbst erkennen werden, welch ein wirksames Mittel zur Verbesserung der Lage der betheiligten Gesellen und Arbeiter, mithin des Arbeiterstandes am Orte überhaupt, ihnen in der zeitgemäßen Umgestaltung und Errichtung jener Kasseneinrichtungen geboten ist“; so Erlaß v. 1.4.1849 über die Ausführung der die Unterstützungskassen betreffenden Bestimmungen der Gewerbeordnung und der Verordnung v. 9.2.1849, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 166. 1585 S. Schreiben des Handelsministeriums an die Reg. Arnsberg vom 11. August 1849, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. Noch vor dem Erlass des Ortsstatuts für die Stadt Soest vom 27. Mai 1851 verabschiedete der Magistrat der Stadt nach Beratung mit dem Gewerbeverein und zwei gewählten Altgesellen jedes Gewerbes am 27. Juni 1849 ein „Statut für die Stadt Soest, die Gesellen-Verbindungen und Kassen zur gegenseitigen Unterstützung betreffend“, in: Soester Kreisblatt vom 24. Dezember 1850. In der Stadt bestanden 1851 sieben berufsständisch organisierte Gesellenvereine, die streng auf Abgrenzung voneinander hielten. Die Gesellen, die keiner der Berufskassen angehörten, wurden 1852 dem „Allgemeinen Gesellenunterstützungsverein“ zugewiesen; s. Auflistung vom 8. Oktober 1851, in: Stadtarchiv Soest, B XIX g 9. 1586 S. Statut für die Stadt Lippstadt, die dortigen Gesellen-Verbindungen und Kassen zur gegenseitigen Unterstützung betr., vom 2. August 1849, in: Stadtarchiv Lippstadt D 38; desgl. Statut

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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leistungen verpflichteten. Mit gelegentlich abweichenden Satzungen folgten Siegen,1587 Dortmund,1588 Witten,1589 Brilon,1590 Hattingen, Kamen und Sprockhövel.1591 Auch in Hagen, Hörde, Hamm, Werl, Arnsberg, Limburg und Lüdenscheid kam es zum Erlass von Ortsstatuten.1592 In vielen dieser Städte hatten, wie beispielsweise in Soest, zuvor schon Kassen „als reine Privatvereine“1593 bestanden, deren Satzungen nun den neuen Ortsstatuten angepasst werden mussten.1594 Angestoßen durch das Gesetz vom 9. Februar 1849, wurde zumeist erst jetzt die Versicherungspflicht der Gesellen eingeführt, obgleich schon die Gewerbeordnung von 1845 die Voraussetzungen für eine solche Regelung geschaffen hatte. Von der Möglichkeit, die Meister zur Beitragsleistung heranzuziehen, wurde dagegen weitaus seltener Gebrauch gemacht. für die Stadt Lippstadt, die Verhältnisse der Gesellen, Lehrlinge und Gehilfen, die Gesellenverbindungen und Kassen betr., vom 3. September 1852, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38. 1587 In Siegen wollte der Magistrat die Beitrittspflicht nur für auswärtige Gesellen einführen, da die einheimischen im Krankheitsfall von ihren Angehörigen gepflegt würden. Außerdem sollte der 1836 gegründete „Rothgerber-Verein“ als eigene Kasse fortbestehen. Mit diesen Abweichungen vom Normalstatut wollte sich die Regierung aber nicht einverstanden erklären; s. STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743; s. auch Schreiben der Reg. Arnsberg vom 13. Oktober 1853, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1742; Schreiben des Magistrats der Stadt Siegen vom 11. März 1853 und des Landrats des Krs. Siegen vom 25. August 1853 sowie des Magistrats vom 7. Februar 1854, in: STAM, Landratsamt Nr. 1743; Intelligenzblatt für den Krs. Siegen, Wittgenstein und Altenkirchen vom 27. September 1853, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743. 1588 Winterfeld, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 3, S. 703. 1589 S. Schreiben des Amtmannes von Witten an den Landrat zu Bochum vom 5. April 1851, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 10, 15; in Witten wurde erst 1851 eine Handwerksgesellenlade gegründet, s. STAM Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff.; Ortsstatut Witten vom 13. Dezember 1850, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1590 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon vom 11. August 1852, und Schreiben der Reg. Arnsberg vom 14. Oktober 1852, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444; s. auch Statut der Handwerksgesellenlade der Stadt Brilon aufgrund des Ortsstatuts vom 30. April/11. Oktober 1853, von der Reg. Arnsberg bestätigt am 31. Oktober 1853, sowie Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon vom 5. Dezember 1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 1591 S. Schreiben der Regierung an den Landrat des Krs. Bochum vom 12. April 1854, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; in diesen Orten erfolgte die Zuweisung der Gesellen und Facharbeiter zu einer gemeinsamen Kasse. 1592 Bzgl. Hörde s. Beschluss des Ladenvorstands in Hörde vom 8. Februar 1852 und Genehmigung des Bürgermeisters vom 24. Juli 1852, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. Nr. 15, Nr. 552. Die vereinigte Gesellenlade der Stadt Hörde wurde schon 1846 gegründet. Die Aufzählung der Gemeinden des Regierungsbezirks Arnsberg, in welchen die Fabrikanten und Handwerksmeister zu den Gesellenkassen Beiträge zu leisten hatten, findet sich im Schreiben der Reg. Arnsberg an die Landräte vom 5. Mai 1854, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1387. In den meisten der genannten Orte dürften allerdings nur die Fabrikanten beitragspflichtig gewesen sein. 1593 So der Magistrat in Soest, vgl. Reininghaus (1985), S. 141. 1594 Die Reform schon bestehender Kassen aufgrund der neuen Vorschriften schildert Joest am Beispiel Soests, wo die Neuorganisierung mehr als zwei Jahre in Anspruch nahm; s. Joest (1978), S. 193; s. auch Statut der Schreinergesellenkasse, 1850, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9; desgl. Statut der Bäckergesellen-Kasse vom 31. März 1850, in: Stadtarchiv Soest XIX g 12; zur Entstehung der einzelnen Kassen (u. a. Soest) vgl. den Katalog bei Reininghaus (1985), S. 134 ff.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

Getragen von der allgemeinen Aufbruchstimmung und den Intentionen des Ministeriums gemäß wurden nunmehr auch zahlreiche neue Kassen errichtet, wobei – abweichend vom Musterstatut – mitunter individuelleren Gestaltungen der Vorzug gegeben wurde. In Brilon beispielsweise schloss der Handwerkerverein, der privatrechtlichen, aber keinen Innungscharakter hatte, im Jahre 1850 mit dem dortigen Krankenhaus einen Vertrag ab, wonach jeder Geselle verpflichtet sein sollte, an die Kasse des Hospitals regelmäßig Beiträge zu zahlen. Die fälligen Beträge behielten die Meister vom Lohn der Gesellen ein und führten sie an das Krankenhaus ab. Naturgemäß fand diese gesetzwidrige und die Gesellen nicht bindende Konstruktion die Missbilligung des Ministers von der Heydt.1595 In Bochum hatte bis 1849 eine gemeinsame Auflage aller ortsansässigen Handwerksgesellen bestanden. Wegen der Unzuträglichkeiten, die mit der statutarrechtlich bestimmten Pflicht zum Wirtshausbesuch aufgrund der Zahlung der Kassenbeiträge an den Herbergswirt in der Form des sog. „Zwangsbieres“ und der Krankenversorgung durch den Wirt auf der Herberge verbunden waren, schied ein Teil der Gesellen aber enttäuscht bald wieder aus der Organisation aus und errichtete eine eigene, den zwar tradierten, inzwischen aber als archaisch, überholt und wenig zweckgerecht empfundenen Bräuchen des Handwerks ferner stehende Kasse.1596 Zudem wurde 1853 in der Stadt nach den Grundsätzen Adolf Kolpings ein katholischer Gesellenverein gegründet, mit dem eine Krankenlade verbunden war. Wegen des großen Zulaufs, den gerade diese neue Einrichtung hatte, war die Existenz der anderen Kassen ernsthaft gefährdet, zumal auch die andere dissidente Neugründung bald Anschluss an den konfessionellen Gesellenverein suchte. Das Beispiel macht deutlich, dass das vom Staat initiierte System sozialer Sicherung ob seiner Nüchternheit und Beschränkung jedenfalls in seinen Anfängen durchaus nicht überall der zündenden, den ganzen Menschen in den Blick nehmenden Idee des Kirchenmannes Kolping überlegen war. Natürlich konnte die Initiative eines Geistlichen dem staatlich geförderten Kassenwesen insbesondere in den neuen Verdichtungszonen der nördlichen Grafschaft Mark, wo die wurzellosen Zuwanderer, die von der seit 1850 anhaltenden Hausse der Industrie in Scharen angezogen wurden, alsbald anfingen, nach tragfähigen Formen sozialer Sicherheit zu suchen, auf die Dauer keine ernsthafte Konkurrenz machen. Die allgemeinen, d. h. nicht berufsspezifischen Laden und die Fabrikarbeiterauflagen nahmen in den Industriezonen im Westen des Regierungsbezirks Arnsberg um die Mitte des 19. Jahrhunderts überall einen lebhaften Aufschwung, wohingegen die reinen Handwerkerkassen naturgemäß eher stagnierten. Während in der aufstrebenden Industriestadt Hattingen die 1826 gegründete Handwerksgesellenherberge und -auflage im Jahre 1853 nicht mehr als 78 Mitglieder zählte, wies die erst 1851 errichtete allgemeine „Kranken- und Sterbelade“ der Stadt schon im Jahr darauf einen Versichertenstand von 430 auf.1597 1595 Schreiben des Ministers von der Heydt vom 1. September 1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 1596 STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1597 Die Zahlen sind dem „Verzeichnis der im Krs. Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung“ vom 6. September 1852 entnommen, vgl. STAM, Krs. Bochum,

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Bald erkannte die Regierung in Arnsberg, dass sich das Kassenwesen nur in den schnell wachsenden Industrieregionen flächendeckend durchsetzen ließ. Deshalb konzentrierte sie ihre Bemühungen fortan auf die gewerbetätigen Kreise des Bezirks.1598 Dort blieben ihr die erwünschten Erfolge in der Tat nicht versagt. Im aufstrebenden Industrierevier fand sie bei den Lokalbehörden die notwendige Förderung und Unterstützung beim Aufbau der Laden.1599 Selbst in den kleineren, industriell geprägten Orten der Grafschaft Mark erreichte sie auf der Grundlage von Ortsstatuten die Zuweisung von Gesellen und Fabrikarbeitern zu gemeinsamen – und damit leistungsfähigen – Kassen.1600 Hier erntete die Arnsberger Behörde recht eigentlich die Früchte ihrer Arbeit. Weit weniger erfolgreich war das staatlich geförderte Kassenwesen in den durch typisch ländliche Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen geprägten Regionen des Regierungsbezirks Arnsberg. Trotz der auch hier nicht unbekannten Bestrebungen der Regierung ließ sich der Gedanke der organisierten Vorsorge in den Kleinstädten und Landgemeinden nicht wirklich vermitteln. Die Zurückweisung der regierungsamtlichen Vorstöße durch die Betroffenen wie auch die Lokalbehörden entsprang weniger einer in engen Verhältnissen gewachsenen Uneinsichtigkeit in die Notwendigkeiten der neuen Zeit; sie beruhte, und das mag zunächst befremdLandratsamt Nr. 92, S. 70 ff. Ursache für diesen größeren Erfolg dürfte auch gewesen sein, daß die Fabrikarbeiter in aller Regel über höhere Löhne verfügten als die Handwerksgesellen; so Lenger (1988), S. 99. 1598 Die Anfrage des Handelsministers vom 4. Juni 1853 bzgl. Einrichtung von Unterstützungskassen der Gewerbetreibenden, Gewerbegehilfen, Gesellen- und Fabrikarbeiter wurde von der Reg. Arnsberg nur mehr an die Landräte der Kreise Arnsberg, Iserlohn, Hagen, Altena und Siegen weitergesandt. Man ging offenbar – nicht zu Unrecht – davon aus, dass nur dort noch nennenswerte Fortschritte beim Aufbau des Kassenwesens erzielt worden seien; s. STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1853 existierten 17 Unterstützungskassen für Arbeiter und Gesellen im Kreise Dortmund. In der Stadt Dortmund selbst lassen sich vier solcher Kassen des Handwerks nachweisen: Die Bauhandwerkergesellenlade, die Vereinigte Schuhmacher- und Schneidergesellenlade, die Vereinigte Gesellenlade sowie die Weberauflage (welche 1853 ihre Statuten änderte und sich wegen des Niedergangs des Textilgewerbes zu einer allgemeinen Sterbelade wandelte); s. Winterfeld, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 2, S. 665, 666. 1599 Vgl. z. B. Schreiben vom 15. Juli 1853, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; zur Gesellenlade in Schwerte vgl. auch Hallen (1980), S. 200–204. 1600 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Bochum vom 12. April 1854; in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92 (Beispiele Hattingen, Kamen und Sprockhövel); ebenso Jacobi (1861), S. 87. In der Stadt Dortmund wurden, um die Verwaltung der Kassen zu vereinfachen, die Arbeiter aller Fabriken, welche weniger als 100 Leute beschäftigten, mit den Gesellen zusammen in einer Lade verbunden. Im Amt Netphen im Krs. Siegen war sogar nur eine einzige gemeinschaftliche Unterstützungskasse für Gesellen, Fabrikarbeiter und Handwerksmeister errichtet worden. Solche Fakten sind u. a. ursächlich für die von Reininghaus festgestellte „enge Verbindung, wie sie zwischen sozialgeschichtlich orientierter Arbeiter- und Handwerkergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik üblich geworden ist“, welche er in der DDR-Forschung aber vermißte; s. Reininghaus, Zur Handwerksgeschichte in der DDR … (1990), S. 283–299 (289). Desgl. Kocka (1986), S. 347, 348. Zur Aufnahme handwerklicher Traditionen durch die entstehende Arbeiterbewegung vgl. Kocka (1986), S. 333–376.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

lich erscheinen, auf einer durchaus sachgerechten Einschätzung der ökonomischen und sozialen Situation der Bevölkerung ländlicher Räume in jenen Jahren. Wenige Beispiele schon genügen, um hinreichend zu erhellen, weshalb sich die abhängig beschäftigten Handwerker in den kleinen Städten und Dörfern Westfalens dem Kassenwesen auf gesetzlicher Grundlage verweigerten. In Schwerte hatte das Arnsberger Regierungspräsidium 1852 und 1854 die Errichtung einer Gesellenkasse „für Krankheits- und Sterbefälle“ durchzusetzen versucht. Bürgermeister und Handwerker, die Meister nicht anders als die Gesellen des Ortes, lehnten aber jedes Mal einstimmig und ohne Zögern ab, da es an dem notwendigen Bedürfnis fehle. Ein Unterschied zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sei in der Stadt kaum festzustellen; die im Handwerk beschäftigten Arbeitnehmer seien in Wahrheit meistens (selbständige) Flickarbeiter, die nur dann für andere arbeiteten, wenn es ihnen selbst gänzlich an Beschäftigung und Verdienst fehle. „Die hiesige Einwohnerschaft beschäftigt sich vorzugsweise mit Ackerbau und Kohlenfuhrwerk. Fabriken sind hier nicht vorhanden und im gewöhnlichen Gewerbe sind fast nur einzeln arbeitende Meister, die weder Gesellen noch Lehrlinge halten, vertreten. Eigentliche Arbeitgeber gibt es nur wenige, und diese beschäftigen höchstens drei bis vier Lehrlinge. Die Handarbeiter, welche nicht beim Ackerbau verwendet werden, arbeiten außerhalb des Stadtbezirks auf den Kohlengruben und Eisenwerken und gehören somit schon verschiedenen Krankenunterstützungskassen an“.1601 Die Wirtschaftsstruktur in dieser Kleinstadt war offenkundig zu wenig differenziert und die tradierten Mittel und Einrichtungen der Vorsorge und Fürsorge, insbesondere durch den Familienverband, den eigenen Grundbesitz und die daraus folgende Kreditfähigkeit noch so intakt, dass es an einem echten Bedürfnis nach grundsätzlichen Neuerungen fehlte. Ebenso wie aus Schwerte wurde der Regierung auch aus Brilon mitgeteilt, die Anzahl der Gesellen und Lehrlinge am Ort sei zu gering, um eine Gesellenkasse einrichten und aufrechterhalten zu können.1602 Soweit die Meister es waren, die sich gegen die Gesellenkassen wandten, dürfte ihnen die Furcht vor der Beitragspflicht zu den Laden und Auflagen die Feder geführt haben. Dass aber durchaus auch die Gesellen den Kassen mit Skepsis gegenüberstanden, zeigt das Beispiel des zwar bevölkerungsreichen, gleichwohl aber der ländlichen Umgebung verbundenen, ackerbürgerlichen Soest. Die Soester Bäckergesellen enthielten ihrer Kasse die fälligen Beiträge mit der Begründung vor, als Einheimische würden sie im Krankheitsfall von ihren Angehörigen gepflegt; eine Versicherung sei deshalb nicht erforderlich.1603

1601 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Schwerte vom 26. September 1852 und des Magistrats der Stadt aus dem Jahre 1854, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7517; Schreiben der Reg. Arnsberg an den Bürgermeister der Stadt Schwerte vom 4. Mai 1857, in: Stadtarchiv Schwerte Nr. 7515. 1602 S. Bericht des Landrats des Krs. Brilon vom 5. September 1849, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 1603 Joest (1978), S. 194.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Demnach waren im wesentlichen vier Gründe dafür verantwortlich, dass die Auflagen in den kleinen Städten und auf dem Lande trotz eifrigster Bemühungen der Arnsberger Regierung nicht recht Fuß fassen konnten: (1) Der allein, allenfalls mit Lehrlingen arbeitende Meister bestimmte das Bild. (2) Die wenigen abhängig beschäftigten Handwerker waren häufig eher Tagelöhner, die nur gelegentlich bei einem Meister, in der Regel aber selbständig als Altflicker arbeiteten. (3) Soweit wirkliche, dauernd im Handwerk tätige Gesellen beschäftigt wurden, waren dies in aller Regel Einheimische, die wegen der familieninternen Fürsorge in Notfällen der Unterstützung durch Kassen nicht bedurften. (4) Die geringe Zahl der fremden Gesellen, die in den abseits der bevorzugten Wanderwege liegenden Landstädten arbeiteten, reichte allein nicht aus, um eine Kasse funktionsfähig erhalten zu können. So lässt sich festhalten, dass das Netz von Unterstützungskassen im Regierungsbezirk Arnsberg lediglich im märkischen Sauerland dichter geknüpft wurde. Dort fanden sich nicht nur in dem Zentrum Iserlohn, sondern selbst in kleineren Orten wie Hemer und Letmathe Kassen. Demgegenüber blieben die Laden in Siegen und Arnsberg Einzelerscheinungen. Das Siegerland und das kölnische Sauerland verfügten mit Ausnahme der wenigen städtischen Zentren noch für Jahrzehnte über keinerlei soziale Einrichtungen für die Handwerksgesellen.1604 (b) Regierungsbezirk Minden Ebenso engagiert wie die Arnsberger Regierung förderte die Behörde in Minden das Kassenwesen. Paderborn,1605 Vlotho1606 und Minden1607 gehörten hier zu den ersten Städten, die die vorhandenen Laden dem neuen Modell anpassten und weitere Unterstützungseinrichtungen schufen. Alle am Ort beschäftigten geprüften1608 Gesellen wurden zum Beitritt verpflichtet.

1604 Vgl. Reininghaus (1985), S. 142. 1605 Ortsstatut für die Stadt Paderborn, die Gesellenkassen und Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung betr., vom 24. Juni 1849, in: Stadtarchiv Paderborn 388 a. 1854 war das Statut allerdings noch nicht durch die Regierung bestätigt, also unwirksam; s. Schreiben der Reg. Minden an den Landrat von Paderborn vom 16. Januar 1854, a. a. O. Das Statut wurde erst 1855 durch den Bürgermeister unterzeichnet, s. Protokoll vom 9. Dezember 1854, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 a. 1853 bestanden in der Stadt Kassen des Schneider-, Schuhmacher-, Tischler-, Schlosser- und Schmiedehandwerks, s. Bericht der Stadt Paderborn über das Unterstützungswesen vom 15. Juli 1853, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 b. 1606 S. Schreiben des Magistrats an die Regierung vom 7. Oktober 1850, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1607 Ortsstatut für die Stadt Minden vom 3. September 1852, in: Stadtarchiv Minden, F 188. 1608 Der Minister von der Heydt wies in einem Schreiben an die Reg. Arnsberg vom 24. August 1851 ausdrücklich darauf hin, dass nur geprüfte, nicht aber ungeprüfte Mitarbeiter oder Lehrlinge der Versicherungspflicht unterworfen seien, in: GStA/PK, Rep. 120 B 1 Nr. 3, Bd. 3, fol. 116.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

In der Stadt Minden erwarb sich der Gewerberat besondere Verdienste um die Befestigung eines funktionsfähigen Kassenwesens, das nicht weniger als neun berufsständisch organisierte Gesellenladen aufwies.1609 In Paderborn waren die Bemühungen der Meister dagegen eher eigennützig: Die Kleidermacher-Innung der Stadt suchte die Kasse der Schneidergesellen unter ihre Kontrolle zu bringen, stieß dabei aber auf den energischen Widerstand der Mitglieder.1610 Auch in Ostwestfalen konzentrierte sich der Aufbau des Kassenwesens vor allem auf die größeren Städte. Reininghaus hat festgestellt, dass bis zum Jahre 1850 in Minden-Ravensberg fast in jeder Stadt eine oder mehrere Gesellenladen vorhanden waren. Minden und Bielefeld hatten dabei als Vororte zu gelten.1611 In den kleineren Gemeinden standen dem Erfolg der Laden und Auflagen aber die nämlichen Hindernisse entgegen, die auch im Regierungsbezirk Arnsberg eine flächendeckende Organisierung der Gesellen verhinderten. (c) Regierungsbezirk Münster Lediglich der Regierungsbezirk Münster stand auch diesmal wieder abseits. Obwohl die Regierung, den Weisungen des Ministeriums entsprechend, die Kommunen zur Initiierung von Gesellenkassen aufforderte und ihnen das Normalstatut übersandte, blieb nahezu jede Reaktion aus. Nur in Steinfurt (1850) und Münster (1855) wurden Ortsstatuten mit Beitrittspflicht für die Gesellen erlassen.1612 Dafür gab es Gründe: Selbst die Münsteraner Regierung machte kein Hehl daraus, dass sie die Versicherungspflicht in Wahrheit für überflüssig hielt. Sie ließ verlauten, dass „in unserem Bezirke die anderwärts unter den arbeitenden Klassen … sich zeigenden Missstände weniger hervorgetreten sind“.1613 Deshalb bestehe für die Errichtung von Gesellenkassen kein Bedürfnis.1614 Ein Amtmann aus dem Kreis Recklinghausen lehnte das Kassenwesen ab, da seine Einführung das altgewohnte, im ländlichen Westfalen noch festgeknüpfte Band zwischen Meistern und Gesellen zerschneide: „Wegen des unbedeutenden gewerblichen Verkehrs halte ich hier die Errichtung einer Gesellen-Unterstützungskasse für unausführbar und auch für unnötig, weil in einem einzelnen Falle ein dürftiger hilfloser Geselle aus öffentlichen Fonds unterstützt werden kann. Eine solche Casse einzurichten, ohne dass ein Bedürfnis vorliegt, würde mehr dazu dienen, Ansprüche hervorzurufen, die man bis jetzt nicht kennt und die alte löbliche Sitte, wonach Meister und Brotherrn ihre

1609 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Minden an die Regierung (1852), in: Stadtarchiv Minden, F 183. Die Gesellenkassen in Minden wurden aufgrund des Ortsstatuts vom 3. September 1852 neu errichtet. 1610 S. Schreiben der Kleidermacher-Innung an den Bürgermeister der Stadt Paderborn, in: Stadtarchiv Paderborn 388 a. 1611 S. Schreiben der Reg. Münster an den Minister von der Heydt vom 7. Oktober 1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. Bzgl. Münster s. Goeken (1925), S. 34. 1612 Reininghaus (1985), S. 142. 1613 Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Warendorf vom 14. Mai 1852, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1614 S. Schreiben der Reg. Münster an den Minister von der Heydt vom 7. Oktober 1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten auch in kranken Tagen in ihren Häusern verpflegen zu (beseitigen)“.1615 Im Münsterland hielt man am Hergebrachten fest und konnte dies auch, da die Wanderströme der Gesellen die kleinen Städte und Dörfer unbeachtet ließen und selbst die wenigen zentralen Orte kaum berührten. Auswärtige Hilfskräfte fand man bei den überwiegend allein arbeitenden Meistern nur selten. Die wenigen Handwerksburschen, die in kranken Tagen der Hilfe bedurften oder um deren Begräbnis sich keiner der fernen Angehörigen kümmern konnte, waren mehr als ausreichend versorgt durch das ungewöhnlich leistungsfähige, aus kirchlichen, privaten und öffentlichen Mitteln schöpfende Wohlfahrtssystem,1616 welches in den katholischen Regionen Westfalens der Not wehrte. Die neue Zeit mit ihrer Tendenz, menschliche Bindungen und persönliche Fürsorge durch verrechtliche Strukturen, durch Organisation zu ersetzen, kündigte sich, wenn man von Münster selbst, das mit seinem entwickelten Kassenwesen an die Zunfttradition anknüpfen konnte, absieht, zuerst vor allem im südwestlichen Grenzgebiet des Münsterlandes an: So wurde 1852 in Bottrop die Errichtung einer Kranken- und Sterbelade geplant, die 1854 bereits ins Leben gerufen war. Sie diente aber nicht in erster Linie der Unterstützung erkrankter Handwerker, sondern den in Bottrop wohnenden und in Sterkrade auf der Eisenhütte beschäftigten Arbeitern.1617 Nach den Feststellungen von Reininghaus1618 waren bis 1850 in Westfalen insgesamt 64 Gesellenladen für ein oder zwei Berufe, 26 für drei und mehr Berufe entstanden. Den 90 Gesellenladen standen 40 betriebliche oder überbetriebliche Kassen für Arbeiter gegenüber. Betrachtet man die berufsspezifische Zuordnung der Kassen, so standen die Laden für die Gesellen im Tischlerhandwerk (13) zahlenmäßig an der Spitze, gefolgt von Kassen für Schuhmacher (11), Schneider (7), Schlosser und Schmiede (7) sowie für das Bauhandwerk (Maurer und Zimmerer) (8). In vier Fällen gingen Schneider- und Schuhmachergesellen eine gemeinsame Kassenverbindung ein. Bäcker-, Fleischer- und Webergesellen zeigten mit drei bzw. zwei Laden ein vergleichsweise geringes Interesse an der organisierten sozialen Sicherung.

1615 Schreiben vom 3. September 1852, in: STAM, Krs. Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63. 1616 Dazu instruktiv Vahle (1913), welcher einen Überblick über das Armenwesen der Stadt Münster gibt und es nicht versäumte, seiner Arbeit eine Auflistung der Armenhäuser und Armenstiftungen in der Landeshauptstadt anzufügen (S. 142 ff.). 1617 Schreiben vom 17. Januar 1852 und 26. August 1852, in: STAM, Krs. Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63. Kocka hat darauf hingewiesen, daß durch den Zusammenschluß von Gesellen verschiedener Handwerksberufe mit den Fabrikarbeitern in den Kassen ebenso wie durch das Arbeitsrecht die „beruflich-ständischen Differenzierungslinien“ übersprungen und verwischt worden seien. Dadurch habe der Staat selbst die Klassenbildung befördert; s. Kocka (1990), S. 348, 349. 1618 Reininghaus (1985), S. 142. Das Schaubild findet sich a. a. O., S. 143.

390

II. Die gewerbliche Ausbildung

Schaubild:

dd. Das Reformgesetz des Jahres 1854 und die weitere Ausbreitung des Kassenwesens zwischen 1854 und 1868 Unter dem Eindruck der schweren Hungerkrise in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre und aufgerüttelt durch die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848, hatte die politisch bewusste Öffentlichkeit erstmals das ganze Ausmaß des Elends, das für große Teile der sog. „handarbeitenden Klassen“ zum unentrinnbaren Begleiter des Alltags geworden war, bemerkt. Als Ertrag der in „weiten Kreisen“ (so von der Heydt)1619 geführten Diskussion, die ihren Niederschlag in unzähligen Publikationen fand, gelangten zu Beginn der fünfziger Jahre mehrere Anträge auf Erlass neuer gesetzlicher Bestimmungen über die Unterstützung des mittellosen Teils der Bevölkerung bei Unglücksfällen und Krankheiten sowie bei Arbeitsunfähigkeit infolge Alters oder sonstiger Gründe1620 an das Handels- und Gewerbeministerium. Dennoch sah der Minister 1852 noch keine Veranlassung, die Bestimmungen der §§ 104, 144, 145, 169 der Gewerbeordnung von 1845 und der §§ 56–59 der Verordnung vom 9. Februar 1849 zu novellieren; statt dessen forderte er die Behörden auf, sich mit Verve der Realisierung des gesetzgeberischen Willens anzunehmen. Die in vielen Gemeinden bereits durch Ortsstatut bestimmte Beitrittspflicht der Gesellen zu 1619 Erlaß des Ministers von der Heydt vom 16. März 1852, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. U. a. auch der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen forderte immer dringlicher eine Verbesserung der Unterstützung kranker Arbeiter und Gesellen; s. Frevert (1984), S. 166. 1620 Siehe Anm. 1619.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

391

den Kassen werde, so hoffte von der Heydt, der bedürftigen Bevölkerung jedenfalls in der Zukunft einen ausreichenden Versicherungsschutz gewährleisten. Da der Erlass von Ortsstatuten und die Neugründung von Gesellenkassen aber nach wenigen Jahren des euphorischen Aufbruchs zu stagnieren begannen und die Bemühungen der Regierungen um die Ausbreitung des Kassenwesens zunehmend auf Widerstand stießen, kamen dem Minister schließlich doch Zweifel, ob die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ausreichten, um das gesteckte Ziel in kurzer Frist erreichen zu können. 1853 ließ von der Heydt deshalb ein Meinungsbild der Verwaltung zu dieser Frage erstellen. Das Ergebnis der Befragung fiel, den regionalen Gegebenheiten entsprechend, unterschiedlich aus: Im ländlichen Kreis Brilon etwa war die Verwaltung einhellig der Ansicht, dass die bestehenden Vorschriften über die Armenpflege ausreichten, um auch die Handwerksgesellen vor existentieller Not zu bewahren.1621 In der aufstrebenden Industriestadt Bochum dagegen vertrat man die genau gegenteilige Auffassung. Die eigenständige soziale Sicherung der Handwerksgesellen sei unerlässlich. Der derzeit vorgeschriebene Weg zur Errichtung der Laden sei aber so schwerfällig, dass die Durchsetzung des Kassenwesens in der Stadt nicht weniger als vier Jahre, von 1849 bis 1853 in Anspruch genommen habe.1622 Damit war ein offenkundiger Missstand angesprochen. Die westfälischen Regierungen zögerten nicht, hier auf Abhilfe zu dringen. Sollte der Versicherungsgedanke umfassende Wirksamkeit entfalten und nachhaltigen Erfolg haben, musste, so wussten sie, das Prinzip der freiwilligen Errichtung der Kassen fallen. In Minden, Münster und Arnsberg befürwortete man deshalb einhellig eine Regelung, wonach künftig überall dort, wo die Gemeindebehörden keine ortsstatutarischen Festsetzungen treffen wollten, die Regierungen selbst über die Bedürfnisfrage entscheiden sollten.1623 In der Tat folgte das Reformgesetz vom 3. April 18541624 diesem Vorschlag. Es erleichterte nicht nur die Errichtung der Kassen für selbständige Handwerker, sondern versprach auch, die Widerstände interessierter Kreise gegen das Kassenwesen der Gesellen auf lokaler Ebene auszuräumen. Von der Heydt wies die Regierungen an, mit der Ausführung des Gesetzes „sofort und energisch“ zu beginnen und vor allem die Unterstützungseinrichtungen für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter nach Kräften zu fördern. Um dies zu gewährleisten, verlangte er innerhalb von drei Monaten „Nachweisungen“ über die vorhandenen Kassen und deren Ordnungen. 1621 Vgl. Stellungnahme des Landrats des Krs. Brilon zur Abänderung der Verordnung vom 9. Februar 1849 vom 24. Oktober 1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 1622 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bochum vom 15. Juli 1853, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; der bei der Errichtung der Kassen vorgeschriebene Weg war in der Tat schwerfällig: Zuerst mussten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehört werden, dann fassten die städtischen Behörden ihre Beschlüsse; schließlich wurden die Statuten dem Ministerium durch die Regierung zur Genehmigung vorgelegt. Dieses Verfahren nahm regelmäßig mehrere Jahre in Anspruch. 1623 So die Reg. Arnsberg vom 15. November 1853 und Reg. Minden vom 10. November 1853; dazu die einverständliche Bemerkung des Oberpräsidiums Münster, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794; desgl. Schreiben der Reg. Münster an den Minister von der Heydt vom 7. Oktober 1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 1624 Pr. Ges. Sammlung 1854, Nr. 3973, S. 138.

392

II. Die gewerbliche Ausbildung

Außerdem wurden die Kommunen verpflichtet, die Ortsstatuten an die gesetzlichen Vorgaben anzupassen.1625 Diese entschlossenen Maßnahmen verschafften dem Versicherungswesen die erhoffte breitere Wirkung. 1857 mahnte der Minister die Regierungen erneut, die Bestimmungen über die Gesellenkassen mit noch größerem Nachdruck als bisher auszuführen.1626 Konkreter Anlass waren diesmal allerdings nicht mehr allein sozialpolitische Erwägungen, sondern der Versuch des ultrakonservativen preußischen Innenministers von Westphalen, durch Stärkung der Unterstützungskassen die in manchen Teilen der Monarchie noch immer existenten geheimen Verbindungen der Gesellen auszutrocknen.1627 Zu diesem Zweck wurden die Regierungen veranlasst, die Statuten aller Gesellenkassen zu revidieren. Die Meister sollten nach Möglichkeit zur Beitragsleistung herangezogen und so veranlasst werden, bei der Überwachung der Kassen mitzuwirken. Gegen Kommunen, die sich ihrer Aufsichtspflicht entzogen, beabsichtigte der Minister disziplinarisch vorzugehen. Da die geheimen Gesellenverbindungen in Westfalen aber völlig bedeutungslos waren, gingen von dieser Initiative keine neuen Impulse für das Kassenwesen in der Provinz aus. Das Gesetz des Jahres 1854 selbst war aber bedeutend genug, um dem Versicherungsgedanken nachhaltige Anstöße zu geben. Während 1854 in Preußen insgesamt 230 Hilfskassen für unselbständige Gesellen und Arbeiter bestanden, waren es 10 Jahre später, 1864, schon 3.308.1628 Die Statistiken, die auf höhere Anweisung zwischen 1855 und 1868 erstellt wurden, geben Einblick in die Entwicklung des Kassenwesens in den einzelnen Kreisen Westfalens. Am Beispiel der Provinz Westfalen lassen sich Vorzüge und Nachteile der preußischen Kassengesetzgebung besonders plastisch darstellen und scharf konturieren. Die Stichjahre der unten folgenden Tabelle 35 sind durch das Erhebungsintervall vorgegeben: Ab 1855 sammelten die Regierungen erstmals vollständig die Daten der Kreise. Durch Beschluss vom 24. April 1869 wurden sie von dieser Pflicht entbunden, so dass vergleichbare Zahlen nur bis 1868 vorliegen.1629 1625 Von der Heydt verlangte, „daß mit der Ausführung des Gesetzes sofort und energisch vorgegangen werde, und daß jene Einrichtungen, deren große soziale und politische Wichtigkeit von mir bei verschiedenen Gelegenheiten dargelegt und bei den Berathungen des Gesetzes in den Kammern allseitig anerkannt worden ist, eine möglichst weite Verbreitung finde, s. Schreiben des Handelsministers von der Heydt vom 18. April 1854, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. Frevert vermutet, daß diese weitreichenden Anordnungen erlassen worden seien, weil es dem Minister nicht nur um die Entlastung der kommunalen Armenpflege gegangen sei; vielmehr sei es ihm „um die Durchsetzung ordnungspolitischer Vorstellungen im Rahmen der korporativen Integrationsstrategien“ zu tun gewesen; so Frevert (1984), S. 167. 1626 Tilmann (1935), S. 58. 1627 Nach einer Zusammenstellung des Ministeriums vom 9. Dezember 1854 bestanden in Westfalen keine geheimen Gesellenverbindungen, insbesondere nicht die im übrigen Preußen verbreitete „Gesellschaft der fremden Maurer“. S. Schreiben vom 9. Dezember 1854, in: Stadtarchiv Paderborn, 711 a; desgl. Schreiben vom 22. Dezember 1854, a. a. O. 1628 Vgl. Entwicklung der gewerblichen Unterstützungskassen in Preußen (o. Verf.), in: Amtsblatt der Reg. Minden vom 21. Juni 1867, S. 171, 172. 1629 Siehe dazu Reininghaus (1980), S. 49.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

393

(a) Regierungsbezirk Arnsberg Von 1855 bis 1868 nahm die Zahl der Unterstützungskassen im südlichen Westfalen um das 1,7fache zu.1630 1868 zählten die Kassen im Regierungsbezirk Arnsberg mehr als 49.000 Mitglieder gegenüber nur 21.443 im Jahre 1855. Das starke Wachstum der Versichertenzahlen betraf allerdings nicht die ganze Region gleichermaßen, sondern konzentrierte sich, wie schon in den Jahren zuvor, auf wenige Kreise, vor allem auf Altena, Bochum, Dortmund, Hagen und Iserlohn, in denen 1855 schon 72,5 % und 1868 sogar 87,1 % aller Kassenmitglieder des Bezirks beheimatet waren. Obgleich die Landkreise des industriearmen östlichen und nördlichen Sauerlandes mit Ausnahme der Städte Neheim und Arnsberg bis 1870 völlig ohne gesetzlich geregelten Krankenschutz blieben, konnte die Arnsberger Regierung bereits 1855 feststellen, dass fast alle Fabrikarbeiter ihres Bezirkes in einem Kassenverband organisiert seien.1631 Die beachtliche Expansion des Versicherungswesens wurde demnach auch nach 1854, und zwar in noch stärkerem Maße als zuvor, von der Industriearbeiterschaft getragen. Der große Erfolg der Arbeiterkassen war vollständig, als im Jahre 1857 die Mitgliedschaft in einer Kranken- und Sterbekasse für die Industriearbeiter der Provinz Westfalen gegen den Willen der unter liberalem Einfluss stehenden Arbeitgeber, aber auch gegen den ausdrücklichen Wunsch der Arbeitnehmer selbst für verbindlich erklärt wurde.1632 Gleichzeitig aber sank der Anteil der ausschließlich dem Handwerk zuzuordnenden Gesellenladen, der im Regierungsbezirk Arnsberg im Jahre 1855 noch bei 29 % aller Kassen und 15 % der Mitglieder gelegen hatte, wegen des starken Wachstums der Industriearbeiterschaft bis zum Jahre 1868 auf 23 % der Kassen und 9,8 % der Mitglieder ab. Die durchschnittliche Mitgliederzahl der Vereine stagnierte im Untersuchungszeitraum bei etwa 73 je Gesellenkasse. Immerhin lagen diese Werte deutlich über den amtlich erwünschten Mindeststärken von 50 Gesellen pro Lade.1633 Daneben gab es aber auch Kleinstkassen wie die Gesellenlade der Weber in Soest, die nicht mehr als neun Mitglieder zählte. Bei der Beurteilung des Kassenwesens im Regierungsbezirk Arnsberg ist demnach auch noch für die Jahre nach 1854 sachlich zwischen Arbeiter- und Gesellenkassen und räumlich zwischen den agrarisch geprägten, dünn besiedelten Regionen des östlichen Sauerlandes und der Hellwegzone einerseits sowie den Industrielandschaften der ehemaligen Grafschaft Mark andererseits scharf zu scheiden. Aber nicht nur die Differenzierung zwischen unterschiedlich strukturierten Landesteilen,

1630 Zum folgenden vgl. Reininghaus, Das erste … (1983), S. 281 f. 1855 bestanden im Regierungsbezirk Arnsberg bereits 109 Kassen mit 16.000 Mitgliedern. Zwei Drittel aller männlichen Fabrikarbeiter waren in irgendeiner Form sozialversichert; vgl. Teuteberg (1961), S. 201. 1631 S. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 27. Juni 1855, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 263 ff. 1632 S. Schulte (1937), S. 266. 1633 Jacobi (1857), S. 583.

