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German Pages 393 [402] Year 2015
Gerhard Deter
Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810 –1869)
Geschichte Franz Steiner Verlag
VSWG – Beiheft 230.1
Gerhard Deter Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 1
vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet
band 230.1
Gerhard Deter
Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Band 1 Rechtsgeschichte des selbständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810–1869)
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)
Umschlagabbildung: Anders Montan, Schmiede, LWL-Freilichtmuseum Detmold, Foto: Jürgen Liepe Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10850-8 (Print) ISBN 978-3-515-11159-1 (E-Book)
VORWORT Die Beschäftigung mit dem Handwerksrecht im Rahmen meiner von Prof. Dr. Hans-Jürgen Teuteberg angeregten Dissertation zeigte mir, dass die Frage nach den Wirkungen des Handwerksrechts des 19. Jahrhunderts bislang kaum gestellt und noch viel weniger beantwortet worden ist. Den Wunsch, diese Lücke füllen zu helfen, begann ich während der Jahre meiner Mitarbeit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Heinz Holzhauer in Münster zu realisieren. Entscheidend gefördert wurde die Arbeit durch ein großzügiges Habilitationsstipendium der DFG. Meine herausfordernde Berufstätigkeit im Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages verhinderte dann für längere Zeit die Fertigstellung der Arbeit. Vielen ist an dieser Stelle zu danken. Die Jahre in Anspruch nehmende, intensive Beschäftigung mit den Quellenmassen zum Handwerk in den Staatsarchiven Münster und Detmold, dem Archiv Preußischer Kulturbesitz in Merseburg/Berlin sowie zahlreichen Kreis- und Stadtarchiven Westfalens wurde durch kundige, stets hilfsbereite Archivmitarbeiter ermöglicht und erleichtert. Prof. Dr. Rainer Schröder hat dankenswerterweise das Erstgutachten erstellt und wertvolle Hinweise gegeben. Prof. Dr. Günther Schulz danke ich für die Aufnahme in die Beihefte der Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Einen großzügigen Druckkostenzuschuss leistete der Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Für die mühevolle Fertigung der Reinschrift des Manuskripts gebührt Frau Petra Mendel und Frau Gabriele Thöneßen Dank. Zuletzt danke ich meiner Frau, die mir den mentalen Halt gegeben hat, der für das Gelingen eines solchen Werkes vonnöten ist. Der erste Band der Arbeit wurde im Sommersemester 2011 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Später erschienene Literatur wurde nur vereinzelt berücksichtigt. Berlin, im Oktober 2014
Gerhard Deter
INHALT I.
EINLEITUNG .................................................................................................9
A. Gewerbefreiheit und Industrialisierung als Forschungsprobleme der Rechtsgeschichte.......................................10 B. Das Forschungsziel .................................................................................23 1. Die wirtschaftlichen Grundlagen ......................................................23 2. Der Rechtsrahmen ............................................................................25 a. Einflüsse auf die Rechtssetzung .................................................26 b. Die Rechtswirkungen .................................................................27 c. Die rechtshistorische Fragestellung ...........................................29 C. Das Untersuchungsgebiet und der Untersuchungszeitraum ...................32 D. Die Quellenlage ......................................................................................34 E. Das methodische Vorgehen .....................................................................34
II. DAS HANDWERKLICHE ORDNUNGSGEFÜGE: DER ZUSAMMENSCHLUSS SELBSTÄNDIGER HANDWERKER .......37 A. Zünfte in den Grafschaften Wittgenstein ................................................37 B. Die Innungen...........................................................................................40 1. Bestrebungen der Handwerker zur Wiederbelebung von Ämtern und Gilden ....................................................................40 2. Der Entwurf des Gewerbepolizeigesetzes ........................................47 3. Die Gewerbeordnung des Jahres 1845 .............................................49 4. Neue Impulse durch Handwerkervereine .........................................52 5. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 ..............................................59 6. Das Normalstatut ..............................................................................63 7. Die Reaktion der Meister..................................................................70 8. Der Aufbau der Innungen .................................................................73 a. Regierungsbezirk Münster .........................................................73 b. Regierungsbezirk Arnsberg ........................................................75 aa. Soest ...........................................................................................75 bb. Arnsberg .....................................................................................79 cc. Bochum, Volmarstein .................................................................80 dd. Lippstadt .....................................................................................81 ee. Brilon..........................................................................................82 ff. Kreis Wittgenstein ......................................................................84 c. Regierungsbezirk Minden ..........................................................86 aa. Paderborn ...................................................................................86
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Inhalt
bb. Herford .......................................................................................88 cc. Minden .......................................................................................90 9. Der Ertrag .........................................................................................95 10. Das Gesetz vom 15. Mai 1854 .........................................................98 11. Die Minden-Bielefelder Initiative ..................................................102 12. Die hochliberale Phase ...................................................................110 a. Regierungsbezirk Münster .......................................................111 b. Regierungsbezirk Arnsberg ......................................................112 b. Regierungsbezirk Minden ........................................................117 13. Das Ende .........................................................................................123 14. Zusammenfassende Wertung: Die Ursachen des Scheiterns ..........130 C. Die Gewerberäte ...................................................................................135 1. Die Entstehung ...............................................................................135 a. Erste Vorläufer ..........................................................................135 b. Eine neue Initiative...................................................................140 c. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 ......................................141 d. Die Durchführung der Verordnung...........................................145 2. Die Arbeit der Gewerberäte ............................................................153 a. Der Erlass von Ortsstatuten ......................................................153 b. Weitere Aufgaben .....................................................................156 3. Die Konstruktionsmängel des Instituts ...........................................158 a. Die unzureichende Repräsentanz der Handwerker ..................158 b. Die Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten ......................161 4. Der Niedergang...............................................................................165 5. Untauglicher Reformversuch..........................................................169 6. Die Auflösung .................................................................................172
III. DAS NIEDERLASSUNGSRECHT............................................................179 A. Das Stadthandwerk ...............................................................................179 1. Die Übergangszeit ..........................................................................179 2. Das Niederlassungsrecht nach Wiedererrichtung der preußischen Herrschaft .............................................................181 a. Der Widerstand gegen die Niederlassungsfreiheit ...................182 b. Die Reaktion des Staates ..........................................................186 3. Das Einzugsgeld .............................................................................192 4. Eine Bilanz .....................................................................................197 B. Das Landhandwerk ...............................................................................200 IV. DER GEWERBEBETRIEB ........................................................................205 A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen................................................................................205
Inhalt
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1. Die Übergangszeit ..........................................................................205 a. Die Liberalisierung in den Nahrungsmittelhandwerken ..........205 b. Das Ende der Qualitätskontrollen ............................................206 2. Auf der Suche nach dem richtigen Weg – die konzeptionslosen Jahre 1815–1845 ..........................................207 a. Die Nahrungsmitteltaxen..........................................................207 b. Die Qualitätskontrollen ............................................................214 3. Die neue Gewerbeordnung .............................................................216 a. Die Brot- und Fleischtaxen ......................................................216 b. Die Qualitätskontrollen ............................................................219 B. Genossenschaftliche Organisationsformen ...........................................220 1. Die Anfänge des Genossenschaftswesens nach der Aufhebung der Zünfte ......................................................220 a. Der Assoziationsgedanke................................................................220 b. Die Protagonisten ...........................................................................222 2. Der Aufbau des Genossenschaftswesens nach 1849.............................224 a. Kreditgenossenschaften ..................................................................225 b. Sparkassen ......................................................................................229 c. Magazine, Gewerbehallen, Rohstoff- und Produktionsgenossenschaften .........................................................230 d. Das Genossenschaftsgesetz und die weitere Entwicklung .............234 V.
DAS ARBEITSRECHT...............................................................................237 A. Die Übergangszeit.................................................................................237 1. Die Bestimmungen des ALR ..........................................................237 2. Das französische Recht...................................................................240 B. Die Reanimierung des preußischen Rechts ..........................................244 1. Die Wiedereinführung des ALR .....................................................244 2. Unklarheit in der Rechtsanwendung ..............................................246 C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts ..................259 1. Ansätze zu Neuregelungen .............................................................259 2. Die Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 ...................................262 3. Der revolutionäre Impetus ..............................................................268 4. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 ............................................272 5. Das Koalitionsverbot ......................................................................274 6. Der Kontraktbruch ..........................................................................280 7. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes .........................281
VI. DAS STÄDTISCHE UND STAATLICHE FINANZWESEN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DAS KLEINGEWERBE.....................285 A. Das Zollwesen.......................................................................................285
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Inhalt
B. Das Steuerrecht .....................................................................................286 1. Die Zeit der Fremdherrschaft .........................................................286 2. Übergangsregelungen nach dem Ende der französischen Herrschaft .......................................................................................291 3. Das Steuersystem in der preußischen Provinz Westfalen seit 1818 ...................................................................................292 a. Mahl- und Schlachtsteuern .......................................................294 b. Klassensteuer............................................................................296 c. Grundsteuern ............................................................................299 d. Gewerbesteuern ........................................................................299 4. Zusammenfassung ..........................................................................306 VII. DAS HANDWERK IN DER POLITISCHEN UND SOZIALEN UMWELT ......................................................................308 A. DIE POLITISCHE REPRÄSENTATION DES KLEINGEWERBES ....................................................................308 1. Die Städte .......................................................................................308 a. Die Übergangszeit ....................................................................308 b. Die preußische Provinz Westfalen............................................311 2. Die Landgemeinden........................................................................317 a. Die Übergangszeit ....................................................................317 b. Die preußische Provinz Westfalen............................................320 B. DIE SOZIALE SICHERUNG DER MEISTER UND IHRER FAMILIEN .....................................................................324 1. Das Stadthandwerk .........................................................................325 a. Das Ende der korporativen Versorgung....................................325 b. Die „organisationslose“ Zeit: 1813–1845 ................................327 c. Anstöße durch den Gesetzgeber – das Kassenwesen der Meister 1845 – 1854...........................................................331 d. Das Kassenwesen 1854–1869 ..................................................336 e. Die Gewerbeordnung von 1869 ...............................................340 2. Das Landhandwerk .........................................................................341 3. Fazit .............................................................................................342 VIII. RÜCKBLICK ...........................................................................................344 IX.
ANHANG .................................................................................................354
I. EINLEITUNG Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit Ablomb der Erforschung der Sozialgeschichte der Unterschichten, insbesondere der Industriearbeiter, angenommen. Für das besondere Interesse der Historiker am „Volk“ lassen sich gleich mehrere gewichtige Motive nennen:1 Es war eben dieses „Volk“, welches die durch die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts angestoßenen Massenbewegungen trug. Im vergangenen Säkulum setzten die so wirkmächtig gewordenen Ideologeme dann Antriebskräfte frei, die sich in Zerstörungen von nicht gekanntem Ausmaß entluden. Schon dieser Zusammenhang musste die Aufmerksamkeit der Forscher auf die Trägerschichten der zugrunde liegenden Ideen lenken. Aber auch die offenbar unausrottbar fortdauernde Armut und Unterdrückung in der sog. „Dritten Welt“, welche ihre Friedlosigkeit den Wohlstandsregionen inzwischen auf recht drastische Weise zu vermitteln beginnt, provoziert Fragen nach der Art und Weise der Überwindung ähnlicher Zustände in den Industrieländern. Nicht zuletzt sind auch die Industrialisierungsvorgänge der vergangenen Jahrhunderte selbst in die Kritik geraten – was ihnen die Aufmerksamkeit fortschrittsskeptischer Forscher gewiss sein lässt. Mit dem Untergang der Ideologien verschwand auch die einfältige Stilisierung des „Volkes“, dem eine langwährende Opferrolle ebenso wie die Prädestination zum Träger unaufhaltsamen Fortschritts zugeschrieben worden war. Damit gewann eine neue Geschichtsbetrachtung Raum, welche die ganz gewöhnlichen Menschen nicht nur als die von den Entwicklungen Betroffenen und an den Verhältnissen Leidenden, sondern als die zugleich selbständig und reflektiert Handelnden zu erkennen vermag. Dieser Perspektivenwandel hat die Erforschung der frühindustriellen Arbeiterbewegung nochmals nachhaltig gefördert,2 und auch zu den ländlichen Unterschichten sind wichtige Studien vorgelegt worden.3 Die Impulse für die Handwerksgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts waren ebenfalls bemerkenswert4; an vergleichbaren, jedoch durch rechtshistorische Fragestellungen geleiteten Untersuchungen fehlt es für das Zeitalter der Früh- und Hochindustrialisierung aber noch immer fast ganz. Die vorliegende Studie, die sich auf ein regionales Beispiel – dasjenige Westfalens – konzentriert, unternimmt es, diese Lücke zu schließen. 1 2 3 4
Vgl. dazu Mooser (1984), S. 19. S. Thompson (1987), S. 13. Z. B. Mooser (1984). Z. B. sind die Arbeiten von Bräuer, Buchner, Elkar, Kaufhold, Lenger, Reininghaus, Reith, Haupt, Ehmer, Teuteberg, Deter u. a. zu nennen. Im Gegensatz zu den Agrarreformen sind die Beseitigung des Zunftzwanges und die Einführung der Gewerbefreiheit bislang aber kaum untersucht worden; darauf hat u. a. auch schon Haupt (2002), S. 11 hingewiesen
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I. Einleitung
Es fügt sich, dass sie damit einen Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer noch aktuellen Rechtssetzungsdebatte zu leisten vermag: Jüngst erst ist die Handwerksordnung novelliert worden. Nur noch für 41 statt der bis dahin 94 Handwerksberufe gilt der Meisterbrief nunmehr als Zugangsvoraussetzung für die Führung eines Handwerksbetriebes; der Befähigungsnachweis in seiner seit Generationen bestehenden Form verlor seinen Regelcharakter und ist zur Ausnahme geraten5. Die Protagonisten dieser Reform warfen dem früheren Recht vor, es habe vor unliebsamer Konkurrenz geschützt und den Interessen der etablierten Anbieter, nicht aber den Konsumenten gedient, die wirtschaftliche Dynamik verhindert und so von einem mittelalterlichen Verständnis von Marktwirtschaft Zeugnis gegeben. Die Gegner der Novellierung fürchteten dagegen nicht nur um den Verbraucherschutz und die zahlreichen Ausbildungsplätze im Handwerk, sondern sahen ein neues Selbständigenproletariat entstehen. All die Argumente, welche diese eben zurückliegende Debatte bestimmten, wurden schon vor zweihundert nicht anders als vor hundert oder vor fünfzig Jahren hin- und hergewendet. Alle denkbaren Möglichkeiten – vom entschiedensten Zwang bis zur größten Freiheit – erprobte der Gesetzgeber bereits – und verwarf sie schließlich immer wieder, da stets weniger der empirische Befund als der jeweilige Zeitgeist über die Zugangsberechtigung zum selbständigen Gewerbebetrieb entschied. Die Kenntnis vom Erfolg und Scheitern gewerberechtlicher Normen in historischer Zeit könnte die Rationalität der Gesetzgebung befördern und so einmal mehr die Bedeutung rechtsgeschichtlicher Forschung für die Gestaltung des geltenden Rechts nachweisen – eine Überlegung, die allerdings, wie der Verfasser illusionslos festzustellen geneigt ist, theoretischer Natur bleiben dürfte. A. GEWERBEFREIHEIT UND INDUSTRIALISIERUNG ALS FORSCHUNGSPROBLEME DER RECHTSGESCHICHTE Aus der Perspektive der Sozialgeschichte bedeutete das Zeitalter, welches sich zwischen den Revolutionen der Jahre 1789 und 1848 dehnte, für fast das gesamte Europa einen tieferen Einschnitt, als es der Beginn der Neuzeit um 1500 gewesen ist. Betrachtet man den engeren Rahmen Preußens, so lässt sich dasselbe von den Dezennien zwischen den großen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Reichsgründung sagen. Denn erst in jenen sechs Jahrzehnten wurden die aus dem Mittelalter fortexistierenden Institutionen, die ständischen Schranken und ihr Pendant, die Privilegien, welche sich während beinahe eines Jahrtausends zu wesentlichen Charakteristika der alteuropäischen Gesellschaft entfaltet hatten, beseitigt. Zwar war die zur endlichen Auflösung der tradierten Ordnung führende Entwicklung auch in Deutschland bereits durch den aufgeklärten Absolutismus eingeleitet worden. Doch vermochte das 18. Jahrhundert es noch nicht, die im Mittelalter entstandene Agrar-, Gerichts-, Militär- und Wirtschaftsverfassung des alten Europas umzustoßen. Erst im Gefolge der französischen Revolution und des Empire gelang 5
Die Novellierung trat zum 01.01.2004 in Kraft; s. BGBl. I, 2003, Nr. 66, S. 2934.
A. Gewerbefreiheit und Industrialisierung
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es, jene Institutionen hinwegzufegen, denen frühere Jahrhunderte eine konstitutive Bedeutung beigemessen, welche die Zeitgenossen des aufgeklärten Säkulums aber als entbehrlich, ja geradezu als schädlich zu erachten sich gewöhnt hatten. Zu den Säulen der hergebrachten Ordnung hatten die Zünfte gehört. In der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt zählten sie nicht allein zu den für unverzichtbar gehaltenen Elementen städtischer Ordnung; sie waren auch als Träger der handwerklichen Ausbildung und Interessenvertretung sowie der kommunalen Selbstverwaltung nicht hinwegzudenken. Als Garanten der sozialen Sicherung für die Mitglieder der Genossenschaft und deren Angehörigen galten sie ebenfalls. Nicht zuletzt sollten sie die Qualitätsstandards der Waren setzen und auch als Kulturträger fungieren. Trotz dieser Unentbehrlichkeit signalisierenden Aufgabenfülle wurde die Kritik, die Gewerksgenossenschaften stünden dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt im Wege, im ausgehenden 18. Jahrhundert zum Gemeingut. In der Tat ließ sich nicht übersehen, dass die Korporationen die Einführung technischer Neuerungen behinderten, durch Absprachen überhöhte Preise erzwangen, den Wettbewerb beeinträchtigten und – einer Oligarchie nicht unähnlich – einen begrenzten Kreis von Berechtigten bildeten, welche darin übereinstimmten, Außenstehenden den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg unmöglich zu machen. All diese von den Zeitgenossen vielbeklagten „Handwerksmissbräuche“ vermochten im 18. Jahrhundert allerdings nur mehr in begrenztem Umfang Schaden anzurichten, da die Territorien die Manufakturen damals bereits überwiegend zunftfrei organisierten und sich zumeist auch schon ein breites Landhandwerk außerhalb der Zünfte entwickelte. In einem beträchtlichen Teil des Gewerbes war die Zunftfreiheit demnach bereits geltendes Recht oder wurde jedenfalls geduldet. Nichtsdestoweniger führte die wachsende Zahl der Gesellen, denen angemessene Niederlassungsmöglichkeiten in den Städten nicht offen standen, zu Spannungen im Kleingewerbe. Die neueste handwerksgeschichtliche Forschung sucht die Zünfte demgegenüber unter Rückgriff auf die Bürgertumsforschung und die politische Anthropologie als „anpassungsfähige und vielfältige Gebilde“ zu qualifizieren. Dabei stellt sie nicht die Institution selber, sondern die einzelnen Meister und deren Interessen sowie die Formen, in denen sie diese verfolgten, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. So fügt sich die aktuelle Handwerksgeschichtsschreibung in den Rahmen der Mikrogeschichte6. Wenngleich man die zünftigen Institutionen auch noch des ausgehenden 18. Jahrhunderts heute eher als bewegliche, differenziert handelnde Gebilde zu beschreiben geneigt ist, lässt sich doch nicht leugnen, dass die Forderung nach der Befreiung der Wirtschaft aus den alten Fesseln gegen Ende des 18. Jahrhunderts sowohl in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Meinung kaum noch Widerspruch fand.7 Vor allem aber waren es die Wirtschaftstheorie der Physiokraten und, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der Liberalismus, welche die Beseitigung des
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S. Haupt (2002), S. 11. Vgl. dazu Deter, Auftrag oder Überhebung? (2005) sowie unten, S. 35. So zu Recht Kaufhold (1982), S. 74.
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I. Einleitung
Zunftzwanges und die Einführung der Gewerbefreiheit als zukunftweisende Ideen popularisierten. Die endgültige Einführung der Gewerbefreiheit, welche in den deutschen Territorien zumeist in der ersten Hälfte, in manchen Ländern aber auch erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgte, wird in ihrer Wirkung kontrovers beurteilt. Noch immer ist unklar, wie und mit welchen Konvulsionen der Übergang von der traditionellen, durch zahllose Beschränkungen gebundenen Wirtschaftsweise zu einer liberalen Marktwirtschaft bewältigt wurde. Diese Frage blieb vermutlich deshalb bis heute ohne bündige Antwort, weil eine solche, soll sie denn überzeugend sein, spezifisch rechtshistorische ebenso wie typisch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Überlegungen und Vorgehensweisen voraussetzt. Die aus diesem Umstand resultierenden Schwierigkeiten dürften ebenso wie die für die Erforschung der Handwerksgeschichte des 19. Jahrhunderts notwendige Bewältigung von Massenquellen ursächlich dafür sein, dass sich selbst die neueste handwerksgeschichtliche Forschung noch immer auf die frühe Neuzeit konzentriert, während sie sich der Epoche der Reformen und der Industrialisierung nur in geringerem Umfang annimmt.8 Empirische Untersuchungen über die ökonomischen und sozialen Folgen der unter rechtlichen Aspekten in der Tat grundstürzenden Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind bislang ebenfalls erst in ungenügender Zahl vorgelegt worden.9 In der Literatur herrschte lange Zeit die Auffassung vor, dass die Beseitigung der Zwangs- und Bannrechte in den Städten maßgeblich zur Bildung des sog. „Vierten Standes“ beigetragen habe: „In der ersten Phase haben viele Gesellen, die wegen Arbeitsmangels entlassen wurden, die Gewerbefreiheit zum Aufbau einer freilich zumeist sehr ärmlichen ‚Selbständigkeit‘ benutzt, was zur Übersetzung des Handwerks (Unterbeschäftigung, echte und verschleierte Arbeitslosigkeit) und zur ungenügenden Ausnutzung der Arbeitskapazität des einzelnen Betriebes führte; daraus erklärt sich z. T. die Wendung der etablierten Handwerker gegen die Gewerbefreiheit und ihre Forderung nach sozialer Sicherung 1848 sowie das Anwachsen von Bettelei und Landstreicherei“10, behaupteten beispielsweise Jantke/Hilger apodiktisch. Der Siegeszug des Großgewerbes, die Mechanisierung vieler gewerblicher Tätigkeiten, die Verdrängung ganzer Handwerkssparten durch die maschinelle Produktion, der neue Stellenwert des Kapitals und ein bis dahin unbekannter Konkurrenzdruck, das Bevölkerungswachstum, aber auch der angebliche Untergang des handwerklichen Mittelstandes, ein zunehmender Gegensatz zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen, mit einem Wort die Folgen der Industrialisierungsvorgänge sowie zahllose weitere der vielbeschriebenen Übel des Vormärz sollten – nicht zuletzt unter Hinweis auf die vielzitierten Klagen der Zeitgenossen – ihre Ursache in der französischen Gesetzgebung und den von ihr beeinflussten Refor8 9 10
Natürlich gibt es Ausnahmen, so z. B. Wengenroth (1989); Lenger (1986); Lenger (1988). Zu nennen sind Henning (1978), insbesondere S. 176; Fischer, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung (1972), S. 315–337 (321–324); Kaufhold (1982), S. 73–114; Lenger (1988); Deter, Handwerk vor dem Untergang? (2005). Zitiert nach Treue (1975), S. 105. Auch Wilhelm Treue unterstellte, die Entstehung des „Vierten Standes“ sei das Ergebnis der Liberalisierung des Wirtschaftsrechts.
A. Gewerbefreiheit und Industrialisierung
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men in Deutschland haben.11 Auch die Behauptung, das Einkommen vieler Meister und Gesellen sei im Vormärz unter das Existenzminimum gesunken, wurde ohne viel Federlesens mit dem Diktum verbunden, die Einführung der Gewerbefreiheit sei die Ursache dieser beklagenswerten Entwicklung. Ebenso sollte die Zunahme der Gesellenzahlen12 durch die Gewerbefreiheit veranlasst worden sein. Karl Heinrich Kaufhold vertrat demgegenüber die früheren Vorstellungen widersprechende Auffassung, dass die Einführung der Gewerbefreiheit die Zahl der Handwerker „kaum“ beeinflusst habe.13 Neuere Arbeiten legen ebenfalls den Schluss nahe, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks durch die Einführung der Gewerbefreiheit nur wenig tangiert worden ist14. Kann es Aufgabe der Rechtsgeschichte sein, in bislang nur innerhalb der Wirtschafts- und Sozialgeschichte geführte Diskussionen einzugreifen? Unstreitig erscheint, dass bei der Beurteilung der Deregulierung und Dekorporierung, als die der Übergang von der Zunftverfassung zur Gewerbefreiheit zu begreifen ist, juristische Kategorien gefragt sind. Diese Reform stellte eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, welche die wirtschaftenden Menschen in vielen Lebensbereichen zutiefst betraf. Dass es Aufgabe des Juristen ist, die rechtlichen Instrumentarien aufzufinden, zu betrachten und zu beurteilen, durch welche die Gewerbefreiheit eingeführt, entfaltet, eingeschränkt oder modifiziert wurde, versteht sich von selbst. Ob es zudem aber auch seines Amtes ist, die Stoßrichtung der Modernisierungsstrategien zu untersuchen, die juristischen Mittel zur Mobilisierung der verschiedensten Produktionsfaktoren bloßzulegen sowie die Realisierung der diversen Vorschriften im Wirtschaftsleben darzustellen und folglich historische Rechtstatsachenforschung umfänglicher Art zu treiben, erscheint dagegen keineswegs als ebenso selbstverständlich. Es ist zunächst zu fragen, wie die rechts- und die wirtschaftsgeschichtliche Forschung in der Vergangenheit den Einfluss der Rechtssätze auf die Wirtschaftsentwicklung und die Sozialstruktur beurteilt hat. Schon der flüchtige Blick auf die vorhandene Literatur lässt erkennen, dass die in der jüngsten Zeit gepflegte Zurückhaltung der Handwerksgeschichtsschreibung gegenüber rechtshistorischen Fragestellungen und die Scheu der rechtsgeschichtlichen Forschung vor der Auseinandersetzung mit ökonomischen Tatsachen durchaus keine Kontinua sind. Die wechselseitige Beeinflussung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte einer- sowie der Rechtsgeschichte andererseits trug lange Zeit durchaus Früchte. Die einschlägigen zeitgenössischen Streitschriften, Preisfragen und Reformvorschläge des 18. und 19. Jahrhunderts ließen es als ausgemacht erscheinen, dass die unbestrittene Rückständigkeit der gewerblichen Wirtschaft Deutschlands und die daraus resultierende Ver11 12 13 14
So z. B. Schmoller (1918); Jantke/Hilger (1965); zur „Sozialen Frage“ Bajor/Fischer (1967) S. 3 ff.; Pankoke (1970); Tennstedt (1983); Reulecke (1983); Nipperdey (1983), S. 219–248; Nolte (1983); Steindl (1984),S. 31,32. Als Beispiel für viele vgl. Weis (1978), S. 404, 405; Koselleck (1967), S. 605 ff. und Frevert (1984), S. 120. S. Kaufhold (1982), S. 104 ff.; zur Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen vgl. Vogel (1983); s. auch Henning (1978) u. Kaufhold (1982). So schon Schmoller (1870), S. 54; Kaufhold (1982); Lenger (1988), S. 38; Deter (2005).
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I. Einleitung
zögerung der Industrialisierung der europäischen Zentralregionen allein in der damals geltenden Gewerbeverfassung ihre beklagenswerte Ursache fänden. Dementsprechend machte die unübersehbare Fülle der älteren Literatur zur Geschichte insbesondere des mittelalterlichen Handwerks die gewerberechtlichen Entwicklungen zum Hauptanliegen ihrer Betrachtung. Das alles beherrschende Interesse der älteren Darstellungen der Handwerksgeschichte15 galt deshalb den Institutionen. Die Einführung des Denkens in Prozessen in die Wirtschaftsgeschichte, insbesondere die Hinwendung zu den dynamischen Entwicklungen, welche die Institutionen selbst bewegten, war erst das Werk Gustav Schmollers. Dieser große Ökonom erkannte auch, dass die Bedeutung der rechtlich-normativen Gewerbeverfassung für die wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks bis dahin völlig überschätzt worden war. Bereits in seiner 1870 erschienenen, grundlegenden Darstellung „Zur Geschichte des Kleingewerbes im19. Jahrhundert“ hatte er darauf hingewiesen, dass das Gewerberecht nicht den wirtschaftsbestimmenden Einfluss gehabt habe, der allgemein angenommen werde und die Auswirkungen der Gewerbegesetzgebung in der Realität nur schwer aufgezeigt werden könnten – ein zutreffender Schluss, den Schmoller aber in merkwürdiger Selbstvergessenheit in seinen späteren Arbeiten nicht mehr beherzigt hat.16 Es dürften allerdings weniger Schmollers frühe Zweifel an der Gestaltungskraft der Normen als Werner Sombarts Verdikt über die ältere Rechts- und Institutionengeschichte17 gewesen sein, welche die Abkehr von der bis dahin gepflegten staats-, rechts- und institutionengeschichtlich bestimmten Wirtschaftsgeschichte zur Folge hatte. Schon um 1900 lehnte es Sombart im Rückblick auf die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts dezidiert ab, Rechtssätzen entscheidenden Einfluss auf ökonomische Veränderungen zuzumessen: „Wenn man unsere Kompendien der Agrar-, Gewerbe- oder Handelsgeschichte durchliest, so gewinnt es den Anschein, als ob es ebenso viele Etappen in der wirtschaftlichen Entwicklung, ebensoviel entscheidend wichtige Ereignisse für deren Gestaltung gäbe, als neue Gesetze oder Verordnungen erlassen worden sind, während in Wirklichkeit der jeweilige Rechtszustand in einem Lande für außerordentlich viele Gebiete des Wirtschaftslebens ganz und gar belanglos, für andere nur von sekundärer Wichtigkeit ist“.18 Zu den Rechtsänderungen von „wahrhaft grundlegender Bedeutung“ zählte Sombart die Beseitigung der Binnenzollschranken und die Agrarreformen, bezeichnenderweise aber nicht die Einführung der Gewerbefreiheit. Zu diesem Wandel im Urteil über die Wirkkraft der Rechtssätze im ausgehenden 19. Jahrhundert trugen aber auch die allmählich kritischer werdende Haltung der Historiker zum preußischen Staat und die Übernahme von Modellen und Annahmen der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre bei, die sich damals gerade von 15 16 17 18
So die inzwischen weitgehend überholte ältere Literatur: Mascher (1867); Meyer (Bd. 1: 1884, Bd. 2:1888); Rohrscheidt (1898); Schmoller (1898); Roehl (1900); Tyszka(1907); Pribram (1907); Jahn (1910). Vgl. Schmoller (1898), S. 48 f. Sombart (1903), S. 140. Auch Sombart hatte schon darauf hingewiesen, dass die Aufhebung der Zünfte für den „Fortschritt des gewerblichen Kapitalismus … nur verhältnismäßig geringe Bedeutung gehabt“ habe; s. Sombart, a. a. o. Wie Anm. 17.
A. Gewerbefreiheit und Industrialisierung
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der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie gelöst hatte. Denn die Wirtschaftsgeschichte treibenden Adepten Sombarts verstanden diese neuen Methoden auch für ihre historischen Fragestellungen fruchtbar zu machen. Aufgrund solcher Einflüsse wandte sich die wirtschaftsgeschichtliche Forschung dann in immer stärkerem Maße quantitativ-ökonomischen Vorgehensweisen zu. Demgegenüber wurde der rechtlich-institutionelle Bereich zu den externen Rahmenbedingungen gezählt, im Katalog der Forschungsgegenstände herabgestuft und konsequent vernachlässigt.19 Dieser Wandel vollzog sich nicht allein auf dem Gebiet der Handwerksgeschichte, sondern auch in den bedeutenden Bereichen der Industrialisierungsforschung und der Unternehmensgeschichte. Zu den neueren Forschungsansätzen zur Erklärung der Industrialisierungsvorgänge zählt vor allem der zwar häufig rezipierte, inzwischen aber mehr denn je umstrittene Interpretationsentwurf, der sich um den vielzitierten Begriff der sog. „Protoindustrialisierung“ rankt. Diesem Modell zufolge verharrte der Staat in der Frühzeit der Industrialisierung noch in einer bloßen Randposition. Seine gesetzgeberischen, administrativen und gewerbefördernden Funktionen verdienen deshalb nach Auffassung der Vertreter dieses Konzepts auch nur geringe Aufmerksamkeit. Denn die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen werden als zwar wichtige, nichtsdestoweniger aber lediglich exogene Variable betrachtet.20 Auch das Konzept der regionalen Industrialisierung, das Sydney Pollard entwickelt hat, misst der Rolle des Rechtes und des Staates keine zentrale Bedeutung zu. Pollard wandte sich dagegen, dass die wirtschaftsgeschichtliche Forschung das Phänomen der Industrialisierung bis dahin vorwiegend auf der makro-ökonomischen Ebene betrachtet hatte. Tatsächlich sei die Industrialisierung aber viel weniger ein nationaler denn ein regionaler Vorgang gewesen. Als entscheidendes Element zur Durchsetzung neuer Produktionsweisen habe sich der technische Fortschritt erwiesen. In der industriellen Welt hänge das Überleben von Betrieben, Branchen, ja ganzer Regionen vor allem von der technischen Innovationsfähigkeit ab. Ein nachhaltiger Einfluss staatlich-institutioneller – und damit auch rechtlicher – Rahmenbedingungen auf den immerwährenden Überlebenskampf von Branchen und Regionen sei dagegen nicht feststellbar. Pollards Diktum, daß “in the early phases, when the foundations were being laid for the industrial transformation of society, governments were at best irrelevant, and frequently took a negative part in a development, which drew its main driving force from outside the political and governmental sphere”,21 läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Entwicklung der Industrialisierungsforschung hin zu einer rein ökonomischen Betrachtungsweise korrespondierten vergleichbare Strömungen im Bereich der Handwerksgeschichtsschreibung. Hier lässt sich die Abwendung von der traditionellen Rechts- und Institutionengeschichte am Beispiel der Arbeiten Wolfram 19 20 21
Zum Methodenwechsel in der Wirtschaftsgeschichte s. Redlich (1973), S. 244. Schon 1929 hatte Otto Hintze geklagt, die „herkömmliche Wirtschaftsgeschichte“ sei eine „wirtschaftliche Rechtsgeschichte“; zit. nach Reith (1998), S. 78–104 (80). So z. B. Kriedte, Medick, Schlumbohm (1983), S. 90 in einer Replik auf die Kritik von Linde (1980) und Schremmer (1980). So Pollard (1981), Seite VII.
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Fischers besonders eindrucksvoll zeigen: 1955 hatte er sich mit dem Hinweis: „Es ist offensichtlich geworden, dass nicht die technische Entwicklung allein Wirtschaftsstruktur und -ablauf determiniert“, noch intensiv mit der Rechtsordnung des Handwerks beschäftigt.22 Er betonte damals, dass gerade der rechtlichen Komponente, der Wirtschaftsverfassung23 also, eine dem Wirtschaftsverlauf ebenbürtige Bedeutung für das Schicksal des Handwerks zukomme. Und 1961, als er bei seiner Betrachtung der Interaktionen von Staat und Wirtschaft vier für das Wirtschaftsgeschehen zentrale Wirkungsfelder des Staates herausarbeitete, nannte er an erster Stelle den Umstand, dass der Staat in seiner Funktion als Gesetzgeber die Handlungsspielräume der Wirtschaft begrenze.24 Auch sei es eben dieser Staat, der in vielen Bereichen wie der Finanzpolitik, der Gewerbeförderung, dem Bildungswesen und auf dem Felde der Infrastrukturverbesserung als Administrator tätig werde. Wenige Jahre später dagegen bemerkte Fischer plötzlich, dass die Frage nach der Gewerbeverfassung für die wirtschaftliche Situation und die Entwicklung des Handwerks „eigentümlich belanglos“ erscheine.25 Der Sinneswandel dürfte auf die in den sechziger Jahren gerade aufblühende, ausschließlich ökonomisch orientierte Wirtschaftsgeschichte mit ihren ebenso neuen wie beeindruckenden Methoden zurückzuführen sein. Unter dem Einfluss dieser Tendenz leugnete Wilhelm Abel 1966 dann sogar jedes Interesse an der Zunftverfassung, um stattdessen „die Stellung des Handwerks zur Industrie zur beherrschenden Frage“ der künftigen Handwerksgeschichtsschreibung zu erklären.26 In den folgenden Jahrzehnten wurde demgemäss eine Reihe von Untersuchungen zur lokalen und regionalen Entwicklung des Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert vorgelegt, in denen nicht mehr den rechtlichen, sondern den wirtschaftlichen und vor allem den sozialgeschichtlichen Aspekten nachhaltige Aufmerksamkeit geschenkt wurde.27 Den Einfluss der jeweiligen – zünftigen oder freiheitlichen – Gewerbeordnung sah man dagegen unisono als gering an. Die durch die neuen Methoden der Wirtschafts- und Sozialgeschichte geprägten Forschungen ließen die Institutionen völlig außer acht. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Studien von A. Skalweit, K. H. Kaufhold und Wilhelm Abel zu nennen. Letzterer verband die Handwerksgeschichte konsequent mit der Wirtschaftsgeschichtsforschung seiner Zeit.28 22 23 24 25 26 27 28
S. Fischer (1955), S. 15. Hier wird der Begriff „Wirtschaftsverfassung“ im rechtlichen Sinne verstanden. Zu dessen mehrdeutiger Verwendung vgl. Huber (1953), S. 20 ff. S. Fischer, Staat und Wirtschaft (1961); vgl. dazu auch Wischermann (1992), S. 3. Fischer (1972), S. 321. Vgl. Abel (1966), S. 48. Zu den Impulsen der handwerksgeschichtlichen Forschung in den achtziger Jahren s. Fleischmann (1985), S. 339 ff.; Kaufhold (1984), S. 26 ff. Beispielhaft erwähnt werden sollen folgende Arbeiten: Skalweit (1942); Kaufhold (1976), (1978) und (1980); Abel (1970). Erwähnt zu werden verdienen auch die Studien von Stavenhagen (mit K. Aßmann) (1969); Saalfeld (1974) und (1978); Henning (1978); Aßmann (1971); Steinkamp (1970); Lange (1976); diese Untersuchungen lösten die älteren Darstellungen H. A. Maschers (1866), F. Roehls (1900), Gustav Schmollers (1888) und (1898), Kurt von Rohrscheidts (1898), Karl Büchers (1927) und Rudolf Wissells (1929) ab. Auch Friedrich Lütge beschäftigte sich mit der Handwerkswirtschaft vor allem des Mittelalters und regte verschie-
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Diesen Arbeiten gelingt es vollständig zu ignorieren, dass jede Wirtschaftsform ihre Funktionstüchtigkeit einer Vielzahl von Ordnungen und Traditionen verdankt
dene Untersuchungen hierzu an. Richtungweisend wurden aber auch die Forschungen Wolfram Fischers, der die Geschichte des Handwerks eingebunden in die Sozialgeschichte vor allem des 19. Jahrhunderts betrachtete. Seither hat die Zahl der handwerksgeschichtlichen Studien stark zugenommen, wobei wirtschafts-, mehr aber noch sozial- und politikgeschichtliche Zugänge gesucht wurden. Für das 18. Jahrhundert allgemein vgl. z. B. Haenert (1957); Rathke-Köhl (1964); Wiest (1968); Schremmer (1970); Stürmer (1979) und (1982); Bettger (1979); Keller (1981); Habicht (1983); Schultz (1984); Meier (1986); Schultz (1993); Hartinger (2001); Brandt/Buchner (2004); Buchner (2004); Keller/Viertel/Diesener (2008); Buchner/Hoffmann-Rehnitz (2009). Die Geschichte der Zünfte findet neuerdings wieder größtes Interesse. Zu nennen sind Scheschkewitz (1966); Ennen (1971); Kramer (1971); Walker (1971); Krebs (1974); Jeschke (1977); Mitterauer (1979); Oexle (1979); Reininghaus (1979); Friedland (1981); Klötzer (1982); Oexle (1982); Kaufhold (1983), S. 163–218; Birnbaum (1984); Thamer (1984), S. 275–300; Borst (1984), S. 393–332; Schwineköper (1985); Gerteis (1986); Schmidt (1987); Ebeling (1987); Schulze (1987); John (1987); Kieser (1988); Simon-Muscheid (1988); Reith (1988); Otruba (1989); Henkel (1989); Reininghaus (1989); Reith (1990); Czok/Bräuer (1990);Reininghaus (1990); Bräuer (1991); Elkar (1991); Hugger (1991); Bräuer (1992); Ebeling (1992); Bräuer (1993/94); Schultz (1993); Walburg (1993); Haupt (1994); Truant (1994); Huber-Sperl (1995); Jaritz/Sonnleitner (1995); Hardtwig (1997); Neumann (1997); Schultz (1997); Buchhagen (1997); Denzel (1998); Anz (1998); Reith (1998); Haupt (1998); Reith (1999); Brohm (1999); Canzler (1999); Schulz (1999); Schulz/Müller-Luckner (1999); Kaufhold/Reininghaus (2000); Reininghaus (2000); Barnowski-Fecht (2001); Lerche (2001); Werkstetter (2001); Haupt (2002); Walz (2002); Reininghaus (2002); Clasen (2003); Elkar (2003); Buchner (2004); Brandt/Buchner (2004); Plass (2004); Kluge (2007); Schilling (2007); Schmidt (2007); Schmidt (2009); von Heusinger (2009); Strieter (2011). Bemerkenswert sind die Arbeiten zur Zunftgeschichte aus rechtshistorischer Sicht: Proesler (Quellensammlung, 1954), Ennen (1971); Hinkmann (1972); Mohnhaupt (1975); Hof (1983), Peitsch (1985), Schichtel (1986), Deter (1987) und (1990), Ziekow (1992), Schmieder (1993), Gramlich (1994), Nutzinger (1998), Bernert (1998) (Quellensammlung); Elkar (2001); Winzen (2002); Nordloh (2008). Für das 19. Jahrhundert allgemein s. Bergmann (1973) und (1986); Schwarz (1974); Renzsch (1980); Noll (1975); Nipp (1981); Lenger (1986); Lenger (1988); Engelhardt (1984); Sedatis (1979); Hötzel (1968); Gimmler (1972); Spree (1974); Bergmann (1974); Bergmann (1976); Bergmann (1986); Schmidt (1974); Spree (1977); Blackbourn/Eley (1980); Ehmer (1980); Ludwig (1981); Mooser (1982); Simon (1983); Dowe/Offermann (1983); Kaelble (1983); Haupt/ Crossick (1984); Eisenberg (1985); Haupt (1985); Kocka (1986); Schildt (1986); Lenger (1987); Roth (1987); Haupt (1988); Lenger (1988); Puschner (1988); Wengenroth (1989); Haupt (1989); Hahn (1991); Zerwas (1992); Georges (1993); Bickel (1994); Ehmer (1994); Pierenkemper (1994); Conze/Zorn (1994); Hambloch (1997); Reininghaus/Stremmel (1997); Crossick/Haupt (1998); Lenger (1998); Reith (1999), König (2003). Mit der Einführung der Gewerbefreiheit beschäftigten sich Branding (1951); Franck (1971); Henning (1978); Steindl (1981); Kaufhold (1982); Vogel (1983); Steindl (1986); Haupt (1996); Haupt (2002). Die Geschichte der Gesellen und Lehrlinge thematisieren: Schwarz (1975); Renzsch (1980); Zwahr (1981); Conze/Engelhardt (1981); Reininghaus (1981), Grießinger (1981); Bräuer (1982); Jost (1982); Ludwig (1982); Hochstadt (1983); Reininghaus (1983); Grießinger/Reith (1983); Elkar (1983); Saalfeld (1984); Schulz (1985); Grosinski (1985); Grießinger/Reith (1986); Specker (1986); Herzig/Sachs (1987); Ehmer (1988); Reith (1988); Reith (1989); Henkel (1989); Bräuer (1989); Reith (1989); Schulte Beerbühl (1991); Reith/Grießinger/Eggers (1992); Spohn (1993); Ehmer (1994); Krimmer (1994); Schlenkrich (1995); Wiesner-Hanks (1996); Althaus (1997); Wadauer (1998); Reininghaus (1999); Clasen (2002); Ehmer/Buchner
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– eine Betrachtungsweise, die inzwischen merkwürdig irreal erscheint. Der angemessenen Berücksichtigung dieser Aspekte stehen – aus der Sicht der Wirtschaftshistoriker – allerdings in der Tat Hindernisse im Wege: Selbst in den entwickelten Rechtssystemen Europas vermochte man die Regelungsmassen, die in der Vergangenheit häufig nur mündlich tradiert wurden, nicht systematisch zusammenzufassen. Dies gelang den großen Kodifikationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht, und auch heute existiert keine Wirtschaftsverfassung im eigentlichen Sinne. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker steht also immer wieder vor der Aufgabe, sich den rechtlichen und institutionellen Rahmen, in dem die von ihm betrachtete Gesellschaft und ihre Segmente in historischer Zeit lebten und arbeiteten, erst einmal zu erschließen. Vermutlich liegt in den daraus resultierenden Schwierigkeiten einer der Gründe dafür, dass die deutsche Wirtschaftsgeschichte die rechtlichen Einflüsse auf das Wirtschaftsgeschehen lange so weitgehend ausgeblendet hat. Inzwischen aber hat sich eine tiefgreifende Wende vollzogen: Schon in den fünfziger Jahren, angeregt durch Walter Eucken und die neoliberale Schule, wurde in der deutschen Wirtschaftswissenschaft wiederum lebhaft das Problem diskutiert, ob die sozialökonomische Struktur und der Wirtschaftsablauf einer Zeit mehr von den technischen oder den rechtlichen Einflussgrößen bestimmt werden. Diese Debatte war Teil der Auseinandersetzung um die ordnungspolitischen Grundfragen, welche die Anfangsjahre der Bundesrepublik Deutschland prägte. Damals, als es um das Verhältnis von politischer Verfassung, Wirtschaftssystem und Privatrechtsordnung ging, wurde der Begriff der Wirtschaftsverfassung weiterentwickelt. Als Ergebnis der Geistesarbeit dieser spezifisch deutschen Denkschule fand man zu einer systematischen Zuordnung von Wirtschaftssystem und Rechtsordnung,29 welche als „Soziale Marktwirtschaft“ geheißene Wirtschaftsverfassung bekanntlich die liberale Wettbewerbswirtschaft und den sozialen Wohlfahrtsstaat dauerhaft miteinander zu verbinden sucht.30 Dieses System bedarf zu seiner Funktionstüchtigkeit eines starken Staates, der sich einerseits als Hüter des Wettbewerbs versteht und andererseits dem Sozialstaatsprinzip Gestalt und prägende Wirksamkeit zu verlei-
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(2002); Steidl (2003); Fouquet (2003); Häberlein/Jeggle (2004); Wadauer (2005); Bade (2007). Für das 20. Jahrhundert sind z. B. Kosel (1988); Unterstell (1989); Bayer (1992); Scheybani (1996); Teuteberg (2000); Holtwick (2000); Elkar/Mayer (2000) zu nennen. Seit den achtziger Jahren verlagerte sich das Forschungsinteresse an der Handwerksgeschichte ins westliche Ausland; s. dazu mit zahlreichen Literaturhinweisen z. B. Hobsbawm (1964); Crew (1979); Schwarzlmüller (1979); Hochstadt (1981); Werner (1981); Crossick/Haupt (1984); Black (1984); Neufeld (1985/1986); Ammerer (1987); Epstein (1991); Lis u. a. (1994); Lis u. a. Werken (1994); Schultz (1997); Crossick (1997); Kaufhold/Reininghaus (2000); Buchner (2004) (2004) (2001); Bühlmeier/Frei (2005); Eminger (2005); Prak (2006); Epstein/Prak (2008); Lucassen/de Moor/Lutten van Zanden (2008); Fitzsimmons (2010).Weitere Lit.-Hinweise finden sich bei Reith (2007), S. 147–173 (171–173) und Reith (2006), S. 662–667 (667). Untersuchungen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des westfälischen Handwerks im 19. Jahrhundert existieren mit Ausnahme der Studien von Deter (1987), (1990) und (2005) sowie Reininghaus (1991), Reininghaus (2013) und Reekers (1964–1984) nicht. Zum Begriff der Wirtschaftsverfassung s. Mestmäcker (1975), S. 384. Vgl. hierzu die Beiträge in: Mestmäcker (Hrsg.) Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung (1975).
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hen vermag. Der zentrale Stellenwert der Rechtsordnung in diesem Modell ist evident und konnte das Denken der Wirtschaftshistoriker deshalb jedenfalls längerfristig nicht unbeeinflusst lassen. Allmählich begannen die Vertreter der neueren wirtschaftsgeschichtlichen Forschung in der Tat von der Fixierung auf die bloß quantitativ-ökonomische Betrachtungsweise mit ihrem völligen Ignorieren des Einflusses des Staates auf das Wirtschaftsgeschehen abzurücken. So ist der Begriff der Wirtschaftsverfassung auch von den Wirtschaftshistorikern inzwischen für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung fruchtbar gemacht worden31. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert lässt sich in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung Deutschlands auch eine breite Rezeption des in den USA entwickelten „Property-Rights“-Ansatzes feststellen32. Der Begriff „Property-Rights“ meint Verfügungsrechte, welche die Protagonisten dieser Überlegungen zur „entscheidenden Determinanten für wirtschaftliches Wachstum“ erklären. Ähnliche Überlegungen wurden inzwischen auch in Frankreich angestellt und unter dem Begriff der „Konventionen-Theorie“ publiziert33. Diese „Theorie des institutionellen Wandels“ ist von Richard Tilly als Rückbesinnung beschrieben worden, „in der man mit Recht nach dem institutionellen Rahmen fragt, innerhalb dessen Wachstum stattfand und – findet“34. In der Tat lässt sich eigentlich gar nicht übersehen, dass die der Ökonomie und Sozialgeschichte Priorität einräumende Betrachtungsweise allein dem komplizierten wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen der wirtschaftlichen und sozialen Situation einerseits und der Rechtslage andererseits nicht gerecht wird. So drängt sich beispielsweise im Bereich der Handwerksgeschichte die Frage auf, weshalb die Diskussion um die Einführung der Gewerbefreiheit von den Zeit31 32
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Zur Geschichte der Wirtschaftsordnung in Deutschland s. Jäger (1988). Den Entwurf dieser Theorie präsentierten die Wirtschaftshistoriker North und Thomas gemeinsam (1970); s. dazu auch North/Thomas (1971) und (1973) sowie North (1988). Sie verbreiteten ihren Ansatz als Erklärungsmodell für den Erfolg der kapitalistischen Industriegesellschaft in der westlichen Hemisphäre. Dieser Ansatz wurde in Deutschland breit rezipiert. Vgl. dazu Borchardt (1977); Tilly (1977); Hutter (1979); Wischermann (1992) S. 4, 5; Wischermann (1993); Richter (1994); Krug (1995); Butschek (1998); Volckart (1998); Richter/Furubotn (1999); Wischermann/Nieberding (2004); Ellerbrock/Wischermann (2004); Voigt (2009). Die Essenz des Property-Rights-Ansatzes ist folgendermaßen skizziert worden: „Die zentrale Hypothese des Property-Rights-Ansatzes besteht in der Behauptung, dass die Ausgestaltung der Verfügungsrechte die Allokation und Nutzung von wirtschaftlichen Gütern (Ressourcen) auf spezifische und vorhersagbare Weise beeinflußt“, s. Richter (1992), S. 517. „In capsule from our explanation is that changes in relative product and factor prices, initially induced by Malthusian population pressure, and changes in the size of markets induced a set of fundamental institutional changes which channelled incentives towards productivity-raising types of economic activity. By the eighteenth century these institutional innovations and accompanying changes in property rights built productivity changes into the system enabling Western man to finally escape the Malthusian cycle. The so called „Industrial Revolution“ is simply a later surface manifestation of innovative activity reflecting this redirection of economic incentives“, so North/Thomas (1970), S. 1. Vgl. auch North (1981). S. dazu neuerdings Pies/Leschke (2009) und Acemoglu/Robinson (2013). L`Economie des Conventions, in: Revue Economique 40 (1989), Nr. 2, Orleans (1994). Tilly (1977), S. 107 f., hier zitiert nach Wischermann (1993), S. 239–258 (240); dort auch weitere Literaturhinweise. S. z. B. Wehler (1975), S. 8, 11 f.
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genossen mit solchem Engagement geführt worden ist – ein Faktum, welches bei unmaßgeblichem Einfluss der Gewerbeordnung auf die soziale Einordnung der Handwerker allenfalls, wie es denn auch geschieht, durch „Tradition und Gewöhnung“ an die überkommenen Rechtsverhältnisse erklärt werden kann35.Gleichwohl hält es eine ganze Generation von mit der Handwerksgeschichte intensiv befaßten Wirtschafts- und Sozialhistorikern für angemessen, die rechtlichen Aspekte ihres Gegenstandes konsequent zu ignorieren. Zwar wissen sie, wie sich aus dispersen Bemerkungen entnehmen läßt, durchaus um die aus der Phobie vor den Rechtsquellen resultierende Begrenzheit ihrer Forschungsergebnisse36. So forderte Rainer S. Elkar schon 1983: „Die Gruppenkultur des Handwerks baut sich aus ökonomischen und normativen Faktoren auf, deren Gewichtigkeit künftig genauer zu bestimmen sein wird, die aber auf jeden Fall als dynamische Größen zu verstehen sind“; zugleich stellte er fest „daß… Ökonomie und Normensystem konstitutive Strukturelemente sind, über deren Einbettung oder über deren Kausalitätsverhältnisse der Streit geht“.37 Und im selben Jahr noch hielt er es für „notwendig…, vorab auf die rechtlichen Bestimmungen der Wanderschaft…zu sprechen zu kommen.“38 Josef Ehmer bemerkte 1998 illusionslos, „normative Quellen“ seien von der neueren So35 36
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Zur Bedeutung der neuen Ansätze der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung für die Rechtsgeschichte s. Deter (2005), S. 311–324. Weitere Beispiele dafür, daß die Sozialhistoriker die Bedeutung der Rechtsquellen für ihr Sujet durchaus erkennen, sind bald genannt: So erwähnt Reininghaus „vom Gewerberecht her regionenübergreifende Entwicklungen“, so Reininghaus (1997), S. 11–23 (13). Lenger bemerkt, die „ einzelstaatliche Vielfalt der Gewerbegesetzgebung“ habe sich „auch in der Haltung zum Wandern widergespiegelt“. Ursächlich für die Nahwanderung seien „neben den ständigen Kontrollen auch die politisch motivierten Wanderverbote“… gewesen; so Lenger (1988), S. 60. Und Kocka stellte fest: „Die rechtliche Fixierung sozialer Unterschiede war ein charakteristisches Merkmal der ständischen Gesellschaft Alteuropas gewesen. Dazu hat die bis ins einzelne gehende rechtliche Fixierung des sozialen, ökonomischen und in der Lebensführung sich niederschlagenden Unterschiedes zwischen Handwerksmeistern und Gesellen gehört… Auch im 19. Jahrhundert war der Unterschied zwischen Meistern und Gesellen gleichzeitig ein rechtlicher. Entsprechend scharf war er markiert…“; so Kocka (1986), S. 364. Beispielhaft für die um so merkwürdigere Weigerung, sich mit den Rechtsquellen auseinanderzusetzen, sei hier Rainer S. Elkar genannt, der zwar „verstärkte Interdisziplinarität“ in der Handwerksgeschichtsforschung fordert – ein Petitum, dass, wie er selbst feststellt, „kaum noch unter dem Zwang einer theoretischen Begründung ihrer Notwendigkeit“ stehe: „Die Wege der Handwerksgeschichte sind weiter anzulegen und umfangreicher zu befestigen, die Sichtweise ist über die Grenzen der Einzeldisziplinen hinaus zu erweitern“; so Elkar, Fragen und Probleme (1983), S. 5. Bei der Aufzählung der verschiedenen „Sichtweisen“, welche die Handwerksgeschichte bereichern sollen, nennt er dann aber nur „Literaturwissenschaft, Soziologie, Volkskunde oder Wirtschaftswissenschaft“; und wenige Jahre später fordert er trotz des Hinweises auf „die rechtlichen Bestimmungen“ (s. Anm. 38) gleichermaßen: „Interdisziplinarität ist geboten: vor allem zur Volkskunde und Literaturgeschichte, zur Soziologie und Ethnologie sind Brücken geschlagen worden“; so Elkar, Schola Migrationis (1987), S. 87; die Rechtsgeschichte glaubt er hier gänzlich übersehen zu können. Wie Jeggle angesichts dieser Forschungssituation feststellen kann, die Handwerksgeschichte sei „von der Auswertung normativer Quellen beherrscht“, bleibt völlig unerfindlich; so aber Jeggle (2004), S. 20. Elkar, Fragen (1983), S. 16. Elkar, Umrisse … (1983), S. 87.
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zialgeschichte „vollends in Mißkredit“ gebracht worden39, um alsdann aber festzustellen, daß „rechtsgeschichtlich und diskursanalytisch informierte Untersuchungen….“ einen wesentlichen Beitrag zur „Erneuerung der Zunftdiskussion leisten“ könnten.40 Heinz-Gerhard Haupt schließlich bedauerte 2002 – durchaus selbstkritisch –, daß die Vertreter der Handwerksgeschichtsschreibung „juristisch argumentierende und von normativen Quellen ausgehende Studien“ seither „wenig beachtet“ hätten.41 Diese Einsicht blieb seither aber ganz folgenlos. Noch immer meiden die Sozialhistoriker die Rechtsquellen, und auch die Ergebnisse der rechtshistorischen Forschung ignorieren sie weitestgehend. Als Folge dieses Defizites kann man nicht umhin festzustellen, daß die zeitgenössischen, mit dem Handwerk befaßten Historiker jedenfalls für das 19. Jahrhundert kein ausgewogenes Werk, sondern einen Torso erschaffen haben. Die Industrialisierungsforschung dagegen ist längst von der einseitigen Betonung ökonomisch-technischer Standardfaktoren abgerückt. So verweist schon Hubert Kiesewetter in seinem Konzept der regionalen Industrialisierung Deutschlands auf die Bedeutung staatlich-politischer Einflüsse für das Wirtschaftswachstum42. Er misst insbesondere der Gewerbeförderung, dem Ausbau des Bildungswesens und der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Bedeutung zu. Damit geraten eben jene institutionellen Bedingungen des wirtschaftlichen Wachstums in den Blick, welche von der neoklassischen Theorie der Nationalökonomie zu den externen Rahmenbedingungen gezählt und so für lange Zeit marginalisiert worden waren. Folgerichtig wurde der Diskurs zwischen Wirtschaftsgeschichte und Rechtsgeschichte wieder eröffnet. Unterstellt man, dass die moderne Wachstumsgesellschaft tatsächlich erst durch die Gewährung privater PropertyRights heraufgeführt worden ist43, gerät die Beantwortung der Frage nach der Entwicklung und Physiognomie ebendieser Verfügungsrechte zur entscheidenden Voraussetzung wirtschaftshistorischen Forschens. Da die Darstellung des rechtlichen und institutionellen Rahmens wirtschaftlichen Handelns aber genuine Aufgabe des Juristen ist, wächst der Rechtsgeschichtswissenschaft wesentliche Bedeutung für die wirtschaftsgeschichtliche Erkenntnis zu. Wenn die Wirtschaftsgeschichte die entscheidenden Anreize für die Wirtschaftssubjekte nunmehr in der Gestaltung der Verfügungsrechte sieht, so ist dies 39
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Ein Beispiel für die Abwertung der Rechtsquellen bietet Friedrich Lenger, der 1995 feststellte, das „lange Vorherrschen rechtsgeschichtlicher Ansätze in der handwerksgeschichtlichen Forschung“ habe zur Folge gehabt, „daß sie den Blick lange einseitig auf das städtische Zunfthandwerk gerichtet und das Landhandwerk vernachlässigt hat“; so Lenger (1995), S. 3–11 (4). Ehmer (1998), S. 19–77 (40) Haupt (2002), S. 7. Kiesewetter (1980); vgl. auch seine „Industrielle Revolution in Deutschland“ (1989). S. Wischermann/Nieberding (2004), S. 12. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Osteuropa, Russland, China und den Staaten der Dritten Welt zeigt aber, dass diese Theorie schon für andere Kulturkreise als den mitteleuropäischen der Differenzierung bedarf. Zu berücksichtigen ist stets, dass Menschen sich keineswegs nur nach den Regeln der Rechtsordnung richten, sondern ihr Handeln ebenso an einer Vielzahl formloser Beschränkungen orientieren. Zur Kritik an diesem Anstz aufgrund der Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung s. auch die zusammenfassende Schlußbetrachtung., insbes. S 353.
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I. Einleitung
für die Rechtsgeschichtsforschung Anlass genug, sich der Physiognomie und dem grundstürzenden Wandel ebendieser Verfügungsrechte im 19. Jahrhundert anzunehmen, wozu nicht zuletzt die Erhellung der daraus resultierenden Rechtstatsachen, der Rechtswirklichkeit also, zählt. Letzteres gilt umso mehr, als es seitens der Wirtschaftsgeschichte bislang noch weitgehend an empirischen Untersuchungen, welche die verschiedenen Theorieelemente der neuen Institutionenökonomie ausfüllen könnten, fehlt44. Diese geht davon aus, dass die hergebrachten Institutionen des Ancien Régime, die lediglich an einer Verteilung des Erwirtschafteten interessiert gewesen seien, das Wachstum verhindert hätten. Erst als ein neues Geflecht von Verfügungsrechten, zu denen die Protagonisten dieses Ansatzes nicht nur das Privatrecht, sondern ausdrücklich auch das Wirtschaftsrecht zählen, etabliert worden sei, habe sich ein selbsttragendes Wachstum entwickeln können45. Pointiert erklärt Douglass C. North den Kern seiner „Theorie des institutionellen Wandels“: „Effiziente Märkte bedeuten wohlspezifizierte und durchgesetzte Eigentumsrechte“. Als Beispiel für den Übergang von einer „gebundenen“ zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird immer wieder auf den Aufbau neuer wirtschaftlicher Institutionen, initiiert durch die preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, hingewiesen46. Im Mittelpunkt des Interesses stehen neben den Agrar- die Gewerbereformen, die in der Tat eine Abkehr von der bis dahin geltenden Wirtschaftsordnung bedeuteten47. Vor allem ging es den Reformern um die Durchsetzung eines neuen, freiheitlichen Eigentumsbegriffs48, womit ihre Maßnahmen eben denjenigen entsprachen, welche die französische Fremdherrschaft damals in ihren „Modellstaaten“ rechts des Rheines fast zeitgleich ergriff. Vorrangige Aufgabe war es, so ist formuliert worden, „die institutionellen Basisinnovationen einer funktionsfähigen liberalen Wirtschafts- und Sozialverfassung einzuführen und durchzusetzen“49. Dabei unterstellt die „Theorie des institutionellen Wandels“50, dass diese „institutionelle Revolution“51 die intendierten Erfolge tatsächlich zeitigte und die moderne, durch stetiges Wachstum gekennzeichnete Wirtschaftswelt heraufführte. Niemand bestreitet noch, dass die Verfügungsrechte, die Eigentumsordnung zumal und deren Durchsetzung, auf die Effizienz der Wirtschaft maßgeblichen Einfluss haben. Doch gilt das auch für die Kodifizierung des spezifischen Wirtschaftsrechts im 19. Jahrhundert? Hält die Theorie dem empirischen Befund stand? Dies zu prü44 45 46 47 48 49 50 51
Vgl. Wischermann (1993), S. 256. Wischermann/Nieberding (2004), S. 10; auf Seiten der Rechtsgeschichte sind hier Steindl (1981); Richter (2007); Kirchner (2008) zu nennen. Vgl. Wischermann/Nieberding (2004), S. 11; Hesse/Kleinschmidt/Lauschke (2002). Vgl. auch Assmann/Kirchner/Schanze (1993); Richter/Furubotn (2003). Vgl. Wischermann (2004), S. 25. Vgl. Wischermann (2004), S. 57 ff. So § 34 der Geschäfts-Instruktion für die Regierungen in sämtlichen Provinzen v. 26.12.1808, in: Sammlung der für die Kgl. Preußischen Staaten erscheinenden Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27. Oktober 1810, Nr. 64, S. 481–519. So Wischermann (2004), S. 64. So North (1988). So Nieberding (2004), S. 282.
B. Das Forschungsziel
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fen ist, ebenso wie die Anwendung sozial- und mikrogeschichtlicher Ansätze in der Rechtsgeschichte, eines der zentralen Anliegen der folgenden Untersuchung52. B. DAS FORSCHUNGSZIEL Das Vorhaben, welches hier verwirklicht werden soll, lässt sich – konzis natürlich – folgendermaßen zusammenfassen: Die Arbeit sucht einen wesentlichen Beitrag zu der erforderlichen Gesamtschau der rechtlichen Bedingungen und Verhältnisse, unter denen das deutsche Handwerk in der langen Phase des Übergangs von der traditionellen Zunftverfassung zu den Organisations- und Wirtschaftsformen der Gegenwart lebte und arbeitete, zu leisten. Die Untersuchung unternimmt es, mit den von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Fragestellungen und Methoden die enge Wechselbeziehung zwischen den sozio-ökonomischen Bedingungen der handwerklichen Tätigkeit und den Spezifika einer Rechtsordnung, der das Kleingewerbe unterworfen war, aufzuklären53. 1. Die wirtschaftlichen Grundlagen Naturgemäß lässt sich die Frage, weshalb sich das Handwerksrecht im Untersuchungszeitraum so und nicht anders entfaltet hat, nicht rechtsimmanent beantworten. Es muss vielmehr in jedem Einzelfall geklärt werden, welche außerrechtlichen Faktoren die Rechtssetzung veranlasst, modifiziert und beeinflusst haben und in welchem Ausmaß dies geschah. Philosophische Ideen und Strömungen der Geistesgeschichte können bei der Gestaltung wirtschaftsrechtlicher Detailnormen in den Jahrzehnten nach der Einführung der Gewerbefreiheit zumeist nicht als causa movens ausgemacht werden. Rechtsnormen sind eben – ganz schlicht – vor allem Antworten auf reale Probleme. Die Ausgangsfrage nach den Ursachen der rechtlichen Bewegungen im Handwerksrecht verweist deshalb unmittelbar an die Wirtschaftsund Sozialgeschichte54. Nur mit Hilfe ihrer Erkenntnisziele und Methoden lässt 52 53 54
Zu sozial- und mikrogeschichtlichen Fragestellungen und Methoden in der Rechtsgeschichte s. ausführlich Deter, Auftrag oder Überhebung? (2004), S. 311–324. Der hier zugrunde gelegte Handwerksbegriff ist näher erläutert und eingegrenzt in: Deter (1990), S. 18–20. Zur Definition des Handwerksbegriffs vgl. auch Reininghaus (1989), S. 504, 505. Beide Spezialdisziplinen stehen einander, worauf in diesem Zusammenhang hinzuweisen notwendig erscheint, auch in der methodischen Bewältigung ihrer Probleme näher, als der unbefangene Betrachter zunächst glauben mag. Denn nur als Geschichte von Gesetzgebungen, Prozessen, Gerichtsreformen etc. ist die Rechtsgeschichte Ereignisgeschichte. Die Historie der Rechtsinstitutionen, Rechtssätze und rechtswissenschaftlichen Dogmen, aber auch die Geschichte der Rechtsprechung hat dagegen kollektive Zustände und Verhaltensweisen zum Gegenstand, die sich, den Prozessen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ähnlich, der individualisierenden Beschreibung entziehen. Diesem Teil der Rechtsgeschichte ist demnach eine generalisierende Arbeitsweise eigentümlich, die auch die Wirtschaftsgeschichte kennzeichnet.