394

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 35: Unterstützungskassen im Regierungs-Bezirk Arnsberg 1855 und 18681634 Kreis*)

Jahr

Gesellenladen Betriebskassen Örtl. Kassen**) Zahl

Mitglieder

Zahl

3

226

11

Altena

1855 1868

4

478

Arnsberg

1855

1

106

1868

3

318

1855

5

510

1868

7

687

Bochum Brilon Dortmund

Mit- Zahl glieder

Summe

Mitglieder

Zahl

Mitglieder 2.586

862

5

1.498

19

21

1.744

9

2.544

34

4.766

6

1.164

0

0

7

1.270

11

1.321

0

0

14

1.639

8

760

4

581

17

1.851

20

6.985

4

649

31

8.321

1855

1

40

1

140

0

0

2

180

1868

1

25

1

160

0

0

2

185

1855

1

90

4

3.643

2

1.210

7

4.943

1868

2

389

16

9.006

2

2.450

20

11.800

Hagen

1855

8

748

10

1.096

5

768

23

2612

1868

14

2.193

38

6.132

10

2.427

52

10.752

Hamm

1855

3

301

1

57

1

75

5

433

1868

3

450

7

1.396

1

80

11

1.926

1855

6

234

28

3.113

5

939

39

4.286

1868

8

687

26

3.021

6

1.684

40

5.392

Iserlohn Lippstadt

1855

3

229

1

168

2

473

6

870

1868

3

238

3

255

1

90

7

583

Meschede

1855

1

79

0

0

0

0

1

79

1868

1

50

0

0

2

159

3

209

Olpe

1855

0

0

0

0

0

0

0

0

1868

0

0

1

50

3

514

4

564

Siegen

1855

2

236

1

20

8

1.204

11

1.460

1868

3

404

4

454

2

1.089

9

1.947

Soest Wittgenstein Regierungsbezirk Arnsberg

1855

10

465

2

138

0

0

12

603

1868

10

424

4

338

0

0

14

762

1855

0

0

2

370

0

0

2

270

1868

0

0

1

130

1

99

2

229

1855

44

3.264

74

11.431

33

6.748

151

21.443

1868

59

6.343

154

30.992

40

11.740

253

49.075

*) Kreise in den zeitgenössischen Grenzen **) Darin enthalten: Ortskassen, die Arbeiter bzw. Gesellen und Arbeiter umfassten. 1634 Quelle: Reininghaus, Das erste … (1983), S. 295.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

395

sondern auch zwischen großen und kleinen Städten, industriell entwickelten Orten und Ackerbürgerstädten bleibt für diesen Zeitraum ganz unerlässlich. Da die dürre Statistik es nicht vermag, solche Besonderheiten sichtbar zu machen, ist es einmal mehr vonnöten, sie durch einige exemplarische Detailbetrachtungen mit Leben und Farbe zu erfüllen. Die Bördestadt Soest verfügte spätestens seit 1854 über ein voll ausgebautes Kassenwesen, so dass das im selben Jahr erlassene Reformgesetz dessen Organisation nicht mehr beeinflussen konnte. Mit nicht weniger als zehn berufsständischen Laden wies der argrarisch geprägte Zentralort Mittelwestfalens nach dem stark expandierenden Industrieort Hagen das differenzierteste Kassenwesen im Regierungsbezirk Arnsberg auf. Die Zwangsmitgliedschaft der Gesellen war frühzeitig eingeführt worden und hatte die Leistungsfähigkeit der Laden erheblich gefördert. Gleichwohl verweigerten die Gewerbegehilfen nicht selten die Beitragszahlung. Forderungen der Kassen wurden dann durch den Polizeidiener beigetrieben und die Meister, die ihre Gesellen nicht bei den Versicherungseinrichtungen anmeldeten, mit Strafe belegt.1635 Das ungewöhnlich enge, einvernehmliche Zusammenwirken der Meister- und Gesellenorganisationen mit der Soester Stadtverwaltung erhielt die Funktionsfähigkeit der Kassen bis zum Jahre 1868. In Schwerte, wo sich die Handwerker lange dem Drängen der Regierung auf Errichtung einer Gesellenkasse verschlossen hatten, besannen sich Meister und Gesellen 1855 plötzlich eines besseren und wünschten nun die Errichtung einer Herberge, mit der eine solche Lade verbunden sein sollte.1636 Die Meister waren, wie in den Großstädten schon seit Beginn des Jahrhunderts, nun auch in den kleineren Orten nicht mehr in jedem Fall bereit, ihre Hilfskräfte in kranken Tagen selbst zu versorgen. Das Leitbild des „ganzen Hauses“ hatte auch in den entlegeneren Winkeln Westfalens seine selbstverständliche, die Sozialordnung so viele Jahrhunderte lang prägende Kraft verloren. Es war still und zumeist unbetrauert zerfallen. Ursächlich für den hieraus resultierenden Sinneswandel bei den Schwerter Handwerkern war allerdings auch, dass das zu Beginn der fünfziger Jahre anderwärts bereits erfolgreiche Kassenwesen nun eine eigene Dynamik entwickelte: Für die Meister wurde es in solchen Orten, in denen noch keine Laden bestanden und die Gesellen deshalb die im Krankheitsfall entstehenden Kosten selbst tragen mussten, immer problematischer, Hilfskräfte zu bekommen. So jedenfalls argumentierten – sicher vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungshorizonts – die Meister in Schwerte.1637 Nachdem sich die dortige Stadtverwaltung mit der Errichtung einer Gesellenlade einverstanden erklärt hatte, genehmigte die Regierung 1863 das Statut, dass die Beitrittspflicht der Gesellen und, nicht minder wichtig, auch die Beitragspflicht

1635 S. Schreiben des Vorstandes des Vereins der Schreinergesellen an den Magistrat vom 27. März 1854 und Schreiben des Schreinergesellen Knapp vom 30. November 1857, in: Stadtarchiv Soest XXXII C 5. 1636 So im Schreiben vom 30. August 1855, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515; desgl. im Schreiben der Handwerksmeister an den Magistrat vom 2. Januar 1863, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515. 1637 Schreiben vom 2. Januar 1863 an den Magistrat, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515.

396

II. Die gewerbliche Ausbildung

der Meister normierte.1638 Die neue Einrichtung wurde von einem Gesellenverein getragen, der sogleich reges gesellschaftliches Leben in der Stadt entfaltete.1639 Deutlicher kann kaum gezeigt werden, dass die Handwerker das Kassenwesen nicht zuletzt auch als Teil einer Antwort auf den Verlust der umfassenden Sozialgemeinschaft der Zunft verstanden. Doch erwies sich die Wiederbelebung des im Handwerk über Jahrhunderte tradierten Gemeinschaftsgeistes und der bewährten Fürsorge in zeitgemäßeren Formen in dem kleinen Ort recht schnell als schöner Schein. Schon 1865, nur zwei Jahre nach der Begründung der Gesellenkasse, weigerten sich jene Meister, die eben noch dringend die Errichtung der Lade gefordert hatten, ihrer Pflicht zur Beitragsleistung nachzukommen. Die Regierung jedoch dachte nicht daran, diesen unvermuteten, durch die schnell anschwellende Wirkkraft liberaler Überzeugungen veranlassten Rückzug zu sanktionieren. Unter Anwendung des Gesetzes vom 3. April 1854 verpflichtete sie die Meister, auch künftig zu den Aufwendungen der Lade beizutragen.1640 Die unmissverständliche Antwort der inzwischen wieder vollständig korporationsunwilligen Meister war, dass sie die Gesellen nicht mehr bei der Kasse anmeldeten. Der Magistrat replizierte mit der Verhängung von Ordnungsstrafen.1641 Unter fortwährenden Querelen mit dem Herbergswirt, der für die Krankenpflege verantwortlich war, fristete die vernachlässigte Lade ihr kümmerliches Dasein dann noch bis 1869.1642 Der Erfolg des Kassenwesens wurde aber nicht nur durch die Meister, sondern gelegentlich auch durch staatliche und kommunale Stellen, durch die Protagonisten selbst also, beeinträchtigt. Zwar sollte die Verordnung von 1849 den Gesellen lediglich „die selbstthätige Fürsorge für die Verbesserung ihrer Lage … erleichtern“.1643 Den älteren Vereinen, die – wie etwa der Siegener Rothgerber-Gesellen-Verein von 1836 – noch an weitgehende Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung gewöhnt waren, wurde aber unmissverständlich bedeutet, dass sie nach Erlass der Ortsstatuten „eine ganz andere Grundlage“ besäßen, nämlich unter „gesetzlichen Zwang gestellt“ wären.1644 Nach den Ereignissen des Jahres 1848 zögerte der Staat nicht, die Kassen strenger obrigkeitlicher Aufsicht, und zwar seitens der Kommunalbehörden, zu unterwerfen.1645 Damit war die relative Freiheit, welche die Ver1638 Statut vom 30. Januar 1863 (gedruckt), in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7516. 1639 S. Schreiben des Vorstandes der Gesellenlade vom 9. August 1864: Der Vorstand wünschte das Stiftungsfest der Lade „durch Umzug und Ball“ zu feiern, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515. 1640 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Schwerte an die Gesellenlade vom 30. Januar 1866, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515; desgl. Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Dortmund vom 12. März 1866, a. a. O. 1641 Hinweis vom 21. Mai 1867, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515. 1642 Hinweis vom 8. Februar 1869, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515. 1643 STAM, Landratsamt Bochum, Nr. 92, fol. 49. 1644 Schreiben des Oberpräsidiums in Münster an den Landrat des Krs. Siegen vom 3. Oktober 1854, in: STAM, Landratsamt Siegen, Nr. 1742, zitiert nach Reininghaus, Das erste … (1983), S. 274. 1645 Zirkular des Handelsministeriums vom 16. März 1852, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 658; vgl. T. Offermann (1979), S. 139 ff.; s. dazu auch Reininghaus, Das erste … (1983), S. 274.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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eine in eigenen Angelegenheiten während der Jahre des Vormärz genossen hatten, dahin. Die dauernde Kontrolle, der die Gesellen von nun an ausgesetzt waren, stärkte nicht eben ihr Vertrauen in die neue Einrichtung. Die Bemühungen der rührigen Arnsberger Behörden trugen demnach, soweit das Handwerk betroffen war, noch immer recht unterschiedliche Früchte. Ihre Anstrengungen fielen, wie schon vor 1854, mancherorts auf fruchtbaren, nicht selten aber auch auf steinigen Boden oder sogar unter die Dornen. Bevölkerungsdichte, Wirtschaftsstruktur und Selbstverständnis der Handwerker der einzelnen Orte entschieden noch immer eher über Erfolg oder Misserfolg des Kassenwesens als die wohlgemeinten Aktivitäten staatlicher Stellen. (b) Regierungsbezirk Minden Im Bezirk Minden nahm die Zahl der Unterstützungskassen zwischen 1855 und 1868 weitaus schneller als im Regierungsbezirk Arnsberg, nämlich um das 2,7fache, zu. Der Mitgliederbestand der Laden und Auflagen betrug 1868 über 10.000 (1855: 1.745), stieg also um das 5,76fache an. Der schnelle Aufschwung war auch hier vor allem auf die exorbitante Zunahme bei den Betriebs- und örtlichen Kassen insbesondere für Industriearbeiter zurückzuführen. Gab es in Ostwestfalen im Jahre 1855 erst eine Betriebskrankenkasse bei 33 Gesellenladen, so bestanden 1868 schon 34 solcher Einrichtungen in der Industrie, die insgesamt 1.000 Mitglieder mehr aufwiesen als die 48 Gesellenladen zum gleichen Zeitpunkt. Trotz des schnell wachsenden Übergewichts der Kassen der Arbeiterschaft hatten aber auch die Gesellenladen eine starke Zunahme des Mitgliederstandes zu verzeichnen, der sich zwischen 1855 und 1868 mehr als verdoppelte. Ähnlich wie im südwestlichen Westfalen konzentrierte sich aber auch im Regierungsbezirk Minden die Zunahme der Kassenmitglieder in einem räumlich eng begrenzten Bereich, nämlich im Nordosten des Bezirks. Während in dem agrarisch geprägten ehemaligen Hochstift Paderborn der gesetzliche Krankenschutz über Ansätze nicht hinauskam, zählte allein der Kreis Bielefeld im Jahre 1855 nicht weniger als 26,9 % und 1868 schon 42,1 % aller Kassenmitglieder des gesamten Bezirks. Insbesondere die Städte Bielefeld und Minden traten mit einem frühzeitig entwickelten, reich differenzierten Ladenwesen hervor. Von den 48 Kassen für Gesellen, die der Regierungsbezirk Minden 1868 aufwies, befanden sich allein 23 in den Kreisen Minden und Bielefeld. Trotz dieser starken Konzentration, die nicht nur für die räumliche Verteilung der Arbeiterkassen, sondern auch der Gesellenladen typisch ist, fanden sich die Versicherungseinrichtungen der handwerklichen Hilfskräfte in Ostwestfalen aber doch nicht nur in den wenigen Zentralorten; vielmehr waren fast alle nennenswerten Städte der Region am Aufbau der Kassen beteiligt. In Paderborn und Herford, aber auch in kleineren Orten wie Lübbecke und Wiedenbrück, Höxter und Warburg formierten sich Gesellenverbände auf der Grundlage der preußischen Kassengesetzgebung. Auch hier behielten aber lokale Gegebenheiten trotz der egalisierenden Wirkung staatlich gesetzter Rechtsnormen und der Interventionen der Regierung ihren bestimmenden Einfluss. Keineswegs überall verlief die Entwicklung positiv: In Lübbecke beispielsweise verringerte sich die Zahl der Kassen zwischen 1855 und 1868 von vier auf zwei.

398

II. Die gewerbliche Ausbildung

Tabelle 36: Unterstützungskassen im Regierungs-Bezirk Minden 1855 und 18681646 Kreis*)

Jahr Gesellenladen Betriebskassen Örtl. Kassen**) Zahl

Bielefeld Büren Halle Herford Höxter Lübbecke Minden Paderborn Warburg Wiedenbrück Regierungsbezirk Minden

Mit- Zahl Mit- Zahl glieder glieder

Summe

Mitglieder

Zahl

Mitglieder

1855

10

350

0

0

2

120

12

470

1868

11

1.160

10

2.995

2

138

23

4.239

1855

0

0

0

0

0

0

0

0

1868

0

0

3

76

0

0

3

76

1855

1

48

0

0

0

0

1

48

1868

4

134

2

237

1

76

7

447

1855

3

95

0

0

2

91

5

186

1868

6

447

4

283

8

1.052

18

1.782

1855

3

206

0

0

0

0

3

206

1868

3

418

0

0

3

149

6

567

1855

4

53

0

0

0

0

4

53

1868

2

80

0

0

2

148

4

228

1855

10

569

1

100

0

0

11

669

1868

12

646

8

522

4

463

24

1.631

1855

1

12

0

0

0

0

1

12

1868

7

203

4

109

0

0

11

312

1855

1

30

0

0

0

0

1

30

1868

1

75

2

190

0

0

3

265

1855

0

0

0

0

1

75

1

75

1868

2

213

0

0

2

301

4

514

1855

33

1.359

1

100

5

286

39

1.745

1868

48

3.322

34

4.412

22

2.327

104

10.061

*) Kreise in den zeitgenössischen Grenzen **) Darin enthalten: Ortskassen, die Arbeiter bzw. Gesellen und Arbeiter umfassten

In Minden dagegen hatte der rührige, effizient arbeitende und in der gesamten Provinz gerühmte Gewerberat der Stadt aufgrund des Ortsstatuts vom 3. September 1852 binnen kurzem nicht weniger als 10 berufsständische Gesellenkassen organisiert. Er konnte dabei allerdings auf zahlreiche schon bestehende Einrichtungen

1646 Quelle: Reininghaus (1983), S. 296. Zu den Erhebungsmodalitäten der Statistik ausführlich Reininghaus (1980), S. 49 ff.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

399

zurückgreifen.1647 Die Regierung brauchte demnach das Gesetz vom 3. April 1854 nicht mehr zu bemühen, um in der Stadt ein funktionierendes System der sozialen Sicherung durchzusetzen. Die unbestrittene Effizienz der Kassen beruhte nicht zuletzt auf den Mitwirkungspflichten, die das Statut den ortsansässigen Meistern auferlegt hatte: Die Arbeitgeber im Handwerk waren unter Androhung einer Ordnungsstrafe verpflichtet, die in ihren Werkstätten arbeitenden Gesellen bei der zuständigen Kasse an- und abzumelden. Die Meister hatten auch die Beiträge an die Laden zu entrichten; sie konnten diese Zahlungen dann den Gesellen vom Lohn abziehen.1648 Die Stadt wiederum war gehalten, Rückstände im Verwaltungswege einzutreiben. Solche Vollstreckungen kamen – wie auch in Soest – in Minden immer wieder vor. Sie hatten über den Einzelfall hinaus erzieherische Wirkung und trugen mittelbar zur Stabilisierung des Beitragsaufkommens der Versicherungen bei. Bei Unregelmäßigkeiten (Unterschlagung von Beiträgen o. ä.) griff die engagierte Stadtverwaltung ein, um die Ordnung wiederherzustellen.1649 All diese Umstände beförderten den Erfolg des Sicherungssystems in der Stadt Minden von Anfang an, so dass der weitere Aufbau planmäßig voranging. 1855 wurde eine Zimmergesellenkasse errichtet,1650 und 1857 wurden diejenigen Gesellen, für deren Gewerbe in der Bezirkshauptstadt bis dahin noch keine solche Einrichtung bestand, einer gemeinschaftlichen Lade zugewiesen.1651 Damit war ein auch in den folgenden Jahren funktionierendes, leistungsfähiges Sicherungssystem geschaffen, das alle Gesellen der Stadt erfasste und ihnen zwar keine umfassende Versicherung gegen jedwedes Lebensrisiko, aber immerhin doch einen planmäßig organisierten Schutz in Krisensituationen bot, ein Vorzug, der in jenen Jahren der Masse der Bevölkerung noch vorenthalten blieb. Auch in Paderborn war schon 1851 ein Ortsstatut entworfen worden,1652 das der Regierung dann aber doch nicht zur Bestätigung vorgelegt wurde.1653 Den in der Stadt seit vielen Jahren bestehenden Kassen fehlte somit, wie die Mindener Regierung unwillig vermerkte, die „gesetzliche Grundlage und Sicherheit“.1654 Sie waren, unter Missachtung der gesetzlichen Bestimmungen, noch immer reine Privatvereine. Die Regierung drängte deshalb wiederholt auf den Erlass eines 1647 So bestand die Maurergesellenvereinskasse schon seit Jahrzehnten; s. Schreiben des Maurergesellen Bartels an den Magistrat vom 4. März 1857, in: Stadtarchiv Minden, F. 206. 1648 Bekanntmachung des Magistrats der Stadt Minden vom 27. Februar 1854, in: Allgemeiner Mindener Anzeiger vom 4. März 1854, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1649 Z. B. Schreiben des Altgesellen der Maurergesellenkasse in Minden an den Magistrat vom 1. August 1854, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1650 Bestätigung des Statuts der Zimmergesellenkasse vom 6. Februar 1855, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1651 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Minden vom 26. August 1857, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1652 S. Schreiben des Handwerker-Vorstandes an den Bürgermeister vom 8. Mai 1851; desgl. Entwurf des Ortsstatuts, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 a. 1653 S. Schreiben der Reg. Minden vom 16. Januar 1854 an den Landrat des Krs. Paderborn, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 a. 1654 S. Schreiben der Reg. Minden vom 16. Januar 1854 an den Landrat des Krs. Paderborn, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 a. Wegen der fehlenden rechtlichen Basis wurden diese Kassen in der Statistik für das Jahr 1855 nicht berücksichtigt.

400

II. Die gewerbliche Ausbildung

Statuts,1655 zumal manche Kasse wegen des fehlenden Beitrittszwanges, der säumigen Zahlungsweise der Mitglieder und nicht zuletzt wegen missbräuchlicher Verwaltung der Gelder in ernsthafte Schwierigkeiten geraten war, aus der sie nicht, wie die amtlich bestätigten Kassen, durch ordnende Maßnahmen der Stadtverwaltung befreit werden konnte. Der Versuch der Meister, ein bindendes Statut mit Beitrittszwang für alle Gesellen durchzusetzen, scheiterte am Widerstand der Gehilfen, die sich nicht „polizeilich bevormunden lassen“1656 wollten. Das Problem der Krankenversorgung wurde derweil immer drängender, da sich auch in Paderborn viele Meister seit Einführung der Gewerbefreiheit ihrer traditionellen Fürsorgepflicht ledig glaubten. Bei anderen, gutwilligeren Arbeitgebern scheiterte die Versorgung der Gesellen im Krankheitsfall häufig daran, dass diese Meister räumlich beengt zur Miete wohnten; sie waren schon deshalb nicht in der Lage, einen Gesellen bei sich aufzunehmen und zu versorgen.1657 Im Jahre 1855 kam es dann auch in Paderborn endlich zum Erlass eines Ortsstatuts, welches die Beitrittspflicht der Gesellen in der Stadt normierte.1658 Die Kassen wurden sogleich reorganisiert bzw. „auf höhere Anordnung“, also durch die Regierung, neu errichtet.1659 Ihre Zahl wuchs zwischen 1855 und 1868 von einer auf sieben an. Den Statuten entsprechend trugen die Handwerksmeister der Stadt nunmehr mit der Hälfte der Beiträge, welche die Gesellen zu zahlen hatten, zu den Einnahmen bei.1660 Seither verfügten die Laden über die notwendigen Mittel, so dass sie ihren Verpflichtungen in der vorgesehenen Weise nachkommen konnten. Sie schlossen mit dem Landeshospital in der Stadt und einem Arzt Verträge ab, so dass alle Fälle ambulanter und stationärer Behandlung sowie die Verpflegung erkrankter Mitglieder durch die Kassen abgedeckt waren. Berufsfremde, von der Stadtverwaltung bestellte Beisitzer gewährleisteten eine ordnungsgemäße Kassenführung und die notwendige Kontinuität, die zu wahren wegen der starken Fluktuation der Mitglieder überall besonders schwierig war. So haben auch für die größeren Städte Ostwestfalens, in denen das Kassenwesen am ehesten Fuß fassen und die erwünschten Wirkungen entfalten konnte, lokale 1655 S. Anm. 1654. 1656 So z. B. Schreiben des Vorstandes der Kleidermacher-Innung vom 29. Mai 1854, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 c. Die Gelder in der Kasse waren zu „Lustbarkeiten“ verwendet worden; ein anderes Mal entwendeten die Vorstandsmitglieder den gesamten Kassenbestand, so dass die Meister, denen am Fortbestand der Einrichtung gelegen war, den entstandenen Schaden aus eigener Tasche begleichen mussten. Nach Ansicht der Meister begann der Verfall der Gesellenkassen mit dem Jahre 1848, da sich „seither die jungen Leute keiner Aufsicht mehr unterwerfen wollen …“; s. Schreiben des Obermeisters der Kleidermacher-Innung vom 8. Februar 1856 an den Landrat, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 c. Ähnliche Schwierigkeiten traten bei der Tischlergesellenkasse auf, s. Schreiben der Tischlergesellschaft der Stadt Paderborn vom 15. Februar 1855, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 d. 1657 S. Schreiben des Obermeisters der Kleidermacher-Innung vom 8. Februar 1856 an den Landrat, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 c. 1658 Ortsstatut für die Stadt Paderborn vom 16. April 1855, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 c. 1659 S. z. B. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Paderborn vom 29. April 1858, in: Stadtarchiv Paderborn 388 e, betr. Unterstützungskasse für Metallarbeiter, sowie Stadtarchiv Paderborn, 389 b, betr. die Unterstützungskasse für die Nahrungsmittelhandwerker. 1660 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Paderborn vom 28. April 1865, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 b.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

401

Besonderheiten als Hauptursache für die unterschiedliche Effizienz der Laden und Auflagen zu gelten. In den zahlreichen unbedeutenden Landstädten des Regierungsbezirks Minden dürfte der Erfolg der Kassen überall eher schwankend und ihre Lebensfähigkeit naturgemäß geringer als die der größeren Einrichtungen in Minden und Paderborn gewesen sein. Denn dort weigerten sich nicht wenige Handwerksmeister, ihrer Beitragspflicht nachzukommen.1661 Obstruktion kennzeichnete insebondere die Bauhandwerker, für die die Beitragsverpflichtung wegen der größeren Zahl der von ihnen beschäftigten Gesellen besonders fühlbar war. Mit dem Ersarken des Liberalismus in den sechziger Jahren ging auch das Interesse der Kommunalverwaltungen an der Durchsetzung des Beitragszwangs zurück. So schlug das Kassenwesen im östlichen Westfalen überall nicht wirklich Wurzeln. Als der Handelsminister 1869 anfragte, ob der Fortbestand der Kassen von der Beibehaltung des Versicherungszwanges abhinge, bejahten dies alle Landräte und Magistrate im Mindener Bezirk.1662 (c) Regierungsbezirk Münster Dass das Kassenwesen im Münsterland nur geringe Bedeutung erlangte, ist bereits erwähnt worden. Die Statistiken lassen genauere Rückschlüsse auf den Organisationsgrad der Gesellen in diesem westfälischen Kernland zu. Zwischen 1857 und 1862 veränderte sich die Zahl der Kassen für die Hilfskräfte im Handwerk nicht mehr. Da in der Statistik bezüglich des Mitgliederbestandes der Einrichtungen nicht zwischen Handwerker- und Arbeiterkassen differenziert wurde, ist nicht feststellbar, wie sich die jeweiligen Versichertenzahlen der Gesellen- und der Fabrikarbeiterkassen entwickelten. Die Laden und Auflagen konzentrierten sich in der Stadt Münster: Von den 21 Kassen des Regierungsbezirks befanden sich im Jahre 1862 nicht weniger als 10 mit 1.673 Mitgliedern, also 47,6 % der Kassen und 61,4 % der insgesamt im Regierungsbezirk vorhandenen Versicherten, im Zentralort. Ganz im Gegensatz zu den anderen Regionen Westfalens überwog im industriefernen Münsterland auch 1862 noch die Zahl der Gesellen- gegenüber den Fabrikarbeiterkassen. Den 12 Gesellenladen standen nur 9 Kassen für Industriearbeiter gegenüber. Die räumliche Verteilung der Arbeiterkassen war, ebenfalls im Gegensatz zu den anderen Bezirken, ausgeglichener als die der Gesellenladen. Einer Fabrikarbeiterkasse in Münster standen 8 solcher Einrichtungen in den verschiedenen Landkreisen gegenüber. Bei den Gesellenkassen verhielt es sich dagegen genau umgekehrt: Während die Gesellen in den Landkreisen mit insgesamt nur drei Laden fast ohne institutionalisierte Sicherung waren, bestanden allein in der Stadt Münster nicht weniger als neun solcher Einrichtungen mit Beitrittspflicht.1663 1661 So berichtete die Mindener Regierung 1869 an das Ministerium: „ Einem Widerstande seitens der Beitragspflichtigen sind wir bei den Fabrikherren und Fabrikarbeitern gar nicht, sondern nur bei den Handwerksmeistern … begegnet, als wir die Heranziehung der Handwerksmeister sämtlicher Städte unseres Bezirkes zu Beiträgen für die Gesellenunterstützungskassen angeordnet hatten. Als Grund hierfür wurde angeführt, daß es den Gesellen heutrzutage vielfach besser ginge als den Meistern“; zit. nach Frevert (1984), S. 174. 1662 Vgl. Frevert (1984), S. 174. 1663 Siehe dazu Goeken (1925), S. 36.

402

II. Die gewerbliche Ausbildung

Für das Jahr 1865 ließen sich im Bezirk Münster 13 Kassen für Gesellen, 8 für Fabrikarbeiter sowie 3 gemeinsame Kassen feststellen.1664 Schon diese wenigen Angaben machen deutlich, dass auch das Gesetz vom 3. April 1854 dem staatlich geförderten und behördlich beaufsichtigten Kassenwesen im Münsterland zu keinem eigentlichen Erfolg verhelfen konnte,1665 obgleich sich die Regierung dem ministeriellen Auftrag, die Laden und Auflagen zu fördern,1666 nicht direkt entzog.1667 Die Sonderentwicklung, die das Kassenwesen im Münsterland nahm, lag, wie schon in den Jahrzehnten zuvor, auch nach der Jahrhundertmitte in den Eigenheiten der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur sowie in den konfessionellen Gegebenheiten dieser Landschaft begründet. Voraussetzung für den Erlass von Ortsstatuten war, dass zuvor ein Bedürfnis nach Sicherungseinrichtungen festgestellt werden konnte. Eben dieses aber verneinten die Lokalbehörden noch immer ganz überwiegend;1668 ihre Argumentation wurde von der Regierung weitgehend geteilt. Der Regierungspräsident in Münster machte denn auch trotz geeigneter Maßnahmen des Gesetzgebers und wiederholter, dringender Aufforderungen des Ministeriums nur in wenigen Fällen Anstalten, das Kassenwesen in seinem Bezirk im Wege administrativer Maßnahmen nach § 3 des Gesetzes vom 3. April 1854 durchzusetzen. Ein solches Beispiel lieferte das Amt St. Mauritz, welches die Stadt Münster direkt umgab. Dort konnte nur mittels obrigkeitlichen Zwangs die von den teilweise städtischen Verhältnissen geforderte, einheitliche Regelung für alle beteiligten Gemeinden gefunden werden.1669 In Borghorst griff die Regierung ein, da der Gemeindevorstand den Erlass eines Ortsstatuts befürwortete, während die Gemeindeverordneten und Fabrikanten sich aus allzu durchsichtigen, egoistischen Gründen gegen den Erlass einer solchen Regelung aussprachen; ähnlich war die Situation in Coesfeld.1670 Mag sich auch mancher Magistrat, Bürgermeister oder Amtmann aus eigennützigen Erwägungen gegen die Errichtung von Kassen, die möglicherweise die Beitragspflicht der Arbeitgeber mit sich brachte, gewandt und deren Errichtung

1664 König (1865), S. 28. Die von Wischermann aufgestellte Behauptung, im westfälischen Textilgewerbe sei es „zu einer sich schnell häufenden Gründung von Hilfskassen“, die „an die Tradition der alten Zunft- und Manufakturkassen“ anknüpften, gekommen, entbehrt ausweislich der Statistiken jeder Grundlage; vgl. aber Wischermann (1984), S. 41–162 (158). 1665 S. Schreiben des Handelsministers von der Heydt vom 18. April 1854, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1666 S. Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Warendorf vom 14. Mai 1852, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1667 Vgl. Anm. 1666. 1668 So z. B. Schreiben des Bürgermeisters der Gemeinde Beelen vom 18. Januar 1856 sowie zahlreiche Stellungnahmen aus anderen Gemeinden 1857–1870, s. STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1669 S. Polizeiverordnung über die gewerblichen Unterstützungskassen in den Gemeinden St. Mauritz, St. Lamberti und Überwasser bei Münster, in: Amtsblatt Reg. Münster vom 8. August 1857, S. 248–251. 1670 S. STAM, Reg. Münster, Nr. 5781.