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I. Einleitung
sich feststellen, vor welchen Ordnungsproblemen der historische Gesetzgeber stand. Da die Kenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung auch für das Herausarbeiten der Rechtswirkungen in dem im folgenden analysierten Bereich unerlässlich ist, ja geradezu eine Schlüsselfunktion einnimmt, war es zunächst erforderlich, einen Überblick über den Zustand der Handwerkswirtschaft in Westfalen im Untersuchungszeitraum zu gewinnen. Die erstmalige Analyse der Wirtschaftsstruktur des westfälischen Handwerks in der Zeit der beginnenden Gewerbefreiheit und Frühindustrialisierung55, die im Zusammenhang mit der hier vorliegenden Darstellung entstand und stets mit zu berücksichtigen ist, trägt nicht nur zum Verständnis ökonomischer Entwicklungen und daraus resultierender Verhaltensweisen der Handwerker bei, sondern vermag auch die Rechtssetzungsinitiativen von Gesetzgeber und Verwaltung auf ihre ökonomisch-politischen Wurzeln zurückzuführen und – durch das Erhellen dieses Bedingungszusammenhangs – das Handwerksrecht eigentlich erst verständlich zu machen. Durch den Rückgriff auf wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Ansätze wird anstelle einer in der Deskription verharrenden Darstellung der Rechts- und Organisationsformen des Handwerks eine zusammenfassende Analyse der tragenden Ordnungsprinzipien des Kleingewerbes in den Jahrzehnten nach Einführung der Gewerbefreiheit gerade in ihren ökonomischen Voraussetzungen und mit ihren zukunftweisenden Wirkungen ermöglicht. Aufgabe der rechtsgeschichtlichen Erforschung des skizzierten Gegenstandes ist es eben, auch die sozial- und wirtschaftspolitischen Bedingungen für die Rechtsentwicklung aufzuzeigen – ein Unterfangen, das angesichts der großen Forschungslücken in diesem Bereich als besonders wichtiges Desiderat erscheint. Es genügt nicht länger, bloß juristische Erscheinungen zu betrachten und den formalen Bestand abstrakter Normen und ihrer Veränderungen zu sichten und zu ordnen; untrennbar damit verbunden werden muss die Analyse der dem Normengebäude zugrundeliegenden ökonomischen Ursachen sozialer Konflikte sowie der jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Interessen – eine Aufgabe, über die allgemeiner Konsens besteht.56 Bislang fehlte es an der Realisierung dieses methodischen Ansatzes. Hierfür dürfte die Furcht, den sicheren – und begrenzten – Boden des eigenen Faches zu verlassen und sich auf fremdem Terrain den dort dräuenden Gefahren auszusetzen, ursächlich sein57. 55 56 57
Gerhard Deter, Handwerk vor dem Untergang? Das westfälische Handwerk im Spiegel der preußischen Gewerbetabellen 1816–1861, Stuttgart 2005. S. Landau (1980), S. 120. Für eine Darstellung der wirtschaftlichen Struktur des Kleingewerbes in Westfalen lagen keine Vorarbeiten vor. Es musste deshalb das statistische Material erstmals gesammelt und ausgewertet werden, um fundierte Erkenntnisse zur ökonomischen Entwicklung des Handwerks im Zeitalter der Frühindustrialisierung zu gewinnen, s. Deter (2005). Die ausführliche Darstellung der wirtschaftlichen Bewegungen im Gesamthandwerk wie in den einzelnen Handwerkszweigen in Westfalen, die aus Raumgründen in einem gesonderten Ban vorgelegt werden musste, gewährt unverzichtbare Einblicke in deren Struktur und lässt auch die für das Zeitalter der Industrialisierung so wichtigen Verschiebungen innerhalb des Gesamtgefüges dieses gerade in der historischen Perspektive bedeutsamen Wirtschaftszweiges erkennen. Dabei geht es aber nicht vorrangig um die Analyse der Entwicklung einzelner Berufe und Branchengruppen, sondern um
B. Das Forschungsziel
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Noch immer ist umstritten, ob nur rechtliche oder auch ökonomische Erklärungen der untersuchten Verhältnisse und Entwicklungen für den Rechtshistoriker Präferenz verdienen. Während Helmut Coing vor einer Überschätzung des Einflusses wirtschaftlicher Faktoren gewarnt hat,58 stellt Uwe Wesel gerade die Priorität ökonomischer Erklärungen heraus.59 Den Königsweg für die rechtshistorische Forschung sucht man leider vergebens.60 Unzweifelhaft sind ökonomische Erklärungen, wie dargelegt, bei Detailuntersuchungen wie der vorliegenden unverzichtbar. Forschungslücken zeigen sich aber gerade dort, wo das Zusammenwirken rechtsund wirtschaftshistorischer Methoden unumgänglich ist. Einen Beitrag zu leisten, diese zu schließen, ist ein wesentliches Anliegen der folgenden Untersuchung. Die Ergebnisse der Synthese rechts- sowie wirtschafts- und sozialhistorischer Fragen und Vorgehensweisen vermögen, so steht es jedenfalls zu hoffen, auch der Industrialisierungsforschung neue Impulse zu vermitteln. Denn das ausgebreitete Quellenmaterial lässt nicht nur Entwicklungstypen einzelner Handwerkszweige im 19. Jahrhundert und die beginnende Anpassung verschiedener Sparten des Kleingewerbes an die Bedingungen der industriellen Welt erkennen, sondern macht auch die Einwirkung der zeitgenössischen Rechtssetzung und der öffentlichen Verwaltung auf diese Vorgänge transparent. 2. Der Rechtsrahmen Grundlage einer juristischen Arbeit ist naturgemäß die Darstellung des Normengefüges. Fixpunkt der folgenden Untersuchung ist die Einführung der Gewerbefreiheit.61 Denn in diesem – jedenfalls aus der rechtlichen Perspektive – grundstürzenden Ereignis kulminierte die lange Phase der Reformen der rechtlichen Voraussetzungen des Produzierens, welche im Ancien régime einsetzte und bis zur Gründerzeit fortdauerte. Der Normenkosmos des Alten Handwerks war zwar mit der Beseitigung der Zunftordnung zerfallen, doch hinterließ die Einführung der Gewerbefreiheit kein langwährendes Vakuum. Die zahlreichen Regelungen, welche durch die Korporationen gesetzt und von staatlichem Recht ergänzt, beschnitten, sanktioniert oder modifiziert worden waren, wollte und konnte der staatliche Gesetzgeber natürlich nicht neu schaffen. Gleichwohl beschäftigten der Zusammenschluss der
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das Schicksal des Handwerks und seines Trägerkreises insgesamt im Industrialisierungsprozess. Auf solcher Grundlage können beispielsweise aktuelle sozialgeschichtliche Fragestellungen wie die nach der Pauperisierung und der Übersetzung des Kleingewerbes, nach dem Wandel des Verhältnisses von Meistern und Gesellen oder der Veränderung der Stellung des handwerklichen Meisterhaushalts für die rechtshistorische Darstellung fruchtbar gemacht werden. Die Berücksichtigung der Wirtschaftsentwicklung des westfälischen Handwerks im Untersuchungszeitraum konnte – und sollte – im Rahmen der o. a. Darstellung (Anm. 55) und dieser Untersuchung selbstverständlich nur insoweit erfolgen, als sie für die hier zu beantwortenden Fragen unerlässlich ist. So Coing (1976), S. 165. Wesel (1974), S. 337–368. So auch Landau (1980), S. 83. Vgl. dazu Anm. 86.
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I. Einleitung
selbständigen Handwerker, das Niederlassungsrecht, der Gewerbebetrieb, das Arbeitsrecht, die soziale Sicherung – all die „klassischen“ Gegenstände des Zunftrechts – den Staat als Nomotheten selbstverständlich auch im Zeitalter der Gewerbefreiheit. Die damals gefundenen Normen stehen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. a. Einflüsse auf die Rechtssetzung Es ist bereits angedeutet worden, dass die Gesetzgebungsmaßnahmen in dem hier untersuchten Segment insbesondere durch Veränderungen62 sozialer, vor allem aber ökonomischer Natur veranlasst waren. Daher soll im Rahmen dieser Studie die in der Rechtsgeschichtsforschung seit jeher gestellte Frage nach den Überzeugungen, die den materiellrechtlichen Regelungen zugrunde lagen, hinter der Klärung des Problems, welchen tatsächlichen Verhältnissen die handwerksrechtlichen Regelungen ihre Existenz verdankten, zurücktreten. Die Beantwortung der Frage nach den sozio-ökonomischen Ursachen, welche die Rechtssetzung in dem hier dargestellten Segment der Rechtsordnung bestimmten, ist ein zentrales Anliegen der Untersuchung. Dieser Aufgabe ist nicht leicht gerecht zu werden, und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen können die Ursachen für das Setzen gesamtstaatlichen Rechts in einer Arbeit, die sich lediglich mit einer Provinz befasst, naturgemäß nicht umfassend oder gar lückenlos erfasst werden, soll der der Arbeit gezogene Rahmen nicht gesprengt werden. Zum anderen sind Rechtsänderungen zumeist nicht monokausal erklärbar. Sie treten im Bereich des Wirtschaftsrechts besonders häufig als Resultat ökonomischer Strukturveränderungen und wissenschaftlichtechnischer Innovationen zugleich auf. Deshalb soll am Beispiel des Untersuchungsgebietes geklärt werden, inwieweit die gesamte, facettenreiche Wirklichkeit die Normsetzung in dem dargestellten Rechtsbereich zu bestimmen vermochte. Das Auffinden, Erläutern und Begründen rechtlicher Problemlösungen aus ihrem ökonomischen und sozialen Kontext erschöpft die Aufgabe aber nicht. Denn die Bedingungen, die für die Entstehung einer Norm konstitutiv waren, sind naturgemäß nicht statisch, sondern in steter Bewegung begriffen. Dass dies heute gilt, ist evident; in historischer Zeit war es nicht minder offenkundig. Solche Veränderungen werden vor allem im Bereich der Rechtsanwendung, die sich nur im Rahmen eines begrenzten Raumes untersuchen und darstellen lässt, offenbar. Sie ist der Ort, welcher die Abhängigkeit der Rechtsnorm von ihrem sozialen Kontext am unmittelbarsten aufscheinen lässt. Die Bedeutung eines Rechtssatzes wird gerade auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts im Wege der Auslegung und Anwendung durch den Sachbereich, auf den er sich bezieht, beeinflusst und geprägt. Die sich wandelnden ökonomischen und sozialen Verhältnisse des Handwerks vermögen, wie in der vorliegenden Arbeit wieder und wieder gezeigt werden kann, auf diesem Wege den Gehalt gewerberechtlicher Normen zu modifizieren oder sie gar kraftlos werden und schließlich absterben zu lassen. In der Tat ist der mit einer Regelung intendierte 62
Die politisch-administrativen Grundlagen der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen sind ausführlich dargestellt bei Vogel (1983).
B. Das Forschungsziel
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Zweck auch in Westfalen allzu oft nicht eingetreten oder aber später entfallen.63 Es ist deshalb stets zu fragen, inwieweit die Differenz zwischen Norm und Wirklichkeit im Handwerksrecht durch die ausdrückliche Anpassung des Rechtssatzes an die sich ändernden Verhältnisse oder aber durch dessen allmählichen Funktionswandel aufgelöst wurde. b. Die Rechtswirkungen Ziel einer Arbeit, die sich mit einer Provinz beschäftigt, der gesamtstaatliches Recht übergestülpt wurde, kann es natürlich nicht sein, sich vordringlich mit der Gesetzgebung als Instrument der Politik einer fernen Zentrale sowie deren Motiven und Mitteln zu befassen. Die vorliegende Arbeit will vielmehr, der aufgezeigten Maxime folgend, die dem Handwerksrecht verbundenen Rechtstatsachen am Beispiel eines überschaubaren Raumes in die Darstellung einbeziehen und die Wirkungen, welche die sich wandelnden Vorschriften im wirtschaftlichen und sozialen Leben Westfalens zeitigten, transparent machen. Nicht zuletzt muss geklärt werden, inwieweit sich die vom Gesetzgeber geschaffenen neuen Institutionen zu bewähren vermochten64. Damit ist das eigentliche Thema dieser Arbeit, nämlich das komplexe Verhältnis zwischen den Rechtssätzen des Handwerksrechts und der sozialen und politischen Wirklichkeit, in der die Kleingewerbetreibenden zu leben und zu wirtschaften hatten, angeschlagen. Das Bedingungsgefüge aus den das Kleingewerbe betreffenden Rechtsregeln einerseits sowie der ökonomischen Situation und Sozialstruktur des Handwerks andererseits soll unter möglichster Ausschöpfung des umfangreichen Quellenmaterials transparent gemacht werden. Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses steht das Problem, inwieweit das Handwerksrecht den ökonomischen und sozialen Wandel des Kleingewerbes zu beeinflussen oder gar zu bestimmen vermochte. Angesichts der Fülle der im Folgenden dargestellten Normen wird man es dem Bearbeiter nachsehen, dass er dieser Aufgabe naturgemäß nur annäherungsweise zu genügen vermag. Nichtsdestoweniger ist das avisierte Vorgehen jedenfalls im Grundsatz aber unverzichtbar, da die Erforschung der Wirkungen vergangenen Rechts als Aufgabe des Rechtshistorikers der Darstellung der Rechtsnormen selbst und ihrer geistesgeschichtlichen Grundlagen in nichts nachsteht. Denn die Rechtsgeschichte kann die ihr obliegende – und auch im Handwerksrecht nicht gänzlich obsolet gewordene – Funktion für die Rechtsanpassung und Rechtsänderung in Gegenwart und Zukunft nur dann wirklich erfüllen, wenn sie sich der Erforschung der 63 64
Reinhart Koselleck weist gerade auch auf die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen als einen solchen exemplarischen Fall des Scheiterns einer Rechtsreform hin. S. Koselleck (1967), S. 153. Zu den Reformen unter französischem Einfluss allgemein Fehrenbach (1979). Solches Vorgehen ist für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts besonders wichtig, da damals eine planmäßige und umfassende Wirtschaftspolitik erstmals eine vollständig neue Wirtschaftsordnung heraufzuführen sich anschickte – ein Unterfangen, dessen rechtliche Bewältigung jener Epoche das Attribut eines „Großen Jahrhunderts der Gesetzgebung“ eingetragen hat; so Coing, Rechtsentwicklung (1975), S. 105.
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I. Einleitung
sozialen Wirkungen in der Vergangenheit relevanter Normen mit Aplomb widmet. Das Diktum von der historischen Rechtstatsachenforschung als der „Krönung der Rechtsgeschichte“ (Krause) gilt deshalb sehr zu Recht. Als Ertrag einer so verstandenen Rechtsgeschichtswissenschaft soll die vorliegende Untersuchung die Erkenntnis befestigen, dass Recht keineswegs als isoliertes, sondern als intrasoziales Phänomen zu begreifen – und damit auch zu beschreiben – ist. So wird die gegenwärtig feststellbare weitgehende Beziehungslosigkeit zwischen Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte aufgehoben, die faktische Interdependenz ihrer Gegenstände tritt wieder hervor65. Bis in die jüngere Zeit wurde die Auffassung vertreten, dass die Gesetzgebung der Territorialstaaten der frühen Neuzeit von eindrucksvoller Effizienz gewesen sei; erst dieser Rechtssetzung sei es zu danken, dass die europäischen Gesellschaften den Weg der Modernität beschritten hätten.66 Der „souveräne Herrscher“ habe „das letztentscheidende Gesetzgebungsrecht“ nicht nur „unbedingt in Anspruch“ genommen, sondern mit Hilfe der Polizeigesetze eine „effektive planerisch-planwirtschaftliche Neuschöpfung der politischen Rechts- und Gesellschaftsordnung von Grund auf“ erreicht.67 Lange Zeit unterstellten die Rechtshistoriker unausgesprochen, dass aus dem Erlass der Gesetze auf ihre Anwendung und Durchsetzung geschlossen werden könne. Ließen sich Zweifel an der Wirksamkeit der Bestimmungen nicht leugnen, überantworteten sie diese den Fußnoten.68 Seit sich die Rechtsgeschichtsforschung auch der Frage nach den Rechtswirkungen der gesetzlichen Bestimmungen annimmt,69 wurden für bestimmte Rechtsgebiete und Regionen Detailuntersuchungen vorgelegt, die nachweisen, dass für die frühe Neuzeit keineswegs aus dem Erlassen auf das Durchsetzen der Normen geschlossen werden kann.70 Ganz allgemein wird bislang aber noch immer die Auffassung vertreten, dass das für das 18. Jahrhundert inzwischen unleugbare Auseinanderfallen von Rechtssatz und Rechtswirklichkeit nach 1800 keine, jedenfalls keine signifikante Rolle mehr spielte, da „ein neues Verständnis von Gesetzesstaatlichkeit am Werke gewesen zu sein (scheint), das nicht nur alle richterlichen Entscheidungen auf formelle Gesetze gründen, sondern auch umgekehrt alle publizierten Gesetze vollständig angewendet wissen wollte“.71 Das verbreitete Ignorieren des gesetzgeberischen Willens sei „mit dem späten 18. Jahrhundert unerträglich geworden“.72 Weshalb aber fand man die so lange geübte Nonchalance im Umgang mit den gesetzlichen 65 66 67 68 69 70
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S. dazu Deter, Auftrag oder Überhebung? (2005), S. 311–324. So z. B. noch Raeff (1983), S. 41 ff. So Schlosser (1982), S. 529, 531. So z. B. Wieacker (1967), S. 190, Anm. 3; Grawert (1972), S. 1–25 (2, Anm. 9). So schon die Forderung von Wolf (1975), S. 178–191 (180); s. auch Diestelkamp (1977), S. 1–33 (2); Simon (1988), S. 201–208; Schulze (1981), S. 157–235 (191 f.); jetzt zusammenfassend Schlumbohm (1997), S. 647–663. Nitschke (1990) für das Polizeirecht in Lippe; Schubert (1983) für das Strafrecht in Franken; s. auch Dinges (1991) m. w. Nachw., betr. das Bettel- und Armenwesen; Neugebauer (1989) bezügl. des Schulwesens; für das Handwerksrecht in Westfalen vgl. Deter (1987) und Deter (1990). Zur Frage der Normdurchsetzung in der Frühen Neuzeit generell Landwehr (2000). So Schlumbohm (1997), S. 655. S. Schlumbohm (1997), S. 660.
B. Das Forschungsziel
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Bestimmungen plötzlich „unerträglich“, und wie gelang es dem Staat des 19. Jahrhunderts, seinen Vorschriften die erwünschte Beachtung zu verschaffen? Diese Fragen sind bislang kaum gestellt – und noch viel weniger beantwortet worden.73 Die folgende Darstellung zeigt, um das Ergebnis vorwegzunehmen, dass von eigentlicher, gestaltender Wirksamkeit der preußischen Handwerksgesetzgebung im Untersuchungszeitraum kaum die Rede sein kann. So trägt die Arbeit am Beispiel des Handwerksrechts das Ihre zu der dringend notwendigen Neubewertung des Werdens des modernen Staates als Gesetzgebungsstaat bei.74 Schließlich bietet die Darstellung Gelegenheit, die bislang vor allem kulturwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchung der Geschichtslandschaft Westfalen durch die Erforschung insbesondere der verbindenden Aspekte der Rechtswirklichkeit zu ergänzen und weiterzuführen. Indem die Rechtsgeschichte die Geschichtslandschaft um die Facetten der landschaftsbezogenen Rechtsgemeinschaft bereichert, trägt sie Wesentliches zu der von der Geschichtswissenschaft erstrebten Weiterentwicklung der traditionellen Landesgeschichte zur „historischen Landeskunde“ bei75. Die im Folgenden dargestellten Rechtserfahrungen zweier Generationen reichen hin, um Gültiges zu den Rechtswirkungen in dem untersuchten Rechtsgebiet in einer preußischen Provinz aussagen zu können. Die Komplexität einer solchen Aufgabe liegt offen zutage. Das Forschungsziel ist nur zu erreichen, wenn die Untersuchung dem aktuellen theoretisch-methodischen Standard nicht allein der Rechts-, sondern auch der Geschichtswissenschaft entspricht. Ist dies der Fall, so vermag sie ein Beispiel dafür zu geben, wie die Rechtsgeschichtswissenschaft sich mit den Fragestellungen und Methoden der historischen Forschung, deren Teil sie doch ist, fruchtbar zu verbinden vermag. c. Die rechtshistorische Fragestellung Aus alledem ergeben sich die den Gang der Forschung bestimmenden, zentralen Fragestellungen: – –
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74 75
Zunächst soll geklärt werden, inwieweit das Kleingewerbe nach der Beseitigung der Zünfte neue organisatorische Formen zu entwickeln vermochte. Von keineswegs minderer Relevanz ist es zu untersuchen, welche Modelle beruflicher Verfasstheit des Handwerks der preußische Gesetzgeber präferierte und welche Wirkkraft dieser seitens des Staates gesetzte Rechtsrahmen in Westfalen entfaltete. Schlumbohm vertritt die Auffassung, dass die gesetzlichen Bestimmungen ohne die Mitwirkung der Untertanen nicht durchgesetzt werden konnten. So hätten die Untertanen über die Praktizierung oder Ignorierung der Gesetze mit entschieden und selbst Initiativen zu Neuerungen ergriffen; vgl. Schlumbohm (1997), S. 662, 663; diese Gedanken sind durchaus beachtenswert, erklären aber nicht, weshalb die Schwelle zum 19. Jahrhundert zu einer Zeitenwende für die Rechtsdurchsetzung geworden ist – oder geworden sein soll. Zu dem Diktum „Moderne Staaten sind Gesetzgebungsstaaten“ vgl. Boldt (1984), S. 161; Ebel (1988), S. 30, 58 ff.; Wyduckel (1979), S. 16; Schlosser (1982), S. 525–542. Zur landesgeschichtlichen Perspektive der Rechtsgeschichte s. Deter (2006), S. 358–362; ders. (2003/2004), S. 267–299.
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I. Einleitung
–
Das auch heute noch nicht von allen Rechtsordnungen befriedigend gelöste Spannungsverhältnis zwischen dem liberalen Ideal der Niederlassungsfreiheit einer- und den Erfordernissen der Qualitätssicherung in der Berufsausübung andererseits harrt ebenso der Analyse wie die gestaltende Einflussnahme des Gesetzgebers auf die Marktbeziehungen des Handwerks. – Unverzichtbar ist es auch festzustellen, welche Physiognomie das Arbeitsrecht im Untersuchungszeitraum zeigte. – Das Steuerrecht wiederum beansprucht – und verdient – seines Einflusses auf den Ertrag des Gewerbebetriebes halber Aufmerksamkeit. – Im Hinblick auf das hergebrachte Stadtregiment zahlreicher Zünfte zur Zeit des Ancien régime gewinnt die Frage an Bedeutung, ob die selbständigen Handwerker nach der Beseitigung ihrer politischen Vorrechte neue Formen privilegierter Partizipation an den öffentlichen Angelegenheiten durchzusetzen vermochten. – Als ebenso unverzichtbar erscheint es, die Suche nach einem tragfähigen System sozialer Sicherheit für die Meister im Zeitalter der Gewerbefreiheit zu erhellen. – Abschließend soll geklärt werden, ob sich die Annahmen des Property-RightsParadigmas am Beispiel des preußischen Handwerksrechts und seiner Umsetzung in Westfalen verifizieren lassen. Der so skizzierte rechtshistorische Forschungsansatz bedarf allerdings, weniger seiner Komplexität als vielmehr der notwendigen Abgrenzung gegenüber dem spezifisch wirtschafts- und sozialhistorischen Erkenntnisinteresse halber, einer weiteren Vorbemerkung. Wirtschafts- und Sozialhistoriker, die sich der Handwerksgeschichte annehmen, fragen naturgemäß nach dem Stellenwert des Kleingewerbes in einem vergangenen Wirtschaftsgefüge und der Bedeutung wirtschaftlicher Veränderungen für die ökonomische Situation der betroffenen Handwerker, aber auch nach der Rolle von Meistern und Gesellen in den sozialen Bewegungen. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte beleuchtet auch die Einflussnahme der Obrigkeit auf die Existenzbedingungen der Handwerksbetriebe und ihrer Mitarbeiter. Die Bildungswelt der Kleingewerbetreibenden und ihrer Gehilfen ist ebenso Untersuchungsgegenstand wie deren Auseinandersetzung mit den politischen Ideen der Zeit. Nicht zuletzt befasst sich die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung mit den berufsständischen Organisationsgebilden, die Meister und Gesellen schufen.76 Auch die privaten Lebensumstände der Handwerker werden en detail betrachtet. Diese – keineswegs erschöpfende – Skizzierung des Forschungsinteresses der Historiker an der Geschichte des Kleingewerbes macht deutlich, dass manche ihrer Anliegen mit den Fragen der Rechtshistoriker übereinstimmen, während andere Aspekte die Disziplinen deutlich voneinander scheiden. Solches lässt sich insbesondere für den organisatorischen Bereich zeigen: Während die Zunftgeschichte stets ein wichtiges Forschungsfeld der Rechtsgeschichte darstellte – und es bis 76
Ein Forschungsprogramm für die sozialhistorisch orientierte Gesellengeschichte skizziert Reininghaus (1981) S. 344.
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heute blieb –, kann dasselbe für die Zusammenschlüsse der Handwerker auf privatrechtlicher Grundlage, wie sie nach der Einführung der Gewerbefreiheit in großer Zahl entstanden, keineswegs gelten; denn solche „Assoziationen“ entbehrten in aller Regel eines differenzierteren Rechtsrahmens. Gerade auf diesem Felde aber findet die Sozialgeschichte einen ihrer Forschungsschwerpunkte: Sie befasst sich intensiv mit dem „komplexe(n) Problem vorindustriell – zünftiger Ursprünge oder Vorläufer der Gewerkschaften“,77 der „Frage nach der Kontinuität zwischen der Arbeiterkultur und der älteren Kulturform“78 und sucht „Thesen über die Verbindungen zwischen Gesellen- und Arbeiterbewegung“ zu formulieren.79 Vor allem Arbeiterorganisationen gehören deshalb zu den zentralen Untersuchungsgebieten der Sozialgeschichte.80 Wenn Reininghaus sich gegen die scharfe Trennung von Korporation und Assoziation wendet und stattdessen auf gemeinsame Kontinuitäten beider hinweist,81 so dürfte diese Auffassung aus sozialhistorischer Perspektive zutreffen; aus der Sicht des Rechtshistorikers sind derartige Verknüpfungen dagegen unzulässig. Denn die rechtlichen Grundlagen der Gesellenverbände zur Zunftzeit waren in Westfalen gänzlich andere als die der Zusammenschlüsse von Hilfskräften im Handwerk nach Einführung der Gewerbefreiheit – und das Nämliche gilt für die Vereinigungen der Meister.82 So muss trotz der unleugbaren Bedeutung der zahllosen Vereine und „Assoziationen“ des 19. Jahrhunderts, welche entstanden, um die korporativen Bindungen zu ersetzen, die Interessen der Handwerker in neuen organisatorischen Formen zu bündeln und gemeinsame Zwecke zu verfolgen,83 auf eine Darstellung dieser Schöpfungen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung verzichtet werden – auch wenn dies sozialhistorisch orientierte Leser kaum befriedigen mag.84
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So Engelhardt (1979) S. 374. So Ritter (1979) S. 28. Reininghaus (1981) S. 348. Vgl. z. B. Quarck (1924). So Reininghaus (1981) S. 351. Zu den Vereinen im 19. Jahrhundert vgl. Dann (1976), S. 197–232. Hierzu zählt neben den zahlreichen lokalen und regionalen Meistervereinen die Gründung des „Deutschen Handwerkerbundes“ im Jahre 1862 in Weimar; s. dazu Offermann (1979) S. 271, 272. Auf der Seite der Gesellen sind die örtlichen Gesellenvereine, aber z. B. auch der Verband der „Fremden Maurergesellen“ zu nennen, der in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in ganz Norddeutschland bestand. Dieser Zusammenschluss knüpfte an die Gewohnheiten des Alten Handwerks an und verfügte deshalb u. a. auch über eine eigene Gerichtsbarkeit; s. dazu Bergmann (1973) S. 114 ff. Die „Fremden Maurergesellen“ sind in Westfalen allerdings nicht nachweisbar. Bezeichnend für die von der rechtshistorischen Perspektive deutlich abgrenzbare Sicht des Sozialhistorikers ist Reininghaus´ Diktum zum Verhältnis von Gesellengilden und Arbeiterassoziationen: „Die Fixierung auf eine formale Kontinuität würde den Blick auf die mentale Kontinuität verstellen“; so Reininghaus (1981) S. 351.
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I. Einleitung
C. DAS UNTERSUCHUNGSGEBIET UND DER UNTERSUCHUNGSZEITRAUM Westfalen zum Gegenstand einer Untersuchung des Schicksals des Handwerks in dem auch für diesen Wirtschaftszweig zur Krisen- und Reformzeit geratenen 19. Jahrhundert zu machen, findet gleich in mehrfacher Hinsicht seine Rechtfertigung: Das Land zwischen Rhein und Weser bietet sich gerade für die vergleichende Analyse der Rechtssituation und der Rechtswirklichkeit des in ökonomischer Hinsicht zunächst von der Agrar- und später von den Industriekonjunkturen abhängigen Kleingewerbes in idealtypischer Weise an, da hier einander früh industrialisierte Räume und solche mit beinahe archaischer Wirtschaftsstruktur, ländlich-wohlhabende und zurückgeblieben-ärmliche Regionen benachbart waren. Daß die großen Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung der westfälischen Regionen nicht allein in der kulturgeographischen Verschiedenheit ihre unveränderliche Ursache hatten, sondern vielleicht eher noch in den – vorhandenen oder abwesenden – Initiativen schon der Staaten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in den Methoden, die Produktionskraft – und damit untrennbar verbunden – Wohlstand und Steuerkraft des Landes zu heben, begründet lagen, ist seit langem bekannt85. Die Betrachung des Beispiels der kleingewerblichen Wirtschaft Westfalens mag nicht zuletzt auch anregen, sich der von E. Troeltsch, M. Weber, W. Sombart, R. H. Tawney und A. Müller-Armack angenommenen Differenzierungen zwischen katholischem und protestantischem Wirtschaftsgeist zu erinnern. Das Westfalen des 18. Jahrhunderts war in seiner staatlich-administrativen Verfasstheit keineswegs mit dem des 19. Jahrhunderts identisch. Nach der preußischen Niederlage 1806/07 wurden der französisch-rheinischen Staatsschöpfung des Großherzogtums Berg die Grafschaften Bentheim und Steinfurt, die Herrschaften Rheda, Horstmar und Rheina-Wolbeck sowie Siegen eingegliedert, während der Herzog von Arenberg Dülmen und der Fürst von Salm-Kyrburg Gemen erhielten. 1808 wurde Berg um die Abteien Essen, Elten, Werden, die Grafschaft Mark, die Stadt Dortmund, das Fürstentum Münster und die Grafschaften Tecklenburg und Lingen erweitert. Paderborn, Corvey, Rietberg, Ravensberg, Minden und Osnabrück wurden Teil des 1807 errichteten Königreichs Westphalen, das sich über Hessen, den südlichen Teil von Hannover und Braunschweig bis zur Elbe erstreckte. Das ehemals kurkölnische Sauerland gehörte zum Großherzogtum Hessen. 1810 wurden die nördlichen Teile des früheren Fürstbistums Münster sowie der Grafschaften Minden und Ravensberg Frankreich angegliedert. Die preußische Provinz, auf die sich seit ihrer Errichtung im Jahre 1815 der Westfalenbegriff reduzierte, fixierte diesen erstmals auf ein linienhaft umrissenes Gebiet. Dessen Grenzen deckten sich keineswegs mit dem historisch gewachsenen Land Westfalen. Große Teile Altwestfalens blieben im Norden ausgeschlossen, Pyrmont und Lippe im Osten lagen ebenfalls außerhalb der preußischen Monarchie, während die niemals zuvor Westfalen angehörenden Territorien Wittgenstein und 85
Zu den Unterschieden zwischen den westfälischen Regionen in der Entwicklung des Kleingewerbes im 19. Jahrhundert s. Deter (2005).
C. Das Untersuchungsgebiet und der Untersuchungszeitraum
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Siegen der neuen Provinz angeschlossen wurden. Im Inneren wurde Westfalen in die drei Regierungsbezirke Münster, Arnsberg und Minden gegliedert. Während die das geographische Land Westfalen ausmachenden vier Großlandschaften ca. 30.000 qkm umfassen, wies die gleichnamige Provinz im 19. Jahrhundert nurmehr eine Größe von 21.500 qkm auf. Auf diesen immerhin die Kernländer Westfalens umfassenden Raum erstreckt sich die vorliegende Untersuchung. Der zeitliche Rahmen der Darstellung wird, wie es einer rechtshistorischen Untersuchung gut ansteht, durch die für das Sujet zentralen Gesetzgebungswerke begrenzt. Den Beginn der Darstellung markiert die Einführung der Gewerbefreiheit im Bereich der späteren preußischen Provinz Westfalen durch die napoleonischen Staaten zwischen 1809 und 1811. Seither herrschte in Westfalen und im Rheinland eine Sondersituation, da die Zünfte im übrigen Preußen und auch in den Nachbarländern der beiden Westprovinzen damals noch keineswegs beseitigt wurden.86 In den nach diesen Fixpunkten sich dehnenden Dezennien schwankte der preußische Gesetzgeber zwischen dem liberalen Ideal fast schrankenloser Gewerbefreiheit einer- und verschiedenen Formen rechtlicher Bindung andererseits, die er unter dem Einfluss der sich ändernden geistig-politischen Ideale und den daraus folgenden ökonomischen Theorien, vor allem aber einer nicht länger zu ignorierenden politischen Willensbildung der Handwerker und tatsächlichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu dekretieren sich genötigt sah. Es ist die Zeit der Krise des Handwerks, seiner Ökonomie, seines Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins. Die Gewerbefreiheit, welche der französischen Fremdherrschaft wie auch den liberalen preußischen Beamten Verheißung war, verband sich mit dem damals von der aufblühenden Industrie ausgelösten Verdrängungswettbewerb gegenüber vielen der traditionellen Berufssparten des Gewerbes zu einem aus der Perspektive der Meister und Gesellen unentwirrbaren Gemenge, in dem Ursachen und Folgen der Veränderungen schon den Zeitgenossen nicht mehr erkennbar waren; eben deshalb eröffnete sich der politischen Auseinandersetzung damals ein weites Feld. Die Komplexität der Wirkkräfte hat bis heute ein gültiges Urteil über das Verhältnis von Gewerberecht, Handwerkswirtschaft und Industrialisierung verhindert.87 Der Einfluss liberalen Gedankenguts auf die Entwicklung des Gewerberechts kumulierte noch einmal in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes des Jahres 1869, in der die Ideen des Adam Smith ihren charakteristischsten Ausdruck fanden. Daher soll diese Gesetzgebung den Abschluss des Untersuchungszeitraumes markieren.
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Der in Westfalen mit der Beseitigung der Handwerkerverbände einhergehende eigentliche Vorgang der Einführung der Gewerbefreiheit selbst wurde dagegen nicht behandelt, da seine Darstellung der Komplexität des Gegenstandes halber den Rahmen dieser Untersuchung sprengen müsste. Karl Heinrich Kaufhold hat beklagt, dass wir aufgrund des Mangels an neuen Untersuchungen zum städtischen Handwerk des 19. Jahrhunderts über die Wirkung der Industrialisierungsvorgänge auf das Kleingewerbe noch immer „erst relativ wenig wissen“; so Kaufhold (2000), S. 301.
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I. Einleitung
D. DIE QUELLENLAGE Der Quellenreichtum eröffnet dem Rechtshistoriker für das 19. Jahrhundert Möglichkeiten, die für frühere Zeiten versagt sind und die er deshalb bei der Erforschung der neueren Rechtsgeschichte umso nachhaltiger nutzen sollte. Erst das 19. Jahrhundert gibt die Gelegenheit, die Rechtsentwicklung nicht allein in die großen Zusammenhänge des wirtschaftlichen und sozialen Lebens sowie der geistesgeschichtlichen Bewegungen einzuordnen; vielmehr ist es aufgrund der Quellenlage für dieses Säkulum bereits möglich, die Rechts- wie auch die Wirtschaftsentwicklung in ihrer wechselseitigen Beeinflussung und Bedingtheit am Beispiel eines spezifischen Wirtschaftssegments darzustellen. Dies soll, gemäß dem Auftrag an eine zeitgemäße rechtsgeschichtliche Forschung,88 im Folgenden unter umfassender Ausschöpfung des vorhandenen Quellenmaterials geschehen. Die Auswertung der Akten der Berliner Ministerialverwaltung, insbesondere des Handels- und Gewerbe- sowie des Innenministeriums wurde ergänzt durch die Heranziehung des Schriftguts des westfälischen Oberpräsidiums sowie der Bezirksregierungen in Münster, Arnsberg und Minden. Insbesondere das Quellenmaterial der Regierungen ermöglichte es, den regionalen Vergleich zu nutzen und die aus der unterschiedlichen Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben seitens der Bezirksregierungen resultierende, durchaus divergierende Rechtswirklichkeit in den Regionen Westfalens bloßzulegen. Neben den Akten der staatlichen Zentral- und Mittelbehörden wurden die Archivalien der Landratsämter und der Kommunalbehörden zahlreicher westfälischer Städte und Gemeinden ausgewertet – mithin jene Quellen, aus welchen die örtliche und regionale Geschichte des Kleingewerbes primär zu schöpfen ist. Die Berücksichtigung des lokalen Quellenmaterials vermittelt der Untersuchung die ebenso wünschenswerte wie unabdingbare „Tiefenschärfe“. Dass nicht auf alle Details eingegangen werden kann, versteht sich angesichts des Umfangs von Untersuchungszeit und -raum von selbst. E. DAS METHODISCHE VORGEHEN Die Bedeutung nichtökonomischer Faktoren, insbesondere des Rechtsrahmens und der Institutionen, für die Entfaltung der modernen europäischen Wirtschafts- und Sozialstruktur ist noch immer weitgehend ungeklärt. Hierfür dürften verschiedene methodische Probleme ursächlich sein: Es ist unzweifelhaft, dass der Einfluss des Gewerberechts auf die Wirtschaftsentwicklung immer nur annäherungsweise bloßgelegt werden kann. Selbst um solches zu erreichen, bedarf es bereits des Zusammenwirkens verschiedener methodischer Ansätze; die Komplexität des Erkenntnisziels verbietet nicht nur monokausale Erklärungen, sondern auch einspurige Vorgehensweisen. Friedrich Wilhelm Henning hat aber auf eine Methode hingewiesen, die zur Klärung dieser Frage immerhin Substantielles beizutragen vermag:89 Der 88 89
S. Coing (1975), S. 105. Henning (1978), S. 147 ff.
E. Das methodische Vorgehen
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Vergleich der unterschiedlichen Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse in verschiedenen Regionen lässt Rückschlüsse auf den Einfluss des rechtlichen und organisatorischen Rahmens auf Wirtschaftsweise und -erfolg in der gewerblichen Wirtschaft zu. Ziel der vorliegenden Untersuchung des Rechts und der organisatorischen Verhältnisse des Kleingewerbes in der preußischen Provinz Westfalen ist es daher vor allem, einen wesentlichen Beitrag zu leisten, um solche Vergleiche zwischen großräumigen Regionen künftig zu ermöglichen. Natürlich kann ein derartiges komparatives Vorgehen nicht erst im 19. Jahrhundert einsetzen. Denn es waren im Verein mit ökonomischen und sozialen Entwicklungen schon die rechtlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts, welche die grundlegende Wandlung der rechtlichen Voraussetzungen des Produzierens in der gewerblichen Wirtschaft des 19. Jahrhunderts einleiteten. Die Darstellung des Rechtsrahmens, der das westfälische Handwerk im 19. Jahrhundert einhegte, steht deshalb in unmittelbarem, organischen Zusammenhang mit der 1987/1990 erschienenen Rechtsgeschichte des westfälischen Kleingewerbes im 18. Jahrhundert.90 Die vorliegende Untersuchung begeht – jedenfalls aus der Sicht der Rechtsgeschichtsforschung – methodologisch bislang wenig ausgetretene Pfade: Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist es, wie bereits angedeutet, unerlässlich, ganz unterschiedliche Vorgehensweisen der Nachbarwissenschaften zu erschließen und mit der hergebrachten Methodik des Rechtshistorikers zu verbinden. Naturgemäß handelt es sich auch bei den Normen um geschichtliche Quellen, die sich nicht fundamental von anderen Forschungsgegenständen des Historikers unterscheiden. Zu ihrer Erfassung und Einordnung in den historischen Kontext bedarf es – wie eh und je – zunächst der klassischen Methode der Hermeneutik. Sie behält ihren unbestreitbaren Wert auch zur Beurteilung des Inhalts der umfangreichen Verwaltungsakten, die herangezogen werden mussten. Der Umgang mit vergangenen Rechtsquellen setzt die spezifische Rechtserfahrung des Juristen voraus; diese bleibt selbst bei einem mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte so innig verwobenen Forschungsgegenstand wie dem hier behandelten unerlässlich. Daneben kommt aber auch dem Erstellen und Auswerten von Statistiken und dem Vergleich der gefundenen Daten, quantifizierenden Methoden also, im Rahmen dieser Untersuchung Bedeutung zu. Typische Fragestellungen und Vorgehensweisen der Wirtschafts- und, soweit notwendig, auch der Sozialgeschichte und des alltags-, kultur- oder mikrogeschichtlichen Ansatzes werden rezipiert und dem Erkenntnisziel der Arbeit dienstbar gemacht91. Die vorliegende Untersuchung will nach alledem in exemplarischer Weise zu einem Wandel in der Methodenauswahl beitragen: Das dem Rechtshistoriker vertraute hermeneutische Motivverstehen soll, soweit dies gegenstandsadäquat und 90 91
Deter (1987) und (1990). Zur ausführlichen theoretischen Grundlegung des hier verfolgten methodischen Ansatzes s. Deter, Auftrag oder Überhebung (2005) sowie Deter (2006). Dort werden auch die Probleme thematisiert, die sich bei einer Anwendung alltags-, kultur- oder mikrogeschichtlicher Methoden auf Forschungsgegenstände der Rechtsgeschichte ergeben. Zur Alltags- und Mikrogeschichte vgl. z. B. auch Medick, Entlegene Geschichte? (1994), und Medick, Mikro-Historie (1994) sowie Schulze (1988).
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I. Einleitung
-geboten ist, durch ein der Sozialgeschichte entlehntes Funktionsverstehen ersetzt werden. Denn es geht hier vor allem um die Erfassung der langfristigen Entwicklungstendenzen des Handwerksrechts und seiner Wirkungen sowie der daraus resultierenden objektiven Bedingungen der Handwerkswirtschaft. Aber auch die individualisierende Beschreibung, welche die Handwerker gelegentlich selbst zu Wort kommen lässt, wird nicht vernachlässigt. Dass ein solches Vorgehen die Grenzen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte überschreitet, ist durchaus nicht als Mangel zu betrachten.92 Es sollen rechtsgeschichtliche Fragestellungen und Forschungsergebnisse nicht allein mit den ökonomischen Voraussetzungen und Grundlagen der Rechtsentwicklung im Untersuchungszeitraum verbunden, sondern, wie bereits festgestellt, die Handwerksgesetzgebung vor allem mit den Rechtsfolgen konfrontiert und die wechselseitige Verknüpfung von Variablen aus speziellen Segmenten der Rechtsund der Wirtschaftsgeschichte in der vorliegenden Darstellung exemplarisch vorgeführt werden. Die Erklärungen der Rechts– wie der Wirtschaftsgeschichte werden, ohne als einseitiges Ursachenbündel Präferenz beanspruchen zu können, für den konkreten – rechtshistorischen – Forschungsprozess am Beispiel einer umgrenzten Geschichtslandschaft fruchtbar gemacht93. Nicht ganz unproblematisch erscheint allerdings die Frage, in welcher Weise die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Elemente im Zusammenhang mit dem Normengebäude dargestellt werden sollen. Für die konkrete Untersuchung lässt sich die Verbindung der Wirtschaftsentwicklung mit einzelnen Regelungen im Sinne einer speziellen Verknüpfung zwar nicht stets, aber doch in nicht wenigen Fällen in exemplarischer Weise herstellen. Diesen Konnex immer wieder aufgrund eng umgrenzter Fragestellungen transparent zu machen, erschöpft die Aufgabe aber nicht. Denn die ökonomische Entwicklung des Handwerks hat das gewerberechtliche Normengebäude insgesamt beeinflusst, und ebenso hinterließ die Gesamtheit der einschlägigen Rechtssätze im Wirtschaftsgeschehen des Kleingewerbes Spuren. Daraus folgt für die vorliegende Untersuchung, dass der Nachweis konkreter Interdependenz von Rechtsentwicklung und ökonomischen Tatsachen unerlässlich ist. Nur durch das organische Zusammenwirken des hier konzis skizzierten Methodengeflechts lässt sich das avisierte Forschungsziel, nämlich die Darstellung des Handwerksrechts und der durch dieses Recht geschaffenen Rechtswirklichkeit im Zeitalter der Frühindustrialisierung, erreichen. Wenn es der vorliegenden Untersuchung gelänge, exemplarisch zu zeigen, wie fruchtbar die Rezeption wirtschaftsund sozialgeschichtlicher Fragestellungen und Methoden seitens der Rechtsgeschichtswissenschaft für eben diese sein kann, wäre ihr bescheidenes Ziel in der erfreulichsten Weise übertroffen.
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Dieter Grimm hat schon vor Jahrzehnten ausdrücklich beklagt, dass „die Möglichkeit, Rechtsgeschichte legitim und methodisch korrekt als Sozialgeschichte zu betreiben, noch kaum wahrgenommen geschweige denn genutzt worden ist“; s. Grimm (1976), S. 9–34. Dazu ist hier jetzt heranzuziehen Deter (2005).
II. DAS HANDWERKLICHE ORDNUNGSGEFÜGE: DER ZUSAMMENSCHLUSS SELBSTÄNDIGER HANDWERKER A. ZÜNFTE IN DEN GRAFSCHAFTEN WITTGENSTEIN Die im Bereich der Provinz Westfalen bis zum Jahre 1845 als Unikum unverändert fortbestehenden Zünfte in den ehemaligen Grafschaften Wittgenstein wiesen noch im 19. Jahrhundert eine ganz ähnliche Verfassung wie diejenigen im benachbarten Nassau-Siegen des vorangegangenen Säkulums auf1. Die Wittgensteiner Zünfte besaßen Ordnungen, welche zumeist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Grafen Friedrich und Johann Ludwig erlassen worden waren und die, jedenfalls nach Auffassung des Bürgermeisters von Laasphe, „die strengsten Bestimmungen“ zu all den zunfttypischen Regelungsgegenständen wie den Prüfungen, der Ordnung des Lehr- und Gesellenverhältnisses sowie der Abgrenzung der Gewerbe voneinander enthielten.2 Trotz der kleingewirkten Verhältnisse gab es in Berleburg drei Korporationen, nämlich eine Schneider-, Bäcker-, Schreiner-, Schmiede- und Wagner- sowie eine Rotgerber- und eine Schuhmacherzunft.3 Als besondere, von der Rechtssituation im eigentlichen Westfalen stark abweichende, allerdings keineswegs singuläre Merkwürdigkeit verdient es festgehalten zu werden, dass selbst das Landhandwerk in Wittgenstein – ebenso wie in Siegen, Bentheim und Dortmund – genossenschaftlich organisiert war. Stadt- und Landmeister bildeten in Berleburg eine gemeinsame Zunft.4 Wer Meister werden wollte, musste dort, ob Land- oder Stadt-Handwerker,
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Zu den Wittgensteiner Zünften vgl. Spies (1975). Zu den nicht zünftigen Bauhandwerkern in Wittgenstein s. Naumann (1972). Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Laasphe an den Landrat von Oven zu Berleburg v. 30.8.1860, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Vol. 9, fol. 265, 265 RS. S. Schreiben der Berleburger Zünfte an die Reg. Arnsberg v. 26.1.1831, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 5I, fol. 208. Die Arnsberger Regierung konnte es, als sie dieses bis 1845 fortdauernden Faktums gewahr wurde, kaum fassen: „die Existenz einer Zunft in Berghausen und in den übrigen Dorfschaften der Grafschaft Wittgenstein muss aber um so mehr bezweifelt werden, als sich die Möglichkeit nicht denken lässt, dass dem Dorfe Berghausen Zunftrechte, welche doch nur Attribute der Städte sind, verfassungsmäßig und gesetzlicher Weise verliehen sein sollten, weshalb es den Anschein gewinnt, als ob die Schusterzunft zu Berleburg ihre Anmaßung so weit triebe, dass sie den Zunftzwang auf den ganzen Bereich der Grafschaft Berleburg extendiren wolle“; so Schreiben der Regierung Arnsberg an den Landrat Jost zu Berleburg v. 14.6.1825, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 56 I, fol. 69.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
seine Qualifikation durch ein Meisterstück „vor dem versammelten ganzen Handwerk des Landes“5 nachweisen. In Wittgenstein-Hohenstein hingegen war das Verhältnis zwischen Stadt- und Landmeistern marginal anders geregelt: In Laasphe existierten sog. „Stadtzünfte“ für die städtischen Meister, neben denen autonome Landzünfte bestanden. Anders als im Siegerland war es den so organisierten Landmeistern aber nicht verwehrt, in den Städten zu arbeiten. Wer beispielsweise das Meisterrecht der Landschneiderzunft erworben hatte, durfte auch in der Stadt Laasphe selbst tätig sein; ebenso verhielt es sich im umgekehrten Fall. Bedingung war allerdings, dass der Handwerker seine Werkstatt dort unterhielt, wo er „zu Hause“ war.6 Hierfür betrachtete man es im Grundsatz als erforderlich, dass er an dem Ort seiner beruflichen Niederlassung geboren oder seine Eltern dort Bürger gewesen waren; als ausreichend galt es aber auch, dass der Handwerker seit langer Zeit in der Gemeinde wohnte.7 Da die Obrigkeit wie die Korporationen sich in praxi damit begnügten, dass eine dieser Voraussetzungen erfüllt war, galt es als durchaus „herkömmlich, dass Bürger Meister bey der Landzunft und Landschneider bei der Stadtzunft Meister“ wurden.8 Merkwürdig war auch die Regelung der Arbeitsgrenzen zwischen den beiden Landesteilen: Die Vertreter der Schieferdeckerzunft im Amte Laasphe waren nicht damit zufrieden, ihre eigene Zahl klein zu halten; sie verstanden es vielmehr, sich durch die unverhohlen ungerechte Bestimmung, wonach die Schieferdecker des Amtes Laasphe zwar im Amte Berleburg, diejenigen aus Berleburg aber nicht in Laasphe arbeiten durften,9 nachhaltige Vorteile am Markt zu verschaffen. Das sich augenscheinlich von jeder rationalen, nachvollziehbaren Basis entfernende Privilegienwesen des Landes schlug, wie man sieht, in der Endzeit der Zunft seltsame Kapriolen. Hierzu fügt es sich, dass das in reformorientierten Territorien als Mittel zur Aufbrechung des harschen Zunftmonopols genutzte Institut der Freimeister-Ernennung in der kleinen Grafschaft völlig unbekannt geblieben zu sein scheint. Da es in dem Gildebrief der Berleburger Schuhmacher apodiktisch hieß: „Niemand soll Schuhe machen im Lande allhier, es sey denn in dieser Bruderschaft“, war der Landrat des Kreises Wittgenstein noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts überzeugt, dass es an einer Rechtsgrundlage für die Ernennung von Freimeis5 6 7
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Schreiben des Landrats des Kreises Berleburg an die Reg. Arnsberg v. 5.11.1825, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 56 I, fol. 111. So Schreiben des Landrates des Kreises Berleburg v. 30.3.1826, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51. „Der Unterschied zwischen Stadt- und Landzunftmeister besteht bloß darin, dass keiner seine Werkstätte aufschlagen kann, wo er nicht zu Hause ist. Arbeiten kann jeder fertigen, wo er nicht zu Hause ist. Arbeiten kann jeder fertigen, wohin er will“, so der Landrat des Krs. Berleburg, s. Anm. 4. Schreiben des Landrats des Krs. Berleburg an die Reg. Arnsberg v. 20.9.1826, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51. S. Schreiben des „landrätlichen Kommissars“ des Krs. Berleburg, Voss, an die Reg. Arnsberg (Stellungnahme zum Schreiben des Schieferdeckers Peter Müller an die Reg. v. 18.1.1831), in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51; Voss kommentierte diese Verhältnisse mit dem Bemerken: „Vernunft ist Unsinn, Wohltat Plage geworden“.
A. Zünfte in den Grafschaften Wittgenstein
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tern in seinem Sprengel stets gefehlt habe und noch immer fehle.10 In der Tat fand sich in dem Ländchen noch im Jahre 1826 nicht ein einziger Freimeister.11 Als eine weitere bemerkenswerte Erscheinung in der Wittgensteiner Zunftverfassung tritt uns der sog. „Oberzunftmeister“ entgegen. Bei diesem handelte es sich nicht, wie man meinen möchte, um ein Organ der Genossenschaft, sondern um den Vertreter des Landesherrn gegenüber den Zünften; der Amtswalter erfüllte demnach jene Aufgaben, mit denen in Bentheim der gräfliche Richter betraut war. Der Berleburger Landesherr, seit 1792 Reichsfürst,12 beauftragte einen seiner Beamten, das herrschaftliche „Kameralinteresse“ gegenüber den Korporationen wahrzunehmen. Der Oberzunftmeister war aber niemals bei den Versammlungen der Genossen zugegen, sah sich also, im Unterschied zu dem Gewerksbeisitzer der preußischen Generalprivilegien,13 keineswegs als Kontroll- und Überwachungsorgan des Staates. Er hob vielmehr die Abgaben der Gilden zur herrschaftlichen Kasse ein, und gleichsam als Gegenleistung für deren Zahlungen schützte er die Bannrechte der Meister gegenüber den Pfuschern. Überhaupt scheint das Verhältnis der beiden Landesherren zu den Korporationen weniger durch obrigkeitliche Kontrolle und zeittypische Einordnung der Zünfte in das Staatsgefüge als vielmehr durch die fürstlichen Finanzbedürfnisse geprägt gewesen zu sein. Die Meister betrachteten ihr Privileg als das „durch Aufopferungen unserer Väter erworbene und durch das Alter geheiligte Recht“,14 und den Erwerb des Meisterrechts bezeichneten sie, wenngleich sie immerhin ein Meisterstück anfertigen mussten, doch verräterisch als „Einkaufen“15 in die Zunft. Die Ausrichtung der Wittgensteiner Korporationen auf die Finanzbedürfnisse des Staates, die sich in solchen Details zu erkennen gibt, bestätigt einmal mehr die Ausbeutung dieser Duodezfürstentümer hinter den Bergen durch ihre notorisch geldbedürftigen Landesherren. An den Rechtsverhältnissen der fortbestehenden Zünfte änderte sich bis zum Erlass der Gewerbeordnung im Jahre 1845 nichts mehr. Die Rechtswirklichkeit wandelte sich aufgrund des Einflusses der gewerbefreiheitlich geprägten Umgebung aber doch merklich. Nach Darstellung des Laaspher Bürgermeisters „zerfielen“ die Zunftordnungen in den ersten Jahrzehnten der preußischen Herrschaft förmlich.16 Weil dem „Vorsitzenden“, d. h. dem für die Einhaltung der Rechtssätze des Handwerks verantwortlichen Bürgermeister, diese Aufgabe gleichgültig wurde, fanden die Bestimmungen nur mehr dann Beachtung, wenn sich einzelne Meister 10 11 12 13 14 15 16
S. Anm. 7. Schreiben des Landrats Jost an die Reg. Arnsberg v. 22.9.1826, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51. S. Neweling, Art. Berleburg (1970), S. 67, 68. Die Linie Sayn-Wittgenstein-Hohenstein wurde erst 1804 gefürstet. S. dazu ausführlich Deter (1990). Vgl. Schreiben der Berleburger Zünfte an die Reg. Arnsberg v. 26.1.1831, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51, fol. 208. So z. B. ersuchte der Schumacher Wilhelm Schnell aus Erndtebrück die Reg. Arnsberg mit Schreiben vom 3.12.1826 um die Erlaubnis „zum Arbeiten, ohne dass ich das Meisterrecht von der Zunft durch Ankauf gewinne …“; s. STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 51. Wie Anm. 2, fol. 265 RS.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
mit Beschwerden an die Regierung in Arnsberg wandten. Da die Lokalbehörden nichts unternahmen, um den Vorschriften die notwendige Geltung zu verschaffen, ließ sich insbesondere der Zunftzwang kaum mehr durchsetzen. „Alle Meister“ klagten deshalb damals „fast einstimmig“ darüber, dass sie der Konkurrenz „junger unerfahrener Leute“, die ihnen in das Handwerk „pfuschten“, ausgesetzt seien und ihr Gewerbebetrieb dadurch merklich beeinträchtigt werde. Die billigere Handwerksarbeit Ungeprüfter in der kleinen Stadt ließ sie jedenfalls nach Auskunft des Laaspher Bürgermeisters in der Tat „zum Theil in Nahrungssorgen gerathen“. Da nimmt es nicht wunder, dass im Vormärz unter den Meistern der Grafschaft Wittgenstein allgemeine Unzufriedenheit darüber herrschte, dass ihre Privilegien nicht geschützt wurden, zumal sie „mit großer Vorliebe an den alten Zunftordnungen hingen“. Außerdem beklagten sie die mangels gründlicher Ausbildung unzureichenden Fertigkeiten der Gesellen und die leichte Auflösbarkeit des Lehrverhältnisses der Lehrlinge, das „leichtfertige Ausreißen mancher verdorbener und verwöhnter Söhnchen“. Ihrem Missfallen über den jahrzehntelang dezidiert liberalen Impetus der preußischen Gewerbepolitik machten sie dann 1848, wie der Laaspher Bürgermeister berichtete, „offen und massenweise“ Luft.17 Aus ihrer Sicht sollte die Gesetzgebung der Jahre 1845/1849, welche sie „mit innigster Freude“ begrüßten, die erhoffte Wende zum Besseren bringen. Von Bedauern über den Verlust des althergebrachten Zunftrechts findet sich deshalb keine Spur. Mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts auch für den Kreis Berleburg endeten die letzten Zünfte in der Provinz Westfalen. Damit hatte das Mittelalter hier endlich seinen im Handwerk so lange hinausgezögerten Abschied genommen. Die Mitglieder der Korporationen in Wittgenstein schlossen sich aber, dem neuen Begriff der Innung genügend, unter der Herrschaft des manche der alten Traditionen behutsam aufnehmenden preußischen Gewerberechts sogleich wieder zusammen.18 B. DIE INNUNGEN 1. Bestrebungen der Handwerker zur Wiederbelebung von Ämtern und Gilden Die Aufhebung der Ämter und Gilden in den Jahren 1808 bis 1810 in Westfalen vermochte es nicht, jedes korporative Leben ersterben zu lassen, und die Erinnerung an die Zünfte schwand im Land zwischen Rhein und Weser ebensowenig19. Nur in Jerômes Königreich Westphalen waren Bestimmungen über die Auflösung und Verwendung des genossenschaftlichen Vermögens der Handwerker ergangen. Die bei der Kassation desselben angelegten Protokolle lassen aber erkennen, dass dieses dem Zugriff des Fiskus der Besatzungsmacht zumeist entzogen wurde. So ist 17 18 19
Wie Anm. 2, fol. 265 RS. Wie Anm. 2, fol. 266. Fragen der Gewerbeordnung interessieren auch die neuere Forschung vorrangig im Zusammenhang mit der Zunftverfassung; s. o. S.17, Anm. 28. Zur Situation im ostelbischen „Rumpfpreußen“ vgl. Bergmann (1972), S. 224–269; Bergmann (1980).
B. Die Innungen
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für Paderborn festgestellt worden, dass alle 18 Handwerkerzünfte der Stadt nur Schulden angaben, während ihre Amtsbücher Bargeld, Mobiliar und Zunftgeräte auswiesen20. In dem zu Frankreich geschlagenen Teil des Großherzogtums Berg begnügte man sich dann auch gleich mit der Erstellung eines schriftlichen Vermögensverzeichnisses.21 Damit war den Meistern dort das Sachgut geblieben, welches es ihnen ermöglichte, an manchen der hergebrachten Zunftbräuche festzuhalten. Hierzu zählte vor allem die feierliche Bestattung verstorbener Gewerksgenossen. Aber auch so nützliche Dinge wie der Unterhalt einer Feuerspritze oblag mancherorts weiterhin den Bäckern und Metzgern; und der gemeinsame Betrieb von Walkmühlen war den Tuchmachern naturgemäß noch immer ebenso wichtig wie zur Zunftzeit.22 So nimmt es nicht wunder, dass der Ruf nach Wiederherstellung der Zunftverfassung in der preußischen Provinz Westfalen schon wenige Jahre nach Einführung der Gewerbefreiheit nicht mehr verstummte.23 Die Paderborner Metzger und Schuster setzten ihre Amtsversammlungen auch nach 1810 unverdrossen fort24. 1814 verlangten einige Maurermeister von der Regierung in Münster sans phrase die Privilegierung ihrer Arbeit, indem sie, schon wieder ganz in zunfttypischer Manier, über die Konkurrenz „nichtgelernter Arbeiter und Pfuscher“ jammerten.25 1816 forderten die Meister der Stadt Soest die Restituierung ihrer Genossenschaften nebst deren berufsordnender Funktion, da die Zahl der selbständigen Handwerker außerordentlich zugenommen habe, und 1818 stellten ihre Berufskollegen in Münster ganz unverhohlen einen Antrag auf Wiedererrichtung der Korporationen. 1819 verfassten die „Professionisten“ in Rheine eigenmächtig neue Handwerksrol20 21
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So Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 367. S. Kaiser (1978), S. 280 m. w. Nachw. Zur Zunftauflösung in Westfalen s. die knappen Bemerkungen bei Reininghaus (1991), S. 197–206 (198, 199), sowie Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 367. Eine Überblick über die Aufhebung der Zünfte in Deutschland findet sich bei Ziekow (1992), S. 396 ff. Zum Fortbestehen der Zünfte ohne „Zwangsgewalt“ als bloß gesellschaftliche Institutionen in der Schweiz vgl. Dubler (1987), S. 169, 170. Gelegentlich blieben sogar selbst Immobilien im Eigentum der Handwerker; in Lippstadt bewahrte die Metzgerzunft das Eigentum an ihrem Amtshaus und auch an der Feuerspritze; s. Schreiben des Lippstädter Landrats v. Schade an die Reg. Arnsberg vom 8.1.1823, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 57 Bd. VII; vgl. auch Klockow (1964), S. 219. Zur Wahrnehmung der skizzierten Aufgaben unterhielten die Angehörigen der verschiedenen Handwerkssparten in Lippstadt weiterhin Vorstände; s. Schreiben des Landrats des Kreises Lippstadt an die Reg. Arnsberg vom 11.8.1823, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 57 Bd. VII. Die Tuchmacher in Dortmund ignorierten die Sequestration ihres Vermögens, da sie insbesondere die Walk-Mühle für den Betrieb ihres Gewerbes benötigten; s. Schreiben des Landrats des Kreises Dortmund vom 7.10.1817, in: STAM, Reg. Arnsberg B Nr. 55. Diese Forderungen dürften nicht zuletzt dadurch motiviert gewesen sein, dass in einer Reihe der der Provinz Westfalen benachbarten Territorien wie im Kgr. Hannover, im Fst. Lippe-Detmold, im Fst. Schaumburg-Lippe, im Hzgt. Nassau und im Kurfürstentum Hessen die Zunftverfassung damals noch unverändert fortgalt; s. Mascher (1866), S. 605, 644, 645, 661. Im Folgenden werden lediglich Beispiele genannt, die keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vgl. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 367. S. Kaiser (1978), S. 281.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
len, die aufgrund der Rechtslage natürlich keine Wirksamkeit erlangen konnten.26 Im selben Jahr entfalteten auch die Handwerker in Paderborn Aktivitäten zur Wiederbelebung ihrer Ämter.27 Die dortigen Meister unterstützen die Errichtung einer Herberge und Lade der Tischlergesellen beim Magistrat, und in diesem Zusammenhang trugen sie keine Bedenken, der städtischen Obrigkeit mitzuteilen, dass sie sich längst wieder zur Wahrnehmung der Gildeaufgaben verbunden hatten: „… nachdem sich die hiesigen Tischlermeister aufs Neue in gesellschaftlichem Vereine verbunden hierbey als Grundlage die früher bestandenen Gildeordnungen mit gemeinschaftlicher Zustimmung insofern wieder angenommen, als solche für sie bei den durch die Aufhebung der Zünfte veränderten Verhältnissen noch anwendbar gefunden worden …“.28 Der Paderborner Stadtdirektor Meier unterstützte dieses Petitum ausdrücklich.29 Die Schuhmacher der Domstadt, die eine Sterbekasse errichtet hatten, hielten unverdrossen an ihren religiösen Gilde-Pflichten fest, indem sie die Seelenmesse am Tag ihres Patrons Crispin hielten, und die Metzger unterhielten weiterhin ihren gemeinsamen Grundbesitz.30 Sogar die Spitzen der Verwaltung in Westfalen hielten das geltende Prinzip der Gewerbefreiheit keineswegs für sakrosankt. So hatte der Oberpräsident Vincke schon 1818 eine Befragung bei den Landräten über die Wirkungen der Gewerbefreiheit in Westfalen veranlasst.31 Die Auffassungen der Beamten zu dieser damals allenthalben diskutierten Frage fielen außerordentlich unterschiedlich aus. Die Befürworter der uneingeschränkten Gewerbefreiheit behaupteten, diese sei für die Kunden ebenso wie für die Handwerker wirtschaftlich vorteilhaft und außerdem fördere sie die Qualität der Handwerksarbeit. Die Gegner der Liberalisierung beklagten dagegen die selbständige Berufsausübung durch unqualifizierte Gesellen und deren Ansiedlung auf dem flachen Land und in den kleineren Städten. Zwar wies die zuständige Regierung in Minden hinsichtlich der Paderborner Causa pflichtgemäß darauf hin, dass die Handwerker nur dann „an einem bestimmten Orte zusammenkommen“ dürften, wenn ihre Treffen „nur den Charakter eines geselligen Vereins“ hätten32. Gleichzeitig erklärte der Oberpräsident Vincke die Zunftlosigkeit der „Handwerker im engeren Sinne“ aber für „vielleicht verderblich“.33 26 27 28 29 30 31 32
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So Kaiser (1978), S. 281, 167. Bericht des Stadtdirektors der Stadt Paderborn vom 28.7.1819, in: Stadtarchiv Paderborn Nr. 374a. Zitiert nach Reininghaus, Das Paderborner Handwerk (1989), S. 368. Zum Rechtsritual in der Frühen Neuzeit vgl. Sellert (1997). Vgl. Schreiben der Reg. Minden vom 2.9.1819 an den Landrat des Krs. Paderborn, in: Stadtarchiv Paderborn Nr. 374a. S. dazu Reininghaus (1989), S. 368; Pöppel (1924), S. 20. Reininghaus (1991), S. 197–206 (199) m. w. Nachw. S. Anm. 29. Diese Veranstaltungen sollten „ohne äußere ehemalige Zunftzeichen und Gebräuche“ vonstatten gehen. Die „Wiedereinführung der ehemaligen Amtsregeln und Gebräuche“ stehe „den jetzigen … bestehenden Gesetzen entgegen“ (zitiert nach Reininghaus, wie Anm. 28). Zitiert nach Kaiser (1978), S. 281, 282 m. w. Nachw.. Vincke teilte den westfälischen Regierungen am 1.10.1818 mit: „Nachdem nun bereits eine Reihe von Jahren die ungebundenste Gewerbefreiheit bestanden (hat) und Gelegenheit gewesen, den Erfolg derselben zu beobachten, verlohnt es sich wohl und wird dringende Pflicht der Verwaltung, die Resultate sorgsam zu kons-
B. Die Innungen
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Diese Auffassung wurde zum Kontinuum in Westfalen – und nicht nur dort: Bei einer Umfrage des Berliner Ministeriums im Jahre 1823 sprachen sich alle preußischen Provinzen dafür aus, die „gewerblichen Corporationen“ wiederherzustellen oder, wo noch vorhanden, zu erhalten. Lediglich die damals bereits seit vielen Jahrzehnten beklagten „Missbräuche“ sollten beseitigt werden.34 Bei der Verfolgung ihres Ziels, die Zünfte neuerlich zu etablieren, wiesen die westfälischen Handwerker und ihre Förderer in der Verwaltung ein Staunen machendes Maß an Beharrlichkeit auf. 1828 unternahmen die Vertreter der Städte im Provinziallandtag zu Münster einen Anlauf, um die grundlegende Änderung der gewerberechtlichen Situation herbeizuführen. Sich rein pragmatisch gerierend, schlugen sie die Wiederherstellung der geordneten handwerklichen Ausbildung mit Prüfungszwang und die Unterbindung des Hausierhandels vor, um dann, entschuldigend gleichsam, zu bemerken, dass den in diesen Bereichen feststellbaren Übeln nur gewehrt werden könne, wenn „für jede Zunftgenossenschaft eine Deputation bestimmt wird, welche deren Gerechtsame vertritt“.35 Damit war die Katze aus dem Sack gelassen: Die Vertreter der Städte stilisierten das Zunftmodell zum Garanten der verloren geglaubten „Bürgertugend und Meisterehre“ und leiteten aus diesem Konstrukt dann die Forderung ab, die seit dem Mittelalter hergebrachte Organisationsform des Handwerks umgehend wieder zu etablieren. Vincke stand auch diesmal – 1829 – nicht an, sich dem Petitum der Städte anzuschließen. Unterstützt wurde er dabei vom Freiherrn von Stein, der eine Generation zuvor, als Direktor der Kriegs- und Domänenkammer Kleve-Mark, noch die völlige Gewerbefreiheit in der Grafschaft Mark eingeführt hatte.36 Nun aber rekurrierte Stein auf die Notwendigkeit einer guten Ausbildung der Handwerker, die nur die Zünfte zu gewährleis-
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tatieren, zu welchen solche geführt, ob dadurch die Gewerbe, ob dadurch das Publikum gewonnen, wie die Erwartungen, zu welchen die neue Theorie berechtigthen, allgemein oder parziel und bei einigen Gewerben und an einigen Orten durch die Praxis sich bestätigt oder widerlegt haben … Es wird behauptet, die Kunst, Zucht und Ordnung wären von den Handwerkern gewichen; die Verschlechterung und Vertheuerung der Arbeiten sey der Auflösung des genossenschaftlichen Bandes allein beizumessen; mit diesem habe das Publikum die Bürgschaft für gute Arbeit verloren; die Leichtigkeit der gewerblichen Ansiedlung befördere eine übermäßige Verfielfältigung vermögensloser Handwerkerfamilien und führe die neuen wie die alten an den Bettelstab; der Ehrenname eines ehrbaren Handwerks sey erloschen und in dessen Folge der Ruin eines ehrsamen Bürgerstandes entschieden. Es scheinen sich indeßen diese Vorwürfe auf die für das nächste Bedürfnis des Publikums arbeitenden Gewerbe – auf die Handwerker im engeren Sinne zu beschränken – und auf die für größeren Markt sich beschäftigenden, fabrizierenden Gewerbe nicht zu treffen, für diese die Gewerbefreiheit eben so wohlthätig als jene vielleicht verderblich …“. Die von Vincke veranlaßte Umfrage über die Auswirkungen der Gewerbefreiheit ergab, dass sich im Regierungsbezirk Arnsberg sowohl Befürworter als auch Gegner fanden; zu den Ergebnissen dieser Umfrage ausführlich Kaiser (1978), S. 281 f. und Reininghaus (1991), S. 199, 200. Schreiben vom 6.9.1823 an den Staatsminister Grafen v. Bülow, in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, tit. 306, Nr. 64, fol. 2; desgl. Schreiben des Ministers v. Schuckmann an den Geh. Staatsminister v. Bülow v. 22.9.1823, a. a. O. S. Kaiser (1978), S. 282. S. dazu Deter (1990), S. 123; Reininghaus (1989), S. 36; Reininghaus (1991), S. 200.
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ten vermöchten.37 Vincke verband die Eingabe der Deputierten der Städte mit dem ausdrücklichen Bemerken, dass den Handwerkern gestattet werden solle, „sich zu Korporationen zu vereinigen“. So ermuntert wandten sich schon 1830 erneut zahlreiche Handwerksmeister aus Münster an den Oberpräsidenten, um wenigstens eine Ausweitung des Prüfungszwangs, der 1821 für die Bauhandwerker wieder eingeführt worden war, zu erreichen,38 wobei auch sie nicht vergaßen, ihre Anliegen mit der Forderung nach Wiederherstellung einer „weisen“ Zunftordnung zu verbinden. Allerdings erreichten sie bei dem liberal gesonnenen Innenminister nichts.39 Von der Verwaltung enttäuscht wollten die Meister insbesondere der größeren Städte Westfalens aber nicht länger auf Erlaubnisse und Genehmigungen des Ministeriums zur Reanimierung ihrer traditionellen Genossenschaften warten, zumal die Erteilung neuer Privilegien bei nüchterner Betrachtung als wenig realistisch erscheinen musste40; so begannen sie jedenfalls in einigen Städten kurzerhand, selbst Fakten zu schaffen: Jeweils zwei oder drei der in Beckum tätigen Bäcker schlossen sich zu Beginn der zwanziger Jahre zu sog. „Compagnien“ zusammen, um den Brotabsatz durch Absprachen zu regulieren und sich gegenseitig nicht zu schädigen. Ähnliche Vereinbarungen trafen auch die Metzger der Stadt.41 Mit diesem Versuch, die Konkurrenz auszuschalten oder zumindest zu begrenzen, knüpften sie einmal mehr an den Kern des verblichenen Korporationswesens, das Zunftmonopol, an – doch ohne privilegiert zu sein. Anderwärts wählten die Meister die Vertragsform, um praktische Probleme gemeinschaftlich zu lösen.42 So schlossen sechs münsterische Zinngießer 1823 einen Vertrag über ihre Gussformen und reanimierten auf diese Weise Teilaspekte der Zunftordnung. Sie hofften wohl nicht zu Unrecht, dass die Behörden ihre unter diesem Deckmantel verborgenen korporativen Bestrebungen durchgehen ließen. Energischer verfolgten die Mindener Zimmermeister ihre Ziele: Auch sie waren der liberalen Gewerbeordnung bald überdrüssig. Deshalb suchten sie die aus ihrer Sicht besonders misslichen Resultate der Gewerbefreiheit gleich durch einen ganzen Kanon selbstgesetzter Regeln zu beseitigen: Meister und Gesellen gründeten 1826 einen decouvrierend „Zimmergewerk“ genannten Verein, der sich eine 37
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In seiner Denkschrift zum Zunftwesen vom 2. Januar 1826 erklärte Stein: „Vermehrung der Kenntnisse in Verbindung mit zweckmäßigen Gilde-Einrichtungen werden kräftiger als ein wildes Zudrängen zum Gewerbe die Erzeugnisse des Fleisses vervielfältigen und vervollkommnen“, s. Freiherr vom Stein (1965), S. 923–930, hier zitiert nach Reininghaus (1991), S. 200. Schreiben der Vertreter der Münsteraner Handwerker an den Oberpräsidenten Vincke vom 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1, fol. 206–217. Schreiben des Innenministers v. Schuckmann an den Vertreter der Handwerker Münsters, Schmülling, v. 25.5.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1, fol. 236–238. Werner Conze hat die Haltung der preußischen Zentralregierung in dieser Frage folgendermaßen skizziert: „Ständische Ordnung, traditionelles Denken, soziale Sonderung wurden angefochten, aufgehoben, als sinn- und vernunftswidrig bezeichnet“; s. Conze (1970), S. 249. In den meisten Kleinstädten lässt sich eine Wiederbelegung des korporationen Geistes nicht nachweisen; Reininghaus führt als Beispiele Wattenscheid, Neuenrade und Schwerte an, s. Reininghaus (1991), S. 201. S. Schulte (1976), S. 136. S. Krins (1978); Zum Handwerk im Münster des 19. Jahrhunderts s. Goeken (1925).
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Satzung gab, um jedenfalls die hergebrachten Regeln der zünftigen Arbeits- und Ausbildungsordnung in Minden wieder durchzusetzen. Sinnigerweise griffen die Meister aus dem umfangreichen Regelungskatalog des Alten Handwerks eben diesen Bereich heraus, da sich die Gewerbefreiheit gerade auf den Feldern des Arbeitsmarktes und Arbeitsrechts als für sie besonders verhängnisvoll erwiesen hatte: Der damalige Festungsbau verursachte im Mindener Bauhandwerk einen latenten Arbeitskräftemangel, so dass sich die Gesellen leicht bei einem anderen Meister verdingen konnten – und von dieser Möglichkeit machten sie auch eifrig Gebrauch. Deshalb untersagte das neue „Zimmergewerk“– ganz in zunfttypischer Manier – umgehend den zugehörigen Meistern, fremde Arbeitskräfte abzuwerben; die Zahl der Lehrlinge pro Meister wurde auf drei begrenzt und eine zweieinhalbjährige Lehrzeit mit Prüfung sowie eine dreijährige Wanderzeit vorgeschrieben. Eine Krankenlade für die Gesellen errichteten die Meister auch; zugleich verpflichteten sie die Mitglieder der Kasse, ihre Hilfskräfte, zur Beitragszahlung. Aus dieser Lade sollte den zuwandernden Gesellen auch das traditionelle „Geschenk“ gegeben und – angesichts der zahlreichen verheirateten Bauhandwerksgesellen von besonderer Wichtigkeit – deren Witwen unterstützt werden. Um die Mitgliedschaft in dem neuen Verbund für die Arbeitnehmer nicht unattraktiv werden zu lassen, wollten die Meister für den Fall, dass sie Gesellen beschäftigten, die dem Mindener Gewerk nicht angehörten, selbst regelmäßig Beiträge an die Lade entrichten. Die Gesamtheit dieser die Reminiszenz an die Zünfte kaum verhehlenden Bestimmungen wurde damals bezeichnenderweise „mit Einverständnis“ der Mindener Polizeibehörde beschlossen43. Man ist versucht, die in diesen Einzelfällen so offenkundig zu Tage tretenden Tendenzen zur Umgehung der verordneten Gewerbefreiheit durch zunftähnliche Organisationsformen für dilettantisch und ineffizient zu halten – doch waren sie es keineswegs. Das Bemühen der Meister, einen Zipfel der alten Ordnung festzuhalten – und sei es auch nur einen solchen symbolischer Natur –, bildete ein Kontinuum im westfälischen Handwerk jener Zeit. Der Beispiele sind mehr als genug. 1831 suchten die Paderborner Schlosser beim Magistrat zu erreichen, dass dem Sattler und Wagenfabrikanten Erckes die Beschäftigung von Schlossergesellen untersagt wurde, und in den vierziger Jahren wollten die Schneider der Stadt die Etablierung von Kleidermagazinen verbieten lassen. 44 1837 gründete ein Teil der Siegener Metzger die „Fleischergesellschaft der Stadt Siegen“.45 In Münster hielten die Bäcker auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit an der Feier ihres traditionellen „Guten Montags“ fest.46 In Lippstadt verfügte das „ehemalige oder aufgehobene“ Bäckeramt, so die damalige offizielle Bezeichnung, 1835 noch über eine Feuerspritze nebst anderen Inventarstücken, und 1849 richtete es, ganz traditionsgemäß, bei einer Amtsversammlung ein Abendessen für 37 Personen aus.47 Das nach dem Abzug der Franzosen im Rahmen der Möglichkeiten reorganisierte „Fleischhauer43 44 45 46 47
Stadtarchiv Minden F 206. Zum Handwerk in Minden im 19. Jahrhundert s. Rodekamp (1987). S. Reininghaus, wie Anm. 28, S. 368; Reininghaus, Handwerk und Zünfte …(1991), S. 19. S. Irle (1972), S. 95. Göken (1925), S. 62. Laumanns (1952), S. 55, 56.
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amt“ der Lippestadt bestand bis 1886 sogar als wirkliche Berufsorganisation und seither bis heute als Traditionseinrichtung weiter48. Neben diesen unverhohlen an die Zunftordnung anknüpfenden Zusammenschlüssen entwickelten sich damals auch zahlreiche Handwerkervereine, die auf lokaler Ebene Einfluss zu gewinnen suchten – wie die ebenfalls in Lippstadt zu findenden „Handwerksfreunde“, die 1832 bereits 91 Mitglieder zählten.49 Deren Vereinszweck war es, das Wohl der „arbeitenden Klassen“ zu fördern. Den Mitgliedern wurde – für die Zeit des Vormärz nicht untypisch – aber bald vorgeworfen, demokratische Tendenzen zu verfolgen. Ein weiteres Beispiel aus der Vielzahl solcher Zusammenschlüsse ist die sog. „Fahnenbrüderschaft“ der Maurer und Steinhauer,50 welche in Herford nach Aufhebung der Zünfte entstand. Auch die handwerkstypischen Sterbekassen lebten mancherorts fort oder wurden wiedererrichtet.51 Alle diese auf rein privatrechtlicher Ebene organisierten Verbindungen, welche hier nicht näher betrachtet werden können,52 ließen doch immer auch etwas von dem Gestus der verblichenen Zunft aufscheinen. So sind diese Zusammenschlüsse auch für die Zeit des Vormärz noch sehr zu Recht als „polyfunktionale Sozialgebilde“ bezeichnet worden.53 Nicht zuletzt das gerade damals in Westfalen in bedeutendem Umfang neu entstandene Sachgut der Handwerker weist einmal mehr darauf hin, dass Meister wie Gesellen auch im Zeitalter der Gewerbefreiheit den korporativen Zusammenhalt so weit wie möglich zu bewahren suchten. So versahen die Lippstädter Gerber ihre neue „Zunft“truhe 1837 – durchaus provokant – mit der Aufschrift „Innung der Gerber“,54 und die „Vereinigten Zimmergesellen“ in Soest bezeichneten ihre Lade 1841 mit dem schon bei den ostwestfälischen Zünften des 18. Jahrhunderts verbreiteten Begriff „Auflage“.55 Aus dem Lippstadt des Jahres 1842 findet sich ein Zinnpokal der Kleidermacher,56 und die Ladenmeister der dortigen Tischler stifteten den Gesellen 1841 einen Zunftpokal.57 Die Herforder Schuhmacherbruderschaft ließ sich 1837 einen neuen Stempel anfertigen.58 Die „Vereinigten Handwerker“ aus Telgte hinterließen ein Protokollbuch, welches seit 1834 Eintragungen enthält; die Bäcker-, Brauer- und Metzger-Gilde dortselbst besaß schon seit 1821 wieder eine Fahne, und das Schmiedeamt der Stadt ließ sich 1827 ebenfalls eine solche
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Auch in Paderborn existierte die „Metzgerzunft“ bis in das 20. Jahrhundert fort. Laumanns (1958), S. 84, 86. So Schinkel (1926), S. 58. s. dazu ausführlich unten. Einleitend wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer dem Handwerksrecht gewidmeten Untersuchung auf die Darstellung der auf privatrechtlicher Basis organisierten Handwerkervereine en detail verzichtet werden muss. So Reininghaus (1989), S. 504 unter Bezugnahme auf die Begrifflichkeit für die Zunft nach Bergmann (1973); Lenger (1988), S. 15. S. Pieper-Lippe (1964), S. 59. Vgl. Pieper-Lippe (1964), S. 57. Pieper-Lippe, Zunftsiegel (1963), S. 36. Krins (1978). Pieper-Lippe, Zunftsiegel (1963), S. 39.
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anfertigen.59 In Lippstadt mag der Umstand, dass die Stadt preußisch-lippischer „Samtherrschaft“ unterstand und die Zünfte im Fürstentum Lippe damals noch unverändert existierten, den korporativen Gedanken besonders gefördert haben. Doch zeigt die Vielzahl der Beispiele aus anderen Städten, dass die durch die Fremdherrschaft beseitigte Ordnung im zunftlosen Westfalen ihre in Jahrhunderten gewachsene Anziehungskraft auf die Handwerker noch keineswegs verloren hatte.60 Die unverdrossenen Bemühungen der Meister und Gesellen blieben schließlich nicht wirkungslos. 2. Der Entwurf des Gewerbepolizeigesetzes Nach jahrzehntelangem, hinhaltendem Taktieren mochte sich der preußische Gesetzgeber der Forderung nach einem organisatorischen Neuanfang im Handwerk nicht länger entziehen. 1837 wurde u. a. dem westfälischen Provinziallandtag der Entwurf eines Gewerbe-Polizei-Gesetzes zur Stellungnahme zugeleitet.61 Da der Text die Etablierung von Vereinen mit Innungsaufgaben auf freiwilliger Basis vorsah, mussten die Stände – und dies hieß in Westfalen Adel, Städte und die Vertreter des bäuerlichen Grundbesitzes – ihre Haltung zur Wiederbelebung korporativer Organisationsformen im Handwerk konkretisieren. Sie entledigten sich dieser Aufgabe mit einem Wortschwall beträchtlichen Ausmaßes, hinter dem sich eine Auffassung erkennen lässt, welche von derjenigen der Handwerker der Provinz nicht nur deutlich abwich, sondern die ihr entgegenstand. Die westfälischen Abgeordneten sangen das Hohe Lied der Gewerbefreiheit, welche „einen früher unglaublichen Aufschwung der Industrie hervorgerufen“ habe.62 Daher sollten Beschränkungen dieser segensreichen Rechtsverhältnissen nur insofern Platz greifen, als entweder höhere Staatsinteressen oder die Abwendung von Nachteilen für das Publikum es erforderten.63 Zwar erkannte der münsterische Landtag an, dass Korporationen die „Standesehre“, „Zucht und Ordnung“ sowie auch die Qualität der Ausbildung der Handwerker zu fördern vermöchten. Die Gewerbetreibenden sollten sich aber der „Missbräuche“ und insbesondere der „eigennützigen Zwecke“ der früheren Zünfte enthalten.64 59 60
Krins (1978). Reininghaus`, Feststellung, in „altpreußischen“ westfälischen Gebieten habe es Zunftersatz nur in Ausnahmefällen gegeben, solche Zusammenschlüsse seien vielmehr ein Spezifikum ehemals geistlicher Territorien gewesen, hält, wie schon die angeführten Beispiele zeigen, dem empirischen Befund keineswegs stand. So aber Reininghaus (1991), S. 201. Zum Verhältnis Preußens zu seinen Westprovinzen s. Hartung (1961). 61 Der Text des Entwurfes findet sich in GStA/PK, Verwaltung für Handel, Fabriken und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 1a, Bd. 2, fol. 66–134. 62 Stellungnahme des Westfälischen Provinziallandtages zum Entwurf eines neuen Gewerbe-Polizei-Gesetzes vom 13.4.1837, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 75 ff.; desgl. auch in GStA/PK, Verwaltung für Handel, Fabriken und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 1a, Bd. 2, fol. 135–182. 63 GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 63. 64 GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 73.
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Die westfälischen Abgeordneten beharrten auch darauf, dass den Gewerbetreibenden der Beitritt zu diesen neu zu schaffenden „Vereinen“ freigestellt sein müsse. Die in dem Entwurf vorgesehene Bestimmung, wonach die vorhandenen Innungen generell fortbestehen sollten, lehnten sie im Hinblick auf die in Wittgenstein noch existierenden, durch die ausschließliche Gewerbeberechtigung privilegierten Zünfte mit der keinem Zweifel unterliegenden Begründung ab, dass deren Rechtsverhältnisse mit dem Prinzip der Gewerbefreiheit nicht vereinbar seien.65 Im Gegensatz zu der in dem Gesetzentwurf enthaltenen Regelung sollte, so der Landtag, den Handwerkern das Ausscheiden aus diesen „Vereinen“ nicht erschwert und die Auflösung der noch vorhandenen Korporationen auch nicht von der Genehmigung der Regierung abhängig gemacht werden. Der von dem münsterischen Provinzparlament vertretene gewerbefreiheitliche Impetus kam auch in dem Petitum zum Ausdruck, jeden Zwangscharakter der neuen Innungen zu vermeiden. Der Gesetzentwurf sah demgegenüber vor, dass die Beschlüsse der Korporationen selbst für die denselben nicht beigetretenen Berufsangehörigen am Ort verbindlich sein sollten. Die unorganisierten Handwerker hätten folglich finanzielle Verpflichtungen übernehmen müssen, denen sie nicht zugestimmt hatten.66 Die westfälischen Abgeordneten sahen dadurch eine Abhängigkeit der Außenstehenden von den Innungsmitgliedern begründet, welche die Gewerbefreiheit in der Tat „in einem hohen Grade“, wie sie erklärten, zu gefährden vermochte. Im sozialen Bereich wollte der Landtag den Korporationen nicht unwichtige Aufgaben zuweisen: So sollten ihre Mitglieder verpflichtet werden, die Vormundschaft für die verwaisten Kinder verstorbener Innungsangehöriger zu übernehmen, und, insoweit durchaus an das Zunftrecht anknüpfend, hilfsbedürftige Witwen und Waisen der Mitglieder zu unterstützen.67 Arbeitsrechtliche Streitigkeiten zwischen den korporierten Meistern und ihren Gesellen und Lehrlingen wollten die westfälischen Abgeordneten von den Vorstehern der Genossenschaft unter Vorsitz eines Angehörigen der Kommunalverwaltung entschieden wissen68 – wobei die Berufung dann bezeichnenderweise an die Kommunalverwaltung gerichtet werden sollte. Im Bereich der das Handwerk betreffenden Gerichtsbarkeit wollten die westfälischen Stände die neuen Korporationen demnach von der Kommunalverwaltung abhängig machen – was nicht allein in der fortdauernden Furcht vor den „Zunftmissbräuchen“, zu denen vor allem die autonome Jurisdiktion der Handwerker gezählt wurde, begründet lag. Hier artikulierte sich vielmehr ebenso das Bedürfnis nach einem geregelten Verfahren für die arbeitsrechtlichen Streitigkeiten, welches in Preußen damals erst in nuce vorhanden war.69 65 66 67 68 69
GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 73. GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 77. GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 76. GStA/PK, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6, fol. 78. Zur Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit vgl. Brand (1990). S. dazu ausführlich Deter (1987), S. 117 ff.
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Auch der Oberpräsident v. Vincke nahm zu dem Entwurf des Gewerbe-PolizeiGesetzes Stellung. Dabei setzte er, wie bereits angedeutet, allerdings durchaus andere Akzente als der Landtag. Zwar war auch er der Ansicht, dass alle bis dahin bestehenden „gewerblichen Vereine“, vor allem also die noch existierenden Zünfte, umgehend aufzuheben seien. Er war aber weit davon entfernt, die Einführung der Gewerbefreiheit in Westfalen als die „außerordentliche Wohlthat“ zu erachten, als welche die liberal gesonnenen Berliner Ministerien diese Jahrhundertreform damals zu apostrophieren beliebten.70 Vincke wies stattdessen darauf hin, dass in Westfalen schon vor 1806 ein im Vergleich zu den östlichen Provinzen Preußens „viel milderes und wenig bemerkbares Zunftwesen“ existiert habe, woraus er schloss, dass die Beseitigung der alten Ordnung in den Westprovinzen keinen grundlegenden Wandel der tatsächlichen Situation gebracht habe. „Kein einziger Gewerbezweig“ habe sich durch die Reform „besonders gehoben“. Stattdessen habe Westfalen „nur die übeln Folgen der Gewerbefreiheit in vorzüglichem Maaße zu tragen gehabt“. Auf dem Lande habe die Liberalisierung des Gewerberechts zu einem „großen Mangel an tüchtigen Handwerkern, namentlich von Bauhandwerkern“ geführt. Vincke sprach sich deshalb für die Begründung sog. „Gewerbevereine“ neuen Typs aus, denen ausdrücklich „Vorzugsrechte“ eingeräumt werden sollten. Hierunter verstand er nicht die bloße Interessenvertretung auf privatrechtlicher Grundlage, sondern durchaus Korporationen mit hoheitlichen Befugnissen. Der Oberpräsident verknüpfte mit der Errichtung dieser neuen Verbände vor allem die Hoffnung auf eine bessere Ausbildung der Lehrlinge. Diese war aber, so wusste auch Vincke, allein durch rechtlich geordnete und kontrollierte Verfahrensweisen zu gewährleisten. Zunächst jedoch geschah in Berlin wiederum nichts; die große Reform schien ad calendas graecas aufgeschoben. 3. Die Gewerbeordnung des Jahres 1845 Erst nach jahrzehntelangen Vorbereitungen trat die preußische Gewerbeordnung schließlich am 17. Januar 1845 in Kraft. Sie schuf für die noch bestehenden Zünfte und die Innungen, welche neu errichtet werden sollten, endlich eine einheitliche rechtliche Grundlage. Bis dahin war noch immer das ALR mit seinen eine intakte Zunftverfassung voraussetzenden und damit im gewerbefreiheitlichen Preußen kaum mehr passenden Bestimmungen maßgeblich gewesen. Das jahrzehntelang diskutierte und endlich realisierte Vorhaben sollte den Meistern einerseits Entgegenkommen signalisieren, indem es einen zeitgemäßeren rechtlichen Rahmen für ihr vielfach geäußertes Bedürfnis nach „Association“ schuf. Andererseits war dem neuen Organisationsmodell aber auch aufgegeben, die staatliche Kontrolle über die Zusammenschlüsse der Meister zu sichern. 70
S. Gutachten des Oberpräsidenten v. Vincke, 1837, in: GStA/PK, Verwaltung für Handel, Fabriken und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 1a Bd. 2, fol. 183–194 (193); zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes s. Roehl (1900), S. 189 ff.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Der Fortbestand der in den Stadtgemeinden Ostelbiens nahezu überall, in der Provinz Westfalen dagegen lediglich im Kreis Wittgenstein noch bestehenden Zünfte wurde durch das neue Gesetz gewährleistet, zugleich aber ausdrücklich die Beseitigung des Zunftzwanges normiert (§ 94). Die Statuten der bei Inkrafttreten der Gewerbeordnung noch vorhandenen Korporationen waren zu revidieren (§ 95). Den Mitgliedern wurde das Recht eingeräumt, auszutreten (§ 96), aber auch die ehemaligen Zünfte aufzulösen (§ 97). Die an einem Ort tätigen Handwerker „gleicher oder verwandter Gewerbe“ konnten eine neue Innung errichten (§ 101). Durch die Bestätigung ihrer Statuten erlangten die vereinigten Handwerker sog. „Korporationsrechte“ und damit hoheitliche Befugnisse (§ 101). Die zur Bildung dieser nunmehr „Innungen“ geheißenen Zusammenschlüsse erforderliche Anzahl von Meistern hing von der Größe der jeweiligen Städte ab: Während es in Münster 24 selbständiger Handwerker bedurfte, reichten in den übrigen Städten Westfalens bereits 12 Personen aus. Mit Genehmigung des Ministeriums konnten sich auch die Meister mehrerer Orte zu einer solchen Innung zusammenschließen (§ 102). Zweck der neu zu gründenden Korporationen war „die Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen“ (§ 104). Um erst gar keine Illusionen aufkommen zu lassen, beschied schon der Gesetzestext die Meister, in welch eingeschränkter Weise der Staat die Wahrnehmung ihrer Interessen zulassen wollte: Von den vielfältigen Aufgaben, derer sich die Zunft in den langen Jahrhunderten ihrer Existenz angenommen hatte, überantwortete der preußische Gesetzgeber des Jahres 1845 den Meistern nur noch Rudimente, nämlich die Ausbildung und Beaufsichtigung der Lehrlinge und Gesellen, die Durchführung von Prüfungen, die Verwaltung der Kranken-, Sterbe-, Hilfs- und Sparkassen der Innungsmitglieder sowie die Fürsorge für deren Witwen und Waisen (§ 104). Und selbst diese beschränkten Aufgaben konnten die Meister nicht einmal in eigener Verantwortung erfüllen: Bei den Beratungen über die Errichtung einer Innung stand der Kommunalbehörde „unter Aufsicht der Regierung“ die Leitungsfunktion zu, während sich die Ministerien die „Feststellung und Bestätigung der Statuten“ selbst vorbehielten (§ 105). Nach dem Willen des Gesetzgebers kam der Bestimmung, dass jedes neu aufzunehmende Mitglied seine Befähigung zum Gewerbebetrieb durch die Ablegung einer Prüfung nachweisen musste (§ 108), zentrale Bedeutung zu. Die Angehörigen der noch bestehenden Zünfte waren von derlei Pflichten allerdings befreit. Wichtiger als diese war eine andere Ausnahme: Auch jene Handwerker, die ihre Profession bereits „einige Zeit hindurch mit Auszeichnung selbständig betrieben“ hatten, konnten durch einen Beschluss der Innung und die Zustimmung der Prüfungsbehörde ebenfalls von der Prüfungspflicht entbunden werden.71 An die engen Arbeitsgrenzen der einzelnen Gewerbe, welche für die Zunft so typisch gewesen waren, anzuknüpfen verwehrte der Gesetzgeber den Meistern: Ausdrücklich gestattete § 111 der Gewerbeordnung den Innungsmitgliedern, auch solche Gewerbe, für welche die Genossenschaft nicht gebildet worden war, zu betreiben. 71
Von diesen Grundsätzen wurden aber Ausnahmen zugelassen: So konnten auf Beschluss der Gemeinde und nach Anhörung der betreffenden Gewerbetreibenden Innungen errichtet werden, deren Mitglieder den Befähigungsnachweis nicht erbracht hatten.
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Die Bestimmungen konnten nicht verbergen, wie sehr der Staat darum besorgt war, die Kontrolle über die neuen Selbstverwaltungseinrichtungen zu gewinnen und nicht wieder zu verlieren. Bezeichnenderweise bedurften die von den Innungsmitgliedern gewählten Vertreter der Bestätigung der Kommunalbehörde (§ 112); und bei jedem Zusammentreffen der Innung hatte ein Mitglied eben dieser anwesend zu sein, „um über die Gesetzmäßigkeit der Beschlüsse zu wachen“ (§ 113). Streitigkeiten innerhalb der Genossenschaft waren nicht, wie es einst Zunftbrauch gewesen war, von den Mitgliedern, sondern von der Kommunalbehörde bzw. im Wege des Rekurses von der Regierung zu entscheiden (§ 122). Auch der Gutgläubigste konnte angesichts solch signifikanter Beschränkung der Selbstverwaltungsrechte nicht übersehen, dass die Obrigkeit die Meister an der ganz kurzen Leine zu führen beabsichtigte. Es nimmt nicht wunder, dass die Betroffenen in Westfalen, wie noch zu zeigen sein wird, diese offen zur Schau getragene Attitüde keineswegs goutierten. Ebenso wie über die Bedeutung der Einführung der Gewerbefreiheit in Westfalen herrschen auch über den Erfolg der Bestimmungen der Allgemeinen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 zum Innungswesen in der Provinz bislang noch immer ganz unklare Vorstellungen. Wenn Wolfgang Köllmann behauptet, dass die „neuen Innungen“ der Handwerker in Rheinland-Westfalen „die Übersetzungskrise des Handwerks zu steuern suchten“,72 so könnte dies den Eindruck erwecken, als habe der preußische Gesetzgeber in seinen Westprovinzen eine wirkmächtige Bewegung angestoßen, die dem von der damaligen wirtschaftlichen Misere betroffenen Teil der Handwerker in bedrängter Zeit zur eigentlichen Stütze wurde. Dem war aber, wie im Folgenden deutlich werden wird, keineswegs so. Neben den fortlebenden wittgensteinischen Zünften entstanden in Westfalen zunächst keine weiteren Innungen, und in den anderen Landesteilen der Monarchie war der Erfolg der Gewerbeordnung insoweit kaum größer – was angesichts der weitgespannten Wünsche der Meister, denen die Regelungen der Gewerbeordnung keineswegs genügten, nicht überrascht. Schon Gustav Schmoller hatte festgestellt, dass von „einer Rückwirkung dieses Gesetzes auf Gedeihen oder Nichtgedeihen des Handwerkerstandes nicht die Rede sein konnte“.73 Nirgends sei das Gesetz als etwas Neues, Einschneidendes betrachtet worden. Im zunftlosen Westfalen stellten die Bestimmungen – ganz im Gegensatz zu Schmollers Behauptung – aber sehr wohl eine gravierende Änderung jedenfalls der rechtlichen Situation dar. Ob die Regelungen der Gewerbeordnung in der Provinz aber auch die Rechtswirklichkeit zu gestalten vermochten und so Schmollers Diktum zu revidieren sein wird, soll im folgenden en detail untersucht werden.
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Köllmann, Rheinland-Westfalen (1974), S. 208–228 (215). Schmoller (1870), S. 83.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
4. Neue Impulse durch Handwerkervereine An vielen Orten Westfalens kam es als Ergebnis der revolutionären Gärung des Jahres 1848 zur Gründung von Volks-, Bildungs- oder Demokratischen Vereinen, die maßgeblich von Handwerkern mit getragen wurden74. Mit einiger Verzögerung75 errichteten die Meister dann auch in Westfalen spezifische Handwerkervereine, die sich zwischen Rhein und Weser schnell entwickelten. Den Anstoß gab die Einladung zu dem Allgemeinen Deutschen Handwerkerkongreß, der in Frankfurt abgehalten werden sollte. Im Mai 1848 war in der Kölnischen Zeitung ein Aufruf „an den gesamten Gewerbestand“ erschienen, in dem gefordert wurde, „einen Beirat von Handwerkern an den Frankfurter Reichstag zu entsenden“. Am 6. Juli 1848 trafen sich dann in der Tat Vertreter der ersten neu gebildeten örtlichen Interessenvertretungen in Bielefeld, um Delegierte für diesen Kongreß zu wählen76. Als westfälischer Deputierter wurde der Paderborner Buchbinder Petrasch bestimmt, der sich dann in Frankfurt dezidiert und zeittypisch gegen „das Capital“ wandte und sich besonders für eine obligatorische Witwen-, Waisen- und Alterskasse einsetzte77. Zu Beginn des Jahres 1848 schon hatten auch das Innen- und das Finanzministerium eine neue Initiative ergriffen, um eine Vereinheitlichung des Innungswesens in Preußen zu erreichen – ein Unterfangen, welches angesichts der in Ostelbien noch fortbestehenden Zünfte einer- und der nichtkorporierten Handwerker in den Westprovinzen andererseits ebenso notwendig wie schwierig erschien. Die Bezirksregierungen sollten darauf hinwirken, dass die Statuten der einzelnen Innungen möglichst gleichförmig abgefasst wurden, um, wie die zuständigen Minister mit entwaffnender Offenheit bemerkten, „die künftige Beaufsichtigung der Innungs-Angelegenheiten nicht … zu erschweren“.78 Immerhin räumte man aber ein, dass die individuellen Verhältnisse der Innungen berücksichtigt werden konnten. Deshalb wurde es den Bezirksregierungen ermöglicht, ggf. auch von den Muster-Bestimmungen, welche das Ministerium als Grundlage für die Satzungen der einzelnen Innungen formuliert und den Behörden übersandt hatte, abzuweichen. Dieser Vorstoß des Berliner Ministeriums, welcher vor allem auf die Unterwerfung der im Osten der Monarchie weiterlebenden Zünfte unter Geist und Buchstaben der Gewerbeordnung zielte, machte das Innungsmodell, wie die Gewerbeord74
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S. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 369. Zur Rolle der Handwerker in der Revolution 1848/49 vgl. Simon (1983); Dowe/Offermann (1983); Bergmann (1986); Zerwas (1988); Conze/Zorn (1994). Lenger hat darauf hingewiesen, „die Meister“ hätten sich „zahlreich an den diversen Aktionen und Organisationen“ beteiligt; vgl. Lenger (1988), S. 68. Schon im Mai 1948 war in Sachsen ein Regionalverein gegründet worden, und bald darauf folgten die norddeutschen Küstenstädte, s. Reininghaus, wie Anm. 74, S. 369, 370. Zur Entstehung der Handerkverbände s. Gimmler (1972); zum Übergang vom Zunftwesen zu privaten Vereinen s. Steindl (1984), S. 30–135 (60 f.). Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 370 m. w. Nachw.. Reininghaus, wie Anm. 76; zu Petrasch Simon (1983), S. 382 f., 386; Dowe/Offermann (1983), S. 97, 115, 157. Schreiben des Innen- und Finanzministers an die Regierung Münster v. 4.2.1848, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5779.
B. Die Innungen
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nung es verstand, in den Augen der Westfalen naturgemäß nicht attraktiver. Als wenig später die Achtundvierziger-Revolution auch in Deutschland ausbrach, verband sich das politische Aufbegehren der zu den maßgeblichen Trägerschichten der Bewegung zählenden Meister und Gesellen mit einem organisatorischen Neuanfang im Handwerk selbst, und zwar auf breitester, immer aber staatsferner Basis79. Diese ersten organisatorischen Bemühungen der westfälischen Handwerker gingen sogleich einher mit dem Bestreben, durch Petitionen Einfluß auf die Gewerbegesetzgebung nehmen zu können. Eingaben aus Höxter und Paderborn an den Volkswirtschaftlichen Ausschuß der Frankfurter Nationalversammlung waren die ersten, die dort eintrafen80. Angesichts der neuen preußischen Gesetzgebungsinitiative nimmt es nicht wunder, dass es den westfälischen Handwerksmeistern keineswegs vorrangig um die Herstellung eines funktionstüchtigen Innungswesens im Sinne der Gewerbeordnung ging. Die Paderborner Meister wandten sich gegen die „Anhäufung des Kapitals in den Händen einzelner“ und gegen die „unbegränzte Gewerbefreiheit“. Stattdessen forderten sie u. a. Staatsvorschüsse für kleine Werkstätten, Einschränkung der Gesellenzahl, Verbot der Konkurrenz der Militärhandwerker und die obligatorische Meisterprüfung, keineswegs aber die Zwangsinnung oder gar ein „Zurück zur Zunft“. Nur wenige der zahlreichen Eingaben aus Westfalen sprachen sich für die Errichtung von Vereinigungen „mit korporativen Rechten“, Innungen also, aus.81 Andere Forderungen wie die nach einem Verbot des Handels mit nicht selbst gefertigten Handwerkswaren, der Beschränkung der Zahl der Meister und Gesellen, einer geordneten Handwerkslehre oder dem Verbot der Handwerksarbeit von Strafgefangenen erschienen den Meistern durchaus wichtiger. Reininghaus will in dieser Zurückhaltung gegenüber der alten Forderung nach der Zwangsinnung „Einflüsse des Volksvereins und der Demokraten“ erkennen82. Viel eher dürfte diese Scheu vor hoheitlichen Aufgaben der Handwerkerverbände aber in der Initiative des preußischen Gesetzgebers ihre zutreffende Begründung finden. Denn der Innungsgedanke wurde von einer Seite, von der man das kaum erwartet hätte, ausdrücklich 79
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Diese Vorgänge fanden in der Forschung vor allem der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit; s. Jäger (1887); Schwarz (1937); Hötzel (1968); Bergmann (1976); Blackbourn/Eley (1980); Mooser (1982); Simon (1983); Dowe/Offermann (1983); Herzig (1984); Bergmann (1984); Gailus (1984); Haupt (1985); Kocka (1986); Bergmann (1986); Lenger (1987); Ehmer (1994); Conze/Zorn (1994). Reininghaus, wie Anm. 76; die Eingabe aus Paderborn datiert v. 20. Juni 1848. S. Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51, 141. Diese waren die Handwerker des Krs. Siegen (fol. 93), die Mitglieder des Handwerkervereins des Krs. Meschede (fol. 138), der Gewerbeverein in Soest (fol. 182), die Kürschner, Weißgerber, Schuh- und Regenschirmmacher in Soest (fol. 184), die Hufschmiede in Soest (fol. 187) sowie die Schuhmachermeister in Soest (fol. 205); vgl. auch Conze/Zorn (1994). Reininghaus, wie Anm. 76. Zu den politischen Auffassungen der westfälischen Handwerker in der Revolutionszeit läßt sich nichts Abschließendes sagen. Jürgen Bergmann vermutet für das Handwerk, daß die Angehörigen der wohlhabenden Sparten konservativ, die aus den gefährdeten oder verelendeten Berufen eher demokratisch eingestellt gewesen seien; s. Bergmann (1984), S. 341, 342, 345.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
unterstützt: Der „Demokratische Verein“, der sich 1848 in Münster konstituiert hatte, erklärte die Innungen zu einem wirksamen Remedium gegen die Verelendungstendenzen in Teilen des Handwerks.83 In dieser Frage gingen die rebellischen Münsteraner demnach eine seltsame Allianz mit dem ultrakonservativen Bismarck ein, der eben zu jener Zeit ebenfalls die Beibehaltung bzw. Wiederbelebung der Innungen verlangte.84 Noch im Dezember 1848 bildete sich in Recklinghausen ein Handwerkerverein; wenig später schlossen sich in Paderborn Meister und Gesellen zusammen. In Münster organisierte der Handwerkernachwuchs das sog. „Junge Münster“. In Siegen entstand aus der „Allgemeinen Bürgerversammlung“ eine besondere, den gesamten Kreis erfassende „Meisterversammlung“. Ihr Ziel war es, den Zunftgedanken wieder zu popularisieren und Wege aufzuzeigen, die dem Handwerk gegenüber der übermächtig erscheinenden Konkurrenz der Fabrik das Überleben sichern konnten – eine Frage, die alle Handwerker um die Mitte des Jahrhunderts zutiefst bewegte. Der Herforder „Bildungsverein“, der sich ebenfalls vor allem der Handwerker annahm, wollte zu einer „zeitgemäße(n) Konsolidation des gesamten Handwerkerstandes“ beitragen. In Soest und Hamm traten schon 1848 Gewerbevereine hervor.85 Weitere Handwerker- oder Gewerbevereine lassen sich ausweislich der Petitionen für Brilon, Minden, Iserlohn, Hohenlimburg, Hemer, Menden, Hörde und den Kreis Meschede nachweisen86. Dass der damals allgemein propagierte „Associations“-Gedanke gerade im Handwerk so viel Anklang fand, folgte eben aus der Staatsferne dieser auf privatrechtlicher Grundlage organisierten Zusammenschlüsse. Niemand in Westfalen wollte sich in Innungen, wie sie die Gewerbeordnung vorsah, engagieren; desto größer war das Interesse an den Handwerkervereinen. Nüchtern analysierend erkannten Meister wie Gesellen, dass von staatlichem Bevormunden und Gängeln wenig zu hoffen stand und es ratsamer sei, die eigenen Kräfte entschlossen zu bündeln und auf sich selbst zu vertrauen. 83
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Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51, 141, fol. 58. Demokraten präferierten als Kompromiß das Modell der Assoziation; s. Bergmann (1984), S. 343. Lothar Gall hat darauf hingewiesen, daß der vormärzliche Liberalismus am „Zukunftsbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen, einer berufsständisch organisierten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage“ orientiert gewesen sei; so Gall (1976), S. 162–186 (176), zitiert nach Lenger (1988), S. 39. Dieses Ziel teilten die Demokraten, wie bereits festgestellt, auch mit dem damals bereits verstorbenen Oberpräsidenten v. Vincke und dem ebenfalls schon verstorbenen Landtagsmarschall Reichsfreiherrn v. Stein. Zu konservativen Tendenzen im Handwerk auch in der Zeit der Revolution vgl. Bergmann (1984), S. 340. S. Schulte (1954), S. 641. Das politische Verhalten der Handwerker in der Revolution 1848 hat schon im 19., vor allem aber in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts breite Aufmerksamkeit gefunden; vgl. Dael (1849); Schulze-Delitzsch (1858); Jäger (1887); Kohlscheidt (1898); Schwarz (1937); Hötzel (1968); Gimmler (1972); John (1987); Mooser (1982); Simon (1983); Herzig (1984); Bergmann (1984); Gailus (1984); Offermann (1984); Tenfelde (1984); Haupt (1985); Bergmann (1986); Kocka (1986); Lenger (1987); Zerwas (1988); Haupt/Lenger (1988); Georges (1993); Ehmer (1994). Zur Entstehung und Entwicklung der Handwerkerbewegung in Deutschland s. die Darstellung von Meusch (1949). Vgl. Bundesarchiv Frankfurt DB 51; s. auch Reininghaus (1989), S. 512.
B. Die Innungen
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Während die Sozialisten damals wie später die wirtschaftlichen Nöte der Unterschichten undifferenziert in den Mittelpunkt der Agitation stellten, um ihren umstürzlerischen Zielen näherzukommen, nahmen sich die Handwerkervereine in jenen aufgeregten Jahren durchaus zielbewusst der Probleme der vom Abstieg bedrohten unteren Mittelschichten an, indem sie ihr Engagement zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der selbständigen Handwerker ausdrücklich auf ökonomische Betrachtungs- und berufspolitisch begrenzte Vorgehensweisen reduziert wissen wollten. Dieser auf’s Pragmatische zielende Impetus lag den Westfalen näher als die besonders in Südwestdeutschland gepflegte revolutionäre Attitüde. Die Ravensberger „Öffentlichen Anzeigen“ verbreiteten auf die Frage „Wen sollen wir wählen?“ die Aufforderung: „Leute, die Gefühl für Euren Stand haben! Handwerker, wählen wir also Handwerker, diese wieder Handwerker; dann kriegen wir Männer für uns in die Kammer“.87 Hier wurde der Weg zu einer berufszentrierten ständischen Interessenvertretung gewiesen, den Meister wie Gesellen dann in der Tat auch gingen. Vor allem das ostwestfälische Handwerk dachte damals in größeren Zusammenhängen. Der 1848 in der Kölnischen Zeitung erschienene Aufruf „an den gesamten Gewerbestand“, „einen Beirat von Handwerkern an den Frankfurter Reichstag zu entsenden“, fand auf westfälischem Boden insbesondere in Bielefeld Beachtung; diese Initiative führte dort im Februar 184988 zur Gründung eines „Provinzialvereins für sämtliche Handwerker Westfalens“89, der den örtlichen Handwerkervereinen eine organisatorische Klammer bieten wollte. Wenig später schon, am 12. März desselben Jahres, veranstaltete die Organisation den ersten und einzigen westfälischen Handwerkerkongress in Hamm90. Die Meister erklärten Paderborn zum „Centralort“ für das Handwerk der Provinz. Unter dem Vorsitz des Drechslermeisters Todt aus Minden verlangten sie die Wiedererrichtung von Innungen.91 87
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Zitiert nach Schulte (1954), S. 248 m. w. Nachw.; auch zum folgenden s. Schulte, a. a. O. Eine eindeutige politische Orientierung der Handwerker läßt sich für diese Zeit in Westfalen nicht feststellen. In den katholischen Regionen war – unabhängig von der sozialen Lage – stets der politische Katholizismus dominant; s. Lenger (1988), S. 73. Die Initiative stand in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Erlaß der die Gewerbeordnung modifizierenden Verordnung vom 9. Februar 1849. Zum Vorsitzenden des Provinzial-Handwerkervereins wurde der Uhrmacher Racine gewählt; weitere Mitglieder des Vorstandes waren der Tischler Gockel, der Brauer Todt, der Goldschmied Evers, der Buchdrucker Zehme, die Kleidermacher Pape und Greff sowie der Küfer Brockmeier und der Tischler Göllner. Man hatte demnach auf eine möglichst breite Vertretung der verschiedenen Handwerksberufe im Vorstand hingewirkt; S. Schreiben des Vorstandes des Provinzial-Handwerkervereins an die Kreisvereine v. 29.3.1849, in: Stadtarchiv Soest, XXXII c 8, Bd. 1. Der Provinzialverein bestand allerdings nur drei Jahre; s. Reininghaus (1991), S 202; Reininghaus (1989), S. 513; s. u., S. Zugelassen waren dort auch die Gesellen- und Arbeiterverbände; s. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn… (1989), S. 371. Zu den Ausrichtern der Versammlung zählten außer Todt der zu Todts Vertreter gewählte Paderborner Uhrmacher Racine, Buchbinder Petrasch aus Rüthen sowie die Meister Wittendorf aus Wiedenbrück, Gottschalk aus Soest und Barz aus Münster. Insgesamt nahmen 76 Vertreter des westfälischen Handwerks an der Veranstaltung teil, s. Stadtarchiv Soest, XXXII c 8, Bd. 1. Zum dem Hammer Kongreß s. Schlechte (1979), S. 132 f., 282 f. 1849 tagte auch in dem der
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Durch die Herausgabe eines „Centralblattes“ sollten die Ziele des Vereins popularisiert werden92. Vor allem rief der Provinzialverband die sich damals vielerorts bildenden Lokalvereine auf, „schleunigst“ Petitionen an die in Berlin tagenden Kammern zu senden.93 Ob der Innungsgedanke auf der Grundlage der Bestimmungen der Gewerbeordnung forciert werden sollte oder ob der Zentralverband möglicherweise individuellere, staatsfernere Organisationsformen bevorzugte, kann man allerdings nur mittelbar feststellen. Denn die Eingaben mit ihren weitestgehend übereinstimmenden Forderungen, welche diese Interessenverbände verfassten, lassen nicht sicher erkennen, ob die westfälischen Meister eigenständige Ideen zur Physiognomie der Innungen entwickelten94. In den bis dahin noch durch das Zunftwesen geprägten anderen Regionen Deutschlands war die Position der Handwerker zu den Innungen jedenfalls wesentlich eindeutiger: Auf dem sog. Vorkongress der deutschen Handwerker, der vom 2. bis 6. Juni 1848 in Hamburg stattfand, wurden Anträge auf Beibehaltung der Bannmeile, auf die ausschließliche Befugnis der Städte zum Gewerbebetrieb und die Untersagung des Hausierhandels gestellt95. Die Auswertung der zahlreichen Petitionen aus anderen deutschen Regionen und der Gewerbeordnungsentwurf des vom 15. Juli bis zum 18. August 1848 in Frankfurt tagenden Meisterkongresses zeigen aber, dass die aus dem gesamten Deutschland zusammengekommenen Handwerker damals durchaus differenzierte Auffassungen zur Gestaltung des Instituts der Innungen vertraten.96 Die einen sehnten die alte Zunft zurück, da sie sich der Illusion hingaben, dass Sicherheit, Wohlstand, gar elysische Sorglosigkeit mit diesem Institut gleichsam naturgesetzlich verbunden seien. Eben sie waren es auch, die das patriarchalische Moment im Verhältnis zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen besonders hervorhoben. Die anderen wollten die Innungen zu modernen, effizienten Interessenvertretungen im ökonomischen, sozialen und politischen Bereich
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Provinz Westfalen benachbarten Fürstentum Lippe ein Handwerkerparlament. Die Delegierten berieten dort über den seitens der Handwerker ausgearbeiteten Entwurf einer Gewerbeordnung, welcher die Zwangsinnung vorsah; s. Tiemann (1929), S. 75. Herausgeber war der Redakteur Franz Löher, der als Abgeordneter der zweiten Kammer des preußischen Landtags die Demokraten unterstützte; s. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn (1989), S. 371. Stadtarchiv Soest, XXXII c 8, Bd. 1. Im wesentlichen wurden folgende Forderungen erhoben: (1) Errichtung von Innungen, (2) Befähigungsnachweis als Voraussetzung für die selbständige Ausübung des Gewerbes, (3) Untersagung der Berufsausübung durch Landhandwerker, (4) Errichtung von Kreditkassen, (5) Verbesserung der Fach- und Allgemeinbildung; vgl. Reininghaus (1989), S. 512. Die Handwerker aus Höxter und Paderborn waren die ersten der zahlreichen Westfalen, die sich an den gewerbepolitischen Ausschuß des Frankfurter Parlaments wandten; s. Reininghaus, Handwerk und Zünfte…. (1991), S. 19. S. Schmoller (1870), S. 84. Zu den Handwerkerkongressen s. Dowe/Offermann (1983). Die Auswertung hat Simon (1983) vorgenommen. Auch Westfalen nahmen an den Diskussionen teil: Am 6. Juli 1848 hatten Delegierte der Handwerkervereine den Mindener Drechslermeister Todt und den Rüthener Buchbinder Petrasch zu westfälischen Delegierten für den Allgemeinen Deutschen Handwerkerkongreß in Frankfurt gewählt, s. Reininghaus (1989), S. 513. Reininghaus hält Petrasch für einen Paderborner Drucker.
B. Die Innungen
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umschaffen,97 um so den Verteilungskampf in der an liberalen Prinzipien orientierten Konkurrenzgesellschaft bestehen zu können. Den von ihnen präferierten öffentlich-rechtlichen Charakter des neuen Instituts entlehnten diese Meister der Zunft. Vor allem verlangten sie, ganz im Gegensatz zu den Regelungen der damals gerade in Kraft getretenen preußischen Gewerbeordnung, die Einführung der Zwangsmitgliedschaft und die innere Selbstverwaltung der Innungen sowie die Beseitigung der staatlichen Bevormundung gegenüber den Organen der Genossenschaft. Regelungen zur Verbesserung der Ausbildung der Handwerker und zur Kontrolle des Ausbildungserfolges kam ein hervorragender Platz im Forderungskatalog der Meister zu.98 All diese Petita wurden zu Diskussionsgegenständen auf dem Frankfurter Handwerkerkongress. Die Meister forderten neben dem politischen sogar ein „aus den Innungen hervorgehendes“ eigenständiges Handwerkerparlament als dauerhaftes Organ mit bedeutenden Befugnissen. Dieses sollte jährlich neu einen Handwerksminister ernennen99 – eine utopische Vorstellung, die den demokratisch-idealistischen Charakter der revolutionären Bewegung einmal mehr offenbarte. Die neue Ordnung, auf die sich die Meister in Frankfurt schließlich verständigten und die sie durchzusetzen suchten, maß den Innungen – wie die Handwerker sie sich vorstellten – herausragende Bedeutung zu. § 1 des Entwurfes des Frankfurter Handwerker- und Gewerbekongresses setzte den Korporationen vor allem das Ziel, der „Massen-Verarmung“ im Kleingewerbe entgegenzutreten.100 Sie sollten die gewerblichen Interessen im weitesten Sinne fördern. Um dieser Aufgabe genügen zu können, wollten die Meister in ganz Deutschland Innungen errichten und die noch bestehenden Zünfte nach dem in ihrem Gewerbeordnungsentwurf vorgesehenen Muster umschaffen.101 Die Handwerker verlangten die Pflichtmitgliedschaft aller, die an einem Orte das gleiche Handwerk selbständig betrieben.102 Falls sich eine Minimalzahl von Mitgliedern nicht erreichen ließ, sollte sich das entsprechende Gewerk mit verwandten Berufssparten zusammenschließen. Den Intentionen der Handwerkerbewegung entsprechend wollte man auf die hergebrachte Abgrenzung der handwerklichen Tätigkeiten voneinander durch die Möglichkeit des Zusammenwirkens mehrerer Professionen in einer Genossenschaft aber nicht verzichten. Größten Wert legten die Meister auf die Autonomie ihrer Innungen. Dementsprechend wurde die Struktur der Korporationen gestaltet: Der „Frankfurter Entwurf“ der Meister bestimmte ausdrücklich, dass der Vorstand der Genossenschaft von den Innungsmitgliedern gewählt werden sollte und keiner Bestätigung durch die Behörden bedurfte (§ 8). Aufgabe des Vorstandes sollte es sein, die Innungsan97 98 99 100
S. Simon (1983), S. 210 ff. Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses …, in: Verhandlungen … (1848/49), S. 883. Schmoller (1870), S. 84. Simon (1983), S. 214. Eine zusammenfassende Darstellung der „Grundzüge einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbeordnung für Deutschland“ des Frankfurter Meisterkongesses findet sich bei John (1987), S. 206–243. 101 S. dazu Stieda, Art. „Handwerk“ (1900), S. 1097 ff. (1099); zu dem Entwurf einer Gewerbeordnung vgl. auch Tilmann (1935), S. 16. 102 S. dazu Wilden (1927), S. 138.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
gelegenheiten zu verwalten, deren Beschlüsse auszuführen und bei Streitigkeiten zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen zu vermitteln.103 Den frei gewählten Organen oblag es, die Gewerbetreibenden nach außen, insbesondere gegenüber dem Staat, zu vertreten. Als Ausfluss dieser Autonomie verlangten die Meister die Einrichtung eines sog. Vermittlungsamtes, welchem die arbeitsrechtlichen Streitigkeiten des Gewerks überantwortet werden sollten. Indem sie die hergebrachte standeseigene Gerichtsbarkeit erhalten bzw. diese wiederbeleben wollten, knüpften sie einmal mehr an den Kernbereich der Zunftautonomie an104. Umstritten war die Mindestgröße der Innungen: Der Ausschussantrag im Handwerkerparlament hatte ein Minimum von 12 Meistern vorgesehen. Dagegen wandte sich der Mindener Drechslermeister Todt: Er unterstellte, das Gremium habe sich bei seiner Empfehlung an der entsprechenden Bestimmung der preußischen Gewerbeordnung des Jahres 1845 orientiert, welche aber keineswegs die Interessen der Handwerker berücksichtige, sondern deren Wünschen vielmehr hindernd im Wege stehe: „Dieser Artikel sei aus polizeilichen Gründen erlassen; die Regierung habe damit gegen die Assoziation auftreten wollen; sie habe von diesem Mittel die entsprechenden Früchte geerntet. In Minden seien noch bis zu dieser Stunde keine Innungen“, vermerkte das Sitzungsprotokoll des Meisterkongresses als Einlassung Todts.105 Die Mehrheit teilte die Bedenken des westfälischen Deputierten aber nicht; sie wollte es bei einer Mindestgröße der Innung von 12 Mitgliedern belassen. Bei Meinungsverschiedenheiten mit dem Auftraggeber sollte ein Schiedsgericht über Preis und Qualität der gelieferten Waren entscheiden, wobei sich die Gewerbetreibenden selbst aber den ausschlaggebenden Einfluss vorbehalten wollten. Während Meister aus den ostelbischen Provinzen Preußens die Errichtung von Gewerbegerichten verlangten, in denen allein die Handwerker auch über Streitigkeiten mit ihren Kunden befinden sollten, schlugen die damals schnell an wirtschaftlicher Bedeutung gewinnenden „Fabrikanten und Kaufleute“ des Krs. Hagen den Aufbau sog. Gewerbekammern vor, die neben jurisdiktionellen Funktionen auch solche der Qualitätskontrolle wahrnehmen und als Aufsichtsbehörden für die verschiedenen Innungen ihres Bezirks fungieren sollten. Voraussetzung für die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes sollte, wie zahlreiche Handwerker, u. a. auch aus Dortmund und Minden, verlangten,106 die Ablegung einer Prüfung sein. Andere Meister sahen die Aufgabe der Innungen eher darin, bessere Preise für die gewerbliche Arbeit durchzusetzen sowie Submissionen für Handwerkswaren verbieten zu lassen und stattdessen den Innungsvorständen die Verteilung der Handwerksarbeit aufzutragen. Die Preise für Handwerkswaren sollten deshalb die Innungen bestimmen. Aus solchen Forderungen erwuchs dann gelegentlich der Ruf nach der Zwangsinnung.107 103 104 105 106
S. GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 85. Zur standeseigenen Gerichtsbarkeit der Handwerker s. Deter (1987). Meisterkongress, 22. Sitzung vom 8.8.1848, Prot. S. 159 f., zitiert nach Simon (1983), S. 218. So „Zusammenstellung der Anträge vom 18. Juni 1848“, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 46 ff. 107 Wie Anm. 106, fol. 91. So verlangten die Kleinschmiede des Krs. Hagen, die eine Innung bil-
B. Die Innungen
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Aus dem Umstand, dass die petitionierenden Meister aus Westfalen den 1848/49 in Frankfurt und Berlin tagenden Parlamenten im allgemeinen aber keine eigenen Vorschläge zur wesentlichsten Streitfrage der Zwangs- bzw. der freiwilligen Zugehörigkeit zu den Innungen machten, kann nicht geschlossen werden, dass ihnen konkrete Vorstellungen zu diesem wichtigen Problem gefehlt hätten. Denn es lässt sich zeigen, dass die Meister aus den mittleren und östlichen Provinzen Preußens in dieser Angelegenheit anders votierten als diejenigen der westlichen Ländern. Die Handwerker aus den ehemals sächsischen Landesteilen der Monarchie, in denen der Zunftzwang noch bis zur Einführung der preußischen Gewerbeordnung im Jahre 1845 gegolten hatte, aber auch die Petenten aus den anderen ostelbischen Regierungsbezirken mit ihrem ungebrochen fortlebenden Zunftwesen sprachen sich für die Zwangsmitgliedschaft in den Innungen aus, während solche Stimmen aus dem westlichen Preußen – dem Rheinland und Westfalen – damals nur selten vernehmbar wurden.108 Es waren dies eben jene Landesteile, in denen die Zünfte seitens der französischen Herrschaft aufgehoben und aufgrund der Bestimmungen der Gewerbeordnung, seit 1845 also, nur wenige Innungen – nach Angaben des Frankfurter Parlaments lediglich in Elberfeld, Barmen und Düsseldorf – neu errichtet worden waren. Zwar stimmten alle Petenten über Ziele und Zwecke der Innungen durchaus weitgehend überein,109 doch blieben die Divergenzen zwischen dem westlichen und östlichen Preußen in der Frage der Zwangsinnung unübersehbar. Offenbar wirkte die seit Erlass der Gewerbeordnung nicht ohne Grund befürchtete Gängelei durch die Behörden schon damals auf die Westfalen besonders abschreckend. 5. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 Schon die Zeitgenossen bedurften keiner besonderen analytischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass die Handwerker überall zu den wichtigsten Trägern der revolutionären Bewegung zählten. Die politisch-administrative Klasse in Berlin sann deshalb darauf, diese zwar entmündigte, in aufgeregten Zeiten aufgrund ihrer bloßen Zahl aber desto wirkmächtigere Schicht insbesondere der städtischen Einwohnerden und für deren Mitglieder die ausschließliche Befugnis zum Betrieb ihres Gewerbes in Anspruch nehmen wollten, bestimmte Preise für die Handwerksarbeit gemeinsam durchzusetzen. Kein Innungsmitglied sollte bei Strafe des Ausschlusses aus der Genossenschaft und dem Verlust der Befugnis zur Fortsetzung des Gewerbes unter den festgesetzten Preisen arbeiten dürfen. Schmoller beurteilte die Forderungen der Meister als „wunderliche Produkte der Kurzsichtigkeit“. Die Meister hätten, so seine Auffassung, bei der Formulierung ihrer Forderungen „nicht vergessen sollen, dass die Noth des Handwerkerstandes da am größten war, wo man dem Ideal eines solchen Gewerberechts noch am nächsten stand“; so Schmoller (1870), S. 85. 108 S. Bericht des volkswirthschaftlichen Ausschusses …, in: Verhandlungen … (1848/49), S. 876. 109 Bericht des volkswirthschaftlichen Ausschusses …, in: Verhandlungen … S. 882, 883. Die Suche nach neuen Formen des berufsständischen Zusammenschlusses der Handwerker war damals in Deutschland allgemein. So wurde 1848 auch im badischen Landtag die Beseitigung der Zünfte und ihre Ersetzung durch Gewerbekammern, Gewerberäte und Gewerbevereine gefordert, S. Sedatis (1979), S. 69.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
schaft zu beruhigen – und sei es auch nur durch das wenig lautere Mittel des Placebos. So wurden Vertreter des Handwerks nach Berlin gebeten, um an der Vorbereitung einer Gesetzesnovelle zur Gewerbeordnung mitzuwirken, die Meistern und Gesellen neues Zutrauen zu den staatlichen Maßnahmen geben sollte.110 An den Verhandlungen zwischen dem 17. und 30. Januar 1849 nahmen auf Einladung des Gewerbeministers v. d. Heydt auch drei Westfalen teil, nämlich der Drechslermeister Todt aus Minden, der Buchbindermeister Petrasch aus Rüthen und der Tuchmachergeselle Faudt aus Bielefeld.111 Die Kommission beriet über einen Gesetzesvorschlag des Ministeriums, welches sich unter dem Druck der Handwerkerbewegung die Petita der Gewerbetreibenden jedenfalls partiell zu eigen gemacht hatte. Diesem Umstand dürfte es geschuldet sein, dass die Diskussionen in dem kurzfristig zusammengerufenen Gremium nicht sehr kontrovers verliefen. Im Mittelpunkt der Erörterungen standen, dem Wunsch des Ministeriums entsprechend, die Errichtung sog. Gewerberäte und die Einführung des Prüfungszwanges. Aber auch die Frage der Wiederbelebung der Innungen wurde diskutiert. Die Meister machten die Gewerbefreiheit für die schwierige Situation in vielen Handwerken verantwortlich. „Die Übel einer dreißig- bis vierzigjährigen Erfahrung“ seien „evident genug hervorgetreten“, erklärten sie.112 Die Einführung von Zwangsinnungen sei nicht vorgesehen, so dass auch die an den früheren Zuständen geübte Kritik obsolet sei. Die neu zu schaffenden Innungen versprächen vielmehr maßgeblich zur Besserung der wirtschaftlichen Situation der Handwerker beizutragen, indem sie z. B. dem verbreiteten Kreditieren der Handwerksarbeit, zu dem vor allem die Schreiner, Schneider und Schuster gezwungen seien, entgegenwirkten. In einem Verbund wie der Innung könne die Gemeinschaft auf das Verhalten der Mitglieder einwirken, was die gemeinsamen Ziele befördern werde. Auch Vertreter der Kaufleute in der Kommission wiesen auf die positiven Aspekte einer Wiederbelebung der Innungen hin. Sie nahmen auf das Beispiel Kölns Bezug, wo nach Erlass der Gewerbeordnung von 1845 wieder Innungen errichtet worden waren; dort hätten sich die neuen Genossenschaften als „entschieden lebenskräftig und heilsam erwiesen“. Durch die Einrichtung von Vorschusskassen und die Übertragung von Arbeiten an unterbeschäftigte Mitglieder sei es gelungen, „eine erhebliche Zahl von Gewerbetreibenden vor gänzlicher Verarmung zu schützen.“ Der Vertreter der Gesellen wandte sich allerdings dagegen, durch den geplanten singulären Charakter der Innungen – für jedes Gewerbe sollte 110 Die Einladung war an den „Central-Handwerker-Verein“ ergangen; s. Schreiben des Gewerbeministers von der Heydt v. 1.1.1849, in: GStA/PK, Zivilkabinett 2.2.1. Nr. 27761; zur Entstehungsgeschichte der Verordnung vom 9. Februar 1849 s. Tilmann (1935). 111 Todt war durch den Vorstand des „Central-Handwerker-Vereins“ zu Bielefeld entsandt worden; Petrasch erschien mit einer Legitimation „durch Protokoll einer Wahlversammlung von Handwerker-Deputierten zahlreicher Städte des Regierungsbezirks Arnsberg“, und der Geselle Faudt wies ebenfalls eine Legitimation des Bielefelder „Central-Handwerker-Vereins“ vor; s. GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1, fol. 63 RS. 112 S. Verhandlungen betreffend Berathung des Entwurfes einer Verordnung zur Ergänzung der Allgemeinen Gewerbeordnung v. 17.1.1845, Protokoll v. 19.1.1849, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794.
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jeweils nur eine Innung am Ort vorhanden sein – das Recht zur freien Vereinigung der Handwerker zu beschränken. Sieht man von dieser kritischen Stimme ab, herrschte illusionäres Denken vor. Der Blick zurück, die fatale Hoffnung, durch die Wiederbelebung zunftähnlicher Organisationen dem Zwang zur Anpassung an die sich schnell wandelnde Wirtschaftsstruktur entgehen zu können, ersetzte die Einsicht in das Unvermeidliche der Entwicklung. Dies galt für die Handwerker, dies galt möglicherweise aber auch für manche Vertreter der Berliner Ministerialbürokratie, welche die Auffassung teilten, dass der unübersehbaren Not in Teilen des Handwerks durch gesetzgeberische Akte wirksam abgeholfen werden könne.113 Der in Berlin geplante organisatorische Neuanfang erwies sich jedoch, wie sich bald zeigen sollte, als Holzweg. Man verständigte sich dort auf folgendes: Einer Innung „neuen Typs“ sollten zentrale Aufgaben zuwachsen: Die selbständige Ausübung des Gewerbes sollte künftig von der Meisterprüfung, die vor der Innung abzulegen war, abhängig sein. Wollte ein Ausländer sein Gewerbe in Preußen betreiben, bedurfte es hierzu nach dem Willen der Kommission einer Erlaubnis, welche ebenfalls die Anhörung vor der zuständigen Innung voraussetzte. Den Korporationen wollte man zwar das Recht einräumen, ihre Statuten selbst zu entwerfen; doch hing das Inkrafttreten der Bestimmungen nach dem Vorschlag des Ministeriums weiterhin von der Bestätigung durch die Berliner Oberbehörde ab. Die Vorstände aller Korporationen an einem Orte sollten aufgefordert werden, als verbindendes Gremium einen sog. Handwerkerrat zu bilden. Indem die Kommission den Innungen die Aufnahme und Entlassung der Lehrlinge überantwortete, knüpfte sie an eine der zentralen Funktionen, welche die Zünfte wahrgenommen hatten, an. Eine weitere Privilegierung dieser gewerblichen Verbände sollte darin bestehen, dass öffentliche Mittel zur Handwerksförderung, sog. Vorschüsse, nur an die Innungen gezahlt werden durften.114 Sogleich nach Abschluss der Beratungen in Berlin wurde am 9. Februar 1849 die „Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der allgemeinen Gewerbeordnung“ erlassen, die eine ganze Reihe von Regelungen enthielt, welche die Innungen betrafen.115 Dies verstand sich nach den vorangegangenen Diskussionen von selbst; es ergab sich aber auch schon aus der Möglichkeit, an die aus den Zünften hervorgegangenen gewerblichen Genossenschaften in Ostelbien anzuknüpfen. Die Aufgaben, welche den Innungen zugewiesen wurden, waren breit gefächert: So sollte die Errichtung sog. Gewerberäte, – gänzlich neuer Gremien, welche die Verordnung initiierte –, erst „nach Anhörung der gewerblichen Korporationen“ erfolgen (§ 1). Umgekehrt wurde aber auch bestimmt, dass der Gewerberat bei „der Auflösung oder Vereinigung bestehender Innungen oder Gesellenverbindungen“ gehört werden musste (§ 2). Aufgabe der Gewerberäte sollte es zudem sein, „die Befolgung der Vorschriften über das Innungswesen …“ zu überwachen. Kompetenzen zum Schutz der Handwerker räumte die Verordnung den Innungen ein, indem § 34 bestimmte, dass der Betrieb von Maga113 So auch Schmoller (1870), S. 86. 114 So Vermerk des Ministerialbeamten v. Aster v. 4.3.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 45. 115 Preußische Gesetzessammlungen, 1849, S. 93–110.
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zinen zum Verkauf von Handwerkswaren denjenigen, welche nicht zum selbständigen Betrieb der betreffenden Handwerke befugt waren, nur mit Genehmigung der Kommunalbehörde gestattet werden sollte; diese wiederum hatte zuvor die beteiligten Innungen und den Gewerberat zu hören. Eine besonders wichtige Aufgabe wuchs den Innungen nach der Verordnung bei der Abnahme der nach den §§ 35 und 36 vorgeschriebenen Meister- und Gesellenprüfungen zu: Prüfungskommissionen sollten „bei jeder Innung“ errichtet werden (§ 37); den Vorsitz hatte zwar ein Mitglied der Kommunalbehörde zu übernehmen, doch sollten der Kommission zwei von der Innung gewählte Meister und zwei von den Gesellen des Handwerks bestimmte Gewerbegehilfen angehören. Außerdem hatten die Regierungen in den einzelnen Kreisen, und zwar für jede Handwerkssparte, eine oder mehrere Kreisprüfungskommissionen einzusetzen. Auch hieran wirkten die Innungen mit: Sie wurden verpflichtet, in jeder Stadt des Prüfungsbezirks zwei bis vier Meister zu bestimmen, während die Gesellen des Handwerks ebenfalls zwei bis vier Gesellen wählten; aus dieser Zahl bestimmte der Vorsitzende dann die Prüfungsmitglieder (§ 39). Zweck der Kreisprüfungskommission war es, denjenigen jungen Handwerkern, welche der Innung nicht beitreten wollten, zu ermöglichen, die Prüfung abzulegen. Ebenso konnten sich die nicht bei einer Innung aufgenommenen Lehrlinge zur Gesellenprüfung bei der Kreisprüfungskommission melden (§ 40). Durch Ortsstatut durfte allerdings auch festgesetzt werden, dass die Aufnahme und Entlassung aller Lehrlinge, für deren Gewerbe am Orte eine Innung bestand oder noch errichtet werden sollte, vor dieser zu erfolgen hatte; darüber hinaus ermöglichte es der Gesetzgeber den Gemeinden, die Innungen durch Ortsstatut zu verpflichten, bei „der Aufsicht über die Ausbildung und über das Betragen derjenigen Lehrlinge, deren Lehrherren nicht zur Innung gehören“, mitzuwirken (§ 45). Aber nicht nur für die Ausbildung der Lehrlinge übertrug der Gesetzgeber den Innungen Verantwortung. Auch die Gesellen wurden einbezogen: Innungsangelegenheiten, welche die Interessen der Gesellen und Gehilfen berührten, sollten zunächst durch den Vorstand der Innung gemeinschaftlich mit Vertretern der Gesellen beraten werden, um bei Meinungsverschiedenheiten einen Konsens herbeiführen zu können (§ 46). Nicht zuletzt suchte das Ministerium die Existenz der Kranken- und Sterbekassen für Innungsmitglieder zu sichern, indem es die Möglichkeit eröffnete, durch Ortsstatuten mit Zustimmung der Innung alle diejenigen, welche im Gemeindebezirk ein Gewerbe selbständig betrieben, für welches dort eine Innung bestand, zu verpflichten, den Kranken-, Sterbe- und Hilfskassen der Innungsmitglieder beizutreten (§ 56). Das Finanzwesen der Innungen regelte der Gesetzgeber ebenfalls detailliert (§§ 60 bis 66). Die Tendenz der Verordnung, den Forderungen der Handwerker nach Konkurrenzbeschränkung entgegenzukommen, wird einmal mehr in der Bestimmung sichtbar, dass Ausländer zum Betriebe eines stehenden Gewerbes „nur aus erheblichen Gründen“ zugelassen werden sollten (§ 67). Falls preußischen Staatsbürgern in einem anderen Staat die Ausübung eines Gewerbes untersagt war, galt dies in der
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Monarchie umgekehrt auch für die von dort Zugewanderten. Bevor einem Ausländer die Genehmigung erteilt wurde, sein Handwerk in Preußen selbständig auszuüben, war nicht nur die zuständige Gemeinde, sondern auch die beteiligte Innung und der Gewerberat zu hören. Gustav Schmoller führte den Erfolg der „Sturmflut der Petitionen“, der in diesen Bestimmungen seinen Niederschlag fand, darauf zurück, dass sowohl die konservative als auch die schutzzöllnerische Partei in Preußen „in einer gänzlich unklaren Verkennung des Zusammenhangs“116 damals geglaubt hätten, ihre Sache zu fördern, wenn das Handwerk in Innungen organisiert sei.117 In Wahrheit hätten sie aber lediglich „einem kurzsichtig egoistischen Klasseninteresse“ nachgegeben, lautete das Verdikt Schmollers. Ob die preußische Regierung tatsächlich annahm, wie Schmoller meinte, man könne die wirtschaftliche Notlage weiter Teile des Handwerks in den Krisenjahren nach 1846 durch gesetzgeberische Akte lindern oder gar beheben,118 ist mehr als zweifelhaft. Viel wahrscheinlicher erscheint, dass sie hoffte, die aufsässigen Meister und Gesellen auf diese ebenso einfache wie kostengünstige Weise beruhigen zu können. Schmoller verkannte jedenfalls die Rationalität, welche den Bestimmungen innewohnte: Dem Gesetzgeber war es weniger um die Organisationsform des Handwerks als um ein Signal an die untere Mittelschicht insbesondere der Städte in revolutionärer Zeit zu tun: Meister und Gesellen sollten der Obsorge des Staates versichert sein, und dazu waren die Bestimmungen ein wohlfeiles Mittel: Sie kosteten nichts, führten aber, wie noch zu zeigen sein wird, zu dem intendierten Ziel, nämlich die aufgebrachten Gemüter zu kalmieren. 6. Das Normalstatut Das Handels- und Gewerbeministerium hegte 1849 keine Illusionen mehr darüber, dass eines der vorrangigen Anliegen der Gewerbeordnung des Jahres 1845, die Organisationen der Handwerker und damit auch deren Willensbildung der Kontrolle der Staatsorgane zu unterwerfen, bis dahin vollständig gescheitert war: „Die Handwerksmeister suchen sich von jener Einwirkung auf alle Weise zu emancipiren“, stellte der zuständige Rat v. Aster illusionslos fest.119 Sie hatten sich nicht allein in Westfalen, sondern auch anderwärts unter Berufung auf die in der Verfassung garantierte Vereinigungsfreiheit binnen kurzem auf örtlicher und überörtlicher Ebene zu Handwerker- und Gewerbevereinen zusammengeschlossen und unterliefen so das von der Gewerbeordnung allein vorgesehene Organisationsmodell der Innung, welches der staatlichen Einwirkung ausgesetzt war und blieb; schon durch ihre bloße Existenz diskreditierten die Vereine dieses. Doch die Innung mittelbar, durch konsequente Nichtachtung zu bemakeln, genügte den Meistern 1849 nicht mehr: 116 117 118 119
Schmoller (1870), S. 85, 86. So Schmoller (1870), S. 85, 86. So aber Schmoller (1870), S. 86. So Vorlage des Ministerialbeamten v. Aster für den Gewerbeminister v. 2.3.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 34.