403

E. Die soziale Sicherung der Gesellen Tabelle 37: Unterstützungskassen im Regierungsbezirk Münster 1857 und 18621671 Gesellenladen

Stadt Münster Krs. Ahaus Krs. Beckum Krs. Borken Krs. Coesfeld Krs. Lüdinghausen Krs. Münster Krs. Recklinghausen Krs. Steinfurt Krs. Tecklenburg Krs. Warendorf Reg. Bezirk Münster

Zahl

Kassen für Fabrikarbeiter Zahl

Ges.-Zahl d. Mitgl. d. Unterstützungskassen inkl. selbständige HandwerksGesellen, Fabrikarbeiter u. nicht Gewerbetreibende

1857

9

1

1.673

1862

9





1857



1



1862





165

1857

1

1



1862





81

1857







1862







1857







1862







1857



1



1862





180

1857







1862





97

1857



2



1862



3

415

1857

1



44

1862







1857

1



68

1862







1857







1862







1857– 1862

12

9

2.723

behindert haben,1672 so ändert dies doch nichts am Bild des Münsterlandes als einer mit behäbigem, auf agrarischer Grundlage beruhenden Wohlstand gesegneten und durch tätiges Christentum geprägten Landschaft, in der auch der mittellose Geselle 1671 Quelle: Statistische Nachrichten über die gewerblichen Unterstützungskassen im Regierungsbezirk Münster für die Jahre 1857 und 1862 vom 31. Dezember 1862, in: STAM, Landratsamt Warendorf Nr. 416. 1672 Der Magistrat der Stadt Warendorf beispielsweise sprach sich gegen die Errichtung von Unterstützungskassen für Fabrikarbeiter aus, da die Fabrikanten nicht in der Lage seien, sich an den Beitragszahlungen zu beteiligen. Im Magistrat aber saßen die Inhaber der beiden größten

404

II. Die gewerbliche Ausbildung

vor wirklicher Not bewahrt blieb, so dass die Errichtung eines funktionstüchtigen Versicherungswesens hier weniger notwendig erschien – und auch wohl war – als in den anderen Landesteilen Westfalens. ee. Die außerstaatlichen Wirkkräfte Nach alledem könnte der Eindruck entstanden sein, dass die Initiative staatlicher Stellen im Verein mit ökonomischen und siedlungsgeographischen Gegebenheiten allein über Erfolg oder Misserfolg des Kassenwesens vor 1870 entschieden hätten. Ließe man aber, neben der unbestrittenen, zentralen Bedeutung dieser Anstöße und Umstände andere Faktoren außer Betracht, so käme dies einer unzulässigen Verkürzung komplexer historischer Wirklichkeit gleich. Handwerksfremde Privatleute, aber auch die Meister, die Gesellen nicht anders als die Vertreter der Kommunen nahmen fördernd, häufiger jedoch hemmend auf die Entwicklung der sozialen Sicherung Einfluss. Sie, nicht allein die staatlichen Stellen, waren es, die recht eigentlich über Erfolg oder Misserfolg der Kassen in Westfalen entschieden. (a) Hemmnisse Trotz der qualifizierten Unterstützung von vielen Seiten blieb die energische Initiative des Ministers von der Heydt, wie die Beispiele einzelner Orte bereits gezeigt haben, insgesamt doch Stückwerk. Die Regierungen mussten mit Missfallen sehen, dass „selbst in solchen Gemeinden, wo die Last der Armenunterstützung schon ein fast erdrückendes Gewicht erreicht hat“,1673 die Arbeitgeber nicht zu Beitragszahlungen herangezogen wurden. Die wichtigste Neuerung, welche die Verordnung von 1849 für das Kassenwesen der Gesellen gebracht hatte, lief damit weitgehend leer. Verantwortlich für die unvermutete Schonung der Meister war anfänglich das Ministerium selbst, das es versäumt hatte, die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Beitragsleistung in das Musterstatut aufzunehmen.1674 1852 beseitigte man diesen Mangel, indem der Minister von der Heydt die Regierungen veranlasste, durch Abfassung entsprechender Ortsstatuten auf die Beteiligung der Arbeitgeber auch ohne vorhergehende Anregung von seiten der Gewerbetreibenden hinzuwirken.1675 Doch konnte, wie bereits das Beispiel der Lade in Schwerte zeigte,1676 auch diese neue Initiative die Meister nicht veranlassen, die Gesellenkassen in spürbarer Weise zu bezuschussen. Die Arbeitgeber verwiesen auf ihre eigenen dürftigen Verhältnisse. Die „gegenwärtige, sehr Fabriken am Ort, Brinkhaus und Zumloh; s. Schreiben des Magistrats der Stadt Warendorf an den Landrat vom 17. Mai 1856, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1673 Schreiben der Reg. Arnsberg vom 5. Mai 1854 an den Landrat des Krs. Bochum, in: STAM, Landratsamt Bochum, Nr. 92, fol. 153; in Bochum beispielsweise trugen die Handwerksmeister nicht zum Beitragsaufkommen der Gesellenkassen bei, während die Arbeitgeber der Nachbarstadt Hattingen herangezogen wurden, s. Bericht des Landrats des Krs. Bochum an die Reg. Arnsberg vom 8. Dezember 1854, a. a. O. 1674 S. Statut der Tischlergesellen-Kasse in N (gedrucktes Musterstatut) 1850, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552. 1675 Zirkularverfügung vom 16. März 1852, s. Tilmann (1935), S. 60. 1676 S. Hallen (1980), S. 200–204 u. oben, S. 395, 396.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

405

bedrängte Lage des größten Theiles des Handwerkerstandes“1677 rechtfertige, so meinten sie, ihre Beitragsverweigerung. In Siegen wurden die Meister mit zwei und mehr Gesellen zum einfachen, diejenigen, die nur eine Hilfskraft beschäftigten, zum halben Gesellenbeitrag herangezogen. Nach Ansicht des Magistrats war damit ihre Leistungskraft „bei der enormen Besteuerung der Stadt“ erschöpft, zumal die allein bzw. nur mit einem Gesellen arbeitenden Meister ein, wie der Magistrat meinte, geringeres Einkommen erzielten als mancher Fabrikarbeiter.1678 In vielen Fällen seien die selbständigen Handwerker bedürftiger als die Gesellen, wandte auch die Lübbecker Handwerkerschaft noch 1867 gegen eine Beteiligung an der Finanzierung der Gesellenkassen ein. Der Arnsberger Regierungsrat Jacobi teilte diese Ansicht: „Die Leistung eines Zuschusses seitens der Handwerksmeister zu den Gesellenladen findet in der Regel nicht statt, da ein wirkliches Bedürfnis hierfür nur selten hervorgetreten ist, vielmehr die Gesellen ganz imstande zu sein pflegen, allein, aus eigenen Beiträgen die Laden zu unterhalten und überdies die Lage unserer Handwerksmeister durchschnittlich keineswegs von der Art ist, dass das, was im Verhältnis der Fabrikherren zu den Fabrikarbeitern als recht und billig zu erkennen ist, auch für ihre Stellung zu den Gesellen als geboten oder gerechtfertigt erscheinen könnte“.1679 Andere Verwaltungsbeamte, natürlich auch die Gesellen selbst, waren gegenteiliger Meinung: Die Meister, die Hilfskräfte beschäftigten, seien in aller Regel durchaus imstande, die Hälfte des Gesellenbeitrages zu den Kassen zuzusteuern.1680 Mögen mitunter tatsächlich weniger ökonomische Zwänge als egozentrische Uneinsichtigkeit in die Notwendigkeit der Zahlungen die Beitragsleistung der Meister verhindert haben, mag auch die Interessenkonvergenz zwischen den – für den Erlass der Ortsstatuten zuständigen – Gemeindeorganen und den Arbeitgebern nicht unerheblich zur Schonung der Meister beigetragen haben, so wiegt die Auffassung Jacobis als des hervorragendsten zeitgenössischen Sachkenners des Kassenwesens in Westfalen doch schwer. Mancher kleine Handwerksbetrieb wäre durch regelmäßige Beitragszahlungen möglicherweise in eine schwierige Situation geraten. Die Kehrseite der Abstinenz der Meister darf allerdings nicht übersehen werden. Ihre Freistellung von der Beitragspflicht, die Regel, nicht Ausnahme war, beeinträchtigte die Lebenskraft der Gesellenladen auf das empfindlichste. Hier liegt einer der wesentlichen Gründe für den im Vergleich zu den Fabrikarbeiterkassen geringeren Erfolg des eigenständigen Versicherungswesens der Gesellen. Soweit die Meister nicht fürchten mussten, selbst beschwert zu werden, begrüßten sie den Aufbau tragfähiger Einrichtungen der sozialen Sicherung für ihre 1677 So Petition von 30 Webermeistern vom 16. Januar 1859, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 1380, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 275; desgl. Schreiben der Meister der Stadt Siegen vom 26. Juni 1854, betr. Befreiung der Handwerksmeister von der Beitragspflicht zur Gesellenkasse, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743; so auch Jacobi (1857), S. 573. 1678 Schreiben des Magistrats der Stadt Siegen vom 11. März 1853, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743. 1679 Jacobi (1861), S. 89. 1680 So der Landrat des Krs. Brilon in einer Stellungnahme zur Abänderung der Verordnung vom 9. Februar 1849 vom 24. Oktober 1853, in: STAM, Landratsamt Nr. 1358; ebenso wandte der allgemeine Gesellen-Verein in Siegen ein, die Meister, die nur einen Gesellen hielten, könnten „am besten“ zahlen, in: Schreiben des Magistrats der Stadt Siegen vom 7. Februar 1854, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1743.

406

II. Die gewerbliche Ausbildung

Hilfskräfte leichten Herzens. Sollten die selbständigen Handwerker aber zahlen, erlahmte ihr Interesse bald – wussten sie doch nur zu gut, dass die industriellen Unternehmer zur gleichen Zeit neben ihrer Beitragspflicht mit den lästigen Verwaltungsaufgaben der Arbeiterkassen belastet und, damit verbunden, durch dauernde Kontrollen seitens der Behörden behindert wurden. Aber nicht nur die Meister trugen wenig zum Gedeihen der Kassen bei. Auch viele Gesellen selbst, in deren Interesse die neuen Einrichtungen doch geschaffen waren, wollten sich mit der Zwangsmitgliedschaft in den Vereinen nicht abfinden. Die Ursache ihres Widerstandes lag mitunter in lokalen Gegebenheiten begründet. In Soest etwa war die Kasse der Bäckergesellen in Verfall geraten, weil die Verantwortlichen deren Vermögen – merkwürdig genug – zu Bällen und Zechgelagen verwendet hatten. Wegen der andauernden Misswirtschaft zählte der Verein schon 1848 nur noch vier Mitglieder. Die Versammlungen wurden auch in den folgenden Jahren kaum mehr besucht; ebenso wenig gingen freiwillig Beiträge ein. Obgleich die Gesellen die Aufhebung der Kasse wünschten, beharrte die Arnsberger Regierung aber auf der Zwangsmitgliedschaft aller ortsansässigen Bäckergesellen. Der Magistrat trieb ungerührt über Jahre die fälligen Beiträge bei den Verpflichteten ein. Erst ab 1855 lässt sich wieder ein geordneter Geschäftsgang der Kasse nachweisen.1681 Auch bei der Auflage der Soester Schreinergesellen waren Zwangseintreibungen durch die Stadt nichts Ungewöhnliches. Dort war der Niedergang der Einrichtung durch den eigentümlich anmutenden Umstand beschleunigt worden, dass der im Jahre 1852 gewählte, für die Verwaltung der Kasse verantwortliche Altgeselle weder lesen noch schreiben konnte (!). Schon dessen Vorgänger hatten die Rechnung nicht ordnungsgemäß geführt.1682 Vertrauensschwund war die natürliche Folge. Wesentlicher als solche vermutlich nicht untypischen Unzuträglichkeiten war für den partiellen Misserfolg des Kassenwesens, dass viele Gesellen ihre Beitragspflicht ablehnten. Ihre auf den ersten Blick nur schwer verständliche Abneigung ist aber leicht erklärlich, da, wie bereits festgestellt, die Meister in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht zu dem Etat der Kassen beitrugen. Die ausschließliche Finanzierung des Beitragsaufkommens aus dem knapp bemessenen Lohn aber musste das Niveau der Lebenshaltung der Hilfskräfte noch weiter herabdrücken,1683 was zumal seit der mit dem Jahr 1854 beginnenden Teuerung auf das empfindlichste fühlbar wurde. Die Gesellen behinderten den Aufbau des Kassenwesens nicht allein durch Mangel an Disziplin, an Organisationskraft und Zahlungswilligkeit, sondern auch durch rückwärtsgewandtes, wenig sachgerechtes Beharren auf der berufsspezifischen Struktur der Vereine: „Ein jedes Gewerck will für sich isoliert dastehen und keiner mit dem anderen etwas zu thun haben“, äußerte der Mindener Magistrat noch im Jahre 1853.1684 Ebenso wie in Minden dachten die Gewerksgehilfen in al1681 S. Stadtarchiv Soest XIX g 12. 1682 S. Schreiben des Gesellen-Vereins an den Magistrat vom 20. März 1852, in: Stadtarchiv Soest XXXII c 5. 1683 S. dazu Stolleis (1976), S. 32; a. A. Reininghaus (1980), S. 54. 1684 Schreiben des Magistrats Minden an die Reg. Minden vom 24. März 1853, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 1355.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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len größeren, traditionsreichen, gewerblich orientierten Städten Westfalens, in Münster nicht anders als in Iserlohn, in Paderborn ebenso wie in Bielefeld, Soest oder Arnsberg.1685 Sehr zum Schaden der Gesellen selbst wirkten die aus der Zunftzeit überkommenen Verhaltensmuster stärker fort, als es den Zeitgenossen eigentlich bewusst war. Die unglückliche, schier unauflöslich scheinende Verknüpfung des handwerklichen Selbstverständnisses mit der längst verblichenen, illusionär überhöhten Vergangenheit verbot es ihnen, sich widerspruchslos den neuen, an rationalen Prinzipien orientierten Organisationen einzufügen. Deshalb stießen die Behörden mit ihren Bemühungen, die Zwangskassen der Gesellen zusammenzulegen, immer wieder auf den nur schwer überwindbaren Gruppenegoismus der einzelnen Gewerke. In den kleinen Städten Ostwestfalens allerdings war man eher bereit, sich in das Notwendige zu schicken. In Halle, Versmold, Werther, Lübbecke, Herford, Wiedenbrück, Warburg, Brakel und Höxter kam es zum Aufbau gemeinsamer, allen Gesellen offenstehenden Kassen.1686 Auch in den rasch wachsenden Industriestädten des Ruhrgebiets (Dortmund, Hattingen, Hörde, Bochum)1687 setzten sich in den fünfziger Jahren Einheitskassen für alle Gesellen durch; später folgte man diesem Modell auch in Gelsenkirchen, Wanne, Eickel und Herne. Die wenig zeitgemäßen Abgrenzungsbemühungen der Gesellen verschiedener Gewerke voneinander waren die späten Früchte des längst tot geglaubten Elitedenkens, das dem Alten Handwerk einst Zusammenhalt und Form gegeben hatte. Deshalb überrascht es wenig, dass die Gewerbehilfen erst recht die Zugehörigkeit zu einer gemeinsam mit Fabrikarbeitern organisierten Kasse weit von sich wiesen. Typisch für diese ganz rückwärts gewandte Haltung großer Teile der Handwerkerschaft mag das Denken der Gesellen im ostwestfälischen Petershagen (Kreis Minden) gewesen sein, dass der dortige Amtmann trefflich zu charakterisieren wusste: In der Stadt sähen die jungen Handwerker den Arbeiter „als Maschine, als mindestens nicht viel besser als den ländlichen hörigen Arbeiter an; sie sind stolz darauf, selbst einmal Meister zu werden und wollen deshalb mit Fabrikarbeitern, die dieses nicht werden können, keine Gemeinschaft haben“.1688 Solches Streben nach sozialer Differenzierung, ja Exklusivität, war kein Spezifikum der „Gelernten“ in den ländlichen, industriefernen Räumen. Aus Witten, das in einer der frühindustriell geprägten Regionen Westfalens lag, berichtete der Bürgermeister Bauer 1856, dass die Gesellen eine „Abneigung“ gegen den Zusammenschluss zu einer gemeinsa1685 Vgl. Reininghaus (1983), S. 277. Den höchsten Organisationsgrad erreichten die Maurergesellen. Wegen des beträchtlichen Unfallrisikos wie auch des Umstandes, dass die meisten Hilfskräfte im Baugewerbe verheiratet waren und lebenslang Gesellen blieben, war ihre Bindung an die Kassen weitaus größer als die der Gesellen in den anderen Handwerksberufen. 1686 S. Reininghaus (1983), Das erste … S. 277; in dem von Reininghaus erarbeiteten Katalog der Unterstützungskassen in Westfalen-Lippe bis 1850 fehlen allerdings Hinweise auf Kassen in Halle, Versmold und Brakel, s. Reininghaus (1985), S. 134 ff. 1687 Bzgl. Bochum vgl. Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an die Reg. Arnsberg vom 2. Juli 1856, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 281; bzgl. Hattingen vgl. STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff.; bzgl. Hörde s. Stadtarchiv Dortmund, Best. Nr. 15, Nr. 552; ein Überblick findet sich bei Reininghaus (1983), Das erste … S. 277. 1688 Schreiben des Amtmannes von Petershagen an die Reg. Minden vom 5. März 1859, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 278.

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men Kasse mit Arbeitern hätten. Dort konnten die Gewerksgehilfen allerdings auch rationale Gründe für den Wunsch nach strikter Trennung anführen: Der Bestand der eigenen Kasse, deren geringes Volumen nur dann ausreichte, wenn ihr ausschließlich ledige Gesellen angehörten, sollte nicht gefährdet werden.1689 Mit der wachsenden Zahl der verheirateten Hilfskräfte im Handwerk und dem durch die Industrialisierung eingeleiteten Egalisierungsprozess verloren die berufsständischen Laden in den Industrierevieren Westfalens aber doch, allen retardierenden Momenten zum Trotz, allmählich gegenüber den gemeinsamen, Gesellen und Fabrikarbeitern offenstehenden Einrichtungen an Bedeutung. Auch förderten keineswegs alle Kommunen die Einrichtungen der Gesellen. Manche Gemeinden wandten sich nach 1849 sogar direkt gegen die Errichtung von Unterstützungskassen. Sie glaubten sich durch den energisch vorangetriebenen Aufbau des Kassenwesens seitens der staatlichen Verwaltung in ihren Kompetenzen beeinträchtigt. So setzte sich die Gemeindevertretung in Vlotho 1853 gegen die Kassengründung am Orte durch die Regierung zur Wehr, da deren Vorgehen „die natürlichen Gränzen der Gesetzgebung überschreiten würde“.1690 In Wahrheit war die Triebfeder des Aufbegehrens der Lokalgewalten gegen den Staatseinfluss aber wohl nicht der Kompetenzenstreit, sondern die Furcht der Gemeinderäte, die Arbeitgeber könnten zur Beitragszahlung an die Gesellenkassen verpflichtet werden. Von solchen lokalen Widerständen ließen sich das Ministerium und die Regierungen jedoch nicht beeindrucken, obgleich der Kreis der Gegner der Kassengesetzgebung seit Mitte der fünfziger Jahre stetig wuchs. Die Regierung in Arnsberg sah sich deshalb gar zu der Erklärung veranlasst, Ortsstatut und Kassen dürften „nicht von der bisher versagten Zustimmung der Gemeindevertreter abhängig gemacht werden“.16911857 wandte sich dann sogar der preußische Handels- und Innenminister gegen das Verlangen mancher Kommunen nach schärferen Strafbestimmungen gegen die Mitglieder der Gesellen-Verbindungen: „Durch nicht gerechtfertigten polizeilichen Druck wird die bei dem Gesellenstande vorherrschende Hinneigung zu geselligem und genossenschaftlichen Verkehr vorraussichtlich auch fernerhin auf Abwege gedrängt werden, während das Bestreben der Verwaltung dahin gehen muß, den Trieb zur Assoziation auf die Förderung heilsamer Zwecke hinzulenken.“1692 (b) Fördernde Aspekte Neben dieser Vielzahl von Hemmnissen gab es aber auch Verständnis für die Ziele des Gesetzgebers. Die Bemühungen der Behörden um die Durchsetzung des Kassenwesens wurden tatkräftig unterstützt durch bürgerliche Philanthropen, welche die Versicherung keineswegs nur als probates Mittel der Vorsorge betrachteten, son1689 Schreiben des Bürgermeisters von Witten (1856), in: STAM, Landratsamt Bochum, Nr. 92, 309 f. 1690 S. Schreiben des Landrats des Krs. Herford an die Reg. Minden vom 16. September 1853, in: STAD Reg. Minden I U Nr. 1385, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 274. 1691 STAM, Landratsamt Iserlohn, Nr. 636, fol. 110, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 274. 1692 Erlaß des Handels- und Inneminisers v. 28.2.1857, in: STAD, M 1IU Nr. 1288, hier zitiert nach Frevert (1984), S. 164.

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dern ihr eine sittlich-erzieherische Komponente zumaßen. Der publizistischen Wirksamkeit dieser volkspädagogisch motivierten Literatur kam, wie Rudolf Braun sehr zu Recht feststellte, besondere Bedeutung für das Verhältnis des modernen Menschen zu seinen Mitbürgern und zur dinglichen Umwelt sowie für sein Lebensgefühl zu.1693 Der Spar- und Versicherungswille in der heutigen, entwickelten Form musste der Bevölkerung erst mühsam nahegebracht werden. Appelle zur Sparsamkeit als der „Grundbedingung des wirtschaftlichen und moralischen Gedeihens der arbeitenden Klassen“,1694 die sich in Zirkularverfügungen immer wieder finden, lassen vermuten, dass die öffentliche Verwaltung die Anliegen der Volkspädagogen, und zwar nicht zuletzt die Gedanken Friedrich Harkorts, dem das größte Verdienst auf diesem Felde in Westfalen zukommt,1695 in umfassender Weise rezipierte. ff. Überörtliche Kassen und kirchliche Einrichtungen (a) Überörtliche Kassen Neben jenem Kassenwesen, das der Gesetzgeber zu formen und die westfälischen Regierungen zu fördern suchten, hatten sich, von den Behörden zunächst unbemerkt, als schnell reifende Früchte des damals üppig blühenden „Assoziations“Gedankens mancherorts individuellere als die bisher vorgestellten Gestaltungen der institutionalisierten sozialen Sicherung entwickelt. Richtungweisend und deshalb an erster Stelle zu erwähnen sind die überörtlichen Kassenvereine. In den typischen Handwerksberufen konnten sich solche weiträumig organisierten Versicherungseinrichtungen vor 1870 aber noch nicht durchsetzen. Obgleich Effizienz und Leistungsfähigkeit für den größeren Zusammenschluss sprachen, bedingten die persönliche Mitwirkung und Kommunikation der Versicherten, auf die man wegen der unentwickelten Formen der Kassenverwaltung nicht verzichten konnte, die Beschränkung der Einrichtungen auf den lokalen Bereich. Allein die Drucker machten hier eine Ausnahme. Sie sollen, obgleich sie nach Arbeitsweise und Selbstverständnis eher den Industriearbeitern als den Handwerksgesellen zuzuordnen waren, der Vollständigkeit halber erwähnt werden, da sie mit ihrer Kasse „Concordia“ ein funktionsfähiges, überörtliches Versorgungssystem aufzubauen verstanden. Die Einrichtung, die insbesondere in Münster und Bielefeld1696 über eine nicht unerhebliche Anzahl von Mitgliedern verfügte, zeichnete sich durch hohe Beiträge, aber auch durch besondere Leistungsfähigkeit und -bereitschaft aus. Der überdurchschnittliche Bildungsstand der Druckergesellen half

1693 Braun (1965), S. 140–144, insbes. S. 144. 1694 Zirkularverfügung der Reg. Arnsberg vom 12. Juni 1855, in: STAM, Landratsamt Bochum, Nr. 92, fol. 265. 1695 S. dazu u. a. Friedrich Harkorts Schrift „Über Armenwesen, Kranken- und Invalidenkassen“ (1856), Harkorts 9. offener Brief mit dem Gleichnis des Bienenkorbs, abgedruckt bei Schulte (1954), S. 319 ff. sowie Harkorts „Schriften und Reden zur Volksschule und Volksbildung“ (1969), S. 171. Harkort selbst gründete 1856 eine Kasse für Fabrikarbeiter, Handwerksgesellen und -meister. 1696 S. Statut vom 24. Juni 1854, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C Nr. 45.

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die nicht geringen organisatorischen Anforderungen meistern, die der Betrieb einer überörtlichen Kasse notwendig stellte. Die Einrichtung jedenfalls bewährte sich. (b) Kirchliche Einrichtungen Das Münsterland Größere, wenn auch keine nachhaltige Bedeutung erlangten die zahlreichen Kassenvereine, die kirchlicher Initiative ihre Existenz verdankten. Der ländlich-katholisch geprägte Regierungsbezirk Münster unterschied sich nicht nur durch das Fehlen von Fabriken und ausgedehnteren Handwerksbetrieben, sondern auch durch die Wirksamkeit solcher kirchlicher Einrichtungen von der schon frühzeitig industriell entwickelten Mark oder dem dicht besiedelten Minden-Ravensberg.1697 Für die wenigen Zugewanderten, die im Krankheitsfalle fremder Unterstützung bedurften, hatte die Kirche eigene Formen sozialer Sicherung geschaffen: Zahlreiche katholische Gesellen gehörten den sog. Marianischen Sodalitäten an.1698 Diese durch Franz von Fürstenberg, den münsterischen Bischof Kellermann u. a. in besonderer Weise geförderten Gemeinschaften junger Christen suchten die Lehren der katholischen Kirche im Alltag zu verwirklichen. Da dazu zunächst die Werke der Barmherzigkeit zählten, übten sie, früher als Kolping und ganz unabhängig von ihm, solidarische Hilfe zugunsten pflegebedürftiger und mittelloser Vereinsgenossen, also auch der Gesellen. Jeder Handwerker, der einer solchen Sodalität angehörte, erhielt beim Antritt der Wanderschaft ein sog. „Reise-Testimonium“; wies er sich an fremden Orten, wo eine Sodalität bestand, bei seinen Vereinsbrüdern mit diesem Papier aus, erhielt er das zu den geheiligten Traditionen der Gesellenbewegung zählende sog. „Viaticum“; dieses „Geschenk“ war üblicherweise ein Zehrgeld, das die arbeitslosen Phasen während der Wanderschaft überbrücken half. Daneben gewährten die Vereine ihren Angehörigen aber auch die erforderliche Unterstützung im Krankheitsfall; verstarb ein Geselle in der Fremde, sorgten sie für eine angemessene Bestattung.1699 Im Münsterland waren die Lokalverwaltungen allgemein überzeugt, dass diese Art der sozialen Sicherung der Gesellen auf freiwilliger Basis wirksamer, den Be1697 So der Bürgermeister von Sassenberg vom 10. Juni 1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 419; der Bürgermeister der Gemeinde Beelen vom 18. Januar 1856, a. a. O.; der Magistrat der Stadt Warendorf vom 17. Mai 1856, a. a. O.; desgl. zahlreiche ähnliche Mitteilungen aus den anderen Gemeinden des Krs. Warendorf, a. a. O.; bzgl. Krs. Recklinghausen s. Schreiben des Landrats vom 20. Juli 1847 sowie eines Amtmannes vom 3. September 1852, in: STAM, Krs. Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63. 1698 S. Schreiben des Landrats des Krs. Warendorf vom 17. Juni 1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416; in der Akte befinden sich entsprechende Mitteilungen verschiedener Bürgermeister des Kreises, z. B. aus Freckenhorst und Hoetmar. Auch in Münster, wo es in den fünfziger Jahren zur Gründung von Gesellenkassen kam, bestand schon seit 1848, also vor der Gründung des Kolpingvereins, ein Verein kath. Maurer- und Zimmerergesellen; s. Goeken (1925), S. 35. 1699 So schildert der Bürgermeister von Warendorf, Neuhaus, mit echter Begeisterung die Wirksamkeit der Sodalitäten, s. Schreiben an die Reg. Münster vom 3. Februar 1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Nr. 416.

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troffenen angemessener und dazu kostengünstiger sei als die staatlicherseits befohlenen und durch die Gemeinden überwachten Einrichtungen es je sein könnten. Dieser eminent katholischen Auffassung, die das Subsidiaritätsprinzip der erst viele Jahrzehnte später formulierten Soziallehre der Kirche1700 schon vorwegnahm, gab der Bürgermeister von Warendorf, Neuhaus, anschaulich Ausdruck, als er die Aufforderung der Regierung, Gesellenkassen zu errichten, ablehnte (1855): „Es ist eine nicht zu leugnende Wahrheit, dass eine aus Liebe zu Gott gereichte Gabe den Geber keine Anstrengung kostet, während der durch administrative Maßregeln abgenöthigte Groschen eine Lücke in dem Geldbeutel verursacht, welche schmerzlich empfunden wird; daher auch die auffallende Erscheinung, dass alle humanistischen Staats- und Provinzialanstalten mit großer Mühe und schweren Geldopfern unterhalten werden müssen, während die in gutem Glauben auf die Werke der Liebe ohne alle Mittel gegründeten katholischen Wohltätigkeitsanstalten sich in voller Blüthe zeigen … Um auf meinen Gegenstand zurückzukommen, erlaube ich mir die Bemerkung, dass Gesellenladen im Sinne der Gewerbe-Ordnung kostspielige Anstalten, und bei dem Vorhandensein der Sodalitäten überflüssig sind“.1701 So dachte auch das westfälische Kirchenvolk, und wer wollte daran zweifeln, dass gelebtes Christentum echte Not unter den Gesellen verhindern konnte und auch verhindert hat? Die soziale Sicherung bedürftiger Handwerksburschen im Krankheitsfalle durch die Werke christlicher Caritas erschöpfte sich in der Tat keineswegs in der gegenseitigen Unterstützung im Rahmen der Sodalitäten und Vereine. In Warendorf beispielsweise fanden alle Gesellen, die nicht der Krankenkasse der Marianischen Sodalität angehörten, unentgeltliche Aufnahme im Krankenhaus der Stadt.1702 Neben diesen Sodalitäten bestand in Münster schon seit 1852 ein katholischer Gesellenverein, der, von Kolping selbst initiiert, neben einer Herberge sofort eine Sparkasse und einen sog. Arbeitsnachweis (Arbeitsvermittlung) einrichtete. Nicht zuletzt gehörte auch die Unterstützung erkrankter Mitglieder zur selbstverständlichen Aufgabe auch dieses Vereins.1703 Nach dem Bau eines Gesellenhospizes im Jahre 1866 konnte die Brüderschaft ihren Zweck, die umfassende Betreuung der Gesellen, unter günstigeren äußeren Bedingungen noch für lange Zeit erfüllen. Auch in Warendorf lässt sich schon seit 1853 ein Kolpingverein mit Herberge nachweisen. Mit diesen Gründungen begann die Erfolgsgeschichte des Sozialkatholizis1700 S. dazu Moening (1927). Zum Verhältnis des sozialen Katholizismus zur staatlichen Sozialpolitik vgl. Sellier (1995), S. 39–59. 1701 S. Schreiben des Bürgermeisters von Warendorf, Neuhaus, vom 3. Februar 1855, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 1702 S. Schreiben des Landrats an die Reg. Münster vom 17. Juni 1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. Damit wurde dort eines der zentralen Anliegen Kettelers in die Tat umgesetzt, der zugesagt hatte: „Das erste Hilfsmittel, welches die Kirche dem Arbeiterstande auch fortan bieten wird, ist die Gründung und Leitung der Anstalten für den arbeitsunfähigen Arbeiter“, zitiert nach Brehmer (2009), S. 116. 1703 S. Goeken (1925), S. 35, 54; desgl. König (1865), S. 28. Beim Tode Kettelers 1878 gab es in Preußen neben den zahlreichen Unterstützungskassen der kath. Gesellenvereine noch 19 weitere kath. Unterstützungskassen mit 4.669 Mitgliedern, s. Franz (1912), S. 145. Zu den Kolpingvereinen in Münster und Bochum ausführlich Wirtz (1999).

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mus in Westfalen. Kolpings Idee war Ausdruck der Anpassung des Katholizismus an die Moderne: Die Organisationsform des Vereins griff das neue Assoziationsprinzip auf und grenzte sich damit von den seit dem Mittelalter vertrauten Organisationsformen der Bruderschaften und Sodalitäten ab. Der innovative Charakter des Kolping-Werkes ergibt sich auch daraus, dass die Vereine keineswegs nur durch kirchliche Amtsträger initiiert wurden. Häufig gründeten, wie in Lippstadt, wandernde Gesellen selbst an ihrem Arbeitsort neue Zusammenschlüsse; darin kam deren Wesen als Selbsthilfemaßnahme der Gesellen besonders deutlich zum Ausdruck. Diese Eigenart wurde auch dadurch unterstrichen, dass sich die örtlichen Kolpingvereine nicht als rein religiöse Gruppen und formal sogar als interkonfessionell verstanden. Andererseits fügten sie sich in die Pfarr- und diözesane Kirchenstruktur ein. Dementsprechend war das Vereinsprinzip nur unvollständig verwirklicht: Die Präsidesverfassung gewährleistete die enge Bindung an die katholische Kirche, während eine demokratische Führung der Gruppen zurücktrat. Der Landrat des Kreises Warendorf hielt wegen dieser umfassenden Fürsorge auf kirchlicher Grundlage die Errichtung von Unterstützungskassen im Sinne der Gesetze von 1845–1849 denn auch für nicht erforderlich. Dass seine Einschätzung nicht auf weltfremder Illusion beruhte, sondern dass die geleistete Hilfe durchaus wirksam und ausreichend war, belegen zahlreiche Äußerungen aus dem Münsterland, die mit der Regierung in der Provinzialhauptstadt darin übereinstimmten, dass „die anderwärts unter den arbeitenden Klassen … sich zeigenden Notstände (im Münsterland) weniger hervorgetreten sind“.1704 Süd- und Ostwestfalen Doch waren kirchliche Fürsorge und christliche Solidarität mit den Bedürftigen natürlich nicht nur im ländlich-konservativen Münsterland anzutreffen. Inmitten der von protestantischem Geist geprägten, durch einen industriellen Aufschwung sondergleichen veränderten Grafschaft Mark, in Bochum, blühte einer der ersten Kolpingvereine Westfalens, der die Physiognomie des Kassenwesens der Stadt sogleich wesentlich bestimmte. Die Arnsberger Regierung, die soviel Interesse und Energie auf den Aufbau der Laden und Auflagen des vom Gesetzgeber protegierten Typs verwandt hatte, stand dem überraschenden Aufschwung dieser ohne ihr Zutun und ihre Förderung geschaffenen Einrichtung, eben des katholischen Gesellenver1704 So die Reg. Münster in einem Schreiben an den Landrat des Krs. Warendorf vom 14. Mai 1852, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416; desgl. Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Warendorf vom 25. November 1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. So auch König (1865), S. 27: „Die Bevölkerung ist, wie der Klassensteuersatz von nahe 19 Sgr. auf den Kopf beweist, im Allgemeinen eine wohlhabende zu nennen …“. Die Zeitgenossin Annette von Droste-Hülshoff bestätigt diesen Befund, wenn sie in ihren 1842 entstandenen „Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder“ über das als „fromm“ charakterisierte Münsterland berichtet: „Bettler gibt es unter dem Landvolke nicht, weder dem Namen noch der Tat nach, sondern nur in jeder Gemeinde einige „arme Männer, arme Frauen“, denen in bemittelten Häusern nach der Reihe die Kost gereicht wird, wo dann die nachlässigste Mutter ihr Kind strafen würde, wenn es an dem „armen Manne“ vorüberging, ohne ihn zu grüßen. So ist Raum, Nahrung und Frieden für Alle da …“, s. Droste-Hülshoff (1996), S. 89.

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eins, mit unverhohlener Skepsis gegenüber. Der große Erfolg der kirchlichen Selbsthilfeorganisation weckte das Misstrauen der Behörden, da sich die neue Einrichtung nicht in das mühsam gestrickte Netzwerk örtlicher Regelungen und staatlicher Aufsicht einordnen ließ. Als die katholischen Gesellen Bochums im Jahre 1855 eine organisatorisch selbständige Krankenkasse errichten wollten, suchte die Regierung diesen Plan mit der Begründung zu verhindern, dass es sich um eine bloße „Privatgesellschaft“ handele, die sich jederzeit auflösen könne; es sei unangemessen, „eine solche, möglicherweise ganz vorübergehende Erscheinung für die Verfassung einer öffentlichen Anstalt, wie der Lade, statutarisch zur Grundlage zu nehmen“.1705 In Wahrheit wollten die Behörden den maßgeblichen Einfluss auf die Gesellenschaft nicht der von den Preußen schon vor Ausbruch des Kulturkampfes misstrauisch beäugten katholischen Kirche überlassen, zumal diese mit den Kolpingvereinen zugleich die ersten wirklichen Arbeitervereine schuf; eine Differenzierung nach Gesellen- und Arbeitervereinen erfolgte zumeist erst im Kaiserreich. Auf besonders heftigen Widerstand stieß deshalb der Versuch der Gesellen, die Verwaltung ihrer Lade dem geistlichen Präses des Kolpingvereines anzuvertrauen, da den Staatsorganen in diesem Falle, so fürchteten sie, die Kontrolle über die organisierten Gesellen vollends entglitte und der „ultramontan“ gesonnenen Priesterschaft zufiele. Neben Bochum gehörten auch Dortmund (1852), Soest (1852), Paderborn (1853), Lippstadt (1857), Hagen (1859), Gelsenkirchen (1859), Hamm (1859), Höxter (1859) zu den Städten Westfalens, in denen die katholischen Gesellenvereine den jungen Handwerkern schon frühzeitig soziale Sicherheit und ein menschliches Zuhause gaben.1706 Die Angehörigen dieser Vereinigungen selbst übernahmen die Krankenpflege, gewährleisteten den Arbeitsnachweis und sorgten für die ordentliche Bestattung verstorbener Mitglieder.1707 Nach einigen Jahrzehnten ihrer Existenz verfügten fast alle dieser „Kolping-Vereine“ über eigene Krankenkassen, oder aber ihre Mitglieder waren sog. „Hauptkrankenkassen“ angeschlossen. Das Unterstützungswesen war demnach, mehr noch als die religiöse Unterweisung und die Förderung allgemeiner und beruflicher Bildung, in Süd- und Ostwestfalen sogleich zur „Existenzbedingung“1708 der Kolpingvereine geworden. Auch die Marianischen Kongregationen blieben nicht auf das Münsterland beschränkt. In den agrarisch geprägten Teilen des Sauerlandes, in den kleinen Städten und Dörfern dieser katholischen, dünn besiedelten Region, in der das staatlich protegierte Kassenwesen im Sinne der Gewerbeordnung kaum Fuß zu fassen vermochte, kam es, wie in Brilon beispielsweise, ebenfalls um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Gründung solcher Vereinigungen.1709 Kirchliche Unterstützungseinrichtungen konnten allerdings immer nur dort gedeihen, wo kein Beitrittszwang zu 1705 S. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 23. Mai 1855 an den Landrat zu Bochum, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1706 Schweitzer (1905), S. 489 ff. 1707 Zum Aufgabenbereich der kath. Gesellenvereine s. Brüll (1900), S. 199, 200. 1708 Schweitzer (1905), S. 194. 1709 In Brilon wurde die noch heute blühende Marianische Kongregation auf der Grundlage älterer Vorläufer im Jahre 1848 gegründet.

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den Kassen im Sinne der Gewerbeordnung bestand, da die religiös gebundenen Einrichtungen eben als „Privatvereine“, nicht aber als Kassen im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen galten. Die Laden der Kolpingvereine und Marianischen Kongregationen entfalteten ihre Wirksamkeit deshalb längerfristig vor allem in den kleineren Städten und Dörfern des katholischen Westfalens. So erstaunlich die Hinwendung zahlreicher Handwerksburschen zu diesen Einrichtungen, denen keine statutarisch gebotene Zwangsmitgliedschaft zu Hilfe kam, auch war – letztlich vermochten solche individuellen Gestaltungen den Trend zu großen, leistungsfähigen, von Gesellen und Fabrikarbeitern gemeinsam getragenen und von religiösen Bindungen freien Kassen in den aufstrebenden Industriestädten doch nicht umzukehren. Auch in Bochum kam es schon 1856 zum Zusammenschluss der Einrichtungen für Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen.1710 Immerhin aber tragen die frühzeitigen und energischen Bemühungen um die hilfsbedürftigen Gesellen der katholischen Kirche vor der Geschichte das Urteil ein, ihrem Auftrag zur rechten Zeit in der rechten Weise entsprochen zu haben – ein Verdienst, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich war und deshalb nicht gering wiegt. gg. Selbstverwaltung, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Gesellenkassen (a) Die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung Für die Kassen der Gesellen gilt, nicht anders als für die der Meister, dass die Quellenlage nur Einblicke in den organisatorischen Aufbau der Laden gewährt; bloß in Ausnahmefällen sind Protokollbücher der Einrichtungen aus der Zeit vor 1884 überliefert.1711 Wie die Regelungen und Statuten mit Leben erfüllt wurden, wie die Selbstverwaltung in der täglichen Praxis funktionierte, bleibt deshalb weitgehend im Dunklen. Immerhin ermöglicht das vorhandene Material aber doch einige Feststellungen, welche die Bedeutung der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffenen Sicherungssysteme für die Geschichte des Handwerks und der Arbeiterbewegung wie auch für die Genese der modernen Sozialversicherung eindrucksvoll belegen. Im Vergleich zu den Versicherten der dominierenden Betriebs- und Ortskassen besaßen die Mitglieder der Gesellenladen ein höheres Maß an Autonomie. Sie bewahrten trotz obrigkeitlicher Kontrolle nicht nur ihre Selbstverwaltung, sondern pflegten auch unverändert die jahrhundertealten Gebräuche der Gesellenverbände 1710 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an die Reg. Arnsberg vom 2. Juli 1856 und 15. April 1857, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. Ketteler hatte allerdings anderes erwartet, als er 1848 erklärte: „Es wird sich zeigen, daß der katholischen Kirche die endliche Lösung der sozialen Fragen vorbehalten ist; denn der Staat, mag er Bestimmungen treffen, welche er will, hat dazu nicht die Kraft“; so Verhandlungen der ersten Versammlung des katholischen Vereins Deutschlands 1848 zu Mainz, Mainz 1848, S. 52, hier zitiert nach Sellier (1998), S. 35. 1711 Nachweise finden sich bei Reininghaus, Das erste …, (1983), S. 291. Zur Selbstverwaltung der Kassen vgl. Tennstedt (1977), insbes. S. 47; dazu auch Offermann (1979), S. 143.

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und -brüderschaften: Allmonatlich trafen sie sich zu ihrer „Auflage“, wählten den Vorstand der Lade selbst, blieben zur Übernahme ehrenamtlicher Aufgaben verpflichtet, verhängten kleine Ordnungsstrafen und beachteten das traditionelle Totenbrauchtum.1712 Wegen dieser Freiheiten wurden die Vereinigungen, die ja das organisatorische Rückgrat der frühen Arbeiterbewegung bildeten, gelegentlich in die Nähe der Gewerkschaften gerückt.1713 Staat und Polizei fürchteten – nicht ganz zu Unrecht – die politischen Aktivitäten der selbstverwalteten Gesellenkassen; sie suchten, insbesondere nach 1848, durch Beaufsichtigung und Mitwirkung bei der Gestaltung der Statuten auf örtlicher Ebene Einfluss auf das Unterstützungswesen und damit auf die politische Willensbildung der Gesellen, die sich nicht zuletzt in den Kassenvereinen vollzog, zu gewinnen. Die dem Staat seit langem verhasste Verbindung der Laden untereinander ließ sich dennoch – wie auch schon im 18. Jahrhundert – nicht völlig unterbinden. Das hatte einen einfachen Grund: Die Auszahlung des Viaticums als traditioneller Arbeitslosenunterstützung setzte voraus, dass der Wandernde sich über seine Berufszugehörigkeit und die Beitragsleistung während einer früheren Beschäftigung ausweisen konnte.1714 Daher waren den Altgesellen die auswärtigen Laden wohl bekannt. Solange kein wirklich tragfähiges sozialpolitisches Konzept des Staates vorlag, musste die Obrigkeit diese Verbindung der Kassen untereinander wider Willen hinnehmen. (b) Die Leistungsfähigkeit der Gesellenkassen Die Forschung schätzte bisher die Wirksamkeit des Kassenwesens in Preußen vor 1870 gering. Wilhelm Schulte maß den „sozialen Hilfsmaßnahmen“ im Westfalen des Vormärz nur wenig Effizienz zu. Die öffentlichen und privaten Einrichtungen der Vor- und Fürsorge hätten „das Übel nicht an der Wurzel gepackt“.1715 H. Volkmann1716 und K. Lohmann1717 meinten, allein schon wegen der niedrigen, unter 100 liegenden durchschnittlichen Mitgliederzahl der Laden seien diese kaum funktionsfähig gewesen. Lediglich die Kassen größerer Betriebe hätten effizient arbeiten können. Die beiden Autoren folgten damit der zeitgenössischen Kritik H. D. Oppenheims,1718 der die kostenträchtige Bürokratie der kleinen Ortskassen bemängelte und ihnen deshalb kaum eine Zukunft gab. Positiver hatte der Arnsberger Regierungsrat L. H. W. Jacobi,1719 der maßgebliche Anreger des Versicherungswesens im Regierungsbezirk Arnsberg, sein Werk beurteilt: Er hob die „ziemlich sicheren Erfahrungen“ der Handwerker in der Kassenführung ihrer überschaubaren Kranken- und Sterbeladen hervor. Dadurch könnten die Beitragssätze jeweils den 1712 Zusammengestellt nach den Musterstatuten (s. o.), vgl. dazu Reininghaus (1980), S. 52. 1713 So Todt/Radanth (1950), S. 74; s. für Bielefeld auch Ditt (1982). 1714 Aus durchsichtigen Gründen sollte das Viaticum nach dem Willen der Behörden ohne weitere Nachweise ausgezahlt werden, s. Offermann (1979), S. 140. 1715 Schulte (1954), S. 144 f. 1716 Volkmann (1968),S. 76. 1717 Lohmann (1969), S. 171, 194 ff. 1718 Oppenheim (1875), S. 34. 1719 Jacobi (1853), S. 122.

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Leistungsanforderungen entsprechend bemessen und Leistung und Gegenleistung in ein alle Seiten zufriedenstellendes Gleichgewicht gebracht werden. Diesem positiven Urteil schließt sich Reininghaus1720 an, der weitergehend feststellt, das Kassenwesen habe sich trotz gewisser Mängel jedenfalls in den Industrieregionen Preußens zwischen 1854 und 1868 bewährt und lebe als maßgeblicher Vorläufer in der seit 1884 bestehenden gesetzlichen Krankenversicherung fort. Der Dissenz indiziert einen unzureichenden Forschungsstand. Die Effizienz des Kassenwesens bedarf deshalb genauerer Betrachtung. (1) Die Mitgliederstruktur der Kassen Die Flut von Verbesserungsvorschlägen der Zeitgenossen zum Kassenwesen lässt nicht nur auf organisatorische Unzulänglichkeiten, sondern mehr noch auf eine unzeitgemäße Konzeption der Versicherung schließen.1721 Der Kreis der Mitglieder war, den Traditionen des Alten Handwerks entsprechend, auf bestimmte Gesellen beschränkt. Der Ausschluss anderer, im Handwerk arbeitender und der sozialen Sicherung nicht weniger bedürftiger Gruppen erwies sich je länger je mehr als fühlbarer Mangel des Kassenwesens: Alle Gesellenkassen verlangten beim Eintritt „vollkommene Gesundheit“, die durch ärztliches Attest nachgewiesen werden musste. Außerdem sollten die Mitglieder unverheiratet sein.1722 Meistersöhne brauchten in die Gesellenladen nicht einzutreten.1723 Frauen (z. B. Schneiderinnen) wurden im allgemeinen nicht aufgenommen.1724 Während die den Gesellen offenstehende Ortskrankenkasse in Lüdenscheid nach ihrem Statut aus dem Jahre 1810 zunächst auch Frauen aufnahm, „da auch hier viele Personen weiblichen Geschlechts arbeiten, so sollen auch diese zum Eintritt in die Gesellschaft berechtigt seyn unter den nemlichen Bedingungen wie Personen männliches Geschlechts“, sollten Frauen seit 1834 „unter keinerlei Vorwand“ mehr Mitglied werden können.1725 Mit der ständigen Zunahme der weiblichen Beschäftigten in den Handwerksberufen im Laufe des 19. Jahrhunderts erwuchs hier ein Problem, das allerdings noch keiner der Zeitgenossen als solches erkannte. Ebensowenig wie Frauen waren Angehörige der versicherten Gesellen in die Krankenfürsorge eingeschlossen. Ausnahmen bestanden nur für die Familienmitglieder der Arbeiter der größeren Fabriken.1726 Immerhin gab es gelegentlich noch weitere Abweichungen von der Regel: So mussten die Lehrlinge in Arnsberg nach dem Statut von 1842 nach Ablauf eines Ausbildungsjahres der Gesellenlade beitreten; in Minden sollten solche Lehrlinge, welche die Gesellenstelle vertraten,1727 in die SchuhReininghaus, Das erste …, (1983), S. 294. Vgl. Reininghaus (1980), S. 55. Reininghaus (1985), S. 150 m. w. Nachw. S. Reininghaus (1985), S. 151 m. w. Nachw. Die Zahlung von Unterstützungen durch die Meister, wie sie in Lemgo üblich war (so Reininghaus (1985), S. 156, insbes. Fußn. 179) lässt keine Schlüsse auf die Verhältnisse in der preußischen Provinz Westfalen zu, da die Zünfte im Fst. Lippe zu jener Zeit noch unverändert fortbestanden. 1725 Reininghaus (1985), S. 150. 1726 Reininghaus (1983), S. 282. 1727 Reininghaus (1985), S. 151. 1720 1721 1722 1723 1724

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machergesellenlade aufgenommen werden. Die Musterstatuten des Ministeriums aus den Jahren 1849/50 hingegen trugen dem aus der Zunftzeit nachwirkenden, noch immer lebendigen Bedürfnis der Gesellen nach Abgrenzung Rechnung und verzichteten auf die Einbeziehung der Lehrlinge in das Kassenwesen. Erst das Gesetz vom 3. April 1854 brachte in dieser Frage eine Änderung. Danach konnten jedenfalls den Lehrlingen, welche Lohn erhielten, durch Ortsstatut die gleichen Rechte und Pflichten wie den Gesellen eingeräumt werden (§ 1). Von dieser Bestimmung wurde in den Städten allerdings kaum Gebrauch gemacht. In Minden, wo sämtliche Handwerkslehrlinge im Jahre 1855 durch Ortsstatut zum Beitritt zur Gesellenkasse verpflichtet werden sollten, teilte der Gewerberat der Regierung mit, dass „sich die Standesehre der Gesellen gegen die Gemeinschaftlichkeit mit Lehrlingen“ wehre.1728 So kompromisslos konnte man allerdings nur in größeren Orten sein. Die wenigen Gesellenkassen auf dem Lande standen, schon um genügend Beitragszahler zu gewinnen, auch den Lehrlingen offen.1729 Das galt in gleicher Weise für manche Betriebs- und Ortskrankenkassen, die ebenfalls jüngere Arbeiter und Lehrlinge aufnahmen. Diese großzügige Regelung war jedoch, wie Jacobi noch 1861 feststellte, „eine vereinzelte Erscheinung“.1730 Nicht nur weibliche Handwerksarbeiter und Lehrlinge blieben demnach von der Kassenmitgliedschaft weitgehend ausgeschlossen. Mangelhaft war vor allem auch, dass Arbeitslose nicht längerfristig unterstützt wurden. Nur der war im Krankheitsfalle versichert, welcher auch Arbeit hatte. Die einzige, allzu dürftige Hilfe für Arbeitslose stellte das mancherorts gezahlte Wandergeld dar. Einige Gesellenkassen begrenzten ihre Leistungen auch durch die Festsetzung einer Höchstaltersgrenze, die beim Eintritt in die Kasse nicht überschritten sein durfte. In Soest etwa wollten die Zimmergesellen niemanden in der Lade dulden, der bereits das sechzigste Lebensjahr vollendet hatte.1731 Trotz der geschilderten Restriktionen waren die Gesellenladen aber doch weit weniger auf die Ausgrenzung potentieller Mitglieder bedacht als die Fabrikkassen. Im Gegenteil, viele Laden drangen frühzeitig und mit Nachdruck darauf, die Mitgliedschaft auf alle Gesellen am Ort auszudehnen, um den Einrichtungen die stets bedrohte Leistungsfähigkeit zu erhalten. Aus eben diesem Grunde verlangten sie allenthalben von den Kommunen, die Zwangsmitgliedschaft durchsetzen zu dürfen.

1728 Schreiben des Gewerberates Minden an die Reg. Minden vom 10. Juli 1855, in : STAD Reg. Minden I U Nr. 1356, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 282; trotz des Widerstandes des Gewerberates wurde das Ortsstatut durch Nachtrag vom 5. September 1855 geändert und die Lehrlinge zum Beitritt zu der Kasse verpflichtet. Bei der Mindener Maurergesellenkasse wurde diese Regelung allerdings bis 1876 nicht beachtet; s. Stadtarchiv Minden, F 188. 1729 Ortsstatut der Gemeinde Oberbonsfeld, s. Schreiben des Amtmannes von Hattingen an die Reg. vom 19. Januar 1867, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553; desgl. Schreiben des Amtmannes des Kirchspiels Herbede betr. Errichtung einer vereinigten Gesellenlade vom 10. Dezember 1857, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1730 Vgl. Jacobi (1861), S. 89. 1731 Reininghaus (1985), S. 151.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

(2) Einnahmen der Laden und Auflagen Das notwendige Startkapital beschafften sich die Laden und Auflagen, indem sie anlässlich ihrer Gründung eine Umlage erhoben. Das Statut der Iserlohner Kranken-Unterstützungs-Kasse von 1833 schildert das Verfahren: „Zur Stiftung oder Gründung derselben, um den ersten Cassenstand zu erhalten, muss jedes sich anschließende Mitglied eine Einlage von 1 Thlr. Cou. entrichten. Jedoch um diese Einlage möglichst zu erleichtern, soll selbige nicht auf einmal, sondern in sechs Terminen entrichtet werden“.1732 Bis die finanzielle Tragfähigkeit erreicht war, sollte „die Kasse geschlossen bleiben“. Auch die Soester Zimmergesellen wollten im ersten Jahr nach der Kassengründung nur Geld sammeln, aber keines ausgeben.1733 Wichtigste Einnahmequelle aller Kassen waren die regelmäßigen Zahlungen der Mitglieder. Die Beitragsbemessung gestaltete sich relativ einfach, da sich die Lebensumstände der Gesellen sehr ähnlich waren. Die meisten von ihnen wohnten, mit Ausnahme der Bauhandwerker, die zumeist Familie hatten, in Kost und Logis und waren gewöhnlich unverheiratet.1734 Anders als die Arbeiterkasse erhoben die Handwerkerladen einheitliche, d. h. nicht nach dem Einkommen gestufte Beiträge, da dies den Verwaltungsaufwand gering hielt. Nachteilig war, dass die mangelnde Differenzierung die Spitzenverdiener begünstigte. Die Beitragsforderungen der einzelnen Gesellenkassen wichen sehr stark voneinander ab. Sie lagen beispielsweise in den Kreisen Bochum und Minden in den Jahren 1857 bzw. 1863 zwischen 2 1/2 und 5 Silbergroschen monatlich.1735 In Schwerte wurden 4, in Wattenscheid und Gelsenkirchen 5 und in Dortmund 6 Silbergroschen pro Monat verlangt.1736 Reininghaus ermittelte einen Durchschnittswert von 2 bis 3 Sgr. pro Monat.1737 Mit weniger als 2 Sgr. begnügte sich keine Lade; einige erhöhten die Beiträge im Laufe der Zeit. Die Bielefelder Kassen setzten die Auflage zwischen 1820 und 1824 von 2 auf 2 1/2 Sgr. herauf, und die vorsichtigen Hattinger hoben den Beitrag zwischen 1826 und 1839 von 4 auf 5 Sgr. an. Die Soester Zimmergesellen verlangten im Sommer mit 5 Sgr. einen doppelt so hohen Beitrag wie im Winter, wenn sie die Arbeit witterungsbedingt aufgeben mussten.1738 Soweit in einzelnen Berufssparten 1732 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 149, 150. 1733 Die Unterkunft der Gesellen im Meisterhaushalt war in den Städten während der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts schon nicht mehr üblich. Ausdrücklich deshalb wünschten die Meister in Schwerte und Paderborn die Errichtung von Gesellenkassen (s. o.); a. A. Reininghaus, der annimmt, dass die Gesellen noch bis 1870 üblicherweise im Meisterhaushalt gelebt hätten, s. Reininghaus 1983, S. 284. 1734 S. Reininghaus (1985), S. 150. 1735 Statistische Darstellung des Krs. Minden für die Jahre 1863 bis incl. 1867 (1969), S. 111–115; desgl. Verzeichnis der im Krs. Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung vom 6. September 1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70 ff.; so auch noch Jacobi (1861), S. 89. 1736 Statut Wattenscheid vom 11. September 1857, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92; Statut Dortmund vom 15. April 1855, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515; Statut Schwerte vom 30. Januar 1863, in: Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7516; Statut Gelsenkirchen vom 15. November 1868, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553. 1737 Reininghaus (1985), S. 149. 1738 S. Reininghaus (1985), S. 149.

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verheiratete Gesellen dominierten, waren die Beiträge naturgemäß wesentlich höher. In Minden forderte die Steinhauergesellenkasse seit 1857 12 Sgr. monatlich, und die Druckerkasse Concordia verlangte von ihren Mitgliedern 2 Sgr. 6 Pfennige pro Woche.1739 Eine weitere, insbesondere für die finanzschwachen Laden wichtige Einnahmequelle bildeten die Eintrittsgelder – zumeist „Einschreibe“ genannt, durch deren Zahlung die neuen Mitglieder die Teilhabe am gesparten Vermögen der Kassen erkauften. Diese schwankten zwischen bescheidenen 2 1/2 Sgr. bei den Mindener Schuhmachergesellen und spürbaren 8 Sgr. bei der Hattinger Gesellenlade.1740 Im Durchschnitt erhoben die Gesellenladen etwa 5 Sgr., die Arbeiterkassen 15 Sgr. Eintrittsgeld.1741 Die Mobilität der Handwerker wurde im allgemeinen durch diese Zahlung nicht beeinträchtigt, da die Kassen das Eintrittsgeld zurückerstatteten, falls der Geselle binnen 14 Tagen wieder fortzog. Einzelne Gesellenladen des märkischen Raumes allerdings suchten sich durch ein erhöhtes Eintrittsgeld vor krank zureisenden Gesellen zu schützen, da diese ungebetenen Gäste Leistungen benötigten, die durch das Eintrittsgeld, das sie beibrachten, kaum wieder ausgeglichen werden konnte. Die Iserlohner Schneidergesellen beispielsweise scheuten sich nicht, im Jahre 1846 den „sich krank meldenden Gesellen, welche der Herberge überwiesen wurden“, das überhöhte Eintrittsgeld von 15 Sgr. abzuverlangen, und die Hattinger Gesellenlade forderte von diesen bedauernswerten Hilflosen gar 23 Sgr. Eintrittsgeld. Bereits 1838 war der Landrat in Arnsberg gegen die so unübersehbar selbstische und fühllose Überbürdung derjenigen, die zuallererst Hilfe benötigten, eingeschritten, indem er, allzu vorsichtig allerdings, bemerkte, die Erhebung dieses sog. „Verhörgeldes“ sei unbillig.1742 Überschüsse, über die im ansehnlichen Maße aber nur die mitgliederstarken Auflagen der größeren Städte verfügten,1743 legten die Gesellen gewöhnlich bei den örtlichen Sparkassen an. Die Laden kleinerer Gemeinden deponierten die Kassenbestände mitunter bei Meistern und Herbergswirten. Leider kann der Anteil des Krankenkassenbeitrages am Lohn der Gesellen wegen der erheblichen Einkommensdifferenzen und wegen fehlender direkter Bezüge von Beitrag und Lohn kaum exakt bestimmt werden. Reininghaus kommt zu dem Ergebnis, dass etwa 3 % des Lohnes an die Krankenkassen abgeführt worden seien1744 – eine Feststellung, die durch den Vergleich mit den Beiträgen der Arbeiter bestätigt wird. Der Anteil der Meister am Beitragsaufkommen der Gesellenkassen betrug, sofern sie überhaupt Leistungen erbrachten, allenfalls 20 %,1745 so dass die Gesellenladen generell mit geringeren Mitteln als die Arbeiter- und die Ortskrankenkassen, die den gesetzlich vorgesehenen Arbeitgeberanteil von 50 % durchset1739 S. z. B. Statut vom 24. Juni 1854, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C 45; Schreiben des Ladenmeisters der Steinhauergesellen vom 22. Februar 1857, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1740 Reininghaus (1985), S. 150. 1741 Reininghaus (1983), S. 286. 1742 Reininghaus (1985), S. 150. 1743 Goeken (1925), S. 36. 1744 Reininghaus (1983), S. 285. 1745 Reininghaus (1983), S. 286.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

zen konnten,1746 auskommen mussten. Zudem waren die Gesellenkassen dadurch, dass die Beiträge zumeist nicht, wie bei den Arbeiterkassen, im Lohnabzugsverfahren einbehalten, sondern von den Mitgliedern selbst bei der monatlichen Auflage gezahlt wurden, schlechter gestellt als die anderen Kassentypen. Mangelnde Zahlungsmoral und hohe Mobilität der Mitglieder führten bei den Handwerkerladen immer wieder zu Einnahmeausfällen. In Fällen notorischer Säumnis half nur die – nach 1845 mancherorts auch praktizierte – Beitreibung durch die örtliche Polizeibehörde. Aber nicht nur das unkorrekte Zahlungsverhalten der Mitglieder beeinträchtigte die Finanzkraft der Laden. Die Zersplitterung in zu viele Kassen bewirkte, und dies übersah der sonst so kundige Jacobi, eine ungenügende Risikoverteilung auf die zu kleine Zahl der Beitragsleistenden. Manche der Gesellenauflagen gerieten deshalb in finanzielle Schwierigkeiten.1747 Als notwendige Folge dieser diversen Unzuträglichkeiten waren die Mittel, die den Kassen zur Verfügung standen, zumeist unzureichend. Mitunter wirkten allerdings der Magistrat, der Landrat oder die Regierung als Aufsichtsbehörde rechtzeitig auf eine notwendige Beitragserhöhung hin.1748 Nach alledem stellt sich die Frage, ob die Liquidität der Kassen überhaupt gesichert war. Schließlich konnten ja nur solche Institute längerfristig von Nutzen sein, die mehr Einnahmen als Ausgaben aufwiesen. Reininghaus hat festgestellt, dass die Gesellenladen in Altena, Arnsberg, Dortmund, Hörde, Iserlohn, Herford, Münster und Unna von Schulden gedrückt wurden, während diejenigen in Gütersloh, Hattingen, Iserlohn, Lüdenscheid und Minden solider finanziert waren.1749 Die letztgenannten vier hatten als überbetriebliche Kassen ein größeres Haushaltsvolumen; in Lüdenscheid belief sich dieses zwischen 1840 und 1845 schon auf über 1.000 Taler. Die berufsspezifisch organisierten – und damit notwendig kleinen – Gesellenladen hingegen, die in der Regel weniger als 100 Taler im Jahre einnahmen, waren bereits erschöpft, wenn ein oder zwei Krankenfälle von längerer Dauer von den Mitteln zehrten. Die Illiquidität einer Lade wurde damals allerdings nicht unbedingt als Katastrophe empfunden; sie war vielmehr – tendenziell jedenfalls – geradezu eingeplant. In einer Zeit, in der man versicherungsmathematische Gesetzmäßigkeiten erst zu entdecken1750 begann, gab man sich noch damit zufrieden, der notleidend gewordenen Kasse im Bedarfsfall durch Sonderumlagen oder Beitragserhöhungen aufzuhelfen1751 – ein Verfahren, welches den an niedrigen Beitragssät1746 Auch zur Druckerkasse hatten die Arbeitgeber, wie ein Erlass vom 14. Januar 1867 bestimmte, 50 % des Beitragsaufkommens zu zahlen, s. Schreiben vom 24. März 1867, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 e. 1747 S. Hopff (1922), S. 87. Gelegentlich lösten die Gesellen dieses Problem unverzüglich selbst: Als die Steinhauergesellenkasse in Minden 1857 kein Krankengeld mehr zahlen konnte, wurde der Mitgliedsbeitrag verdoppelt, s. Schreiben des Ladenmeisters der Steinhauergesellenkasse vom 23. Februar 1857, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1748 So bei den Gesellenladen in Witten und Bochum, s. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 3. Mai 1858, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1749 Reininghaus (1985), S. 160. 1750 Dazu Borscheid (1983), S. 305–330. 1751 Nachweise solcher „Rückversicherung“ aus Westfalen finden sich bei Reininghaus (1985), S. 161.

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zen interessierten Gesellen sehr entgegenkam. In der großen Krise nach der Mitte der vierziger Jahre allerdings musste dieses beständige Balancieren der kleinen Kassen am Rande des Abgrunds notwendig zu ihrem – wenngleich nur vorübergehenden – Falliment führen. Dort, wo der Niedergang der Textilgewerbe die Nachfrage nach handwerklichen Produkten stark drosselte und damit die Arbeitslosigkeit unter den Gesellen erheblich zunahm, war die Illiquidität der Kassen unvermeidlich. Wenn in Herford im Jahre 1847 „von allen Handwerkern drei Siebtel arbeitslos, daher arm und unterstützungsbedürftig“ waren, wenn die Arbeitslosigkeit bei Schuhmachern und Schneidern der Stadt auf über 50 % anstieg,1752 dann fehlte es an den elementarsten Voraussetzungen für das Funktionieren auch des einfachen Sicherungsmodells, mit dem die Gesellen sich zu begnügen bereit waren. Die Mittel der Kassen reichten damals in der Tat wohl nirgends mehr hin: Auf dem Frankfurter Handwerkerkongress des Jahres 1848 gehörte die Lage der Unterstützungskassen der Gesellen deshalb zu den wichtigsten Diskussionsthemen. Der von den westfälischen Handwerkern entsandte Buchbindermeister Petrasch aus Rüthen stellte fest, „die bestehenden Unterstützungskassen … hätten sich als unzureichend erwiesen“.1753 Der Kongress war von der Notwendigkeit eines gänzlichen Neuanfangs der Gesellenkassen zutiefst überzeugt. Er schlug deshalb vor, überall allgemeine Krankenkassen mit Pflichtmitgliedschaft für die Gesellen zu errichten. Deren Beitrag sollte unmittelbar vom Lohn abgezogen werden. Die versammelten Meister selbst allerdings weigerten sich strikt, durch einen eigenen Obolus zur sozialen Sicherung ihrer Gehilfen beizutragen. In der Tat verließ die finanzielle Beengtheit die kleinen Gesellenkassen auch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht. Zwar erlaubte die unbürokratische Verwaltung dieser Einrichtungen noch immer flexible, situationsbezogene Verfahrensweisen: Als die Steinhauergesellenkasse in Minden im Jahre 1857 kein Krankengeld mehr zahlen konnte, wurde der Mitgliedsbeitrag kurzum verdoppelt.1754 Doch zeitigte die dauerhafte Knappheit der Mittel, betrachtet man die Aufgaben der Laden und Auflagen in dem größeren Zusammenhang der allgemeinen Sozialfürsorge und -vorsorge der Zeit, ein durchaus negatives Ergebnis: Die Tätigkeit der Kassen dämmte die Anforderungen an die kommunalen Armenetats allenfalls geringfügig ein; zu einer fühlbaren Entlastung der öffentlichen Armenpflege kam es nirgends.1755 Nur die wenigen, mitgliederstarken Ortskrankenkassen, die bewusst auf die für das Handwerk so typische Segmentierung nach Berufssparten verzichtet hatten, entsprachen den Erwartungen ihrer Schöpfer. (3) Aufgaben und Leistungen der Gesellenkassen Die Laden verstanden sich – dem Organisationsmuster der Gesellenverbände des Alten Handwerks getreu – nicht als reine Krankenkassen. Dementsprechend bezeichnete auch § 57 Ziff. 1 der Verordnung vom 9. Februar 1849 die „Unterbrin1752 Reininghaus (1985), S. 161 m. w. Nachw. 1753 Zit. nach Simon (1983), S. 382. 1754 Schreiben des Ladenmeisters der Steinhauergesellenkasse vom 23. Februar 1857, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1755 So Reininghaus aufgrund der Verhältnisse im Krs. Iserlohn; s. Reininghaus (1985), S. 161.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

gung oder Unterstützung arbeitsuchender, erkrankter oder aus anderen Gründen hilfsbedürftiger Gesellen oder Gehilfen“ als Aufgaben der Einrichtungen. Nichtsdestoweniger stand die Krankenversorgung aber doch ganz im Mittelpunkt der Aktivitäten der Laden und Auflagen. Gerade in diesem, dem kostenintensivsten Bereich, ließ der Leistungskatalog allerdings, ganz wie nunmehr bei seinen modernen Nachfolgern, deutlich die Tendenz erkennen, die Ansprüche der Berechtigten gegenüber der Solidargemeinschaft möglichst zu begrenzen.1756 Dazu bediente man sich verschiedener Mittel: Der unterstützungsbedürftige Geselle wurde mit nichts so schnell vertraut wie mit den Restriktionen, die seine Genossen als hohe Hürde vor der Leistungspflicht aufgetürmt hatten. Zunächst musste die Krankheit sorgfältig begutachtet werden. Das geschah gewöhnlich in einem förmlichen Verfahren unter Zuziehung des Altgesellen. Die Statuten der Iserlohner Schreinergesellenlade aus dem Jahre 1823 beschreiben diesen Vorgang besonders anschaulich: „Wird ein Geselle krank, so muss sein Meister oder Nebengeselle davon dem Ladenwächter und -gesellen Anzeige machen, welche sich dann zu dem Patienten begeben und sich allenfalls unter Zuziehung eines Arztes von der Richtigkeit der Anzeige überzeugen müssten; finden sie solche begründet, so haben sie dafür zu sorgen, dass der Kranke nach der Herberge gebracht und gehörig ärztlich behandelt werde“.1757 Die Begutachtung und Betreuung des Patienten blieb demnach, ganz wie zur Zeit des Zunfthandwerks, wichtige Aufgabe des Altgesellen. Die Hinzuziehung des Arztes signalisiert darüber hinaus aber auch, dass die Heilungschancen, die der medizinische Fortschritt des 19. Jahrhunderts allmählich breiteren Schichten jedenfalls der städtischen Bevölkerung eröffnete, auch von den Gesellen wahrgenommen wurden. Von der Feststellung des Arztes, an welcher Krankheit der Patient litt, hing es ab, ob die Kasse zahlte oder ob sie sich aus der Verantwortung zurückzog. Bei bestimmten, insbesondere venerischen Krankheiten wie Syphilis war die Lade nämlich grundsätzlich von ihrer Leistungspflicht befreit. Das galt auch für alle diejenigen Fälle von Arbeitsunfähigkeit, die auf Selbstverschulden wie „ausschweifendes Leben“, „Völlerei“ oder „Schlägerei“ zurückzuführen waren.1758 Anders als solche Folgen eines missbilligten Lebenswandels, die den Anspruch auf Krankengeld nach allen Statuten gleichermaßen zunichte machten, betrachteten die Zeitgenossen die ebenfalls sehr häufig als Ausschlussgrund genannte Krätze oder Flechte keineswegs einhellig als anspruchsvernichtendes Leiden. So wandte sich der Magistrat der Stadt Unna gegen die Erklärung des Vorstandes der dortigen Gesellenlade, „dass die häufigst bei Gewerbegehilfen vorkommende Krankheit, die Krätze, keine Krankheit sei“.1759 Zahlungsunwillig zeigten sich die Kassen aber auch schon bei Gebrechen, die den Patienten nicht an das Bett fesselten. Heutige Sozialpolitiker wie Versicherte dürfte 1756 Zu den Leistungen der Kassen s. Statut der Tischlerkasse in N, (Musterstatut von 1850), und Ortsstatut „in Betreff der Gesellenkassen“, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552; insbesondere zu Beiträgen und Leistungen der Kassen s. Jacobi (1853), S. 120. 1757 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 152. 1758 Dazu Reininghaus (1982), S. 11–16 (12); Emsbach (1982), S. 582 ff.; Reininghaus (1985), S. 153. 1759 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 153.

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es eigentümlich berühren, dass Leiden „an äußeren Theilen oder einzelnen Gliedmaßen“ keinen Anspruch auf Auszahlung des vollen Krankengeldes begründeten.1760 War das Übel vor Ablauf einer Woche behoben, zahlten die meisten Kassen ebenfalls nicht. Kurzzeitige Lohnausfälle sollte der Einzelne selbst tragen. Auf diese Weise wollten sich die Laden vor der Plünderung durch Simulanten schützen. Auch bei leichten Erkrankungen bestand kein Anspruch auf Leistungen. Stets war die Dauer der Krankengeldzahlung limitiert. In der Regel stellten die Gesellenladen nach 6 Monaten ihre Zahlungen ein; in Hagen endete die Frist schon nach 6 Wochen.1761 In Minden überwiesen die Schuhmachergesellen Schwindsüchtige ebenfalls schon nach 6 Wochen der städtischen Armenkasse, in Hagen gar transportierte die Gesellenlade den Kranken nach einem Vierteljahr auf ihre Kosten in dessen Heimat.1762 Die finanzkräftige überörtliche Druckerkasse Concordia hingegen zahlte das reichlich bemessene Krankengeld sogar für ein ganzes Jahr.1763 Am großzügigsten zeigte sich die allerdings nicht nur Gesellen, sondern auch Fabrikarbeiter aufnehmende Kasse in Lüdenscheid, die maximal drei Jahre zu leisten versprach.1764 Dauernd Arbeitsunfähige entließ man gegen Zahlung einer Abfindung aus der Mitgliedschaft.1765 Die Sicherung ihres weiteren Unterhalts fiel dann in die Zuständigkeit der städtischen Armenkasse. Als wichtigstes Mittel zur Begrenzung der Leistungen und zur Verhinderung von Missbrauch war das Krankengeld – sofern es gezahlt werden musste – so bemessen, dass sich längeres Fernbleiben vom Arbeitsplatz nicht lohnte. Die Barleistungen variierten von Kasse zu Kasse, überstiegen aber niemals die Hälfte des Normallohnes. Häufiger noch als Barleistungen gewährten die Laden die Kosten für die Pflege der erkrankten Gesellen in der Herberge, im Krankenhaus oder in der Wohnung des Meisters, so dass ein eigentliches Krankengeld nicht ausgezahlt wurde. Nach Reininghaus1766 stellten es 21 von 52 Gesellenladen im Regierungsbezirk Arnsberg ihren Mitgliedern frei, ob sie entweder in der Herberge oder im Krankenhaus auf Kosten der Kasse gepflegt werden oder Krankengeld erhalten wollten. 14 der Gesellenladen dagegen zahlten ausschließlich Krankengeld (zwischen 20 Sgr. und 1 ½ Talern),1767 während 17 im Krankheitsfall bloß „freie Kost“ gewährten. Daneben wurden die Kosten für einen Arzt und Arzneien übernommen.