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für ihre neuen privatrechtlichen Organisationsformen auf Provinzial-, Kreis- und Ortsebene, die Handwerkervereine, verlangten sie sans facon die Verleihung sog. Korporationsrechte ohne „Mitwirkung der Behörden“.120 Da die Betroffenen in der Ablehnung jenes Innungstypus, den die Gewerbeordnung vorgesehen hatte, offenkundig übereinstimmten, nahm das Ministerium die Auffassung der Meister, wonach „die Staats- und Kommunalbehörden in gewerblichen Angelegenheiten nicht mehr mitzureden haben“, nicht zu Unrecht ernst. Dasselbe galt natürlich auch für die Träger der Gesellenvereine, die damals ebenfalls allenthalben entstanden.121 Das Ministerium warf den Bezirksregierungen und Kommunalbehörden deshalb verärgert vor, weder die Anliegen der Gewerbeordnung nachdrücklich vertreten zu haben noch gegen die „illegalen Bestrebungen“ der Handwerker energisch genug vorgegangen zu sein, räumte zugleich aber ein, dass die Realisierung der Bestimmungen vor allem an dem „Widerwillen“ der Gewerbetreibenden gescheitert sei. Deren Abneigung gegen das Innungsmodell der Gewerbeordnung wurde, so sahen die Beamten zutreffend, neben den Aufsichtsbefugnissen der Behörden vor allem dadurch geschürt, dass das Gesetz an der unbeschränkten Gewerbefreiheit festhielt; die Korporationen im Sinne der Gewerbeordnung konnten wegen dieses Umstandes nicht das von den Meistern verlangte Remedium gegen die Folgen der liberalen Konkurrenzwirtschaft bieten: „Man vermisste darin den erwarteten Schutz gegen die Nachtheile der unbeschränkten Gewerbefreiheit, und man hielt es nicht der Mühe werth, die Regelung der Arbeitsverhältnisse im Wege der freien, nur auf Principien der Ehrenhaftigkeit und des Gemeinsinnes beruhenden Innungsgenossenschaft zu versuchen.“122 Auch die Verordnung vom 9. Februar 1849 hatte den verlangten „Innungszwang“ nicht gebracht; die Meister hofften damals aber noch, diesen in der preußischen Nationalversammlung oder im Frankfurter Paulskirchenparlament durchsetzen zu können. Dass der größte Teil der westfälischen Handwerker jener Frage – im Gegensatz zu ihren ostelbischen Berufsgenossen – offenbar keine entscheidende Bedeutung beimaß, wirkte sich auf den Gang der Gesetzgebung naturgemäß nicht aus. Um den rebellisch gewordenen Meistern Entgegenkommen zu signalisieren, schlug das Ministerium vor, unverzüglich eine Prüfungsordnung zu erlassen; die Statuten „der älteren Innungen“, der in den mittleren und östlichen Provinzen noch fortbestehenden Zünfte also, deren Zahl in Preußen damals auf etwa 3.000 geschätzt wurde, sollten revidiert und den Bestimmungen der Gewerbeordnung und der Verordnung vom 9.2.1849 angepasst werden.123 Man fürchtete aber, dass die Handwerker die revolutionäre Situation nutzen und die in der Gewerbeordnung vorgesehenen Aufsichtsbefugnisse der Kommunalbehörden mit Duldung der Lo-
120 Wie Anm. 119. 121 „Zahlreiche Comissaere der kommunistischen Arbeitervereine in Berlin und in Breslau benutzten jene Bezirksvereine der Gesellen in den Provinzen, um ihre demokratischen Grundsätze zu verbreiten“, erklärte Aster, wie Anm. 119, fol. 35. 122 So das Urteil in der Vorlage für den Gewerbeminister v. 2.3.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 36. 123 Wie Anm. 122, fol. 38.
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kalbeamten einfach ignorieren könnten.124 Zu dieser Annahme gab es durchaus Anlass – hatten die preußischen Bezirksregierungen doch das ihnen seitens des Ministers im Februar 1848 mitgeteilte und als Grundlage der Revision der Innungsartikel vorgesehene sog. Normalstatut unter dem Eindruck des allgemeinen Aufruhrs und der erwarteten weiterreichenden Schritte des Gesetzgebers einfach beiseitegelegt und damit die Anpassung der Innungsorganisation an das geltende Recht verhindert. Das Ministerium verlangte deshalb 1849, dieses Normalstatut, welches als Mustersatzung die Bestimmungen der Gewerbeordnung konkretisierte, zu überarbeiten und die Revision der Statuten der bestehenden Korporationen nunmehr unverzüglich durchzusetzen.125 Schon kurz nach Inkrafttreten der Verordnung vom 9. Februar 1849 erging demgemäss eine Ausführungsverordnung zu den Bestimmungen, die sich ausdrücklich nur an die Regierungen der östlichen Provinzen wandte.126 Das Ministerium wies darauf hin, dass deren Vorschriften in den Westprovinzen lediglich insoweit angewandt werden sollten, als „die gewerblichen Verhältnisse“ es zuließen. Die intensive Beschäftigung der Berliner Beamten mit der Gewerbegesetzgebung in den vorangegangenen Jahren hatte offenkundig jedenfalls dahingehend Früchte getragen, dass endlich zwischen den Gegebenheiten in den westlichen und den östlichen Provinzen unterschieden wurde: Während der Gesetzgeber in den ersten Jahrzehnten der preußischen Herrschaft in Westfalen auf die dort gänzlich andere Gewerbestruktur und die Zunftfreiheit wenig Rücksicht genommen hatte, bezog er diese Umstände nun in seine Überlegungen ein. Dem Ministerium ging es jetzt, was aufgrund der inzwischen gesammelten Erfahrungen nur zu verständlich war, vor allem um die „Beschleunigung“ der Umsetzung der Bestimmungen, welche die Verordnung traf.127 Es sollten die Gewerberäte, Gewerbegerichte und Kreisprüfungskommissionen „ungesäumt gebildet werden“. 1850 wurden neue „Normalstatuten“ erlassen, die als Richtlinien bei der Formulierung der Satzungen der einzelnen Innungen und als Maßstab der Genehmigungsbehörden dienen sollten.128 Diesen Texten waren umfangreiche Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen angefügt, die ebenfalls den Behörden übersandt wurden. Um den Intentionen des Ministeriums möglichst nachhaltige Wir124 Als solche sind zu nennen: die Leitung der Revisionsverhandlungen (§ 105 GewO), die Bestätigung der Vorsteherwahlen (§ 112), die Bestellung eines Innungsbeisitzers (§ 113) sowie die Beaufsichtigung der Innungsverwaltung durch die Kommunalbehörde (§ 114). 125 So Vorlage für den Gewerbeminister v. 2.3.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 36. 126 Anweisungen zur Ausführung der Verordnung v. 9.2.1849 v. 31.3.1849 an die Regierungen der östlichen Provinzen, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, Abt. I, Fach B I Nr. 62, fol. 202–209. 127 S. auch STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. Im Regierungsbezirk Arnsberg war wegen der im Kreis Wittgenstein fortlebenden Zünfte der Hinweis der dortigen Regierung wichtig, dass die revidierten Entwürfe „der älteren Innungsstatuten“ innerhalb der festgesetzten Frist zur Genehmigung einzureichen seien. 128 „Normalstatut, welches den Behörden durch Verfügung des königlichen Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten am 8. Januar 1850 zur Benutzung bei der Aufstellung des Innungsstatuts zugefertigt ist“.
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kung zu verschaffen, wurden auch noch auf einzelne Gewerke zugeschnittene Entwürfe für Musterstatuten nebst „Bemerkungen“ verfasst und an die nachgeordneten Behörden ausgereicht; inhaltlich wichen diese aber kaum von den Normalstatuten ab.129 Zwar nahm der Mustertext ausdrücklich auf die Revision der Statuten der in § 94 der Gewerbe-Ordnung v. 17. Januar 1845 erwähnten „älteren Innungen“ Bezug, womit die bis dahin fortbestehenden Zünfte gemeint waren. Die „Bemerkungen“ zu dem „Normal-Innungs-Statut“ enthielten aber ausdrücklich den Hinweis, dass das Normalstatut diesmal nicht allein bei der Revision noch vorhandener Zunftstatuten, sondern in gleicher Weise beim Entwurfe der Statuten neu zu errichtender Innungen Anwendung finden konnte – und sollte. Diese Texte erschienen in mehreren voneinander abweichenden Fassungen.130 Sie dürften die Meister, die von der neuen Gesetzgebung eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage erhofft hatten, allerdings eher ernüchtert als zufriedengestellt haben – wenn sie denn von deren Inhalt überhaupt Kenntnis bekamen. Schon der Umfang, aber auch die Präzision der einzelnen Bestimmungen verlangten zu deren Umsetzung nämlich einen Grad an organisatorischem Vermögen, der bei den Handwerkern im damals bereits seit beinahe zwei Generationen zunftlosen Westfalen kaum irgendwo anzutreffen gewesen sein dürfte.131 In § 1 des Normalstatuts wurden in wenig konkreten Programmsätzen die Ziele der Innungen skizziert – wie der Staat sie verstanden wissen wollte: (1) Die Mitglieder sollten sich „zur Förderung ihrer gemeinsamen gewerblichen Interessen verbinden“; (2) den Innungen trug das Ministerium auf, Möglichkeiten „zur Vervollkommnung und Hebung des Gewerbes“ zu bieten; (3) den Genossen sollte die „Beratung und Selbstverwaltung der gemeinsamen gewerblichen Angelegenheiten“ ermöglicht werden; (4) die Innungsgenossen wurden ermahnt, sich gegenseitig Beistand zu leisten und (5) „Ordnung und Einigkeit“ untereinander zu bewahren; zugleich wurden sie verpflichtet, für die „Ehre der Genossenschaft“, wie es in dem für das 19. Jahrhundert so typischen pathetischen Gestus hieß, einzutreten. Beflissener als in diesem Introitus hätte das Ministerium den Meistern kaum nach dem Munde reden können. Die Frage, ob derartige Formulierungen den im Vormärz – jedenfalls in Wirtschaftsfragen – zumeist liberal denkenden Beamten nur widerwillig aus der Feder flossen oder ob die Berliner Bürokratie das korporative Denken und selbständige Handeln der Handwerker nunmehr aufrichtig zu fördern beabsichtigte, ist leicht zu beantworten: Die Möglichkeit, dass die Berliner Bürokratie plötzlich das Streben der Handwerker nach autonomen, staatsfernen Organisationen fördern wollte, erscheint irreal. Schließlich hatte das Ministerium jahrzehntelang jedes Anknüpfen an das Regelwerk der Zunft als mit der in Westfalen herrschenden, nahezu unbeschränkten Gewerbefreiheit unvereinbar erklärt. Da lässt sich solch plötzliche Volte, das – teilweise – Anpassen an die Wünsche der Handwerker, mit 129 So z. B. das sog. „Statut der Weißgerber-Innung in N“, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 130 Neben dem „Statut der Weißgerber-Innung in N.“ existierte z. B. das „Statut der SchumacherInnung in N.“, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 131 Ebenfalls noch im Jahre 1850 versandte das Ministerium Musterstatuten für die Gesellenkassen sowie für die die Gesellenkrankenkassen betreffenden Ortsstatuten nebst erläuternden „Bemerkungen“. So z. B. in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 15, Nr. 552.
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nichts anderem als der blanken Furcht der Obrigkeit vor dem Wiederaufflammen revolutionärer Umtriebe zutreffender erklären. Weite Teile des Normalstatuts atmen diesen Geist: Für die Aufnahme in die Genossenschaft wurden persönliche „Unbescholtenheit“ und der Nachweis der bestandenen Meisterprüfung zur Voraussetzung gemacht (§ 3). Witwen, die den Handwerksbetrieb eines verstorbenen Meisters weiterführten, konnten ebenfalls in die Innung aufgenommen werden (§ 6). In offensichtlicher Anlehnung an den Regelungskanon der Zunftordnungen normierte das Statut allerlei Formalien wie die Stimmberechtigung in den Versammlungen (§ 8), die Folgepflicht bei Vorladungen durch die Innungsversammlung (§ 12), aber auch die Möglichkeit des Austritts (§ 13) und des Ausschlusses (§ 14). Die Mitglieder sollten verpflichtet werden, an der Realisierung der Innungszwecke mitzuwirken (§ 9). Ganz wie im Alten Handwerk befugte die Verordnung die Innungsversammlung, Geldstrafen gegenüber solchen Innungsangehörigen zu verhängen, die Gewerksgenossen, Lehrlinge oder Gesellen abwarben, sich die anderen Meistern zugesicherten Aufträge durch unredliche Mittel verschafften oder mittels Verleumdungen den Gewerbebetrieb anderer Meister beeinträchtigten (§ 10). Bei Streitigkeiten zwischen Gewerksgenossen, die sich auf gewerbliche Angelegenheiten bezogen, sollte der Vorstand der Innung auf Antrag eines der Beteiligten auf einen Vergleich hinwirken (§ 11). Das Normalstatut sah vor, dass jährlich vier ordentliche Versammlungen der Genossen stattfinden sollten (§ 15). Zudem konnten nach dem Entwurf außerordentliche Versammlungen beschlossen oder von dem Beisitzer (§ 18) angeordnet werden. Es war Anwesenheitspflicht vorgesehen (§ 17). Der Beisitzer, ein Angehöriger der Kommunalverwaltung, den schon die preußischen „Generalprivilegien“ des 18. Jahrhunderts den Zünften aufgezwungen hatten, musste bei jeder Innungsversammlung anwesend sein, um „über die Gesetzmäßigkeit der Beschlüsse zu wachen“. Er hatte auch für den ordnungsmäßigen Verlauf der Versammlung Sorge zu tragen. Sein Kontroll- und Eingriffsrecht war äußerst weitgehend: Die ohne „Zuziehung“ des Beisitzers gefassten Beschlüsse der Innung wurden pauschal für ungültig erklärt. Die Bestimmung zeigt, dass das Ministerium entschlossen war, die lückenlose Überwachung der Innungen zu erzwingen. Wie die Handwerker unter solchen Bedingungen Zutrauen zu dem neuen Institut fassen sollten, bleibt rätselhaft – und blieb es auch schon den Zeitgenossen. Immerhin lag aber wenigstens der Ablauf der ersten Beratung der Innungen auch nach dem Normalstatut in der Verantwortung des Obermeisters bzw. seines Stellvertreters (§ 19). Beschlüsse wurden mit der Mehrheit der Stimmen gefasst, wobei die Modalitäten des Abstimmungsverfahrens minutiös geregelt waren (§ 20). Zum Vorstand der Innung, welcher für drei Jahre gewählt werden sollte (§ 22), gehörte nach dem Musterstatut der Obermeister, ein Schriftführer, ein Kassenwart und drei weitere Innungsmitglieder (§ 21). Die Aufgaben des Obermeisters waren insbesondere hinsichtlich der Beratungen des Vorstandes pedantisch genau festgelegt (§§ 25 bis 27). Der Umgang mit dem Innungsvermögen und die Verwaltung der Einnahmen, welche aus den in der Satzung bestimmten vierteljährlichen Abgaben der Mitglieder bestanden, wurden in den §§ 28 bis 36 ebenfalls detailliert geregelt. Auch die
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Unterstützungs-, Kranken- und Sterbekassen für die Innungsgenossen fanden Erwähnung, ihre Errichtung wurde den Meistern aber anheim gestellt (§ 37). Die Vertretungsmacht des Vorstandes regelte das Statut ebenfalls genauestens (§ 38). Dass die Bestimmungen über die Ausbildung der Lehrlinge in dem Musterstatut breiten Raum einnahmen, versteht sich von selbst. Auf diesem wenig verfänglichen Felde konnte das Ministerium Reminiszenzen an die Zunftherrlichkeit wachrufen, ohne den Meistern Freiheiten zugestehen zu müssen, die der Staat ihnen zu gewähren nicht bereit war. Die Lehrlinge sollten sechs Wochen nach Beginn der Ausbildung bei der Innung angemeldet werden; dabei hatte der Obermeister die Befugnis des Lehrherrn zur Ausbildung von Lehrlingen sowie die körperliche und geistige Befähigung des Lehrlings, insbesondere dessen hinreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen, festzustellen (§ 40). Die Lehrlinge waren, so wollte es das Statut, vor der Innung aufzunehmen und ein Lehrvertrag musste abgeschlossen werden. Die Innung sollte die Ausbildung des Nachwuchses überwachen (§ 42); aus besonderen Gründen, insbesondere der Vernachlässigung der sich aus dem Lehrverhältnis ergebenden Pflichten, konnte dasselbe auch aufgelöst werden (§ 43). Der Innung oblag nach dem Musterstatut nicht nur die Abnahme der Gesellenprüfung (§ 45); sie wurde vielmehr auch befugt, über das Betragen der Lehrlinge und Gesellen zu wachen. Arbeitsrechtliche Streitigkeiten sollten, sofern ein Gewerbegericht nicht bestand, durch den Vorstand der Innung unter dem Vorsitz des Vertreters der Kommunalbehörde entschieden werden. Gegen dessen Votum war die Berufung bei den ordentlichen Gerichten zulässig (§ 48). Ganz nach dem Usus der Zunft wurden die Innungsgenossen verpflichtet, erwerbsunfähige Berufsgenossen oder hilfsbedürftige Hinterbliebene in der hergebrachten Weise zu unterstützen (§ 49) und erforderlichenfalls für eine ordentliche Bestattung verstorbener Innungsmitglieder Sorge zu tragen (§ 50). Decouvrierend ist, welch breiten Raum die Aufzählung der Kontrollbefugnisse der Kommunalbehörde gegenüber der Innung einnahm (§ 50). Die Kommunalverwaltung sollte nicht allein die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens bei den Innungen kontrollieren. Dem Vertreter der Verwaltung räumte das Statut weit umfassendere Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse ein. So konnte die Lokalbehörde dem Innungsvorstand Anweisungen erteilen und diesem gegenüber Ordnungsstrafen verhängen. Die Verwaltung sollte nach dem Willen des Ministeriums sogar Mitglieder des Vorstandes gegen den Willen der Innungsgenossen aus ihren Ämtern entfernen können. Auch die Obliegenheiten der vom Staat ausgelöschten Zunftgerichtsbarkeit überantwortete das Statut der Kommunalbehörde: „Streitigkeiten über die Aufnahme und Ausschließung von Innungs-Genossen, sowie über die Rechte und Pflichten derselben und der Mitglieder des Vorstandes sind von der Kommunalbehörde zu entscheiden“, hieß es unmissverständlich. Rechtsmittel gegen deren Entscheidungen konnten bei der zuständigen Bezirks-Regierung eingelegt werden (§ 52).132 132 Zur Handwerksgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert s. ausführlich Deter (1987).
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Signifikant für den unverhohlenen Willen der Bürokratie, die Kontrolle über die neuen Korporationen zu gewinnen und nicht wieder aus der Hand zu geben, war auch die Bestimmung, wonach die Statuten der Innungen ausdrücklich „zu jeder Zeit“ von Amts wegen revidiert und bei Bestätigung des Ministeriums abgeändert werden konnten (§ 53) 133. Selbst die Auflösung der Innung bedurfte noch der Genehmigung der Bezirksregierung (§ 54). Geschickter hätte die Obrigkeit die Mittel subtiler staatlicher Einflussnahme kaum verpacken können, denn das Musterstatut mit seinen hintersinnigen Bestimmungen fand bei den Meistern – wenn es ihnen denn überhaupt bekannt wurde – naturgemäß weniger Aufmerksamkeit als die Gewerbeordnung des Jahres 1845 oder die Verordnung vom 9.2.1849. Eben deren allgemeine Regelungen wurden aber – in ebenso merkwürdiger wie decouvrierender Verkehrung der Hierarchie der Rechtsnormen – gegenüber den Statuten für subsidiär erklärt (§ 55). Das Ministerium hatte nach alledem keine Maßnahme ausgelassen, um die neuen Korporationen – wenn sie denn schon unvermeidbar waren – nicht mit den hergebrachten genossenschaftlichen Freiheiten, sondern in der Form verdeckter Staatsanstalten wiedererstehen zu lassen. Die Bestimmungen des Normalstatuts sollten zunächst zweierlei gewährleisten: (1) Es sollte einerseits eine „Gleichförmigkeit“ des Innungswesens erreicht und Diskrepanzen zwischen den gesetzlichen Vorschriften und den Innungsstatuten bzw. der Rechtspraxis der Innungen vermieden werden. (2) Andererseits wollte das Ministerium angesichts der damals noch relativ geringen Homogenität der Wirtschaftsentwicklung in den unterschiedlichen Landesteilen Preußens aber auch individuellere Satzungsgestaltungen ermöglichen, welche regionale Besonderheiten berücksichtigten. Ausdrücklich sollten die spezifischen Erfordernisse der jeweiligen Gewerke oder bestimmte Bedürfnisse einzelner Innungen Beachtung finden können. Da das Normal-Statut „das Gebiet der Neben-Gegenstände nicht erschöpfen“ könne, wurden die Bezirks-Regierungen befugt, auch andere Festsetzungen zu treffen. Die Möglichkeiten zur Abweichung von dem Normal-Statut wurden aber streng begrenzt. In einer Anlage B bestimmte das Ministerium die zulässigen Modifizierungen exakt. Über sie durfte nur bei „dringender Veranlassung“ hinausgegangen werden. Um die Beachtung der Vorschriften zu gewährleisten, forderte das Ministerium die Regierungen wenig später auf, die Neufassung des Normal-Statuts und seine Bestimmungen bei den Gewerbetreibenden bekannt zu machen und die „demselben zugrundeliegende wohlwollende Absicht richtig“ zu würdigen. Zu diesem Zweck sollten auch die Gewerberäte das Ihre beitragen.134 In Berlin bestand die Sorge, die Meister und Gesellen könnten von eben dieser „wohlwollenden Absicht“ der Obrigkeit nicht hinreichend überzeugt sein. Da der Staat unverhohlen auf die Kont133 Die erstrebte Gleichförmigkeit der Statuten war kein Selbstzweck, sondern sollte ausdrücklich „die künftige Beaufsichtigung der Innungsangelegenheiten“ erleichtern, So Schreiben des Innen- und des Finanzministers an die Reg. Münster v. 4.2.1848, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 134 Schreiben des Handelsministeriums an die Reg. Münster v. 8.1.1850, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. Zu den Gewerberäten s. u., S. 135 ff.
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rolle der Handwerker zielte, war diese Furcht natürlich nicht unbegründet;135 als er diese seine Intention aber je länger desto weniger verbarg, nahm auch die Abneigung der Betroffenen gegen die behördliche Bevormundung natürlicherweise wieder schnell zu. 7. Die Reaktion der Meister Es versteht sich von selbst, dass sich auch die aus dem revolutionären Impetus erwachsene Handwerkerbewegung Westfalens intensiv mit der neuen Gewerbegesetzgebung befasste. Gustav Schmoller hat im Nachhinein festgestellt, der Handwerkerstand sei „zunächst durch diese neue Regelung befriedigt“ gewesen.136 Für die westfälischen Meister lassen sich derlei Auffassungen allerdings nicht bestätigen. Auf dem rheinisch-westfälischen Handwerkerkongress, der im April 1849 in Düsseldorf stattfand, wurde die Vorlage für eine „Handwerker- und Gewerbeordnung für die preußischen Staaten“ beraten und beschlossen.137 Dieser Entwurf übernahm zwar weitestgehend die Regelungen der Verordnung vom 9.2.1849, suchte aber die Befugnisse der Selbstverwaltungsorgane des Handwerks gegenüber den Aufsichtsrechten der Behörden entscheidend zu stärken. Die Meister aus den beiden Westprovinzen lehnten ein Organisationsmodell, welches die Handwerker bei der Wahrnehmung ihrer Interessen allzu sehr beschränkte und nahezu vollständig dem Einfluss und der Kontrolle des Staates aussetzte, dezidiert ab. Eben deshalb war es in Westfalen trotz des jahrzehntelang artikulierten Wunsches nach Reanimierung der „Assoziationen“ im Gefolge des Erlasses der Gewerbeordnung von 1845 nicht wieder zur Errichtung von Innungen gekommen – und aus demselben Grunde wollte man sich auch 1849 nicht mit exzessiven Aufsichtsrechten der Obrigkeit abfinden.138 In diesem Sinne nahm der Vorstand des Handwerkervereins der Provinz Westfalens dann auch in Form einer Denkschrift zu der Gesetzesnovelle vom 9. Februar 1849 Stellung.139 Er erklärte, dass die Verordnung vom 9.2.1849 nicht den Anforderungen, welche die Meister berechtigterweise stellten, entspreche. Grundlage der Gewerbeordnung müsse der Innungszwang sein, den die Verordnung aber nicht vorsehe.140 Damit schlug der Vorstand einen neuen Ton an. Denn die Petitionen aus 135 1850 wies der Minister die Regierungen darauf hin, dass der Staat und nicht die Gewerberäte zur Beaufsichtigung der Innungen zuständig sei. Die Gewerberäte sollten sich damit begnügen, ihre „Wahrnehmungen über die Innungs- und sonstigen gewerblichen Angelegenheiten zur Kenntnis der Behörden zu bringen“ …; so Schreiben des Handelsministers an die Reg. Münster v. 4.3.1850, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 136 So Schmoller (1870), S. 87. 137 Der Text findet sich in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 2, fol. 19–30. 138 So z. B. Schreiben des Elberfelder Handwerkervereins an den Minister v. der Heydt v. 6.7.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 2, fol. 3–5. 139 Denkschrift v. 21.9.1849, in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19 Bd. 1, fol. 177–178 RS. 140 Denkschrift des Centralvorstandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen, betreffend die Verbesserung der Gesetzgebung über die Verhältnisse der Handwerker, in: GStA/PK, Mi-
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Westfalen an das Paulskirchenparlament hatten noch andere Anliegen präferiert. Ähnliche Forderungen wie nun aus Westfalen kamen auch aus weiteren preußischen Provinzen.141 Binnen kurzem gingen über 200 Petitionen bei der Zweiten Kammer in Berlin ein. Neben der Pflichtmitgliedschaft der Meister in den Innungen wurde vor allem verlangt, das Prüfungswesen ausschließlich den Innungen zu überlassen und den Gewerbebetrieb der Nichtmitglieder von Innungen weiter als in der Verordnung vom 9.2.1849 zu beschränken.142 In seinem Bericht an den Minister über diese Petitionsbewegung kam der zuständige Ministerialbeamte v. Viebahn gleichwohl zu dem merkwürdigen, da Teile des Inhalts der Eingaben in ihr Gegenteil verkehrenden Schluss, „dass die Gesetze vom 9.2. d. J. ihrem wesentlichen Inhalte nach den Bedürfnissen der Zeit und den Wünschen der Betheiligten entsprechen“.143 Der Aufbau von Gewerberäten, Innungen, Gesellenschaften, Kassen und Gewerbegerichten lasse „eine sehr heilsame Einwirkung gegen den atomistisch unsicheren, zu Unruhen geneigten Zustand der gewerblichen Bevölkerung in den Städten erwarten“. Viebahn empfahl seinem Minister deshalb die „rasche und energische Ausführung neuer Institutionen“, soweit die Behörden hierzu zuständig seien. Entsprach seine euphemistische Wertung der Bestimmungen auch kaum den Realitäten, so sollte Viebahn, wie sich bald zeigte, mit seiner Prognose hinsichtlich ihrer beruhigenden Wirkung auf die Handwerkerschaft aber doch recht behalten, obgleich der Gewerbeminister von der Heydt nicht bereit war, auf weitere Forderungen der Meister einzugehen. Stattdessen ließ er sie wissen, dass die Bestimmungen der Verordnung vom 9.2.1849 zunächst die erwünschten Wirkungen entfalten sollten. Gemeint war hiermit der Aufbau der Innungen, Gewerberäte und Prüfungskommissionen – ein Unterfangen, welches die Kräfte der Handwerker binden und ihre revolutionären Forderungen vergessen machen sollte: „Dagegen werden die Antragsteller zur Verbesserung ihrer gewerblichen Verhältnisse wirksamer beitragen, wenn sie ihre Bestrebungen der Begründung der bereits angeordneten neuen Einrichtungen zuwenden …“, beschied sie v. d. Heydt barsch.144 Im Übrigen bedeutete er ihnen, auf die „thätige Unterstützung der Behörden“ bei der Ausführung der Verordnung zu vertrauen.
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nisterium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19, Bd. 1, fol. 77–78 RS; des weiteren beklagten die Meister vor allem das Fehlen einer klaren Abgrenzung zwischen Handwerk, Fabrik und Handel sowie die Konkurrenz von Staatsunternehmen; sie forderten staatlich garantierte Kredite für Meister, aber auch Innungen, den Prüfungszwang sowie das Monopol des Betriebs von Magazinen für Handwerker. So z. B. die Petition an die Erste Kammer des Abg.-Hauses, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120, B I 1 Nr. 62, Bd. 1, fol. 460–462. So Schreiben des Ministerialbeamten Viebahn an den Staatsminister von der Heydt v. 15.5.1849, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, Abt. I B I, Nr. 62, fol. 407; nur wenige Stimmen sprachen sich damals für die Rückkehr zur uneingeschränkten Gewerbefreiheit aus, und diese gehörten zumeist nicht zu den Gewerbetreibenden; s. auch Bericht des Referenten bei der Fachkommission der Zweiten Kammer für Handel und Gewerbe, Osterrath, über die eingegangenen Petitionen (1849), a. a. O., fol. 409– 422. Wie Anm. 142. Schreiben des Ministers v. d. Heydt an den Vorstand des Handwerker-Vereins in Elberfeld v. 19.7.1849, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 2, fol. 31–32.
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Die angesichts solcher den Zynismus streifenden Bemerkungen der Obrigkeit kaum verwunderliche Enttäuschung der Betroffenen blieb weder den westfälischen Verwaltungsbehörden noch dem Ministerium verborgen – denn die Meister machten, durch die anfänglichen Erfolge der Revolution selbstbewusst geworden, auch auf den unteren Organisationsebenen kein Hehl mehr aus ihrer kritischen Haltung gegenüber den „Wohltaten“ des Gesetzgebers. So erklärten die Vertreter des Handwerks des Kreises Brilon sans phrase, dass in der Verordnung vom 9.2.1849 „nichts zu erkennen sei, was den verschiedenen Gewerben zu einem erheblichen Vortheil gereiche“.145 Der Magistrat der gleichnamigen Kreisstadt ließ die Regierung – direkter noch – wissen, dass die Meister in der Verordnung lediglich ein Mittel der Bevormundung des Staates sähen, und eben diese behindere die freie Entfaltung der Gewerbe. Gewerberäte unter Kuratel des Staates lehnten sie ab, und für Unterstützungskassen, die sie selbst finanzieren sollten, forderten sie folgerichtig auch die Selbstverwaltung. Nüchtern und selbstbewusst konstatierten die Briloner, „dass in diesem Gesetze der Geist der Bevormundung nicht zu verkennen und den Gewerben seitens des Staates nichts von Erheblichkeit geboten ist, um dafür ihre Selbständigkeit daran zu geben“. Sie hatten die selbstische Absicht, welche das Ministerium mit seiner Verordnung verfolgte, durchschaut – und waren verstimmt. Diese Reaktion war kein Einzelfall: Als sich die Lippstädter Bürstenmacher 1850 trotz ihrer geringen Zahl zu einer Innung zusammenfinden wollten, befürwortete die Regierung in Arnsberg das Vorhaben mit einer Begründung, welche die Situation trefflich skizzierte: „Da jedoch einmal bei der bisher erwiesenen auffallend lauen Stimmung der diesseitigen Handwerker für das Innungswesen es gerathen erscheint, jede für dieselbe sich kundgebende Neigung festzuhalten und zum Ziele zu führen, da ferner ein so bereitwilliger Anschluss an das heftig angegriffene und leidenschaftlich verworfene Normalstatut bis jetzt sich noch nirgends im hiesigen Bezirke gefunden hat, und dasselbe, wenn die Innung ins Leben tritt, gemäß fernerer Nachfolge die Bahn brechen wird, …“146 bat die Regierung das Ministerium um Genehmigung dieser Innung. Wie man sieht, war die Kritik an der Entmündigung der Handwerker durch das Normalstatut im südlichen Westfalen allgemein – und die Arnsberger Behörde hegte keinerlei Zweifel daran, dass die Adressaten die Bestimmungen dezidiert ablehnten. Das Ministerium konnte sich deshalb keineswegs mit Nichtwissen exkulpieren. Dass dennoch nichts zur Rettung des Innungsmodells geschah, offenbart einmal mehr, wie wenig es dem Gesetzgeber um eine effiziente Interessenvertretung zu tun war. Kalmieren hieß die Devise, und da war selbst der Versuch der Täuschung der Betroffenen über die wahren Ziele der Gesetzgebung recht.147 145 Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon an den Landrat v. 15.5.1849, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358. 146 Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 28.7.1850, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 22, Bd. 7. 147 Allerdings muss eingeräumt werden, dass die Kritik an dem Innungsstatut in Westfalen offenbar besonders heftig war. Während des preußischen Landeshandwerkertages, der vom 19. bis 24. August 1850 in Stettin abgehalten wurde, spielte die Diskussion um ein geeignetes Musterstatut für die Innungen eine erhebliche Rolle. Man wollte eine Lösung finden, die sowohl den Vorgaben der preußischen Regierung als auch den Wünschen der Handwerker, denen es vor allem um eine wirkliche Selbstverwaltung zu tun war, entsprach. Im Ergebnis stimmte die
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Aus Frustration resultierende Reserviertheit war die gewöhnliche Haltung der westfälischen Handwerker gegenüber einer Verordnung, die sie so nicht wollten. Erstaunlicherweise erreichten die Bestimmungen das Ziel, die Handwerker zu besänftigen, aber doch – wenngleich dieses Resultat eher aus dem schließlichen Gefühl der Ohnmacht bei den Adressaten als aus deren Einverständnis mit den „Segnungen“ des Gesetzgebers folgte. 8. Der Aufbau der Innungen Die durch den Gesetzgeber angestoßene Errichtung von Innungen verlief in den verschiedenen Regionen Westfalens durchaus unterschiedlich148. Da die archivalische Überlieferung dieser Vorgänge naturgemäß sehr uneinheitlich ist, vermag man nicht leicht einen zutreffenden Eindruck von der Wiederbelebung der Korporationen zwischen Rhein und Weser zu gewinnen und zu vermitteln. Daher bedarf es des Beispiels verschiedener Städte aus den wirtschaftlich so unterschiedlich strukturierten Regionen der Provinz, um zu zeigen, wie dieser Prozess der Genossenschaftsbildung um die Mitte des 19. Jahrhunderts in all seiner Komplexität verlief. Erst aus der Zusammenschau der unterschiedlichen Ansätze und Initiativen ergibt sich ein realistisches Gesamtbild dieser Vorgänge. a. Regierungsbezirk Münster Das Interesse an einem organisatorischen Neuanfang im Handwerk war im Regierungsbezirk Münster besonders unterentwickelt. Auch in der Provinzialhauptstadt selbst fand das Angebot des Gesetzgebers zunächst keinen Widerhall.149 Erst allmählich änderte sich dies; die Reanimierung des korporativen Geistes blieb aber weitestgehend auf Münster selbst beschränkt. Im März 1851 stellten die Kleidermacher der Stadt den Antrag auf Genehmigung einer Innung,150 welche der MinisVersammlung, an welcher aus Westfalen der Münsteraner Meister Bartz teilnahm, einer modifizierten Fassung des seitens des Ministeriums entworfenen sog. Schuhmacher-Statuts zu. Der Minister stellte es den Innungen frei, diesen Entwurf anzunehmen, da er nicht wesentlich von dem Musterstatut der Regierung abwich. Die Meister dürften, um eine Ablehnung ihres Vorschlages zu vermeiden, von substantiellen Änderungen abgesehen haben; s. Verhandlungen des vom 19. bis 24. August 1850 in Stettin abgehaltenen Landes-Handwerkertages sowie der nachher noch in Berlin stattgefundenen Berathungen der dazu gewählten Kommission, hrsg. v. Vorstand des Landes-Handwerkertages, Berlin 1850, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 2, fol. 180–195. 148 Zur Innungsentwicklung in Preußen s. Hampke (1894). 149 Ende des Jahres 1850 teilte die Reg. Münster dem Ministerium mit, dass in ihrem Bezirk noch keine Innung errichtet worden sei; s. Schreiben der Reg. Münster an den Handelsminister v. 10.12.1850, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. Es ist mit der vorliegenden Untersuchung nicht intendiert, eine lückenlose Aufzählung der in der Provinz Westfalen errichteten Innungen zu liefern. 150 Schreiben der Reg. Münster an das Gewerbeministerium v. 10.3.1851, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 20, Bd. 2.
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ter am 25.11. desselben Jahres bestätigte.151 Trotz des Drängens der Berliner Behörde kam im folgenden Jahr aber keine weitere Korporation hinzu;152 erst 1853 konnte der Minister dem Statut einer zweiten Korporation, der Schlosser- und Schmiedeinnung in Münster, seinen Segen geben.153 Im Umland der Westfalen-Kapitale war die Resonanz auf die Initiative des Gesetzgebers noch wesentlich geringer, was mit dem fast völligen Fehlen bedeutender Städte allein kaum hinreichend erklärt werden kann. Ungewöhnlich frühzeitig, nämlich schon nach Erlass der Gewerbeordnung des Jahres 1845, war der Gemeinderat von Schermbeck im Kreis Recklinghausen bemüht, für das dort stark vertretene Töpferhandwerk eine Innung zu errichten154 – ein Unterfangen, welches aber ebenso scheiterte wie der 1852 unternommene Versuch, im Krs. Lüdinghausen eine Glaser- und Anstreicherinnung ins Leben zu rufen. Diese Korporation sollte in der Landgemeinde Nordkirchen ihren Sitz haben. Da dort aber nur zwei Meister der Glaser- und Malerprofession vorhanden waren und die größte Anzahl der an einem Ort des Kreises tätigen Berufsangehörigen aufgrund der für das Münsterland typischen Streusiedlungsstruktur nicht mehr als vier betrug, unterstützte die Regierung in Münster den Antrag von 28 der im Kreis insgesamt vorhandenen 33 Maler- und Glasermeister155 auf Errichtung einer kreisweiten Organisation. Die Gewerbeordnung verlangte in den §§ 101, 102 für die Bildung einer Innung aber mindestens 12 Meister an einem Ort; deshalb verweigerte das Ministerium die notwendige Genehmigung.156 Zustande kam allerdings – wenngleich lediglich formal – eine Schneider-Innung in Coesfeld, die 1853 15 Mitglieder zählte.157 Dieser Innung bestätigte das Ministerium zwar ein Statut, doch trat sie „gar nicht ins Leben“.158 So scheiterte das staatlicherseits offerierte Innungsmodell im Münsterland beinahe vollständig. Im gesamten Regierungsbezirk wurden nach 1850 nicht mehr als 5 Korporationen errichtet, ohne dass diese jedoch, wie der Verfasser der „Statistik des Regierungsbezirks Münster“ 1860 ausdrücklich bemerkte, im Stande gewesen 151 Schreiben des Ministers für Handel und Gewerbe an die Reg. Münster v. 25.11.1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. Die Münsteraner Schneider-Innung zählte 1856 54 Mitglieder; s. Schreiben des Handelsministers v. 19.4.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 2, fol. 326. 152 Auf die Aufforderung des Ministers, die inzwischen abgefassten Innungsstatuten vorzulegen, musste die Regierung mitteilen, dass außer der Schneiderinnung in der Bezirkshauptstadt noch keine weiteren Statuten formuliert worden seien; s. Schreiben der Reg. Münster an den Handels- und Gewerbeminister v. 3.6.1852, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 153 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers an die Reg. Münster v. 22.7.1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779. 154 Vgl. Müller (1976), S. 14; in der Gemeinde waren damals 7 Töpfer, 3 Ziegelstreicher und 13 Maurer vorhanden. 155 Schreiben der Reg. Münster an das Handels- und Gewerbeministerium v. 3.12.1852, in: GStA/ PK, Rep. 120 B VI 20, Bd. 3. 156 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers v. 16.2.1853, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 20, Bd. 3; zur Begründung bemerkte das Ministerium, dass die Meister zerstreut wohnen und sich deshalb „eine zur Förderung der Innungszwecke geeignete Wirksamkeit nicht erwarten“ lasse. 157 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers v. 19.4.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774 Bd. 2, fol. 326. 158 So Stat. Nachrichten für den Kreis Coesfeld (1865), S. 55.
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wären, besondere Wirksamkeit zu entfalten“.159 Zur Begründung stellte er auf den „Charakter der Bewohner“ ab, die „eine Abneigung gegen die Bildung von Genossenschaften“ hätten. Diese Erklärung für die auffällige Abstinenz mochte er aus dem Umstand, dass das Korporationswesen im nordwestlichen Westfalen schon zur Zunftzeit nur schwach entwickelt gewesen war, ableiten. Dass die Ursache für die Ablehnung des Innungsmodells aber nicht in dem den rechtlich gebildeten Zeitgenossen damals zwar wohl vertrauten, doch stets nebulös gebliebenen „Volksgeist“ oder „Volkscharakter“ lag, hätte er erkennen können – fielen die Zusammenhänge doch ins Auge, wie sich am Beispiel der Stadt Münster leicht zeigen lässt: Dort fanden sich die Handwerker, Meister wie Gesellen, sehr wohl zusammen, um ihre Interessen gemeinsam wahrzunehmen und die hergebrachten Bräuche zu pflegen: So war in der Stadt ein Handwerkerverein gegründet worden,160 dem der 1852 ins Leben gerufene katholische Gesellenverein zur Seite trat. Ende der fünfziger Jahre bildeten die Meister eine Schreiner-Schützengesellschaft, die mit einer Sterbekasse verbunden war. 1868 folgte eine Bäcker- und Brauerbruderschaft.161 An fehlendem Bedürfnis nach Gesellung oder gar einem auffälligen Hang zur Vereinzelung litten die Münsterländer demnach keineswegs. Sie hatten, wie die meisten der westfälischen Handwerker, eben erkannt, dass die Gesetzgebung eine unabhängige Interessenvertretung nicht zuließ – und ignorierten das Innungsmodell folgerichtig. b. Regierungsbezirk Arnsberg aa. Soest Im Gegensatz zum Münsterland gab die Gesetzgebung der Jahre 1845/49 im südlichen Westfalen den Anstoß für mancherlei Versuche zur Wiedererrichtung gewerblicher Korporationen. Schon der Erlass der Gewerbeordnung weckte in Soest das Interesse an einem Institut, welches damals nur noch wenige in der Provinz aus eigener Anschauung kannten: Mit dem Bemerken, dass „hier bisher keine Innungen bestanden haben und wir insofern mit derartigen Verhältnissen nur wenig bekannt sind …“,162 wandte sich der Soester Bürgermeister schon im Sommer 1845 an die Städte Iserlohn, Köln, Magdeburg und Berlin und bat um die Zusendung von Innungsstatuten; Magdeburg kam diesem Wunsch nach. Zwar führten die Bemühungen des Soester Stadtoberhauptes zunächst noch nicht zur Errichtung gewerblicher Korporationen, doch immerhin zu einem organisatorischen Neuanfang im Handwerk der Bördestadt. Zwischen 1844 und 1850 schufen Meister und Gesellen dort 159 König (1860), S. 38. 160 Göken (1925), S. 35. Diese Gründungen waren Ausdruck des damals allenthalben propagierten Assoziationsgedankens. Albert Kotelmann beklagte in seiner 1850 veröffentlichten Analyse der Ursache des Pauperismus unter den deutschen Handwerkern das Fehlen einer effizienten Interessenvertretung des Handwerks; s. Kotelmann (1980), S. 264 ff. (285). Zur Entfaltung des Vereinswesens in Deutschland nach 1850 s. Tenfelde (1984); vgl. auch Gimmler (1972) und Georges (1993). 161 Göken (1925), S. 54. 162 Stadtarchiv Soest, Abt. B XIX g 9. Zum Handwerk in Soest zur Zunftzeit s. jetzt Strieter (2011).
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mehrere Kranken- und Sterbeladen.163 Erst als sich im Revolutionsjahr 1848 auch in Westfalen die Handwerkerbewegung formierte und die Meister sich in zahlreichen Vereinen zusammenfanden, setzten die Soester ihre Pläne zur Errichtung von Innungen in ihrer Stadt in die Tat um. Am 23. Oktober 1848 billigte der dortige Gewerbeverein ausdrücklich den „Entwurf einer allgemeinen Handwerker- und Gewerbeordnung für Deutschland“, welchen der Handwerker- und Gewerbekongress im Sommer desselben Jahres in Frankfurt formuliert hatte. Damit entschied man sich in Soest einmal mehr ganz bewusst für die Unterstützung des Innungsgedankens: „Eine nothwendige Bedingung der Gewerbeordnung ist die gleichmäßige Bildung von Innungen für ganz Deutschland …“, hieß es in dem Frankfurter Text, der zugleich das Programm der Handwerkerbewegung darstellte164 und den die Soester Meister in der Tat unmittelbar als Handlungsauftrag verstanden. Ihre Initiative zeigte bald Wirkung. 1850 wurden eine Schuhmacher- und eine SchneiderInnung errichtet;165 1852 folgten der Zusammenschluss der Weber sowie 1853 die Innung der Tischler und der anderen „Holzarbeiter“, also der Drechsler, Böttcher, Stellmacher und Brunnenbauer.166 Schon diese Initiativen rechtfertigen es, den in Soest hervortretenden Organisationswillen als im westfälischen Kontext ungewöhnlich und untypisch zu bezeichnen. Denn an der weit überwiegenden Zahl der Städte und Dörfer167 auch der Hellweglandschaft und des Sauerlandes ging die Korporationsbewegung damals vorüber, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Die Physiognomie der Innungen in der Bördestadt zeigte allerdings kaum individuelle Züge. Das Statut der Soester Tischler-Innung weist all die charakteristischen Eigenheiten, die das Normal-Statut den Innungen zu vermitteln suchte, auf.168 Der Chronist der Wirtschaftsentwicklung Soests im 19. Jahrhundert, Joest, vermutete als Ursache für die offensichtliche Selbstentmündigung der Handwerksgenossen durch die Übernahme der vorgefertigten Innungs-Satzungen deren Be-
163 S. dazu ausführlich das Kap. „Die soziale Sicherung …“, S. 324 ff. 164 Handwerker- und Gewerbeordnung …, in: Der deutsche Handwerker-Congreß (1980), S. 165 ff. 165 Die Regierung in Arnsberg unterstützte das Interesse an Innungen in Soest, indem sie der Stadt mitteilte: „Die Bildung von Innungen findet im diesseitigen Bezirke mehr und mehr Anklang …“; so Schreiben der Regierung in Arnsberg v. 3.12.1850, in: Stadtarchiv Soest XIXg9. 166 1859 zählte die Schuhmacher-Innung 25, die Schneider-Innung 27, die der Weber 28 und die der Tischler u. a. 27 Mitglieder; s. Schreiben des Handelsministeriums v. 19.4.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774 Bd. 2, fol. 327. Zwar wurde behauptet, 1850 hätten in Soest noch keine Innungen, sondern nur Kreisprüfungskommissionen bestanden; s. Stadtarchiv Soest XXXII c 9 Bd. II. Doch datiert das Innungsstatut der Soester Kleidermacher schon v. 8.8.1850, s. Stadtarchiv Soest XIX g 15. 167 Vgl. bzgl. der Landgemeinden Joest (1978), S. 185; hierzu bemerkte der Bürgermeister der Soest benachbarten Gemeinde Weslarn 1851, dass die geringe Zahl von Angehörigen eines oder verwandter Gewerbe innerhalb einer Gemeinde den Zusammenschluss zu Innungen verhindere. Die Zusammenarbeit von Handwerkern verschiedener Landgemeinden stoße ebenfalls auf Schwierigkeiten; s. Joest (1978), S. 185. 168 Innungs-Statut der Tischler-, Drechsler-, Böttcher-, Rade- und Stellmacher- und BrunnenbauMeister in Soest, Soest 1852, in: Stadtarchiv Soest B XIX g 9.
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streben, „angesichts einer immer stärkeren Konkurrenz den Schutz der Behörden“ zu suchen.169 Das für Westfalen untypische, lebhafte Interesse der Soester Gewerksgenossen an dem Innungsmodell war allerdings auch Ausdruck bestimmter handwerksspezifischer Ziele, die bei ihnen stärker als bei den Meistern anderer Städte der Provinz hervortraten: Vor allem wollten sie sich – den Zunftbrauch wiederbelebend – Monopole schaffen, um der stets unerwünschten Konkurrenz ledig zu werden. Vermutlich im Verein mit dem in der Stadt neu geschaffenen Gewerberat setzten die gerade gegründeten Genossenschaften deshalb schon bald nach ihrer Errichtung ein OrtsStatut durch, welches am 27. Mai 1851 in Kraft trat.170 Bezeichnenderweise normierte dieses die Beitrittspflicht der selbständigen Gewerbetreibenden zu den Innungen und untersagte es, Magazine für den Verkauf von Handwerkswaren einzurichten.171 Damit gab das Statut den neuen Korporationen die Möglichkeit, erstmals seit Einführung der Gewerbefreiheit wieder gegen die unerwünschte Konkurrenz vorzugehen. Und diese Chance ließen die Meister nicht ungenutzt: Unverzüglich, nämlich schon im September 1851, zeigte die Soester Schneiderinnung drei Blaufärber, drei Kleinhändler und einen Kappenmacher beim Magistrat an, weil diese Kleidungsstücke anzufertigen und zu verkaufen gewagt hatten. Einer der Beschuldigten setzte sich dagegen zur Wehr und wies durch Zeugenaussage nach, dass er schon 1847, also vor Einführung des neuen Statuts, ein „Kleider-Magazin“ betrieben habe. Da die Arnsberger Regierung dem Färber Recht gab, wandte sich die Soester Schneiderinnung an das Handels- und Gewerbeministerium, scheiterte allerdings auch dort. Dieser Misserfolg hinderte die Meister der Stadt aber nicht, der unliebsamen Konkurrenz weiterhin nachzustellen.172 Wenig später schon, 1852, schwärzte die Schneiderinnung gleich 17 Soester Frauen, welche Näharbeiten übernahmen und sogar Lehrlinge ausbildeten, ohne eine Prüfung abgelegt zu haben,173 169 Dass die als „Schutz“ missverstandene Bevormundung den Meistern durch das Ministerium aufgenötigt worden war, blieb ihm offenbar verborgen, s. Joest (1978), S. 186. 170 Stadtarchiv Soest XXXII c 9 Bd. II. Das Ergebnis der Beratungen in Soest über das Orts-Statut wurde auf dem Handwerkertag in Paderborn am 11. und 12.3.1850 vorgetragen. 171 Soest blieb die einzige Stadt im Regierungsbezirk Arnsberg, die eine solch radikale Maßnahme zum Schutze der Handwerkerinteressen gegen die Konkurrenz der Kaufleute durchsetzte; s. Tilmann (1935), S. 51. 172 Dass die Innungen ihre zentrale Aufgabe in der Ausschaltung unerwünschter Konkurrenten sahen, lässt sich nicht nur für Soest zeigen. In Lippstadt beispielsweise verfolgten sie dieses Anliegen mit nicht geringerer Verve. Dazu finden sich im Stadtarchiv Lippstadt zahlreiche Nachweise. 173 Stadtarchiv Soest XXXV a 64. Der rechtliche Hintergrund des Vorstoßes der Innung war folgender: § 28 der Verordnung v. 9.2.1849 bestimmte, dass der örtliche Gewerberat entscheiden solle, „welche Arbeiten zu der unter den einzelnen Handwerken (§§ 23, 24, 26) begriffenen Verrichtungen gehören“. Dabei hatte er die „von der Regierung oder von dem Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten getroffenen Anordnungen zu beachten, jedoch nach den Verhältnissen des örtlichen Gewerbebetriebes“ zu entscheiden. Auf eine solche Entscheidung trugen die Meister hier an. Um die Schneiderinnen vom Markt vertreiben zu können, mussten zunächst die Tatsachen geklärt werden: (1) Nach § 22 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845 waren die Frauen verpflichtet, ihr Geschäft bei der Ortsbehörde anzuzeigen. Die Verwaltung sollte deshalb nach dem Willen der Meister zunächst einmal überprüfen, ob dies
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bei Gewerberat und Magistrat der Stadt an. Der Gewerberat zeigte für das Anliegen der Schneider Verständnis, da durch die Tätigkeit der Frauen „den Damenschneider-Meistern in Hinsicht ihres erlernten Gewerbebetriebes ein erheblicher Nachtheil zugefügt wird, ja mancher von ihnen nicht mehr imstande ist, von seinem Geschäfte, wegen Mangel an Arbeit, sich und seine Familie zu ernähren“.174 Allerdings erschöpften sich die Bemühungen der Innungen im Interesse ihrer Mitglieder nicht in der kleinlichen Verfolgung missliebiger Konkurrenten. Es gab auch Ansätze aktiver Förderung des Wirtschaftsbetriebs der Meister. So versuchte die Soester Tischlerinnung 1851, die Stadt zu veranlassen, ein Holzmagazin für kapitalschwache Mitglieder zu errichten. Doch scheiterte diese Initiative am Widerstand der Handelsabteilung des Gewerberates;175 deren Angehörige argumentierten, eine solche Einrichtung würde „eine nicht zu rechtfertigende Bevorzugung der Tischler vor allen anderen Handwerkern sein, die nicht minder in den dürftigsten Verhältnissen leben“.176 Aber auch standespolitisch betätigten sich die Soester Innungen: Als sich im Oktober 1861 ein sog. Urwähler-Verein in der Stadt bildete, um die bevorstehenden Landtagswahlen vorzubereiten, rief dies die organisierten Handwerker am Orte auf den Plan. Denn dieser Verein sprach sich ausdrücklich für eine Revision der bestehenden Gewerbegesetze – und damit für die Gewerbefreiheit – aus. Das aber konnte nur bedeuten, dass den Innungen die Grundlage ihrer Existenz entzogen werden sollte. Solchermaßen aufgeschreckt riefen die Vorstände der 4 Soester Gewerbegenossenschaften im „Kreisblatt“ ihren Anhang unmissverständlich zur Wahl jener Volksvertreter auf, „die gegen die schrankenlose Gewerbefreiheit sind“.177 Wie sehr die sich seit Beginn der sechziger Jahre schnell ausbreitenden liberalen Überzeugungen den Innungsgedanken damals aber bereits ausgehöhlt hatten, zeigte sich bald, als ein Soester Handwerker in einem Leserbrief im örtlichen Presseorgan massiv gegen den von den Innungen gestützten Prüfungszwang zu Felde zog.178 Auch in der Mittelstadt Soest hatte der liberale Zeitgeist demnach bereits zu
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geschehen war. (2) In einem weiteren Schritt musste dann gemäß einer Ministerial-Instruktion v. 16.9.1849 geklärt werden, in welchem Umfang und in welcher Weise die angezeigten Schneiderinnen ihr Gewerbe betrieben. Dies war notwendig, weil die außerhalb ihrer Wohnung auf Tagelohn arbeitenden Frauen keiner gesetzlichen Beschränkung (nach den §§ 23, 24 und 26 der Verordnung v. 8.2.1849) unterworfen waren. Demgegenüber unterfielen diejenigen Schneiderinnen, welche in ihrem Haus das Gewerbe ebenso wie die Schneidermeister auf Bestellung oder Kauf mit Gehilfinnen und Lehrlingen selbständig betrieben, ebenso den gesetzlichen Bestimmungen, wie sie für Handwerksmeister nach § 23 der Verordnung v. 9.2.1849 galten, also auch dem Prüfungszwang. Deshalb wollte die Schneiderinnung entsprechende Feststellungen treffen, um die von ihr namhaft gemachten Frauen eines Rechtsverstoßes überführen zu können. Zitiert nach Joest (1978), S. 186, m. Nachw. So Joest (1978), S. 186, 187. Zitiert nach Joest (1978), S. 187. Kreisblatt Nr. 82 v. 11.10.1861, zitiert nach Joest (1978), S. 187. „Euch aber, Ihr Handwerker, die Ihr im Schweiße Eures Angesichts eine alte Wand zurechtgeflickt habt, um Euren Kindern ein Stück Brot zu verschaffen, später aber 14 Tage lang vagabundenähnlich dafür im Gefängnis sitzen mußtet …, Euch, Ihr Jünglinge, die Ihr bis zum 20., 22. Lebensjahr umherirren mußtet, ohne Geselle, ohne Lehrbursche zu sein …, Euch, Ihr Hand-
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Beginn der sechziger Jahre im Handwerk Fuß gefasst und unterspülte das korporative Denken, welches für die Meister jahrhundertelang so typisch gewesen war, schnell, wenngleich – wie die weitere Entwicklung nach der Reichsgründung zeigen sollte – die schrankenlose Gewerbefreiheit längerfristig auch nicht den Beifall der Handwerker fand und weder ihren noch den Interessen ihrer Kunden entsprach. Festzuhalten bleibt aber, dass die Soester Innungen eine Vielzahl von Aufgaben wahrnahmen und sie dadurch, wie im folgenden zu zeigen sein wird, für Westfalen insgesamt wenig typisch erscheinen. bb. Arnsberg Auch in dem Soest benachbarten Arnsberg fasste man, durch die Initiative des Gesetzgebers neugierig geworden, im Jahre 1850 den Entschluss zur Errichtung von Innungen. Die dortigen Meister reichten allerdings einen Satzungsentwurf bei der Genehmigungsbehörde ein, der von dem Musterstatut deutlich abwich. Insbesondere wollten sie für sämtliche in der Stadt zu gründenden Innungen eine gemeinsame Kasse führen. Dieser Plan stieß im Ministerium jedoch auf wenig Gegenliebe. In Berlin lehnte man jede rechtliche Konstruktion ab, die es einem gemeinsamen Vorstand ermöglicht hätte, über das Vermögen der einzelnen Innungen zu verfügen. Das Ministerium fürchtete, dass die Selbständigkeit der Korporationen dann nicht gewährleistet sei,179 was angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und Interessen der Mitglieder in den diversen Gewerken der Stadt in der Tat kaum in Abrede gestellt werden konnte. Nach Auffassung der Ministerialbeamten folgte aus der Ablehnung gemeinsamer Kassen allerdings nicht, dass für jedes Gewerk eine selbständige Innung zu schaffen sei. Solche Lösungen wären wegen der geringen Zahl von Angehörigen der einzelnen Berufssparten in den westfälischen Kleinstädten tatsächlich nicht tragfähig gewesen. Daher sollten in den neuen Organisationen „gleichartige und verwandte Handwerke zusammengefasst“ werden, „damit unnötige Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Innungen wegen Überschreitung der zu den einzelnen Handwerken gerechneten Verrichtungen möglichst vermieden werden“.180 Der Miwerker, die Ihr einen Tribut an einen unwissenden Meister entrichten müsset, um vor Polizei und Gefängnis gesichert zu sein, Euch, die Ihr vor der Prüfungs-Commission Eures Heimatorths durchgefallen und in einer anderen Stadt vor der Prüfungs-Commission, die an Euch weiter kein Interesse hat, gestanden seit … wählt solche, die … das Wohl der Handwerker und deren vollständige Freiheit zu erwirken suchen!“.S. Kreisblatt Nr. 83 v. 15.10.1861, wie Anm. 177. Zum Verhältnis von Liberalismus und Handwerk s. Haupt/Lenger (1988). 179 So Schreiben des Handelsministers v. der Heydt an die Reg. Arnsberg v. 28.8.1850, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794; desgl. in GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 66 Bd. 1, fol. 203–210, desgl. in: Stadtarchiv Soest XIX a 4. 180 Für die Entscheidung der Frage, welche Gewerbe als verwandt anzusehen waren, sollte die in den §§ 65 ff. des preußischen Edikts v. 7. September 1811 (Pr. Ges. Sammlung 1811, S. 270) enthaltene Zusammenstellung gleichartiger und verwandter Gewerbe auch in Westfalen ausdrücklich maßgebend sein, obgleich diese Verordnung dort nicht in Kraft getreten war. Außerdem sollte bei der Zusammenfassung mehrerer Gewerke in einer Innung beachtet werden, dass die nach § 37 der Verordnung v. 9.2.1849 aus zwei Innungsgenossen und zwei Gesellen beste-
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
nister von der Heydt schlug deshalb vor, in Arnsberg u. a. eine Innung der Maurer, Steinmetzen, Dachdecker, Zimmerleute und Schornsteinfeger sowie eine Innung der Tischler, Drechsler, Stellmacher und Böttcher, welcher ggf. auch die Glaser beitreten konnten, zu bilden.181 Längerfristiger Erfolg war diesen neuen Instituten nicht beschieden. Die 1875 erschienene statistische Beschreibung des Kreises Arnsberg berichtet von Innungen nichts mehr.182 cc. Bochum, Volmarstein Ganz anders stellte sich die Situation in Bochum dar: Dort konnten die Meister bereits an organisatorische Vorbilder anknüpfen. In der Bergbaustadt bestand schon seit Beginn der zwanziger Jahre eine Sterbekasse,183 und auch die zahlreichen Krankenladen der Handwerker und Industriearbeiter spielten eine bedeutende Rolle.184 Daneben existierte ein sog. Handwerkerhilfsverein, dessen Mittel durch freiwillige Beiträge der Bürger sowie durch ein von der Stadt gewährtes Darlehen aufgebracht wurden.185 So erklärt es sich, dass in der schnell wachsenden Gemeinde nur ein Jahr nach Erlass der Verordnung v. 9.2.1849 eine Schneider-Innung mit 17 Mitgliedern errichtet werden konnte. Ein weiteres Jahr später folgten die Schuhmacher mit ihrer Korporationsgründung, wobei ebenso viele Meister organisiert wurden.186 Im Übrigen war das damals in statu nascendi befindliche Ruhrrevier mit seinen zunächst noch wenig bedeutenden Städten aber kein Gunstraum für den Innungsgedanken. Lediglich für das kleine Volmarstein lässt sich seit 1851 eine Schlosser-Innung mit 21 Mitgliedern nachweisen.
181 182 183 184 185 186
hende Prüfungskommission der Innung imstande sein musste, die bei dieser Innung vorkommenden Meister- und Gesellenprüfungen abzuhalten: „Wenn aber mehrere Handwerke so wenig miteinander gemein haben, dass die für die gemeinsame Innung nach § 37 a. a. O. zu bildende Prüfungs-Commission auch durch die Zuziehung von Fachgenossen der zu Prüfenden nicht befähigt würde, dessen Leistungen zu beurtheilen, sind die betreffenden Handwerke als Verwandte im Sinne des § 111 der Gewerbeordnung nicht anzuerkennen“, schrieb der Gewerbeminister v. der Heydt am 28.8.1850 an die Regierung in Arnsberg, s. STAM, Reg. Münster, Nr. 5779. Schreiben des Handelsministers v. d. Heydt an die Reg. Arnsberg v. 28.8.1850, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5779. Zur Organisationsgeschichte des Handwerks im Rgbz. Arnsberg insbesondere im 20. Jahrhundert s. Lohage (2000). Frhr. von Lilien (1875). Es handelte sich um die sog. Reich’sche Sterbelade; s. Schreiben des Vorstandes der Reich‘schen Sterbelade an den Landrat des Krs. Bochum v. 14.7.1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 65–68. Vgl. Verzeichnis der im Kreise Bochum bestehenden Verbindungen zu gegenseitiger Unterstützung v. 6.9.1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 70; s. auch Kap. „Die soziale Sicherung…“, S. 324 ff. Immerhin betrug das Darlehen 230 Rtl.; s. Schreiben des Landrats des Krs. Bochum, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 113. Schreiben des Handels- und Gewerbeministeriums v. 19.4.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 2, S. 327.
B. Die Innungen
81
dd. Lippstadt Auf ein gewisses, die Zunftaufhebung überdauerndes Affektionsinteresse der Lippstädter Handwerker an einem genossenschaftlichen Zusammenhalt ist bereits hingewiesen worden. Daher überrascht es nicht, dass gerade in dieser Mittelstadt der seit je lebendig gebliebene Wunsch nach Errichtung von Innungen nach baldiger Realisierung strebte. Merkwürdigerweise waren es aber nicht die Angehörigen der jahrhundertelang zünftig organisierten Berufe, die als erste das Angebot des Gesetzgebers zur Wiederbelebung des korporativen Ordnungsmodells in einem festen Rechtsrahmen wahrnahmen. Vielmehr stellten 1850 zunächst die neun Bürstenmachermeister der Stadt den Antrag auf Errichtung einer Innung. Die Regierung in Arnsberg befürwortete dieses Vorhaben, verkannte aber nicht, dass die geringe Zahl der potentiellen Mitglieder der Genossenschaft den Anforderungen der Verordnung nicht entsprach. Während der Antrag der Bürstenbinder aus diesem Grunde abgelehnt wurde, genehmigte das Ministerium 1851 die Gründung einer Tischlerinnung;187 1852 folgte dann eine weitere Korporation, die sich den eindrucksvollen Namen „Feuerarbeiter-Innung“188 beilegte. Deren Mitglieder mussten aber bald erfahren, dass man in Berlin der handwerksfreundlichen Maske damals schon nicht mehr bedurfte: Die Revolution war inzwischen zum historischen Ereignis geworden, die Umsturzgefahr gebannt; so konnte das Ministerium auf die Bemäntelung seiner Absichten getrost verzichten und sich sans gêne zu denselben bekennen: Wenn schon die Neuauflage einer genossenschaftlichen Organisation im Handwerk – dann aber nur unter strikter Kontrolle der Obrigkeit, ließ man die Meister wissen. Die Genehmigung verband das Ministerium deshalb mit ausführlichen Hinweisen auf die Kontrollfunktionen des Vertreters der Kommunalbehörde in den Innungsversammlungen, und die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse durch die Beisitzer schärften die Berliner Beamten den Meistern ebenfalls ausdrücklich ein.189 Dieses Gebaren war kränkend, und so empfanden es die Betroffenen auch. Hatte man in Lippstadt angesichts der dort günstigen Voraussetzungen zunächst geglaubt, dass das Innungsmodell größere Bedeutung gewinnen könne,190 so zer187 Zu dieser Innung zählten 1851 18 Tischlermeister sowie 3 Stellmacher-, 6 Böttcher- und 2 Drechslermeister; s. Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handels- und Gewerbeministerium v. 14.4.1851, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 22 Bd. 7. 1856 hatte diese Innung 18 Mitglieder; s. Schreiben des Handelsministers v. 19.4.1856, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 2, fol. 327. 188 Hierzu zählten die verschiedenen Schmiedeberufe sowie die Schlosser und Klempner, insgesamt 14 Meister, sowie die Goldschmiede und Uhrmacher; s. Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 19.4.1852, in: GStA/PK, Rep. 120 B. VI 22, Bd. 7; 1856 hatte diese Innung 14 Mitglieder, s. STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 2, S. 327. 189 Genehmigung der Errichtung der Innung der „Feuerarbeiter“ in Lippstadt v. 15.6.1852, in: GStA/PK, Rep. 120, B VI 22, Bd. 7. 190 Im Verwaltungsbericht der Stadt Lippstadt v. 1850/51 hieß es: „Einige Handwerker-Innungen sind schon constituirt, andere in der Errichtung begriffen“; s. Stadtarchiv Lippstadt, Verwaltungsbericht der Stadt Lippstadt 1850/51, S. 5. Zur Organisation des Lippstädter Handwerks vor Einführung der Gewerbefreiheit vgl. jetzt Strieter (2011).
82
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
schellte diese Illusion bald an den durch das Ministerium geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen.191 Immerhin hatte die Lippestadt ein Beispiel gegeben, welches in den umliegenden Landstädten positiv aufgenommen wurde: So entstanden im benachbarten Geseke je eine Innung für die Schuhmacher, die Kleidermacher und die Weber, und in Rüthen schlossen sich die Weber zusammen. In den siebziger Jahren bestanden die sechs Innungen im Kreis Lippstadt noch.192 ee. Brilon Einen ganz anderen Verlauf nahmen die Dinge im sauerländischen Brilon. Hier war 1851 ein Handwerkerverein entstanden,193 der sich um die Errichtung eines örtlichen Gewerberates bemühte.194 Die Regierung wünschte wegen der geringen Zahl der Gewerbetreibenden in der Stadt die Einbeziehung der in den umliegenden Gemeinden ansässigen Handwerker und Kaufleute in das neue Gremium.195 Als sich aber zeigte, dass die Landmeister in der Mitwirkung an dieser Einrichtung keinen Sinn sahen,196 kam der Gewerberat nicht zustande.197 Aus demselben Grunde, der zu geringen Zahl an Handwerkern der einzelnen Berufssparten, scheiterte dann auch die Gründung von Innungen in Brilon.198 So ließ man es bei dem Zusammenschluss der Meister aller Handwerksberufe in dem auf privatrechtlicher Grundlage organisierten Handwerkerverein, der naturgemäß keinen Beitrittszwang kannte, bewenden. 191 1856 konnte schon kein Vorstand der Schmiedeinnung mehr gewählt werden; zur Begründung wurde allerdings darauf hingewiesen, dass einige Meister Lippstadt verlassen hätten und andere verstorben seien, so dass die erforderliche Zahl von 12 Meistern nicht mehr erreicht werde; so Schreiben der Reg. Arnsberg v. 30.7.1856, in: GStA/PK, Rep. 120, B VI 22, Bd. 7. 192 So Frhr. v. Schorlemer (1863), S. 64. 193 Schreiben des Ministers v. d. Heydt v. 1.9.1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 194 Antrag des Handwerkervereins der Stadt Brilon auf Errichtung eines Gewerberats v. 27.4.1850, in: Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 195 Schreiben der Reg. Arnsberg v. 31.8.1850, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 196 „In den Dörfern herrscht für die Errichtung eines Gewerberates vollkommene Gleichgültigkeit, und ist ein Beitritt auch mit dem geringsten Kostenaufwande nicht zu erwarten“, teilte die Stadt Marsberg am 31.5.1851 dem Landrat mit, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 197 „Für die Ackerstadt Brilon lässt sich, da jeder Fabrikbetrieb fehlt, da nicht einmal auf je 3 Handwerksmeister ein Geselle kommt, da auch der dortige Handelsstand von keiner hervorragenden Bedeutung ist, und in seinen großhändlerischen Beziehungen schon durch die hiesige Handelskammer vertreten wird, das Vorwalten eines erheblichen gewerblichen Verkehrs nicht geltend machen“; so Schreiben der Reg. Arnsberg v. 12.2.1852, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 198 S. Schreiben des Landrats des Krs. Olpe v. 6.9.1852, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444; in diesem Sinne bemerkte der Briloner Magistrat: „Im allgemeinen ist bis jetzt noch nicht das Bedürfnis zu erkennen gewesen, hier Innungen einzurichten, und im Falle solche eingerichtet werden sollten, so fehlt es zu sehr an der Mitwirkung der betreffenden Verwaltungsbehörde. Bei dem Mangel der Innungen und dem ohne solche fehlenden Zwänge ist es hier unmöglich, nützliche Hilfs- und Unterstützungsvereine zu bilden, da es dem strebsamen und gut gesinnten Theile zu schwer fällt, solche zu erhalten, als sie fundamentiert werden müssen, wenn sie sich eines dauernden und zweckdienlichen Bestehens erfreuen sollen“.