1760 S. Reininghaus (1985), S. 153. 1761 Jacobi (1853), S. 120. 1762 S. Reininghaus (1985), S. 153. 1763 Nur die überörtliche Druckerkasse „Concordia“ zahlte ein höheres Krankengeld, nämlich 2 Tl. pro Woche; vgl. Statut vom 24. Juni 1854, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C Nr. 45. 1764 S. Reininghaus (1985), S. 153. 1765 Bericht des Bürgermeisters der Stadt Minden über die Maurergesellenladen in der Stadt vom 27. Februar 1857, in: STAD, Reg. Minden IU Nr. 1356; Beispiele für Abfindungen: § 6 des Statuts der Allg. Kasse Sprockhövel, in: STAM, Landratsamt Bochum, Nr. 92, fol. 187 (4 Tl.); desgl. Vereinigte Gesellen- und Fabrikarbeiterlade Hattingen, (8 Tl.), s. Reininghaus (1983), S. 287. 1766 S. Reininghaus (1983), S. 271 ff. (288). 1767 Reininghaus (1985), S. 153 stellte hingegen fest, das Krankengeld schwanke zwischen 15 Sgr. und 2 Tl. 15 Sgr. pro Woche.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

In der Regel fand der erkrankte Geselle in der Herberge Aufnahme. Obwohl die Betreuung dort meistens zu wünschen übrig ließ, bedeutete sie doch immerhin schon einen gewissen Fortschritt gegenüber der zur Zunftzeit noch allgemein üblichen Versorgung im Meisterhaushalt. Der Bochumer Kreisphysikus Jansen beschrieb die Situation im Jahre 1830 so, dass „ein solcher Kranker seinem Meister in der Regel beengten Raumes wegen zur großen Last“ wird, „da nur selten ein Geselle allein schlafen kann“.1768 Auf der Herberge hingegen versuchten die Laden dem Kranken wenigstens ein warmes Zimmer, frische Wäsche, Essen und Trinken, eine eigene Schlafstatt und ggf. Nachtwachen durch Mitgesellen zu gewährleisten. Für diese Aufwendungen veranschlagte die Lade der Herforder Schneidergesellen Kosten in Höhe von 7 Sgr. 6 d am Tage.1769 Befand sich ein Krankenhaus am Ort, so wurde dies bei schwereren Erkrankungen bevorzugt in Anspruch genommen. Die Erfahrung hatte gelehrt, dass die Pflege in den öffentlichen Krankenanstalten wiederum deutlich besser war als die durch den Herbergswirt oder den Altgesellen.1770 Aus eben diesem Grunde empfahl auch die Regierung in Arnsberg den Gesellen, mit Krankenhäusern feste Verträge abzuschließen: „… gegen die an manchen Orten bestehende Einrichtung von Krankenstuben in den Gesellen-Herbergen spricht die Erfahrung, dass dort die Erkrankten leicht zu Diät-Fehlern verleitet werden … Wo dagegen eine zur Aufnahme geeignete öffentliche Krankenanstalt besteht, wird es räthlich sein, mit dieser Anstalt ein billiges Abkommen zu treffen“.1771 In größeren Orten hatten die Kassen mit den Hospitälern vereinbart, ob sie für jeden eingelieferten Patienten gesondert zahlen oder jährlich einen Pauschalbetrag entrichten mussten.1772 Solche Abkommen bestanden z. B. in Minden und Münster. In Münster wandten sich die Laden zunächst stets an das Clemenshospital, bevor sie die Gesellen anderweitig unterzubringen versuchten.1773 In kleineren Gemeinden, z. B. in Bünde, musste man sich damit behelfen, schwer erkrankte Gehilfen auf Kosten der Lade in das nächstgelegene Krankenhaus zu befördern.1774 Im Gegen-

1768 Reininghaus (1985), S. 154. 1769 Reininghaus (1985), S. 154. 1770 Beispiele für die schlechte, mitunter auch teuere Pflege durch den Herbergswirt finden sich im Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515, insbes. der Hinweis vom 8. Februar 1869; ähnlich Schreiben des Ladenvorstandes in Hörde an den Bürgermeister vom 21. Februar 1853, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552: Dort verlangte der Herbergswirt nicht weniger als 1 Rtl pro Tag an Pflegekosten. Mit Schreiben vom 28. Februar 1853 lehnte der Bürgermeister als Aufsichtsorgan die Genehmigung des Vertrages wegen der „exorbitanten“ Forderung ab; vgl. für Schwerte Hallen (1980), S. 200–204 (202 f.). 1771 Zirkularverfügung der Reg. Arnsberg an die Magistrate des Bezirks vom 14. Mai 1849, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 5, Nr. 656, fol. 5, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 288. 1772 In Paderborn hatte man sich auf einen Pauschalbetrag, der an die Hospitalkasse abgeführt werden musste, geeinigt; s. Bericht der Stadt Paderborn über das Unterstützungskassenwesen vom 15. Juli 1853, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 b. 1773 Reininghaus (1985), S. 154. 1774 Nach Feststellungen von Reininghaus (1983), S. 289 betrugen die Zahlungen an den Arzt der Lade „nie mehr als 10 oder 20 Rtl./pro Jahr“. In Paderborn erhielt ein Arzt für seine Bemühungen gegenüber den Mitgliedern der Lade aber einen Pauschalbetrag von 30 Rtl. jährlich. S. Stadtarchiv Paderborn, 388 b.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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satz zu den Pflegekosten spielten die Honorare der Ärzte und der Apotheker im Budget der Auflagen damals nur eine geringe Rolle.1775 Vervollständigt wurde der Leistungskatalog auch mancher Gesellenkassen durch die Gewährung von Sterbegeld. Wenngleich diese Regelung ihren Ursprung in der Reminiszenz an die traditionelle Verantwortlichkeit der Gesellenverbände für die Bestattung verstorbener Mitbrüder hatte, waren es vor allem die Fabrik- und Ortskrankenkassen, die den Hinterbliebenen ein Sterbegeld zwischen 6 und 12 Reichstalern, im Durchschnitt etwa 10 Rtl., zahlten.1776 Dieser Betrag deckte alle Ansprüche gegen die Kasse ab. Nur die wohlhabende Druckerkasse Concordia gewährte den Hinterbliebenen einen höheren Betrag, nämlich 15 Reichstaler.1777 Die Zahlung von Sterbegeld setzte voraus, dass die Kassen über gewisse Reserven verfügten. Kleinere Laden konnten deshalb über solche Zahlungen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Als die Schuhmacher- und Schneidergesellenlade in Wiedenbrück im Jahre 1858 neben den Leistungen für 5 Dauerpflegefälle auch noch Sterbegeld gewähren musste, war ihr Etat vorübergehend ungedeckt. Nicht zuletzt deshalb, aus Liquiditätsgründen, vor allem aber wegen fehlender Notwendigkeit verzichteten die meisten Handwerksladen auf die Zahlung von Sterbegeld; statt dessen sorgten sich die Gesellen selbst um die Bestattung verstorbener Gewerksbrüder. Hier mitzutun war, ebenso wie zur Zeit des Alten Handwerks, auch noch im 19. Jahrhundert selbstverständliche Ehrenpflicht eines jeden Genossen der Lade. Ganz so wie die mittelalterlichen Bruderschaften organisierten nun die Mitglieder dieser neuen Einrichtung das feierliche Begräbnis: So hatten die Iserlohner Schneidergesellen 16 Träger und ein weißes Leichentuch aufzubieten, während die Mitglieder der Hattinger Gesellenkasse gar eine wirkliche Trauerzugsordnung beachten mussten. In unverkennbarer Reminiszenz an barocke Leichenaufzüge war dort bestimmt, dass die Geistlichkeit der Leiche voranschreiten sollte, gefolgt von dem Herbergsvater, den Altgesellen, Deputierten, Ladenschreibern und schließlich der „sämtlichen Bruderschaft, 2 Mann gegeneinander auf jeder Seite der Straße in reihe … Auch muss das Gesellenschild mit einem Trauerzeichen angethan werden, sobald einer dem Herrn entschlafen ist“.1778 Ebenfalls obligatorisch war der Leichenschmaus: „Bey dem Begräbnis eines Gesellen hat die Bruderschaft zu verzehren 3 Rtl. 15 Sgr. und die Träger nebst dem Vorsteher und die beyden Altgesellen zum Voraus 15 Sgr. als für lange Pfeifen und Toback“, bestimmten die Statuten der Bielefelder Gesellenlade aus dem Jahre 1825.1779 Allerdings hatte der letzte Dienst auch schon bei den kleinbürgerlich denkenden und wirtschaftenden Gesellen seinen Preis: Die Hattinger Lade berechnete für solch ein „anständiges Begräbnis“ 8 Tlr. 15 Sgr. Da sie nicht gesonnen war, den Bruderdienst gratis zu erbringen, beanspruchte sie den Nachlass des Verstorbenen, sofern sich nicht Hinterbliebene fan1775 Dazu Gatz (1971), S. 313 ff. (595 f.); mittellose Handwerksgesellen, die im münsterischen Clemens-Hospital der „Barmherzigen Brüder“ Aufnahme fanden, wurden dort jedenfalls im 18. Jahrhundert auch unentgeltlich gepflegt; s. Lahrkamp (1974), S. 123–132 (123). 1776 S. Reininghaus (1983), S. 289; Reininghaus (1985), S. 155. 1777 S. Statut vom 24. Juni 1854, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I C Nr. 45. 1778 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 155. 1779 Zit. nach Reininghaus (1985), S. 155.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

den, die das Bündel des Gesellen einlösten. Es nimmt nicht wunder, dass der Bielefelder Pfarrer Wachtmeister diese nicht ganz uneigennützige Sitte des aufwendigen „Todtenaufzuges“ kritisierte: „bei einem solchen Verfahren der Gesellschaft hätte ja derselbe (der verstorbene Genosse) umsonst seinen früheren Beitrag geleistet“. Neben der Gewährung von Gesundheitsfürsorge und der Sorge um die Toten hatten die Laden des Alten Handwerks, ihrem berufsspezifischen Charakter entsprechend, im allgemeinen auch Wandergelder gezahlt.1780 Eben dieser Leistung kam eine Bedeutung zu, die sich aus dem Begriff allein nicht unmittelbar erschließt. Die Wanderschaft der Gesellen war ja nicht nur Bestandteil der Ausbildung, sondern bedeutete – nicht selten auch – versteckte Arbeitslosigkeit. Deshalb war der ortsfremde Geselle dringend auf die Zahlung der Wanderunterstützung angewiesen. Sie wurde in der Regel für die ersten Tage seines Aufenthalts gewährt. Nach Ablauf dieser Frist musste er entweder einen Arbeitsplatz gefunden haben oder, mit einem Zehrgeld ausgestattet, weiterwandern. Für Westfalen allerdings lässt sich, wie Wilfried Reininghaus’ subtile Untersuchungen gezeigt haben, die Wiederbelebung der alten Sitte, den zuwandernden Gewerksbrüdern das sog. „Viaticum“ zu reichen, nur in Ausnahmefällen nachweisen.1781 Andererseits begnügten sich die neu begründeten Laden durchaus nicht nur mit den traditionellen Pflichten der Kranken- und Totenfürsorge. Aus dem Aufgabenkatalog der Bruderschaften des Alten Handwerks entlehnten sie beispielsweise, wie sich für Bielefeld, Minden, Herford, Lemgo oder Lippstadt nachweisen lässt, auch die Übernahme der Arbeitsvermittlung.1782 Das Desinteresse an einer Wiederbelebung des altbekannten „Viaticums“ musste daher besondere Gründe haben. Es lassen sich deren drei ausmachen: (1) Zum einen hinderte die dauernde finanzielle Beengtheit die Laden daran, weitere kostspielige Aufgaben zu übernehmen. (2) Zum anderen hatten es nach der Aufhebung der Handwerksverbände unter der Fremdherrschaft die städtischen Magistrate, Münsters und Herfords beispielsweise, übernommen, den zuwandernden Gesellen ein Geschenk zu reichen. Auch in Dortmund kannte man noch in den Jahren 1834–1842 die Zahlung monatlicher Unterstützungen an wandernde Handwerksburschen aus dem städtischen Etat.1783 (3) Schließlich waren es die staatlichen Behörden selbst, die eine Unterstützung der Wanderburschen durch die neu errichteten Kassen der Gesellen verhinderten: So intervenierte die Regierung in Arnsberg im Jahre 1834 gegen die diesbezügliche statutarrechtliche Verpflichtung der Gesellenlade in Altena mit einer Begründung, die das ganze Ausmaß der Verständnislosigkeit des liberalen Beamtentums der Zeit gegenüber dem Handwerk und seinen Bräuchen entdeckt: Die Unterstützung reisender Gesellen werde, so hieß es lapidar, in eine Bettelposse ausarten.1784 Die 1780 Zur Entstehung dieser Sitte vgl. Reininghaus (1981), S. 46–49. 1781 So aber z. B. für das ostwestfälische Bünde und für Lippstadt, wo das Statut der Tischlergesellen von 1828 bestimmte, dass „alle hier in Arbeit stehenden Gesellen“ „zur noth … armen Wandernden steuern“ müssten; s. Reininghaus (1985), S. 156; vgl. auch die Marianischen Sodalitäten, s. o., S. 286, 287; zum Viaticum ausführlich s. o., S. 279–289. 1782 Reininghaus (1985), S. 155. 1783 Reininghaus (1985), S. 156. 1784 Reininghaus (1985), S. 156.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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preußische Handwerkspolitik jener Jahre war eben dezidiert gegen das Wandern eingestellt. Man wollte nicht länger dulden, dass „noch immer eine große Anzahl von wandernden Handwerksgesellen zwecklos im Land herumschweift“, Gewerksgenossen und das Publikum belästige und die öffentliche Sicherheit gefährde.1785 Wie sich die wandernden Gesellen, deren Zahl trotz der staatlichen Repression im Vormärz ständig zunahm, im preußischen Westfalen durchbrachten, muss an dieser Stelle dahinstehen. Die neuen Laden jedenfalls waren ihre Hoffnungsträger nicht. Der Leistungskatalog der Kassen wies aber noch weitere, beträchtliche Lücken auf. Ganz unzureichend blieb die Versorgung der invaliden oder aus Altersgründen arbeitsunfähig gewordenen Gesellen; dies wog um so schwerer, als im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer größere Anzahl von Gewerksgehilfen niemals zur Meisterschaft gelangte. Insbesondere der lebenslang abhängig beschäftigte Bauhandwerker war, wie in Ostelbien schon seit langem, so nun auch in den Städten Westfalens zur gewöhnlichen Erscheinung geworden. Nichtsdestoweniger wurden die Initiativen zum Aufbau einer geordneten Altersversorgung, welche die Handwerkerbewegung des Jahre 1848 ergriffen hatte, bald wieder verschüttet. Der Gesetzgeber ließ in der Verordnung vom 9. Februar 1849 die Wünsche der Gesellen nach Vorsorge für das Alter und den Fall der Invalidität unberücksichtigt. Deshalb nahmen sich in der Folge die beiden publizistisch wirksamsten Mentoren des westfälischen Handwerkerstandes dieser Zeit, der Industrielle, Philanthrop und liberale Politiker Friedrich Harkort und der Arnsberger Regierungsrat Jacobi, der ungelösten Problematik an. Vor allem Harkort war es, der für den umfassenden und ausreichenden Schutz der Gesellen und Arbeiter vor den materiellen Folgen von Krankheit und Invalidität warb.1786 Auch der umsichtige und engagierte Jacobi beklagte zu Beginn der fünfziger Jahre, dass seine Anregung, die Altersversorgung zum Gegenstand genossenschaftlicher Versicherung zu machen, zu wenig Beachtung gefunden habe.1787 Die gänzliche Vernachlässigung dieses Gegenstandes in der Verordnung des Jahres 1849 bedeutet freilich nicht, dass das zuständige Handels- und Gewerbeministerium und die Verwaltung insgesamt der Alterssicherung für Arbeiter und Gesellen überhaupt keine Beachtung geschenkt hätten. Zu dem Plan einer Altersversorgungsanstalt, den ein Privatmann vorgelegt hatte, äußerte die Berliner Behörde sogar, dass „zu dessen Förderung die Staatsbehörden auf jede zulässige Weise gern mitwirken würden“.1788 Und die Arnsberger Regierung wies die Landräte ihres Bezirks auf das Modell der Arbeiter-Pensions-Kasse, die der „Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit“ errichtet hatte, hin, übersandte deren Statuten und empfahl die Nachahmung der Einrichtung in Westfalen.1789 Die trotz mancher ideZit. nach Reininghaus (1985), S. 156. So Harkort in seinem 9. „offenen Brief“ (Mai 1849), abgedruckt bei Schulte (1954), S. 319 ff. Jacobi (1853), S. 121. Bericht über das Ergebnis der in Vorstand und Ausschuss in Betreff der Begründung von Alten-Versorgungsanstalten gepflogenen Berathungen (1980), S. 58 (57). 1789 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an die Landräte vom 5. November 1853 und Schreiben der Reg. Aachen vom 9. November 1852, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 9. Die Pensionskasse 1785 1786 1787 1788

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II. Die gewerbliche Ausbildung

eller Unterstützung aber doch vorwaltende Abstinenz des Staates in dieser Angelegenheit hatte verschiedene Ursachen:1790 – Die Unterhaltung invalide gewordener Handarbeiter aus öffentlichen Mitteln, die über die notdürftigste Hilfe hinausging, hätte die Finanzkraft des Staates überfordert. – Mit dem Wiedererstarken liberalen Gedankenguts gegen Ende der fünfziger Jahre setzte sich die Überzeugung durch, dass die großzügigere Finanzierung sozialer Aufgaben durch die Allgemeinheit selbst dann, wenn ausreichende Mittel zur Verfügung stünden, abzulehnen sei. Soziale Sicherheit, durch die öffentliche Hand gewährleistet, müsse, so wurde argumentiert, notwendig den Polizeistaat heraufführen. Während die Ausbildung eigenen Talentes und eigener Fähigkeiten bei verlässlicher Staatshilfe unterbliebe, werde – so glaubten jedenfalls die publizistisch wirksamen Zeitgenossen – die individuelle Freiheit allmählich zerstört. – Die Errichtung von Zwangskassen für Gesellen und Arbeiter zur Finanzierung einer ausreichenden Alterssicherung erschien unmöglich, da die Handarbeiter der meisten Gewerbe nicht in der Lage waren, neben den Beiträgen zur Krankenversicherung auch noch regelmäßige Zahlungen zur Rentenversicherung aufzubringen.1791 Es blieb deshalb nichts übrig, als die Handwerker zum Sparen anzuhalten, so dass sie wenigstens durch unregelmäßige Zahlungen in eine freiwillige Altersversorgungskasse einen Anspruch auf die ca. 25 bis 75 Thl., die man, je nach Wohnort, in den fünfziger Jahren als für den jährlichen Unterhalt eines alten Arbeiters gerade ausreichend ansah, erwerben konnten. Die Umstände waren demnach aus ökonomischen wie auch aus ideologischen Gründen noch immer denkbar ungünstig für den

war keine handwerksspezifische Einrichtung. Die „Handwerker ohne Gesellen und nicht selbständige Handwerks-Arbeiter“ fanden neben Fabrikarbeitern, Tagelöhnern etc. Aufnahme. S. dazu auch Schreiben der Reg. Aachen vom 9. November 1852, a. a. O. 1790 Zusammengestellt nach: Bericht über das Ergebnis der im Vorstand und Ausschuss in Betreff der Begründung von Alters-Versorgungsanstalten gepflogenen Berathungen … (1980), S. 57 ff. Die Gremien des Vereins befassten sich auf Initiative des Handels- und Gewerbeministeriums mit der Thematik; s. dazu Schreiben des Handelsministers vom 16. August 1863, in: STAM, Landratsamt Warendorf, Nr. 416. 1791 Diese Auffassung vertrat nicht nur der „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“. Die Regierung in Münster stellte in einer grundsätzlichen Erörterung des Problems fest, dass für Gesellenkassen, die Kranken- und Begräbnisunterstützung gewährten, ein Beitrag von 1 Sgr. wöchentlich ausreichend sei. Werde allerdings auch Invaliden- und Witwenversorgung gewährt, so müsse der Beitrag „nahezu verdoppelt“ werden. Übersteige er dann jedoch 1 1/2, maximal 2 Sgr. pro Woche, so meinte die Regierung, falle die Zahlung den Mitgliedern „lästig“; d. h. nichts anderes, als dass die Gesellen der meisten Gewerke 1863 noch nicht im Stande waren, eine geregelte Alters- und Hinterbliebenenversorgung aus eigenen Mitteln zu finanzieren; s. Schreiben der Reg. Münster vom 31. Dezember 1863, in: STAM, Landratsamt Warendorf, Nr. 416. Die Buchdrucker in Münster allerdings zahlten für die Kranken-, Alten- und Invaliden-Unterstützung gar einen Beitrag von wöchentlich 2 ½ Sgr., s. Schreiben der Reg. Münster vom 31. Dezember 1863, a. a. O.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Aufbau einer Alterssicherung der unselbständigen Handwerker.1792 So blieb der sorgenfreie Ruhestand für die meisten abhängig Beschäftigten auch während der sechziger Jahre noch ein unerfüllter Traum. Von den zahlreichen Kassen, die es im Regierungsbezirk Arnsberg gab, zahlte im Jahre 1861 allein die Lade der Steinhauergesellen in Herdecke ihren arbeitsunfähigen Mitgliedern eine Invalidenunterstützung.1793 Im Münsterland gab es ebenfalls nur eine solche Einrichtung, nämlich den „Unterstützungsverein für Buchdrucker“ in Münster, hinter dem sich die schon bekannte überörtliche Kasse Concordia verbarg.1794 Es ist kein Zufall, dass sich die ausreichende Versorgung gerade in der schwarzen Kunst zuerst durchsetzte. Die besseren Verdienstmöglichkeiten der Druckergesellen eröffneten den finanziellen Spielraum, der nötig war, um eine ausreichende Alterssicherung zu gewährleisten. Wegen ihres richtungweisenden Charakters leistete die Einrichtung im Druckergewerbe nicht den unbedeutendsten Beitrag zur Vervollständigung des Bildes der sozialen Sicherung der gewerblichen Arbeitnehmerschaft um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Art und Maß der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Laden lassen darauf schließen, dass man bei der Wiederbelebung des Kassenwesens unmittelbar an die Formen sozialer Sicherung des Alten Handwerks anknüpfte. Die Leistungen, welche die Kassen gewährten, entsprachen weitestgehend der zur Zunftzeit herrschenden Gewohnheit: Sie unterstützten nicht nur erkrankte Gesellen, sie besorgten – worauf schon hingewiesen wurde – ganz wie im Alten Handwerk auch die Arbeitsvermittlung und zahlten, dies allerdings nur in wenigen Ausnahmefällen, das „Viaticum“, das Zehrgeld für reisende Handwerksburschen. Ein wichtiger Aspekt unterschied die Gesellenkassen aber – ebenso wie die Laden der Meister – von ihren Vorbildern aus der Zunftzeit: Ihre Leistungen waren nicht länger bloße Almosen für Bedürftige, die zurückgezahlt werden mussten. Die Gesellen erwarben vielmehr mit ihrer Beitragszahlung einen Rechtsanspruch auf Unterstützung ohne Berücksichtigung der persönlichen, insbesondere der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Damit war auch in Westfalen der gerade Weg zur modernen Sozialversicherung betreten.

1792 So Jacobi (1853), S. 120; ebenso Jacobi (1861), S. 89. Die Initiativen zur Errichtung neuer Pensions- und Invalidenkassen, die während der sechziger Jahre vom Handelsministerium, aber auch von Lokalbehörden im Ruhrgebiet ergriffen wurden, beschränkten sich im wesentlichen auf die Industriearbeiterschaft und gewannen für das Handwerk keine Bedeutung. 1793 Jacobi (1861), S. 89. Alle anderen Gesellenkassen im Regierungsbezirk Arnsberg waren Kranken- und Sterbeladen. Die Herdecker Lade zahlte (1861) bei einem Beitrag von monatlich 16 Sgr. eine Invaliden- bzw. Altersversorgung in Höhe von 1 ½ bis 2 Tl. monatlich bis zum Tode des Mitgliedes – ein Beitrag, der allenfalls als Zuschuß zu den Lebenshaltungskosten betrachtet werden kann. 1794 S. Schreiben der Reg. Münster vom 31. Dezember 1863, in: STAM, Landratsamt Warendorf, Nr. 416. Auch in Bielefeld waren die Druckergesellen im Unterstützungsverein für Buchdrucker ‚Concordia‘ organisiert.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

hh. Der Rückzug des Staates und die Gewerbeordnung von 1869 Die mit so viel Elan und Überzeugungskraft initiierten staatlichen Aktivitäten, die das Ziel verfolgten, ein funktionstüchtiges System sozialer Sicherheit für Arbeitnehmer im Handwerk zu schaffen, zeichneten sich, den hochgespannten Erwartungen zum Trotz, durch erstaunliche Kurzatmigkeit aus. Schon seit Beginn der sechziger Jahre war die preußische Kassengesetzgebung zum Gegenstand heftiger Kritik seitens liberaler Politiker und Nationalökonomen im Gefolge des Genossenschafts-Apologeten Schultze-Delitzsch geworden. Dieser und sein schnell wachsender Anhang trugen die Forderungen nach Gewerbefreiheit und Freizügigkeit auch in das bis dahin noch immer zunftgläubige Handwerk.1795 Sie alle einte die Überzeugung, dass die Freiheit die erste und notwendigste Voraussetzung für die soziale Selbsthilfe sei. Die Zeitschrift „Der Arbeitgeber“ behauptete dann auch ganz in diesem Sinne: „Nirgends, wo Freizügigkeit und Gewerbefreiheit besteht, wird die hier und da befürchtete Verarmung eintreten …“.1796 Max Hirsch, der Initiator liberaler Gewerkschaften, der „Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine“, betrachtete die Zwangskassen wenig später gar als „den direkten Weg zum Kommunismus“ und forderte „freie gegenseitige Hilfskassen“ als „wahre Schulen der praktischen Humanität“.1797 Folgerichtig verlangten die Liberalen schon 1862/63 in den Entwürfen zu einer neuen Gewerbeordnung die vollständige Beseitigung der Beitrittspflicht zu den Kassen.1798 Aber nicht nur die Liberalen, auch die sich gerade sammelnde Arbeiterbewegung, die sich im Gefolge des Kampfes um die Koalitionsfreiheit seit 1864 auch gegen die staatlich kontrollierten Zwangskassen wandte, empfand die Zugehörigkeit zu den Laden und Auflagen als „Fessel, zu deren Abwerfung sich alle Arbeiter vereinigen sollten“.1799 Zwischen diesen feindlichen Fronten wurde das gerade erst leidlich gefestigte Kassenwesen der Gesellen zerrieben, zumal sich Staat und Kommunen, schon seit Beginn der sechziger Jahre wieder unter dezidiert liberalem Einfluss stehend, mehr und mehr aus der Verantwortung für die Laden zurückzogen. Der Lüdenscheider Fabrikant Turck klagte 1865: „Die Oberaufsicht über die Unterstützungskassen ist im Staate nach meiner Erfahrung sehr mangelhaft“.1800 Neue Initiativen der Behörden zur Errichtung weiterer Kassen blieben aus; Stagnation bestimmte das Bild; die Zwangsmitgliedschaft erschien allmählich immer unhaltbarer.1801 Sichtbares Zeichen des vorwaltenden Desinteresses des Staates war, dass seit 1868 keine statistischen Erhebungen zum

Vgl. Offermann (1979), S. 255 ff. Der Arbeitgeber, Nr. 275 vom 3. April 1862, S. 2332, zitiert nach Offermann (1979), S. 233. Hirsch (1875), S. 38, 42. S. Volkmann (1968), S. 124 ff., 177 ff. Zit. bei Engelhardt (1977), Bd. 1, S. 392, Anm. 65. Vgl. Protokoll der Verhandlungen der zur Beratung der Koalitionsfrage berufenen Kommission, Berlin 1865, S. 64, in: STAM, Oberpräs. Nr. 2787. 1801 Die Forderung nach Beseitigung der Zwangsmitgliedschaft in den Unterstützungskassen wurde auch in Petitionen vorgebracht, so z. B. durch die Handelskammer Trier vom Mai 1963, in: GStA/PK, Rep. 120 B I Nr. 62, Bd. 7, fol. 173. 1795 1796 1797 1798 1799 1800

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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Hilfskassenwesen des Handwerks mehr durchgeführt wurden.1802 Das so mühsam aufgebaute Werk zerfiel, noch ehe es recht vollendet war. In Paderborn machten sich schon frühzeitig Auflösungserscheinungen bemerkbar. Die Unterstützungskasse der Metallarbeiter besaß bereits seit 1862 keinen Vorstand mehr, da die Meister nicht dafür Sorge trugen, dass die notwendigen Wahlen durchgeführt wurden. Auch ihren Zahlungsverpflichtungen kamen die Arbeitgeber nicht länger nach; sie unterließen es zudem, ihre Gesellen bei der Kasse anzumelden. Notwendige Folge der planmäßigen Obstruktion war, dass kaum einer der Gesellen noch seinen Beitrag entrichtete; die meisten wussten nicht einmal mehr von der Existenz der Kasse.1803 Wenig später gerieten auch andere Laden der Stadt in völlige Unordnung;1804 Zahlungsunfähigkeit war die Folge.1805 Schon vor Erlass der Gewerbeordnung von 1869 bestanden sämtliche Gesellenkassen Paderborns nur noch dem Namen nach.1806 In Soest endete die Tätigkeit der einstmals so wirksamen Auflagen im Jahre 1868.1807 Die jahrelange Polemik gegen die Zwangskassen hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Fast jedermann schien, die Gesellen eingeschlossen, die Institutionen plötzlich für ganz und gar überflüssig zu halten. Natürlich gab es vereinzelt auch Stimmen, die sich gegen die stillschweigende Auflösung dieser wenige Jahre zuvor mit soviel Hoffnungen ins Werk gesetzten Einrichtungen wandten. 1867 ergriff die Regierung Minden als einzige der westfälischen Behörden die Initiative zur Beteiligung der Handwerksmeister an den Beitragsleistungen für die Laden. Als das Kassenwesen der Gesellen überall schon schwere Verfallserscheinungen zeigte, setzte die Behörde unter Berufung auf das Gesetz vom 3. April 1854 die Beitragspflicht der Meister in Bünde, Vlotho, Biele-

1802 Um für die Beratung des Gesetzentwurfs, der 1869 im Reichstag des Norddeutschen Bundes eingebracht worden war und über das Schicksal der Zwangsmitgliedschaft entscheiden sollte, tragfähige Grundlagen bereitstellen zu können, veranlasste das Handelsministerium Mitte des Jahres 1869 nochmals eine Bestandsaufnahme des Kassenwesens, die in den Akten allerdings nur wenige Spuren hinterlassen hat; s. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 31. Juli 1869, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1387; vgl. dazu auch Reininghaus (1980), S. 46 ff. (49) m. w. Nachw. Lediglich die Handelskammern führten weiterhin statistische Erhebungen für ihren Bereich durch. 1803 Schreiben des Ladenschreibers Warendorf an den Beisitzer der Unterstützungs-Kasse für Metallarbeiter, Apotheker Cramer, vom 3. April 1864 und 17. April 1867, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 c. 1804 Bzgl. der Kasse der Buchbinder etc.-Gesellen s. Schreiben des Bürgermeisters an den Ladenmeister Pommer vom 13. April 1867 und 18. Juni 1867, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 c; bzgl. Kasse der Schuhmachergesellen s. Schreiben an den Bürgermeister Wördehoff von 1866, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 d. 1805 Die Schuhmachergesellenkasse konnte die Forderungen des Landeshospitals nicht mehr begleichen, s. Schreiben des Bürgermeisters vom 16. Januar 1867, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 d. 1806 S. Schreiben des Bäckermeisters Brinckmann an den Oberbürgermeister Wördehoff vom 25. Oktober 1869, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b; desgl. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Paderborn vom 11. Januar 1876, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 e. 1807 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Soest vom 21. Juni 1873, in: Stadtarchiv Soest, XXXII c 5 a.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

feld und Herford durch.1808 Auch der Landrat des Kreises Brilon wies noch 1869 darauf hin, dass die gewerblichen Unterstützungskassen vom Standpunkt der öffentlichen Armenpflege aus unentbehrlich seien. Der Fortfall des Beitrittszwangs werde die Auflösung der meisten der noch bestehenden Laden zur Folge haben. Die Wiedererrichtung der Vereinigungen auf freiwilliger Basis sei nicht zu erwarten, ließ er in ehrlicher Sorge verlauten.1809 Als die unangefochten dominierenden Liberalen auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen das Kassenwesen im Reichstag nicht allein behaupteten, die Einrichtung der Zwangskassen widerspräche dem Prinzip der gewerblichen Freizügigkeit, sondern auch feststellten, die Laden erfüllten ihren Zweck nicht und stießen deshalb bei ihren Mitgliedern auf wachsenden Widerspruch, war jedermann klar, dass das Kassenwesen der Gesellen in der bestehenden Form nicht länger aufrechterhalten werden konnte,1810 zumal ein großer Teil der Auflagen außerhalb Westfalens zu dieser Zeit bereits ebenso ohne rechte Wirksamkeit war. Die Liberalen behaupteten nun auch noch immer nachdrücklicher, die Gesellen erführen in den „Zwangskassen“ nur Entmündigung und Unterdrückung. Daher konnte es niemanden mehr überraschen, daß die Regierung sich in der Frage des Zwangsbeitritts zu den Kassen nicht exponieren und die Lösung dieses Problems „der Ordnung durch lokale Statuten“ überlassen wollte.1811 Die Gewerbeordnung vom 21. Juni 18691812 fand denn auch zu einer grundlegenden Neuregelung der sozialen Sicherung der gewerblichen Arbeitnehmer. § 141 des Gesetzes ließ die Verpflichtung zur Mitgliedschaft in einer Kasse für Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter zwar bestehen, stellte es den Versicherten aber frei, welcher der verschiedenen Einrichtungen sie künftig angehören wollten. Die Folge war, dass sich der Exodus aus den Laden und Auflagen noch verstärkte. Sämtliche Paderborner Kassen lösten sich nun auch formell auf.1813 Die Handwerker nahmen nämlich an, die Kassen seien durch die neue Gewerbeordnung aufgehoben worden. Ein Versuch, diese Vereinigungen auf freiwilliger Basis wiederzubeleben, scheiterte noch im selben Jahr.1814 Das neue Statut hatte es den Pader1808 S. Schreiben der Reg. Minden vom 2. Mai 1867, in: STAD, Reg. Minden, Präs.-Reg. Minden, Nr. 194; desgl. Schreiben der Regierung Minden vom 9. April 1867 an die Stadt Minden, in: Stadtarchiv Minden, F. 188. 1809 Stellungnahme des Landrats des Krs. Brilon vom 19. August 1869, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1387, fol. 189. 1810 S. Schreiben der Reg. Arnsberg vom 31. Juli 1869, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1387. 1811 Zit. nach Frevert (1984), S. 176. 1812 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869, S. 245 ff.: auch in: Jahrbuch für National-Ökonomie und Statistik (1869), S. 114 ff. Die Kompromißregelung des § 141 verband die Kammer mit der Auflage, alsbald zu einer gesetzlichen Neuregelung des Kassenwesens zu finden. Noch 1869 ersuchte sie die Bezirksregierungen um eine Stellungnahme zur Frage des Kassenzwangs bzw. der Kassenfreiheit; s. Frevert (1984), S. 177. 1813 Vgl. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Paderborn vom 11. Januar 1876, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 e; desgl. Schreiben des Bäckermeisters Brinkmann an den Oberbürgermeister Wördehoff vom 25. Oktober 1869, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b. 1814 S. Statut der Krankenunterstützungskasse für die Bäcker, Brauer etc. vom 28. Oktober 1869, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b; desgl. Schreiben des Bäckermeisters Brinkmann vom 25.

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borner Meistern freigestellt, Mitglied der Kasse zu werden. Da die Mitgliedschaft Beitragspflichten nach sich zog, blieben sie der Kasse fern, soweit sie nicht dem Vorstand angehörten. Das Ergebnis war, dass diese neue Kasse bald „einschlief“. Bezeichnenderweise endet auch in Schwerte die Überlieferung der Lade der Handwerksgesellen im Jahre 1869.1815 Da es an geeigneten Ersatzeinrichtungen für die erloschenen Laden und Auflagen fehlte, blieb die Versicherungspflicht der Gesellen für Jahre gänzlich unbeachtet. Die von Reininghaus vorgetragene Ansicht, im Kassenwesen sei nach 1869 „alles beim alten“1816 geblieben, mag für die großen Betriebs- und Ortskrankenkassen zutreffen; für die Gesellenladen jedenfalls ist sie nach alledem in dieser Allgemeinheit unrichtig. Der Zeitgenosse H. B. Oppenheim, der feststellte, dass „seit 1869 … die Zwangskassen großen Theils in Auflösung und Verfall“ geraten seien, sah da klarer.1817 Immerhin muss aber eingeräumt werden, dass in den industrialisierten Regionen Westfalens unter dem Druck der anonymeren, der Fürsorge von Familie und Heimatort entbehrenden Lebensverhältnisse der Gesellen und dem Beispiel der stabilen Arbeiter- und Ortskrankenkassen folgend, manche Einrichtung funktionsfähig blieb. So sind bei den Gesellenkassen der Stadt Hagen keine signifikanten Veränderungen des Mitgliederbestandes feststellbar.1818 Die lückenhaften Angaben, die über die finanzielle Lage der Einrichtungen während dieser Jahre vorliegen, dürften ein Indiz für das jedenfalls zeitweilige, wenn auch nur kurzfristige Ruhen der Aktivitäten auch der fortlebenden Laden nach dem Erlass der Gewerbeordnung sein. Natürlich markierte die Einführung der liberalen Gewerbeordnung nicht das längerfristige Ende staatlicher Sozialpolitik. Mit dem neuen Gesetz waren, wie man weiß, weder die Einsicht in die sozialen Notstände der Zeit noch der Wille zur Abhilfe verlorengegangen. Der Weg zu mehr Sicherheit in den Wechselfällen des Lebens wurde nur in anderer Richtung als zuvor gesucht. Auf die soziale Frage gab es eben – und gibt es noch immer – mehr als nur eine Antwort. Damals stand man, nicht anders als heute, vor dem alten und immer wieder neuen Problem, zu bestimmen, wo der Staat eingreifen muss und was er privater Verantwortlichkeit und genossenschaftlicher Selbsthilfe überlassen soll. Diese Frage ist seither noch von jeder Generation wiederum anders beantwortet worden.