B. Die Innungen
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Andererseits wurde die vom Gesetzgeber propagierte Korporationsidee in den westfälischen Kleinstädten aber nicht einfach ignoriert. Auch die Handwerker Brilons wollten ihren Organisationen trotz aller Widrigkeiten doch einen Rechtsrahmen schaffen, von dem sie sich Stetigkeit bei der Verfolgung ihrer Ziele erhofften. Deshalb formulierten sie für den örtlichen Meisterverein, für die 1849 gegründete Sterbekasse und den Gesellenverein Statuten; deren Regelungen fügten sich in das Ortsstatut, welches die Stadt Brilon verabschieden wollte.199 Die Entwürfe stießen aber sowohl bei der Regierung in Arnsberg als auch im Ministerium auf Kritik. Denn sie enthielten einige Bestimmungen, die zwar im Interesse der Handwerker lagen, rechtlich aber nicht haltbar waren. So rügte die Regierung u. a., dass die in Brilon bestehenden „Magazine“ als Ladengeschäfte für Handwerkswaren durch die Satzung für unstatthaft erklärt und die Meister zum Beitritt zu der Sterbekasse verpflichtet werden sollten, obwohl am Ort keine Innung mit Zwangscharakter bestehe.200 Außerdem sollten die Lehrlinge in der Wahl ihrer Lehrherren beschränkt werden. Gegen den Verkauf von Handwerkswaren in den von Kaufleuten betriebenen Magazinen setzten sich auch der Briloner Magistrat und der Landrat ein201 – wobei sich die Lokalbehörde ganz unverhohlen zum Sprachrohr der Partikulinteressen der Meister machte.202 Die Arnsberger Regierung hielt dagegen und verlangte die freie Konkurrenz auch bei dem Vertrieb von Handwerkserzeugnissen. In diesem Sinne entschied der 199 Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon v. 11.8.1852 an den Landrat, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444; dazu Stellungnahme des Landrats v. 6.9.1852 sowie der Reg. Arnsberg v. 14.10.1852, a. a. O. 200 Der Handwerkerverein in Brilon unterhielt seit seiner Gründung eine Sterbekasse mit Beitrittszwang für die Vereinsmitglieder. Die Regierung in Arnsberg wies eigens darauf hin, dass nach der Circular-Verfügung v. 14.5.1849 zwar Unterstützungskassen für Gesellen geschaffen werden könnten, solche Einrichtungen für Meister aber die Existenz von Innungen mit Beitrittszwang voraussetzten; s. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 19.9.1851, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 201 So Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon v. 4.5.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 202 „Der Handwerkerstand ist in der kleinen Stadt Brilon – insbesondere aber das Schuhmacher-, Schneider-, Tischler-, Drechsler-, Klempner-, Seiler-, Hutmacher- und Kupferschläger-Handwerk – durch bewährte tüchtige Meister vertreten, und haben diese genannten Handwerker durch die Magazine den härtesten Druck erfahren und werden dieselben dadurch nach und nach ruiniert werden. Der Handwerker-Verein bemerkt in seiner Denkschrift ganz richtig, dass die hier feil gehaltenen Fabrikenprodukte weit billiger als die gut gearbeiteten haltbaren Handwerkserzeugnisse verkauft werden können; auch das Publikum, geblendet durch die augenblicklich billigeren Preise, wird sehr bald einsehen, wie sehr ein solcher Einkauf von Nachteil sei, da die Arbeiten bei weitem nicht so haltbar sind als die der Handwerker. Eine Beschränkung der Magazine ist umso mehr gerade für hiesigen Ort nötig, als eine große Anzahl Handwerker und deren Familien unter dem Druck von 2 bis 3 Magazininhabern seufzen, ja denselben unterliegen und alsbald verdienst- und brodlos und in Armuth geraten werden“. So Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon v. 4.5.1853, wie Anm. 201. Diese Auffassung teilte der Briloner Landrat: „… dass sich die hiesigen Handwerker mit Ausnahme weniger in gedrückter Lage befinden, ist begründet; ebenso wenig wird es sich bestreiten lassen, dass solcher Missstand größtentheils in jener Konkurrenz (der Magazine, G. D.) begründet ist“; so Schreiben des Landrats des Krs. Brilon v. 28.5.1853. in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Minister: Als das Ortsstatut für die Stadt Brilon 1853 schließlich genehmigt wurde, fehlte die Beschränkung des Magazinwesens.203 Die Diskussion um diese Fragen enthüllt einmal mehr das eigentliche Dilemma, in welches die Meister durch die Gesetzgebung zum Innungswesen geraten waren: Einerseits durchschauten sie sehr wohl, dass der Gesetzgeber mit den Bestimmungen zu den Innungen und Gewerberäten lediglich das Ziel verfolgte, den angestauten Unmut, der sich in den revolutionären Eruptionen entladen hatte, dauerhaft zu dämpfen, ohne dem selbständigen Handwerk rechtlich fixierte ökonomische Privilegien substantieller Art einräumen zu wollen. Andererseits sahen die Meister in dem neuen Organisationswesen aber doch einen Strohhalm, an den man sich in bedrängter Situation klammern konnte – zumal der Assoziationsgedanke damals allenthalben als das für das bedrohte Kleingewerbe vortrefflichste Remedium gepriesen wurde. War – wie in Brilon – die Bevölkerungszahl am Orte zu gering, um berufsspezifische Innungen aufbauen zu können, begnügte man sich eben mit privatrechtlichen Lösungen und versuchte dennoch, die berufsordnenden Ziele der Handwerkerbewegung durchzusetzen. Dass diese Intention zwangsläufig an einem Ministerium scheiterte, welches keineswegs gesonnen war, seine liberalen Grundüberzeugungen langfristig aufzugeben, mussten damals nicht allein die Briloner Meister lernen. ff. Kreis Wittgenstein Die rechtliche Ausnahmesituation – Fortbestehen der Zünfte in den beiden Städten der ehemaligen Teil-Fürstentümer Wittgenstein, Berleburg und Laasphe, aufgrund der spezifischen Territorialgeschichte dieser Länder – sichert ihnen einmal mehr Aufmerksamkeit als Unikum in der ansonsten zunftlosen Provinz Westfalen. Bei Inkrafttreten der Gewerbeordnung am 17.1.1845 bestanden in der Stadt Berleburg folgende Korporationen:204 Tabelle 1: Zunfthandwerker in Berleburg und Umgebung 1845 Zunft
Zahl der Mitglieder
davon in der Stadt Berleburg
Schneider
48
21
Gerber (incl. Sattler)
6
5
Schuhmacher
63
36
Schreiner (incl. Schlosser und Glaser)
38
26
Bäcker
41 32
14
Schmiede (incl. Wagener)
25
203 Genehmigung des Ortsstatuts der Stadt Brilon durch den Ministers v. 11.10.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 204 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 6.11.1851, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 22, Bd.1.
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B. Die Innungen
In der Nachbarstadt Laasphe und Umgebung war das Zunftwesen damals noch reicher entfaltet:205 Tabelle 2: Zunfthandwerker in Laasphe und Umgebung 1845206 Zunft
Schmiede (incl. Wagenmacher) Schneider Weber Schuhmacher
Zahl der Mitglieder
davon in der Stadt Laasphe
49
13
33
27
47 59
Schreiner (incl. Schiefer- und Ziegeldecker, Schlosser, Glaser, Horndrechsler, Holzdrechsler)
45
Sattler (incl. Rotgerber, Metzger)
26 32 29
18 26
18
Bäcker Zimmerer
8
3
17
Nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 veranlasste die Regierung in Arnsberg, dass die Zünfte im Kreis Wittgenstein auf eine andere, dem geltenden Recht entsprechende Basis gestellt wurden. Mit „großem Interesse“ berieten die Meister über den Inhalt des zu schaffenden Statutarrechts.207 Bald reichten sie Entwürfe reformierter Innungsstatuten zur Bestätigung ein und verknüpften mit diesem Neubeginn die Hoffnung auf eine Ausweitung und zeitgemäße Orientierung der Tätigkeit der Gewerksgenossenschaften.208 So wollten sie eine Handwerker-Sonntagsschule einrichten, deren Kosten die Stadt Laasphe tragen sollte. Außerdem planten sie, unmittelbar nach der Bestätigung der Statuten eine gemeinschaftliche Hilfskasse für alle Innungen der Stadt zu errichten. Das Ministerium lehnte die Gründung einer gemeinsamen Unterstützungskasse allerdings auch in diesem Fall als unzweckmäßig ab. Trotzdem suchten die Innungen in Berleburg und Laasphe im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Ziele solcher Einrichtungen aber weiterhin zu fördern. Sie verwandten die Überschüsse aus den Prüfungsgebühren, die in die Innungskassen flossen, zur Unterstützung von Witwen und Waisen der Innungsgenossen, und auch 205 Quelle: „Verzeichnis der Innungen, welche im Krs. Wittgenstein bei Verkündigung der Allgemeinen Gewerbeordnung v. 17.1.1845 bestanden haben“, v. 15.12.1851, in: GStA/PK, Rep. 120, B VI 22, Bd. 6. 206 Die Zahl der in Laasphe tätigen Innungsmitglieder hatte sich bis 1856 folgendermaßen verändert (wobei offenbar nur die in der Stadt arbeitenden Meister erfasst wurden): Bäcker: 11; Weber: 18; Schuhmacher: 39; Schneider: 42; Schmiede und Schlosser: 18; Tischler und andere Holzarbeiter: 29; s. „Verzeichnis der Innungen, welche im Regierungsbezirk Arnsberg bestehen, v. 15.4.1856“, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774 Bd. 2, fol. 327. 207 So Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Laasphe an den Landrat des Kreises Berleburg v. 30.8.1860, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 265 RS, 266. 208 Schreiben der Reg. Arnsberg an das Gewerbeministerium v. 12.10.1850, in: GStA/PK, Rep. 120, B VI 22, Bd. 6; die Zünfte orientierten sich dabei am Normalstatut für die Innungen v. 8.1.1850, so z. B. das „Statut der Schuhmacher-Innung in N.“, Berlin o. J. (1850).
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
die für die Lehrlinge eingerichtete Fortbildungsschule unterstützten die Meister, indem sie alljährlich Mittel für Prämien, mit denen die „fleißigen und ordentlichen“ Schüler bedacht wurden, bereitstellten.209 c. Regierungsbezirk Minden aa. Paderborn Demgegenüber bot das Innungswesen in der – am westfälischen Maßstab gemessen – durchaus bedeutsamen Mittelstadt Paderborn kein eindrucksvolles Bild, obgleich das Angebot des Gesetzgebers dort zunächst auf fruchtbaren Boden zu fallen schien. In der Domstadt waren es vor allem die großen Massenhandwerke der Schuster und Schneider, die, durch ihre notorische wirtschaftliche Misere genötigt, Hoffnungen in das neue Institut setzten. Schon im Mai 1849 beschlossen die etwa 50 Schuhmachermeister der Stadt, eine Innung zu gründen.210 Auch ihnen missfiel aber die Bevormundung durch den Staat, so dass sie in dem Satzungsentwurf die entsprechenden Regelungen des Normalstatuts nicht berücksichtigten. Das Ergebnis war, dass die notwendige Bestätigung des eingereichten Textes ausblieb. Offenkundig lehnten es die Meister aber ab, zu Kreuze zu kriechen und sich den behördlichen Wünschen anzupassen. Erst 1855 wurde die Schuhmacher-Innung in Paderborn mit etwa 30 Mitgliedern bestätigt,211 1858 schließlich genehmigte die Regierung das Statut212 – ein immerhin ungewöhnlicher Vorgang, da zu dieser Zeit kaum mehr ein Handwerker Interesse für die Innungen aufbrachte. Einen anderen Weg als die Schuhmacher gingen die offenkundig weniger aufsässigen Schneider der Stadt. Die nach eigenen Angaben etwa 50 Meister dieses Gewerks orientierten sich, als sie das Statut für ihre Innung entwarfen, an dem Text des Normalstatuts, den sie mit wenigen Abweichungen zur Genehmigung vorlegten.213 Erwartungsgemäß versagte die Obrigkeit ihren Segen nicht, und die Genossenschaft kam zustande. Als sich der Zusammenschluss der „Kleidermacher“, wie sie sich nannten, 1853 konstituierte, zählte er 35 Mitglieder. Die Kürschner und Kappenmacher der Stadt hatten es abgelehnt, dieser Innung beizutreten – womit sich deren im Vergleich zu den anfänglichen Erwartungen geringere Mitgliederzahl erklären lässt. Bis zu der – stark verzögerten – Errichtung der Schuhmacher – blieb die Schneiderinnung die einzige Handwerkskorporation in Paderborn,214 welche, 209 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Laasphe v. 30.8.1860, wie Anm. 207, fol. 267 RS. 210 Schreiben des Landrats des Krs. Paderborn an die Reg. Minden v. 31.5.1849, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787. 211 STAD, Reg. Minden I U Nr. 845, fol. 25. 212 Schreiben der Reg. Minden v. 20.4.1858, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787. 213 Schreiben des Landrats des Krs. Paderborn v. 4.5.1852, in: STAD I U Nr. 1144. Schon 1845 und 1848 hatten die Schneider Paderborns Statuten verfasst, die aber nicht genehmigt wurden; s. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn… (1989), S. 371; vgl. auch Festschrift (1953), S. 9. 214 Stadtarchiv Paderborn (A 1505) 385 a. Später trat offenbar noch ein Zusammenschluss der Bäcker, Müller, Metzger und Brauer hinzu, der eine Krankenkasse für die Gesellen dieser Ge-
B. Die Innungen
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was durchaus nicht selbstverständlich war, auch Aktivitäten entwickelte. So nahmen sich die „Vereinigten Schneider“ noch im Jahr ihres Zusammenschlusses eines Problems an, das damals schon länger schwärte: Bei der Verwaltung der Gesellenkrankenkasse, welche bis dahin als „Privatsache“ der Gesellen betrachtet worden war, waren Unregelmäßigkeiten aufgetreten. Um diese zukünftig auszuschließen, entwarf der Vorstand der Innung unter „Zuziehung“ der Vertreter des SchneiderGesellenvereins ein Statut für die Kasse.215 Die Betroffenen verweigerten dem Text aber die Zustimmung, da sie sich „nicht polizeilich bevormunden lassen“ wollten. Um den Bestand der Kasse dennoch zu sichern, verpflichtete die Innung diejenigen Gesellen, welche bei Innungsangehörigen arbeiteten, zur Mitgliedschaft in der Krankenlade. Damit wollten es die Meister aber nicht bewenden lassen: Sie mieteten ein Lokal, welches mit einer Herberge, in der zureisende Gesellen übernachten konnten, verbunden war und in dem die Lade der Gesellenkasse aufbewahrt wurde.216 Da die Gesellen dieses Lokal – offenbar wegen des Odiums einer Einrichtung der Arbeitgeber – aber nicht frequentierten, hatte die Innung die auflaufenden Kosten selbst zu tragen. Um dieser Last ledig zu werden, bat der Vorstand der Korporation den Paderborner Bürgermeister schließlich, „die Gesellen anzuweisen, dass sie sich mit der Innung verbinden“. So geschah es: Die Stadt Paderborn erließ noch 1854 ein Ortsstatut für die Handwerksgesellen- Kranken- und Unterstützungskasse.217 Damit war das Problem aber nicht aus der Welt geschafft: 1856 löste sich der Gesellenverein auf und die Krankenkasse der „Kleidermacher-Gesellen“ stand „ihrer Auflösung nah“.218 Um die Meister vor der jedenfalls moralisch bestehenden Pflicht zu bewahren, die Pflegekosten für ihre erkrankten Gesellen selbst tragen zu müssen, bat der Obermeister den Landrat um „Bestätigung“ der Gesellenlade; so sollten die Hilfskräfte dazu gezwungen werden, den notwendigen Beitrag zu der Kasse zu leisten. Wie das Paderborner Exempel zeigt, nahmen sich manche Innungen in durchaus nachdrücklicher Weise der Interessen ihrer Mitglieder an – wenngleich, wie hier, die gebündelte Macht der Meister die Gesellen offenbar eher zur Obstruktion denn zur Kooperation mit ihren Arbeitgebern veranlasste. 1863 existierten die beiden Paderborner Innungen noch.219
215 216 217 218 219
werke unterhielt, s. Schreiben des Bäckermeisters Brinckmann an den Oberbürgermeister Wördehoff v. 25.10.1869, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1521) 389b. Schreiben des Vorstandes der Kleidermacher-Innung v. 29.5.1854, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1517) 388 c. S. Schreiben der Meister, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1515) 388 a; so auch Schreiben der Kleidermacher-Innung an den Bürgermeister von und zur Mühlen v. 1.10.1856, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1517) 388 c. Genehmigung des Ortsstatuts durch den Gemeinderat der Stadt Paderborn am 9.12.1854 und Unterzeichnung desselben am 16.4.1855 durch den Bürgermeister, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1515) 388 a. Schreiben des Obermeisters der Kleidermacher-Innung an den Landrat v. 8.2.1856, in: Stadtarchiv Paderborn (A 1517) 388 c. So Grasso, Statistische Darstellung … (1863), S. 20. 1879 wurden in Paderborn sieben Innungen neu gegründet; s. Reininghaus, Das Handwerk in Paderborn… (1989), S. 372.
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bb. Herford Die auf einen organisatorischen Neuanfang zielende Aufbruchstimmung, welche das Handwerk Minden-Ravensbergs zu Beginn der fünfziger Jahre so offenkundig von demjenigen anderer westfälischer Regionen unterschied, wurde auch in Herford bemerkbar. 1851 reichten die Schuhmacher der Stadt den Entwurf einer Satzung für eine Schuh- und Pantoffelmacher-Innung zur Genehmigung ein. Das Vorhaben stieß bei der Regierung in Minden aber auf wenig Gegenliebe, da es, ganz pragmatisch und unverhohlen, auf den naheliegendsten der erhofften Vorteile der Innung, die Möglichkeit der Monopolbildung, gerichtet war. Der Text des Statutenentwurfs veranlasste die Mindener Behörde deshalb zu einer Philippika gegen diese Intention der Herforder Schuhmacher220. Dass der Gesetzgeber die Einschränkung des Marktzutritts eben deshalb dekretiert hatte, um den Meistern in der revolutionären Situation zu suggerieren, die Verringerung der Konkurrenz untereinander sei seitens des Staates erwünscht, ignorierten die offenbar unverändert den liberalen Ideen der Reformzeit anhängenden Mindener Beamten völlig. Erstaunlich wäre es schon, wenn ihnen die wahren Motive der Berliner Regierung gänzlich verborgen geblieben sein sollten. Wahrscheinlicher ist es deshalb, dass die preußische Administration damals schon keine Notwendigkeit für Zugeständnisse an die Handwerker mehr sah. Die moralische Entrüstung der Beamten über das von dem erhofften Vorteil angetriebene Streben der Meister nach der Bündelung ihrer Kräfte jedenfalls war echt.221 1852 gab die Regierung in Minden die Anträge auf Genehmigung einer Schuhund Pantoffelmacherinnung sowie einer Schlosser-, Huf-, Nagel-, Messer- und Kupferschmiede-, Klempner- und Zinngießerinnung an das Ministerium weiter.222 Das Statut für eine Tischler-, Drechsler-, Böttcher- und Stellmacher-Innung folgte. Der schließlich genehmigte Text des Statuts der Metallhandwerkerinnung ließ – jedenfalls aus der Sicht des Ministeriums – nichts zu wünschen übrig.223 Die Aufsicht 220 „Die Gewerbetreibenden zu Herford, welche sich zu Innungen zu vereinigen die Absicht haben, betrachten diese Vereinigung nicht als ein Mittel zur Beförderung ihrer Gewerbs-Interessen, zur Hebung der sittlichen Stellung der Genossen und gegenseitiger Unterstützung, sondern als eine Gelegenheit, den Geist der Selbstsucht und monopolistischen Tendenzen zu nähren und zu befestigen, und auf Kosten ihrer Mitbürger und insbesondere des konsumierenden Publikums Vortheile zu erreichen, zu denen ihnen nicht die eigene Täthigkeit und ein gesinnungstüchtiges Bestreben verhilft, welches ihnen fehlt“. So Schreiben der Reg. Minden an das Ministerium für Handel und Gewerbe v. 19.2.1851, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 21 Nr. 4. 221 „Wie wenig sie (die Herforder Meister, G. D.) der besonderen Aufgabe der Innungen bewusst sind, die Handwerksehre nach allen Seiten hin rein zu erhalten und wo sie schwankend geworden, durch Aussonderung der unreinen Elemente und Persönlichkeiten zu kräftigen und zu wahren, zeigt das bedauernswerte Bestreben unter dem Vorwande der Humanität (§ 4), Verbrecher zur Theilnahme an der Innung zuzulassen, denen die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen sind, und die Verkennung jeder Achtung vor dem fremden Eigenthum, welche Holz- und Fruchtdiebstähle nicht zu den Vergehungen rechnet, die von ehrloser Gesinnung oder verderbten Charakter zeugen …“; s. Schreiben der Reg. Minden v. 19.2.1851, wie Anm. 220. 222 Schreiben der Reg. Minden v. 9.6.1852 an das Ministerium, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 21 Nr. 4. 223 Statut der vereinigten Schlosser-, Huf-, Nagel-, Messer-, Kupferschmiede-, Klempner- und
B. Die Innungen
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über die Innungsversammlung war in der von dem Musterstatut vorgesehenen strikten Form geregelt (§ 19). Die Kommunalbehörde wurde in einer jedes Autonomiestreben vermissen lassenden Weise als die „der Innung zunächst vorgesetzte Behörde“ bezeichnet, welche „sowohl die Innung wie deren Vorstand hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit des Verfahrens bei der Erledigung der Innungsangelegenheiten zu überwachen“ habe (§ 52). Dazu enthielt das Statut genaue Anweisungen. Bemerkenswerter noch ist, dass in Herford manche der typischen Ingredienzien der Zunftordnung wiederbelebt wurden. So machte die Satzung der Innung die Teilnahme am Leichenbegängnis eines Zunftmitgliedes wieder zur strafbewehrten Pflicht für die Innungsgenossen224 (§ 10). Im Übrigen orientierte sich die Herforder Ordnung strikt an dem Normalstatut. Es bedarf keiner besonderen Phantasie um sich vorzustellen, dass das Versprechen jenes Minimums an Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, welches die Bestimmungen des Statuts zur sozialen Sicherung abgaben, schon hinreichte, um diesem Zusammenschluss eine gewisse Attraktivität zu verleihen. Andererseits müssen die weitreichenden Aufsichts- und Kontrollrechte der Obrigkeit auch bei den Herforder Handwerkern Zweifel an der effizienten Interessenvertretung durch eine solche Einrichtung genährt haben. Als die Innung 1852 errichtet wurde, hatten es die Behörden, wie gezeigt, schon wieder aufgegeben, die Meister glauben zu machen, dass sie den Monopolanspruch der Korporationen zu unterstützen gedächten. Wenngleich das Beispiel der Herforder Schlosser und Schmiede zunächst noch Schule machte und auch in den benachbarten Orten Salzwerk und Rehme Innungen der „Feuerarbeiter“ entstanden,225 erhielten die Herforder doch bald Klarheit über die Endlichkeit ihrer organisatorischen Bemühungen: Als die Korporation 1854 einen Nagelschmied daran zu hindern suchte, die Meisterprüfung abzulegen, weil dieser angekündigt hatte, nicht in die Innung eintreten zu wollen, unterband die Regierung in Minden die Obstruktion der Meister umgehend. Ebenso genehmigte sie das mit den hohen Examenskosten begründete Gesuch eines dortigen Gesellen auf Befreiung von der Meisterprüfung, da der Aspirant die erforderlichen Fähigkeiten besäße.226 Den gewerbefreiheitlichen Impetus, dem die Behörde mit solchen Entscheidungen nachgab, konnten die Meister kaum übersehen. Zwar setzten sie noch eine Weile den Versuch fort, sich mit Hilfe der 1849 seitens des Gesetzgebers geschaffenen Möglichkeiten die unerwünschte Konkurrenz vom Halse zu schaffen, indem sie ungeprüfte, selbständig arbeitende Berufskollegen, die Lehrlinge ausbildeten, anzeigten.227 Ihre inquisitorische Attitüde erschöpfte sich aber in dem Maße, Zinngießer-Innung zu Herford v. 15.11.1852, in: Stadtarchiv Herford VII, 146, fol. 1 ff. 224 § 10 des Statuts bestimmte: „Stirbt ein Innungsgenosse oder die Ehefrau eines Innungsgenossen, so haben die jüngeren Genossen nach der jedesmaligen Anordnung des Obermeisters die Leiche zu Grabe zu tragen. Wer sich der Erfüllung dieser Verpflichtung ohne zwingende Entschuldigungsgründe entzieht, verwirkt eine Ordnungsstrafe von 5 Rtl.. Für die übrigen Genossen der Innung ist es Pflicht, die Leiche zu begleiten. Wer dieselbe ohne hinreichende Entschuldigungsgründe nicht erfüllt, hat ebenfalls eine Ordnungsstrafe von 5 Rtl. verwirkt“; s. Statut der Herforder Schmiede- etc. Gilde, wie Anm. 223. 225 STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 979. 226 STAD, Reg. Minden I U Nr. 780, fol. 84, 97. 227 1855 zeigte die Herforder Schlosser- und Schmiedeinnung einen Berufskollegen an, weil die-
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
in welchem sich das liberale Gedankengut verbreitete. Nach 1857 hat man von Aktivitäten der Herforder Innungen kaum mehr gehört. Formal bestanden 1861 in der Stadt aber noch 2 Korporationen mit 33 Mitgliedern. Erfolgreicher hatte sich der Innungsgedanke im übrigen Kreis Herford durchgesetzt: 1861 fanden sich in Vlotho vier Innungen mit 51 Mitgliedern, in Bünde fünf Korporationen mit 118 und in Enger drei mit 85 Angehörigen.228 cc. Minden In Minden ergriffen die Meister unverzüglich die Initiative und suchten neue organisatorische Strukturen zu schaffen. Bereits im April 1849, nur zwei Monate nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 also, stellten „zahlreiche Handwerker“ beim Magistrat der Stadt den Antrag auf Errichtung eines Gewerbegerichts.229 Hierauf geschah zunächst aber nichts. Im Oktober 1849 regte dann auch die Bezirksregierung die Errichtung eines solchen Gerichts in der Stadt an.230 Der Magistrat, welcher das Anliegen der Handwerker zunächst ignoriert hatte, unterstützte das Vorhaben nun. Es musste aber das vorgeschriebene Verfahren eingehalten werden. § 1 der genannten Verordnung bestimmte, dass die Gewerbegerichte auf Antrag von Gewerbetreibenden nach Anhörung der gewerblichen und kaufmännischen Korporationen und der Gemeindevertreter gebildet werden sollten. Im Februar 1850 trugen deshalb die Kleidermacher Mindens nochmals förmlich auf die Einrichtung eines Gewerbegerichts an.231 Da sie ausdrücklich als „Kleidermacheramt“ auftraten, ist davon auszugehen, dass sie sich damals bereits als Innung konstituiert hatten. Dasselbe galt für die Schmiede, Schlosser, Nagelschmiede und Stellmacher, deren gemeinsame Innung angeblich ebenfalls schon bestand;232 gegen Ende des Jahres 1851 wurde diese allerdings nicht mehr erwähnt.233
228 229 230 231
232 233
ser gemäß § 31 der Gewerbeordnung von 1845 zur Ausbildung von Lehrlingen nicht berechtigt war, gleichwohl aber 4 Lehrlinge hielt; so Schreiben der Innung an den Polizeianwalt und den Bürgermeister der Stadt Herford v. 11.11.1855, in: Stadtarchiv Herford VII, 146. 1857 stellte die Innung beim Magistrat der Stadt den Antrag auf Bestrafung eines selbständig arbeitenden Schlossers, der sich beharrlich weigerte, die Meisterprüfung abzulegen; s. Schreiben v. 4.1.1857, in: Stadtarchiv Herford VII, 146. S. v. Borries, Mittheilungen …, T. 1, (1861), S. 36. So Schreiben zahlreicher Handwerker der Stadt Minden an den Magistrat v. 13.2.1850, in: Stadtarchiv Minden, F 182. Schreiben der Reg. Minden an den Magistrat der Stadt v. 8.10.1849, in: Stadtarchiv Minden, F 182. Antrag der Mitglieder des Kleidermacheramtes in Minden v. 12.2.1850, in: Stadtarchiv Minden, F 182. Am 11.2.1850 hatten bereits acht weitere Gewerbetreibende hierauf angetragen; s. Stadtarchiv Minden, a. a. O.. Im Rheinland verlief die Entwicklung umgekehrt: Dort bemühten sich die schon länger bestehenden Gewerbegerichte seit 1850 um die Errichtung und Förderung von Innungen; s. Schmitz (1894), S. 54. Der Umstand, dass eine solche Unterstützung in Westfalen fehlte, dürfte zu dem mangelnden Erfolg der Innungsgesetzgebung zwischen Rhein und Weser beigetragen haben. Antrag der Schmiede-, Schlosser-, Nagelschmiede- und Stellmacher-Innungsgenossen auf Einrichtung eines Gewerbegerichts v. 8.2.1850, in: Stadtarchiv Minden, F 182. S. Schreiben der Reg. Minden v. 27.11.1851, in: STAM, Reg. Minden I U Nr. 840.
B. Die Innungen
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Auch die Schuhmacher der Stadt fanden damals in einer Genossenschaft zusammen, mochten sich zunächst aber nicht mit der fortwährenden Gängelei durch die Behörden, welche ihnen das Normal-Statut aufzuzwingen versprach, abfinden. Daher verlangten sie, denen der örtliche Magistrat sekundierte, andere Regelungen für ihre Statuten. Die Bezirksregierung reagierte beinhart: Nicht weniger als vier Mal gab sie den Statuten-Entwurf mit den Änderungswünschen der Meister wieder zurück, bis sich diese schließlich fügten und die Regelungen des Normal-Statuts akzeptierten.234 1851 errichteten schließlich auch die Tischler in Minden eine Innung.235 Vor allem sie waren es, welche die größten Hoffnungen in die Innungen setzten – glaubten sie doch, in dem Institut das Remedium gefunden zu haben, welches sie dauerhaft und wirksam gegen die existentielle Bedrohung durch die Magazine zu schützen vermochte.236 Diese neue Vertriebsart, der Verkauf von Handwerkswaren ganz 234 Schreiben der Reg. Minden an das Handelsministerium v. 22.9.1850, in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 21, Bd. 7. 235 Das Statut der Tischlerinnung in Minden wurde am 28.9.1851 genehmigt; s. STAD, Reg. Minden I U Nr. 885. 236 In dem Gutachten, welches die Mindener Tischler zu dem geplanten Ortsstatut verfassten, kommen diese Hoffnungen, die so bald enttäuscht wurden, deutlich zum Ausdruck: „§ 1 des Entwurfes, betr. Untersagung neuer Magazine, muss erhalten bleiben. In Minden gibt es gegenwärtig 3 Magazine für Tischlerwaren, von Händlern, welche sämtlich ihre Möbel zum größten Theil aus Berlin beziehen, wodurch die Möbeltischlerei, die früher hier in hoher Blüthe stand, auf Null herabgesunken ist, denn die wenigen Meister, die für die hiesigen Magazine arbeiten, sind bettelarm geworden, es ist vor einiger Zeit der unerhörte Fall vorgekommen, dass ein solcher Meister, der mit 3 Gesellen fürs Magazin arbeitet, um Armenunterstützung nachgesucht hat; ein anderer mit 4 Gesellen arbeitender Meister hat zur Lagerstadt nur Stroh, während der Magazininhaber seine schöne … aus dem Geschäft zieht. Die von Tischler-Meistern einzeln angelegten Magazine haben eingehen müssen, weil sie mit dem Kapitalisten nicht konkurrieren konnten. Jetzt aber, nachdem die Innung ins Leben getreten ist, kommt neue Kraft, und was dem einzelnen nicht möglich war, das wird die Gesamtheit thun können; die Innung beabsichtigt, ein Magazin von Tischlerwaaren anzulegen, welches solche Waaren enthält, die preiswürdig und dabei gut, geschmackvoll und dabei dauerhaft gearbeitet sind, welches den Arbeiten der übrigen Magazine abgeht … Der Kaufmann soll in der angewiesenen Sphäre bleiben. Der Handwerker kann auch kein erstklassiger Kaufmann sein.“ So das Gutachten der Mindener Tischler zu dem Entwurf eines Ortsstatuts v. 26.1.1852, in: Stadtarchiv Minden F 188. Die neue Konkurrenzsituation, die hier geschildert wird, war für das westfälische Tischlergewerbe um die Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings noch eher untypisch. Minden zählte damals mit über 10.000 Einwohnern zu den größten Städten Westfalens, und es verfügte bereits über eine Bahnverbindung direkt nach Berlin. So erklärt sich die fühlbare Konkurrenz durch sog. Berliner Möbel und die Bereitschaft – allerdings nur weniger – Meister, für Magazine zu arbeiten; vgl. aber auch ganz ähnliche Klagen aus Brilon, s. Anm. 202. Wenn Friedrich Lenger aus seiner Kenntnis der ganz anders gearteten Düsseldorfer Verhältnisse (das sich dynamisch entwickelnde Düsseldorf zählte um 1850 mit über 40.000 Einwohnern etwa doppelt so viele Einwohner wie die größte westfälische Stadt, Münster, während das sich industrialisierende Dortmund beispielsweise damals erst über 13.500 Einwohner verfügte) umstandslos auf die wirtschaftliche Situation der Handwerker in den westfälischen Kleinstädten und Landgemeinden schließt, so ist dies unhaltbar: Ausweislich der statistischen und deskriptiven Quellen kann es im ländlichen Westfalen vor 1860 eben zu keinem „ausgeprägten Polarisierungsprozeß“ im Kleingewerbe gekommen sein, wie Lenger aber unterstellt (s. Lenger (2006). Die Tätigkeit für Verle-
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
unabhängig von der Produktionsstätte durch Kaufleute, verbreitete sich damals in den größeren Städten, die an den eben erst geschaffenen Eisenbahnlinien lagen, schnell. Hierzu zählte auch Minden, wo in erheblichem Umfang aus Berlin bezogene, preiswerte Möbel vertrieben wurden. Die Meister der Stadt, noch ganz in Tradition und Ethos ihres Standes befangen, wollten und konnten nicht begreifen, dass weniger qualitätvolle und daher preiswertere, in Fabriken produzierte Möbel auch einen Markt fanden. In ihrem naiven Glauben an die Allmacht preußischer Rechtsetzung wähnten sie, den Zumutungen der Konkurrenzwirtschaft und dem von der industriellen Fertigung ausgehenden Verdrängungswettbewerb entkommen zu können – Illusionen, die im übrigen Westfalen offenbar weniger verbreitet waren. Hierzu mag beigetragen haben, dass in den abgelegeneren, ländlichen Gebieten der Provinz der von der industriellen Fertigung ausgehende Konkurrenzdruck damals in der Regel noch deutlich geringer war. Der nördliche Teil des Regierungsbezirks Minden entwickelte sich jedenfalls schnell zu einem Zentrum des neuen Korporationswesens in Westfalen. Im September 1851 waren dort für folgende Handwerkssparten bereits Innungen bestätigt worden:237 Minden (2):238 Lübbecke (2): Petershagen (2): Rahden (2): Vlotho (3):
Schuhmacher; Schneider239 Schuhmacher; Schmiede Schuhmacher; Tischler, Stellmacher, Stuhlmacher, Böttcher Drechsler, Stellmacher, Schneider, Tischler, Böttcher, Schmiede; Schuhmacher Tischler, Böttcher, Drechsler, Stellmacher; Schuhmacher, Sattler, Riemer, Gerber; Schneider, Kürschner.
ger, die sich z. B. für Nagelschmiede und ähnliche Gewerbe im aufstrebenden Ruhrrevier nachweisen lässt, spielte im Tischlerhandwerk der Provinz ausweislich der Quellen noch keine strukturprägende Rolle – wenngleich die Zahl der von Kaufleuten betriebenen Magazine in den fünfziger und sechziger Jahren allmählich zunahm. Weiteres kann zu dieser Frage erst nach Auswertung der Gewerbesteuerrollen für Westfalen festgestellt werden. Zur Situation des Tischlergewerbes in Düsseldorf s. Lenger (1984), S. 127–145 (140 ff.). Lenger wendet sich auch gegen die „Betonung“ des Faktums des steigenden Beschäftigtenanteils im Handwerk durch Wolfram Fischer, da diese „optimistische Sicht… den Blick auf die Erfahrung der von den Strukturwandlungen Betroffenen“ verstelle. Diese Selbstwahrnehmung der Handwerker will er retten, da es ihm ausdrücklich um die „politisch-ideologische Konstituierung von Proletariat und Kleinbürgertum“ zu tun ist; s. Lenger (1986), S. 36. Andererseits räumt Lenger selbst aber ein, daß es auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus schon eine nennenswerte Zahl prosperierender Betriebe soger im Landhandwerk gab; s. Lenger (1995), S. 9. Während der Eisenbahnbau den einen die tradierten Absatzwege zerstörte, schuf er den anderen eben auch neue Absatzmöglichkeiten. Selbst für die Großstadt Köln ist festgestellt worden, daß nur ca. 20 % der Meister lohnabhängig, insbesondere für Verleger, arbeiteten; so P. Ayçoberry (1968), S. 512–528 (519–523), hier zitiert nach Kocka (1990), S. 319. 237 Schreiben der Reg. Minden an die Magistrate in Minden, Lübbecke, Petershagen, Rahden und Vlotho v. 27.11.1851, in: STAM, Reg. Minden I U Nr. 840. 238 Angaben in Klammern: Anzahl der Innungen. 239 Der Text der Statuten der Kleidermacher- sowie der Schuhmacher-Innung v. 4.2.1852 findet sich in STAD, Reg. Minden I U Nr. 840.
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B. Die Innungen
Später kam es auch in Bielefeld zur Errichtung von Innungen: 1853 schlossen sich die Tischler und die Schuhmacher der Stadt zu Korporationen zusammen, und 1854 folgte dort noch eine Weber- und Tuchmacherinnung.240 Bis zur Mitte der fünfziger Jahre nahm die Zahl der Innungen im Regierungsbezirk Minden nochmals kräftig zu, wie folgende Tabelle zeigt:241 Tabelle 3: Zahl der Innungen und ihrer Mitglieder im Rgbz. Minden Ende 1854 Ort
Gewerk
„ „
Schneider
Minden
Schuhmacher
Zahl der Mitglieder 24 31
Tischler
22
Tischler, Stellmacher u. Böttcher
24
Schneider, Schlosser, Klempner u. Nagelschmiede
23
Schneider
18
Lübbecke
Schneider, Kürschner, Kappenmacher
21
„ „
Färber
18
Schuh- und Pantoffelmacher, Sattler, Riemer u. Handschuhmacher
30
Tischler
20
Petershagen (Amt)
„ „ „ „
Rahden
„ „ „ „ „
Herford
„
Vlotho
„
Schuhmacher
Böttcher, Drechsler, Rade- und Stellmacher, Tischler
36
28
Bäcker
12
Schneider
30
Drechsler u. Stellmacher
12
Schuh- und Pantoffelmacher
22
Schmiede
13
Schlosser, Huf-, Nagel-, Messer- u. Kupferschmiede, Klempner und Zinngießer
24
Tischler, Drechsler, Böttcher und Stellmacher
23
Schuhmacher, Sattler, Riemer und Gerber
13
Schneider u. Kürschner
12
240 Mit Schreiben v. 13.7.1853 gab die Reg. in Minden den Antrag auf Errichtung einer TischlerInnung in Bielefeld weiter, und am 10.8.1853 folgte der Antrag auf Bestätigung einer Schuhmacher-Innung mit 38 Mitgliedern, davon 31 in Bielefeld und 7 in Dornberg, Schildesche und Hagen; in: GStA/PK, Rep. 120 B VI 21 Bd. 1. Am 13.1.1854 trug die Regierung auf Gründung einer Weber- und Tuchmacherinnung an, s. a. a. O. 241 Die Tabelle wurde erstellt nach den Angaben in der „Nachweisung der im Regierungsbezirk Minden in der Zeit vom 26. Juni 1850 bis zum Schluss des Jahres 1854 errichteten und bestätigten Innungen“, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 328 ff.; desgl. in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 845, fol. 12–14.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
„ „
Tischler, Drechsler, Stellmacher u. Böttcher
19 20
Bünde
Schmiede, Schlosser, Kupferschmiede u. Klempner Schmiede, Schlosser, Kupferschmiede u. Klempner
19
Gerber, Schuhmacher, Handschuhmacher u. Sattler
17
Bäcker
15
Schneider u. Kappenmacher
19
„ „ „ „
Tischler, Stellmacher, Böttcher u. Drechsler
16
Enger
Schuhmacher
19
Bielefeld
Tischler
26
Glaser, Maler u. Anstreicher
12
Schuh- und Pantoffelmacher
40
Schneider
36
„ „ „ „
Paderborn Lügde
Schneider
Weber u. Tuchmacher
Schuh- und Pantoffelmacher
35 12
13
Ausdruck des bemerkenswerten organisatorischen Aufbruchs in Minden-Ravensberg waren auch die Ortsstatuten, die damals in Minden und Bielefeld sowie in der Kleinstadt Vlotho an der Weser242 beschlossen wurden. Der Eifer, mit dem der Innungsgedanke in Minden-Ravensberg forciert wurde, blieb auch höheren Ortes nicht verborgen – wich er doch von dem im westlichen und südlichen Westfalen, aber auch im ehemaligen Hochstift Paderborn demonstrativ zur Schau getragenen Desinteresse an den neuen Genossenschaften signifikant ab. Der Gewerbeminister sah sich deshalb 1854 sogar genötigt, die Regierung in Minden zu mahnen, die Innungsorganisation in allen Landesteilen gleichmäßig zu entwickeln. Dieser Appell zeitigte aber keinerlei Wirkungen mehr.243 Es ist nicht leicht, die ungleiche Verteilung der Neugründungen zwischen dem nördlichen, altpreußischen Teil des Regierungsbezirks Minden einer- und den ehemaligen Stiftsländern im Süden desselben Bezirks andererseits schlüssig zu erklären. Am naheliegendsten ist es noch, neben dem schon erwähnten, durch den Eisenbahnbau hervorgerufenen größeren Konkurrenzdruck auf die unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungstraditionen zu rekurrieren: In dem erst eine Generation zuvor der Monarchie einverleibten Paderborner Hochstift dürfte man sich dem preußischen Recht im allgemeinen und den Zumutungen der staatlichen Verwal242 Bzgl. Vlotho STAD, Reg. Minden I U Nr. 840; das von der Stadt Minden beschlossene Ortsstatut v. 3.9.1852 findet sich in Stadtarchiv Minden, F 188; dort auch Hinweise auf das am 14.11.1854 in Bielefeld erlassene Ortsstatut. 243 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers v. d. Heydt an die Reg. Minden v. 4.2.1852, in: STAM, Reg. Minden I U Nr. 840.
B. Die Innungen
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tung im besonderen gegenüber reservierter verhalten haben als in dem seit Jahrhunderten an die preußische Administration gewöhnten Minden-Ravensberg. Jedenfalls ist das Tableau der Innungsgründungen sprechender Ausdruck der damals noch gänzlich unzureichenden Integration der beiden auch noch heute in vielerlei Hinsichten unterschiedlichen Regionen Ost-Westfalens. 9. Der Ertrag Destilliert man aus der Vielzahl lokaler Sonderungen den Ertrag der gesetzlichen Bestimmungen in dem hier betrachteten Segment, so ergibt sich folgendes: Zunächst fällt auf, dass der Wille zur Errichtung von Innungen in den westfälischen Regionen gänzlich unterschiedlich entwickelt war. Völliges Desinteresse im Münsterland kontrastrierte mit wirklicher Aufbruchstimmung in Minden-Ravensberg, wobei die jeweiligen Motive, Erwartungen und Vorgehensweisen der Meister ein Spektrum zeigen, welches kaum breiter gefächert sein könnte. Wo Gewerbevereine bestanden, unterstützten diese die Einrichtung von Innungen. Ihre Initiativen scheiterten aber vielfach an der Vorschrift, wonach sich mindestens 12 ortsansässige Angehörige eines Gewerks zu einer solchen Korporation zusammenfinden mussten. Für die in Westfalen mit seiner ländlichen-kleinstädtischen Struktur so signifikante Zerstreutheit der Betriebe im Raum war diese Situation typisch. Während die westfälischen Meister ausweislich ihrer Petitionen gegen Ende der vierziger Jahre noch nicht vorrangig an einer Wiederherstellung des Zunftmonopols interessiert gewesen zu sein scheinen, nahm die Zahl der Stimmen, die solches verlangten, in der Provinz bis etwa 1856/57 zu. Wo die Handwerker mit dem Zusammenschluss zu Innungen nicht unmittelbar die Hoffnung auf eine Reanimierung des Zunftmonopols verbanden, sahen sie in dem neuen Institut aber immerhin einen Versuch zur Verringerung des Konkurrenzdruckes. Auch so nützliche Dinge wie die Förderung des Wirtschaftsbetriebes, die berufliche Bildung, die soziale Sicherung, nicht zuletzt die Einflussnahme auf die Gesetzgebung und sogar das Anknüpfen an atavistische Bräuche wie das feierliche Leichenbegängnis der Zunftgenossen standen auf der Agenda der westfälischen Innungen. Damit entsprach der Interessen- und Aufgabenhorizont der neuen Korporationen durchaus dem der zuvor schon auf privatrechtlicher Grundlage ins Leben gerufenen Handwerkervereine, die durch zahlreiche Petitionen auf ihre Forderungen aufmerksam machten244 und sich mit den sog. „Westfälischen Handwerkertagen“ ein Forum geschaffen hatten.245 244 Z. B. Petition des Vorstandes des Provinzial-Handwerker-Vereins „in Vertretung sämtlicher Handwerkervereine, Gewerberäte und Innungen der Provinz Westfalen“ vom 21.2.1853 an den Handelsminister v. d. Heydt, in: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 3, fol. 114–134. Zu den gewerbepolitischen Initiativen der Düsseldorfer Handwerker in der Revolution des Jahres 1848 vgl. Lenger (1986), S. 170 ff. Über seine Aktivitäten während der Achtundvierziger-Revolution in Düsseldorf berichtet der Schlosser Kirchgaesser, in: Wisotzky (1990), S. 46 ff. 245 So z. B. der 1852 veranstaltete Handwerkertag in Hamm.
96
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Im Gegensatz zu diesen Vereinen litten die Innungen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben jedoch unter einem eklatanten Nachteil, den sie nicht beheben konnten, der ihre Wirksamkeit aber nachhaltig beeinträchtigte: Mangels örtlicher, regionaler oder landesweiter Zusammenschlüsse der neuen Korporationen, welche die Gesetzgebung durchaus hintersinnig nicht vorgesehen hatte, war eine gemeinsame Willensbildung der Innungsmitglieder und damit eine wirksame Interessenvertretung gegenüber der Administration und dem Gesetzgeber nicht möglich. Damit haftete den Innungen ein Geburtsfehler an, der sie in den Augen der Meister wenig attraktiv erscheinen lassen musste. Suchten die Innungen aber unter dem Deckmantel der Vereine, die sich auf verschiedenen Ebenen gebildet hatten, ihre Petita vorzutragen, wurden sie als nicht richtig vertreten abgewiesen: Als sich der Vorstand des westfälischen „Provinzial-Handwerker-Vereins“ 1853 ausdrücklich namens „sämtlicher Handwerkervereine, Gewerberäte und Innungen der Provinz Westfalen“ an den Handels- und Gewerbeminister v. d. Heydt wandte, sandte dieser die Petition mit der barschen Zurechtweisung zurück, „dass es ihnen an jeder Legitimation zur Vertretung der Gewerberäthe und Innungen ermangele und dass es diesen daher überlassen bleiben müsse, ihre Wünsche auf dem geordneten Wege zur Kenntnis der Behörden zu bringen“.246 Die große Zeit der Petitionen war damals zwar noch nicht vorbei; der Staat und seine Vertreter hatten den durch die revolutionären Ereignisse verursachten Schock aber ganz offenkundig überwunden. Die Furcht vor der Rebellion der „handarbeitenden Klassen“ fiel von der Obrigkeit ab. Folgerichtig scheute sich v. d. Heydt nicht länger, die Anliegen der Innungen mit formalen Argumenten abzutun – und ihr Bemühen um Einfluss auf die Gesetzgebung ins Leere laufen zu lassen.247 In dieses Bild fügt sich, dass der Minister nun auch kein Hehl mehr daraus machte, dass das Institut der Gewerberäte lediglich zu dem Zweck geschaffen worden war, die aufgebrachten Meister zu kalmieren.248 Die Handwerker erkannten natürlich – je länger desto deutlicher –, dass die Gewerbegesetzgebung nicht das leistete, was sie sich von ihr versprochen hatten.249 Die Zahl der „Magazine“ beispielsweise, der von Kaufleuten betriebenen Läden für Handwerkswaren, nahm trotz der Verordnung von 1849 zu, und der Markt für die untereinander konkurrierenden Handwerksbetriebe wurde jedenfalls in der subjektiven Wahrnehmung der Meister immer enger. Was also tun? Der Ruf nach Unter246 Schreiben des Ministers v. d. Heydt v. 8.3.1853, in: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 3, fol. 136. 247 Bis den Handwerkern die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen klar wurde, verfassten sie weiterhin Petitionen zur Reform der Gewerbegesetzgebung; so z. B. „Vierter Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe der 2. Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses über mehrere Petitionen, die Reform der Gewerbegesetzgebung betreffend“, v. 16.4.1853, in: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 3, fol. 182–190; der Bericht nimmt u. a. auf Petitionen aus Münster und aus Altena Bezug. 248 Dies ergibt sich u. a. aus einem Schreiben des Ministers v. d. Heydt an den württembergischen Gesandten v. 3.9.1853, in: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 3, fol. 222–227. 249 So z. B. ausdrücklich die Petition der „Vereinigten Verbände und Repräsentanten hiesiger Handwerker-Innungen um Hebung des bedrückten Handwerkerstandes“, Berlin, den 1.2.1854, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 1, fol. 270.
B. Die Innungen
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sagung der Magazine wurde laut – und mit der Forderung nach Wiedereinführung der Zwangsinnung verbunden. Die Westfalen, welche nicht aufhörten, die Innungen mit der Elle der verblichenen Zünfte zu messen, wollten den neuen Korporationen folgerichtig auch noch andere Aufgaben als die bereits genannten überantworten: Der Arnsberger Regierungsrat Jacobi berichtete 1853, dass die Handwerker die „Befugnis der Innungen, die genossenschaftliche Gemeinsamkeit des Gewerbebetriebs“ zu fördern, „schmerzlich“ vermissten.250 Jacobi, ein ausgezeichneter Kenner der gewerblichen Wirtschaft im südlichen Westfalen, empfand vor allem den gemeinsamen Einkauf der Rohmaterialien, die Übernahme und gemeinschaftliche Ausführung von Aufträgen durch mehrere Werkstätten und die Förderung des Absatzes der in den Innungen organisierten Betriebe durch besondere, handwerkseigene Warenzeichen als dringlich.251 Die Gesetzgebung der Jahre 1845/49 hatte solche Initiativen aber nicht vorgesehen, und so konnten die in ihr ebenso starres wie enges Satzungskorsett gezwängten Innungen die Möglichkeit, sich durch die Förderung des Gewerbebetriebes auf genossenschaftlicher Basis unentbehrlich zu machen, nicht nutzen. So prognostizierte Jacobi das Scheitern des Innungsmodells für den Fall, dass sich die Korporationen dieser bis dahin unbeachtet gebliebenen Aufgaben nicht annehmen könnten – und er sollte recht behalten.252 Mit ihrer Kritik am geltenden Recht standen die Westfalen damals nicht allein. In ganz ähnlicher Weise äußerten sich auch die Berliner Korporationen: „Die Maßnahmen, welche überhaupt zur Verwirklichung der neuen Gewerbegesetzgebung getroffen wurden, haben sich mehr oder minder als unzulänglich erwiesen, um die gerechten Wünsche des Handwerkerstandes zu befriedigen … und der immer mehr überhand nehmenden Armuth im Handwerkerstande nach Kräften entgegenzuarbeiten.“253 Das Kleingewerbe stehe, so ließen sich die „Vereinigten Vorstände und Repräsentanten“ der Berliner Innungen vernehmen, „inmitten des Staates verstoßen da“. Um Remedur zu schaffen, verlangten sie unmissverständlich „einen gesetzlich angeordneten Anschluss der noch nicht zu den Innungen gehörigen selbständigen Handwerker an die Innungen“254. Auf solche Weise glaubten sie nicht 250 Jacobi, Über die Einrichtungen … (1853/54), S. 129. 251 Jacobi (1853/54), S. 129. 252 „Ohne den Beruf zu einer solchen ökonomischen Thätigkeit werden die Innungen eine allgemeine Teilnahme des Handwerkerstandes weder erwerben noch verdienen“, so Jacobi (1853/54), S. 129. 253 Wie Anm. 249. 254 Jürgen Kocka hat darauf hingewiesen, daß das Innungsrecht den rechtlichen Unterschied zwischen Meistern und Gesellen auch im 19. Jahrhundert perpetuiert habe. Aufgrund seiner rechtlichen Qualität sei dieser „viel schärfer, als es allein aufgrund verschiedenartiger ökonomischer Interessen und unterschiedlicher sozialer Erfahrungen zu erwarten gewesen wäre“, bemerkbar gewesen; J. Kocka (1986), S. 364,365. Viele Handwerker lehnten nach Auskunft der Berliner Innungsvertreter den Beitritt zur Innung mit folgender Begründung ab: „Was nützt es uns, der Innung anzugehören? Wir müssen Pflichten übernehmen und trotz der Corporationsrechte der Innungen gewähren sie weder der Corporation selbst noch den einzelnen Mitgliedern Schutz gegen den kaufmännischen Handel mit Handwerkswaaren und gegen fingierte oder angemaßte Fabrikwirtschaft. Wir verlangen Arbeit und den nöthigen Erwerb zum Leben, und da die Innungen also weder Schutz noch Arbeit und Erwerb darbieten können, so hätten wir durch den
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
allein den Zudrang zum Handwerk steuern, sondern auch die schnell zunehmende Konkurrenz der Fabrikbetriebe verringern zu können. In der Tat schien diese Überlegung nicht ganz utopisch zu sein. Denn die Meister hatten zwei vom Gesetzgeber geöffnete Einfallstore für das Eindringen unerwünschter Konkurrenz ausgemacht, die zu schließen sie als dringlich notwendig erachteten. Zum einen sollte die Möglichkeit, nach den §§ 26 und 27 der Verordnung v. 9.2.1849 Ausnahmen vom Prüfungszwang zuzulassen, beseitigt werden255; zum anderen wollten die Meister das Fabrikenprivileg, welches auch solche industriellen Unternehmer, die Handwerkswaren herstellten, von der Prüfungspflicht befreite, aufgehoben wissen. Nach Einschätzung der Innungsvertreter kam es durchaus nicht selten vor, dass sich hierauf keineswegs nur Inhaber größerer Unternehmen, sondern auch Handwerker beriefen, um die Prüfung zu umgehen.256 Besonders anstößig erschien es auch den Berliner Innungen, dass Kaufleute Magazine für Handwerkswaren unterhielten. Deshalb verlangten sie wie ihre westfälischen Berufsgenossen, diesen Detailverkauf durch Kaufleute, welche zum selbständigen Betrieb des betreffenden Handwerks nicht befugt waren, grundsätzlich zu verbieten.257 Um ihren auf nüchterner Analyse beruhenden Petita Nachdruck zu verleihen, scheuten sie auch pathetische Worte nicht: „Die Spekulation, welche den Handwerker ausbeutet, muss vernichtet werden, wenn anders nicht das ganze Gesetz über den handwerksmäßigen Gewerbebetrieb und mit demselben der Kgl. Wille und die ministerielle Deklaration vom 30. August 1850 in ein vollständiges Nichts zerfallen soll!“ So dramatisch dieser Appell klang, so realistisch war, wie sich bald zeigen sollte, die damit verbundene Prognose des Scheiterns des Innungsmodells, welche die Berliner Handwerker mit ihren westfälischen Berufskollegen teilten. 10. Das Gesetz vom 15.5.1854 Das geltende Gewerberecht wurde 1854 zwar geändert, aber nicht in dem von den Handwerkern gewünschten umfassenden oder dem von Jacobi angeregten zukunftweisenden Sinne: Statt um Beschränkung der Konkurrenz oder um Wirtschaftsförderung war es dem Gesetzgeber vor allem um eine Modifizierung der Prüfungsordnung zu tun. Die Novelle wurde durch eine Petition wiederum der Berliner Innungen veranlaßt. Die „Altmeister und Repräsentanten hiesiger Innungen“ hatten schon zu Beginn des Jahres 1853 auf Änderungen der Verordnung vom 9. Februar 1849 angetragen.258 Es sollten (1) die Arbeitnehmer aus den Gewerberäten entfernt, (2) die
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Beitritt nur mehr Lasten aber keinen Vortheil. Die Innungshandwerker kommen ebenso rasch an den Bettelstab wie wir“, wie Anm. 249. Wie Anm. 249, fol. 273 RS. Wie Anm. 249, fol. 274. § 34 der Verordnung v. 9.2.1849 gestattete dies mit Genehmigung der Kommunalbehörde. Petition der „Altmeister und Repräsentanten“ Berliner Innungen an das Abgeordnetenhaus v. Februar 1853, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 1, fol. 189.
B. Die Innungen
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Gesellen aus den Prüfungskommissionen für die Handwerksmeister ausgeschlossen und (3) der Vorsitz im Gewerberat auf ein Mitglied des Gemeindevorstandes übertragen werden. In einer Art Fundamentalkritik warfen die Vertreter des Berliner Handwerks der Gewerbegesetzgebung innere Widersprüche vor, welche die praktische Handhabung der Vorschriften erschwere. Außerdem sei der in den Gewerberäten vertretene „Handels-, Fabriken- und Arbeiterstand“, welcher die in der Verordnung v. 9.2.1849 zum Ausdruck gekommenen Prinzipien ablehne und die Interessen der Handwerker gefährde, dafür verantwortlich, dass die Gewerbetreibenden in zwei Parteien, die an einer Handwerksordnung Festhaltenden einer – und die „der ausgelassensten und unbegränzten Gewerbefreiheit“ Zugewandten andererseits, zerfallen seien. Die Forderungen der Berliner Innungen wurden von den Gewerberäten und Innungsvorständen zahlreicher anderer preußischer Städte nicht nur unterstützt. Diese wandten sich vielmehr mit eigenen, sogar noch weitergehenden Petita an das preußische Abgeordnetenhaus. Auch Vertreter westfälischer Handwerksorganisationen wie der Gewerberat von Altena im märkischen Sauerland sowie „die Gewerbe zu Münster“259 suchten so Einfluss zu gewinnen. Ihnen war es vor allem um die Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden in den Innungen zu tun. Der Stellenwert dieser Organisationen sollte außerdem dadurch gestärkt werden, dass für die Prüfung der Gesellen und Lehrlinge künftig nur mehr die Innungen zuständig sein sollten. Der Minister von der Heydt griff insbesondere die Forderung nach Beschneidung der Rechte der Gesellen alsbald auf. Auch die westfälischen Regierungen wurden zu der geplanten Gesetzesänderung gehört.260 Die Kommission für Handel und Gewerbe des Abgeordnetenhauses unterstützte die konkreten Forderungen der Meister auf Rechtsänderungen, wollte deren weitergehende Kritik an der Gewerbegesetzgebung insgesamt aber nicht kommentieren.261 Die Kommission unter Vorsitz des Abg. v. Kotze glaubte in den Bestrebungen der Meister den alten Monopolanspruch der Zünfte wiederzuerkennen, wenn sie beklagte, dass viele Handwerker noch immer der Auffassung seien, „die korporative Verfassung der Innungen zu einer Organisation der Handwerker-Arbeit benutzen zu können, welche den Geschäfts-Betrieb jedes Einzelnen den Beschlüssen der Mehrheit auch in Ansehung der wesentlichsten Bedingungen des Privat-Erwerbes unterwerfen soll.“262 Die Wiedereinführung jedweder Form des Zunftzwangs lehnte die Kommission aber 259 Vierter Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe über mehrere Petitionen, die Reform der Gewerbegesetzgebung betreffend, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 71, Bd. 1, fol. 208 ff.; es gingen in Berlin allerdings auch Petitionen ein, die, wie der Breslauer Gewerberat, die Gewerbegesetze beseitigen und wieder die uneingeschränkte Gewerbefreiheit einführen wollten, a. a. O., fol. 208 RS. 260 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers von der Heydt an die Regierungen v. 13.3.1853, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Bd. 62 adhib 2, fol. 2. 261 Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe über eine Petition der Altmeister und Repräsentanten hiesiger Innungen, betreffend die Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 und die Verordnung vom 9. Februar 1849, v. 15.4.1853, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 1, fol. 177. 262 Wie Anm. 259, fol. 211.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
ausdrücklich ab263 und erklärte den durch das geltende Recht vorgesehenen Zusammenschluss der Innungen auf freiwilliger Basis als ausreichend, um den Korporationen zu ermöglichen, „eine gedeihliche Wirksamkeit zu entfalten“.264 Es fiel den Abgeordneten nicht schwer, sich argumentativ auf die angeblichen Segnungen der seit 1845/49 geltenden Bestimmungen zurückzuziehen – konnten sie doch darauf hinweisen, dass die Handwerker selbst nicht mit einer Zunge sprachen. Während die einen die ersatzlose Streichung der Bestimmungen über die Innungsbefugnisse in der Gewerbeordnung verlangten, wollten die anderen den Zunftzwang wieder einführen. Mit einem Wort: Unglaubwürdiger konnte sich eine Interessenvertretung kaum machen. Dies sahen auch die Abgeordneten so, und auf den geringen Stellenwert der Innungen in den Westprovinzen wiesen sie ebenfalls hin.265 Für eine Novellierung der Bestimmungen über die Innungen gebe es aber auch deshalb keinen Raum, weil es – so unterstellten die Abgeordneten sehr zu recht – einem wesentlichen Teil der petitionierenden Meister in Wahrheit um mehr und anderes als um die Zwangsmitgliedschaft in den Innungen zu tun sei; vielmehr wollten sie auf diese Weise eine nachhaltige Beschränkung der Konkurrenz, die Wiedereinführung der aufgehobenen Verkaufsmonopole und Zwangsrechte, die Ausschaltung der industriell fertigenden Betriebe und der aus dem Ausland importierten Handwerkswaren erreichen.266 Aus all diesen Gründen lehnte es die Kommission für Handel und Gewerbe ab, der Ersten Kammer die Berücksichtigung der weitergehenden Wünsche der Handwerker zu empfehlen. Es wurden deshalb nur die wenigen konkreten Anregungen, welche von den Berliner Innungen ausgegangen waren, aufgenommen und umgesetzt. Am 15.5. des Jahres 1854 trat das „Gesetz betr. einiger Abänderungen der Gewerbeordnung vom 17.1.1845 und der Verordnung vom 9.2.1849“ in Kraft. Es beseitigte die Mitwirkung der Gesellen in den Prüfungskommissionen,267 machte die Tätigkeit der Angehörigen dieser Ausschüsse, sofern sie von den Innungen gebildet worden waren, von der Bestätigung durch die Kommunalbehörde abhängig und bestimmte außerdem, dass die Mitglieder der Kreisprüfungskommissionen nicht länger gewählt, sondern von den Landräten auf Widerruf ernannt werden sollten.268 263 Wie Anm. 259, fol. 211 RS. 264 Wie Anm. 259, fol. 212. 265 Von den ca. 700 Innungen, welche infolge der Verordnung v. 9. Februar 1849 in Preußen neu errichtet worden sind, entfielen nur etwa 300 auf die Westprovinzen, in denen die Zünfte durch die französische, bergische oder westphälische Gewerbe-Ordnung aufgehoben worden waren; s. wie Anm. 259, fol. 215 RS. 266 Wie Anm. 259, fol. 215 RS. 267 Die Ausschaltung jeglichen Einflusses der Gesellen auf die berufsständischen Angelegenheiten hatte sich schon Jahre zuvor angekündigt: Der König hatte dem Minister von der Heydt 1851 mitgeteilt, er lege „namentlich auf die Ansicht höchsten Wert, dass die Innungen dazu dienen sollten, die korporative Ehre des Handwerkerstandes und die Autorität der Meister herzustellen, und dass daher jeder Einfluss der Gesellen auf die Innungen, und alles, was zu Streitigkeiten unter den Innungen führen kann, namentlich deren zu enge Begrenzung vermieden werden muss“; s. Kabinettsordre v. 28.2.1851 an von der Heydt, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, zitiert nach Tilmann (1935), S. 52. 268 Gesetz v. 15.5.1854, betr. einige Abänderungen der Gewerbe-Ordnung v. 17.1.1845 und der Verordnung v. 9.2.1849, in: Preußische Gesetzessammlung 1854, S. 263.
B. Die Innungen
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Seither bestanden die Prüfungskommissionen der Innungen nach § 37 der Verordnung vom 9.2.1849 aus einem Mitglied der Kommunalverwaltung als Vorsitzendem und mindestens zwei von der Innung zu wählenden und von der Kommunalbehörde zu bestätigenden Meistern der Innung, während die Kreisprüfungskommissionen nach § 39 der o. a. Verordnung aus dem von der Regierung bestellten „Kommissar“ als Vorsitzendem und zwei Meistern des betreffenden Handwerks gebildet wurden. Zur Durchführung des Verfahrens vor den Kreisprüfungskommissionen bestimmten die Landräte aufgrund der Novellierung eine Zahl von Handwerksmeistern, unter denen die Vorsitzenden der Kreisprüfungskommissionen die bei der jeweiligen Prüfung beteiligten Mitglieder auszuwählen hatten. Voraussetzung war, dass keiner der Meister einer Prüfungskommission der Innungen angehörte.269 Zur Begründung für die Beschneidung der Unabhängigkeit der Prüfungskommissionen durch das neue Gesetz wies der Minister v. d. Heydt darauf hin, dass die Befürchtung bestehe, dass die Meister nach dem Ausscheiden der Gesellen aus den Gremien die Prüfung mutwillig erschweren könnten, um die Konkurrenz auf dem Markt für Handwerksprodukte und -dienstleistungen möglichst gering zu halten.270 Angesichts der andauernden, in eben diese Richtung zielenden Bemühungen der Handwerkervereine und Innungen war die Entschlossenheit des Staates, Vorkehrungen gegen solche Machinationen zu treffen, zwar durchaus nachvollziehbar und wohl auch angebracht. Die Maßnahmen des Gesetzgebers bedeuteten zugleich und vor allem aber einen weiteren Eingriff in die Willensbildung der Innungsmitglieder und neue Kontrollbefugnisse der Behörden gegenüber den Korporationen. Dass letztere durch die getroffenen Maßregeln nicht eben an Attraktion gewannen, versteht sich von selbst. Das Gesetz vom 15. Mai 1854 brachte aber noch eine weitere, für die Innungen nicht unwichtige Neuerung: Dessen § 7 übertrug die Zuständigkeit zur Feststellung, Bestätigung und Abänderung der Innungsstatuten sowie die Befugnisse des Ministeriums bzgl. der Errichtung neuer und der Auflösung bestehender Innungen auf die Bezirksregierungen. Nachdem zu diesen Gegenständen bereits eine Vielzahl von ministeriellen Anweisungen ergangen war,271 glaubte v. d. Heydt nun, die notwendigen Entscheidungen den Mittelbehörden überlassen zu können. Um die Organisierung des Gewerbes nach einheitlichen Grundsätzen, d. h. im Sinne des Ministeriums, zu gewährleisten, verpflichtete der Minister die Regierungen, die Innungsstatuten auch zukünftig gründlich zu prüfen und „richtig“ anzuwenden sowie halb-
269 S. § 5 des Gesetzes v. 15.5.1854, Preußische Gesetzessammlung 1854, S. 263; vgl. dazu GStA/ PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 66 Bd. 2. 270 So Schreiben des Ministers v. d. Heydt an die Regierung in Münster v. 27.5.1854, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5779; s. GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 66 Bd. 2. 271 So hatte, um ein Beispiel für diese Anweisungen zu geben, v. d. Heydt den Bezirksregierungen mitgeteilt, dass die finanzielle Unterstützung der Innungen für wandernde Handwerksgesellen mit den allgemeinen Vorschriften, nach denen „dem müßigen Umherschweifen arbeitsscheuer Gesellen entgegengewirkt werden soll, nicht im Einklang“ stehe; so Schreiben des Ministers v. d. Heydt an die Regierung Merseburg v. 30.1.1854, in: GStA/PK, Finanzministerium, Abt. für Handel, Fabrikation und Bauwesen, Rep. 120 B III 1 Nr. 3, Vol. 3, fol. 137.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
jährlich eine Übersicht über die neu gebildeten bzw. aufgelösten Innungen einzureichen.272 11. Die Minden-Bielefelder Initiative Betrachtet man die Zeitspanne zwischen dem Erlass der Innungsgesetzgebung und der Mitte der fünfziger Jahre, so lässt sich nicht leugnen, dass die Korporationen bis dahin noch nichts Nennenswertes zur Überwindung der durch die Industrialisierungsvorgänge ausgelösten Krisis in Teilen des Handwerks erreicht hatten. Dieses Umstandes eingedenk nahm von Minden eine Bewegung unter den Meistern ihren Ausgang, die sich mit der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation der Handwerker nicht länger abfinden und die den Innungen neues Leben einhauchen wollte.273 In der Festungstadt fand das korporative Modell, wie bereits festgestellt, schon bald nach Einführung der Gewerbefreiheit unter den Zimmerleuten wieder Anhänger, und auch in den anderen Gewerben der Stadt lassen sich Initiativen zu solchen Zusammenschlüssen feststellen. Der wohlhabende, vielfältig engagierte und hoch angesehene Schneidermeister Wiegmann bildete in Minden den Kristallisationskern dieser Bestrebungen. Er hatte sich schon im Vormärz bei der Regierung für die Wiedereinführung einer korporativen Verfassung für das Handwerk eingesetzt,274 und in der Mitte der fünfziger Jahre begann er neuerlich, dieses Ziel zu verfolgen. Die Bielefelder Korporationen griffen diese Initiative auf; 1855 versuchten sie durch einen dramatischen Appell, den Gesetzgeber zu Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kleingewerbes zu bewegen. In der Tat führte ihre umfängliche Petition vom Dezember des Jahres275 zu einem Schriftwechsel zwischen den westfälischen Behörden und dem Ministerium und gab schließlich Anlass zu einer Debatte des Berliner Abgeordnetenhauses über die Situation des 272 Wie Anm. 271. 273 Schreiben des Mindener Regierungspräsidenten Peters an den Polizeiminister von Westphalen v. 14.2.1856, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 Bd. 4, fol. 161 ff. Der Obermeister der Schneider-Innung in Minden, Wiegmann, hatte schon 1844 ähnliche Petitia verfasst, s. Protokoll der 41. Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses v. 14.3.1856, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1, fol. 106 RS. Nach Auskunft des Mindener Regierungspräsidenten Peters ging die Petitionsbewegung von den Mindener und Bielefelder Handwerkern gemeinsam aus. In Minden war das Anliegen, die Forderung nach der Zwangsinnung, niemals aufgegeben worden. Da dort „geeignete geistige Kräfte“ unter den Handwerkern zu finden waren, wurde diese Stadt „Mittelpunkt derjenigen Bewegung, die nach Wiedereinführung eines Innungszwangs strebt“; so der Regierungspräsident Peters, in: Schreiben v. 9.6.1856 an den Minister von der Heydt, in: GStA/PK, Rep. 120, B I 1 Nr. 71 Bd. 2, fol. 168–177 (172). 274 So Bericht des Regierungspräsidenten in Minden, Peters, an das Handels- und Gewerbeministerium v. 9.6.1856, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 4, fol. 158 ff. 275 Petition der Mitglieder der Innungen in Bielefeld v. 10. Dezember 1855 an das AbgeordnetenHaus, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 2, fol. 31–49. Zu ähnlichen Initiativen kam es auch anderwärts; es ist gar von einem „Proteststurm“ aus Enttäuschung gesprochen worden; so Georges (1993), S. 80.
B. Die Innungen
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Handwerks. In bewegten Worten zeichneten die Verfasser des Papiers das damals bis zum Überdruss strapazierte „traurige Bild“ vom Niedergang des Kleingewerbes und der Verarmung der dem Handwerk verbundenen Menschen. Während die Meister zur Zunftzeit geachtet gewesen seien, habe die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit „zerrüttete Zustände im Handwerkerstande“ hervorgebracht:276 „Schutzlos von allen Seiten, seinem eigenen Schicksal überlassen, sucht der Handwerker Beschäftigung an der Schwelle der Begüterten, gleich wie der Arme an den Thürpfosten der Reichen um sein Brod bettelt“. Mehr noch als die als unzureichend empfundene Einkommenssituation machte den Meistern offenbar die nach eigenem Dafürhalten geschwundene Reputation ihres Standes zu schaffen: „… der Handwerker in seiner größten Mehrzahl ist zum gewöhnlichen Arbeiter herabgesunken und die Standesehre zur Chimäre geworden, daher überall die zunehmende Armuth, der allgemeine Druck, die Entartung in Förderung des gewerblichen Fleißes, ja die totale Demoralisation dieses, neben dem Bauernstande, die Mehrzahl der Bevölkerung bildenden Standes …“. Diese Jeremiade gipfelte in dem Ausruf: „… es schämt sich der Handwerker seines Bruders …“. Dabei waren die Bielefelder Innungen, um ihr Anliegen nicht von vornherein zu desavouieren, jedenfalls verbal durchaus bereit zuzugestehen, dass man nicht zur alten Zunftordnung zurückkehren könne: „Doch die Zurückberufung jenes Systems kann nicht in unserem Plane, nicht in unseren Wünschen liegen, es hat sich überlebt und ist unserer Zeit, in welcher eine freie Entwicklung zur Geltung kommt, nicht mehr anpassend“,277 räumten sie durchaus realistisch ein. Mit dieser Bemerkung wollten sie die Abgeordneten gewogen machen, während sie, wie dem weiteren Text zu entnehmen ist, gerade jene geleugneten Ziele unverdrossen verfolgten. Doch welcher deus ex machina sollte die nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation des Handwerks bewirken? Die Meister wollten keine Wirtschaftsförderung, keine finanzielle Unterstützung, sondern Rechtsänderung. Und dazu bedurfte es des Wohlwollens des Gesetzgebers, welches aber nur zu gewinnen war, wenn es gelang, die Affinitiät eines erheblichen Teiles der Handwerker zur revolutionären Bewegung möglichst bald vergessen zu machen. In Westfalen war es allerdings mehr als eine bloße Referenz gegenüber dem Zeitgeist der fünfziger Jahre, wenn sich die Bielefelder Meister dem preußischen Abgeordnetenhaus als Vertreter „des stabilen Standes, der von jeher in wahrhafter Vaterlandsliebe beharrend, dem Trohne treu ergeben“ gewesen sei, vorstellten. Hier scheint nicht nur Opportunismus, sondern auch eine trotz des Aufbegehrens in den revolutionären Zeiten durchaus auch glaubhaft konservative, an rückwärtsgewandten Kategorien orientierte Denkweise der Meister auf, und eben diese Haltung bestimmte ihre Forderungen nach einer Reform des Handwerksrechts. Nicht allein die sich neuerlich bemerkbar machenden liberalen Tendenzen lehnten sie ab: „Wie die Gewerbefreiheit in der Theorie als ein begründetes Institut erscheint, so ist sie in der Praxis 276 Wie Anm. 275, fol. 33 RS, 34. Berechnungen der durchschnittlichen Realeinkommen in Deutschland, die u. a. aufgrund der Löhne für Bauhandwerker ermittelt wurden, zeigen für die erste Hälfte der fünfziger Jahre ein Absinken, danach aber eine kontinuierliche Zunahme derselben; s. Gömmel (1979), insbes. S. 27, 28. 277 Wie Anm. 275, fol. 33 RS.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
nicht selten heillosen Mängeln unterworfen“. Auch die den korporativen Gedanken wieder aufnehmende Gesetzgebung der Jahre 1845/49 erklärten sie sans phrase als gescheitert, da ohne Wirksamkeit278 – was aufgrund der allenthalben gemachten Erfahrungen kaum verwundern kann: „In unserm ganzen Vaterlande sieht man äußerst spärlich hie und da Innungen auftauchen, und da, wo sie existieren, sind sie ein bloßes … Stückwerk, von einigen wenigen Handwerkern hervorgerufen, ohnmächtig und willenlos in der Verbreitung ihrer Bestrebungen“,279 hieß es, insbesondere die westfälischen Verhältnisse beschreibend, aus Bielefeld. Sich zunächst einmal mit ihrer durchaus differenziert zu beurteilenden wirtschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, kam den Meistern nicht in den Sinn. Stattdessen redeten sie einem Ordnungsmodell das Wort, dessen Realisierung faktisch nicht weniger als die Reanimierung des Zunftzwanges bedeutet hätte: Mit der Begründung, dass das Konstrukt der freiwilligen Innung, da erfolglos, gescheitert sei,280 forderten die Meister die Einführung der Zwangsinnung;281 dabei verbargen sie, klug beraten, ihr Bestreben, dieses Institut allein in den Dienst der Meister zu stellen. Stattdessen wiesen sie geschickterweise auf den angeblich heilsamen Einfluss der Korporationen auf die Gesellen hin: „Die Zwangsinnung ist eine förmliche Besserungsanstalt für die Handwerksgesellen, die in ihrer größten Mehrzahl die Zeit des Wanderns nicht mehr als Schule ihrer Fortbildung, vielmehr als geeignete Lückenbüßer fürs Wirtshausleben, für end- und zweckloses Eisenbahnfahren, für Schwelgerei, und, um alle Vergeudungen, die mit diesen Untugenden verknüpft sind, bestreiten zu können, für tägliche Bettelei benutzen“.282 Im übrigen machten die Meister die Freiwilligkeit der Innungsmitgliedschaft, wie sie § 1 der Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 bestimmt hatte, aber auch dafür verantwortlich, dass die Korporationen, wo sie denn gegründet worden waren, ihre durch § 104 des Gesetzes vorgegebenen Ziele nicht erreicht hatten: Gewährleistung einer qualifizierten Ausbildung der Lehrlinge, die Verwaltung leistungsfähiger Kranken-, Sterbe-, Hilfs- und Sparkassen der Innungs-Genossen oder die Fürsorge für deren Witwen und Waisen waren nirgends in Westfalen zu den für den Innungsgedanken einnehmenden Kennzeichen der neuen Korporationen geworden, als die sie sich der Gesetzgeber gedacht hatte – und anderwärts stand es auch nicht viel besser. So ließ sich die Analyse der Bielefelder Meister kaum bestreiten, wonach die geringe Zahl an Innungsmitgliedern zum Aufbau eines tragfähigen organisatorischen Gerüsts nicht hinreichte. Die in „somnambulischem Schlafe liegenden“ Handwerker müssten zu ihrer „Genesung förmlich herangezogen werden zu der heilsamen Institution der Innung“.283 Das kindliche Vertrauen in 278 „So standen die Sachen vor Emanierung der allgemeinen Gewerbe-Ordnung v. 17. Januar 1845, so stehen sie mit einzelnen sehr unwichtigen Modificationen noch heute“, s. Petition der Mitglieder der Innungen in Bielefeld v. 10. Dezember 1855 an das preußische AbgeordnetenHaus, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 2, fol. 36. 279 Wie Anm. 278, fol. 37 RS. 280 Wie Anm. 278, fol. 39; desgl. in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194. 281 Wie Anm. 278, fol. 40. 282 Wie Anm. 278, fol. 41. 283 So die Petition der Bielefelder Handwerker v. 10. Dezember 1855, in: STAD, Regierung Minden, Präsidialregistratur Nr. 194.
B. Die Innungen
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die Allmacht der Zwangsinnung und die Vortrefflichkeit ihrer Ziele machte Staunen – wäre nicht so deutlich erkennbar, dass die Korporation den Meistern lediglich als Vehikel zur Wiederherstellung ihres alten Monopols am Markt dienen sollte. Das im ehemals preußischen Teil Ostwestfalens so signifikante Interesse an der Reanimierung korporativer Strukturen entsprang zunächst keineswegs einem schnell verwehten Überschwang, wie er revolutionären Zeiten nun einmal eigentümlich ist. Die Meister betrieben die Gründung von Handwerkervereinen und Innungen dort vielmehr durchaus zielorientiert. Als die Innungen die in sie gesetzten Erwartungen aber nicht erfüllten, überschritten die Handwerker mit ihren Forderungen die durch die Gewerbeordnung und die Verordnung vom 9.2.1849 gezogenen Grenzen und verlangten offen die Wiederherstellung der Zunftprivilegien. Der Abgeordnete Marcard erhielt an einem einzigen Tage „eine große Anzahl“ von Petitionen in dieser Angelegenheit mit nicht weniger als 6.000 Unterschriften.284 Auch auf die Verwaltung suchten die Meister Einfluß zu nehmen. So übersandten die Bielefelder Innungen auch dem Regierungspräsidenten in Minden ein Exemplar ihrer wortmächtigen Petition. Den zuständigen Beamten wollten sie, den pathetischen Ton nicht scheuend, deutlich machen, dass „der Nothschrei der Handwerker und die drohende Auflösung des viel umfassenden Handwerkerstandes die unabweisliche Veranlassung“285 zu der Initiative gewesen seien. Deren Petita einfach zu ignorieren wagte man in Berlin nicht. Mit ihren Aktivitäten erreichten die Meister, dass der zuständige Minister v. d. Heydt selbst sich mit der Situation des westfälischen Handwerks zu befassen begann.286 Im März 1856 sprach er von der „über das ganze Land sich ausbreitenden Agitation für die Wiedereinführung des Zunftzwangs“.287 Wie kaum anders zu erwarten, machte er aus seinem Missfallen gegenüber den Forderungen nach Wiedereinführung einer wie auch immer gearteten Zunftverfassung aber kein Hehl. Ihm musste das Anliegen der Meister um so unverständlicher erscheinen, als er der – 284 Protokoll der 41. Sitzung des Abgeordnetenhauses v. 14.3.1856, in: GStA/PK, Rep. 77 Tit. 306 Nr. 1, fol. 106 RS. 285 So Schreiben der Vertreter der Bielefelder Innungen an den Regierungspräsidenten in Minden v. 2.1.1856, in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194. 286 Der Mindener Regierungspräsident hatte den Innenminister von Westphalen von der bevorstehenden Beratung der Bielefelder Petition im Abgeordnetenhaus in Kenntnis gesetzt, und dieser unterrichtete den Gewerbeminister von der Heydt; so Schreiben des Innen- an den Gewerbeminister v. 24.2.1856, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I Nr. 62 Bd. 4, fol. 159–160. Der Mindener Regierungspräsident Peters bedauerte die Behandlung der Petition im Abgeordnetenhaus, da die Frage der Handwerksordnung so zum Gegenstand der Auseinandersetzung der Parteien gemacht und eine objektive Beurteilung verhindert werde. Peters unterstützte die Forderung nach der Zwangsmitgliedschaft sämtlicher selbständiger Handwerker in einer der Innungen, die bis dahin nur eine Scheinexistenz geführt hätten. Als erfolgreiches Vorbild verwies Peters auf die Innungsmitgliedschaft der Gesellen in den Unterstützungskassen; so Schreiben des Regierungspräsidenten v. 9.6.1856, in: GStA/PK, Rep. 120 B I Nr. 62 Bd. 4, fol. 172 RS, 174, 175, 176. 287 So v. d. Heydt am 29.3.1856 an den Mindener Regierungspräsidenten Peters, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 3, fol. 324, 325; desgl. auch in: STAD, Reg. Minden, Präsidialregistratur Nr. 194, fol. 143; desgl. auch in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, Bd. 4, fol. 163, 164.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
ausweislich des empirischen Befundes nicht unzutreffenden288 – Überzeugung anhing, dass sich die wirtschaftliche Situation der Handwerker nach Erlass der Verordnung vom 9.2.1849 ständig verbessert habe.289 Der Minister rechnete aufgrund der Bestimmungen der Verordnung mit einer – im Vergleich zur Zeit des Vormärz – auch zukünftig günstigeren Entwicklung der Einkommen der selbständigen Handwerker. Offenbar ging er davon aus, dass einerseits die Zahl der Meister wegen der Anforderungen in der Prüfung abnehme und der Konkurrenzdruck dadurch geringer werde, andererseits der Examenszwang aber auch eine Qualitätssteigerung der Handwerksarbeit bewirke, die wiederum die Nachfrage stimuliere. Mehr als die Forderungen der Handwerker selbst interessierte ihn deshalb, wer für die von Minden und Bielefeld ausgehende Agitation zur Wiederherstellung des Zunftzwanges in Westfalen letztlich verantwortlich zeichnete.290 Die Mindener Regierung verpflichtete er zugleich, diesen Bestrebungen nach Kräften entgegenzuwirken. Der zuständige Regierungspräsident Peters erklärte den Umstand, dass gerade das Mindener Land ein Hort korporativen Gedankenguts geblieben war, wohl zutreffend mit dem Umstand, dass eben dieser Landstrich von Territorien – Lippe, Hessen, Hannover und Oldenburg – umgeben war, in denen die Zunftverfassung noch immer ungebrochen fortlebte291. Peters vergaß nicht hinzuzufügen, dass sich der Handwerkerstand in den Nachbarländern mit Zunftordnung „im allgemeinen durch eine größere Wohlfahrt vor dem hiesigen auszeichnet.“ Auch er machte damit die preußische Gewerbegesetzgebung für die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in einigen Segmenten des Kleingewerbes verantwortlich. In den Revolutionsjahren 1848/49 hätten die Handwerker in der Provinz Westfalen und insbesondere in Minden die demokratische Partei „in sehr scharfer“ Form unterstützt, da sie merkwürdigerweise gerade von dieser die Restituierung ihrer alten Privilegien erwartet hätten. Inzwischen habe sich das Meinungsbild aber gewandelt: Die Meister seien zu der Überzeugung gelangt, dass die Erfüllung ihrer Wünsche nach Rückkehr zur Zwangsinnung von der Berliner Regierung abhinge, die damals von der konservativen Partei getragen wurde292. Daher unterstützten die westfälischen Handwerker, so Peters, nunmehr die rechte Seite des Abgeordnetenhauses. Der Minister von der Heydt wies den Mindener Regierungspräsidenten aber umgehend darauf hin, dass er sich mit seiner Bewertung der Gewerbe-Gesetzgebung in dezidiertem Widerspruch zu der Meinung der Berliner Staatsregierung befinde.293 Da die Bielefelder Meister ausdrücklich ihre alte Monopolstellung zurückverlangten,294 sah sich auch der westfälische Oberpräsident Franz von Duesberg 288 289 290 291 292
S. dazu ausführlich Deter (2005). Wie Anm. 287. Wie Anm. 287. Wie Anm. 274. Dem Ministerpräsidenten Otto von Manteuffel und dem konservativen Beamtentum lag vor allem daran, die Ausdehnung der Freiheitsrechte als Folge der Revolutionsjahre rückgängig zu machen; s. Winkler (2002), S. 133. 293 Schreiben des Handels- und Gewerbeministers von der Heydt an den Mindener Regierungspräsidenten Peters v. 3.7.1856, in: STAD, Regierung Minden, Präsidialregistratur Nr. 194, fol. 152. 294 S. Schreiben des Oberpräsidenten v. 12.6.1856, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 2, fol.
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genötigt, hiergegen entschieden Stellung zu beziehen295. Zugleich deutete er vorsichtig an, die Regierung in Minden sei an der Forderung nach Wiederherstellung der Monopolstellung der Handwerker möglicherweise nicht ganz unbeteiligt: Indem er darauf hinwies, dass das Ziel der Meister, alle Mitglieder der einzelnen Sparten des Kleingewerbes an einem Orte in jeweils ein- und derselben Innung zusammenzuschließen, um die Konkurrenz Handwerksfremder auszuschalten, durch die Anwendung des § 118 der Gewerbeordnung erreicht werden könne, warf er implizit die Frage auf, weshalb die Regierung von den Möglichkeiten des § 118 des Gesetzes bis dahin keinen Gebrauch gemacht habe.296 Insgesamt aber räumte er, des sich zunehmend an liberalen Prinzipien orientierenden Zeitgeistes eingedenk, dem Streben der Meister nach Wiederherstellung des Zunftzwanges nur geringe Erfolgschancen ein297. Nicht verhehlend, dass die diversen Initiativen des Gesetzgebers kaum etwas bewegt hatten, sagte der Oberpräsident dem Handwerk, der zeittypischen Niedergangsthese getreu, eine wenig glänzende Zukunft voraus – wobei die zur Schau getragene Distanziertheit, Kühle, gar Gleichgültigkeit dem Schicksal dieses wichtigen Wirtschaftszweiges gegenüber befremdlich erscheint298. Ein wenig zu leicht machte es sich Duesberg angesichts der dramatischen Veränderungen in Teilen des Handwerks schon – doch unterschied sich seine Haltung insofern kaum von derjenigen des Gesetzgebers. Mit ihrer Petition vom 10. Dezember 1855299 verfolgten die Bielefelder Innungen aber nicht nur das Ziel, den Innungszwang wieder einzuführen, sondern formu330. 295 „Es gewinnt indessen den Anschein, als ob von Seiten eines Theiles des Handwerkerstandes in den Minden-Ravensbergischen Kreisen weitergehende Zwecke verfolgt werden, namentlich die Ausschließung jeder anderen Conkurrenz von dem Gebiete des Gewerbebetriebes … Vom einseitigen Standpunkte der Zunächstbeteiligten betrachtet mag dieses gewisse Vortheile bieten, im allgemeinen Interesse des Publikums, welches doch als das überragende gelten muss“, läge eine solche Regelung aber nicht, bemerkte der Oberpräsident; wie Anm. 294. 296 § 118 der Gewerbeordnung sah aber keine Zwangsinnung vor. Wer erklärte, der Innung nicht beitreten zu wollen, wurde auch in der nach § 118 von der Gemeinde initiierten Innung nicht Mitglied. Wie diese Bestimmung eine Beschränkung der Konkurrenz ermöglichen sollte, bleibt unklar. 297 „Ähnliche Kundgebungen wie in Minden-Ravensberg sind aus anderen Theilen der Provinz Westphalen nicht zu meiner Kenntnis gelangt. Die sehr geringe Zahl der seit der Einführung der Gewerbe-Ordnung von 1845 zustande gekommenen Innungen beweist vielmehr, dass das Innungswesen bis jetzt bei den beteiligten Handwerkern wenig Anklang gefunden und die Überzeugung von dem Nutzen desselben noch keinen Boden gewonnen hat“. So Bemerkungen des Oberpräsidenten v. Duesberg v. 12.6.1856, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 2, S. 330. 298 „Es ist m. E. ein Verkennen der Verhältnisse, wenn man glaubt, dass dem Handwerker der Macht des Kapitals, der Maschinen und der Fabrik-Industrie gegenüber durch Innungen und ähnliche Maßregeln seine höhere Bedeutung wieder verschafft werden könne; diese (ist) durch die Gewalt der Zeitströmung untergegangen und wird es ferner bleiben, da die Verhältnisse, durch welche die Blüthe des Handwerks bedingt war, nicht ins Leben zurückgerufen werden können. Der gegenwärtige Zustand des Handwerks ist in vielfacher Hinsicht zu bedauern; allein ich vermag nicht abzusehen, wie darin eine die Wünsche der Handwerker befriedigende Änderung herbeigeführt werden könnte“, s. Anm. 297. 299 Petition der Mitglieder der Innungen und sonstigen Handwerker zu Bielefeld v. 10. Dezember 1855, s. Protokoll der 41. Sitzung des preußischen Abgeordneten-Hauses v. 14. März 1856 in:
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lierten weitere Forderungen, die teilweise direkt an das traditionelle Zunftmonopol anknüpften, teilweise aber auch damals aktuellen, den Wirtschaftsbetrieb beeinflussenden Entwicklungen entsprangen. Zu ersterer Kategorie zählte der Wunsch nach neuerlicher Abgrenzung der Arbeitsgebiete verschiedener Handwerksberufe, insbesondere der Tischler und Zimmerleute, voneinander.300 Zu nennen sind aber auch die zunfttypische Forderung nach einer Niederlassungsbeschränkung für junge Meister sowie das Petitum, Näherinnen die Ausübung der Tätigkeit als Damenschneiderinnen zu untersagen. Zu letzterer Kategorie, jenen die Handwerkswirtschaft betreffenden Veränderungen, gehörte der Wunsch der Bielefelder Meister nach Einrichtung von spezifischen Kreditbanken für Handwerker, die Forderung nach Beschränkung des Magazinwesens oder das Verlangen nach Verzicht auf Submission bei der Errichtung öffentlicher Bauten. Am 14. März 1856 wurde das Anliegen der Westfalen Gegenstand einer Debatte des preußischen Abgeordneten-Hauses.301 Die Abgeordneten, welche sich zu Wort meldeten, Graf v. Pfeil, Wagener, Marcard, Reichensberger, von Patow, Graf von Schwerin sowie der Minister von der Heydt, tauschten, je nach ihrer Zugehörigkeit zum liberalen oder konservativen Lager, all die bekannten Argumente für bzw. gegen die Zwangsinnung aus.302 Von der Heydt wandte sich dezidiert gegen eine Pflicht zur Mitgliedschaft in den Korporationen, deren Notwendigkeit er mit dem Hinweis auf die bis dahin schon eingetretenen „günstigen Wirkungen“ der Gewerbegesetzgebung einmal mehr bestritt. Die Zahl der Meister habe ab- und die der Gesellen zugenommen – eine Entwicklung, die der Minister den Maßnahmen des Gesetzgebers zuschreiben zu können glaubte und die er sich zukünftig noch verstärken sah, so dass es der Einführung der Zwangsinnung als Remedium für den Handwerkerstand nicht bedürfe. Die vorsichtig positive wirtschaftliche Entwicklung in Teilen des Kleingewerbes, die der Minister auf Grund der jährlichen Berichte der Bezirksregierungen feststellte und welche in den preußischen Gewerbetabellen auch für Westfalen ihre Bestätigung findet303, war der Masse der Zeitgenossen und insbesondere den Handwerkern selbst aber nicht bewusst, da das Debakel der durch die damals mit Macht aufstrebende Industrie verdrängten Handwerkszweige allen düster und drohend vor Augen stand. Die Diskussion im Abgeordnetenhaus spiegelte wieder, dass in der Frage der Zwangsinnung noch durchaus offen war, welche Position sich schließlich durchsetzen werde. So räumte der liberale Graf v. Schwerin ein, dass es eine Strömung „durch gewisse Schichten der Gesellschaft“ gebe, „die das Heilmittel gegen alle Übel der gegenwärtigen Zeit nur in der
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GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 306, Nr. 1, fol. 104 RS bis 109. Ähnliche Forderungen formulierten damals auch die Handwerker der Gemeinde Oldendorf und die Tischlerinnung in Erfurt, a. a. O. So auch Bericht des Goldschmiedes Schütteler aus Lippstadt v. 3.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1, Nr. 62 adh. 11 Bd. 9, fol. 179. Protokoll der 41. Sitzung des Abgeordneten-Hauses v. 14. März 1856, wie Anm. 299. Georges erwähnt den Bericht des Ausschuses für Handel und Gewerbe v. 25. Februar, s. Georges (1993), S. 80. Abgedruckt im Protokoll der Sitzung des pr. Abgeordnetenhauses v. 14.3.1856, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1, fol. 104 RS ff. S. dazu ausführlich Deter (2005).
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Rückkehr von der Freiheit zur Unfreiheit sieht, und es ist die Tendenz, den Innungszwang wiederherzustellen, durchaus keine isolierte …“. Dem hielt er aber entgegen, dass die dezidierte Auffassung der Westfalen in dieser Frage von den Berliner Handwerkern beispielsweise keineswegs geteilt werde: Die Obermeister der Mindener Innungen hatten die Bielefelder Petition auch an den Berliner „Central-Handwerker-Innungs-Verein“ gesandt und um Unterstützung ihres Anliegens gebeten; außerdem empfahlen sie den Berufskollegen in der Hauptstadt, die in Minden erscheinende „Patriotische Zeitung“ zu halten, da diese „mit seltener, und nicht genug anzuerkennender Bereitwilligkeit die Interessen des Handwerkerstandes fördere“. In der Generalversammlung des Berliner Vereins wurde die Petition aus Westfalen verlesen und die Diskussion darüber zwar eröffnet, doch war die Stimmung im dortigen Handwerk offenkundig entschieden gegen die Einführung der Zwangsinnung gerichtet, wie eine Berliner Zeitung zu berichten wusste: „Eine eigentliche Diskussion über diese Petitionsgegenstände fand nicht statt, da, wenn auch Elemente in der Versammlung, die sich diesen Anträgen hätten anschließen mögen, vorhanden gewesen wären, diese nicht gewagt haben würden, die darin aufgestellten Mittel gut zu heißen.“304 Statt sich für den Korporationsgedanken stark zu machen, gingen die Berliner Meister zur Tagesordnung über. Ein Teil der preußischen Handwerker, der großstädtische zumal, war demnach schon um die Mitte der fünfziger Jahre von dem Korporationsideal der Innung abgerückt und unterstützte das Organisations-Modell der Liberalen, welches die Zusammenarbeit der Handwerker ausschließlich auf der privatrechtlichen Grundlage des Vereins vorsah. Angesichts der eindrucksvollen Zahl der Petenten blieb der Versuch der liberalen Abgeordneten, die Forderung des korporativer denkenden Teils des preußischen Handwerks nach Einführung der Zwangsinnung als „Neustettiner Theorie“305 lächerlich zu machen, allerdings wenig überzeugend. Um die Mitte der fünfziger Jahre war der Sieg des Liberalismus in der Auseinandersetzung um die Gewerbeverfassung, wie er sich schließlich in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes manifestierte, noch keineswegs ausgemacht. Der Abgeordnete Marcard beschrieb auch die westfälische Situation zutreffend, als er darauf hinwies, dass der revolutionäre Impetus unter den Handwerkern 1848 in dem Affekt gegen die ungeliebte Gewerbefreiheit seine Ursache gehabt habe.306 Hätten die Meister an ihrer Auffassung auch in den fünfziger und sechziger Jahren geschlossen und entschieden festgehalten, wäre es dem Gesetzgeber nur schwerlich möglich gewesen, eine völlig liberalisierte Gewerbeordnung durchzusetzen. So aber wurde die Petition aus
304 Wie Anm. 302, fol. 106a. 305 Nach dem Abgeordneten für Neustettin, der sich für diese Forderung einsetzte, so bezeichnet. 306 So der Abg. Marcard in der Debatte des Abgeordnetenhauses v. 14.3.1856, in: GStA/PK, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1 fol. 106 RS. Marcard berichtete von einem der Petenten aus Herford, der sich 1856 für die Zwangsinnung aussprach. Dieser habe sich 1848 als „ein ächter Demokrat“ vorgestellt und seine Haltung damals mit folgenden Forderungen begründet: „erstens sollen die Bauernhöfe nicht getheilt werden; zweitens sollen die Zünfte und Innungen wiederhergestellt werden, und drittens müssen die Juden aus dem Lande“.
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Bielefeld, die zahlreiche Handwerker aus anderen preußischen Städten unterstützt hatten, bei nur wenigen Gegenstimmen abgewiesen.307 Die wiederholten Niederlagen der organisierten Handwerker zerrütteten das Vertrauen der Meister in ihre Interessenvertretungen ebenso schnell wie nachhaltig. Als der Handwerkerverein für die Provinz Westfalen schon 1852 seine Wirksamkeit eingestellt hatte, verschwanden auch die örtlichen Vereine bald. In Paderborn war dies bezeichnenderweise der Fall, nachdem die preußische Verwaltung verhindert hatte, dass in die Statuten der Innungen eine Privilegierung der Innungsmitglieder aufgenommen wurde308. 12. Die hochliberale Phase Die Initiative der Bielefelder Innungen blieb demnach trotz des Widerhalls, den sie im Ministerium und im Abgeordneten-Haus gefunden hatte, ohne den erwünschten Erfolg. Die Entwicklung nahm vielmehr den gegenteiligen des von den westfälischen Meistern intendierten Laufes. Seit Ende der fünfziger Jahre erlebte das liberale Denken eine Renaissance, und in der veröffentlichten Meinung begann ein Feldzug für die schrankenlose Gewerbefreiheit. 1858 erschien Viktor Böhmerts berühmte Schrift „Freiheit der Arbeit“, die trotz einer unleugbar ideologischen Ausrichtung ihre Wirkung nicht verfehlte. Noch weit größere Aufmerksamkeit erregte ein Mitglied des preußischen Abgeordneten-Hauses, der Textilunternehmer Leonar Reichenheim; dieser entfaltete seine liberalen Auffassungen in einer von der Presse stark beachteten Schrift. Unter dem Eindruck der energisch vorgetragenen Offensive ließ auch das Handels- und Gewerbeministerium seine Absicht erkennen, die Gewerbeordnung grundlegend zu ändern; um für die geplante fundamentale Neuordnung dieses Rechtsbereichs eine empirische Basis zu schaffen, initiierte der Minister 1860 eine Umfrage bei den Kommunalbehörden, deren Ergebnisse in der Tat einen umfassenden Eindruck von der Wirksamkeit der Innungen und dem Ertrag auch der anderen Bestimmungen der Gewerbeordnung von 1845 und der Verordnung vom 9.2.1849 vermitteln.309 Zwar spiegeln die Ausführungen der Bürgermeister und Landräte vor allem deren subjektive Auffassungen wider, doch lässt sich durchaus erkennen, welchen Stellenwert die Innungen für das Handwerk in Westfalen damals noch besaßen. Die Situation erwies sich aufgrund der höchst ver307 Der Ausschuss für Handel und Gewerbe hatte schon 1853 über eine ganze Reihe von Petitionen berichtet. 1856 lagen dem preußischen Abgeordnetenhaus nicht weniger als 69 Eingaben aus den verschiedensten Landesteilen zur Novellierung der Gewerbeordnung vor. Gefordert wurde die Einführung des Innungszwanges, die Beschränkung des Verkaufs von Handwerkswaren in sog. Magazinen, die Festsetzung von Arbeitsgrenzen zwischen den verschiedenen Gewerben sowie die Erschwerung der Niederlassung junger Handwerker; s. Waentig (1908), S. 24. 308 So Reininghaus (1989), S. 513. 309 Die Ergebnisse finden sich in GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9. Sie sind in dem gedruckten Bericht „Der handwerksmäßige Gewerbebetrieb in Preußen“ zusammengefasst worden, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19, Bd. 3, fol. 79 ff.; Kaufhold hat die Berichte für die Rheinprovinz und die Provinz Brandenburg ausgewertet, s. Kaufhold (1975), S. 165 ff.
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schiedenen wirtschaftlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Provinz als bemerkenswert unterschiedlich, wie schon der konzise Überblick zeigt. a. Regierungsbezirk Münster Im Regierungsbezirk Münster bestanden 1861 lediglich drei Innungen, die allesamt in der Bezirkshauptstadt selbst angesiedelt waren.310 Organisiert hatten sich dort die Kleidermacher, die Anstreicher sowie die Schmiede und Schlosser, doch existierten deren Korporationen zu Beginn der sechziger Jahre nurmehr „ohne eigentliche Lebenskraft fort“,311 wie der Magistrat berichtete. Die zuständige Regierung erwartete auch für die Zukunft keine Verbesserung ihrer Situation. Zur Erklärung boten die verschiedenen Behörden des Münsterlandes durchaus unterschiedliche Begründungen an: Während die einen meinten, die Innungen hätten aufgrund der mangelnden Beitrittspflicht keinen Anklang gefunden,312 hoben die anderen darauf ab, dass dieses Phänomen mit den fehlenden „politischen Befugnissen“ der Korporationen, worunter sowohl hoheitliche Aufgaben als auch eine effiziente Interessenvertretung verstanden werden können,313 zu erklären sei. In Münster wurde aber auch beklagt, dass der Gesetzgeber die Förderung des kleingewerblichen Wirtschaftsbetriebes, etwa den gemeinschaftlichen Einkauf, nicht den Innungen überantwortet oder den Mitgliedern nicht andere handfeste Vorteile verschafft habe.314 Unter den gegebenen Umständen sah die dortige Regierung jedenfalls keinen Anhaltspunkt für eine erfolgreiche Entwicklung der Korporationen in der Zukunft. Trotz dieser wenig hoffnungheischenden Situation und ihres offenkundigen Desinteresses an den Innungen legten die Obermeister der drei Münsteraner Korporationen ebenso wie die Handwerker und Lokalverwaltungen des Münsterlandes merkwürdigerweise aber keinen Wert auf eine Änderung der Gewerbeordnung; vielmehr betonten sie, dass die mit den Korporationen verbundenen Unterstützungskassen „im höchsten Grade segensvoll“ gewirkt hätten.315 Offenbar fürchte310 GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19, Bd. 3, fol. 80. Eine detaillierte Auswertung der Umfrage, die hier lediglich konzis zusammengefasst wiedergegeben wird, findet sich bei Deter (2003/2004), S. 267–299 (277 ff.). 311 Bericht des Magistrats der Stadt Münster v. 13. September 1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 8, fol. 165; desgl. Schreiben der Reg. Münster an den Gewerbeminister von der Heydt v. 30.9.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 9, Bd. 1, fol. 4 ff. 312 Wie Anm. 311. 313 So Schreiben der Reg. Münster an das Handelsministerium v. 20.9.1860, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. 314 Wie Anm. 313; schließlich seien die Zünfte auch nur deshalb so erfolgreich gewesen, weil sie sich dieser Aufgabe angenommen hätten; dieser Auffassung schloss sich auch der Oberpräsident in Münster an; neben „materiellen Vortheilen, welche die Innungen nicht böten“, verwies er auch auf die lange zunftlose Zeit in Westfalen, welche die Erinnerung an das korporative Modell in der Provinz habe verblassen lassen; s. Bericht des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen v. 16.10.1860, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794. 315 Stellungnahme der Obermeister der in Münster bestehenden Innungen, v. 9. September 1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr.62 adh. 11, Bd. 8, fol. 168, 169. So Bericht der Reg. Münster, die Abänderungen der Gewerbeordnung betreffend, v. 2.11.1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 8, fol. 3–7 RS. So Schreiben des Magistrats der Stadt Dortmund v. 11.9.1861,
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ten sie im Zusammenhang mit einer Liberalisierung der Bestimmungen, um die es bei der Diskussion Anfang der sechziger Jahre doch ging, eine Beseitigung dieser erfolgreichen Institute; wirksame Interessenvertretung, erfolgreiche Einflussnahme auf die Gesetzgebung gar erhofften sie von den Innungen jedoch schon längst nicht mehr. Gleichwohl zogen sie den gegebenen Rechtszustand aber einer völligen Liberalisierung vor – was sich vielleicht mit einem gewissen Konservativismus, der ihnen eigentümlich gewesen sein mag, eher aber noch mit dem Einfluß der katholischen Kirche erklären lässt, die den Liberalismus und all seine Ziele damals vehement bekämpfte. b. Regierungsbezirk Arnsberg Die Mehrzahl der Innungen, die in Südwestfalen nach Erlass der Gewerbegesetzgebung errichtet worden waren, verschwand bald wieder. 1860 ließen sich lediglich noch in Bochum, Hattingen, Soest, Werl, Lippstadt, Berleburg und Laasphe Korporationen nachweisen316 – denen die Arnsberger Regierung aber sans phrase absprach, „den intelligenteren Theil des Handwerkerstandes“ zu repräsentieren. Die Behörde warf diesen wenigen vorhandenen Innungen vor, dass es ihnen keineswegs um die Förderung beruflicher Interessen zu tun sei. Stattdessen gehe es ihnen lediglich um Gewerbebeschränkung, den Erwerb eines Monopols gar oder doch wenigstens um die Verringerung der Konkurrenz. Mit einer Flut von Beschwerden und Denunziationen hätten sie die nicht zünftigen Handwerker, die Behörden und auch das Publikum belästigt. Aber auch in weniger grundsätzlichen Fragen ließ die Regierung an den Innungen kein gutes Haar: Ihre Prüfungskommissionen „haben sich von jeher eine Menge von Unregelmäßigkeiten zu Schulden kommen lassen, welin: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 8, fol. 34 RS, 35. Ebenso die Dorstener Handwerker: „Wir unterzeichneten Handwerker gehören zwar nur zu den schlichten Leuten, soviel gesunden Menschenverstand haben wir aber gottlob, um mit Händen greifen zu können, dass es um den Handwerkerstand geschehen ist, wenn die Allgemeine Gewerbeordnung v. 17. Januar 1845 und die damit in Verbindung stehende Allerhöchste Verordnung v. 9. Februar 1849 gänzlich hinweggeräumt und immer zügellosere Gewerbe-Freiheit, worauf der immer mehr um sich greifende Liberalismus mit allen Mitteln hinstrebt, Thür und Thor geöffnet wird. Während der Kern des Handwerkerstandes und auch selbst der Preußische Landes-Handwerkertag für die bestehende Gewerbegesetzgebung sich ausspricht, erscheint es in der Tat sonderbar, dass gerade solche Leute, namentlich bankrotte Kaufleute und Fabrikanten, Advocaten und Aerzte ohne Praxis, verunglückte Industrielle, abgesetzte Professoren, verschuldete Literaten und dergleichen Subjecte mehr alles in Bewegung setzen, um den Handwerkerstand in ein abhängiges Proletariat zu verwandeln und um dasjenige mit Stumpf und Stiel zu beseitigen, was bisher noch zur Selbsterhaltung des Handwerkerstandes beitrug. Dass auch die schlechte Presse in das frivole Geschrei der ungebundenen Gewerbefreiheit einstimmt, ist natürlich denn auch sie will die öffentliche Meinung gegen den Bürgerstand aufstacheln, weiter nichts als den Ruin des Handwerkers, dagegen die Erhebung des Capitals…“, so Stellungnahme der Handwerker der Stadt Dorsten v. 11. September 1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 8, fol. 38–39 RS. Vgl. dazu im Einzelnen Deter (2003/2004), S. 267–299 (277 ff.). Zur Ablehnung liberaler Bestrebungen in der Wirtschaft durch die katholische Kirche im Rheinland vgl. Krämer (1999), S. 245, 246. 316 Nachweise finden sich in GStA/PK Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9.
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che den Behörden häufig Ursache zum Einschreiten gegeben haben“, klagte sie, und die Unterstützungs-, Kranken- und Sterbekassen der Innungen befänden sich in schlechterem Stande als diejenigen der nicht korporierten Meister. Immerhin wies die Regierung in Arnsberg aber auch darauf hin, dass sich die Innungen als Institution im ländlich-kleinstädtischen Südwestfalen nicht nur aufgrund eigener Unzulänglichkeit, sondern auch wegen der gesetzgeberischen Vorgaben nicht durchsetzen konnten – ein Umstand, der sich aus den Anforderungen an die Zahl der Handwerker in den einzelnen Gewerken an einem Ort zwangsläufig ergab.317 Der Bürgermeister der Kleinstadt Menden beklagte „viel Umpractisches“ in der Verordnung vom 9. Februar 1849318, und der Amtmann aus Sundwig hielt die „geistige Entwicklung und Bildung“ der Handwerker in seinem Bezirk für unzureichend, um erfolgreich Innungen organisieren zu können319. Nicht einmal alle westfälischen Handwerker selbst machten sich damals, 1860, noch für das Fortleben ihrer Innungen stark, da auch sie, inzwischen offenbar von der Woge liberalen Gedankengutes überschwemmt und von der Wirkungslosigkeit der Innungen enttäuscht, gewerbefreiheitliche Überzeugungen zu vertreten begannen. Der Vorsitzende der Kreisprüfungskommission in Lippstadt, der Goldschmied Schütteler, erklärte apodiktisch, dass diese „ihre Lebensbefähigung verloren“ hätten „und für unsere Zeit nicht mehr passen“, während er den Gewerbe- und Fortbildungsschulen sowie den Krankenund Unterstützungskassen immerhin eine „wohltätige Wirksamkeit“ zuzugestehen bereit war.320 Vor allem die unhaltbare Situation des Prüfungswesens spreche „zu deutlich für die Nothwendigkeit des Aufhörens der Innungen, als dass man ihrem Fortbestehen das Wort reden könnte“,321 erklärte der erfahrene Praktiker illusionslos. Ähnlich pointiert wie der Lippstädter Goldschmied formulierte der Bürgermeister des benachbarten Soest, jener Stadt, in welcher das Innungswesen in Westfalen, von den Meistern hoffnungsfroh initiiert, ein Dezennium zuvor seinen Ausgang genommen hatte, die Kritik an den Korporationen. Zwar waren in der Bördestadt auch 1860 noch die vier Innungen der Schneider, Schuster, Weber und Tisch317 So z. B. für die Kreisstadt Olpe im Sauerland: Bericht des Bürgermeisters von Olpe v. 13.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 303. So auch der zusammenfassende Bericht der Reg. Arnsberg, s. GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19 Bd. 3, fol. 85. Zu den Ergebnissen der Umfrage im Bezirk Arnsberg ausführlich Deter (2003/2004), S. 267–299 (279 ff.). 318 Bericht des Bürgermeisters von Menden v. 28.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 163 ff. 319 Bericht des Amtmannes zu Sundwig v. 31.8.860, in: GSta/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 161. 320 Bericht des Goldschmiedes und Vorsitzenden der Kreisprüfungskommission zu Lippstadt, Schütteler, v. 3. August 1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 177; Schütteler hatte seinen Bericht auf Aufforderung des Landrates v. Schorlemer verfasst, der sich seinerseits für die Beibehaltung der bestehenden Gewerbegesetzgebung und gegen die Einführung der unbeschränkten Gewerbefreiheit aussprach; s. Bericht des Landrates des Krs. Lippstadt, v. Schorlemer, v. 11.8.1860, a. a. O., fol. 174 ff.. Zur Begründung seiner Auffassung führte Schütteler aus, dass „die alte Weise der Vergangenheit dem Volke fremd geworden“ sei. Hierzu ausführlich Deter (2003/2004), S. 267–299 (280 f.). 321 Wie Anm. 320, fol. 178 RS.
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ler vorhanden, doch erschöpfte sich deren Bedeutung lediglich in einer einzigen Facette des gesetzgeberischen Auftrages, den Krankenunterstützungs- und Sterbekassen.322 Nach Jahren des Siechtums ihrer Korporation lösten die Soester Schneider am 8. Oktober 1868 dieselbe durch Beschluss einer außerordentlichen Mitgliederversammlung auch formell auf.323 Das nämliche galt ein Jahr später für deren Krankenkasse.324 Die drei weiteren Korporationen der Stadt bestanden zwar förmlich noch 1873, doch waren auch ihre Aktivitäten damals längst erloschen, so dass die Stadtverwaltung ebenfalls die Auflösung verlangte,325 was auch geschah.326 Ganz anders als in der unverändert agrarisch geprägten Hellweg-Region um Lippstadt oder Soest entwickelte sich die wirtschaftliche Situation des Handwerks in den Bergbau- und Industrierevieren des entstehenden Ruhrgebiets – ein Umstand, der sich für die Entwicklung des Innungswesens als nicht unerheblich erwies. Bei der dort herrschenden Konkurrenz um Arbeitskräfte konnte das Kleingewerbe nicht mithalten. Da sich die wenigen Innungen aufgrund der Rechtslage der Förderung des handwerklichen Wirtschaftsbetriebes nicht annehmen durften, mussten sie die Meister mit den aus der stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung der Region resultierenden existentiellen Problemen allein lassen.327 Was wunder, dass die Handwerker dem verordneten Organisationsmodell des Staates faktisch die Daseinsberechtigung absprachen? Auf solche Zusammenhänge wies der Magistrat der Stadt Bochum hin328. In Bochum machte dem Kleingewerbe zugleich die dort 322 „Sonstige gemeinnützige Einrichtungen sind bei den hier bestehenden vier Innungen … nicht hervorgetreten, auch die Innungsversammlungen und die dort zum Vortrage gebrachten Gegenstände sind nicht von Bedeutung. Meistens bestehen sie in Unterhaltungen über die Kundschaft der einzelnen Genossen und deren Werth; mitunter wird der eine oder andere der Genossen zur Rede gestellt, dass er zu billig arbeite und dadurch das Handwerk verderbe“. … „Der einzige praktische Werth, den die Innungen bisher gehabt haben, ist die Vereinigung ihrer Genossen zu gemeinschaftlichen Kranken-, Unterstützungs- und Sterbekassen.“ Bericht des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 12.9.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 243 RS. Im Einzelnen dazu Deter (2003/2004), S. 267–299 (281–283). 323 Stadtarchiv Soest XIX g 15. 324 Die Krankenkasse wurde durch Beschluss v. 6.1.1869 liquidiert. Die Sterbekasse der Kleidermacher blieb dagegen bestehen; s. Stadtarchiv Soest XIX g 15. 325 So Denkschrift des Soester Beigeordneten H. Wenning v. 17. April 1873, s. Joest (1978), S. 188. 326 So Statistik des Kreises Soest … (1881), S. 160. 327 Zwar gab es in der Monarchie durchaus auch Innungen, deren Mitglieder „Vereinigungen“ zum Ankauf von Rohmaterialien oder zur Errichtung von Verkaufsmagazinen gegründet hatten. Die Regierung in Arnsberg war aber dezidiert der Ansicht, dass rein wirtschaftliche Ziele eher durch sog. „freie Assoziationen“ als durch Innungen zu erreichen seien. Man verwies auf die zahlreichen Vorschuss- und Kreditkassen, Einkaufsgenossenschaften etc., welche außerhalb der Innungen damals bereits erfolgreich tätig waren; s. Schreiben der Reg. Arnsberg, in: GStA/ PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 84 RS. 328 „Ein Grund, weshalb das Innungswesen und das corporative Element im Handwerkerstande im Allgemeinen keinen Fuß gefasst hat, dürfte aber auch darin liegen, dass das Sprichwort: „Handwerk hat einen goldenen Boden“ für die Verhältnisse der hiesigen Stadt und Umgegend nicht mehr zu passen scheint. So lange der Bergmann und der Fabrikarbeiter mit leichterer Mühe einen höheren Lohn verdient als der Handwerker, und dies war in den letztvergangenen Jahren in hohem Maße der Fall, führt der Handwerkerstand nur ein vegetierendes Dasein und ein
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bereits voll entwickelte Konkurrenz der „Magazine“ und die industrielle Fertigung von Handwerkswaren besonders schwer zu schaffen. Zwar glaubte der Magistrat – zeittypisch –, dass hiergegen „gut organisierte Assoziationen schützen“ könnten. Um solche zu schaffen, fehle den Handwerkern aber „in den meisten Fällen die nothwendig erforderliche Selbstverleugnung, die Intelligenz und das Capital“.329 Die nämliche Situation wie in Bochum fand sich auch im naheliegenden Hagen. Wegen der geringen Bedeutung des Handwerks hatte es dort von vornherein am Bedürfnis, Innungen zu errichten, gefehlt. Und die Schlossschmiede im benachbarten Volmarstein lösten ihre Innung schon kurz nach deren Konstituierung wieder auf.330 In der damals bedeutenden Industriestadt Iserlohn hatten die Meister an die Gewerbegesetzgebung dagegen zunächst die Hoffnung geknüpft, zünftige oder zunftähnliche Korporationen wiederbeleben zu können. Die Bestimmungen bewirkten aber auch dort nur wenig.331 Sans phrase sprach sich der Magistrat der Stadt deshalb für die Gewerbefreiheit aus.332
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korporativer Geist kann in demselben nicht zur Blüthe kommen“. So Bericht des Magistrats der Stadt Bochum v. 23.7.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11 Bd. 9, fol. 50, 50 RS; um seine Analyse zu belegen, führte der Magistrat weiter aus: „Es gab im Jahre 1857 eine Zeit, wo auf der Grube „Präsident“ allein 21 Schneider vor Ort lagen, die der Nadel und dem Bügeleisen den Rücken gekehrt, und dafür die Feilhaue zur Hand genommen hatten. Es kam in den verflossenen Jahren vor, dass in Bochum zeitweise zur Bewältigung der laufenden Arbeitsbedürfnisse 10 Schustergesellen und bis zu 20 Schneidergesellen, oder aber 20–40 % fehlten. Noch jetzt kann man auf unseren Fabriken, wie z. B. auf der hiesigen Gußstahlfabrik die Handwerker, die dem erlernten Handwerk untreu geworden sind, zu Dutzenden zählen. Sie ziehen es vor, ihre Selbständigkeit zu opfern, um der mit der selbständigen Führung ihres Handwerks verbundene Verantwortlichkeit überhoben zu sein; und wenn auch das Verdienst geringer ist, sie haben alle 14 Tage mit Sicherheit ihren Lohn zu erwarten und sind vor Verlusten bewahrt“. Das nämliche wurde auch aus Iserlohn berichtet: „… Kleine Meister verließen das Handwerk, wurden Fabrikarbeiter und Bergleute“; s. Bericht des Magistrats der Stadt Iserlohn v. 7.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 151 RS, 152. Bericht des Magistrats der Stadt Bochum v. 23.7.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9, fol. 51: „Wir haben Kleidermagazine, Schuhmagazine, Sargmagazine, Möbelmagazine, Schreinerwerkstätten für größere Lieferungen usw. Der Handwerker in seiner isolierten Stellung kann hiergegen nicht aufkommen, und muss allmählich immer mehr von seiner Selbständigkeit einbüßen. Beispielsweise ist der Nagelschmied durch die Fabrikation der Drahtnägel vollständig unterdrückt, und wo er sich noch hält, zum gewöhnlichen Fabriker geworden, der für den größeren Fabrikanten und Kaufmann arbeitet“. Wenngleich der Bochumer Magistrat durchaus einzuräumen bereit war, dass die Prüfungsbestimmungen „auf die tüchtige Ausbildung der Lehrlinge und Gesellen einen … belebenden Einfluss“ ausübten, glaubte er aber nicht, dass dieser Umstand allein ausreiche, um den „ungleichen Kampf mit dem Großgewerbe“ bestehen zu können; er prognostizierte vielmehr, dass das Handwerk „von demselben erdrückt“ werde. Wie Anm. 328, fol. 51. Bericht des Landrates des Krs. Hagen v. 26.9.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 110. Bericht des Magistrats der Stadt Iserlohn v. 7.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 153: „Die Praxis hat die Theorie bewältigt, die beiden Institute der Innungen und Gewerberäthe beseitigt, und sie gibt auch den Maßstab, nach welchem der Nutzen der Handwerker-Innungen zu beurtheilen ist“, meinte man in Iserlohn. Wie Anm. 331, fol. 151 RS.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Auch im Kreise Altena hatte kein Bedürfnis nach der Errichtung von Innungen im Sinne der Gewerbeordnung bestanden. Immerhin entfaltete sich dort aber, wegen der zahlreich vorhandenen Kranken- und Sterbeladen, jedenfalls dieser Aspekt des genossenschaftlichen Modells.333 Ähnliches galt für Hattingen.334 Aus Hörde wurde unter Hinweis auf die dort vorhandene Gesellenlade und Krankenunterstützungskasse für Gesellen und Arbeiter von einem „wirklich wohltätigen Einfluss der an die Innungen geknüpften gemeinnützigen Einrichtungen“ berichtet.335 War der Erfolg des eigentlichen Innungsmodells im prosperierenden märkischen Sauerland schon gering, so überrascht es kaum, dass von einem solchen im ehemals kurkölnischen Landesteil kaum mehr gesprochen werden kann. In den ländlichen Gemeinden, in denen die Handwerker weit verstreut lebten und arbeiteten, konnte es, wie schon festgestellt, wegen der zu geringen Zahl der an einem Ort vorhandenen Meister nicht zu Zusammenschlüssen im Sinne der Gewerbeordnung kommen.336 Nicht minder gewichtig war der Umstand, dass die Landhandwerker wegen der Eigentümlichkeit ihres Wirtschaftsbetriebes kaum ein ernsthaftes Interesse an solchen Aktivitäten entwickelten. Denn in den Dörfern des Sauerlandes lebten die Meister in aller Regel nicht ausschließlich von ihrer gewerblichen Tätigkeit. Sie verdingten sich zusätzlich als Tagelöhner oder gingen einem Neben- oder Haupterwerb in der Landwirtschaft nach.337 Ursächlich hierfür war die geringe Entlohnung der Handwerksarbeit und die unzureichende Auftragslage. Aber auch in den Landstädten, Brilon sei hier als Beispiel genannt, war es nach 1850 nicht zu einer wirklichen Revitalisierung des korporativen Lebens gekommen,338 wobei all die schon genannten Gründe das je Eigene zu diesem Ergebnis beitrugen. Die wenigen Innungen blieben bedeutungslos.339 Eine Entfaltung der beruflichen Fähigkeiten der Meister war von diesen demnach auch nicht zu erwarten.340 333 Der Landrat berichtete 1860, die Errichtung der Unterstützungskassen nach den §§ 56 ff. der Gewerbeordnung habe „mittelbar ein innigeres Zusammenhalten der verschiedenen Handwerkergruppen, ein quasikorporatives Leben derselben“ im Kreise bewirkt. Bericht des Landrats des Krs. Altena v. 26.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Vol. 9, fol. 7. 334 Es lässt sich nachweisen, dass dort eine 1857 errichtete Kleider-, Kappen- und Hutmacher-, Schuster- und Sattlerinnung bestand, die 1860 über 50 Mitglieder zählte. Wie ausdrücklich bemerkt wurde, verfügte auch sie über eine Kranken- sowie eine Witwen- und Waisenkasse. Bericht des Bürgermeisters von Hattingen v. 18.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 61, 62. 335 Bericht des Bürgermeisters von Hörde v. 3.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 82. 336 So z. B. der Amtmann von Marsberg am 16.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 79, 79 RS. 337 So z. B. Bericht des Amtmanns von Medebach v. 15.8.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 9, fol. 80 RS. 338 S. Bericht des Bürgermeisters von Brilon v. 24.7.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 73 ff. 339 Bericht der Handelskammer für die Krs. Arnsberg, Meschede und Brilon in Arnsberg v. 24.10.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 275. 340 S. Bericht der Handelskammer in Bochum v. 8.10.1860, wie Anm. 339, fol. 279, 280; den
B. Die Innungen
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Eine Sondersituation hatte sich, worauf bereits hingewiesen wurde, wegen der dort bis 1845 unverändert fortlebenden Zünfte für das Innungswesen im Kreis Wittgenstein-Berleburg ergeben.341 Betrachtet man das Urteil der Verwaltungsbeamten und ehrenamtlichen Bürgermeister, aber auch der Handwerker selbst über die Wirksamkeit der Innungen in Südwestfalen im Focus, so ist natürlich stets zu berücksichtigen, dass diese Stellungnahmen unter dem Einfluss eines dezidiert liberalen Zeitgeistes zu Papier gebracht worden sind, was zu gelegentlich übertriebener Kritik an den Korporationen Anlass gegeben haben dürfte. Andererseits wurden positive Aspekte wie das Kassenwesen der Innungen von den Auskunftspersonen aber durchaus unvoreingenommen gewürdigt. Im Ergebnis wird man deshalb die wenig schmeichelhafte Bewertung der Tätigkeit dieser Zusammenschlüsse, welche die Quellen nahe legen, als zutreffend erachten müssen. b. Regierungsbezirk Minden Das Innungswesen im Regierungsbezirk Minden nahm innerhalb Westfalens eine Sonderstellung ein. Denn dort bestanden 1860 immerhin 38 Korporationen, die sämtlich erst nach 1850 errichtet worden waren. Der Initiative des Gesetzgebers waren vor allem die Angehörigen der wenig einträglichen Massenhandwerke der Schuhmacher, Tischler und Schneider gefolgt, welche allein 27 Innungen gegründet hatten.342 Gleichwohl erfassten die Korporationen aber auch in Ostwestfalen nur eine Minderheit der Kleingewerbetreibenden: Es ist errechnet worden, dass den Innungen 1854 802 Meister angehörten; damit vermochten diese kaum mehr als 7
Prüfungsvorschriften, Fortbildungsschulen und Unterstützungskassen wurde dagegen durchaus erhebliche Bedeutung beigemessen, wie Anm. 339, fol. 275, 275 RS. 341 Aufgrund der Widersprüchlichkeit der Quellen ist es aber schwierig, ein zutreffendes Bild der dortigen Gegebenheiten zu zeichnen. So berichtete der zuständige Landrat einerseits von der „außerordentlichen Untüchtigkeit der Handwerker“ und der „äußerst niedrigen Stufe, auf welcher jeglicher Gewerbebetrieb in unserem Kreise steht“, um dann gleichwohl zu behaupten, die Innungen in Berleburg und Laasphe hätten einen „wohltätigen Einfluss gehabt“. Bericht des Landrats des Kreises Berleburg v. 18. Oktober 1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 256, 256 RS. Hierbei stützte sich der Landrat auf den Bericht des Bürgermeisters der Kleinstadt Laasphe, der bemerkte, dass die Gewerbegesetzgebung „das korporative Element“ der bis dahin nur „locker zusammenhängenden“ Zünfte gestärkt habe. Die sich aus den Prüfungsgebühren ergebenden Überschüsse verwendeten die dortigen Innungen zur Unterstützung von Witwen und Waisen der Gewerksgenossen sowie zur Förderung der Fortbildung strebsamer Lehrlinge. So GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11 Bd. 9, fol. 265–269; GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 80. Der Bericht v. 30.8.1860 findet sich in GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 265 ff. 342 Die Innungen im Reg. Bez. Minden verteilten sich auf folgende Handwerkssparten: 10 Schuhund Pantoffelmacher-Innungen, 9 für Tischler und Stellmacher, 8 für Schneider, 5 für Schlosser und Schmiede, 2 für Bäcker, 1 für Färber, 1 für Drechsler, 1 für Weber sowie 1 für Glaser und Maler; s. Bericht der Reg. Minden an das Handels- und Gewerbeministerium v. 12.11.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 9, Bd. 1, fol. 30.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Prozent der selbständigen Handwerker in dem Bezirk zu organisieren.343 Aus dem Umstand, dass sich nach 1854 nur noch zwei weitere Innungen in Ostwestfalen gebildet, eine aber aufgelöst hatte und die Zahl der Mitglieder eher ab- als zunahm, schloss die Regierung 1860 – durchaus zutreffend –, dass eine weitere Ausbreitung des Korporationsgedankens auch in Ostwestfalen nicht zu erwarten sei. Bemerkenswert ist, dass sich die Innungen nicht nur hinsichtlich der Berufssparten, sondern auch in räumlicher Beziehung durchaus ungleich verteilten: In den Kreisen Halle, Wiedenbrück, Büren und Warburg war nicht eine Innung, im Kreis Höxter eine und im Kreis Paderborn immerhin zwei entstanden. Die übrigen 35 verteilten sich auf die Kreise Minden, Lübbecke, Herford und Bielefeld. Hieraus auf ein blühendes korporatives Leben wenigstens in Minden-Ravensberg zu schließen, wäre gleichwohl aber verfehlt: Auch die – den Innungen allerdings wenig freundlich gesonnene – Regierung in Minden stellte 1860 nüchtern fest, dass die wohlhabenden, tüchtigen und intelligenteren Meister in den Innungen fehlten.344 Sie machte kein Hehl daraus, dass sie einen förderlichen Einfluss der Innungen auf das Handwerk „nach den hier gemachten Erfahrungen“ eher zu bezweifeln geneigt war.345 Selbst die Innungsmeister seien weit davon entfernt, sich hinsichtlich der Ausbildung und Behandlung der Lehrlinge Vorschriften seitens der Korporationen machen zu lassen.346 Noch geringer wie auf die Lehrlinge sei der Einfluss der Innungen auf die Gesellen, da die Korporationen diesen gegenüber kaum in Erscheinung getreten seien.347 Die Regierung in Minden hatte ihre Umfrage zur Änderung der Gewerbeordnung allerdings auf die Gemeindevorstände der größeren Städte in ihrem Bezirk, nämlich Minden, Herford, Bielefeld und Paderborn, beschränkt. Die Ergebnisse 343 S. Denkschrift des Handels- und Gewerbeministeriums, 1860, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 80; von 10882 Meistern, die im Jahre 1860 im Regierungsbezirk Minden tätig waren, gehörten nur etwa 800 den Innungen an. 344 Wie Anm. 342, fol. 31. 345 Wie Anm. 342, fol. 32. 346 Die Innungsvorstände verschafften sich hiervon allenfalls einen unzureichenden Eindruck – ein Umstand, zu dem sich bezeichnenderweise die Tatsache füge, dass sich die Innungen für die Handwerkerfortbildungsschulen sehr wenig interessiert und jedenfalls nichts zu ihrem Erfolg beigetragen hätten. Die Mindener Regierung bedauerte diese Abstinenz der Korporationen, da das Handwerk „bedeutenden Zuwachs … aus den untersten Volksschichten“ erhalte und deshalb die Förderung der Elementarbildung der Lehrlinge not tue. Zahlten die Meister aber das Schulgeld nicht, könnten die Jungen mangels eigener Mittel die Möglichkeit zur Verbesserung ihrer zumeist nur rudimentären Kenntnisse nicht nutzen. Implizit machte die Regierung die Gleichgültigkeit der Innungsmeister dafür verantwortlich, dass die Fortbildungsschule in Herford 1859 „wegen Mangel an Theilnahme“ geschlossen werden musste und die Schule in Minden „auch nicht recht gedeihe“, wie Anm. 342, fol. 33. 347 Solcher Abstinenz korrespondierte der Umstand, dass das bis dahin „ziemlich enge, patriarchalische Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen“ sich damals auch in den größeren westfälischen Städten schnell lockerte, zumal es auch dort nicht mehr selbstverständlich war, dass die Gesellen im Meisterhause wohnten. Die Gesellen waren durch ihre Unterstützungskassen wesentlich effizienter organisiert als die Meister in ihren wenigen Innungen, so dass von einer Einflussnahme der Korporationen auf die Arbeitsverhältnisse in Westfalen nicht die Rede sein konnte. So auch die Mindener Regierung, wie Anm. 342, fol. 34.
B. Die Innungen
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können deshalb nicht als repräsentativ für den gesamten Bezirk betrachtet werden. Die Antworten zeichnen zudem kein objektives Bild der organisatorischen Situation des Handwerks an diesen Orten, sondern spiegeln vor allem die subjektiven Überzeugungen der jeweiligen Bürgermeister; dementsprechend unterschiedlich fielen die einzelnen Stellungnahmen aus. Ortsstatutarische Regelungen, durch welche nach § 45 der Verordnung v. 1849 die Aufnahme, Aufsicht und Entlassung der Lehrlinge auch der den Innungen nicht angehörenden Meister den Korporationen übertragen werden konnten, wurden in Ostwestfalen lediglich in der Stadt Minden und denjenigen Gemeinden des Kreises Lübbecke, in denen sich Innungen gebildet hatten, erlassen.348 In ihrem Urteil über Wert und Unwert des Instituts waren die Kommunalvertreter allerdings völlig uneinig. Der Bielefelder Bürgermeister Huber setzte sich, indem er kompromisslos gewerbefreiheitliche Überzeugungen vertrat und die Innungen für gänzlich überflüssig erklärte, in direkten Gegensatz zu den Vertretern der Nachbarstädte. Da es durchaus überflüssig sei, die Aufgaben der Innungen überhaupt wahrzunehmen, könnten diese, ihrer hoheitlichen Funktionen entkleidet, als „freie Genossenschaften“ fortexistieren; einen besonderen gesetzlichen Schutz verdienten sie jedenfalls nicht349. Ähnlich ablehnend, gar abfällig äußerte sich auch der Mindener Oberbürgermeister zu den Innungen, wobei er sich insbesondere auf die Erfahrungen mit deren Prüfungspraxis bezog350: Obgleich dezidierter Gegner des Innungswesens, sprach sich der Mindener Oberbürgermeister merkwürdigerweise dann aber doch für die Beibehaltung der Gewerbegesetzgebung aus351 – und teilte damit die wenig stringente Auffassung der münsterländischen Meister. Weniger differenzierend votierte der Herforder Bürgermeister Strosser, der aus der Forderung des 1860 in Stettin abgehaltenen preußischen Landeshandwerkertages, die Gesetze der Jahre 1845/49 beizubehalten, ganz unbefangen schloss, dass auch die Bestimmungen über das Innungswesen den Interessen der Handwerker entsprächen. Das Scheitern der wenigen in Westfalen ins Leben gerufenen Innungen entschuldigte er nicht allein mit den politischen Aufgeregtheiten während ihrer Anfänge, sondern mehr noch mit den in der Tat ganz unzureichenden Befugnissen, die der Gesetzgeber diesem Institut zuzugestehen bereit gewesen war. Verweisen konnte der Bürgermeister bei seiner Ursachenforschung nicht zu Unrecht auf die in Westfalen abgerissene korporative Tradition; schließlich war offenkundig, dass die 348 Wie Anm. 342, fol. 31 RS 349 So Bericht des Bürgermeisters von Bielefeld, Huber, v. 9.11.1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 8, fol. 207: „Der Erfolg, den diese Vereine erzielt haben, zeigt eindeutig, dass die Innungen, wenn sie anders Lebensfähigkeit in sich tragen, ebenso wohl der gesetzlichen Vorzüge entbehren können, als sie dafür an Freiheit und Bewegung und Unabhängigkeit von beschränkenden Formen und Bedingungen gewinnen“. Zu den Ergebnissen der Umfrage in Ostwestfalen im Detail s. Deter (2003/2004) S. 267–299 (289 ff.). 350 Stellungnahme des Oberbürgermeisters der Stadt Minden v. 29. August 1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 8, fol. 185 RS. 351 S. Stellungnahme der Reg. Minden v. 11.12.1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 8, fol. 170, 170 RS.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Innungen in Ostelbien, wo sie an die noch vorhandenen Zünfte anknüpfen konnten, erfolgreicher agiert hatten als in den westlichen Provinzen der Monarchie.352 In der nämlichen Weise verwandte sich auch der Paderborner Bürgermeister Wördehoff für die Beibehaltung des geltenden Gewerberechts und damit auch für den Fortbestand der Innungen.353 Das widersprüchliche Urteil der Vertreter der Kommunalverwaltungen in Ostwestfalen beeinflusste die Mindener Bezirksregierung kaum. Sie schloss sich weitgehend den Resolutionen des Hauses der Abgeordneten zur Gewerbereform an.354 Die Regierung hielt die Aufnahme der Lehrlinge vor der Innung oder Kommunalbehörde für überflüssig und für eine Belästigung der Verwaltung;355 auch wandte sie sich gegen das staatliche Prüfungswesen für Handwerker; andererseits wies sie auf Gründe zur Aufrechterhaltung des § 127 der Gewerbeordnung hin.356 Die Durchführung von Prüfungen wollte die Regierung ausschließlich den Innungen überantworten, da sich ihnen, sofern die Examen freiwillig seien, ohnehin nur noch die an den Korporationen interessierten jungen Leute unterziehen würden.357 Auch sollten die öffentlich-rechtlichen Befugnisse der Innungen nach den §§ 137,358 153,359 168360 der Gewerbeordnung von 1845 sowie dem § 56361 der Verordnung von 1849 nach Meinung der Mindener Beamten aufrechterhalten werden, da den Innungen sonst, wie man annehmen musste, vollends der Lebensfaden abgeschnitten wurde. Einen solchen Schritt wollte die Mindener Regierung aber nicht unterstützen. Die Existenz der Korporationen werde durch die von der Regierung befürwortete Aufhebung des Prüfungszwanges für diejenigen, welche sich keiner Innung 352 So der Bürgermeister von Herford in seiner Stellungnahme v. 17.9.1861, wie Anm. 286, fol. 200 RS unter Bezugnahme auf die 1860 erstatteten Berichte der Behörden im ostelbischen Preußen zu diesem Gegenstand. 353 S. Bericht des Bürgermeisters von Paderborn, Wördehoff, v. 30.10.1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 8, fol. 215 RS, 216: „Schließlich glauben wir auf die Wahrnehmung aufmerksam machen zu müssen, dass ein wiederholtes Infragestellen der Gewerbeordnung, der Prüfungen, der Lehrzeit sowie der ganzen in die Hände der Innungen gelegten Disciplinar-Gewalt das gute Verhältniß zwischen dem Meister und seinen Gesellen lockert, selbst gutwillige Lehrlinge trotzig macht, kurz, dass es im Stande ist, eine Menge junger Leute in schädliche, eventuell gefährliche Bahnen zu lenken“. 354 Stellungnahme der Reg. Minden v. 22.12.1861, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62, adh. 11, Bd. 8, fol. 171. 355 Wie Anm. 354, fol. 174. 356 Wie Anm. 354, fol. 171 RS. 357 Wie Anm. 354, fol. 174, 175. 358 Nach § 137 der Gewerbeordnung war zur Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten für den Fall, dass ein spezifisches Gewerbegericht nicht bestand und der Betroffene Innungsmitglied war, die Innung zuständig. 359 Gem. 153 GewO konnte das Lehrverhältnis aufgrund eines Fehlverhaltens des Lehrherrn auch gegen dessen Willen gelöst werden. Bei Innungsmitgliedern hatte die Innung darüber zu entscheiden, ob ein missbräuchliches Verhalten des Ausbilders vorlag oder ob dies nicht der Fall war. 360 § 168 GewO räumte den Innungen Mitwirkungsrechte beim Erlass sog. Ortsstatuten ein. 361 § 56 der Verordnung v. 9.2.1849 machte die Einführung der Pflichtmitgliedschaft der selbständigen Handwerker in einer Kranken-, Sterbe- oder Hilfskasse von der Zustimmung der Innung abhängig.