1815 1816

1817 1818

Oktober 1869, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b; desgl. Schreiben des Bäckergesellen Seidensticker vom 17. Oktober 1878, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b; desgl. Schreiben des Stadtbaumeisters Brinkmann vom 31. Oktober 1878, in: Stadtarchiv Paderborn, 389 b. Die Kasse der Paderborner Bäcker-, Brauer-, Müller- und Metzgergesellen wurde zwar 1869 auf privatrechtlicher Basis neu errichtet und es wurden Statuten formuliert, die in gedruckter Fassung vorliegen. Danach zeigte die Kasse bis 1878 aber keinerlei Aktivitäten mehr. Stadtarchiv Schwerte, Nr. 7515. Reininghaus (1983), S. 294, beruft sich auf die Literatur zum Betriebskassenwesen und „einzelne archivalische Stichproben“. Dass sich in den nach 1870 erhobenen Statistiken kein deutlicher Einbruch zeigt, findet seine Erklärung im Übergewicht der Arbeiterkassen und in der Tatsache, dass die Wiederbelebung der Gesellenkassen schon 1873 begann. Oppenheim (1875), S. 36 f. Es bestanden in Hagen im Jahre 1872 drei Laden für Handwerksgesellen mit 527 Mitgliedern, vgl. Hopf (1922), S. 86. Die Zahl der statistisch erfassten Mitglieder sagt allerdings noch nichts über die Effizienz und Lebenskraft der Kassen aus.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

b. Die soziale Sicherung im Landhandwerk Trotz ständiger Bemühungen der verantwortlichen Behörden gelang es nur selten, die Gesellen auf dem Lande in das Versorgungssystem einzubeziehen. Für diesen Mangel waren verschiedene Ursachen verantwortlich: (1) Wandernde Gewerbegehilfen suchten im allgemeinen in größeren Städten, wo sie am ehesten die erwünschten Fachkenntnisse in ihrem Beruf erwerben konnten, Beschäftigung. Die wenigen, die auf dem Lande verblieben, stammten zumeist aus eben dem Ort, an dem sie auch arbeiteten, oder allenfalls aus einem der Nachbardörfer. Da sie sich nicht aus den sozialen Bindungen ihrer Heimatgemeinde lösten, war die Krankenversorgung durch Dritte kein dringendes Bedürfnis. Die Familie trat ein, und der kleine, kreditfähig machende Grundbesitz, über den auch die unterbäuerliche, den Handwerkernachwuchs stellende Schicht vielfach verfügte, reichte gewöhnlich hin, über die ärgste Not hinwegzukommen.1819 (2) Dort, wo Kassen als Bedürfnis empfunden wurden, standen der Verwirklichung entsprechender Pläne organisatorische Hindernisse im Wege. Ortskassen für Landgesellen ließen sich zumeist schon wegen der geringen Handwerkerdichte an den einzelnen Orten kaum aufbauen,1820 und überörtlich wirksame Einrichtungen wären an den unzureichenden Kommunikationsmitteln, mehr aber noch an dem Mangel einschlägiger organisatorischer Erfahrungen gescheitert. Es blieben daher nur zwei Wege, wollte man auch die Gewerbegehilfen des ländlichen Raumes in das Versorgungssystem einbeziehen: Die einfachste und naheliegendste Lösung war es, den Landhandwerkern die Mitgliedschaft in den Kassen benachbarter Städte zu ermöglichen. Einzelne solcher Einrichtungen lassen sich in der Tat auch nachweisen; so nahm die 1848 in Minden gegründete Krankenkasse der Steinhauergesellen auch Handwerker aus den umliegenden Landgemeinden auf. Dort wollte man den Landgesellen sogar das Privileg einräumen, zur Vertretung ihrer Sonderinteressen einen eigenen Altgesellen wählen zu dürfen.1821 Diese unkomplizierte und sachgerecht scheinende Lösung stieß aber bald auf Widerstand: 1854 wandte sich der Mindener Bürgermeister dagegen, dass Gesellen aus der Feldmark in die städtischen Laden aufgenommen würden. Ihr Lohn sei niedriger als der der städtischen Gewerbegehilfen, die Beiträge könnten nur unter Schwierigkeiten eingezogen werden und es sei den Altgesellen nicht zuzumuten, die „Landgesellen“ bei Versammlungen u. ä. über größere Entfernungen hinweg eigens zu benachrichtigen. Im übrigen sei die soziale Sicherung der Landhandwerker durch Kassen schon deshalb kein dringendes Bedürfnis, weil eine geregelte ärztliche Versorgung auf dem Lande ohnehin nicht vorhanden sei (!).1822 Mit diesen Argumenten ist der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten, welche 1819 Dazu zahlreiche Hinweise bei Reininghaus (1983), S. 281. 1820 S. Bericht des Landrats des Krs. Bochum an die Reg. Arnsberg vom 8. Dezember 1854, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 170 ff. 1821 Vgl. § 18 des Satzungsentwurfs der Krankenkasse der Steinhauer, in: Stadtarchiv Minden, F 206. 1822 Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Minden an die Reg. Minden vom 15. Juli 1854, zitiert nach Reininghaus (1983), S. 282.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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die Organisierung von Stadt- und Landgesellen in gemeinsamen Einrichtungen mit sich brachte, bereits angedeutet: Es waren die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Stadt und Land noch stark voneinander abweichenden Lebensverhältnisse, welche die Mitgliedschaft der Landgesellen in den städtischen Kassen noch für längere Frist entweder als unerwünscht oder aber als nicht organisierbar erscheinen ließ. Eine andere, mehr Erfolg versprechende Lösung suchte die Regierung Arnsberg in den industrialisierten Regionen ihres Bezirkes zu verwirklichen. In den kleinen Gemeinden des Kreises Bochum hatten sich, wie auch anderwärts in der Grafschaft Mark, zahlreiche Fabrikbetriebe angesiedelt. Durch die gewerbliche Verdichtung in den Dörfern war dort eine tragfähige Grundlage für ein lebensfähiges Kassenwesen der Fabrikarbeiter auch auf dem Lande geschaffen worden. Hier bot es sich an, den Landgesellen die Mitgliedschaft in den Arbeiterkassen zu eröffnen. Voraussetzung dafür, dass die Gesellen Anschluss an diese Versicherungseinrichtungen fanden, war allerdings, dass sie ihre überholten Ehrbegriffe vergaßen und bereit waren, sich auch mit ungelernten Handarbeitern zusammenzuschließen. In einigen Fällen gelang es in der Tat, alte Vorurteile auszuräumen und zukunftweisende Gemeinschaftskassen zu errichten. So genehmigte die Regierung 1853 das Statut der vereinigten Gesellen-, Gehilfen- und Fabrikarbeiter-Lade in der Landgemeinde Sprockhövel.1823 Auch in Königssteele wurde eine solche gemeinschaftliche Unterstützungskasse gegründet. Obgleich die Regierung in Arnsberg in der Folge lebhaft die Nachahmung dieses Modells integrierter Arbeiter- und Gesellenkassen empfahl,1824 blieb die Resonanz doch denkbar gering. Die Gesellen in den Landgemeinden vermochten sich, kaum anders als ihre städtischen Berufsgenossen, zumeist nicht von den tradierten Ehrbegriffen ihres Standes zu lösen. Im Amt Wattenscheid beispielsweise schlossen sie sich, ganz gegen die erklärte Politik der Regierung, deshalb zu einer „Vereinigten Gesellenlade“ zusammen, um in trotziger Beharrlichkeit an den traditionellen Formen und Gebräuchen der Gesellenbewegung festhalten zu können.1825 Im Kirchspiel Herbede wollte man, um die erforderliche Mitgliederzahl zu erreichen, eher Lehrlinge denn Fabrikarbeiter in diese Gesellenlade aufnehmen.1826 Trotz des starken Veränderungs- und Modernisierungsdrucks, dem alle Lebensverhältnisse in den Jahren des „take off“ im entstehenden Ruhrrevier ausgesetzt waren, wollte man sich dort eben nicht überall zu der sachgemäßen und zukunftsorientierten Gemeinschaft mit den Fabrikarbeitern verstehen.1827 Infolge der mit der rasch fortschreitenden industriellen Entwicklung ver1823 S. Statut vom 14. Juli 1853, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1824 Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Bochum vom 28. Dezember 1854, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 198. 1825 S. Schreiben des Amtmannes von Wattenscheid an den Landrat des Krs. Bochum vom 3. Oktober 1857, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1826 S. Schreiben des Amtmannes des Kirchspiels Herbede betr. die Einrichtung einer vereinigten Gesellenlade vom 10. Dezember 1857, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1827 Z. B. Statut für eine Gesellen- und Gehilfenkrankenkasse im Amt Gelsenkirchen, s. Schreiben des Amtmannes des Amtes Gelsenkirchen an die Reg. Arnsberg vom 19. November 1868, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553; desgl. Statut für die gewerbliche Unterstützungskasse zu Oberbonsfeld im Amt Hattingen, in: Schreiben des Amtmannes von Hattingen an die Reg.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

bundenen erheblichen Bevölkerungsverdichtung, die in den Landgemeinden der Grafschaft Mark nach 1850 alsbald spürbar wurde, reichte die Zahl der Gesellen dort für die Organisierung von handwerkseigenen Kassen in der Tat mancherorts aus. Jedenfalls erwies sich der Versicherungsgedanke – wenig überraschend – überall in der entstehenden industriellen Ballungszone als lebenskräftiger denn in den industriefernen Städten oder gar den ländlichen Räumen Westfalens. Selbst noch in der hochliberalen Phase gegen Ende der sechziger Jahre wurden deshalb in einigen Orten des Kreises Bochum neue Auflagen für Handwerker errichtet. 3. Versuch einer Wertung: Die Bedeutung des Kassenwesens für die Gesellenschaft So kennzeichneten beeindruckende Effizienz, aber auch völliges Scheitern – und viele dazwischenliegende Grade des Gelingens und Misslingens – den Aufbau des Systems sozialer Sicherung für die Handwerksgesellen bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein. Die Organisationskraft des Staates reichte ganz offenkundig noch nicht aus, politische Ziele umfassend und flächendeckend zu sozialer Wirklichkeit gerinnen zu lassen. Die Verwaltung selbst empfand diesen Mangel schmerzlich. Die Regierung in Arnsberg klagte lebhaft über die „große Ungleichheit“ in der Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen und bezeichnete diese ganz zu Recht als einen „Hauptübelstand des gewerblichen Unterstützungswesens“.1828 Die einst beneidete und bewunderte Selbstorganisationskraft des Handwerks aber, als deren eindrucksvollstes Beispiel natürlich die entwickelte Zunftverfassung zu gelten hat, war, wie der schnelle Zusammenbruch weiter Teile des mühsam aufgebauten Kassenwesens gegen Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts beweist, damals zu schwach, um dem Druck des Liberalismus standzuhalten und Neues, Dauerhaftes zu schaffen. Da das Ziel, die soziale Sicherung der Handwerksgesellen in allgemeiner, umfassender und beständiger Weise zu gewährleisten, kaum erreicht wurde, liegt die bleibende Bedeutung der Sozialgesetzgebung von 1845/49 vom 19. Januar 1867, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553. Kocka vertritt die Auffassung, in dieser Zeit hätten sich die bessergestellten Meister bereits „tendenziell … zu kleinkapitalistischen Unternehmern und ihre Gesellen zu Lohnarbeitern entwickelt,“ die Lohnfindung sei „vermutlich umstrittener“ geworden, die Arbeitszeit im Handwerk habe „von den 40er bis in die 70er Jahren zugenommen“ und „die meisten Gesellen jener Zeit“ hätten „in Werkstätten mit drei, vier, fünf und mehr Gesellen“ gearbeitet (so Kocka, (1990), S. 352, 353). Wie der Widerstand der Gesellen gegen die gemeinsamen Kassen mit Fabrikarbeitern selbst in den „Fabrikgegenden“, aber auch die damals in der Regel noch immer deutlich geringeren Werkstattgrößen zeigen, kann die von Kocka angenommene Entwicklung ausweislich der Quellen für Westfalen bis in die sechziger Jahre so jedenfalls nicht nachgewiesen werden. Kocka unterstellt, daß sich damals bereits das ehemals primär ständische Meister-Gesellen-Verhältnis „durch Elemente eines spannungsreichen Klassenverhältnissses“ angereichert habe. Von solcher Klassenspannung im Kleingewerbe kann für Westfalen nicht vor dem Ende der sechziger Jahre gesprochen werden. 1828 Schreiben der Reg. Arnsberg vom 5. Mai 1854 an den Landrat in Brilon, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1387.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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nicht in ihrer Realisierung, sondern in ihrem wegweisenden Charakter. H. Volkmann hat treffend über die Unterstützungskassen der 1850er und 1860er Jahre geurteilt: „Erst ein Anfang, aber von nicht geringer Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sozialversicherung“.1829 P. Peschke sah mit Recht schon in diesen Kassen die Hauptprinzipien der späteren Reichskrankenversicherung jedenfalls tendenziell verwirklicht.1830 Vorläufer zu sein für die allgemeine, umfassende, leistungsfähige, eben die moderne Sozialversicherung, Wegbereiter einer künftigen, großen Entwicklung zu werden, darin lag das eigentliche Verdienst der Bestimmungen über das Kassenwesen. Dass die Laden und Auflagen dieser Aufgabe, ein Experimentier- und Lernfeld gleichermaßen zu bieten, gerecht geworden sind, stellten sie schon bald nach Beseitigung ihres Rechtsrahmens neuerlich unter Beweis: Mit der 1873 beginnenden, tiefen Krise der Industriewirtschaft zerbrach der naive Glaube an das Konkurrenzprinzip als Allheilmittel gegen soziale Missstände aller Art und als Versicherung gegen jedwede Lebensrisiken schnell und vollständig. Man erinnerte sich des Kassenwesens und suchte sich in den alten Formen neu – und nunmehr erfolgreicher – einzurichten. In Soest wies der Magistrat die Gesellen 1873 darauf hin, dass die Gewerbeordnung von 1869 die Wirksamkeit der Ortsstatuten nicht tangiert habe und das Kassenwesen daher unverzüglich neu zu beleben sei.1831 Und auch in Paderborn konnten die Gesellenkassen Ende der siebziger Jahre in tatkräftigem Zusammenwirken von Bürgermeister, Meistern und Gesellen wieder errichtet werden.1832 Auch das Handwerk trug demnach, als 1884 die Versicherungsgesetzgebung in Kraft trat, mit zwar erst wenigen, doch funktionsfähigen Einrichtungen zum Gelingen der neuen Ordnung bei. Das so ganz unterschiedliche Schicksal der Kassen in den verschiedenen Regionen, Städten und Landgemeinden Westfalens macht überdeutlich, wie ungleich die Qualität der sozialen Sicherung der Gesellen selbst in dieser einen Provinz Preußens bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts geblieben war. Dabei hatten doch der Gesetzgeber und das federführende Handels- und Gewerbeministerium mit Überzeugungskraft und Elan versucht, ein möglichst das ganze Handwerk erfassendes, flächendeckendes, homogenes und effizientes Kassenwesen aufzubauen. Das Ergebnis lässt es nicht zu, die staatlichen Bemühungen als eindeutig gelungen oder misslungen zu beurteilen. Differenzierung tut not:1833 1829 Volkmann (1968), S. 242. 1830 Peschke (1962), S. 116. 1831 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Soest vom 21. Juni 1873, in: Stadtarchiv Soest, XXXII C 5 a. 1832 Schreiben des Bürgermeisters von Paderborn an den Tischlermeister Wippermann vom 14. Dezember 1875, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 d; desgl. Stadtarchiv Paderborn 389 d (bzgl. Schuhmachergesellen); desgl. Schreiben des Bürgermeisters von Paderborn vom 11. Januar 1876, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 e (bzgl. Metallarbeiter), desgl. Stadtarchiv Paderborn, 389 c (bzgl. Buchbinder etc.) und Stadtarchiv Paderborn, 389 b. 1833 Z. B. Statut für eine Gesellen- und Lehrlingskasse im Amt Gelsenkirchen, s. Schreiben des Amtmannes des Amtes Gelsenkirchen an die Reg. Arnsberg vom 19. November 1868, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553; desgl. Statut der gewerblichen Unterstützungskasse zu Oberbonsfeld im Amt Hattingen, in: Schreiben des Amtmannes von Hattingen an die Regierung vom 19. Januar 1867, in: STAM, Reg. Arnsberg I, Nr. 553.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

aa) Dort, wo die Gesellen zur Mitgliedschaft in den Kassen verpflichtet waren, in den größeren Städten und in den durch die entstehende Industrie-Agglomeration geprägten Räumen, entwickelten sich die Laden im Laufe der Jahre zu einer unbestrittenen, wenn auch nicht dem Ideal entsprechenden Effizienz. Die Verwaltung nahm geordnete Formen an, die Vermögenslage besserte sich,1834 die Kassenleistungen wurden großzügiger und nicht zuletzt deshalb hob sich die Qualität der ärztlichen Versorgung allmählich. In Münster, wo die Ortsarmenkasse seit Bestehen der Gesellenlade in auffälliger Weise geschont werden konnte, bezweifelte keiner der Zeitgenossen, dass die Tätigkeit der Laden „in höchstem Grade segensvoll“1835 sei. Der Landrat des Kreises Bochum war mit dem gegen Ende der fünfziger Jahre erreichten Zustand so zufrieden, dass er feststellte, die Leistungen der Kassen entsprächen „dem wirklichen Bedürfnis“.1836 Die Magistrate des Kreises Iserlohn äußerten in ihren jährlichen Stellungnahmen und auch in der im Jahre 1869 erstellten rückschauenden Bewertung Genugtuung über die Entwicklung der Einrichtungen.1837 Auch in der Stadt Iserlohn selbst, wo sich entschiedene Gegner der Zwangskassen zu Wort meldeten, konnte der praktische Nutzwert der Laden nicht in Abrede gestellt werden.1838 Sogar der „Socialdemokrat“, das Sprachrohr der das Kassenwesen vehement ablehnenden Arbeiterbewegung, räumte 1865 ein, dass die Auflagen „das Elend da und dort etwas erträglicher“1839 machten. Die den Ansprüchen und vor allem den Möglichkeiten der Zeit entsprechende Leistungsfähigkeit der meisten Kassen, verbunden mit den Vorzügen genossenschaftlicher Selbsthilfe in überschaubaren Organisationsformen, insbesondere einem denkbar geringen Verwaltungsaufwand, nötigt in jedem Fall Respekt ab. Diesen positiven Aspekt allzu sehr in den Mittelpunkt der Bewertung rücken zu wollen hieße jedoch, das Urteil auf eine unvollständige Basis zu stellen. bb) Es ist vielmehr zu fragen, wie verbreitet das Kassenwesen war, welchen Organisationsgrad die Gesellenschaft in diesen Einrichtungen tatsächlich erreichte. Quellenbedingt lässt sich der Anteil der durch Kassen gegen Krankheitsfälle Versicherten an der Gesamtzahl der Gesellen nicht exakt, sondern nur annäherungsweise bestimmen.1840 Danach waren in den staatlich sanktionierten Laden und Auflagen 1834 Jacobi (1857), S. 658 ff. 1835 Goeken (1925), S. 36. 1836 S. Bericht des Landrats des Krs. Bochum vom 23. April 1858 über die Unterstützungskassen des Kreises, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 1837 Das Urteil der Magistrate findet sich in STAM, Landratsamt Iserlohn, Nr. 636 und 637. 1838 Stellungnahme des Landrats Schütte, in: STAM, Landratsamt Iserlohn, Nr. 636, zitiert nach Reininghaus (1980), S. 55. 1839 Socialdemokrat, Nr. 45, vom 9. April 1865, zitiert nach Reininghaus (1980), S. 55. 1840 Die Ungenauigkeit hat verschiedene Ursachen: Die Gewerbetabelle unterscheidet nicht exakt zwischen Handwerkern und industriell Beschäftigten. Deshalb dürften auch in der Handwerkertabelle erscheinende Gesellen in Fabrikkassen versichert gewesen sein – und umgekehrt. Im übrigen wurden in der Berechnung, die den o. a. Prozentzahlen zugrunde liegt, nicht alle in der Handwerkertabelle aufgeführten Berufe berücksichtigt. Es dürften aber auch Angehörige der nicht in die Rechnung eingestellten Berufe in den Kassen versichert gewesen sein. Hinzu kommt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Handwerksgesellen nicht in den Gesellenladen, sondern in Ortskassen versichert war. Diese Kassenangehörigen konnten bei der Berechnung aber nicht berücksichtigt werden, da sie in den Statistiken nicht isoliert angegeben sind.

E. Die soziale Sicherung der Gesellen

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im Jahre 1855 durchschnittlich etwa 23 % der Gesellen im Regierungsbezirk Minden und ca. 24 % im Regierungsbezirk Arnsberg versichert,1841 während die Zahl der Organisierten im Regierungsbezirk Münster weit geringer war. Hinzu kamen diejenigen Gesellen, die kirchlichen Einrichtungen (Sodalitäten, Kolpingvereine) angehörten sowie die in allgemeinen Orts- bzw. Fabrikarbeiterkassen organisierten Handwerker. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Zahl der Kassenmitglieder noch bis in die sechziger Jahre hinein anstieg, die Daten des Jahres 1855 also nicht das Endergebnis markieren, sondern die bloße Momentaufnahme einer noch lebhaft bewegten Entwicklung zeigen. Selbst wenn man diese Umstände berücksichtigt, bleibt doch die begründete Vermutung, dass im statistischen Mittel der drei Regierungsbezirke bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts weniger als die Hälfte der Gesellen gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit versichert war. Ihr Organisationsgrad verharrte damit überall auf erheblich geringerem Niveau als derjenige der Fabrikarbeiter, der in den industrialisierten Kreisen der Grafschaft Mark im Jahr 1858 nicht weniger als 78 % erreichte.1842 cc) Aber nicht nur die Zahl der versicherten Gesellen, auch ihre räumliche Verteilung auf die verschiedenen Regionen Westfalens ist bei der Beurteilung des Erfolges oder Misserfolges des Kassenwesens im Handwerk heranzuziehen. – Laden und Auflagen blieben ein Spezifikum des Stadthandwerks. Auf dem Lande konnte dagegen kaum wesentliches bewirkt werden. – Die Verbreitung der Kassen hing zudem vom Grad der Industrialisierung am Ort ab. Das gilt auch für die reinen Handwerkerkassen, die in den Industrieregionen im Vergleich zu ländlichen Kreisen überproportional vertreten waren. Die allgemeinen Vergleichszahlen über die Verbreitung des Kassenwesens (ohne Differenzierung zwischen Handwerker- und Fabrikarbeiterkassen) in den preußischen Regierungsbezirken sagen deshalb auch etwas über die Bedeutung, die den Handwerkerkassen in den einzelnen Landesteilen Westfalens zukam, aus: Der gewerbereiche Regierungsbezirk Arnsberg stellte 1854 8,7 %, 1864 8,9 % und 1868 7,5 % der Gesamtzahl aller Mitglieder der Unterstützungskassen der preußischen Provinzen.1843 Da im Regierungsbezirk Arnsberg noch im Jahre 1871 nicht mehr als 3,4 % der preußischen Bevölkerung

Schließlich ist auf die Fehlerquote, die aus den Erhebungsmodalitäten von Statistiken vor 1870 resultiert und immer berücksichtigt werden muss, hinzuweisen. 1841 Errechnet nach folgenden Quellen: – Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1855, hrsg. v. stat. Bureau zu Berlin, Berlin 1858, S. 178 ff. – Unterstützungskassen in den Regierungsbezirken Arnsberg und Minden 1855 und 1868, zusammengestellt von Reininghaus (1983), S. 295, 296. Von den in der Gewerbetabelle aufgeführten Berufen wurden nur diejenigen bei der Ermittlung der Gesellenzahl berücksichtigt, die zu den typischen Handwerken zählten, also üblicherweise ausschließlich oder überwiegend für den lokalen Markt arbeiteten. Schmiede, Schlosser, Spinner, Weber u. a. wurden demnach in die überschlägige Rechnung nicht mit einbezogen. 1842 Reininghaus (1983), S. 283. 1843 Reininghaus (1983), S. 292, 293 m. w. Nachw.

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II. Die gewerbliche Ausbildung

lebten,1844 war der Organisationsgrad im Süden Westfalens weit überdurchschnittlich. Der eher ländlich strukturierte Regierungsbezirk Minden wies dagegen 1854 nur 0,7 % und auch 1868 nicht mehr als 1,6 % der Kassenmitglieder aller preußischen Provinzen bei 1,99 % der Einwohnerschaft Preußens auf. Das industriearme Münsterland zählte 1874 nur 0,5 % der Kassenmitglieder Preußens bei 1,9 % der Bevölkerung. Der Vergleich zwischen Arnsberg einerseits und Minden und Münster andererseits belegt einmal mehr die Bedeutung der Industrialisierung für die Entwicklung des Kassenwesens. Welch große Diskrepanz zwischen den Industriestandorten und den industriearmen Regionen auch auf diesem Felde bestand, wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass der hohe Organisationsgrad des Regierungsbezirks Arnsberg allein den industriell entwickelten Teilen der Grafschaft Mark zuzurechnen ist, während sich das kurkölnische Sauerland am Aufbau des Kassenwesens kaum beteiligte. dd) Da einander widerstreitende Kräfte auf die Physiognomie des Sicherungssystems einwirkten, war die staatliche Sozialgesetzgebung noch außerstande, eine homogene Organisation des Kassenwesens in diesem Stadium des unschlüssigen Suchens nach tragfähigen Formen zu schaffen und überall dauerhafte Erfolge zu erzielen. Selbst auf der Ebene der Regierungen mühte man sich keineswegs überall mit gleichem Elan, die Intentionen des Ministeriums in die Tat umzusetzen. Während die Behörden in Arnsberg und Minden den Aufbau des Kassenwesens mit aller Kraft vorantrieben, beschränkte man sich in Münster darauf, den Landräten und Magistraten die Ministerialreskripte und Musterstatuten aus Berlin zur Kenntnis zu bringen. Dabei machte die Regierung in der Provinzialhauptstadt kein Hehl daraus, dass sie den Aufbau von Laden und Auflagen in ihrem Bezirk für überflüssig hielt. Ähnlich uneinheitlich gestaltete sich das Verhältnis der Lokalverwaltungen zum Kassenwesen. Während die einen den Versicherungsgedanken lebhaft förderten und die Gesellen zur Mitgliedschaft in den Laden verpflichteten, verhielten sich Magistrat oder Bürgermeister der anderen, eigennützig die Beitragspflicht der ihnen interessenkongruent verbundenen Arbeitgeber fürchtend, passiv, ja ablehnend. Selbst einer tatkräftigen und entschlossenen Regierung wie der arnsbergischen gelang es daher nicht, in ihrem Bezirk ein flächendeckendes, dauerhaftes Kassenwesen für das Handwerk zu schaffen. Aus alledem erschließt sich das Gefüge der Laden und Auflagen im Untersuchungszeitraum als eine die Lebenswelt und den Alltag der Gesellen keineswegs schon wieder – wie zur Zunftzeit – nachhaltig prägende soziale Konfiguration. Ihre kaum zu überschätzende Bedeutung resultiert aber, wie bereits festgestellt, aus dem Umstand ihrer Vorläufer- und Wegbereiterfunktion für das gegenwärtige System der sozialen Sicherung.

1844 Bevölkerungszahlen nach A. Kraus (Bearb.) (1980), S. 226; Uekötter (1941), S. 80 f. und Statistisches Handbuch für den preußischen Staat (1888), (dort Angaben für das Jahr 1867), S. 91–93.

III. RÜCKBLICK Ebenso wie die skizzierten Ausgangsfragen stehen – natürlich – auch die Ergebnisse dieser Untersuchung im engsten Zusammenhang mit den im ersten Band vorgestellten Resultaten. In nuce ging es darum festzustellen, wie der Gesetzgeber und das Handwerk die mit den epochalen Veränderungen der Einführung der Gewerbefreiheit und der Industrialisierungsvorgänge einhergehenden Modernisierungsschübe bewältigten. Die für das selbständige Handwerk gefundenen Ergebnisse sollen hier noch einmal mit wenigen Strichen nachgezeichnet werden: 1. Zwar zeigten die westfälischen Handwerker schon wenige Jahre nach der erzwungenen Aufhebung der Korporationen Interesse an neuerlichen Zusammenschlüssen in ihren Gewerken auf lokaler Ebene. Doch als der Nomothet mit der Gesetzgebung der Jahre 1845/1849 endlich die Möglichkeit eröffnete, Innungen auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage zu schaffen, verweigerten sie sich – der unausgesetzten Kontrollen durch die preußische Obrigkeit überdrüssig. Sie hatten eben erkannt, daß die Innungsgesetzgebung vor allem dem Zweck diente, den revolutionären Furor im Handwerk zu dämpfen. So blieb der Ertrag der Innungsgesetzgebung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Handwerks in Westfalen mehr als dürftig. 2. Auch das zweite Organisationsmodell, welches der Gesetzgeber den Handwerkern zu oktroyieren suchte, die Gewerberäte, scheiterten trotz ihres unleugbar demokratischen Ansatzes grandios. Denn es gelang den Meistern aufgrund ihrer unzureichenden Repräsentanz in den Räten nicht, sich gegen die Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten durchzusetzen. Vor allem wegen dieser prägenden Ohnmachtserfahrung stellte die große Mehrzahl der Gremien in Westfalen ihre Tätigkeit bereits nach wenigen Jahren wieder ein. 3. Differenzierter muß das Urteil hinsichtlich des Niederlassungsrechts ausfallen. Zwar hielt der preußische Gesetzgeber zunächst an der liberalen Ordnung der Franzosenzeit fest. Dennoch reanimierten viele Kommunen das aus dem 18. Jahrhundert bekannte Einzugsgeld. 1845 gestattete der Gesetzgeber dessen Einführung ausdrücklich, um unerwünschte Zuzügler fernzuhalten, und die Niederlassungsfreiheit für ausländische Handwerker hob er 1849 ebenfalls auf. Erst mit dem Wiedererstarken des Liberalismus nach 1860 wurde das Einzugsgeld in den westfälischen Städten überall beeitigt, und mit der Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes verschwanden dann auch die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit auf staatlicher Ebene ganz. So bleibt festzuhalten, daß die Zuzugsgebühren vor der Jahrhundertmitte zwar zur Heimatlosigkeit des ärmsten Teiles der Gesellen beigetragen haben dürften; verhindern konnten sie die Ansiedlung der Handwerker am Ort ihrer Wahl aber nicht wirklich. 4. Besonders inkonsequent erscheint das Gewerberecht des 19. Jahrhundert bei der Bestimmung der Preisbildung für die Grundnahrungsmittel Brot und Fleisch.

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III. Rückblick

Die Regelungen in Westfalen widersprachen denen in Ostelbien und wurden zudem wiederholt in ihr Gegenteil verkehrt. Dieses Beispiel lehrt eindrucksvoll, daß Westfalen im Bereich der Rechtssetzung dort, wo es noch möglich war, eigene Wege zu gehen suchte. Ersichtlich fiel es dem Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts schwer, den Übergang von der durch zahlreiche Beschränkungen eingehegten Wirtschaftsweise des Ancien régime zur liberalen Marktwirtschaft rechtlich zu bewältigen. So zeichneten sich Rechtssatz und Rechtswirklichkeit im Bereich der Preisbildung für Nahrungsmittel durch erstaunliche Inkonsistenz aus. 5. Auch der zeittypische Assoziationsgedanke zeitigte in Westfalen nur mäßigen Erfolg. Ursächlich waren die Gewöhnung der Handwerker an das korporationslose Wirtschaften, organisatorische Schwierigkeiten, die Ablehnung der Ideen des Liberalen Schulze-Delitzsch in den katholischen Regionen der Provinz, nicht zuletzt aber auch das Fehlen eines brauchbaren rechtlichen Rahmens, der erst 1867 mit dem Genossenschaftsgesetz geschaffen wurde. 6. Ähnlich unbefriedigend blieb die Gestaltung des gewerblichen Arbeitsrechts. Denn die Einführung des ALR in der seit 1814 preußischen Provinz bedeutete die Rückkehr zum Arbeitsrecht der Zunftzeit, ohne daß Zünfte vorhanden waren. Daher entbehrten wesentliche Teile der arbeitsrechtlichen Bestimmungen der preußischen Kodifikation des sachlichen Grundes. Rechtsunsicherheit war die Folge. Zwar endete die rechtliche Sonderstellung der Provinz Westfalen im Bereich des gewerblichen Arbeitsrechts mit der Einführung der Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 formal; tatsächlich aber bestand sie fort, da das Gesetz Innungen voraussetzte, die in Westfalen damals noch kaum entstanden. 7. Auch die Steuergesetzgebung entbehrte der Ausgewogenheit: Die Einführung der Patentsteuer in der Zeit der Fremdherrschaft führte zu mehr Steuergerechtigkeit, brachte zugleich aber eine erhebliche Erhöhung der Abgabenlast für die selbständigen Handwerker. Als Preußen die Patentsteuer 1820 beseitigte und sie durch eien Kanon direkter und indirekter Steuern ersetzte, erreichte der Gesetzgeber die intendierte Differenzierung nach der individuellen Leistungsfähigkeit wegen zahlreicher technischer Mängel nicht. Im Ergebnis wurden die kleinen Handwerksbetriebe auf dem Lande bessergestellt, das Stadthandwerk aber benachteiligt, was zu dessen unzureichendem Betriebsergebnis beitrug. 8. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der französischen Munizipalverfassung hatten die städtischen Handwerker jeden Einfluß auf die kommunalen Angelgenheiten verloren. Auch die Revidierte Städteordnung des Jahres 1831 brachte den Meistern wegen des hohen Zensus kaum bessere Chancen, zu Stadtverordneten gewählt zu werden. Wenig später schloß die Einführung des Dreiklassenwahlrechts den größten Teil der Handwerker auch auf staatlicher Ebene weiterhin von der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten aus. 9. Und auch ein handwerkliches Fürsorgesystem der Meister und ihrer Familien konnte nach Auflösung der Zünfte nur mehr rudimentär und an wenigen Orten wieder aufgebaut werden. Die Gemeinden setzten die Möglichkeit der Zwangsmitgliedschaft in den Kassen nicht durch. Und 1869 hob die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes den Versicherungszwang dann auch dort, wo er bestanden hatte, wieder auf.