B. Die Innungen
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anschließen wollten, aber nicht gefährdet, glaubte man in Minden.362 Um die Autonomie der Korporationen zu festigen, sollte den – in Westfalen ohnehin nicht mehr existenten -Gewerberäten nach Meinung der Mindener Behörde das Recht zur Festsetzung der täglichen Arbeitszeit nach § 49 der Verordnung von 1849 entzogen und den Innungen überantwortet werden. Auf die damals noch unbestrittene Bedeutung der 75 Unterstützungskassen für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter, welche 1860 im Bezirk Minden bestanden, wies auch die Regierung eigens hin.363 Es ist nicht auszumachen, ob die skizzierten Auffassungen der Behörde auch durch das Gebaren der Handwerker in Ostwestfalen beeinflusst waren oder aber lediglich die gewerbepolitischen Überzeugungen der Verwaltung widerspiegeln. Die Mindener Regierung jedenfalls warf den Innungen vor, ihre Aufgabe in nichts anderem zu sehen als jungen Handwerkern die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes zu erschweren.364 Trotz so weitreichender Kritik an dem Innungswesen in ihrem Sprengel und eingedenk ihrer Auffassung, dass dieses „äußerst unbedeutend“365 sei, mochte die Verwaltung die Korporationen aber doch nicht missen. Die Beamten waren der Überzeugung, dass sich durch die Gewährung weitgehender Selbstverwaltungsrechte und die Beseitigung der Kommunalaufsicht ein deutlich größeres Interesse der Meister an den Innungen zeigen werde.366 Nur zu gut wussten sie, dass die auf dem geltenden Recht beruhende Abhängigkeit der Innungen von der Kommunalbehörde für die offenkundige Indolenz der Korporationen verantwortlich war. Als konstitutiv für eine zukünftig gedeihlichere Entwicklung der Innungen betrachtete es die Mindener Regierung außerdem, dass den Meistern die Illusion genommen werde, eine Beschränkung der Konkurrenz erreichen zu können.367 Diese Auffassung – Innungen ohne Beitrittszwang zuzulassen – teilten auch die Regierungen in Arnsberg und Münster.368 Einen für die Westprovinzen signifikanten Um362 Wie Anm. 354, fol. 176 RS. 363 Wie Anm. 354, fol. 179. 364 S. GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3, fol. 80; desgl. in: Schreiben der Reg. Minden an das Gewerbeministerium v. 12.11.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 9 Bd. 1, fol. 34. Die Innungen warfen den Kreisprüfungskommissionen vor, dass sie bei der Meisterprüfung zu geringe Anforderungen stellten. Nach Auffassung der Mindener Regierung verfolgten die Meister mit ihrer Kritik aber lediglich das Ziel, die Konkurrenz zu beschränken; s. a. a. O., fol. 50. 365 So Schreiben d. Reg. Minden v. 12.11.1860, wie Anm. 364, fol. 41. 366 Wie Anm. 364, Ministerium des Innern, fol. 85 RS; lediglich die Regierungen in Danzig und Aachen sprachen sich bei der 1860 durchgeführten Umfrage für die Beseitigung der Innungen aus; unter den Kommunalbehörden vertrat aber auch der Oberbürgermeister der Stadt Minden diese Auffassung. Die dortige Regierung machte dagegen die Abhängigkeit der Innungen von den Kommunalbehörden für den geringen Erfolg des Instituts verantwortlich. Sie schlug daher vor, die Mitwirkung der Behörden nach den §§ 107, 112, 113 der Gewerbeordnung zu beseitigen und allenfalls eine Aufsicht „im Allgemeinen“ beizubehalten. 367 Wie Anm. 364, Ministerium des Innern, fol. 85 RS. 368 Wie Anm. 364, Ministerium des Innern, fol. 86; das Ergebnis der Meinungsumfrage zur Reform der Gewerbegesetzgebung bei den westfälischen Behörden lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Für die Beibehaltung der 1860 geltenden Gewerberechtsnormen und damit auch der Bestimmungen über das Innungswesen sprach sich die Mehrheit der befragten
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
stand berücksichtigten sie bei ihren Überlegungen merkwürdigerweise nicht: Im Rheinland und in Westfalen zeigten die Handwerker im Vergleich aller preußischen Provinzen die größte Distanz zu dem Institut der Innung. Dass die Meister nur so lange an dem Institut interessiert waren, wie sie noch hofften, dass dieses die Wiederherstellung von Zunftprivilegien zu befördern vermöchte, kam der Mindener Regierung offenbar nicht in den Sinn. Wert oder Unwert der Innungen wurden seitens der Behörden nach alledem ganz unterschiedlich beurteilt, und auch unter den westfälischen Meistern bestand zu dem Problem damals, um 1860, keine einheitliche Meinung.369 Von inneren Konflikten oder gar einer Zerrissenheit des Handwerkerstandes in dieser Frage kann gleichwohl keine Rede sein, denn dazu war der Stellenwert der Korporationen in der Provinz – und damit auch das Gewicht dieser Frage – zu gering. Der Oberpräsident ließ hieran keinen Zweifel; Anhaltspunkte für eine zukünftig gedeihlichere Entwicklung des Innungsmodells im Sinne der Gewerbeordnung konnte auch er nicht entdecken, so dass er dem Ministerium bündig mitteilte, aus der westfäli-
Behörden, deren Antworten überliefert sind, aus, und zwar mit der Begründung, dass vorteilhafte Wirkungen dieser Gesetzgebung festgestellt worden sind; so die Regierung in Münster und die Magistrate in Münster und Rheine, die Magistrate in Paderborn und Herford, die Regierung in Arnsberg, die Bürgermeister in Altena, Hattingen, Hörde, Dortmund, Schwelm, Unna, Lippstadt, Werl und Laasphe, die Landräte in Altena, Hamm, Lippstadt, Meschede, Olpe, Berleburg und Bochum sowie die Handelskammer in Bochum. Der Magistrat in Dorsten teilte diese Auffassung, vertrat zur Begründung aber die Auffassung, dass die Vorteile der Bestimmungen der Gewerbeordnung von 1845 und der Verordnung von 1849 deren Nachteile überwögen. 2. Die Modifizierung oder Ergänzung einzelner Bestimmungen des Gewerberechts hielten für erforderlich: Der Oberbürgermeister von Minden, der Bürgermeister von Brilon, der Landrat in Dortmund, die Handelskammer in Arnsberg. Für die weitgehende Beseitigung der 1860 bestehenden Vorschriften sprachen sich mit der Begründung, dass diese ihren Zweck nicht erreicht hätten und die Folgen der Gesetzgebung nachteilig seien, aus: Die Regierung in Minden, die Bürgermeister in Bielefeld, Hamm und Hilchenbach, der Landrat in Hagen sowie die Handelskammern in Iserlohn und Siegen. Der Landrat in Siegen teilte die Auffassung, begründete sie aber mit der Ansicht, dass die Nachteile der Gesetzgebung die Vorteile überwögen. 369 Die Mindener Regierung sprach 1860 von den „täglich mehr Boden gewinnenden Bestrebungen der Anhänger der Gewerbefreiheit unter den Handwerkern“, welche das Interesse an dem Assoziationswesen förderten; s. GStA/PK, Schreiben der Reg. Minden an das Gewerbeministerium v. 12.11.1860, wie Anm. 364, fol. 44. Die Petitionen, welche das zuständige Ministerium erreichten, lassen keine einheitliche Auffassung der Handwerker in dieser Frage erkennen; während sich die Kölner Innungen bspw. oder die Meister aus Langensalza vehement gegen die Agitation der Liberalen für die Aufhebung der Gewerbegesetzgebung wandten, unterstützten nicht allein die Handelskammer Trier, sondern etwa auch ein Tischlermeister aus Breslau mit ausführlicher Begründung die gegenteilige Position; s. GStA/PK, Ministerium für Handel und öffentliche Arbeit, Abt. IV, Rep. 120, B I Nr. 62, Bd. 7, fol. 135 ff., 161 ff., 173, 175 ff.; zur Begründung ihrer Auffassung führte die Handelskammer aus, dass sich die Tätigkeit der Innungen „fast nur auf den Abschluss von Lehrverträgen, die Abnahme von Prüfungen und die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen“ beschränke, während die Übernahme weiterer Aufgaben „nicht die Billigung und Unterstützung der Behörden gefunden und die erst erwähnte Täthigkeit vielfach als nicht ersprießlich für das Gedeihen der betreffenden Gewerbe bezeichnet“ werde.
B. Die Innungen
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schen Perspektive sei es gleichgültig, ob die Vorschriften über das Innungswesen aufgehoben oder beibehalten würden.370 13. Das Ende In seiner Auswertung der Befragung von 1860, die Kaufhold für die Rheinprovinz und die Provinz Brandenburg vorgelegt hat, kommt er zu ähnlich uneinheitlichen Ergebnissen, wie sie hier für Westfalen gefunden wurden. So hatte das Innungswesen in Brandenburg, wo – im Gegensatz zu den Westprovinzen – an die 1845 noch zahlreich vorhandenen Korporationen angeknüpft werden konnte, quantitativ wieder eine erhebliche Bedeutung gewonnen; es erfasste dort die Mehrzahl der Meister.371 Im Rheinland dagegen war die Zahl der Innungen – ebenso wie in Westfalen – vergleichsweise gering geblieben, wobei erhebliche Unterschiede zwischen dem Bezirk Köln und den Bezirken Koblenz und Trier deutlich wurden.372 Ebenso wenig konnte Kaufhold in den von ihm untersuchten Provinzen eine einheitliche Beurteilung des Innungswesens feststellen. Uneingeschränkt positiv äußerte sich die Regierung in Frankfurt/Oder, während die Regierungen der Rheinprovinz kritisch bemerkten, dass die Innungen nach 1849 vor allem von den ärmeren, in ihrer Existenz bedrohten Handwerkern als Mittel zur Sicherung ihrer prekären Existenz angesehen worden seien, während die wohlhabenden Meister ihnen von Anfang an fern geblieben seien. Die Tätigkeit der Innungen habe denn auch „den Erwartungen der Handwerker nur zum geringsten Teile entsprochen“. Die Regierung in Potsdam kam für ihren Sprengel zu ähnlichen Ergebnissen wie die rheinischen Mittelbehörden. Kaufhold hat festgestellt, dass die negativen Urteile über die Innungen in den von ihm ausgewerteten Berichten überwiegend auf Fakten, die positiven Meinungen dagegen ausschließlich auf pauschale Einschätzungen gegründet gewesen seien.373 Dieser Befund trifft auch für die Behörden der Provinz Westfalen zu, wenngleich nicht zu übersehen ist, dass die betont kritischen Stellungnahmen der Bürgermeister einiger größerer Städte durch den liberalen Zeitgeist, der dort besonders virulent war, maßgeblich bestimmt gewesen sein dürften. Festzuhalten bleibt, dass die vergleichsweise wenigen Handwerker, die sich in Westfalen zu einer Innung zusammenschlossen, diesen Schritt in der Absicht taten, an die marktordnende Funktion der Zünfte anknüpfen zu können. Sie glaubten, mit der Gesetzgebung der Jahre 1845 und 1849 ein Unterpfand für die Existenzsicherung in den Händen zu halten – obwohl sich aus den Rechtssätzen nur wenige Anhaltspunkte für solche Träume destillieren ließen. Als spätestens in den sechziger Jahren erkennbar wurde, dass die aus Verzweiflung und Zukunftsangst geborenen Hoffnungen getrogen hat-
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Bericht des westfälischen Oberpräsidenten v. 16.11.1861, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. Kaufhold (1975), S. 175. Kaufhold (1975), S. 176. Kaufhold (1975), S. 178.
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ten, wandten sich auch die westfälischen Meister von diesem Institut ab374 – und das korporative Leben sank in sich zusammen. 375 Wie groß die Distanz der Meister zu dem Korporationsmodell des Gesetzgebers schon zu Beginn der sechziger Jahre bereits war, macht eine Initiative des damals in Lippstadt noch immer lebendigen „Metzgeramtes“, der Nachfolgeorganisation der Fleischerzunft in der Stadt, in überraschender Weise deutlich. Diese hatte nach der Aufhebung der Korporationen in Westfalen im Jahre 1810 als privatrechtliche Vereinigung weiterbestanden, um nicht nur das Vermögen der Genossenschaft retten, sondern in hergebrachter Weise die gemeinsamen Interessen des Berufsstandes wahrnehmen und die Geselligkeit pflegen zu können. Die Vertreter der Meister trugen 1863 auf die Verleihung sog. „Corporations-Rechte“, der Rechtsfähigkeit also, für das Metzgeramt an.376 Sie verfassten den Entwurf von Statuten, in denen sie die Organisierung eines effizienten Feuerlöschwesens in der Lippestadt, die Wahrnehmung der beruflichen Interessen der Metzger und die Förderung von „Liebe und Einigkeit“ untereinander zu Zwecken der Gesellschaft erklärten. Bürgermeister, Landrat und die Regierung in Arnsberg unterstützten das Vorhaben.377 Der Minister aber lehnte ab.378 Auch ein im Jahr darauf unternommener weiterer Versuch, dem „Metzgeramt“ eine eigene Rechtspersönlichkeit zu verschaffen, schlug fehl, da die Regierung die von der Genossenschaft verfolgten beschränkten Zwecke als hierfür nicht ausreichend erachtete.379 Sich auf den Boden des Innungsrechtes der Gewerbeordnung des Jahres 1845 und der Verordnung von 1849 zu stellen, kam den Mitgliedern des „Metzgeramtes“ aber offenbar nicht in den Sinn. Diese souveräne Zurückweisung des dem Handwerk vom Gesetzgeber verordneten Organisationsmodells durch die Meister selbst legt schlaglichtartig bloß, wie weit man in Westfalen von einer Realisierung der seitens des Gesetzgebers vorgegebenen Ordnung entfernt war. Hieraus zu schließen, dass die Handwerker insgesamt oder jedenfalls überwiegend den Zusammenschluss zu Korporationen abgelehnt hätten, wäre gleichwohl 374 S. dazu auch Kaufhold (1975), S. 179. Die Einschätzung von Wert oder Unwert der Innungen blieb in den sechziger Jahren auch außerhalb Westfalens geteilt. Selbst der einen dezidiert liberalen Standpunkt vertretende Mascher äußerte sich in diesem Sinne: „Mit der Arbeitsabgrenzung fallen die in Handwerker-Innungen umgewandelten Zünfte ganz von selbst, über deren Nutzen und Wirkung die Ansichten, Sympathien und Antipathien noch immer sehr verschieden sind. Von den Innungsfreunden wird dieser Institution ein wohlthätiger Einfluss auf die Ausbildung und Zucht der Lehrlinge, auf Einrichtung von Unterstützungs- und Krankenkassen, auf zweckmäßige Anordnung über die Arbeitszeit der Gesellen, auf das Selbstgefühl im Handwerkerstande und die Fortschritte seiner technischen Vervollkommnung, auf Solidarität, Ordnung und Ehrenhaftigkeit zugeschrieben. So viel müssen die Freunde der Innung aber doch zugeben, dass der gebildete Handwerkerstand sich von den Innungen fern hält, weil dieselben keinen irgend reellen Vortheil gewähren …“; so Mascher (1866), S. 668, 669. 375 Vgl. Tilmann (1935), S. 52. 376 Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Lippstadt an den Landrat von Schorlemer v. 14.2.1863, in: STAM, Reg. Arnsberg, B Nr. 57 Bd. VII. 377 S. Schreiben des Landrats an die Regierung v. 23.2.1863 und Schreiben der Reg. Arnsberg an den Innenminister Grafen Eulenburg v. 15.5.1863, wie Anm. 354. 378 Antwort des Innenministeriums v. 25.6.1863, wie Anm. 376. 379 So Schreiben der Reg. Arnsberg v. 3.9.1863, wie Anm. 376.
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aber verfehlt. Genossenschaften ohne ständige staatliche Bevormundung und Kontrolle konnten sie sich, wie bereits angedeutet, auch in den sechziger Jahren durchaus vorstellen; ihre Vertreter setzten sich eben damals sogar wiederholt und nachdrücklich dafür ein. Der vom 27.–31. August 1860 in Berlin abgehaltene preußische Landeshandwerkertag forderte die Einführung der Zwangsinnung. Und der 1862 nach Weimar einberufene „Deutsche Handwerkertag“,380 der dort am 15.9. den „Deutschen Handwerkerbund“ gründete, sandte den Regierungen der deutschen Bundesstaaten eine „Vorstellung, Protestation und Bitte“, welche sich in zeittypisch blumiger Sprache gegen die „zügellose Gewerbefreiheit“ wandte. Die Handwerker beklagten die „Pest freigewerblicher Zustände, die den staatlichen Verwesungsprozess beschleunigt“ hätte.381 Der Vorstand des in Hamburg situierten „Deutschen Handwerkerbundes“ verlangte 1863 die „Zurückweisung des nachgewiesenermaßen falschen, vernunftwidrigen und grundverderblichen, die permanente politische und soziale Revolution logisch berechtigenden und factisch aus sich entwickelnden, den Staat der inneren Auflösung überliefernden Prinzipes sogenannter Gewerbefreiheit“. Der im Sept. 1863 abgehaltene 2. „Deutsche Handwerkertag“ in Frankfurt a. M. beschloss Grundzüge einer „Allgemeinen Deutschen Handwerkerordnung“. 1864 folgte eine Versammlung in Köln.382 Im Dezember 1864 wandte sich das Präsidium des Deutschen Handwerkerbundes mit einer Denkschrift erneut an die Regierungen, um sein Anliegen, den Erlass einer deutschlandweit geltenden Handwerksordnung, zu fördern.383 Zwar leugnete die Interessenvertretung der Meister nun nicht mehr, dass es auch im eigenen Lager Verfechter der Gewerbefreiheit gab. Doch wurden diese in den sechziger Jahren in Wahrheit immer vernehmlicher werdenden Stimmen als „gar wenige Wildlinge und Widersacher im eigenen Stande“ abgetan, die „entweder gar kein Herz für die gemeinsame Standessache“ hätten oder „geradezu eigennützige Pläne“ verfolgten.384 Auch die Handwerker hätten, „angesteckt von dem allgemeinen Taumel der Zeit“, nach Einführung der Gewerbefreiheit zu Beginn des Jahrhunderts zunächst „dieser neuen Lehre zugejauchzt“. Doch habe sich die Liberalisierung längst als bloße „Losreißung von den bestehenden Regeln und Ordnungen“, als „unbändige(r) Sinn, dem jedes Gehorsamen ein Greuel ist, der stets die Zügel zu zerreißen sucht, die ihn leiten sollen“, erwiesen.385 Die Gesetzgebung, welche die Missstände zu korrigieren gesucht habe, sei „über ein Tasten und Schwanken zwischen den verschiedenartigsten Grundsätzen“ nicht hinausgelangt. Statt solcher untauglicher Versuche bedürfe das Handwerk aber einer Ordnung, die seine Rechte und Pflichten unzweideutig regele.
380 S. Waentig (1908), S. 25. Inwieweit Westfalen an der Willensbildung auf diesen Versammlungen teilhatten, ließ sich allerdings nicht feststellen. 381 Beschluss des Deutschen Handwerkertages v. 5. bis 8. September, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 70, fol. 39. 382 Waentig (1908), S. 25. 383 Denkschrift des Deutschen Handwerkerbundes v. Dezember 1864, in: GStA/PK, Handels- und Gewerbeministerium, Rep. 120 B I 1 Nr. 70, fol. 51 ff. 384 Wie Anm. 383, fol. 52RS. 385 Wie Anm. 383, fol. 53RS.
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Im Mittelpunkt des Interesses der Meister standen damals wie eh und je die traditionellen Gegenstände des Handwerksrechts, nämlich die Gewährleistung einer qualifizierten Ausbildung, zu der konstitutiv Prüfungen dazugehören sollten, die Abgrenzung der verschiedenen Handwerkstätigkeiten voneinander, vor allem aber die Errichtung von Innungen, welche die Meister und deren Familien, die Gesellen und Lehrlinge „als Erwerbsgemeinde umschließt“.386 Der Vorstand des Handwerkerbundes wies darauf hin, dass die Handwerkervereine Innungen keineswegs zu ersetzen vermöchten, und auch mit einer Organisation der Innungen auf freiwilliger Basis erklärte er sich nicht einverstanden. Stattdessen verlangte er die Zwangsmitgliedschaft aller Handwerksmeister in den Innungen als „unabweisbar“. Dass diese Forderungen des Verbandes offenbar der damaligen Mehrheitsmeinung unter den Meistern in Deutschland entsprach, findet in Gustav Schmollers Feststellung aus dem Jahre 1870 ein Indiz, wonach sich selbst die Mehrzahl der „liberalen aufgeklärten Meister … auch heute noch“ für die Prüfungen ausspreche.387 Mit seinen Forderungen stand der Vorstand des Deutschen Handwerkerbundes auch um die Mitte der sechziger Jahre keineswegs allein da. Die konservative Berliner Kreuzzeitung gab schon 1864 die Parole aus: „Gegen die Preisgebung des Handwerks und des Grundbesitzes an die Irrlehren und Wucherkünste der Zeit!“388 Der aus Münster stammende Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel v. Ketteler verwandte sich in seiner berühmten, 1864 erschienen Schrift über „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ dezidiert für eine neue, effizientere Organisationsform des Handwerks: „Wenn die Regierungen nicht im Dienst der liberalen Partei, von der ich mir auf keinem Gebiete Gutes erwarte, sondern mit Selbständigkeit und Sachkenntnis dem Handwerkerstande eine Ordnung bieten würden, in der er sich wieder zur nötigen Selbständigkeit und zu einer lebenskräftigen Genossenschaft entfalten könnte, so würden wir das für eine der weitgreifendsten und segensreichsten Maßregeln halten, deren Resultate sich gar nicht bestimmen ließen“.389 Der Handelsminister lehnte diese Bestrebungen konservativer Kreise und des sich allmählich formierenden Sozialkatholizismus aber rundweg ab: Korporationen sollte es nur zu den vom Staat gestellten Bedingungen geben – oder gar nicht. Eine Begründung hierfür war schnell gefunden. Eben die Forderung der Meister, die Befugnis zum selbständigen Gewerbebetrieb von der Zugehörigkeit zu einer Innung abhängig zu machen, nahm der Minister zum Anlass, den Entwurf der Handwerkerverbände für eine neue Gewerbeordnung insgesamt zu verwerfen.390 Nach dieser Enttäuschung kam es, solange die Gewerbeordnung von 1845/1849 Bestand hatte, auch in Westfalen zu keinerlei Initiativen zur Formierung lebenskräftiger Innungen mehr. Schon zuvor war die organisatorische Kraft des westfälischen Handwerks sichtlich schwächer geworden. Während auf dem Deutschen 386 387 388 389
Wie Anm. 383, fol. 55RS. So Schmoller (1870), S. 87. Zitiert nach Waentig (1908), S. 50. Zitiert nach Waentig (1908), S. 50. Die Position der katholischen Kirche in der Handwerkerfrage ist dargestellt bei Schwarz (1937); vgl. auch Gottwald/Hildebrandt (1968). 390 S. Schreiben des Handels- und Gewerbeministers v. 21.4.1865, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 70, Bd. 1, fol. 61.
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Handwerkertag in Weimar 1862 noch sechs Vertreter aus dieser Provinz anwesend waren, reisten 1863 nur noch drei Handwerker aus zwei Orten nach Frankfurt, und auf dem Kölner Handwerkertag des Jahres 1864 sah man nur noch einen westfälischen Teilnehmer. Auf den Norddeutschen Handwerkertagen, die in den folgenden Jahren durchgeführt wurden, erschien lediglich Philipp Todt als Vertreter der Mindener Innungen.391 An die Stelle des um die Mitte des Jahrhunderts dominierenden korporativen Denkens trat nun die Apotheose der liberalen Konkurrenzwirtschaft. Der Staat verabschiedete sich von dem selbst gesetzten Ziel, auf die organisatorischen Verhältnisse des Handwerks Einfluss nehmen zu wollen ebenso wie von der Vorstellung, die wirtschaftliche Lage des Kleingewerbes bessern zu können. Ausdruck dieser gewandelten Einstellung zu den Grundfragen der Wirtschaftsordnung war die Diskussion um eine Reform des Gewerberechts, die, worauf bereits hingewiesen wurde, zu Beginn der sechziger Jahre in Preußen eingesetzt hatte.392 Die Abgeordneten Müller und Reichenheim hatten 1861 einen Entwurf vorgelegt, der zu der liberalen Ordnung der Gewerbe, wie sie vor 1845 in Preußen galt, zurückkehrte;393 dieser wurde von der „Kommission für Handel und Gewerbe“ des Abgeordnetenhauses zur Grundlage der Erörterungen über eine Reform der Gewerbegesetzgebung gemacht. Aufgrund eines Votums der Kommission hatte das Abgeordnetenhaus am 8.5.1861 beschlossen, dem Ministerium den Müller-Reichenheimschen Entwurf als Grundlage für eine neue Gewerbeordnung zu überweisen.394 Danach sollten die Innungen „als gewerbliche Genossenschaften mit korporativen Rechten und Selbst-Verwaltung für gemeinsame gewerbliche Zwecke unter Aufsicht der Kommunal-Behörde“ fortbestehen, wobei sich die Lokalverwaltung auf eine reine Rechtsaufsicht beschränken sollte. Eine Beitrittspflicht zu den Innungen wurde ebenso abgelehnt wie die Errichtung von Korporationen aufgrund von „Ortsstatuten oder Gemeindebeschlüssen“. Die Mitgliedschaft in einer Innung sollte keinerlei Vorrechte begründen oder Beschränkungen von Nicht-Mitgliedern implizieren. Die entscheidende Abwertung erfuhren die Innungen in dem Entwurf aber erst durch die Bestimmung, dass der Befähigungsnachweis nicht länger Bedingung für eine Aufnahme in eine Korporation sein dürfe. Dieser Text erlangte zwar keine Gesetzeskraft; es dauerte aber nur noch wenige Jahre, bis der Norddeutsche Bund eine neue Gewerbeordnung auf der Grundlage des skizzierten Entwurfs verabschiedete. 391 So Reininghaus (1989), S. 513; zu Todt s. Herzig (1981), S. 24 f., 33 f., 40, 52 (nach Reininghaus, a. a. O.). Kocka geht davon aus, daß die Handwerkerbewegung der sechziger Jahre, die „auch allgemein-politisch allmählich ins konservative Fahrwasser einschwenkt“, ihre Basis im „oberen Viertel der Meister“ gehabt habe; so Kocka (1990), S. 325, 326. 392 Es ist hier nicht der Ort für eine umfassende Darstellung der Vorgeschichte des Erlasses der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1869. Es muss daher mit Hinweisen auf die Reformansätze, die hinsichtlich der Innungen entwickelt wurden, sein Bewenden haben. 393 Drucksache Nr. 20, Session 1861 des preußischen Abgeordnetenhauses. 394 S. Bericht der verstärkten Kommission für Handel und Gewerbe über den Entwurf eines Allgemeinen Gewerbegesetzes, insbesondere über den Antrag der Abgeordneten Dr. Faucher, Michaelis, Müller, Reichenheim, Roepell vom 24. Mai 1862 (Drs. Nr. 43), ein Gewerbe-Gesetz betreffend, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77 Tit. 307 Nr. 19 Bd. 4, S. 89–122 RS (89).
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Unter dem Eindruck der liberalen Offensive beschäftigten sich die Behörden in Westfalen auf Jahre nicht mehr mit dem Handwerk. Das nach 1845 neu geschaffene und in der Provinz ohnehin nur rudimentär entwickelte organisatorische Gerüst barst. Selbst in Soest, welches einst Vorreiter der Innungsbewegung in der Provinz zwischen Rhein und Weser gewesen war, lösten sich die Korporationen 1867 auf.395 Rechtslage und Rechtswirklichkeit klafften damals im Bereich des Gewerberechts weiter denn je auseinander. Diese Situation fand durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes aus dem Jahre 1869, welche dem bis dahin in Preußen – theoretisch noch – geltenden Organisationsmodell des Handwerks die Basis entzog, ein Ende. Von der Anflutung liberalen Gedankengutes offenkundig beeindruckt, nahmen die westfälischen Meister die völlige Kehrtwendung des Gesetzgebers schweigend hin.396 Lediglich noch einmal meldeten sie sich zu Wort, als es – ebenfalls im Jahre 1869 – um die Verabschiedung des Gesetzes über die Handelskammern ging. Seit 1863 schon hatten zahlreiche preußische Meister durch Petitionen sog. Gewerbekammern gefordert, welche die Anliegen des Handwerks wahrnehmen sollten.397 Der Entwurf des Gesetzes über die Errichtung der Handelskammern stellte deshalb eine herbe Enttäuschung dar; denn die neuen Institute sollten zwar die Interessen der Handels- und Gewerbetreibenden in dem jeweiligen Bezirk wahrnehmen, doch durften an der Wahl der Mitglieder der Handelskammern nur Kaufleute und Firmeninhaber teilnehmen. Dass die Handwerker von einer auf solche Weise zusammengesetzten Organisation nichts zu erwarten hatten, verstand sich von selbst – so dass der Protest des in Berlin damals noch lebendigen Handwerkerbundes geradezu herausgefordert wurde.398 Zwar stellte der Handelsminister unverzüglich klar, dass die Handelskammern keineswegs die Handwerker vertreten sollten, so dass für die Aufregung gar kein Anlass bestehe399 – doch war mit dem Gesetz über die Handelskammern ein Stein ins Wasser geworfen, der weitere Kreise zog. Im Mai 1869 wandten sich nicht weniger als 180 Handwerksmeister aus Paderborn mit der Forderung an das Preußische Abgeordnetenhaus und den Reichstag des Norddeutschen Bundes, auch für das Handwerk sog. Gewerbekammern zu errichten.400 In ihrer Petition entwickelten die Paderborner Meister recht detaillierte Vorstellungen von der Physiognomie des gewünschten Instituts. Natürlich war es ihnen zunächst und vor allem um eine wirksame Vertretung ihrer beruflichen Interessen zu tun, die sie durch eine effiziente staatliche Gewerbeförderung ergänzt wissen wollten. Der Ur395 Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 23.9.1879, in: Stadtarchiv Soest XIXg9; in Paderborn wurden die Innungen 1869 aufgelöst; s. Schreiben des Stadtbaumeisters Brinkmann v. 31.10.1878, in: Stadtarchiv Paderborn A1521. 396 Die Behauptung Offermanns, die Mehrheit der Handwerker habe in den fünfziger und sechziger Jahren die Gewerbefreiheit gefordert, trifft für Westfalen keineswegs zu; so aber Offermann (1979), S. 275; die Auffassung dürfte generell unrichtig sein. 397 So Schreiben des sog. „Landesvorortes“ des preußischen Handwerkerverbandes v. 29.1.1869, in: GStA/PK, Rep. 120 B B VI a 1 Nr. 1 Bd. 1, fol. 1, 2. 398 So Schreiben des sog. „Landesvorortes“, wie Anm. 397, fol. 2. 399 S. Antwort des Handelsministers v. 11.2.1869, s. GStA/PK, Rep. 120 B B VI a 1 Nr. 1, fol. 6 ff. 400 Petition der Paderborner Handwerksmeister v. 20.5.1869, in: GStA/PK, Rep. 120 B B VI a 1 Nr. 1 Bd. 1, fol. 6 ff.
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sachen für das Scheitern der preußischen Handwerkergesetzgebung der Jahre 1845/49 eingedenk beharrten sie darauf, dass die neuen Institute selbständig und von staatlicher Einflussnahme frei zu agieren imstande sein müssten. Auch die notwendige finanzielle Basis der Gewerbekammern vergaßen sie nicht; hierzu wollten die Paderborner eine an der Klassen- und Einkommensteuer, welche die einzelnen Mitglieder zu zahlen hatten, orientierte Umlage erheben. Die den Kammern auferlegte Berichtspflicht sollte die sich ändernde wirtschaftliche Situation der einzelnen Handwerkszweige transparent machen und so die Öffentlichkeit wie auch Gesetzgeber und Verwaltung auf die Lage des Handwerks aufmerksam machen. Unverkennbar an dem verblichenen Innungsmodell orientiert war die Forderung der Westfalen, den Kammern hoheitliche Aufgaben zu übertragen. Hierzu gehörte es vor allem, das Lehrlings- und Fortbildungswesen „zu beaufsichtigen und zu verwalten“, aber auch öffentliche Einrichtungen zur Förderung des Gewerbebetriebes und des Absatzes der Handwerksprodukte zu schaffen und sich des Arbeitsnachweises, d. h. der Arbeitsvermittlung für das Kleingewerbe, anzunehmen. Kämen die Gewerbekammern den so beschriebenen Aufgaben nach, könnten, so hoffte man in Paderborn, „mit der Zeit die vorhandenen Gebrechen beseitigt werden“. Diese Petita machen schlaglichtartig deutlich, dass der Wunsch nach einer autonomen Interessenvertretung und einem funktionsfähigen rechtlich-organisatorischen Rahmen des Handwerks auch im Westfalen der hochliberalen Phase nicht erloschen war.401 Die Abneigung gegen ein staatlich verordnetes System, welches, statt sich die Wahrnehmung der Interessen der Handwerker angelegentlich sein zu lassen, vor allem ihrer Kontrolle diente, saß allerdings tief und ließ sich nicht mehr überwinden. Zunächst allerdings schienen sich die organisierten Meister mit der liberalen Gewerbeordnung abzufinden. Auf dem 1870 in Halle abgehaltenen Handwerkertag wurde beschlossen, die Gewerbefreiheit als fait accompli hinzunehmen und nicht mehr dagegen zu petitionieren. Als Ende der siebziger Jahre die Diskussion über den Aufbau eines reformierten Innungswesens wieder auflebte, zeigte man sich auch in Westfalen reserviert. Selbst in Soest hielt der Bürgermeister 1879 die Errichtung neuer Korporationen der Handwerker für aussichtslos: „Die Erinnerung an die bis vor 12 Jahren hier bestehenden Innungen, von denen kaum ein Handwerker behauptet, dass sie irgend etwas ersprießliches zur Förderung des Handwerkerstandes geleistet haben, ist noch zu frisch, als dass der Handwerkerstand Verlangen trüge, an neuen Innungen, wenn auch auf veränderter Grundlage, sich zu beteiligen. Bei andauernder behördlicher Einwirkung und Unterredung würde allerdings der eine oder andere Handwerker sich wohl bereit erklären, einer Innung beizutreten …“.402 Illusionslosigkeit spricht aus diesem Urteil über die um die Mitte des Jahrhunderts geschaffenen Handwerkerverbände. Solche Auffassung war typisch für die siebziger Jahre. Gegen Ende dieses Dezenniums wurden in Preußen zwar noch 401 Die Gewerbeordnung v. 24.6.1869 setzte wenig später gleichwohl auch die bis dahin noch geltenden Bestimmungen über die Innungen, das Prüfungswesen, die gewerbliche Ausbildung etc. außer Kraft. 402 Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 23.9.1879, betr. die Bildung von Innungen, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9.
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6018 Innungen gezählt. Nach Erlass der Gewerbeordnung von 1869 waren von dieser Zahl aber nur 158 neu errichtet und nicht mehr als 31 nach den Bestimmungen dieses liberalen Gesetzes reorganisiert worden.403 Die große Mehrzahl der Innungen fand sich, wie schon in den fünfziger und sechziger Jahren, im Osten des preußischen Staates, ohne jedoch noch nennenswerte Aktivitäten zu zeigen. Ihre Tätigkeit beschränkte sich offenbar auf die Verwaltung des Korporationsvermögens; im Rheinland und in Westfalen fehlten Innungen damals „fast ganz“.404 Der Liberalismus hatte es nach alledem verstanden, die Grundgedanken konservativer Ordnungs- und Sozialpolitik, die schon in den sechziger Jahren formuliert worden waren, erst einmal zu ersticken; vergessen waren sie aber nicht. Das katholische Zentrum griff sie in den siebziger Jahren wieder auf. Der spätere Münsteraner Theologieprofessor und Abgeordnete Franz Hitze wurde mit seinen Schriften „Die soziale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung“ (1877) sowie „Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft“ (1880) zum Vordenker der katholischen Soziallehre, in der die Innung einen wichtigen Platz einnahm: „Die Handwerkerfrage in allen ihren Beziehungen und Ausgestaltungen kann nur ihre Lösung finden in der obligatorischen Innung. Für einzelne Fragen ist sie die beste Lösung, für alle Fragen ist sie die einzige Lösung“,405 schrieb Hitze pointiert. Sekundiert wurde ihm durch den protestantischen Pfarrer und Sozialpolitiker A. Stöcker, der 1880 in seinem Vortrag „Zur Handwerkerfrage“ emphatisch für die Zwangsinnung eintrat. Auch die Handwerkervereine agitierten seit den achtziger Jahren wieder für das nämliche Ziel, während der inzwischen zersplitterte Liberalismus damals über fruchtlose Proteste nicht mehr hinausfand. So kam es gegen Ende des Jahrhunderts zu einer neuerlichen Volte des Gesetzgebers: Durch Reichsgesetz wurde im Jahre 1897 die Errichtung von Zwangsinnungen zugelassen. Darauf nahm das Innungswesen auch in den Westprovinzen Preußens einen neuen und dauerhaften Aufschwung – unter gänzlich anderen Bedingungen allerdings.406 14. Zusammenfassende Wertung: Die Ursachen des Scheiterns Abschließend soll die Antwort auf die Frage, weshalb das Innungsmodell der preußischen Gewerbeordnung aus den Jahren 1845/49 so bald und so nachhaltig scheiterte, pointiert zusammengefasst werden. Schon die Zeitgenossen waren sich in der Bewertung dieses Konstrukts durchaus uneins: Der preußische Statistiker v. Viebahn stellte nach der Emanierung der 403 So Waentig (1908), S. 47. 404 So Waentig (1908), S. 47. 405 Zitiert nach Waentig (1908), S. 51; vgl. dort auch den Hinweis auf Jäger, Die Handwerkerfrage (1884). 406 Es bedarf des Hinweises, dass weibliche Handwerker bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes nicht Mitglied einer Innung werden konnten. Ursächlich hierfür war u. a., dass ihnen die geordnete handwerkliche Ausbildung verwehrt blieb. Frauen konnten erst im 20. Jahrhundert einer Innung angehören. Vorreiter dieser Entwicklung war die Kölner Schneiderinnung, die 1903 die Innungspflicht aller selbständigen Schneiderinnen durchsetzte; vgl. Brodmeier (1963), S. 65, 66.
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Verordnung vom 9.2.1849 zunächst ein lebhaftes Interesse an Innungen und die Zunahme des korporativen Zusammenhalts unter den Meistern fest; mehr noch, er erklärte auch die wachsende Zahl der Prüfungen, den Aufschwung des Fortbildungsschulwesens und den damit zunehmenden Bildungsstandard der Handwerker zum Werk der Innungen: „… wenn sich der gewerbliche Standpunkt und die Leistungen der preußischen Handwerker gehoben haben, so kann auch den Innungen ein gewisses Verdienst dabei nicht abgesprochen werden.“407 Gustav Schmoller, der Analyst der wirtschaftlichen Entwicklung des Handwerks in jenen Jahren, widmete den Innungen 1870 dagegen einen wenig schmeichelhaften Nachruf: Das unleugbare Bildungsstreben, die Gründung von Fortbildungsschulen und Handwerkervereinen und all die anderen Fortschritte im gewerblichen Bereich seit der Jahrhundertmitte seien nicht durch die Innungen initiiert, sondern durch die schwierige wirtschaftliche Lage vieler Handwerker erzwungen worden, während die Innungen diese positiven Entwicklungen eher behindert hätten.408 Der konservativen Partei in Preußen warf Schmoller vor, die Handwerker mit der „Fata Morgana einer neuen Zunftepoche“ täuschen und dadurch für sich gewinnen zu wollen.409 Der Volkswirt Schmoller hielt die Innungen grundsätzlich für ein die Entwicklung des Handwerks hemmendes Element: „Einmal, weil man sich durch die Existenz der Innungen an sich geholfen glaubte, noch mehr aber, weil die persönlichen Elemente, die in ihnen an die Spitze kamen, keine solchen waren, die Verständnis für die gewerblichen Fortschritte hatten.“410 Diese beiden so widersprüchlichen Äußerungen machen im Verein mit den skizzierten Meinungen der westfälischen Zeitgenossen deutlich, wie komplex die Ursachen für das Falliment der Innungen waren. Auf die Auffassung der Meister, dass die Gewerbeordnung die Innungen allzu sehr vom Staat abhängig gemacht habe, ist bereits wiederholt hingewiesen worden.411 Ihre kollektive Erfahrung, dass sich die wirtschaftliche Situation durch die Mitgliedschaft in einer Innung keineswegs spürbar verbesserte, spielte naturgemäß ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Gründe für das desaströse Schei407 Zitiert nach Schmoller (1870), S. 88. 408 So Schmoller (1870), S. 89: „Die persönlichen Eigenschaften derer, welche in den Innungen obenan kamen, waren der Krebsschaden der neuen Institution, waren schlimmer als der Inhalt der Novelle (des Jahres 1849, G. D.) selbst.“ Um den Ertrag der Innungen im Rheinland darzustellen, zitierte Schmoller aus der Statistik des Regierungsbezirks Düsseldorf (Iserlohn 1867, II b, 489): „Nicht das Interesse des Handwerkerstandes, seine technische und soziale Fortbildung und Vereinigung zu gegenseitiger Unterstützung war die Triebfeder des Zusammentrittes, sondern wieder das Anstreben von Exklusivrechten, der Egoismus, wenn nichts Schlimmeres. Mit dem Durchdringen der Überzeugung, dass auch die Innungen zur Erfüllung dieser selbstsüchtigen Wünsche nicht geeignet seien, erlahmte auch mehr und mehr die Theilnahme an diesen Instituten. Ihre Versammlungen wurden nicht mehr besucht, die Beiträge nicht mehr geleistet, und sie schrumpften zuerst bis auf die Schattengerippe der Innungs-Prüfungskommissionen ein und vegetierten, seitdem auch diese durch Neuwahlen nicht mehr zu ergänzen sind, als leere Organisationen fort; s. Schmoller (1870), S. 90. 409 Schmoller (1870), S. 668. 410 So Schmoller (1870), S. 89. 411 Dass die Kommunalverwaltung ihre Aufsichtsfunktion über die Innungen durchaus wahrnahm und auf diese Weise auch Einfluss auf das Handwerk zu gewinnen versuchte, hat Kaelble auch am Beispiel Berlins gezeigt; s. Kaelble (1971), S. 389–391.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
tern des gesetzgeberischen Willens sind damit aber noch keineswegs vollständig benannt. Zur Klärung der hier aufgeworfenen Frage erscheint es ratsam, das Konstrukt der Innung vielmehr auch theoretisch zu erfassen. Um die Innung nach modernen sozialgeschichtlichen Kategorien zwischen der Zunft des Alten Handwerks und dem Verein als der richtungweisenden sozialen Konfiguration des 19. Jahrhunderts einzuordnen, soll von den Idealtypen der Korporation und Assoziation, wie sie Thomas Nipperdey herausgearbeitet hat412, ausgegangen werden. Er begriff die Korporation als „polyfunktionales, unspezifiziertes Interesse bündelndes Gebilde, das den ganzen Lebenskreis des Menschen außerhalb von Haus und Kirche umspannt; die Wertorientierung der Korporation ist partikularistisch auf die Gruppe, nicht auf die ganze Gesellschaft bezogen,“413 während sich „die Assoziation nicht wie die Korporation aus quasi natürlichen Ordnungen“ ergebe, sondern „auf der Freiheit des auf sich selbst gestellten Menschen“ beruhe: „Für ihn soll Assoziation an Stelle von Korporation treten“,414 beschrieb Nipperdey das Bürgerideal des 19. Jahrhunderts. Welchem Typus aber neigte die Innung, wie sie der preußische Gesetzgeber 1845/49 schuf, zu, und welche spezifische Physiognomie zeigte diese in Westfalen? Die Gewerbegesetzgebung suchte die dem Handwerk förderlichen Aspekte des spätmittelalterlichen Zunftwesens mit den liberalen Grundsätzen des 19. Jahrhunderts zu verbinden und das Zwangsgebilde von ehedem zu einer genossenschaftlichen Konfiguration umzuschaffen, der vor allem berufsordnende Funktionen effizient wahrzunehmen aufgetragen war.415 In deren Pflichtenkanon kam, was der Gesetzgeber sehr wohl erkannt hatte, dem Ausbildungs- und Prüfungswesen entscheidendes Gewicht zu. Hierzu zählte auch die Förderung der Fortbildungsschulen. Die Errichtung genossenschaftlicher Selbsthilfeeinrichtungen wie Einkaufs- und Rohstoffgenossenschaften und Verkaufsmagazine konnten den handwerklichen Wirtschaftsbetrieb effizienter gestalten. Erwähnt zu werden verdient auch die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Innungsmitgliedern und den Meistern, Lehrlingen und Gesellen, vor allem aber der Unterhalt von Kranken- und Sterbekassen. Folgerichtig übertrug der Gesetzgeber diese Aufgaben den Innungen. Während die Zunft des Alten Handwerks aber eine Fülle von Funktionen ausgeübt hatte und den Lebenskreis ihrer Mitglieder weitestgehend umgriff, nahm die Innung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch berufsordnende, soziale und – in geringem Umfang – auch wirtschaftliche Aufgaben, einen exakt begrenzten Teil der früheren Zunftaufgaben also, wahr. Die religiösen, jurisdiktionellen, vor allem aber die politischen Aufgaben der Zünfte waren dagegen weitestgehend verschwunden oder aber dem Staat überantwortet worden.416 Eine Ausnahme aus ersterem Bereich bildeten lediglich die mancherorts fortlebenden Beerdigungszere412 Nipperdey (1976); hierbei handelt es sich um sozialhistorische Kategorien, deren Berücksichtigung aber, wie einleitend dargestellt, gelegentlich auch für die rechtshistorische Betrachtung unerlässlich sind. 413 Wie Anm. 412, S. 179. 414 Wie Anm. 412, S. 180. 415 S. Bergmann (1973), S. 81, 82; Abraham (1955), S. 48. 416 S. Fischer (1955), S. 74.
B. Die Innungen
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monien, wie sie dem Handwerk seit Jahrhunderten eigentümlich gewesen waren. Die sich von einer Vereinsversammlung kaum mehr unterscheidende Innungsversammlung, die sich ausschließlich mit beruflich-ökonomischen Themen befasste, hatte dagegen nichts mehr mit der Morgensprache der alten Zunft, die durch rituelle Formen und Gewohnheiten bestimmt gewesen war, gemein. Dieser Vorgang fügt sich in den Begriff von „Dekorporierung“, den Werner Conze 417 für die Auflösung der festen sozialen Ordnung des Mittelalters und des Ancien régime im 19. Jahrhundert gefunden hat und mit dem er die „Unruhe des aufgeschreckten Handwerks zwischen Zunftzwang und Gewerbefreiheit“ zu erfassen suchte. Da die Innung nach alledem auf durchaus beschränkte Ziele reduziert worden war, bewegten sich die Wünsche ihrer Mitglieder, wie zahlreiche Petitionen und Eingaben aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts belegen, desto nachdrücklicher in eine andere Richtung. Sie schwelgten in so wenig fassbaren Vorstellungen wie der „Pflege des Gemeingeistes“ oder der „Stärkung der Standesehre“.418 Da sollte der Zunftzwang wiederhergestellt, die Ausübung mehrerer Gewerbe durch ein und denselben Handwerker untersagt, die Altersgrenze für den Beginn der Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes heraufgesetzt, die Lehrlings- und Gesellenzahl beschränkt, der Handel der Kaufleute mit Handwerkswaren ausgeschlossen, die Arbeit der Militär- und Zollhauswerkstätten eingestellt und „Pfuschern“ das Handwerk gelegt werden. Für das Berliner Kleingewerbe hat Jürgen Bergmann gezeigt, dass solche Auffassungen nur mehr von Meistern einer „bestimmten abgegränzten Richtung“ vertreten wurden und ein tiefer Graben die Innungen „konservativer“ und „moderner“ Einstellung teilte.419 Dasselbe ist aufgrund der westfälischen Quellen nicht so eindeutig festzustellen. Wer sich schriftlich äußerte, vertrat in der Provinz in aller Regel die traditionellen Ziele des Handwerks, während das verbreitete Desinteresse an den Innungen, wenngleich mit Vorsicht, als Hinweis auf die Ablehnung des spezifischen Innungsmodells der Gewerbeordnung von 1845/49 durch die Handwerker erachtet werden kann. Dezidiert im liberalen Sinne ließen sich einzelne westfälische Handwerker dagegen erst in den sechziger Jahren vernehmen. Versuche, die Innungen an die neuen wirtschaftlichen, insbesondere industriellen Entwicklungen anzupassen, wurden in Westfalen nicht unternommen. Bedauert haben werden das am wenigsten die Gesellen. Sie waren der korporativen und jurisdiktionellen Rechte, welche sie im Alten Handwerk besessen hatten, verlustig gegangen und hatten diese im Rahmen der Innung auch nicht wiedergewinnen können. Folgerichtig gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellenverbände wirklich in die Innungen integriert waren.420 417 S. Conze (1970), S. 207–269 (255). 418 Vgl. dazu Krafft (1949). 419 So Bergmann (1973), S. 91; in diesem Zusammenhang bedarf es des Hinweises, dass die westfälischen Innungen mit denjenigen in Berlin, die, noch auf den ehemaligen Zünften beruhend, um ein vielfaches größer waren, ihre Aufgaben effizienter wahrnahmen und z. T. auch innovativ waren, nicht sehr viel mehr als die äußere Form gemein hatten. 420 So auch Bergmann (1973), S. 95, für das Berliner Handwerk; die Gesellenverbände können,
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Fragt man nach dem Stellenwert der Korporationen in der Provinz Westfalen, können das anfängliche, ehrliche Interesse zahlreicher Meister an dem neuen Institut nicht geleugnet und die von vielerlei Hoffnungen begleiteten Initiativen zur Errichtung der Genossenschaften insbesondere in Ostwestfalen nicht übersehen werden. Doch vermochten die Innungen die in sie gesetzten Erwartungen in keiner Weise zu erfüllen, und als sich diese Erkenntnis Bahn brach, zogen sich die Meister zurück. Ursächlich für ihren Sinneswandel war nicht zuletzt der konjunkturelle Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre, der eine vergleichsweise günstige wirtschaftliche Entwicklung auch des Kleingewerbes zur Folge hatte und Schutzund Förderungsmaßnahmen des Staates entbehrlich erscheinen ließ. Als auch manche Handwerker in den sechziger Jahren die vollständige Liberalisierung des Gewerberechts verlangten, war das Schicksal der Innungen besiegelt. Die Gewerbegesetzgebung folgte dieser Entwicklung mit einem gewissen Zeitverzug; erst die Gewerbeordnung des Jahres 1869 ging zur vollen Gewerbefreiheit über. Fasst man den Ertrag der Innungen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Handwerks im Untersuchungszeitraum zusammen, so wird man konstatieren müssen, dass dieser in Westfalen mehr als gering war: Die übergroße Mehrzahl der Meister gehörte keiner Innung an; obwohl die Gewährleistung der Lebensfähigkeit kleiner Betriebe von jeher das Hauptziel aller Genossenschaften gewesen war, stieg die Betriebsgröße in allen Teilen der Provinz allmählich an; selbst an der für das Handwerk folgenreichsten Innovation des 19. Jahrhunderts, dem Aufbau eines flächendeckend entwickelten Fachschulwesen, hatten die Innungen kaum Anteil. Selbst die ihr verbliebenen Funktionen effizient wahrzunehmen hatten sie sich als ungeeignet erwiesen. Die Mitglieder der Innungen nahmen sich, wenn sie denn überhaupt Aktivitäten zeigten, aus diesem Restbestand nur einiger weniger Aufgaben wie insbesondere der Hilfs- und Unterstützungskassen an. Mit den um ein Vielfaches entwickelteren und lebhafteren, wenngleich auch nicht wirklich effizienten Innungen, wie Jürgen Bergmann sie für Berlin eindrucksvoll beschrieben hat, teilte ihr westfälisches Pendant nur weniges. Erst als das Reichsgesetz des Jahres 1897 die Errichtung von Zwangsinnungen wieder zuließ, nahm das Innungswesen auch in den Westprovinzen einen neuen und dauerhaften Aufschwung – unter gänzlich anderen Bedingungen allerdings. Kehren wir zur Ausgangsfrage nach der Einordnung der westfälischen Innungen unter die Begriffe der Korporation und Assoziation zurück, so lässt sich folgendes feststellen: Als Korporationen kann man diese Innungen keineswegs qualifizieren, da sie nicht wie die Zunft des Alten Handwerks den Lebenskreis des Menschen weitestgehend erfassten, sondern nur noch in einige Teilbereiche des Berufslebens regelnd eingriffen. Entsprachen sie aber dem Typus der Assoziation? Diese beruhte auf der freien Entscheidung des auf sich selbst gestellten Individuums. Die Assoziation hatte die Auseinandersetzung der aufsteigenden bürgerlichen mit der vergehenden korporativen Gesellschaft maßgeblich mitgetragen.421 Nun sollte sie das Remedium gegen die wirtschaftlichen Nöte der Unter- und Mittelschichten werden. soweit sie nicht als Teil der Kassen und Laden zu qualifizieren sind, nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein, da sie eines spezifischen rechtlichen Rahmens entbehrten. 421 Vgl. Nipperdey, wie Anm. 412, S. 188.
C. Die Gewerberäte
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Die genossenschaftlich organisierte Selbsthilfe werde, so hofften die Propagandisten dieses Modells, den ökonomisch und sozial Schwachen die Wahrung ihrer Interessen durch Überwindung der Vereinzelung ermöglichen und ihnen dadurch die Freiheit erhalten. Der westfälische Unternehmer Friedrich Harkort förderte und verbreitete dieses Programm wie kein zweiter – die Innungen aber dürfte er dabei nicht im Sinn gehabt haben. Zwar hatte die Gesetzgebung der Jahre 1845/49 nicht die Zwangsinnung verordnet, doch verhinderte die mit der Gewerbegesetzgebung verbundene staatliche Reglementierung und Kontrolle, dass die Innung den Charakter einer wirklichen Assoziation, die doch gerade die Freiheit und den Individualismus des Bürgers zur Voraussetzung hatte, annehmen konnte. Der preußische Staat wollte sich, ganz anders als etwa der britische, in den vierziger und fünfziger Jahren keineswegs aus dem bürgerlichen Wirtschaftsleben zurückziehen.422 Dem elementaren Assoziationsbedürfnis der Zeit gaben die Handwerker- und Gewerbevereine, deren Anfänge zu Beginn der vierziger Jahre lagen und die während der Achtundvierziger-Revolution zum Zwecke organisierter Selbsthilfe in größerer Zahl entstanden, nicht aber die Innungen Ausdruck. Dass die Innung keinem der beiden damals zur Verfügung stehenden, Interessen bündelnden Gebilde, der vergehenden korporativen Ordnung einer- und der dem liberalen Sozialmodell korrespondierenden Assoziation andererseits, entsprach, bildete die Ursache ihres völligen Scheiterns. Die westfälischen Handwerker waren durch die fremdherrliche Gesetzgebung radikal aus den mittelalterlichen Bindungen gerissen worden. Sie wollten – wie die bürgerliche Gesellschaft insgesamt – aber keineswegs in der „Atomisierung“, welche dem 19. Jahrhundert so häufig vorgeworfen worden ist, verharren, sondern durchaus neue Bindungen eingehen. Die Entschlossenheit des preußischen Staates zur Einwirkung auf die Wirtschaft, die in der Gewerbegesetzgebung der Jahre 1845 und 1849 deutlich zum Ausdruck kommt, hatte ihnen das Innungsmodell aber verdächtig gemacht – und folgerichtig brachten sie es zum Scheitern. C. DIE GEWERBERÄTE 1. Die Entstehung a. Erste Vorläufer Nachdem im Frühjahr des Jahres 1848 überall in Preußen gärende Unruhe unter der arbeitenden Bevölkerung entstanden war, ergriffen mehrere Abgeordnete des preußischen Landtages in richtiger Einschätzung der bedrohlichen Lage eine politische Initiative, um – aus ihrer Sicht – größeres Unheil abzuwenden. Sie beantragten beim Ministerium, „dass in allen Landesteilen sofort Kommissionen aus Arbeitgebern und Arbeitenden jeder Art gebildet werden, um gemeinsam die dringendsten 422 S. Fischer (1961), S. 73. Dies zeigte sich besonders deutlich, als das Deutsche Reich 1897 die Zwangsinnungen wieder zuließ.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Mittel zu beraten, welche am geeignetsten sind, die Verhältnisse der arbeitenden Klassen zu bessern und zu heben.“423 Der neue Handelsminister v. Patow erließ bereits am 8. Mai 1848 eine Bekanntmachung, die gerade den Meistern und Gesellen das Gefühl besonderer staatlicher Fürsorge geben sollte und die, so merkwürdig dies auch scheinen mag, unübersehbar auf einen Solidarisierungseffekt zwischen den Handwerkern und dem Staat zielte.424 Patow führte aus, dass „die bedrängte Lage der Gewerbetreibenden und der von ihnen beschäftigten Arbeiter, deren Erwerb durch das Zusammentreffen verschiedener Ursachen beeinträchtigt“ sei, „die ernste Fürsorge der Regierung in Anspruch“ nähme und es notwendig mache, den misslichen Entwicklungen mit vereinten Kräften entgegenzuwirken. Von der Überzeugung ausgehend, dass die „selbsttätige Mitwirkung derjenigen, welche das gemeinsame Übel empfinden, die besten und sichersten Mittel zu dessen Hebung darbieten“ werde, „und dass vor allen Dingen eine genaue Kenntnis und Erörterung der vorhandenen Übelstände erforderlich“ sei, „um über die Möglichkeit ihrer Beseitigung ein begründetes Urteil fällen zu können“,425 empfahl er die Bildung von gemeinsamen Ausschüssen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern überall im Lande. Diese gewählten Gremien sollten, wie es in kaum zu übertreffender Unbestimmtheit hieß, auf lokaler Ebene unter der Leitung der Kommunalbehörden auf die „Abstellung schädlicher Gewohnheiten und Missbräuche“ hinwirken, vor allem aber die Frage untersuchen, welche Ortsstatuten aufgrund der §§ 168 und 169 der Allg. Gewerbeordnung erlassen werden könnten, um eine angemessene Ordnung der gewerblichen Verhältnisse herbeizuführen. Die in den einzelnen Gemeinden erarbeiteten Anträge und Vorschläge sollten an die sog. Bezirkskommissionen, die aus Mitgliedern der Lokalausschüsse gebildet werden und unter Leitung der Regierung stehen sollten, weitergeleitet werden. Diese Mittelinstanzen hatten die Anträge der Lokalausschüsse zu prüfen, die Erörterungen zu vervollständigen und die Entscheidungen der sog. Central-Kommission vorzubereiten. Das Spitzengremium aus sachverständigen Vertretern verschiedener Gewerbezweige, Fabrikanten, Meistern, Fabrikarbeitern, Gesellen und Gewerbegehilfen sollte unter Vorsitz des Handelsministers aufgrund des eingereichten Materials Vorschläge für Maßnahmen des Ge-
423 Adolf Wolff, Berliner Revolutions-Chronik. Darstellung der Berliner Bewegung im Jahre 1848 in politischer, socialer und litterarischer Hinsicht, Bd. 2, Berlin 1852, S. 102, zitiert nach Tilmann (1935), S 26. Die Idee, mehrere Innungen zu Gewerberäten zusammenzuschließen, war allerdings nicht den Abgeordneten zu danken. Sie war vielmehr Gemeingut der Handwerkerbewegung des Jahres 1848; s. Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses über den Entwurf einer Gewerbeordnung und verschiedene diesen Gegenstand betreffende Petitionen und Anträge (1848/49), S. 885. 424 In: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 1, fol. 12, 13; der Entwurf des Planes zur Errichtung der Ausschüsse vom April 1848 findet sich a. a. O., fol. 31. 425 Bekanntmachung des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, v. Patow, in: Amtsblatt der Reg. Münster v. 3.6.1848, S. 193–197; desgl. Amtsblatt der Reg. Minden v. 26.5.1848, S. 157–160; dazu umfassend und detailliert Tilmann (1935), S. 26 ff.; vgl. auch Roenne (1851), Bd. 1, S. 63 ff. und Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, II. Lieferung (1849), S. 161.
C. Die Gewerberäte
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setzgebers „zur Beförderung der Gewerbsamkeit und zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen“ vorbereiten. Insbesondere in kleineren Städten Preußens wurden solche Lokalausschüsse gebildet.426 Während sich für die ostelbischen Regierungsbezirke, Oppeln beispielsweise, aber auch für den rheinischen Bezirk Trier die Errichtung einer erklecklichen Anzahl derartiger „gemeinsamer Ausschüsse“ nachweisen lässt,427 war der Erfolg der Bekanntmachung vom 8. Mai 1848 in Westfalen mehr als kläglich. Die Regierung des um die Mitte des Jahrhunderts noch ganz und gar agrarisch strukturierten Bezirks Münster hatte angesichts „der Einfachheit der diesseitigen gewerblichen Zustände“, aber auch wegen der „Feindlichkeit des Verhaltens der Industriellen zueinander“ von vornherein nicht mit einem Erfolg des neuen Organisationsmodells gerechnet. In der Tat musste sie dem Ministerium berichten, dass im Münsterland nicht ein einziger dieser Ausschüsse errichtet worden sei, da hierfür „gar kein Bedürfnis“428 bestünde. Nicht viel mehr Erfolg war dem Konstrukt des Ministers Patow in Ostwestfalen beschieden. Im Regierungsbezirk Minden kam zunächst nur ein einziger LokalAusschuss, und zwar im Amt Petershagen im Kreis Minden, zustande. Der Versammlung gehörten 27 „von sämtlichen Gewerbetreibenden gewählte Mitglieder“429 an. Später trat ein ebensolches Gremium in Höxter hinzu, welches im Beisein eines Ratsherrn regelmäßig tagte. Da die vorgesehene Bezirks-Kommission aber nicht vorhanden war, fürchteten die dortigen Meister nicht zu Unrecht, dass ihre Reformvorschläge höheren Ortes nicht einmal wahrgenommen würden. Sie wandten sich deshalb mit ihrem zentralen Anliegen, der schleunigsten Beseitigung der Gewerbefreiheit, direkt an das Ministerium.430 Die „maß- und schrankenlose Gewerbefreiheit“, die sie „für einen Ruin des Gewerbestandes“ hielten, sollte durch eine „modifizierte Gildeordnung“, in der allein sie „den Hebel zum Emporblühen der Gewerbe“ erblickten, ersetzt werden.431 Noch geringer als im Mindener Bezirk war das Interesse an Patows Ausschüssen in Südwestfalen. Zur Verwunderung der Arnsberger Regierung wollten auch die Gewerbetreibenden dieses „industriösen“ Bezirkes von der staatlicherseits initiier426 S. Tilmann (1935), S. 27. 427 GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 1, z. B. fol. 183 ff., 295 ff. (Tabellen); eine Zusammenstellung der im Jahre 1848 errichteten Lokal-Ausschüsse findet sich auch in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 2, fol. 177. 428 Schreiben der Reg. Münster an das Handels- und Gewerbeministerium v. 31. August 1848, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 1, fol. 266. 429 Schreiben der Reg. Minden an das Handelsministerium Berlin v. 29. August 1848, in: GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 2, fol. 177; Mitglieder des Ausschusses waren: 2 Bäcker, 2 Tischlermeister, 1 Sattler, 1 Färber, 2 Fleischer, 2 Kaufleute, 2 Leineweber, 2 Schuhmacher, 1 Maurermeister, 1 Flickarbeiter, 2 Müller, 2 Nagelschmiede, 1 Schlosser, 2 Grobschmiede, 2 Schneidermeister, 2 Zimmermeister. 430 Schreiben des Lokal-Gewerbe-Ausschusses in Höxter v. 20. Januar 1849 an das Handels-Ministerium, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 60 Bd. 7, fol. 42 RS ff. 431 S. Anm. 430, fol. 44.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
ten Organisation nichts wissen. Obgleich die Beamten geglaubt hatten, dass es jedenfalls in den früh und nachhaltig industrialisierten Städten Iserlohn, Altena, Hagen und Lüdenscheid, der sog. Enneperstraße und den durch eine erhebliche Verdichtung der Gewerbetätigkeit auch auf dem Lande herausragenden Kreisen Iserlohn, Altena und Hagen zur Bildung von Ausschüssen und Kommissionen der vom Ministerium vorgesehenen Art kommen würde, zeigten die Gewerbetreibenden auch dort keinerlei Neigung, sich zu der seitens des Staates gewünschten „Erörterung gewerblicher Verhältnisse“ zusammenzufinden. Lediglich in der Stadt Meschede und im Land- und Stadtbezirk Menden wurden solche Gremien errichtet;432 hier geschah dies aber keineswegs, wie die Regierung dem Ministerium gegenüber betonte, weil die Überzeugung geherrscht hätte, dass es zwischen Arbeitern und Arbeitgebern erhebliche Missstände gebe. Dort, wo die neue Organisation ins Leben gerufen wurde, verdankte sie ihr Entstehen vielmehr der Initiative einflussreicher Persönlichkeiten am Orte selbst. Solche Förderer fanden sich aber nur wenige. Der Landrat des Kreises Iserlohn hielt nicht nur das von Patow gewählte Mittel für ungeeignet, um die „bedrängte Lage der Gewerbetreibenden und der von ihnen beschäftigten Arbeiter“ zu verbessern. Er bestritt vielmehr rundheraus, dass die „Übelstände und Missverhältnisse“, deren Beseitigung das Publikandum vom 8. Mai beabsichtigte, in seinem Kreis überhaupt vorhanden seien. Die gedrückte Lage der Arbeiter rühre vielmehr, so ließ er die Regierung wissen, lediglich „aus vorübergehenden Zeitumständen“ her. Initiierten die Behörden Ausschüsse wie die seitens des Ministeriums vorgesehenen, so erwecke dies bei den Betroffenen unerfüllbare Hoffnungen. Die Folge sei eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die niemand wünschen und welche die Lage aller Beteiligten nur verschlimmern könne.433 Mit dieser Analyse verkannte der Beamte sowohl den Ernst der revolutionären Situation in Iserlohn als auch die mäßigende Wirkung, die von der Einbindung der aufgebrachten Arbeiter und Handwerker in Organisationen wie Patows Ausschüssen vielleicht doch hätte ausgehen können. Wenngleich der Vorschlag des Ministers angesichts des allgemeinen Desinteresses zweifellos nicht sehr geeignet war, so wäre ein sichtbares Bemühen der Behörden um sozialen Ausgleich jedenfalls in den industrialisierten Regionen Westfalens doch um so notwendiger gewesen, um dem Aufruhr die Spitze zu nehmen. Es mag nicht zuletzt eine Folge des eklatanten Mangels an Sensibilität für die sozialen Probleme in seinem Kreis, den der Landrat erkennen ließ, gewesen sein, dass es gerade dort zu gewalttätigen Ereignissen kam: Am 10. Mai 1849 stürmten Landwehrleute und Bürger das Zeughaus in Iserlohn, beriefen einen radikalen Sicherheitsausschuss ein und erklärten die Regierung für abgesetzt. Die Ausgänge der Stadt wurden mit Barrikaden abgesperrt und die Aufständischen suchten Verbündete im bergischen 432 In Meschede war der Ausschuss für folgende Gewerbe gebildet worden: 1. Nahrungs- und Bekleidungsgewerbe, 2. Bauhandwerker, 3. Gewerbe für Haus- und Landwirtschaft, 4. Arbeitgeber. In Menden hatte eine getrennte Wahl nach verschiedenen Gewerben noch nicht stattgefunden; s. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 18. Juli 1848 an das Handelsministerium, in: GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 1, fol. 128. 433 Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 18. Juli 1848, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 59, Bd. 1, fol. 125.