III. Rückblick

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Faßt man die gesetzgeberischen Aktivitäten, welche die Meister und den Handwerksbetrieb betrafen, zusammen, so fällt zunächst auf, daß dem rechtlichen und organisatorischen Kahlschlag der Franzosenzeit jahrzehntelang kein neuer Aufwuchs folgte. Und als in den Jahren 1845/49 schließlich ein Neuanfang versucht wurde, war dieser nicht wirkmächtig genug, um tragfähige Strukturen hervorzubringen. Denn die Handwerker wandten sich, der ständigen Kontrolle und Bevormundung durch die Obrigkeit müde, bald wieder von den neuen Institutionen ab. Hatte der Gesetzgeber mit seinen Bemühungen um die Gesellen und Lehrlinge mehr Erfolg? Wogen die Widersprüche zwischen der Rechtsordnung und ihrer Umsetzung durch die Verwaltung auf diesem Felde geringer? 10. Ebenso wie im Arbeitsrecht war im Bereich der gewerblichen Ausbildung durch die Beseitigung der Zünfte ein Vakuum entstanden, das wegen der tendenziellen Unanwendbarkeit der entsprechenden Bestimmungen des ALR nach der Wiedereinführung der Kodifikation in Westfalen nicht geschlossen werden konnte. Der Begriff des Lehrlings hatte seine klare Abgrenzung von dem des Dienstboten oder des Gesellen verloren; Streitigkeiten aus dem Lehrverhältnis häuften sich; aufgrund der regellosen Situation verkürzte sich die Lehrzeit, die Qualität der Ausbildung nahm beinahe zwangsläufig ab. Erst mit dem Erlass der Gewerbeordnung im Jahre 1845 strukturierte der Gesetzgeber die Lehrzeit durch Lehrvertrag, förmliche Aufnahmen in das Lehrverhältnis und Einführung einer fakultativen Gesellenprüfung wieder neu. Einen grundsätzlichen Wandel zum Besseren brachte die Gewerbeordnung aber nicht. Es blieb dem revolutionären Impetus des Jahres 1848 vorbehalten, das berufsständische Denken neuerlich zu konstituieren; so motiviert, riefen die Handwerker lautstark nach einer Verbesserung der gewerblichen Ausbildung. In der Tat kam der Gesetzgeber mit der Verordnung vom 9.2.1849 ihren Wünschen nunmehr weit entgegen: Die dreijährige Lehrzeit und die Gesellenprüfung wurden verbindlich vorgeschrieben, Innungs- und Kreisprüfungskommissionen sollten gebildet werden; die Abgrenzung der Gewerbe voneinander stellte man wieder her und traf Vorkehrungen gegen das Entlaufen der Lehrlinge. Mit diesen Vorschriften hatte der Nomothet die Lehre neuerlich zum Fundament der handwerklichen Berufsordnung gemacht. Die Rechtswirklichkeit aber sah durchaus weniger eindrucksvoll aus: Innungen wurden in Westfalen nur in sehr beschränkter Zahl begründet, und die Kommunen und Kreise zeigten an den ihnen neu zugewachsenen Aufgaben kein wirkliches Interesse. So wurden die Vorschriften – insbesondere im Münsterland – weitgehend ignoriert. Gleichwohl besteht aber kein Anlass, die Entwicklung der gewerblichen Ausbildung insbesondere nach der Jahrhundertmitte ausschließlich negativ zu beurteilen. Denn die Zahl der Lehrlinge und Gesellen nahm damals deutlich schneller als die der Meister zu, d. h. die Handwerksbetriebe vergrößerten sich. Damit erhöhte sich der Stellenwert der Handwerkslehre deutlich, und das Kleingewerbe konnte der im westlichen Westfalen in atemberaubendem Tempo wachsenden Industrie ein großes und jedenfalls teilweise auch qualifiziertes Arbeitskräftepotential zur Verfügung stellen. Der unleugbare Aufbruch im beruflichen Bildungswesen jener Jahre entbehrte aber der Dauerhaftigkeit. Unter dem Einfluss des neuerlich wirkmächtig werdenden

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III. Rückblick

liberalen Gedankenguts verloren sowohl der Gesetzgeber als auch die Verwaltung seit Beginn der sechziger Jahre jedes Interesse an den Ausbildungsregelungen für das Handwerk. So war es nur folgerichtig, dass die 1869 in Kraft getretene Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes das geregelte Lehrverhältnis zu einem reinen Privatrechtsverhältnis umschuf und nur noch wenige Schutzvorschriften für Lehrlinge vorsah. Nach der Beseitigung des Prüfungszwanges geschah seitens des Staates für die qualifizierte Ausbildung des Nachwuchses im Handwerk zunächst nichts mehr. Lässt man die verschiedenen, einander abwechselnden Modelle von Abstinenz und Regelung Revue passieren, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass es die durch die dominierenden liberalen Überzeugungen verursachte weitgehende Abwesenheit des Staates war, welche eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung des Leistungsstandards der Handwerker für lange Zeit verhindert hat. Lediglich in den fünfziger Jahren hob sich das Ausbildungsniveau aufgrund der Vorschriften der Jahre 1845/1849, wenngleich nicht übersehen werden kann, dass die Wirklichkeit auch damals noch weit hinter den Intentionen des Gesetzgebers zurückblieb. Denn die Verwaltung war selbst nach der Jahrhundertmitte keineswegs überall willens, die Rechtsnormen auch durchzusetzen, wobei die Bandbreite der Ursachen für diese Abstinenz von der damals regional sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung bis zu den persönlichen Auffassungen und Motivationen der zuständigen Beamten auf Orts- oder Kreisebene reichte. 11. Den Ergebnissen, welche für die praktische Ausbildung gefunden wurden, korrespondieren diejenigen zur theoretischen Fachbildung der Handwerker. Die schon vor Beginn des Reformzeitalters als dringend notwendig erachtete Intensivierung der theoretischen Handwerkerbildung suchte die preußische Verwaltung seit den zwanziger Jahren durch den Ausbau der beruflichen Fortbildung zu erreichen. Von der Intensität des Einsatzes der einzelnen Bezirksregierungen für dieses Schulwesen hing dessen Aufbau ab, und folgerichtig entfaltete es sich in den verschiedenen Landesteilen Westfalens durchaus unterschiedlich. Seine eigentlichen Erfolge errang das Fortbildungsschulwesen im Gebiet der sich früh und umfassend industrialisierenden ehem. Grafschaft Mark. Allein hier konnte ein einigermaßen flächendeckendes Netz von Sonntagsschulen aufgebaut werden, und nur in Südwestfalen erreichte das neue Bildungsangebot in den fünfziger und sechziger Jahren mehr als die Hälfte der Lehrlinge. Ursächlich für diesen Erfolg war das stürmische Wachstum der Industriewirtschaft, welches die Arnsberger Regierung veranlasste, die von außerordentlicher Dynamik angetriebene Entwicklung für den Aufbau des gewerblichen Schulwesens zu nutzen. Betrachtet man aber Westfalen als Ganzes, kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass die Masse der Kleingewerbetreibenden bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts von vertieftem fachtheoretischem Wissen völlig ausgeschlossen blieb. Daher besteht keineswegs Anlass, hinsichtlich der beruflichen Bildung in Westfalen der von Knut Borchardt vertretenen Ansicht, die entscheidenden Veränderungen des Qualifikationsniveaus in Deutschland hätten schon vor der Zeit beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums gelegen, zuzustimmen. Ursächlich für die hinter den Erfordernissen der wirtschaftlichen Entwicklung deutlich zurückbleibenden Fachkenntnisse der Handwerker war der Umstand, dass die effizienten

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Provinzialgewerbeschulen nur für eine äußerst schmale Elite der Gewerbetreibenden Bedeutung gewannen; folgerichtig war vor allem dieser das erhebliche Wachstum der Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu danken. Das vergleichsweise gut ausgebaute Fortbildungsschulwesen im Regierungsbezirk Arnsberg machte sich dadurch verdient, dass der Nachwuchs, der durch diese Schulen ging, als Facharbeiter maßgeblich am Aufbau der Industrie des Ruhrgebietes mitwirkte. Vertieftes berufsqualifizierendes technisches Wissen erwarben breite Schichten der Handwerker dagegen erst, als das Fachschulwesen nach 1873 allgemein aufzublühen begann. Dass Knut Borchardts These von der frühzeitigen Verbesserung des Qualifikationsniveaus in der gewerblichen Wirtschaft als widerlegt gelten kann, ergibt sich einmal mehr aus dem Schicksal der Prüfungsbestimmungen für Bauhandwerker, welche ihre Ziele in Westfalen vollkommen verfehlten. Dieses gänzliche Scheitern folgte nicht zuletzt aus dem irritierenden Umstand, dass Gesetzgeber und Verwaltung jahrzehnte-, gar generationenlang die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf die durchaus eigenständige, sich vom ostelbischen Preußen fundamental unterscheidende Gewerbestruktur Westfalens in kaum verständlichem Maße verkannten. Während die Prüfungspflicht für Bauhandwerker in den preußischen Kernländern auch nach der Beseitigung des Zunftzwanges bestehen geblieben war, hatte der französische Gesetzgeber in seinen „Modellstaaten“ selbst deren schadensgeneigte Tätigkeit von jeder Kontrolle befreit. 1821 erließ Preußen dann für die Bauberufe Prüfungsordnungen, die auch in den Westprovinzen galten. Da sich die große Mehrzahl der dort selbständig tätigen, allein oder mit wenigen Hilfskräften arbeitenden Bauhandwerker aber als außer Stande erwies, die Prüfung zu bestehen, schuf der Gesetzgeber den Status des sog. Flickarbeiters, womit der Typus eines Handwerkers umschrieben wurde, der sein Gewerbe selbständig betreiben konnte, ohne geprüft zu sein. Um die Nachfrage nach Bauleistungen trotz der Prüfungsbestimmungen befriedigen zu können, führten Flickarbeiter und Gesellen zunächst weiterhin selbständig Bauten aus, während sich zu den Examina niemand meldete. Um diesem gesetzwidrigen Zustand ein Ende zu bereiten, versuchte der Oberpräsident Vincke ab 1829 die Bestimmungen energisch durchzusetzen. Doch die wenigen Gesellen, welche sich in der Provinz zur Prüfung meldeten, scheiterten zumeist. Zwar fanden in Westfalen seit 1835 regelmäßig Bauhandwerksprüfungen statt, doch reichte die geringe Zahl der erfolgreich Examinierten bei weitem nicht aus, um von ihnen wenigstens die Neubauten erstellen zu lassen. So blieb den Behörden zunächst nichts anderes übrig, als die Umgehung oder offene Missachtung der Vorschriften zu dulden. Als der seit Jahrzehnten in den Westprovinzen fühlbare Mangel an geprüften Bauhandwerkern in den sechziger Jahren schließlich unerträglich wurde, verstand sich das Ministerium dazu, in zahlreichen Einzelfällen die Ablegung erleichterter Meisterprüfungen zu genehmigen. Das „Notgewerbegesetz“ des Norddeutschen Bundes aus dem Jahre 1868 und die Gewerbeordnung von 1869 setzten die Prüfungsbestimmungen für Bauhandwerker dann nach fast fünf Dezennien ihrer Geltung und faktischen Missachtung in Westfalen außer Kraft. Wesentlich geringere Aufmerksamkeit als dem Prüfungswesen im Baugewerbe wandte der Gesetzgeber der Leistungskontrolle in den übrigen Handwerksberufen

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zu. Nachdem wegen der Zunftlosigkeit Westfalens in diesem Bereich jahrzehntelang keine Examina stattgefunden hatten, führte die Gewerbeordnung des Jahres 1845 die Prüfungspflicht für Handwerker bestimmter Berufssparten ein, die Lehrlinge ausbilden bzw. einer Innung beitreten wollten. Von der neuen Qualifikationsmöglichkeit machten in Westfalen zunächst aber nur wenige Gesellen Gebrauch. Erst unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 trug der Gesetzgeber der Forderung auch der westfälischen Handwerker nach Einführung des allgemeinen Befähigungsnachweises Rechnung. So wurden durch die Verordnung vom 9.2.1849 die Angehörigen von nicht weniger als 79 Handwerksberufen verpflichtet, sich der Gesellen- und ggf. der Meisterprüfung zu unterziehen. Bei jeder Innung sollte eine Kommission zur Abnahme der Prüfungen gebildet werden. Kandidaten, welche einer Innung nicht beitreten wollten, erhielten die Möglichkeit, vor einer sog. Kreisprüfungs-Kommission das Examen abzulegen. Das Urteil über die Bedeutung dieser Prüfungsvorschriften fällt in der Literatur bislang widersprüchlich aus. Festgehalten zu werden verdient für das westfälische Exempel Folgendes: Wegen der geringen Zahl der Innungen in Westfalen erlangten hier nur die Kreisprüfungskommissionen größere Bedeutung. Die Meisterprüfung war in den fünfziger Jahren weitgehend eingeführt, während die Pflicht zur Ablegung der Gesellenprüfung recht häufig umgangen wurde. Signifikant erscheint, dass das Prüfungswesen eigentliche Erfolge nur in den Städten zu erzielen vermochte, während die Bestimmungen auf dem Lande kaum Beachtung fanden. Zu diesem unbefriedigenden Ergebnis trugen wieder einmal viele Ursachen – widersprüchliches Verhalten der Behörden, unzureichender Bildungsstand der Handwerker, die Höhe der Prüfungsgebühren, die Uneinheitlichkeit der Anforderungen, der Mangel an geeigneten Prüfern und andere Missstände mehr – bei. Doch auch aus den Vorschriften selbst ergaben sich Entwicklungen, die das Ansehen des Prüfungswesens nicht eben förderten: So lebten die alten Abgrenzungsstreitigkeiten über die Arbeitsbefugnisse der einzelnen Berufssparten des Kleingewerbes voneinander wieder auf – was wegen der vielen Berufsverbindungen, die für das westfälische Handwerk so typisch waren, als besonders misslich erscheint. Hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr der Gesetzgeber die Gegebenheiten der gewachsenen Gewerbestruktur in den westlichen Provinzen verkannt hatte. Dass der Staat die Interessen der Handwerker nur in dem als unabweisbar empfundenen Maße zu berücksichtigen beabsichtigte, erwies sich, als der Zweck der Verordnung vom 9.2.1849 – nämlich die aufgebrachten Handwerker zu beruhigen – erreicht schien: 1854 wurden die Gesellen aus den Prüfungsgremien entfernt; die Behörden bestimmten seither die Mitglieder der Prüfungskommissionen, und die Verfahren wurden unter staatlicher Aufsicht durchgeführt. Dass diese Abwertung der Mitwirkungsrechte den Prüfungsgedanken unter den Handwerkern naturgemäß nicht eben beförderte, nimmt nicht wunder. So verfiel das Prüfungswesen unter dem Eindruck des erstarkenden Liberalismus spätestens seit der Mitte der sechziger Jahre wieder. Durch die Gewerbeordnung des Jahres 1869 wurden schließlich auch die zugrundeliegenden Vorschriften beseitigt. Faßt man deren Ertrag zusammen, so läßt sich feststellen, daß manche der Normen dort, wo eine bemühte Verwaltung sie umzusetzen suchte, gewisse Erfolge

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zeitigten; doch blieben diese, betrachtet man Westfalen als Ganzes, stets gering, und der Liberalismus der sechziger Jahre zertrampelte auch diese zarten Pflänzchen wieder. Schon die sozio-ökonomischen Bedingungen und wirtschaftsstrukturellen Gegebenheiten der handwerklichen Tätigkeit in Westfalen waren dem Aufbau eines umfassenden und effizienten Ausbildungssystems nicht eben günstig. Die Gesetzgebung schöpfte ihre Möglichkeiten zudem auch nicht aus und die Verwaltung gefiel sich mancherorts in der Obstruktion. Vor allem aber scheiterte die preußische Gesetzgebung zur gewerblichen Ausbildung an dem tiefen Widerwillen der westfälischen Handwerker gegenüber staatlicher Kontrolle und Bevormundung. 12. Mit der Aufhebung der Zünfte waren auch die Gesellenkassen und damit nicht weniger als die soziale Sicherung der Hilfskräfte im Handwerk insgesamt beseitigt worden. Lediglich in Paderborn und Münster wurden bald wieder Gesellenladen errichtet. Da trotz der eindeutigen Regelungen des ALR zumeist auch die Gemeinden die Übernahme der Pflegekosten für erkrankte, mittellose Wandergesellen verweigerten, konnte es zu wirklichen Notständen kommen. Zwar wurden bis zur Jahrhundertmitte in Minden-Ravensberg und der Grafschaft Mark weitere Laden gegründet, doch lehnten die Regierungen die Einführung der ausreichende Einnahmen gewährleistenden Zwangsmitgliedschaft regelmäßig ab. Erst die Gewerbeordnung des Jahres 1845 ermöglichte es den Gemeinden, die Gesellen und Gehilfen durch Ortsstatut zum Beitritt zu den Unterstützungskassen zu verpflichten. Auf Initiative der Regierungen und durch die Stadtverwaltungen gefördert, nahm das Kassenwesen insbesondere in Süd- und Ostwestfalen nun einen ersten Aufschwung. Die Verordnung vom 9.2.1849 schuf für die Laden dann eine wirklich tragfähige Grundlage, indem die Kommunen ermächtigt wurden, die selbständigen Handwerker durch Ortsstatut zur Zahlung von Beiträgen zu den Unterstützungskassen der Gesellen, und zwar bis zur Hälfte des von den Versicherten selbst zu leistenden Beitrags, zu verpflichten und den Meistern auch die Einziehung der Beiträge der Kassenmitglieder aufzuerlegen. Die Regierungen in Arnsberg und Minden nahmen die Intentionen des Gesetzgebers auf und versuchten sie umzusetzen – ein Unterfangen, welches insbesondere in den gerade entstehenden Industrierevieren des westlichen Westfalens und in den größeren ostwestfälischen Städten gelang. Der Gesetzgeber erkannte bald, dass sich das Versicherungswesen flächendeckend nur mittels einer Zwangsregelung durchsetzen ließ. 1854 bestimmte er deshalb, dass die Regierungen die Bedürfnisfrage nunmehr selbst entscheiden und ortsstatutarische Vorschriften über die Errichtung von Kassen anordnen konnten; in der Tat war insbesondere in Ostwestfalen ein erheblicher Aufschwung des Versicherungswesens die Folge der Novellierung. Im Münsterland allerdings bewirkte auch das neue Gesetz nichts. Die Arbeitgeber wurden zumeist nicht zu Beitragszahlungen herangezogen, und die Gesellen wollten sich weder mit ihrer alleinigen Beitragspflicht noch mit der Zwangsmitgliedschaft abfinden. Auch das Festhalten an der berufsspezifischen Struktur der Kassen behinderte deren Erfolg. So blieb auch diese Initiative wiederum Stückwerk. All diese Umstände wirkten zusammen; so dürften selbst in den Jahren des größten Erfolges der Laden und Auflagen weit weniger als die Hälfte der westfäli-

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schen Gesellen versichert gewesen sein. Überhaupt blieben die Kassen zunächst eine temporäre Erscheinung: Als deren gesetzliche Grundlagen in den sechziger Jahren zum Gegenstand heftiger Kritik seitens der Liberalen wurden, zeigten sich bei vielen der eben erst ins Leben gerufenen Einrichtungen schon wieder Auflösungserscheinungen; mit Erlass der Gewerbeordnung des Jahres 1869 endete dann die Zwangsmitgliedschaft und damit auch die Wirksamkeit der meisten Kassen. Im Ergebnis bleibt deshalb festzuhalten: Die staatlichen Aktivitäten, welche das Ziel verfolgten, ein funktionstüchtiges System sozialer Sicherheit für die Gesellen zu schaffen, zeichneten sich durch erstaunliche Kurzatmigkeit aus; nicht einmal eine funktionsfähige Krankenversicherung für alle Gesellen konnte in Westfalen durchgesetzt werden. Hierfür waren Versäumnisse des Gesetzgebers, die Spezifika der Gewerbe- und Sozialstruktur in der Provinz, aber auch die ganz unterschiedlichen Interessen der Behörden in den einzelnen Regionen Westfalens in je eigener Weise verantwortlich. So liegt die bleibende Bedeutung der Sozialgesetzgebung der Jahre 1845/49 nicht in der Realisierung ihrer Intentionen, sondern in dem Umstand, dass sie schließlich zum Wegbereiter der modernen Sozialversicherung geworden ist. 13. Merkwürdigerweise hat die rechts- und sozialgeschichtliche Forschung die das jahrhundertealte Phänomen des Gesellenwanderns, des umfassendsten Regelungsgegenstandes des Handwerksrechts überhaupt, betreffenden Vorschriften bislang völlig ignoriert. Dieser Umstand mag daher rühren, dass die Normen, auf welche die Gesellen zu merken hatten, nicht in einem oder jedenfalls in wenigen Gesetzen zu finden sind, sondern einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Regelungsbereiche zugehörten; es bedarf daher einer beträchtlichen Mühe, die dispersen Vorschriften aufzufinden und als Teil eines sinnigen Ganzen zu erkennen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich die Bedeutung des Gesellenwanderns im Untersuchungszeitraum erheblich wandelte: Am Ende der Zunftzeit und in den Jahrzehnten danach besaß die Wanderschaft in Westfalen keinen besonderen Stellenwert, da die Nahwanderung dominierte; im Allgemeinen verlor das Wandern nach der Mitte des 19. Jahrhunderts weiter an Anziehungskraft. In Westfalen aber kam es damals aufgrund des erheblichen Arbeitskräftebedarfs des aufblühenden Ruhrreviers gleichwohl zu einer beträchtlichen Zuwanderung auch von Handwerkern. Daher bliebe eine Untersuchung des Normenkosmos, in dem das westfälische Handwerk sich einzurichten hatte, ganz unvollständig, bedächte man nicht, wie die sich wandelnden Regelungen auf dieses Phänomen einwirkten und inwieweit sie Wirtschaftsordnung und Lebenswelt des Kleingewerbes insgesamt zu beeinflussen oder gar zu bestimmen vermochten. Die Betrachtung der entsprechenden Vorschriften des ALR, welches in Westfalen 1815/18 wieder in Kraft gesetzt wurde, führt kaum weiter, da sie nicht prägend wirkten – und zwar aus dreierlei Gründen: (1) Zum einen hielt die Kodifikation an der Wanderschaft als einer unabdingbaren Ausbildungsstation des jungen Handwerkers fest, während die Obrigkeit die Walz damals bereits für synonym mit Müßiggang, Bettelei und der Verbreitung revolutionären Gedankenguts hielt. (2) Zum anderen waren die Bestimmungen mit dem im Vormärz in der preußischen Wirtschaftspolitik herrschenden Liberalismus nur schwerlich vereinbar. (3) Schließlich blieb den Zeitgenossen unklar, ob die Bestimmungen des ALR zum Gesellenwan-

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dern im zunftlosen Westfalen noch galten oder ob sie obsolet waren. Im Ergebnis herrschte im Bereich des gewerblichen Arbeitsrechts deshalb in der Provinz eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Den wandernden Gesellen entgegenzukommen war im Vormärz nicht die Intention der deutschen Staaten. Im Zusammenhang mit der sog. „Demagogenverfolgung“ in den dreißiger Jahren wurde auch in Westfalen ein Spitzelsystem zur Überwachung der Gesellen etabliert und das Wandern nach Frankreich, Belgien und in die Schweiz untersagt. Zwar hob Preußen die Wanderbeschränkungen unter dem Eindruck der Revolution des Jahres 1848 wieder auf, doch setzten die Behörden, sobald sich die Gefahr verzogen hatte, die Kontrollen in der alten Weise fort. 1831 schon war die Wanderpflicht – welche mangels Zunftordnung in den westlichen Provinzen ohnehin nicht mehr bestanden hatte – auch im übrigen Preußen beseitigt worden. Wegen der schnell zunehmenden Zahl bettelnd umherziehender Handwerker wurde Mittellosen das Wandern generell verboten. Überhaupt sollte die Zahl der Gesellen auf der Walz reduziert werden. Zu diesem Zweck erließ der Gesetzgeber 1833 ein Regulativ, welches neben weiteren Restriktionen bestimmte, dass Wanderpässe nur noch solchen Gesellen ausgestellt werden sollten, für die das Wandern zur Vervollkommnung ihrer beruflichen Fähigkeiten als unerlässlich erachtet wurde. Preußen nötigte die jungen Handwerker, sich auf der Wanderschaft wöchentlich bei zwei verschiedenen Polizeibehörden zu melden; Pass oder Wanderbuch mussten sie an allen Orten, an denen sie sich länger als 24 Stunden aufhielten, der lokalen Polizeibehörde zur Einsicht oder Stempelung vorweisen. Bei längeren Aufenthalten wurde der Pass einbehalten. Diese Bestimmungen, schon von den Zeitgenossen als „Paßquälerei“ bezeichnet, beachtete man allerdings nicht überall. 1835 führte der Gesetzgeber das Wanderbuch ein, um die Kontrollen effizienter zu gestalten. Strafvorschriften sollten die zahlreichen Verstöße gegen die Vorschriften unterbinden. Die Gewerbegesetzgebung der Jahre 1845/49 machte die Erteilung eines Wanderpasses dann vom Bestehen der Gesellenprüfung abhängig; da sich die Prüfung aber nicht sofort durchsetzte, war nur ein weiteres Hindernis für die Wanderschaft geschaffen worden. Erst mit dem Passgesetz des Norddeutschen Bundes aus dem Jahre 1868 gehörte das ständige „Visieren“ der Ausweise auch für die Gesellen in Preußen der Vergangenheit an. Trotz der zahlreichen Behinderungen der Wanderschaft unternahmen es die jungen Handwerker aber immer wieder, an die von ihnen als Rechte betrachteten Gebräuche des Alten Handwerks anzuknüpfen. So versuchten sie, wenngleich nicht mit dauerhaftem Erfolg, die Arbeitsvermittlung selbst zu organisieren und bei sich zu monopolisieren. Ihre Bestrebungen, angesichts des Bettelverbots den traditionellen Anspruch auf das „Geschenk“, ein Zehrgeld, neuerlich durchzusetzen, unterband der Gesetzgeber bald durch strafbewehrte Verbotsbestimmungen. Damit waren die Notsituationen, in welche wandernde Gesellen immer wieder gerieten, aber nicht aus der Welt zu schaffen. So blieb den jungen Leuten auf der Walz nichts anderes übrig, als die Bestimmungen zu umgehen. Da die Gesellen nach den Vorschriften des ALR während Phasen der Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf Leistungen besaßen und auch das Gesetz über die Ver-

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pflichtung zur Armenpflege sie von der Zuwendung der Armenmittel faktisch ausschloss, gewann die Unterstützung durch kirchliche Initiativen, die Kolping-Vereine zumal, erhebliche Bedeutung. Wenngleich die These von der Verelendung weiter Teile der Gesellenschaft im Vormärz jedenfalls für Westfalen so generell nicht zutrifft, wiegt es doch schwer, dass es die liberalen Überzeugungen dem preußischen Staat verwehrten, sich der Ursachen der verbreiteten Missstände anzunehmen. Statt zu helfen, brachte er den Gesellen Misstrauen entgegen und entmündigte sie dauerhaft. Gesetzgeber und Obrigkeit hatten sich eben gewöhnt, die jungen Leute vom Handwerk mit dem Pöbel auf eine Stufe zu stellen. Dem korrespondiert, dass sich der Staat auch die Verbesserung der alltäglichen Lebensumstände der wandernden Gesellen keineswegs angelegentlich sein ließ. Schon in den zwanziger Jahren begannen diese, durch das praktische Bedürfnis veranlasst, deshalb selbst, die mit der Aufhebung der Zünfte verschwundenen Herbergen neu zu errichten. Das Ministerium betrachtete auch diese Aktivitäten zunächst aber mit Misstrauen; nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 änderte sich das zwar, doch blieben die verbreiteten Missstände bestehen. Nicht der Staat, sondern kirchliche Vereine schufen auch hier schließlich Abhilfe. Ebenfalls erst nach der Mitte des Jahrhunderts wurde ein anderes, lange schwärendes Problem gelöst: Seit der Aufhebung der Zünfte waren die Meister nicht mehr zum Unterhalt erkrankter Gesellen verpflichtet; auch die Ortsarmenkassen erklärten sich hierfür unzuständig. 1824 bestimmte das Ministerium zwar, dass die Armenversorgung des Ortes, an dem sich der Geselle aufhielt, für den Bedürftigen aufzukommen hätte; für Ausländer galt diese Regelung aber nicht, so dass Fernwanderer weiterhin schutzlos blieben. Erst 1853 kam es zu einer Übereinkunft der deutschen Bundesstaaten, in der sich diese gegenseitig zur Übernahme der Verpflegungskosten erkrankter Staatsbürger verpflichteten – und damit einen seit Jahrhunderten die erkrankten Wanderburschen traumatisierenden Missstand behoben. Auch in anderen die Gesellen betreffenden Regelungsbereichen verbesserte der Gesetzgeber die Situation nur allmählich. So wurden die Grundsätze der Heranziehung wandernder Gesellen zum Militärdienst konkretisiert und schließlich auch Benachteiligungen jüdischer Gesellen beseitigt. Trotz solcher positiver Ansätze kann man doch nicht umhin festzustellen, dass die das Gesellenwandern betreffende Rechtsetzung den Erfordernissen nicht gerecht wurde und die Lebensumstände der jungen Männer auf der Walz sich nur unzureichend wandelten. Deren ökonomische und soziale Situation interessierte den Gesetzgeber eben weitaus weniger als die Aspekte der öffentlichen Sicherheit. Natürlich überrascht dieser Befund angesichts der damals von wirtschaftsliberalen Überzeugungen weitgehend beherrschten preußischen Politik nicht wirklich. Bemerkenswerter ist, dass eine solche Politik betrieben wurde, obgleich deren Folgen schon für die Zeitgenossen durchaus vorhersehbar waren. So trug der Gesetzgeber bewußt und gewollt maßgeblich dazu bei, dass der althergebrachte Begriff des „Handwerksburschen“ durch eine pejorative Konnotation dauerhaft bemakelt wurde. Zieht man die Summe aus der Vielzahl der die Gesellen und Lehrlinge betreffenden gesetzgeberischen Aktivitäten, so ergibt sich, daß weder auf dem Gebiet der

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theoretischen oder praktischen Ausbildung noch auf dem weiten Feld des Gesellenwanderns oder der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens der Gesellen dauerhaft tragfähige Strukturen geschaffen werden konnten. Von eigentlicher Wirksamkeit oder gar dauerhaftem Erfolg der die Gesellen und Lehrlinge betreffenden Gesetzgebung kann demnach für den Untersuchungszeitraum kaum gesprochen werden. Das Scheitern des Gesetzgebers korrespondiert demjenigen, welches in Band 1 der Untersuchung für das Recht der Meister festgestellt werden mußte. Die dort im zusammenfassenden Rückblick benannten Ursachen des Mißerfolges gelten für das Recht der Gesellen und Lehrlinge in der nämlichen Weise. Jene Ausführungen sind hier demnach stets mitzulesen. Abschließend soll nicht versäumt wurden, die gefundenen Ergebnisse – wenngleich in der denkbar knappsten Form – in den größeren Zusammenhang der rechtshistorischen Forschung zu stellen. (1)Das Zeitalter, über das wir hier gehandelt haben, war ganz unbestritten das Zeitalter der Jurisprudenz. In jenen Jahrzehnten konstruierten die deutschen Rechtswissenschaftler aus dem alten Rechtsstoff der Römer eine neue zivilrechtliche Ordnung – ein Unterfangen, welchem sich der Weltruhm der deutschen Rechtsgelehrsamkeit verdankte. Damals habe, spottete jüngst Benjamin Lahusen, „nach langer und beschwerlicher Reise … der juristische Weltgeist endlich seine Heimat gefunden: Deutschland.“1 Offenkundig übersah der Weltgeist das dortige Handwerksrecht aber ganz und gar. Ausweislich der hier gefundenen Ergebnisse mochte er jedenfalls den Niederungen der Wirtschaft nicht einmal einen flüchtigen Gedanken widmen. Die gelehrte Rechtswissenschaft jener Zeit überließ diese Materie gern und ganz dem Gesetzgeber und der Verwaltung. Angesichts des weitgehenden Scheiterns des Gewerberechts des 19. Jahrhunderts muß aber die Frage gestellt werden, ob dieses Resultat nicht zuletzt auch durch das Desinteresse nicht weniger Rechtsgelehrter der Zeit jedenfalls an spezifischen wirtschaftlichen und sozialen Problemen mit verursacht worden ist. Diese Frage stellen heißt sie bejahen. Denn sollten die Juristen zu allen Zeiten nicht stets die sozialen Implikationen ihres Tuns, aber auch ihres Unterlassens bedenken? (2)Wir haben uns hier mit einem schon im 19. Jahrhundert bedeutsamen, umfassenden Gesetzgebungsgegenstand am Beispiel eines umgrenzten Raumes befaßt und uns damit in die Interessensphäre der Landesgeschichte begeben. Da die Bedeutung des staatlichen Moments als der oder zumindest als ein wichtiger Faktor im Geflecht der die geschichtliche Landschaft konstituierenden Elemente längst unbestritten ist, richtet sich das Augenmerk der Landesgeschichte nicht zuletzt auch auf die Rechtsgemeinschaft, die zu den vornehmsten gesellschaftlichen Kräften zählt, welche eine Geschichtslandschaft zu formen vermögen.2 In diesem Sinne ist die landschaftsbezogene Rechtsgemeinschaft in den Begriff der Geschichtslandschaft und damit in das Interessengebiet der Landesgeschichte zu integrieren. So bleibt noch zu fragen übrig, ob das hier vorgestellte Handwerksrecht und die damit verbundene, auf breiter Quellengrundlage untersuchte Rechtswirklichkeit zur Kon1 2

Lahusen (2013), S. 102 Zur Konzeption der landschaftsbezogenen Rechtsgemeinschaft s. Deter (2003), S. 358–362

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stituierung der Geschichtslandschaft Westfalen Bedeutsames, Bleibendes beizutragen vermögen. In der Tat kann die vorliegende Arbeit Beachtliches zur Darstellung einer landschaftsbezogenen Rechtsgeschichte Westfalens leisten. Es ließ sich nämlich zeigen, daß die bemerkenswerten, nicht zuletzt durch die unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialstruktur bedingten Eigenheiten selbst in dem keineswegs föderal verfaßten Preußen auch im 19. Jahrhundert noch zu unterschiedlicher Rechtsanwendung und einer je eigenen Rechtswirklichkeit führten. So unterschied sich Westfalen im Zeitalter der Industrialisierung und Gewerbefreiheit trotz identischer Rechtsetzung in den hier betrachteten Segmenten der Rechtsordnung noch in vielerlei Hinsicht durchaus deutlich von den anderen preußischen Provinzen, und selbst innerhalb Westfalens machten sich mancherlei Differenzierungen in der Rechtsanwendung und den Rechtsfolgen bemerkbar, die ihren Grund auch in der jahrhundertelangen staatlichen Zersplitterung der späteren Provinz Westfalen gehabt haben dürften. Diese für den Raum Westfalen typischen Ursachen, Anstöße, aber auch Hindernisse hatten eine spezifische Realisierung des preußischen Handwerksrechts oder – nicht selten – dessen obstinate Ignorierung zur Folge. So lehrt das westfälische Beispiel, daß auch der preußische Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts es noch keineswegs vermochte, der als fremd empfundenen Provinz mit ihren spezifischen, durch dort jahrhundertelang fortexistierende Territorien beförderten wirtschaftlichen Besonderheiten, ihren kulturellen Traditionen, aber auch vielfältigen Gemeinsamkeiten den eigenen Stempel aufzudrücken oder sie gar gänzlich umzuformen. Es ließ sich für das weite Feld des Handwerksrechts zeigen, wie wirkmächtig die landschaftsbezogene Rechtsgemeinschaft in den verschiedenen Segmenten der Rechtsordnung doch eigentlich war. Die auf breit angelegter Quellenforschung gegründete Erhellung der Rechtswirklichkeit vermochte – bei aller Unterschiedlichkeit der westfälischen Regionen – vielfältige Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen, welche dem Lande eigentümlich blieben. Wenn das Beispiel dieser Untersuchung die Erforschung und Darstellung landschaftsbezogener Rechtsgeschichten in Deutschland in der Zukunft vielleicht ein wenig zu fördern vermöchte, wäre dem Anliegen ihres Verfassers in der erfreulichsten Weise Genüge getan.

IV ANHANG QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 1. Ungedruckte Quellen a. Bundesarchiv Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141

b. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA/PK) Geheimes Zivilkabinett, jüngere Periode: I. HA, Rep. 89, 2.2.1 Nr. 29967 Staatskanzleramt: I. HA, Rep. 74 K VIII, Nr. 3 I. HA, Rep. 74 K VIII, Nr. 25 Preußisches Ministerium des Innern: I. HA, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1 I. HA, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 3 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 6 Bd. 1 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 7 Bd. 1 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 5 Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe: I. HA, Rep. 120, A V 2 Nr. 4 I. HA, Rep. 120, B I Nr. 3 Bd. 3 I. HA, Rep. 120, B I Nr. 17 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 1a Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 40 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adhib 11, Bd. 8 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adhib 11 Bd. 9 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 Bd. 7 I. HA, Rep. 120 B I 2 Nr. 1 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B III Nr. 3 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 3 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 6 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 6 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 Bd. 4 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 3 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adhib 1 Bd. 1

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IV Anhang

I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adhib 1 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adhib 2 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 1 adhib 3 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 10 adhib I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 10 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 12 adhib I. HA, Rep. 120 B IV 1 Nr. 12 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B V Nr. 9 I. HA, Rep. 120 B V 1 Nr. 9

c. Staatsarchiv Münster (STAM) Königreich Westphalen: Gruppe C Fach 2 Nr. 1 Oberpräsidium: Nr. 2774; Nr. 2774 Bd. 1; Nr. 2787; Nr. 2794; Nr. 2796; Nr. 5156; Nr. 5256; Nr. 5779; Nr. 5781; Nr. 5827; Nr. 6868; VI Nr. 4 Reg. Münster: Nr. 4144; Nr. 5781; Nr. 5779; Nr. 5832 Reg. Arnsberg: B Nr. 5 I; Nr. 56 I; B Nr. 58; I 19 Bd. 1; I 19 Bd. 2, I 19 Nr. 9; I 19 Nr. 19 Bd. 1; I 19 Nr. 19 Bd. 2; I Nr. 553; I Nr. 602 Bd. 1 Landkreise: Kreis Ahaus, Landratsamt Nr. 2063 Kreis Bochum, Landratsamt Nr. 92 Kreis Borken, Landratsamt Nr. 54 Kreis Brilon, Landratsamt Nr. 1358, 1387, 1388, 1444 Kreis Iserlohn, Landratsamt Nr. 636, 637 Kreis Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63 Kreis Siegen, Landratsamt Nr. 1524, 1742, 1743 Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 413, 416, 419, 438, 438 Bd. 1, 439, 458

d. Staatsarchiv Detmold (STAD) Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194 Reg. Minden I U Nr. 574; I U Nr. 683; I U Nr. 684; I U Nr. 685; I U Nr. 754; I U Nr. 755; I U Nr. 777; I U Nr. 778; I U Nr. 780; I U Nr. 781; I U Nr. 787; I U Nr. 788; I U Nr. 791; I U Nr. 794; I U Nr. 795; I U Nr. 798; I U Nr. 845; I U Nr. 840; I U Nr. 1355; I U Nr. 1356 Reg. Minden I G Nr. 753

e. Stadt- und Kreisarchive Stadtarchiv Bielefeld Rep. I A Nr. 23; Rep. I A 1 Nr. 23; Rep. I C Nr. 6; Rep. I C Nr. 45; Rep. I C Nr. 51 Stadtarchiv Dortmund, Best. 2 D-A18; Best. 15 Nr. 552; Best. 15 Nr. 656; Best. 15 Nr. 658; Best. 202, B XIII 125, Bd. 1., Bd. 2, Bd. 3, Bd. 4. Stadtarchiv Lippstadt D 38; Nr. 2971; Verwaltungsbericht 1850/51; Nr. 4445 Stadtarchiv Herford,VII 146; Stadtarchiv Minden, F 188; F 206; F 183. Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19 Stadtarchiv Paderborn A 373 f., A 374a, A 302, A 388a, A 388b, A 373 f., A 373 I, A 388c, A 388d, A 388e, A 389b, 399c, A 389c, A 389d, A 389e, A 399c, A 516d, A 711a, A III 2106

2. Gedruckte Quellen

455

Stadtarchiv Schwerte Nr. 7515; Nr. 7516; Nr. 7517 Stadtarchiv Soest, Akten, Abt. B XIX a 4, Abt. B XIX b 1; Abt. B XIX b 7; Abt. B XIX g 8; Abt. B 19g9; Abt. B XIX g 12; Abt. B XIX g 14; Abt. B XIX g 17; Abt. B XXX II c 5; Abt. B XXX II c 5 a; Abt. XXX II c 6; Abt. XXX II c 9 Bd. 2 Kreisarchiv Warendorf, Stadt Ahlen B 140; Amt Beckum A 499

2. Gedruckte Quellen Altmann, Wilhelm (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur brandenburgisch-preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte: Zum Handgebrauch zunächst für Historiker (2 Teile), Berlin 1897. Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Arnsberg, Jahrgänge 1817, 1818, 1820, 1821, 1822, 1826, 1827, 1828, 1829, 1830, 1831, 1832, 1833, 1834, 1835, 1836, 1837, 1838, 1839, 1841, 1842, 1846, 1848, 1851, 1853, 1854, 1855, 1859, 1868, 1969, 1870. Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Münster, Jahrgänge 1817, 1820, 1821, 1822, 1823, 1824, 1825, 1826, 1827, 1828, 1829, 1830, 1831, 1832, 1833, 1834, 1835, 1837, 1839, 1841, 1843, 1848, 1850, 1851, 1852, 1853, 1855, 1856, 1857, 1859. Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Minden, Jahrgänge 1817, 1819, 1821, 1822, 1824, 1825, 1826, 1827, 1828, 1829, 1832, 1833, 1834, 1835, 1837, 1838, 1841, 1849, 1850, 1852, 1854, 1856, 1866, 1867, 1869. Amtsblatt der Regierung Trier, Jahrg. 1827. Annalen der Preußischen Staats-Verwaltung (Preußische Annalen), hrsgg. v. Geh. Ober-Reg. Rath Karl Albert v. Kamptz, Bd. 1–23, Jg. 1817–1839. Augustin, F. L., Die Königlich-preußische Medicinalverfassung oder vollständige Darstellung aller das Medicinalwesen und die medicinische Polizei in den Königlich Preußischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen und Einrichtungen, 7 Bde., Potsdam 1818–1843 Bergius, Carl Julius (Hrsg.), Ergänzungen zur Gesetzessammlung, enth. die ausschließlich durch Amts-Blätter verkündeten Gesetze und die Provinzial- und Landtagsabschiede. Ein Handbuch für die Justiz- und Verwaltungsbeamten, Breslau 1841. Bergius, Carl Julius, Die preußischen Gewerbegesetze, Leipzig 1857. Bergius, Carl Julius, Preußische Zustände, Münster 1844. Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses über den Entwurf einer Gewerbeordnung und verschiedene diesen Gegenstand betreffende Petitionen und Anträge (Berichterstatter: Die Abg. Veit und Hollandt), in: Verhandlungen der deutschen verfassunggebenden Reichsversammlung zu Frankfurt a. M., hrsgg. durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von dem Abg. K. D. Hassler, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1849, S. 853 ff. Bericht über das Ergebnis der in Vorstand und Ausschuss in Betreff der Begründung von AltenVersorgungsanstalten gepflogenen Berathungen, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1849–1859, hrsgg. v. W. Köllmann und Jürgen Reulecke im Auftrag der Harkort-Gesellschaft, Bd. 1, Hagen 1980, S. 57 ff. (577 ff.). Allgemeine Betrachtungen über die Gewerbetreibenden im Preußischen Staate aus Vergleichung der statistischen Gewerbetabellen der Jahre 1822 und 1846, in: Mittheilungen des Statistischen Bureaus in Berlin, hrsgg. v. F. W. C. Dieterici, 2. Jahrg., Berlin 1849, S. 1–16. Beyträge zum Archiv der medizinischen Polizey und der Volksarzneykunde, Bd. 2, 2. Sammlung, 1790. Böhmert, Victor, Freiheit der Arbeit, Beiträge zur Reform der Gewerbegesetze, Bremen 1858. Borries, v., Statistische Darstellung des Landkreises Herford, Herford 1865. Brockhaus, F. A., Conversations-Lexikon der Gegenwart, 4 Teile in 9 Bänden, Leipzig 1838–1841. Brougham, H., Praktische Bemerkungen über die Ausbildung der gewerbetreibenden Klassen, an Handwerker und Fabrikanten gerichtet. Mit einer Vorrede und Anmerkungen von R. F. Klöden, Berlin 1827.

456

IV Anhang

Brückmann, Karl Heinrich, Altes und neues aus dem Münsterland und seinen Grenzbezirken, Paderborn 1863. Bürgerbuch der Stadt Lippe/Lippstadt, 1576–1810, bearbeitet v. Erich Thurmann, Lippstadt 1983. Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, Bd. 1, hrsgg. v. Institut für MarxismusLeninismus beim Zentralkomitee der SED/Institut für Marxismus-Leninismus der KPdSU, Berlin 1970. Bundestagsdrucksache 17/10986. Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Jahrg. 1867, Jahrg. 1869. Centralblatt für den Handwerksverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen, 4. Jahrg., 1852, Nr. 14 (Münster), 3. April 1852. Novum corpus constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum oder Neue Sammlung Kgl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburgischer, sonderlich in der Chur- und Marck Brandenburg publicierten und ergangenen Verordnungen, Edicten, Mandaten und Rescripten, Bd. 9 (1791–1795), Berlin 1796; Bd. 10 (1796–1800), Berlin 1801. Darstellung der Verhandlungen des ersten westphälischen Landtages und ihrer wesentlichen Resultate, in: Der erste westphälische Landtag, 2. Aufl., Münster 1828. Statistische Darstellung des Kreises Ahaus 1863–1865, Ahaus 1865. Statistische Darstellung des Kreises Meschede 1861–1873, Meschede 1874. Statistische Darstellung des Kreises Minden für die Jahre 1863 bis incl. 1867, Minden 1869. Statistische Darstellung des Stadtkreises Münster, Münster 1863. Statistische Darstellung des Kreises Steinfurt, Steinfurt 1863. Statistische Darstellung des Kreises Wiedenbrück, Münster 1872. Dewald, Johann Eberhard, Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen J. E. D. 1836–1838, ediert von Georg Maria Hofmann, Berlin o. J. (1936). Dieterici, C. F. W., Die statistischen Tabellen des preußischen Staates nach den amtlichen Aufnahmen des Jahres 1843, Berlin 1845. Ditfurth, v., Bericht über die statistischen und sonstigen Verhältnisse sowie über die Resultate der Verwaltung des Kreises Bielefeld für den Zeitraum von 1837 bis inclusive 1859, Bielefeld 1861. Dörnberg, v., Leopold Freiherr v., Statistische Nachrichten über den Kreis Siegen aus den Jahren 1860–1865, Siegen 1865. Droste-Hülshoff, Annette von, Sämtliche Werke in zwei Bänden, hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1996. Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung nach den Aufnahmen vom 3.12.1861 respektive 1862 (= Preußische Statistik in zwanglosen Heften, hrsg. vom Königlichen Statistischen Bureau in Berlin, Bd. 5), Berlin 1864. Fallati, Johannes, Das Vereinswesen als Mittel zur Sittigung der Fabrikarbeiter, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 1, 1844, S. 737–791. Fischer, P. D., Der Unterricht und die Baugewerbeschule im Berliner Handwerkerverein, in: Der Arbeiterfreund Bd. 3 (1865), S. 315–334. Geck, Arnold, Topographisch-historisch-statistische Beschreibung der Stadt Soest, Soest 1825. Gemeindestatistik des Landes Nordrhein-Westfalen, Bevölkerungsentwicklung 1816–1871 (= Beitrag zur Statistik des Landes Nordrhein-Westfalen, Sonderreihe Volkszählung 1961), Düsseldorf 1966, Heft 3d. Gesetz-Bulletin des Großherzogtums Berg 1808–1813, Düsseldorf 1809–1813. Gesetz-Bulletin des Königreichs Westphalen, Cassel 1808–1813. Gesetzes-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten (= Preußische Gesetzes-Sammlung), Jahrgänge 1810, 1811, 1812, 1813, 1814, 1816, 1825, 1827, 1841, 1843, 1845, 1846, 1849, 1850, 1851, 1854, 1861. Westfälisches Gewerbeblatt, Jahrg. 1832, Nr. 2, Nr. 19, Nr. 29, Nr. 45. Allgemeine Gewerbeordnung vom 17.1.1845, in: Gesetz-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten Nr. 2541, (Berlin) 1845, S. 41–78. Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes v. 21. Juni 1869, in: Bundes-Gesetzblatt des Nord-

2. Gedruckte Quellen

457

deutschen Bundes, Jahrg. 1869, S. 245 ff.; auch in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 13. Bd., 1869, S. 114–144. Gräff, Heinrich v. / Rönne, Ludwig / Simon, Heinrich, Ergänzungen und Erläuterungen der Preußischen Rechtsbücher durch Gesetzgebung und Wissenschaft unter Benutzung der Justiz-Ministerial-Akten und der Gesetzes-Revisionsarbeiten, 10 Bde., Breslau 1843; 2. Aufl. und 6 Supplement-Bde., Breslau 1846–1857. Grasso, Statistische Darstellung des Kreises Paderborn für die Jahre 1859, 1860 und 1861, Paderborn 1863. Grasso, Veränderungen der statistischen Darstellung des Kreises Paderborn aus den Jahren 1859– 1861, Paderborn 1869. Gülich, Gustav v., Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus der bedeutendsten handeltreibenden Staaten unserer Zeit (5 Bde.), Jena 1830–1845, Neudruck Bd. 3/4, Graz 1972. Hamelburg, v., Statistische Nachrichten über den Kreis Borken 1862–64, Wesel 1865. Handbuch zum Amtsblatte der Kgl. Regierung in Minden, enthaltend alle in den 22 Jahren, von 1816 bis incl. 1838, durch dasselbe bekannt gemachten, die Gerichtspflege und gesamte Verwaltung betreffenden Allerhöchsten Kabinetts-Ordres, Ministerial- und Provinzial-Verfügungen nebst deren Abänderungen und Erläuterungen nach ihrem materiellen Inhalte in 73 alphabetisch geordneten Kapiteln, systematisch und chronologisch bearbeitet v. C. A. Fischer, Bd. 1, Minden 1839. Der deutsche Handwerker-Congreß und die von demselben entworfene Handwerker- und GewerbeOrdnung für Deutschland nach den Mittheilungen der Tischlermeister Bunkenburg und Kielmannsegge, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1848–1858), hrsgg. von Wolfgang Köllmann und Jürgen Reulecke im Auftrage der Harkort-Gesellschaft, Bd. 1, Hagen 1980, S. 165 ff. Harkort, Friedrich, Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen, Elberfeld 1844. Neu hrsgg. v. Julius Ziehen, Frankfurt 1919. Harkort, Friedrich, Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung, hrsgg. v. Karl-Ernst Jeismann, Paderborn 1969. Harkort, Friedrich, Bemerkungen über die preußische Volksschule und ihre Lehrer (1842), in: Friedrich Harkort, Schriften und Reden zu Volksschule und Volksbildung, hrsgg. v. Karl-Ernst Jeismann, Paderborn 1969. Hasemann, J., Art. „Geselle“, in: Allg. Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, hrsgg. v. J. S. Ersch und J. G. Gerber, Erste Section A-G, 63. Theil, Leipzig 1856, S. 369–434. Hasemann, J., Art. „Gewerbe“, in: Allg. Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, hrsgg. v. J. S. Ersch und J. G. Gerber, Erste Section A – G, 65. Theil, Leipzig 1857, S. 352–406. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsgg. v. Johannes Hoffmeister, 4. Aufl., Berlin 1956. Hornstein, J. M., Das Wandern, eine Lebensfrage des Gewerbestandes, Neuburg a. d. Donau 1857. Hüffer, Johann Hermann, Lebenserinnerungen, Briefe und Aktenstücke, hrsgg. v. Wilhelm Staffens (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde XIX: Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten, Bd. III), Münster 1952. Jacobi, Ludwig Hermann Wilhelm, Das Berg-, Hütten- und Gewerbewesen des Regierungs-Bezirks Arnsberg in statistischer Darstellung, Iserlohn 1857. Jacobi, Ludwig Hermann Wilhelm, Über die Einrichtungen für das äußere geistige und sittliche Wohl der handarbeitenden Klassen in dem Regierungs-Bezirk Arnsberg, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der handarbeitenden Klassen Bd. 4 (N. F. Bd. 1), Berlin 1853/54, S. 97–144. Jacobi, Ludwig, Statistische Nachrichten über die gewerblichen Unterstützungskassen des Regierungsbezirks Arnsberg im Allgemeinen und die Kranken- und Unterstützungskasse für die

458

IV Anhang

Meister und Arbeiter des Hörder Bergwerks- und Hüttenvereins insbesondere, in: Zeitschrift des Central-Vereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, hrsgg. v. Guido Weiß, 3. Bd., Leipzig 1861. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hrsgg. von Bruno Hildebrand, Johannes Conrad, Ludwig Elster u. a., Jena 1863 ff. Kamptz, Karl Albert von, Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung, hrsgg. im Auftrag des kgl. Justizministeriums, Berlin 1820 ff. Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten (= Kants gesammelte Schriften Bd. 6), Berlin 1907. König, Ewald, Statistische Nachrichten des Regierungs-Bezirks Münster, Bd. 2, Münster 1865. Kotelmann, Albert, Die Ursache des Pauperismus unter den deutschen Handwerkern, in: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zur Reichsgründung, hrsgg. von Walter Steitz (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Bd. 36), Darmstadt 1980, S. 264–286. Kotelmann, Albert, Die Ursache des Pauperismus unter den deutschen Handwerkern, T. 2, in: Deutsche Vierteljahres-Schrift Bd. 14 (1851), S. 193–274. Kraus, Antje (Bearb.), Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815–1875, Bd. 1, hrsgg. v. Wolfgang Köllmann, in: Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte, Bd. 2/I, Boppard 1980 Kunth, Besprechung der Schrift von Henry Brougham, Praktische Bemerkungen über die Ausbildung der gewerbetreibenden Classen. An die Handwerker und Fabrikanten gerichtet, Berlin 1827, in: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen, Bd. 7, 1828, S. 64–67. Hochfürstlich Paderbornische Landesverordnungen, T. 1, Paderborn 1785; T. 2, Paderborn 1786; T. 3, Paderborn 1787; T. 4, Paderborn 1788. Langenberg, Al. v., Die Lage des Bocholter Handwerks, in: Stadtarchiv Bocholt, Z-SB XXVI, Nr. 18. Mascher, H. A., Das deutsche Gewerbewesen, von der frühesten Zeit bis auf die Gegenwart, Potsdam 1866. Ministerial-Blatt für die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten, Jahrg. 27, Berlin 1866; herausgegeben im Bureau des Ministeriums des Innern, Jahrg. 10, Berlin 1849. Mittheilungen des Central-Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, II. Lieferung, Berlin 1849, neu herausgegeben von Wolfgang Köllmann und Jürgen Reulecke im Auftrage der HarkortGesellschaft, Bd. 1, Hagen 1980. Mohl, Robert, Art. Gewerbe- und Fabrikwesen, in: Carl von Rotteck und Carl Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, Bd. 6, Altona 1838, S. 827–830. Westfälischer Moniteur (Kassel), Jahrg. 1808. Statistische Nachrichten über den Kreis Coesfeld pro 1862, 1863, 1864, Münster 1865. Statistische Nachrichten über den Kreis Recklinghausen für die Jahre 1862, 1863 und 1864, Dorsten 1865. Nehrlich, Hans-Ludwig, Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jahrhundert, hrsg. von Rainer Lächele, Tübingen 1997. Noeggerath, Ed. Jac., Die Anstalten zur Beförderung der Gewerbetreibenden und des Gewerbebetriebes in Deutschland, Leipzig 1865. Oppenheim, H. B., Die Hilfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen, Berlin 1876. Perthes, Clemens Theodor, Das Herbergswesen der Handwerksgesellen, 1. Aufl. Gotha 1855, 2. Aufl., Gotha 1883. Fürstlich Paderbornische Polizeiordnung von 1665, in: Hochfürstlich Paderbornische Landesverordnungen, 1. T., Paderborn 1785. Plath, C., Gegen das Zunftwesen, Hamburg 1861. Probst, Johann Ernst August, Handwerksbarbarei oder Geschichte meiner Lehrjahre. Ein Beitrag zur Erziehungsmethode deutscher Handwerker, Halle und Leipzig 1790. Rau, Karl Heinrich, Lehrbuch der politischen Ökonomie, Bd. 2: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Heidelberg 1828. Reden, Friedrich Wilhelm, Freiherr v., Erwerbsmangel, Massen-Verarmung, Massen-Verderbnis; deren Ursachen und Heilmittel, in: Zeitschrift des Vereins für deutsche Statistik, hrsgg. von

2. Gedruckte Quellen

459

Freiherr v. Reden, 1. Jahrg., Berlin 1847, S. 118–135; Nachdruck in: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zur Reichsgründung, hrsgg. von Walter Steitz (= Freiherr v. SteinGedächtnisausgabe, Bd. 36), Darmstadt 1980, S. 228 ff. Reden, Friedrich Wilhelm Freiherr v., Erwerbs- und Verkehrsstatistik des Königsstaates Preußen in vergleichender Darstellung, 1. Abt., Darmstadt 1853. Reininghaus, Wilfried/Thurmann, Erich/Walberg, Hartwig, Quellen zur Zunftgeschichte Lippstadts in der frühen Neuzeit, Lippstadt 1993. Reitzenstein, Robert v., Statistische Darstellung des Kreises Recklinghausen, Dorsten 1863. Reitzenstein, Robert v., Statistische Nachrichten über den Kreis Recklinghausen für die Jahre 1862, 1863 und 1864, Dorsten 1865. Riedel, Benjamin, „Gut Gesell“ und du musst wandern. Aus dem Reisetagebuch des wandernden Leinewebergesellen Benjamin Riedel 1803–1816. Bearb. und hrsgg. von F. Zollhofer, Goslar 1938. Riedel, Th., System der preußischen Handwerksgesetzgebung, 2. Aufl., Berlin 1861. Rönne, Ludwig v., Die Gewerbe-Polizei des preußischen Staates, Breslau 1851. Rönne, Ludwig v., Das Unterrichtswesen des Preußischen Staates, 1. Bd., Berlin 1855. Saal, C. Th. B., Wanderbuch für junge Handwerker oder populäre Belehrungen, 2. verm. und verb. Aufl., Weimar 1842, Nachdruck 1985. Sammlung der Präfektur-Verhandlungen des Ruhr-Departements, Jahrg. 1810, 1809/10: Nr. 1–80; 1811: Nr. 81–152, Dortmund 1811. Sammlung der die religiöse und bürgerliche Verfassung der Juden in den königlich preussischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen, Gutachten, Berichte und Erkenntnisse, hrsg. von Jeremias Heinemann, Hildesheim 1976 (Nachdruck der 2. Aufl. Glogau 1831). Sammlung der in der Großherzoglich-Hessischen Zeitung vom Jahre 1811 publicierten Verordnungen und Verfügungen, Darmstadt 1812. Schmalz, Theodor, §§ 674–687, in: Encyclopädie der Cameralwissenschaften, 2. Teil, Staatswissenschaft, II. Gewerbepolizei, D. Fabricationspolizei, Abschnitt 2: Fehler neuer Einrichtungen, Leipzig 1823, S. 313–320. Schmoller, Gustav, Zur Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870. Schorlemer, Freiherr v., Statistische Darstellung des Kreises Lippstadt, Lippstadt 1863. Schröder, C., Die gewerbliche Fortbildungsschule in ihrer Notwendigkeit, zweckmäßigen Organisation und gedeihlichen Wirksamkeit, Berlin 1872. Schulze, Das heutige gewerbliche Lehrlingswesen, 1876. Scotti, J. J. (Hrsg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind (1463–1816), Bd. 1, Th. 1–2, Düsseldorf 1830; Bd. 2, Th. 1–2, Düsseldorf 1831; Bd. 3, Düsseldorf 1831. Spiegel, Freiherr v., Statistik des Kreises Warburg pro 1859–1861, Minden 1863. Die preußische Städteordnung von 1808. Textausgabe mit Einführung, hrsgg. von A. Krebsbach, Stuttgart 1957. Preußische Statistik in zwanglosen Heften, hrsgg. vom Königlichen Statistischen Bureau in Berlin, Bd. 5: Die Ergebnisse der Volkszählung und Volksbeschreibung nach den Aufnahmen vom 3.12.1861 respective 1862, Berlin 1864. Steitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, Darmstadt 1980. Stolleis, Michael, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, Göttingen 1976. Tabellen der Handwerker, der Fabriken sowie der Handels- und Transportgewerbe im Zollverein. Nach den Aufnahmen von 1861 vom Zentralbureau des Zoll-Vereins zusammengestellt, Berlin 1864. Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat für das Jahr 1855, hrsgg. vom Statistischen Bureau zu Berlin, Berlin 1858. Verhandlungen der Präfectur des Ruhr-Departments, 1810.

460

IV Anhang

Verhandlungen der Präfectur des Sieg-Departements 1810, Dortmund 1811. Verhandlungen der deutschen verfassungsgebenden Reichsversammlung zu Frankfurt a. M., hrsgg. durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von dem Abg. K. D. Hassler, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1848/49. Viebahn, Georg v., Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Theil 3: Thierzucht, Gewerbe, politische Organisation, Berlin 1868. Vocke, Karl, Reise-Taschenbuch für junge Handwerker und Künstler. Ein allgemeiner Wegweiser durch ganz Deutschland und die angrenzenden Länder, Eisleben 1853. Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Congresses zur Hebung der gewerblichen Arbeiter, nach den Mittheilungen der Gesellen Koch und Jordan, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1848–1858), hrsgg. von Wolfgang Köllmann und Jürgen Reulecke im Auftrage der Harkort-Gesellschaft, Bd. 1, Hagen 1980, S. 208–221. Weber, Friedrich Benedict, Handbuch der staatswissenschaftlichen Statistik und Verwaltungskunde der preußischen Monarchie, 2. Bde., Breslau 1843. Weiß, W., Beleuchtung der Ursachen des Verfalls der Handwerker, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (= unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1849–1858), hrsgg. von Wolfgang Köllmann und Jürgen Reulecke im Auftrage der HarkortGesellschaft, Bd. 1, Hagen 1980, S. 221, 222. Zedlitz, Freiherr v., Die Staatskräfte der Preußischen Monarchie unter Friedrich Wilhelm III, Berlin 1828.

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3. Darstellungen

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4. Verzeichnis der Tabellen

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4. Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23

Lehrgeld bei dreijähriger Lehrzeit vor bzw. nach Einführung der Gewerbefreiheit in Rtl. ......................................................... 18 Lehrzeiten und Lehrgelder im Regierungsbezirk Arnsberg im Jahre 1855.............................................................................. 37 Lehrlinge des Schneider- und Putzmacherhandwerks in Westfalen 1861 ....................................................................... 46 Die quantitative Entwicklung des preußischen Handwerks ....... 50 Das Zahlenverhältnis zwischen Meistern und Gesellen bzw. Lehrlingen in Preußen von 1816 bis 1843 ......................... 51 Die Handwerker in Preußen im Jahre 1843 .............................. 52 Durchschnittliche Betriebsgrößen des Handwerks und Handwerkeranteil an der Bevölkerung (ohne Bauhandwerk) in Preußen 1822 und 1858 nach Landesteilen ............................ 53 Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung (in v. T.) ..... 53 Anteil der Meister und für eigene Rechnung arbeitenden Handwerker (incl. Flickarbeiter) in v. T. der Bevölkerung ......... 54 Anteil der Hilfskräfte (Gesellen und Lehrlinge) an der Gesamtbevölkerung (in v. T.) ........................................... 55 Schülerzahlen der Sonntagsschule Münster 1829–1847 ............ 73 Schülerzahlen der Handwerkerschulen im Reg.-Bez. Münster 1847–1859 .................................................................... 77 Schülerzahlen der Handwerkerschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1847–1859 .................................................................. 77 Schülerzahlen der Sonntagsschule Münster 1859–1870 ............ 81 Schülerzahlen und Zahl der Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1859–1870 ............................................ 81 Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Minden 1827–1850 ..................................................................... 87 Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Münster 1829–1872 .................................................................... 88 Gewerbliche Fortbildungsschulen im Reg.-Bez. Arnsberg 1830–1856 .................................................................. 89 Gewerbliche Fortbildungsschulen, Schüler und Lehrer im Reg.-Bez. Arnsberg 1847–1870 ............................................ 91 Anteil der Schüler von gewerblichen Fortbildungsschulen an der Gesamtzahl der Gesellen und Lehrlinge in den westfälischen Regierungsbezirken im Jahre 1861 ........... 92 Selbständige Bauhandwerker in v. T. der Einwohner in Preußen ................................................................................... 110 Zahl der selbständig arbeitenden Bauhandwerker in den preußischen Provinzen ..................................................... 116 Zahl der Meisterprüfungen im Baugewerbe im Rgbz. Arnsberg 1840–1852 .................................................................. 127

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IV Anhang

Tabelle 24: Zahl der Meister in prüfungspflichtigen Gewerben, die sich zwischen dem Erlass der Gewerbeordnung v. 17.1.1845 und Ende 1847 niederließen .............................................................. Tabelle 25 Anzahl der Gesellen- und Meisterprüfungen.............................. Tabelle 26 Zahl der nach Lippstadt zuwandernden Schuhmachergesellen (1676–1808).................................................................. Tabelle 27 Zuwanderung der Schuhmachergesellen nach Lippstadt (1676–1808) nach Entfernungszonen ......................................... Tabelle 28 Zuwanderung der Schuhmachergesellen nach Lippstadt (1676–1808) nach Heimatterritorien .......................................... Tabelle 29 Herkunft der 1834 in Lippstadt tätigen Schuhmacher- und Schneidergesellen nach Heimatregionen ............................. Tabelle 30 Prozentuale Verteilung der Berufsgruppen männlicher Auswanderer aus Westfalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.................................................................... Tabelle 31 Geschätztes Arbeitsplatzangebot im Verhältnis zum Arbeitskräftepotential ................................................................. Tabelle 32 Gründungsjahr der Kolpingvereine in Westfalen (bis 1869) ...... Tabelle 33 Errichtung von Gesellenkassen in Westfalen.............................. Tabelle 34 Errichtung von Gesellenladen 1845–1850.................................. Tabelle 35 Unterstützungskassen im Regierungs-Bezirk Arnsberg 1855 und 1868 ..................................................................................... Tabelle 36 Unterstützungskassen im Regierungs-Bezirk Minden 1855 und 1868 ............................................................................ Tabelle 37 Unterstützungskassen im Regierungsbezirk Münster 1857 und 1862 ............................................................................

141 165 192 193 195 197 210 300 332 366 378 394 398 403

v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e

Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0846

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Staatliche Preispolitik und Lebensstandard in Westdeutschland 1948 bis 1963 2006. 333 S. mit 11 Graf., kt. ISBN 978-3-515-08861-9 Torsten Fischer “Y-a-t-il une fatalité d’hérédité dans la pauvreté?” Dans l’Europe moderne les cas d’Aberdeen et de Lyon 2006. 236 S., kt. ISBN 978-3-515-08885-5 Rolf Walter (Hg.) Innovationsgeschichte Erträge der 21. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 30. März bis 2. April 2005 in Regensburg 2007. 362 S. mit 40 Abb. und 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08928-9 Sebastian Schmidt / Jens Aspelmeier (Hg.) Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit 2006. 233 S. mit 14 Graf. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-08874-9 Michel Pauly Peregrinorum, pauperum ac aliorum transeuntium receptaculum Hospitäler zwischen Maas und Rhein im Mittelalter 2007. 512 S. mit 2 fbg. Abb., 40 fbg. Ktn. und CD-ROM., geb. ISBN 978-3-515-08950-0 Volker Manz Fremde und Gemeinwohl Integration und Ausgrenzung in Spanien im Übergang vom Ancien Régime zum frühen Nationalstaat 2006. 360 S. mit 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08969-2 Markus A. Denzel / Hans-Jürgen Gerhard (Hg.) Wirtschaftliches Geschehen und ökonomisches Denken Ausgewählte Schriften von Karl Heinrich Kaufhold aus Anlaß seines 75. Geburtstages 2007. 572 S., geb. ISBN 978-3-515-09017-9 Satoshi Nishida Der Wiederaufbau der japanischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Die amerikanische Japanpolitik und die ökonomischen Nachkriegsreformen in Japan 1942–1952

2007. 474 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09056-8 194. Boris Gehlen Paul Silverberg (1876–1959) Ein Unternehmer 2007. 605 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09090-2 195. Frank Pitzer Interessen im Wettbewerb Grundlagen und frühe Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik 1955–1966 2007. 482 S., kt. ISBN 978-3-515-09120-6 196. Gabriel Zeilinger Lebensformen im Krieg Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekriegs 1449/50 2007. 285 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09049-0 197. Matthias Steinbrink Ulrich Meltinger Ein Basler Kaufmann am Ende des 15. Jahrhunderts 2007. 601 S. mit 1 Farb- und 8 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-09134-3 198. Philipp Robinson Rössner Scottish Trade in the Wake of Union (1700–1760) The Rise of a Warehouse Economy 2008. 392 S. mit 41 Graf., kt. ISBN 978-3-515-09174-9 199. Rolf Walter (Hg.) Geschichte der Arbeitsmärkte Erträge der 22. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 11. bis 14. April 2007 in Wien 2009. 421 S. mit 36 Abb. und 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-09230-2 200. Peter Kramper Neue Heimat Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 1950–1982 2008. 664 S., geb. ISBN 978-3-515-09245-6 201. Markus A. Denzel Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914 2008. 581 S. und 1 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-09292-0 202. Angelika Westermann Die vorderösterreichischen Montanregionen in der Frühen Neuzeit

2009. 384 S., kt. ISBN 978-3-515-09306-4 203. Gudrun Clemen Schmalkalden – Biberach – Ravensburg Städtische Entwicklungen vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit 2009. 393 S., kt. ISBN 978-3-515-09317-0 204. Stefan Krebs Technikwissenschaft als soziale Praxis Über Macht und Autonomie der Aachener Eisenhüttenkunde 1870–1914 2009. 472 S. mit 22 Abb. und 5 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09348-4 205. Markus A. Denzel / Margarete Wagner-Braun (Hg.) Wirtschaftlicher und sportlicher Wettbewerb Festschrift für Rainer Gömmel zum 65. Geburtstag 2009. 438 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09373-6 206. Sabine von Heusinger Die Zunft im Mittelalter Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg 2009. 662 S. mit 5 Abb., 30 Tab., 9 Zeichn. und CD-ROM ISBN 978-3-515-09392-7 207. Verena Postel Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter 2009. 189 S., kt. ISBN 978-3-515-09393-4 208. Beate Sturm ,wat ich schuldich war‘ Privatkredit im frühneuzeitlichen Hannover (1550–1750) 2009. 336 S. mit 46 Abb. und 18 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09431-3 209. Hendrik Mäkeler Reichsmünzwesen im späten Mittelalter Teil 1: Das 14. Jahrhundert 2010. 328 S. mit 13 Ktn., 3 Diagr. und 2 Münztaf., geb. ISBN 978-3-515-09658-4 210. Carla Meyer / Katja Patzel-Mattern / Gerrit Jasper Schenk (Hg.) Krisengeschichte(n) „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive 2013. 432 S. mit 4 Abb. und 1 Tab., kt.

ISBN 978-3-515-09659-1 211. Volker Ebert / Phillip-Alexander Harter Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985) 2010. 278 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09693-5 212. Volker Ebert Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972) 2010. 452 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09692-8 213. Markus A. Denzel / Jan de Vries / Philipp Robinson Rössner (Hg.) Small is Beautiful? Interlopers and Smaller Trading Nations in the Pre-industrial Period Proceedings of the XVth World Economic History Congress in Utrecht (Netherlands) 2009 2011. 278 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09839-7 214. Rolf Walter (Hg.) Globalisierung in der Geschichte Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel 2011. 273 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09851-9 215. Ekkehard Westermann / Markus A. Denzel Das Kaufmannsnotizbuch des Matthäus Schwarz aus Augsburg von 1548 2011. 526 S. mit 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09899-1 216. Frank Steinbeck Das Motorrad Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft 2011. 346 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10074-8 217. Markus A. Denzel Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr (1621–1827) 2012. 341 S. mit 24 Abb. und 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10135-6 218. Bastian Walter Informationen, Wissen und Macht Akteure und Techniken städtischer Au-

ßenpolitik: Bern, Straßburg und Basel im Kontext der Burgunderkriege (1468–1477) 2012. 352 S. mit 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10132-5 219. Philipp Robinson Rössner Deflation – Devaluation – Rebellion Geld im Zeitalter der Reformation 2012. XXXIII, 751 S. mit 39 Abb. und 22 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10197-4 220. Michaela Schmölz-Häberlein Kleinstadtgesellschaft(en) Weibliche und männliche Lebenswelten im Emmendingen des 18. Jahrhunderts 2012. 405 S. mit 2 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10239-1 221. Veronika Hyden-Hanscho Reisende, Migranten, Kulturmanager Mittlerpersönlichkeiten zwischen Frankreich und dem Wiener Hof 1630–1730 2013. 410 S. mit 20 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10367-1 222. Volker Stamm Grundbesitz in einer spätmittelalterlichen Marktgemeinde Land und Leute in Gries bei Bozen 2013. 135 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10374-9 223. Hartmut Schleiff / Peter Konecny (Hg.) Staat, Bergbau und Bergakademie Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert 2013. 382 S. mit 13 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10364-0 224. Sebastian Freudenberg Trado atque dono Die frühmittelalterliche private Grundherrschaft in Ostfranken im Spiegel der Traditionsurkunden der Klöster Lorsch und Fulda (750 bis 900) 2013. 456 S. mit 101 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10471-5 225. Tanja Junggeburth Stollwerck 1839–1932 Unternehmerfamilie und Familienunternehmen 2014. 604 S. mit 92 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10458-6 226. Yaman Kouli Wissen und nach-industrielle Produktion Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956

2014. 319 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10655-9 227. Rüdiger Gerlach Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich Das Volkswagenwerk und der VEB Sachsenring von den 1950er bis in die 1980er Jahre 2014. 457 S. mit 28 Abb. und 42 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10664-1 228. Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte 2014. 289 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10857-7 229. Günther Schulz (Hg.) Arm und Reich Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte 2015. 304 S. mit 18 Abb. und 15 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10693-1 230.1 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbe­ freiheit. Bd. 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810–1869) 2015. 395 S., geb. ISBN 978-3-515-10850-8 230.2 Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbe­ freiheit. Bd. 2 Rechtsgeschichte des unselbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhundert (1810–1869) 2015. 482 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10911-6 231. Gabriela Signori (Hg.) Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) 2014. 126 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10691-7 232. Petra Schulte / Peter Hesse (Hg.) Reichtum im späten Mittelalter Politische Theorie – Ethische Norm – Soziale Akzeptanz 2015. 254 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10943-7 233. Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.) Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? 2015. 274 S. mit 8 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11064-8

Die Wirtschafsgeschichte sieht die entscheidenden Anreize für das Handeln der Wirtschaftssubjekte längst in der Gestaltung der Verfügungsrechte. Daraus ergibt sich für die Rechtsgeschichtsforschung nicht zuletzt die Frage nach der Physiognomie und dem grundstürzenden Wandel eben dieser Verfügungsrechte durch die Agrar- und Gewerbereformen des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinne leisten die beiden Bände einen wesentlichen Beitrag zu der Gesamtschau der rechtlichen Bedingungen und Verhältnisse, unter denen das deutsche Handwerk in der langen Phase des Übergangs von der traditionellen Zunftverfassung zu den Organisations-

und Wirtschaftsformen der Gegenwart lebte und arbeitete. Gerhard Deter unternimmt es, mit den von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Fragestellungen und Methoden die enge Wechselbeziehung zwischen den sozio-ökonomischen Bedingungen der handwerklichen Tätigkeit und den Spezifika einer Rechtsordnung, der das Kleingewerbe unterworfen war, aufzuklären. Im Fokus des Bandes steht das Problem, inwieweit das Handwerksrecht den ökonomischen und sozialen Wandel zu beeinflussen oder gar zu bestimmen vermochte.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10911-6