C. Die Gewerberäte
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Industriegebiet. Als am 17. Mai schließlich Militär in die Stadt eindrang, wurden in kurzer Zeit über 100 zumeist wehrlose Menschen niedergemacht. Von den in dem nachfolgenden Verfahren angeklagten 61 Iserlohnern waren 39 Fabrikarbeiter und 13 Handwerker434 – eben die Adressaten des Patowschen Befriedungsmodells, das zu unterstützten der bornierte Landrat nicht für notwendig erachtet hatte. Die Ähnlichkeit, die das in Berlin formulierte, ebenso knappe wie unklare Regierungsprogramm zur Einrichtung „gemeinsamer Ausschüsse“ mit den Zielen der Handwerkerbewegung und den Entwürfen des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Frankfurter Nationalversammlung verband, war nur äußerer Natur. Patow ging es keineswegs um den Aufbau einer „sozialen Wirtschaftsverfassung“.435 Seine zentralistische Organisation hatte die Beratung der gewerblichen Fragen auf einen kleinen Kreis von Sachverständigen beschränken und dadurch großen Volksversammlungen und der Bildung von Gewerbevereinen vorbeugen wollen. Gerade diese Intention blieb den Handwerkern aber nicht lange verborgen. Folgerichtig zeigten sie kein Interesse an der neuen Einrichtung. Auch der Nachfolger Patows, Carl August Milde, der im Juni 1848 das preußische Handelsministerium übernommen hatte, erkannte sofort die allzu offenkundigen Ursachen für das Scheitern dieses ersten staatlichen Versuches, die ökonomische Lage und die organisatorisch-soziale Situation der gewerbetreibenden Bevölkerung unter Mitwirkung der Betroffenen zu erörtern und zu regeln. In einem Brief an Hermann Schulze-Delitzsch vom 20. August 1848 schrieb er: „Teils haben die den Innungen angehörenden oder zu größeren Versammlungen oder Vereinen zusammengetretenen Handwerker schon aus eigenem Antrieb die an die Staatsregierung und an die Gesetzgebung zu stellenden Anforderungen beraten und deshalb keine Veranlassung gefunden, auf die Wahl neuer Ausschüsse oder Kommissionen unter Leitung der Behörde einzugehen, teils ist ein Bedürfnis zur Erledigung örtlicher Beschwerden und Streitigkeiten nicht hervorgetreten, während in der fast überall erfolgten Abfassung gemeinsamer Gesuche um Abänderung bestehender Gesetze die Bildung besonderer Ausschüsse entbehrlich schien“.436 Dass die Handwerker, vor allem die Gesellen und Fabrikarbeiter, im Revolutionsjahr 1848 den Maßnahmen der Regierung nicht das nötige Vertrauen entgegenbrachten, verschwieg der Minister geflissentlich.437 Der Erlass vom 8. Mai 1848 musste scheitern, da er den eigentlichen Forderungen der Handwerker, jener nach Einschränkung der Gewerbefreiheit zumal, diametral entgegenstand und die Betroffenen mit wolkigen Versprechungen wie der „Abstellung schädlicher Gewohnheiten und Missbräuche“ abzuspeisen suchte. Den Anliegen der Handwerker- und Gesellenbewegung, wie sie damals in den zahllosen Petitionen und Vorschlägen für eine neue Gewerbeordnung so deutlich zum Ausdruck kamen, erteilte die Berliner Regierung dagegen eine unmissverständliche Absage. Der Beschränkung der Konkurrenz und der Erhöhung des Arbeitslohnes, der Errichtung autonomer Gewerbekommissio434 435 436 437
Behr (1983), S. 93. Teuteberg (1961), S. 322. Der Brief Mildes an Schulze-Delitzsch ist zitiert bei Tilmann (1935), S. 27. Tilmann (1935), S. 27.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
nen, Bezirks- und Landesgewerbevorstände438 und freigewählter Gewerberäte als Vertreter der Innungen sowie sog. Gewerbekammern schenkte man „höheren Orts“ keinerlei Beachtung. Bloße Manöver, die noch dazu allzu durchsichtig waren, reichten im Stadium eines fortgeschrittenen revolutionären Prozesses aber nicht mehr aus, um die „handarbeitenden Klassen“ zu beruhigen. b. Eine neue Initiative Der Handelsminister Milde439 sah nach diesem Misserfolg vorerst von weiteren Maßnahmen der preußischen Regierung ab. Er setzte stattdessen auf die Unterstützung der Arbeit der Kommission der Frankfurter Nationalversammlung und wollte deren Beschlüsse abwarten.440 So schienen die Handwerker aus Berlin zunächst nichts weiter hoffen zu können. Es ergab sich allerdings bald eine naheliegende Möglichkeit, zu einer Neuregelung wichtiger Aspekte der gewerblichen Verhältnisse zu kommen. Die seit Ende Mai in Berlin tagende Preußische Nationalversammlung bildete am 21. Juli 1848 eine besondere Kommission für Handwerkerund Gewerbeverhältnisse mit dem Auftrag, unter „Zuziehung freigewählter Sachverständiger aus dem Handwerkerstande Vorschläge zur schleunigsten Abhilfe der dringendsten Beschwerden behufs eines bis zum Erscheinen einer definitiven Gewerbeordnung gültigen und demnächst zu erlassenden provisorischen Gesetzes zu machen.“441 Milde hoffte, dass der Ausschuss umgehend praktikable Lösungsmöglichkeiten für die dringliche Neuregelung der Gewerbeordnung442 aufzeigen werde. Auch durfte er annehmen, dass die Handwerker zu den Beschlüssen eines gewählten Parlaments mehr Vertrauen haben würden als zu den Dekreten der ungeliebten Regierung. Der Minister stellte deshalb dem Gremium alle einschlägigen Vorarbeiten seines Hauses zur Verfügung. Die Fachkommission für die Handwerksverhältnisse unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsassessors Schulze (Delitzsch) hatte sich darüber hinaus auch noch mit den Beschlüssen der Frankfurter Nationalversammlung, der Meister-, Gesellen- und Arbeiterkongresse sowie rund 1600 eingegangenen Petitionen zu beschäftigen.443 Sie billigte in der Tat bald die Forderungen des Frankfurter Handwerkerkongresses. So sprach sich der Ausschuss u. a. auch für die Einrichtung von Gewerberäten aus.444 Das geplante Gesetz sollte bestimmen, dass 438 S. Vorschläge des Frankfurter Gesellenkongresses … (1980), S. 211. 439 Milde hatte das Ministerium am 25.6.1848 übernommen. Zu seiner Person vgl. Wippermann (1970), S. 733–737. 440 Zur Konzeption der Gewerberäte im Entwurf einer Gewerbeordnung des Frankfurter Handwerker- und Gewerbekongresses s. Benario (1933), S. 58 ff.; insbes. S. 64, 65. Zur Entstehung der Gewerberäte s. Teuteberg (1961), S. 320–335. Eine Darstellung der Tätigkeit des Gewerberates in Münster liegt aus der Feder von Hans-Joachim Behr (1990), S. 131–147, vor. 441 Vgl. Tilmann (1935), S. 32. 442 Der Begriff wird hier im rechtlichen Sinne verstanden; zur Begrifflichkeit s. Huber (1953), S. 23 f. 443 Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, II. Lieferung (1849), S. 162, zitiert nach Teuteberg (1961), S. 323; Bergengrün (1908), S. 205; zu den Petitionen vgl. Best (1980). 444 Tilmann (1935), S. 33; zum folgenden Tilmann (1935), S. 34. Vgl. auch Brand (1992); ders.
C. Die Gewerberäte
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an allen Orten aus den Verbänden der Innungen ein Handwerkerrat zu bilden sei, in dem auch die Gesellen ihre Interessen wahrzunehmen aufgefordert waren. Doch noch bevor die Vorschläge konkrete Gestalt annahmen, wurde die Berliner Nationalversammlung am 5. Dezember 1848 aufgelöst. Ihre Arbeit jedoch war, jedenfalls sofern sie der Reform der Gewerbeordnung gegolten hatte, nicht vergebens. Denn die bald darauf erlassene Notverordnung vom 9. Februar 1849 beruhte in wesentlichen Teilen auf den Entwürfen der Kommission für Handwerker- und Gewerbeverhältnisse. c. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 Die Handwerker, die nach der Auflösung der Preußischen National-Versammlung fürchten mussten, dass die von ihnen nachdrücklich geforderten gesetzlichen Regelungen wieder nicht verwirklicht würden, wandten sich in verschiedenen Petitionen nunmehr an den König, um ihrer Sache Nachdruck zu verleihen. Friedrich Wilhelm IV. betraute den Elberfelder Bankier von der Heydt, der inzwischen das Handelsministerium übernommen hatte, mit der Prüfung der Angelegenheit. Der neue Minister ging mit Tatkraft an die Revision der Gewerbeordnung von 1845. Er ließ zunächst zwei Entwürfe ausarbeiten. Der zweite dieser Vorschläge sah die Errichtung von Behörden vor, welche Angelegenheiten des Handwerkerstandes im Verwaltungswege erledigen und für die Gewerbetreibenden und ihre Innungen organischer Mittelpunkt sein sollten.445 In enger Anlehnung an die Vorschläge des Frankfurter Handwerkerparlaments, dass den Aufbau eigenständiger gewerblicher Gremien gefordert und eine Scheidung dieser sog. Gewerberäte in spezielle Gewerbegerichte und die eigentlichen, administrierenden Gewerberäte empfohlen hatte, trennte auch der Entwurf des Handelsministers zwischen verwaltender und richterlicher Tätigkeit.446 Um aber nicht noch einmal das Scheitern seiner Initiative erleben zu müssen, wollte sich das Ministerium zunächst der Zustimmung der betroffenen Handwerker versichern. Man hielt deshalb die Anhörung von Sachverständigen für geboten. Auf Einladung von der Heydts447 entsandten die Provinzial-Handwerkervereine sämtlicher preußischer Provinzen je zwei Meister und einen Gesellen nach Berlin, um den Entwurf des Handelsministeriums zu beraten. Es entsprach der Zusammensetzung dieser Versammlung und den Intentionen des Ministers gleichermaßen, dass die Forderungen der Handwerker im Mittelpunkt der Erörterungen standen.448 Bei den Beratungen, die am 17.–30. Januar 1849 in Berlin449 stattfan(1995); ders. (2001); ders. (2005). 445 Vgl. dazu Krahl (1937), S. 35. 446 Eine ausführliche Wiedergabe der Diskussion über die Einführung von Gewerberäten auf dem Frankfurter Handwerker- und Gewerbekongress und der einschlägigen Bestimmungen des Entwurfs einer Gewerbeordnung, den der Kongress verabschiedete, findet sich bei Benario (1933), S. 58–71. 447 Der Minister wollte „sachkundige Männer aus dem Gewerbestande bei dem Ministerium … vernehmen“; s. Schreiben des Handelsministers von der Heydt v. 1.1.1849, in: GStA/PK, Zivilkabinett, 2.2.1. Nr. 27761, fol. 34. 448 S. Anm. 447. 449 Aus Westfalen nahm der zur Gruppe Winkelblechs gehörende Drechslermeister Todt aus Min-
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
den, erhielt der mehrfach gestellte Antrag, einen besonderen Handwerkerrat zu bilden, der nur in bestimmten Fällen mit dem Fabrikenrat und den Handelskammern zusammenarbeiten sollte, bei der Mehrzahl der anwesenden Gewerbetreibenden keine Unterstützung.450 Die neue Körperschaft sollte statt dessen aus drei Abteilungen, der Handwerker-, Fabriken- und Handelsabteilung, bestehen. Den Arbeitnehmern billigte man, was ein absolutes Novum darstellte, eine eigenständige Mitwirkung zu. In dem Handwerker-Gremium sollten die Gesellen und Meister in der Weise vertreten sein, dass der Arbeitgeberseite stets ein Mitglied mehr angehörte, „um eine notwendige Mehrheit bei den Abstimmungen zu erreichen“.451 Auch auf die Beteiligung der Fabrikarbeiter wollte man angesichts der revolutionären Ereignisse des vorhergehenden Jahres nicht verzichten. Nachdem die Sachverständigen auseinandergegangen waren, ließ von der Heydt in großer Eile einen Entwurf ausarbeiten, der die Vorschläge der Kommission berücksichtigte. Bereits am 9. Februar 1849 wurde die Verordnung „betreffend der Errichtung von Gewerberäten und verschiedene Veränderungen der allgemeinen Gewerbeordnung“452 vom König unterzeichnet, da, wie dieser meinte, „der gesamte Handwerkerstand sich mit der nahen Gefahr der gänzlichen Auflösung bedroht“ sehe und „durch unverzügliche Ordnung und Regelung seiner Verhältnisse die Beruhigung der öffentlichen Zustände, welche auch für einen gedeihlichen Handels-Verkehr ein unabweisliches Bedürfnis ist, wesentlich mitbedingt“ werde.453 Auf Antrag der Gewerbetreibenden sollten sich die Gewerberäte überall dort konstituieren, wo man wegen „erheblichen gewerblichen Verkehrs“ ihrer guten Dienste bedürfe (§ 1). Die Verfahrensordnung sah vor, dass das Handelsministerium die Anträge nach Anhörung der kaufmännischen Korporationen und der Ge-
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den an den Verhandlungen teil; s. Benario (1933), S. 101; daneben waren der Buchbindermeister Petrasch aus Rüthen und der Tuchmachergeselle Faudt vertreten; s. GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1. Die sog. „Central-Handwerker-Vereine“ sollten die Deputierten entsenden. Da es in Westfalen einen die ganze Provinz umfassenden Interessenverband der Handwerker nicht gab, bestanden für die Teilnehmer aus Westfalen gewisse Legitimationsprobleme: Todt aus Minden war durch „Vollmacht des Vorstandes des Central-Handwerker-Vereins“ zu Bielefeld legitimiert, Petrasch aus Rüthen durch „Protokoll einer Wahlversammlung von Handwerker-Deputierten zahlreicher Städte des Rgbz. Arnsberg“, und Faudt erschien ebenfalls mit Vollmacht des Bielefelder „Central-Handwerker-Vereins“; s. Verhandlungen, betr. die Berathung des Entwurfs einer Verordnung zur Ergänzung der allgemeinen Gewerbeordnung v. 17.1.1845, in: GStA/PK, Innenministerium Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1, fol. 62 ff. (63 RS). Weitere wichtige Quellen sind die „Stenographischen Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung v. 30. Mai 1849 einberufenen II. Kammer, Bd. 2 (Beilage), S. 697 und der Kommissionsbericht über die Revision der Verordnung v. 9.2.1849, betr. die Errichtung von Gewerbe-Räthen und Abänderung der Gewerbe-Ordnung“, s. Teuteberg (1961), S. 325. Tilman (1935), S.40. Teuteberg (1961), S. 326; Vietinghoff-Scheel (1972), S. 86. S. auch Brand, Die Herausbildung … (2005). Gesetzes-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten 1849, S. 93; über die Entstehung des Gesetzes vgl. die detaillierte Darstellung bei Tilmann (1935), S. 35–41; Teuteberg (1961), S. 325–327; Benario (1933). Eine knappe Zusammenfassung des Inhalts der Verordnung über die Errichtung von Gewerberäten findet sich auch bei Behr (1990), S. 131–147 (132 f.). Zitiert nach Tilmann (1935), S. 41.
C. Die Gewerberäte
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meindevertreter zu genehmigen hatte.454 Allein Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus Handwerk und Industrie sowie allen Handeltreibenden, die das 24. Lebensjahr vollendet hatten und seit wenigstens sechs Monaten im Bereich des Gewerberates wohnten oder in Arbeit standen, wurde das aktive Wahlrecht zuerkannt.455 Wählbar waren alle Wahlberechtigten, die das 30. Lebensjahr zurückgelegt hatten und ihr Gewerbe seit mindestens fünf Jahren betrieben. (§ 8) Die Kandidaten wurden in besonderen Versammlungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils auf vier Jahre gewählt (§ 9 Abs. 2). Die Verordnung bestimmte, dass der Rat „zu gleichen Teilen aus dem Handwerkerstande, aus dem Fabriken- und aus dem Handelsstande des Bezirkes zu wählen“ sei (§ 3), wobei in seiner Handwerks- und Fabrikabteilung auch die Arbeitnehmer, allerdings mit jeweils einem Mitglied weniger als die Arbeitgeber, vertreten waren (§ 5). Diese Zusammenfassung gänzlich antagonistischer Kräfte erfolgte merkwürdigerweise auf Vorschlag der Handwerkerkommission. Die völlig neue Einrichtung der Gewerberäte hatte die Aufgabe, „die allgemeinen Interessen des Handwerks- und Fabrikbetriebes in ihrem Bezirk wahrzunehmen und die zur Förderung derselben geeigneten Einrichtungen zu beraten und anzuregen“. (§ 2) Entscheiden durfte das neue Gremium aber nur in wenigen Fällen;456 diese Kompetenz stand ihm bei der Abgrenzung der Gewerbe, bei Gesuchen eines Gesellen oder eines Lehrlings, die Meister- bzw. Gesellenprüfung vor Ablauf der vorgeschriebenen gesetzlichen Frist ablegen zu dürfen und bei der Festsetzung der täglichen Arbeitszeit der Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter zu. Ferner sollte der Rat durch ortsstatutarische Anordnungen arbeitsrechtliche Regelungen treffen können, die durch individuelle Arbeitsverträge nicht mehr abgeändert werden durften. Im Übrigen sollte sich die Tätigkeit des Gremiums auf die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen über das Innungswesen, die Meister- und Gesellenprüfungen, die Annahme und Behandlung der Gesellen, Gehilfen und Arbeiter sowie die Abgrenzung der Arbeitsbefugnisse und die sonstigen gewerblichen Verhältnisse beschränken. Amtlichen Anstrich bekamen die Maßnahmen der Räte dadurch, dass sie ihre Wahrnehmungen zur Kenntnis der Behörden zu bringen hatten und verpflichtet wurden, auf Ersuchen staatlicher Stellen Auskunft zu erteilen und Gutachten zu erstatten. Immer dann, wenn staatliche Tätigkeit in den Handwerks- und Fabrikbetrieb eingriff, musste der Gewerberat gehört werden. Die organisatorischen Voraussetzungen für das Gedeihen der neuen Einrichtung wurden durch § 21 der Verordnung geschaffen. Die jeweilige Kommune hatte die Geschäftsräume zur Verfügung zu stellen, während die Gewerbetreibenden selbst die Kosten für die laufende Geschäftsführung durch Beiträge übernehmen mussten. 454 Nach der Ausführungsverordnung des Handelsministers v. 31.3.1849 musste zunächst nach Anhörung der gewerblichen Korporationen, der Kaufmannschaften und der Gemeindevertreter das Bedürfnis zur Errichtung eines Gewerberates anerkannt werden. Darauf hatten die Regierungen „Vernehmungen über die Abgrenzung des Bezirkes, über die im Gewerberathe zu vertretenden Klassen der Gewerbetreibenden und über die fortzusetzende Zahl der Mitglieder zu veranlassen“; s. Verordnung v. 31.3.1849, in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 64, Bd. 1, fol. 5. 455 Zu den Wahlvorschriften s. Teuteberg (1961), S. 326, 327; vgl. auch Geissen (1936), S. 32. 456 S. dazu Geissen (1936), S. 31, 32.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Mit diesen Bestimmungen über die Errichtung der Gewerberäte hatten demokratische Elemente Eingang in die Gewerbegesetzgebung gefunden. Der Staat signalisierte den Handwerkern, die weitestgehende Schutzbestimmungen gefordert hatten, Verständnis und Entgegenkommen. Wie gering die Substanz der Zugeständnisse in Wahrheit aber war, mussten sie bald erkennen457. Wenig später schon ergänzte das Handelsministerium die Normen der Verordnung nämlich durch verschiedene Zirkularreskripte. Praktische Bedeutung erlangten vor allem das Verbot, die Verhandlungen öffentlich zu führen,458 die Vorzensur der Gewerberatspublikationen durch die Behörden459 und die Anordnung der Unselbständigkeit der einzelnen Abteilungen nach außen.460 Gerade die beiden ersteren Bestimmungen gaben dem Erstarken der Reaktion und der Schwächung des demokratischen Elementes überdeutlichen Ausdruck, während die letztere Anordnung die selbständige Artikulation der potentiell oppositionellen Handwerker verhindern und ihre Kräfte durch die Bindung an den Handels- und Fabrikantenstand geschickt zu neutralisieren beabsichtigte. Schon diese Maßnahmen allein wären geeignet gewesen, den ursprünglich mit „Ansprüchen aller Art beseelten Corporationen“ das Lebenslicht auszublasen.461 Wenn das geplante Reformgesetz dennoch als Mittel zur Wiederbelebung der Gewerberäte verkauft wurde, geschah dies aus dem einzigen Grunde, ein vordergründiges Zugeständnis an die führende konservative Partei und die Zweite Kammer zu machen, in der bereits eine Revision der Gewerbegesetzgebung von 1849 im Interesse des Handwerks beantragt worden war.462 Zu gleicher Zeit nämlich erklärte von der Heydt ungerührt dem König, das „Eingehen“ der Gewerberäte „sei kein großes Unglück“. Ihre Errichtung sei eine in der Revolutionsphase aus taktischen Gründen gebotene Maßregel gewesen: „Die wüste Agitation in formlosen Handwerkerversammlungen, die überhand zu nehmen drohte, hörte allmählich auf, die Wahlen zu den Gewerberäten … wirkten wie ein Ventil für die allgemeine Aufregung“.463 Die Gewerberäte hatten nach dem Willen ihres Schöpfers die einzige Aufgabe, der unkontrollierbaren Handwerkerbewegung mit ihren regellosen Aktionen ein Ende zu setzen. Die Wogen des Aufruhrs sollten zunächst kanalisiert werden und die Volksaufläufe und Versammlungen ein schnelles Ende in harmlosen Diskussionen kleiner, überschaubarer Kreise unter Aufsicht des Staates finden. Die in den Ränken der Politik noch ganz unerfahrenen, arglosen Handwerker schluckten den Köder, den der Minister ausgelegt hatte, tatsächlich und dankten dem Staate für das Geschenk der Verordnung von 1849 mit politischem Wohlverhalten. Dass sie Steine statt Brot bekommen hatten, sollten sie alsbald schmerzlich erfahren. 457 Zur Kritik an den Bestimmungen über die Errichtung von Gewerberäten, insbesondere seitens des Präsidenten des Preußischen Revisionskollegiums für Landeskultursachen, Adolf Wilhelm Lette, s. umfassend Teuteberg (1961), S. 327–329. 458 Reskript v. 28. August 1850, s. v. Rönne (1851), Bd. 1, S. 46. 459 Reskript v. 5. Oktober 1850, s. v. Rönne (1851), Bd. 1, S. 47. 460 Reskript v. 5. Oktober 1850, s. v. Rönne (1851), Bd. 1, S. 46. 461 Bodemer (1859), s. 43, s. Teuteberg (1961), S. 332. 462 S. Teuteberg (1961), S. 332. 463 So von der Heydt, zitiert nach Bergengruen (1908), S. 207.
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d. Die Durchführung der Verordnung Nachdem die Vorschriften in Kraft getreten waren, der Minister auf deren schleunigste Realisierung und die Mitwirkung der Behörden hingewirkt464 und die Regierungen dem Verfahren zur Errichtung der Gewerberäte eine feste Form gegeben hatten,465 konstituierten sich die neuen Institutionen vornehmlich in den mitteldeutschen und schlesischen Industriebezirken. Bis zum Beginn des Jahres 1851 genehmigten die Aufsichtsbehörden insgesamt 93 Gewerberäte.466 Auch in Westfalen hatten Kleingewerbetreibende – wie etwa die Handwerker der Stadt Siegen in ihrer Petition an die Frankfurter National-Versammlung – die Errichtung von Gewerberäten gefordert.467 Das Interesse an der neuen Einrichtung war in der Provinz von Anfang an aber deutlich geringer als in manchen anderen Landesteilen Preußens.468 Für diese Apathie gab es mehr als einen Grund: (1) Vereinzelte publizistische Bemühungen um eine Popularisierung des Instituts in Westfalen schlugen fehl. Das 1850 in Soest gegründete „Central-Blatt für Handel und Gewerbe und Organ der Gewerberäthe in Rheinland-Westfalen“ wollte sich als Sprachrohr der Behörden für gewerbliche Mitteilungen und als Forum für die Kommunikation der Gewerberäte untereinander einen Namen machen, musste aber noch im Entstehungsjahr wieder eingestellt werden.469 (2) Die Schwierigkeiten, die der Realisierung der Mitwirkungsrechte des Handwerks entgegenstanden, traten nahezu in allen westfälischen Städten in gleicher Weise auf, da sie nicht nur aus den Bestimmungen der Verordnung v. 1849 464 Der Minister empfahl den Regierungen „die Beschleunigung der zur Ausführung jener Verordnung noch zu treffenden Einleitungen um so dringender …,je weniger die angebahnte Umgestaltung der gewerblichen Zustände den einseitigen Bestrebungen der zunächst beteiligten Klassen der Gewerbetreibenden überlassen und der Ansicht Raum gegeben werden“ dürfe, dass „zur Begründung der neuen Einrichtungen die Mitwirkung der Behörden entbehrlich sei“; STAM Oberpräsidium Nr. 2794, fol. 54, hier zitiert nach Behr (1990), S. 133. 465 Z. B. die Regierung Minden durch Bekanntmachung v. 28.4.1849, in: Amtsblatt der Reg. Minden v. 1852, S. 255; durch die Bekanntmachung wurden die Kommunalbehörden veranlasst, auf einschlägige Anträge hin Erklärungen der gewerblichen Korporationen und der Kaufmannschaft sowie der Gemeindevertreter über das Bedürfnis zur Errichtung eines Gewerberates anzufordern. Wurde das Bedürfnis anerkannt, hatten sich die Kommunalbehörden über die vorgesehene Zusammensetzung etc. zu äußern. Darauf war die Bildung des Gewerberates durch den Handelsminister zu genehmigen. Die folgenden Wahlen wurden durch einen von der Regierung ernannten Kommissar geleitet. 466 Teuteberg (1961), S. 327. 467 Petition der Handwerker der Stadt Siegen an die Frankfurter National-Versammlung v. 25.7.1848, in: Bundesarchiv (Außenstelle Frankfurt) DB 51/141, fol. 94; der wichtigste Zweck dieser Institution sollte die Überwachung der gewerblichen Ausbildung sein. 468 In den zahlreichen Petitionen westfälischer Handwerker an die Frankfurter Nationalversammlung wird der Wunsch nach Errichtung von Gewerberäten nur einmal vorgetragen (von den Siegener Handwerkern). Gewerberäte wurden in der Tat auch zuerst in den Städten des Ostens errichtet; s. Benario (1933), S. 105. 469 S. Köhn (1973), S. 81.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
selbst, sondern auch aus den natürlichen Gegebenheiten der Provinz folgten: Wegen der zahlreichen kleinen Städte, Wigbolde und Dörfer zwischen Rhein und Weser, die zwar an der seitens des Gesetzgebers gewünschten Organisierung des gewerblichen Lebens teilhaben wollten, den geforderten „erheblichen Verkehr“ aber nicht nachweisen konnten, stellte sich die Frage, ob auch den Landhandwerkern gestattet werden sollte, gleichberechtigt an den Wahlen zu den Gewerberäten teilzunehmen. Die Meinungen hierzu waren geteilt: Während die Siegener und Soester Handwerker für eine organisatorische Trennung von Stadt und Land eintraten, waren ihre Berufsgenossen in Paderborn bereit, die Handwerker der kleinen Nachbargemeinden in den Wirkungsbereich des Gewerberates einzubeziehen. In Lippstadt und Altena verstand man sich sogar dazu, den größten Teil des Landkreises in den Gewerberatsbezirk einzugliedern.470 (3) Wesentlicher für den geringen Erfolg des neuen Korporationsmodells waren aber organisatorische Probleme: Hatten sich die Gewerbetreibenden mit den Vertretern der jeweiligen Stadt über die örtliche Zuständigkeit des Gewerberates einigen können, mussten die Wahllisten aufgestellt werden (§ 11 d. Verordnung). Hierbei gab es häufig Schwierigkeiten. In Münster beispielsweise konnten, nachdem die Genehmigung des Ministers am 22. Februar 1850 erteilt war, die Wahlen zunächst nicht durchgeführt werden, weil manche Gewerbetreibende schon bei den organisatorischen Vorbereitungen nicht mitwirken wollten.471 Wurden die Wahlen schließlich doch ausgeschrieben, war die Beteiligung zumeist schwach. Als typisch für das Desinteresse vieler Wahlberechtigter an der neuen Einrichtung insgesamt dürfte der Verlauf der Wahl in Münster im Juli 1850 zu erachten sein:472 Tabelle 4: Wahlbeteilung an der Wahl des Gewerberates in Münster 1850 Dort erschienen von 1001 Handwerksmeistern 580 Gesellen 333 Handeltreibenden 22 Fabrikanten 75 Fabrikarbeitern
2010
207 175 97 9
29 517
470 Bzgl. Siegen: Petition der Handwerker des Krs. Siegen v. 25.7.1848, in: Bundesarchiv (Außenstelle Frankfurt) DB 51/141, fol. 94a; bzgl. Soest: Stadtarchiv Soest XXXII c 8, Bd. 1 (1848– 1849); bzgl. Lippstadt: Verwaltungsbericht der Stadt Lippstadt 1850/51, S. 5, in: Stadtarchiv Lippstadt; bzgl. Paderborn: Amtsbl. d. Reg. Minden v. 15.4.1853, Jahrg. 1853, S. 154, 155. 471 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster an die Regierung v. 2.7.1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 791; desgl. Schreiben des Wahlkommissars v. Olfers an die Regierung v. 12.8.1850, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790; zu dem Verfahren zur Errichtung des Gewerberates in Münster im Einzelnen s. Behr (1990), S. 133 ff. In Minden waren schon am 17.12.1849 Wahlen zum Gewerberat durchgeführt worden, s. Stadtarchiv Minden F 183. 472 S. Anm. 471; vgl. Behr (1990).
C. Die Gewerberäte
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Auffällig und signifikant zugleich ist, dass selbst die Meister und Gesellen der Provinzialhauptstadt, die doch in der Handwerkerbewegung der Revolutionszeit ihre Forderungen zu artikulieren und politisch zu agieren gelernt hatten, kein rechtes Interesse an der neuen Einrichtung zeigten. In Münster hatten die Handeltreibenden der Gewerbesteuerklasse A, also die Kaufleute mit „kaufmännischen Rechten“, die wohlhabende Schicht der Inhaber größerer Handelsgeschäfte in der Stadt, versucht, den Bankier Niedick bei der Wahl durchzubringen. Als dies misslang, zwei der Gewählten die Wahl ablehnten und statt dessen in der Handelsabteilung von der Mehrheit der Kleinhändler „schweineschlachtende Höker und Schenkwirte“ gewählt wurden, wie der münsterische Magistrat voller Missbehagen der Regierung mitteilte, wusste jedermann in der Stadt, dass die in ihrem Stolz gekränkten etablierten Kaufleute die Niederlage nicht vergessen und sich bei späteren Wahlen nicht mehr beteiligen würden.473 Die Folge dieses Ergebnisses war aber auch, dass die Regierung am Orte zunächst nichts unternahm, um den gewählten Gewerberat, zu dessen Vorsitzendem der Kleidermacher Bartz bestimmt worden war,474 in sein Amt einzuführen. Mit kaum unterdrücktem Zorn wandten sich deshalb Vertreter fast aller Handwerke der Stadt Münster an die das neue Institut unverhohlen boykottierende Behörde: „… wie der hiesige Gewerbestand mit großem Missvergnügen beobachtet, dass Eine hochl. Königl. Regierung die Ausführung des Gesetzes und den Willen Sr. Majestät des Königs in die allzu weite Ferne stellt, und uns fortwährend noch um das bitten lässt, was hochdieselbe angesichts der Missverhältnisse im Gewerbe aus eigener Pflichterfüllung schon Jahre lang hätte thun sollen“.475 Auch dieser Vorstoß blieb aber fruchtlos, so dass die münsterischen Gewerbetreibenden schließlich den Handelsminister ersuchten, den Gewerberat einzusetzen. Nur unter lebhaftem Bedauern stellte der Magistrat, der nicht aufhörte, die Gewählten als unqualifiziert zu bezeichnen, erst ein halbes Jahr nach der Einsetzung und auf entsprechende Anweisungen hin die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügung.476 So konnte die neue Einrichtung, die im Wesentlichen von den Handwerkern getragen wurde, in
473 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster an die Reg. v. 22.11.1850, in: StAM, Reg. Münster Nr. 790; desgl. Bericht der Reg. Münster über das Wahlergebnis an den Handelsminister v. 30.8.1850, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790; desgl. Schreiben des Handelsministeriums an die Reg. Münster v. 8.2.1851, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790; Schreiben der Reg. Münster an den Handelsminister v. 27.3.1851, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790. Die Kaufleute ohne kaufmännische Rechte in Münster (369 Gewerbetreibende) konnten diejenigen mit kaufm. Rechten (196 Gewerbetreibende) jederzeit majorisieren. Um dem aus diesem Umstand notwendig folgenden Desinteresse der Kaufleute der Klasse A entgegenzuwirken, hatte der Magistrat mit Schreiben v. 2.9.1852 an die Regierung vorgeschlagen, die Zahl der Mitglieder des Handelsstandes solle für beide Klassen getrennt festgesetzt werden. Der Vorstoß fand aber keine Zustimmung. 474 GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 20, fol. 25. 475 Schreiben von Vertretern fast aller Handwerke v. 26.12.1850 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790. 476 Schreiben der Reg. an die Stadt Münster v. 28.2.1851, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Münster erst nach schweren Geburtswehen am 15. Mai 1851 ihre Arbeit aufnehmen.477 Ganz anders verlief die Entwicklung in Warendorf, der zweitgrößten Stadt des Regierungsbezirkes Münster. Dort versuchte der Magistrat von vornherein, einen überproportionalen Einfluss der Kaufleute zu verhindern. Er beantragte, nicht die übliche Drittelparität im Gewerberat vorzusehen, sondern eine stärkere Vertretung der Handwerker zu genehmigen, da den 225 Meistern unter den Wahlberechtigten nur 15 Fabrikanten und 23 Kaufleute gegenüberstünden.478 Obgleich der Handelsminister diesen Vorschlag ablehnte und auf der Drittelparität beharrte, boykottierten Kaufleute und Fabrikanten doch von vornherein die Wahl.479 Sie fürchteten, dass die von ihnen hochgeschätzte Gewerbefreiheit durch die neue Institution beeinträchtigt werden könnte.480 Die Warendorfer Handwerker dagegen beteiligten sich in großem Umfang an der Wahl, da sie auf ein Wiederaufleben ihrer alten Privilegien hofften. Die unausbleibliche Folge dieser so offenbar divergierenden Interessenlage der Gewerbetreibenden der Emsstadt war, dass das Handelsministerium die Errichtung eines Gewerberates in Warendorf ablehnte.481 In Iserlohn erschienen 1850 von 1904 Berechtigten gar nur 126 Wähler.482 In Bochum musste wegen der geringen Wahlbeteiligung von der Errichtung eines Gewerberates Abstand genommen werden.483 Die Ursachen des Desinteresses waren in allen Fällen ähnlich, während die Folgen unterschiedlich ausfielen; so ist eine genauere Betrachtung des Wahlvorganges vonnöten. (4) In den meisten Fällen scheiterte die Bildung des Gewerberates aber nicht daran, dass sich, wie in Münster und Warendorf, die Kaufleute verweigerten. Weitaus häufiger stellten die Behörden fest, dass es den vom Gesetzgeber vorausgesetzten sog. „Fabrikenstand“ in den westfälischen Kleinstädten um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des berühmten „take off“ der Industrie also, noch gar nicht gab. Der Antrag auf Errichtung eines Gewerberates für die Stadt Lüdinghausen und die umliegenden Gemeinden wurde abgelehnt, weil im gesam477 Die Genehmigung für den Gewerberat in Münster wurde am 18.3.1850 erteilt, s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 20, fol. 4. Die Kaufmannschaft Münsters blieb an der neuen Einrichtung aber desinteressiert. 478 Schreiben des Landrats des Krs. Warendorf v. 18.7.1850 an die Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 791. Immerhin erschienen in Warendorf die Handwerker recht zahlreich zur Stimmabgabe. 479 Schreiben des Magistrats an die Regierung v. 2.7.1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 791. 480 Die Kaufleute und Fabrikanten beteiligten sich nicht an den Wahlen, da sie, wie es hieß, „durch das Institut des Gewerbe-Raths eine Beschränkung ihrer Gewerbefreiheit besorgen“, s. GStA/ PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 20, fol. 26. 481 Schreiben v. 18.11.1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 789. 482 Bericht des Magistrats der Stadt Iserlohn v. 7.8.1860, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 151 ff. (152 RS). 483 Bericht des Magistrats der Stadt Bochum v. 23.7.1860, in: GStA/PK, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 55 ff. (57). Ebenso entschied das Ministerium in anderen Fällen, in denen nur die Handwerker zur Wahl des Gewerberates erschienen waren; s. Reskript des Handelsministers v. 30.12.1850 an sämtliche Regierungen, s. Rönne (1851), S. 49.
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ten Kreisgebiet erst eine Fabrik existierte484. Im Bezirk Coesfeld wurde das zur Etablierung von Gewerberäten eingeleitete Verfahren ebenfalls eingestellt, als sich zeigte, dass dort nur drei Fabrikanten vorhanden waren.485 In Stadt und Amt Dülmen wiederum waren zwar die Wahlen durchgeführt worden. Da sich aber kaum jemand beteiligt hatte, musste man auch in dieser Ackerbürgerstadt von der geplanten Gründung des Rates Abstand nehmen.486 Ähnlich schwierig gestaltete sich die Errichtung der Institute im Regierungsbezirk Minden. In der Bezirkshauptstadt selbst gelangte man allerdings – untypisch – zu einem schnellen Erfolg. Dort konstituierte sich das neue Gremium bereits im September 1849.487 Auch in der Stadt Höxter kam es im Januar 1850 zur Gründung einer solchen Einrichtung.488 Der Antrag auf Errichtung eines Gewerberates für den gesamten Kreis Paderborn wurde hingegen abgelehnt, da nicht alle Gemeinden in die Willensbildung einbezogen worden waren.489 So erteilte der Minister die Genehmigung lediglich für die Stadt Paderborn selbst. Spezifische, wenngleich signifikante Probleme tauchten auch in dem kleinen Weserstädtchen Petershagen auf. Die beantragte Genehmigung eines Rates für den Stadt- und Amtsbezirk scheiterte dort am Fehlen der notwendigen Anzahl von Fabrikanten am Orte. Um die geforderte Fabrik-Abteilung von mindestens fünf Mitgliedern dennoch bilden zu können, schlug das Ministerium vor, Petershagen dem Rate in Minden anzuschließen. Hiergegen bestand aber nicht nur in dem kleinen Ort selbst eine „Abneigung“; auch die Regierung in Minden hielt diesen Weg nicht für gangbar: „An und für sich sind die Interessen der Gewerbetreibenden des offenen Landes und einer kleinen Ackerstadt, welche vorzugsweise nur für den unmittelbaren Gebrauch der Gegend in einfachen Formen zu arbeiten haben, von denen einer größeren Stadt, in welcher für Handel, Luxus und Eleganz Ansprüche erhoben werden, sehr abweichend und die Bedürfnisse werden daher auch bei den Berathungen im vereinigten Gewerberathe nach verschiedenem Maaße beurtheilt werden. Manche Fragen, welche 484 Nach Ansicht des Magistrats der Stadt Lüdinghausen hätten die Handwerker der Stadt aber auch weder Zeitverlust noch Geldbeiträge für den Gewerberat in Kauf genommen; s. Schreiben des Magistrats der Stadt Lüdinghausen v. 12.12.1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 789. Ebenso entschied das Ministerium in anderen Fällen, in denen nur die Handwerker zur Wahl eines Gewerberates erschienen waren; s. Reskript des Handelsministers v. 30.12.1850 an sämtliche Regierungen, s. Rönne (1851), S. 49. 485 Schreiben des Handelsministers v. d. Heydt an die Reg. Münster v. 15.9.1852, in: STAM, Reg. Münster Nr. 788; zudem war der Antrag v. 16.4.1851 unvollständig; s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 20, fol. 23. 486 Schreiben des Handelsministers an die Reg. Münster v. 19.11.1852, in: STAM, Reg. Münster Nr. 788. 487 Das Genehmigungsschreiben des Handelsministers von der Heydt datiert v. 29.9.1849, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 1. 488 Genehmigung v. 6.1.1850, s. Anm. 487, fol. 4. 489 Innerhalb dieses großen Bezirks waren natürlich genügend Gewerbetreibende zur Errichtung eines Rates vorhanden: 96 Kaufleute, 224 Händler, 195 Gast- und Schankwirte, 61 Bäcker, 44 Schlächter, 27 Brauer, 1245 sonstige Handwerker, 53 Wassermüller, 9 Lohnfuhrleute, 44 Gewerbetreibende im Umherziehen (insges. 1998 Gewerbetreibende); s. GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 8, 9.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
hier von Erheblichkeit sind, z. B. wegen der Bildung von Orts-Statuten und Gesellen-Kassen, sind dort unwesentlich“.490 Diese Beispiele, deren Zahl sich vergrößern ließe, zeigen, dass das einvernehmliche und paritätische Zusammenwirken von Handwerk, Handel und Industrie, welches das Gesetz voraussetzte, wegen des noch immer ganz und gar ländlichen Charakters des größten Teiles Westfalens und der zumeist völlig fehlenden Industrie nicht zu erreichen war. Die Vorschriften waren eben in keiner Weise an den tatsächlichen Verhältnissen des westfälischen Wirtschaftslebens orientiert, sondern gingen von dem Modell einer weit entwickelten gewerblich-industriellen Ökonomie aus, die allenfalls in den wenigen größeren Städten des Landes zwischen Rhein und Weser zu finden war. (5) Dass die Konzeption des Gewerberates aber durchaus auch einmal erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden konnte, zeigt das Beispiel der Stadt Soest. Nachdem eine gemeinsame Konferenz der Gewerbetreibenden und der Kommunal-Verbände des Kreises Soest die Errichtung von zwei Gewerberäten für Stadt und Kreis beschlossen hatte, wurde 1850 die Genehmigung eines Rates nur für die Stadt Soest erteilt. Der Vorstand des damals bereits bestehenden Soester Gewerbevereins stellte seither unter Wahrung weitgehender personeller Identität der verantwortlichen Mitarbeiter auch die Mitglieder des Gewerberates.491 Der Gründer und Vorsitzende des Gewerbevereins, der KupferschlägerMeister Gottschalk, leitete die neue Institution in enger Anlehnung an den Magistrat, wobei eine stillschweigende Bevorzugung handwerklicher gegenüber den Handelsinteressen und eine sorgsame Rücksichtnahme auf die in den Innungen organisierten Handwerker der Stadt unverkennbar ist.492 Schlüssel des ungewöhnlichen Erfolges des Instituts in Soest war die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen dem Magistrat einerseits sowie dem Handwerker-Verein und dem Gewerberat andererseits. Die erfolgreiche Interessenvertretung der Handwerker in der Bördestadt hatte in Westfalen allerdings singulären Charakter. Als der Vorstand des westfälischen Provinzial-Handwerker-Vereins 1853 seine Anklage gegen die Behinderung des handwerklichen Korporationslebens verfasste, konnte er nicht umhin, das Beispiel Soests als einziger Ausnahme rühmlich hervorzuheben.493 (6) Immerhin bildeten sich auch in einer Reihe anderer größerer Städte Westfalens Gewerberäte. Von den 93 dieser Gremien, die zu Anfang des Jahres 1851 in Preußen durch das Ministerium genehmigt worden waren, befanden sich 21 in
490 Schreiben der Reg. Minden an das Handelsministerium v. 2.3.1851, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 25 f. 491 S. Schreiben betr. die „Conferenz des Vorstandes des Gewerbevereins mit dem Communalverband zwecks Bildung eines Gewerberates“ v. 28.4.1849, in: Stadtarchiv Soest, XXXII c8 Bd. 1. 492 S. Joest (1978), S. 166 ff. 493 S. Schreiben des Vorstandes des Provizial-Handwerker-Vereins in Westfalen v. 21.2.1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781.
C. Die Gewerberäte
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westfälischen Städten. Sechs dieser projektierten Organisationen kamen nicht zustande. Wirklich errichtet wurden nur 15 Räte.494 Anfang des Jahres 1852 bestanden solche Institute im Rgbz. Arnsberg in: Rgbz. Münster in: Rgbz. Minden in:
Hagen, Schwelm, Iserlohn, Altena, Lüdenscheid, Olpe, Siegen, Soest, Lippstadt und Hamm495, Münster496, Höxter, Minden, Paderborn497.
Der Schwerpunkt der institutionellen Entwicklung lag demnach eindeutig im Regierungsbezirk Arnsberg. Die regionale Verteilung der Gewerberäte als Signum organisatorischer Durchdringung, wirtschaftlicher Aktivität und erfolgreicher standespolitischer Interessenwahrnehmung der Gewerbetreibenden spiegelt in frappanter Weise die Verhältnisse im gewerblichen Krankenkassen- und Schulwesen der fünfziger Jahre wieder.498 Der Regierungsbezirk Münster bildete wiederum das Schlusslicht, während Ostwestfalen eine Mittelstellung einnahm. Die Gründe für die so überaus signifikante Vorrangstellung des Regierungsbezirks Arnsberg und hier wiederum des Gebietes der ehemaligen Grafschaft Mark liegen offen zutage: Die nachhaltige Förderung des Organisationsgedankens durch die Arnsberger Regierung dürfte in den untypisch weit fortgeschrittenen Industrialisierungsvorgängen in der westfälischen Mark ihre Ursache gehabt haben.499 Ebenso wie der Aufbau eines effizienten Fortbildungsschulwesens in den gewerbereichen Regionen auf weitaus größeres Interesse der handwerktreibenden Bevölkerung traf als dies in anderen Regierungsbezirken, Münster beispielsweise, der Fall war, öffneten sich die Meister und Gesellen, aber auch die Kaufleute und Fabrikanten im industriösen Südwestfalen leichter den neuen Organisationsformen als ihre Berufskollegen in den agrarisch geprägten Regionen der Provinz. Angesichts der geringen Zahl der tatsächlich errichteten Gewerberäte kann von einem wirklichen Erfolg des neuen Gremiums in Westfalen aber nicht die Rede sein.
494 S. Tilmann (1935), S. 46; Wischermann (1984) S. 77. 495 S. STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19 Bd. 2; Jacobi (1857), S. 520; Brachelli (1857), Bd. 2, S. 679 nennt zusätzlich noch Bochum, Dortmund und Menden. 496 Brachelli (1857), Bd. 2, S. 679 führt fälschlicherweise auch Warendorf auf. 497 Laut Schreiben der Reg. Minden an das Ministerium v. 28.3.1853 wurden die Wahlen zum Gewerberat in Paderborn und in den Gemeinden Neuhaus, Sande und Elsen am 7. und 8.3.1853 durchgeführt. Danach sollte ein gemeinsamer Gewerberat konstituiert werden; s. Schreiben der Reg. Minden v. 28.3.1853 an das Ministerium, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 19; zwar war bereits mit Schreiben v. 12.7.1852 die Genehmigung zur Errichtung eines Gewerberates in Paderborn erteilt worden. Doch kam zunächst weder für die Stadt noch für den Krs. Paderborn ein solches Gremium zustande; s. Schreiben v. 20.6.1852, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 51, 62. 498 S. dazu Deter (1988), Bd. 2 und unten, Kap. „Die soziale Sicherung…“, S. 324 ff. 499 Zur Förderung des gewerblichen Schulwesens durch die Arnsberger Regierung s. Deter (1988) und Bd. 2.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
(7) Die technischen Voraussetzungen für eine gedeihliche Arbeit der Räte hatten nach § 21 der Verordnung vom 9. Februar 1849 die Gemeinden zu schaffen. Um Kosten zu sparen, stellten sie entbehrliche Räume in öffentlichen Gebäuden zur Verfügung. Das Entgegenkommen der Behörden stieß aber offenbar nicht nur in Münster schnell an Grenzen. In Soest bot die Stadt das Eichamtszimmer,500 in Minden gar einen der Gefängnisräume501 als Ratslokal an. Eine solche Unterbringung dürfte dem Ansehen des Instituts nicht eben förderlich gewesen sein. (8) Die personelle Zusammensetzung der Räte, wie sie durch die Wahlen geschaffen worden war, erregte zwar in Einzelfällen das Missfallen der Obrigkeit. Eine Analyse des Wahlergebnisses für die Handwerkerabteilung des Gewerberates in Münster zeigt aber, dass die Handwerker dort im Gegensatz zu den Kaufleuten die Honoratioren ihres Standes in das neue Gremium berufen hatten.502 Die gewählten Meister waren Herren gesetzteren Alters503 mit ausgedehntem Gewerbebetrieb.504 Zwei der fünf Mitglieder, der Kleidermacher Bartz und der Schlosser Greve, gehörten zu den Spitzenverdienern des Handwerkes der Stadt. Dass die Meister die ökonomische Elite ihres Standes und damit das mutmaßlich konservativste Element, welches zur Verfügung stand, mit der Wahrnehmung ihrer Interessen betraut hatten, wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass schon die Stellvertreter der Gewählten eher dem handwerklichen Mittelstand zuzurechnen waren.505 Das für die Handwerkerabteilung des Gewerberates in Münster feststellbare Auswahlverfahren dürfte sich, da es zeittypischen Verhaltesmustern entsprach, cum grano salis auch für andere westfälische Städte nachweisen lassen. So umgingen die Handwerker im Gegensatz zu den Kaufleuten Münsters geschickt eine mögliche Quelle für Auseinandersetzungen. Eine zu starke Vertretung einzelner Gewerke in den neugeschaffenen Gremien wurde dadurch vermieden, dass jeder der Gewählten einer anderen Berufssparte entstammte. Ebenso wie die Meister entsandten auch die Gesellen der Provinzial-Hauptstadt ältere, erfahrenere Kollegen in den Rat,506 die das beharrende Element in der Versammlung eher verstärkt haben dürften. Mit ihren Handwerkern konnte die Regierung in der Westfalen-Metropole demnach zufrieden sein. Als aber die Reaktion zu Beginn der fünfziger Jahre in Berlin wieder erstarkte, wurde das Ministerium gleichwohl zunehmend kritischer: Schon im April 1851 wies es die Regierungen an, dafür Sorge zu tragen, dass 500 Stadtarchiv Soest, XIX a 10. 501 Stadtarchiv Minden, F 183. 502 S. dazu Schreiben des Handelsministers an die Reg. Münster v. 8.2.1851, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 503 Durchschnittsalter 48 Jahre; s. STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 504 Sie zahlten im Durchschnitt mehr als 9 Rtl. Gewerbesteuer, während die Masse der Handwerker in Ermangelung von Hilfskräften von der Steuerpflicht gänzlich befreit war. Greve und Bartz zahlten 12 Rtl. Gewerbesteuer; s. STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 505 Die Vertreter brachten es auf einen durchschnittlichen Steuersatz v. 5, 2 Rtl., s. STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 506 Das Durchschnittsalter der in Münster gewählten Gesellen betrug 37 Jahre, das ihrer Stellvertreter sogar 40 Jahre; vgl. Anm. 503.
C. Die Gewerberäte
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sich bei den Wahlen zu den Gewerberäten nicht die sog. „Volkspartei“, die Demokraten also, durchsetzten507. Nun musste die neue Institution zeigen, dass sie mehr war als die zu spät gekommene, nichts klärende Antwort der Obrigkeit auf das revolutionsträchtige Fragen der gewerbetätigen Unter- und Mittelschichten nach Mitgestaltung ihrer ureigensten Angelegenheiten. An dieser Aufgabe scheiterte sie schneller, als ihre Protagonisten erwartet hatten. 2. Die Arbeit der Gewerberäte a. Der Erlass von Ortsstatuten Getreu der zünftischen Tradition des Handwerkerstandes hatte auch die Handwerkerbewegung des Jahres 1848 die Aufstellung von Rechtsregeln, die Durchsetzung einer handwerksfreundlichen Gewerbeverfassung,508 für das wesentlichste Mittel kleingewerblicher Interessenwahrnehmung erachtet. Noch immer waren die Handwerker außerstande, sich von den jahrhundertealten Denktraditionen der Zunft zu lösen. So weigerten sie sich, in den sich wandelnden ökonomischen Grundgegebenheiten das eigentliche, als unabänderlich hinzunehmende Agens der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auch des Handwerks zu erkennen. Deshalb betrachteten Meister wie Gesellen den Erlass von Ortsstatuten als die erste und wichtigste Aufgabe der neuen Gewerberäte. Die §§ 168–170 der Gewerbeordnung des Jahres 1845 hatten den Gemeinden nach Anhörung von Handwerkern und Innungen die Möglichkeit gegeben, durch Erlass von Ortsstatuten Einfluss auf die Gestaltung des am Orte geltenden Gewerberechts zu nehmen. Die Möglichkeiten waren weit gespannt. Beispielhaft aufgezählt wurden Regelungen des Arbeitsrechts und des Versicherungswesens (§ 169); im Übrigen war der kommunalen Rechtsschöpfung im Bereich des Gewerberechts nur durch den allerdings umfassenden Negativkatalog des § 170 eine Grenze gesetzt. Da das Innungswesen in Westfalen durch den Erlass der Gewerbeordnung nicht wieder neu belebt worden war, eine Konzentration der gestalterischen Kräfte des Handwerks bis dahin also fast überall gefehlt hatte, konnten die neugewählten Gewerberäte mit der Erarbeitung von Ortsstatuten ein jedenfalls mancherseits verspürtes Vakuum füllen. Die Aufgabe, zu der sie § 29 der Verordnung von 1849 geradezu aufforderte, erschien dringlich und bestätigend zugleich: nunmehr, da sich auch die nicht in Innungen organisierten Meister mit der Schöpfung eigenen Standesrechts wieder als Subjekt der Gewerbeverfassung, als Nomothet gar, fühlen durften, ergriffen ihre Vertreter dort, wo Gewerberäte errichtet worden waren, mit der Egozentrik des Bedrohten die Initiative zum Erlass von Ortsstatuten. Die Handwerkerabteilungen der Gewerberäte konzentrierten sich sogleich auf die Durchsetzung solcher Ortsstatuten, die dem spezifischen Interesse der Handwerker möglichst weitgehend entgegenkamen.509 Sie wussten ihre domi507 S. Teuteberg (1961), S. 330 f.. 508 Der Begriff wird hier lediglich im rechtlichen Sinne verstanden, s. Huber (1953), S. 23 f. 509 Joest (1978), S. 169; Goeken (1925), S. 34.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
nierende Stellung in diesen Gremien510 überall zu nutzen, indem sie sich ungleich aktiver als die Handels-Vertretungen betätigten.511 In Soest erfolgten die wesentlichen Vorberatungen für das Ortsstatut schon im Sommer 1850. Am 27. Mai 1851 konnte die örtliche Ergänzungsregelung der Verordnung vom 9.2.1849 im Amtsblatt der Regierung Arnsberg veröffentlicht werden, was nicht ohne deren anerkennendes Bemerken, „damit dasselbe auch für andere Orte bei der Entwerfung ähnlicher Anordnungen zum Vorbilde diene“,512 geschah. Das Ortsstatut der Bördestadt entsprach vollkommen den Interessen der Handwerker. Schon der § 1 beeinträchtigte die wirtschaftlichen Aktivitäten der Handeltreibenden ganz erheblich: Die Bestimmung machte den Verkauf von Schuhmacher-, Schneider- und Tischlerwaren in Magazinen von der Zustimmung der betreffenden Innung und des Gewerberates abhängig. In Münster, wo seit Dezember 1851 über den Entwurf des Gewerberates für ein Ortsstatut verhandelt wurde, konnte sich die Handwerkerabteilung des neuen Gremiums nicht so vollständig durchsetzen. Die Bestimmung, welche die Einrichtung von Magazinen zum Kleinverkauf von Handwerkswaren nur den Meistern für die selbstverfertigten Produkte ihres Handwerks gestattete, wurde durch die Regierung gestrichen. Erst am 15.8.1855 konnte das die Wünsche der Handwerker nur noch eingeschränkt berücksichtigende Ortsstatut in der Provinzialhauptstadt in Kraft treten.513 Auch andernorts scheiterte der Erlass von Lokalstatuten an der überzogenen Interessenpolitik der Handwerker im Gewerberat. Sie zeigten keinerlei Bereitschaft zum notwendigen Ausgleich mit den anderen Gruppen; eher verzichteten sie auf die ortsstatuarische Satzung, als dass sie von der Durchsetzung ihrer unverhohlen eigennützigen Ziele abließen. So konnten sich die Handwerker- und die Handelsabteilung in Lippstadt nicht auf den Inhalt eines Ortsstatutes einigen. Die dortigen Professionisten verlangten die generelle Beschränkung der Lehrlingszahl und die Verpflichtung der Auszubildenden zum Besuch der Sonntagsschule.514 Die Arbeit der Meister und Gesellen in den Häusern der Kunden und das Halten von Magazinen sollten beschränkt werden. Da die Deputierten der Handelsabtei510 Goeken (1925), S. 34; in Münster standen 9 Vertreter des Handwerkerstandes 7 Deputierten des Handels- und 5 des Fabrikenstandes gegenüber. In Soest vertraten 7 Mitglieder den Handwerker- und nur 5 den Handelsstand, s. Joest (1978), S. 167. 511 Vgl. Joest (1978), S. 169. 512 Amtsbl. der Reg. Arnsberg v. 6.9.1851, Nr. 36; desgl. Kreisblatt Soest v. 12.9.1851, Nr. 73, s. Joest (1978), S. 169. 513 Goeken (1925), S. 34, 35. Der Entwurf des Gewerberates sah neben dem Verbot der Anlegung von Magazinen zum Kleinverkauf der Handwerkserzeugnisse durch nicht zur selbständigen Ausübung des betreffenden Handwerks befugte Personen auch die Beschränkung der Ausbildung auf zwei Lehrlinge je Meister vor, regelte deren Aufnahme und Entlassung, enthielt Bestimmungen zur Gesellenprüfung, Arbeitszeit, Fortbildung und Unterstützung der Gesellen und Lehrlinge und bestimmte die Einrichtung von Unterstützungskassen für die Hilfskräfte. Der Magistrat verhandelte darüber schließlich aber nur noch mit den Innungen; s. Behr (1990), S. 146. 514 S. Entwurf des Gewerberates der Stadt Lippstadt für ein Ortsstatut nach der Verordnung v. 9.2.1849, v. 10.2.1851, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38. Der Entwurf war unter dem maßgeblichen Einfluss der Handwerkerabteilung zustande gekommen. Die Handelsabteilung verfasste ein ablehnendes Separatvotum v. 20.2.1852 und die Handwerkerabteilung daraufhin ein gegenteiliges Separatvotum v. 26.2.1852.
C. Die Gewerberäte
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lung alle diese Forderungen zurückwiesen und auch der Magistrat darauf nicht einging, führten die Vertreter des Kleingewerbes lebhafte Klage über das angeblich handwerksfeindliche Verhalten der Stadtverwaltung.515 Daraufhin wurden sie mit dem Bemerken zurechtgewiesen, der Magistrat verträte nicht die Interessen der Handwerker, sondern die der ganzen Stadt.516 In der Tat waren es überall die überzogenen Forderungen der Professionisten, die den Widerstand der anderen Abteilungen der Gremien sowie der Magistrate geradezu provozierten. Als der Gewerberat in Minden im Jahre 1851 in einem Promemoria seine Forderungen anmeldete, richteten diese sich insbesondere gegen die Konkurrenz der Kaufleute: So sollten auch die Händler den selbständigen Gewerbebetrieb erst nach dem Bestehen einer Prüfung aufnehmen dürfen; und die Vertreter der Handelshäuser hätten, so wünschten es die Meister, zukünftig nur noch für ihre Firma tätig zu sein; der Hausierhandel aber sollte, nicht anders als zur Zunftzeit, ganz verboten werden.517 Man verlangte sogar die Auflösung der Handelskammern, deren Befugnisse den Handelsabteilungen der Gewerberäte übertragen werden sollten.518 Hier zeigt sich einmal mehr, welch zentrale Stellung das in Westfalen doch schon seit mehr als einer Generation verblichene Zunftmodell im Denken jedenfalls der engagierten Meister noch immer einnahm: Sie hofften die Überwindung ihrer jedenfalls in den industriebedrohten Sparten tiefen wirtschaftlichen Krise von dem Erlass solcher Rechtsregeln, die direkt auf die Ausschaltung der Konkurrenz der Kaufleute und Fabrikanten zielten. Da den wettbewerbsausschließenden Normen der Aufbau korporativer Organisationen korrespondieren sollte, suchten die Meister im Schutz des Regelungsrahmens, den ihre revolutionsbewegten Genossen dem Gesetzgeber abgetrotzt hatten, mutatis mutandis nicht weniger als eine Neuauflage der alten Zunftordnung mit kartellähnlichen Funktionen als Kristallisationskern zu etablieren. Deshalb auch wollten die Gewerberäte zugleich die Position ihrer eigenen Organisation stärken. Diesem Zweck diente das Bemühen, die Kosten der Einrichtung der Staats- und den Kommunalkassen aufzuerlegen und das neue Gremium statt auf Orts- auf der mehr Einfluss versprechenden Kreisebene zu organisieren. Um überall Gewerberäte errichten zu können, sollten deren Mitglieder dort, wo die Handwerker die Wahlen boykottierten, durch die Regierungen ernannt werden. Die Durchsetzungskraft der Meister in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft wollte der Mindener Gewerberat durch die Verordnung des Beitrittszwanges zu den Innungen, ganz wie die Zunftzeit ihn gekannt hatte, gestärkt wissen.519 An utopischen Entwürfen für eine bedeutsame Zukunft des neuen Instituts fehlte es den Professionisten demnach nicht. Doch überschätzten sie in fataler Weise die Wirkung ihrer larmoyanten Attitüde auf einen Gesetzgeber und eine Öffentlichkeit, die längst den Prinzipien des Wettbewerbs und Wachstums huldigten und die in den Organisationsbemühungen des Handwerks nicht mehr sahen als ein Mittel, den re515 Schreiben des Gewerberates v. 27.9.1851, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38. 516 Schreiben des Magistrats der Stadt Lippstadt v. 23.10.1851, in: Stadtarchiv Lippstadt, D 38. 517 Promemoria des Gewerberates Minden v. 5.7.1851, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 32 RS. 518 S. Anm. 517, fol. 32. 519 S. Anm. 517, fol. 32.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
volutionären Impetus einzuhegen. Die Aktivität, welche die Meister und Gesellen in den Gewerberäten an den Tag legten, kehrte sich so unversehens gegen sie selbst.520 Sie erreichten letztlich nichts. Der Versuch, die eigenen, selbstischen Interessen auf gesetzgeberischem Wege durchzusetzen, insbesondere die Konkurrenz der Magazine und Fabrikbetriebe auszuschalten, hatte zur Folge, dass das Ortsstatut als Mittel handwerklicher Standespolitik bei Magistraten und Regierungen diskreditiert war und ausschied. So blieb Soest bis 1860 die einzige Stadt im Regierungsbezirk Arnsberg, in der der Gewerberat ein Ortsstatut durchsetzen konnte.521 Der für ihre mentalité überaus signifikante Versuch der Handwerker, mit Hilfe der in traditioneller Manier als Arkanum gedachten Rechtssetzung wirtschaftliche Vorteile auf Kosten des Handels zu erlangen, scheiterte vollständig. b. Weitere Aufgaben Die Aktivitäten der Gewerberäte erschöpften sich aber nicht in der Durchsetzung handwerksfreundlicher Ortsstatuten.522 (1) Eine besonders unangenehme Aufgabe der neuen Gremien war es, die stets umstrittenen Arbeitsgrenzen der verschiedenen Handwerkssparten in Zweifelsfällen festzustellen und die Einhaltung der Vorschriften, welche die freie Wahl der Arbeitsvertragspartner beschränkten, zu überwachen. (2) Die Räte sollten außerdem nach Anhörung aller Beteiligten die tägliche Arbeitszeit in den einzelnen Gewerbezweigen festsetzen. Damit bot sich den in den Gremien vertretenen Gesellen und Industriearbeitern erstmals die Chance, auf einen rechtsverbindlichen Maximalarbeitstag für die gewerblichen Arbeitnehmer hinzuwirken.523 Mit dieser Bestimmung hatte der Gesetzgeber den Gewerberäten entscheidenden Einfluss auf eine der wesentlichsten Fragen des Arbeitsvertragsrechts eingeräumt. Nichtsdestoweniger erschöpfte sich deren Einwirkung auf diesen Regelungsbereich aber in untauglichen Versuchen, da insbesondere die Beschlüsse der Gewerberäte zur einheitlichen Regelung der Arbeitszeit mangels jedweder Strafbestimmungen dauernd übertreten wurden; die Gremien mussten sich deshalb mit dem ebenso end- wie fruchtlosen Bemühen begnügen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gütlichem Einvernehmen zu überreden.524 (3) Noch zahlreicher weiterer Aufgaben nahmen sich die Räte an. So beklagten sie sich bei der Regierung, dass die Polizeibehörden die Ausübung des Gewerbe-
520 Vgl. dazu Tilmann (1935), S. 31. 521 S. Tilmann (1935), S. 31. 522 Einblicke in die Arbeit der Gewerberäte gewähren die erhaltenen Protokollbücher mancher Räte: z. B. Stadtarchiv Soest XIX a 9 (1850–1855); Stadtarchiv Paderborn A 302; Stadtarchiv Soest XIX a 6 (1850–1854) (Handwerkerabteilung und Gesamt-Gewerberat); STAM, Krs. Iserlohn, Landratsamt Nr. 224 (1851). 523 Vgl. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 86. 524 S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 87; s. dazu auch Tilmann (1935), S. 49, 50.
C. Die Gewerberäte
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betriebes durch Unbefugte kaum ahndeten,525 gaben Stellungnahmen zur Zweckmäßigkeit der Handwerker-Darlehenskassen ab,526 kommentierten die Entwürfe für die Prüfungsordnungen einzelner Handwerke527 und kritisierten den Besuch der Wirtshäuser durch die Lehrlinge, deren „immer mehr einreißende(r) Untüchtigkeit“ sie durch strenge Beaufsichtigung entgegenwirken zu können glaubten.528 Sie befassten sich mit der Erteilung von Wanderpässen an nicht geprüfte Gesellen, griffen gegen säumige Hilfskräfte, welche die Krankenkassenbeiträge nicht zahlten, durch und entschieden die Streitigkeiten zwischen Lehrherren und Lehrlingen bzw. deren Eltern529 sowie über Gesuche von Meistern auf Beschränkung des selbständigen Gewerbebetriebes der Frauen (nach § 28 der Verordnung v. 9.2.1849).530 Zu besonders wichtigen Beratungsgegenständen entwickelten sich die Ausbildungs- und Prüfungsangelegenheiten,531 zu denen auch die Errichtung von Fortbildungsschulen zählten.532 In Soest geriet die Bearbeitung der zahlreichen Petita auf Dispensierung von der Einhaltung der Prüfungsvorschriften schließlich geradezu zur dominierenden und beinahe einzigen Aufgabe des Gewerberates. Einen weiteren, überaus wichtigen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erblickten die neuen Gremien, wie bereits angedeutet, in der Möglichkeit, den nicht enden wollenden Beschwerden der Meister gegen die unerwünschte Konkurrenz ein Forum zu bieten. Dabei konnte der Arbeitsaufwand für die Mitglieder des Gewerberates durchaus beträchtliche Ausmaße annehmen. 1853 erklärten diese in Münster, sie hätten „hunderte von Anträgen aus dem Gewerbestand auf einfache Weise erledigt und dieselben (Antragsteller, G.D.) von Weitläufigkeiten und unnützen Anträgen an die Königliche Regierung abgehalten und belehrt.“533
525 So Schreiben des Gewerberates an den Magistrat der Stadt Soest v. 14.2.1852, in: Stadtarchiv Soest, XIX a 4. 526 Schreiben des Vorsitzenden des Gewerberates Soest v. 8.11.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 527 Schreiben des Innungsvorstandes der Kleidermacher der Stadt Soest v. 9.11.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX a 4. 528 Promemoria des Gewerberates Minden v. 5.7.1851, in: Ministerium für Handel und Gewerbe, GStA/PK, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 31 ff., Z.8. 529 Stadtarchiv Soest XIX a 1. 530 S. Schreiben des Ministers v. d. Heydt v. 16.9.1849, in: Stadtarchiv Soest XXXV a 64; desgl. Antrag der Schneiderinnung Soest v. 16.9.1850, in: Stadtarchiv Soest, XXXV a 64. 531 S. Joest (1978), S. 169; Stadtarchiv Soest XIX a 1; Schreiben des Vorsitzenden der Handwerkerabteilung des Gewerberats Paderborn, Racine, v. 13.6.1856, in: Stadtarchiv Paderborn, A 302. 532 S. Anm. 528, Z. 10: „Der hiesige Gewerberat beschäftigt sich schon seit längerer Zeit mit diesem Gegenstande (Errichtung von Fortbildungsschulen, G. D.), dessen Ausführung aber an den notwendigen Mitteln zu scheitern droht“. 533 Bericht des münsterischen Gewerberates v. 18. September 1853, hier zitiert nach Behr (1990), s. 143.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
3. Die Konstruktionsmängel des Instituts Solche Gewerberäte, die, wie der Soester, durch das Vertrauen der Handwerker und des Magistrats gleichermaßen getragen wurden, entfalteten sich jedenfalls anfänglich ganz im Sinne der Verordnung von 1849. Sie nahmen all die zahlreichen Aufgaben wahr, die ihnen in deren § 2 zugedacht waren, überwachten das Innungswesen, die Meister- und Gesellenprüfungen, die Annahme und Behandlung der Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge, entschieden Streitigkeiten und befassten sich mit „sonstigen gewerblichen Verhältnissen“. Doch betrachtet man jedwede dieser Aktivitäten genauer, so wird deutlich, dass das schnelle Scheitern des Instituts der Gewerberäte von allem Anfang an durch seine Konstruktion vorgegeben war. a. Die unzureichende Repräsentanz der Handwerker Das lebhafte Interesse, welches die Handwerker, im Gegensatz zu den Fabrikanten und Kaufleuten, den Gewerberäten anfänglich entgegenbrachten, hatte seine Ursache nicht zuletzt auch darin, dass die Kleingewerbetreibenden seit der Beseitigung des tradierten Kommunalverfassungsrechts534 und der Aufhebung der Zünfte in Westfalen von jeder eigentlichen politischen Mitwirkung ausgeschlossen waren. Sie konnten sich zwar auf Grund der Bestimmungen der oktroyierten Verfassung vom 3. Dezember 1848 an der Wahl des Abgeordnetenhauses beteiligen.535 Seit aber das Gesetz vom 30. Mai 1849 das Klassenwahlrecht eingeführt hatte, war kein Handwerker mehr in die Kammer gekommen.536 So mochten manche engagierten Handwerker durch verstärkte Aktivitäten im Gewerberat den fehlenden Einfluss auf dem Feld der großen Politik wettzumachen suchen.537 Die damals allenthalben zu beobachtende Konzentration der Meister auf die möglichst effiziente Wahrnehmung der eigenen ökonomischen Interessen fand ihren deutlichen Ausdruck jedenfalls darin, dass sie sich in den Gewerberäten eine im Verhältnis zu den anderen Abteilungen numerisch stärkere Vertretung zu verschaffen bemüht waren.538 Schon in der Denkschrift des „Centralvorstandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen“ vom 21. September 1849 hatten die Meister der Provinz unmissverständlich erklärt, dass sie keinesfalls mit der vom Gesetzgeber vorgesehenen pari534 535 536 537
Dazu Deter, Rechtsgeschichte… (1990), S.259–261. S. dazu Forsthoff (1967), S. 130. Tilmann (1935), S. 47. Die westfälischen Handwerker brachten ihre Enttäuschung über die politische Entmündigung ihres Standes auch deutlich zum Ausdruck; s. Schreiben des „Vorstandes des Provinzial-Handwerker-Vereins Westfalen in Vertretung sämtlicher Handwerker-Vereine, Gewerberäthe und Innungen der Provinz Westfalen“ an das Staatsministerium in Berlin v. 21. Februar 1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781. Den Meistern schwebte eine modern anmutende, basisdemokratische Rotation ihrer Vertreter im Gewerberat vor: Sie verlangten, „um das lebendige Vertrauen und den regen Fortschritt zu erhalten“, alle zwei Jahre Wahlen zum Gewerberat durchzuführen und jährlich die Hälfte der Gewählten auszuwechseln; s. Denkschrift des Centralvorstandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen vom 21. September 1849, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19, Bd. 1, fol. 178. 538 S. Tilmann (1935), S. 47.
C. Die Gewerberäte
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tätischen Besetzung der drei Abteilungen einverstanden seien. Die Zahl der Vertreter der drei „Klassen“ der Gewerbetreibenden in dem neuen Gremium sollte auch nicht allein nach der Kopfzahl oder nach der Steuerleistung, sondern nach dem arithmetischen Mittel aus diesen beiden Anknüpfungstatbeständen bestimmt werden.539 Wo ihnen, wie in Soest oder Münster, bedeutendere Mitspracherechte eingeräumt worden waren, reagierten die Handwerker in der Tat mit großem Interesse und lebhafter Mitarbeit in dem neuen Gremium. Zumeist aber lehnte der Minister, wie im Falle Warendorfs, das Gesuch um die Etablierung einer Präponderanz der Handwerker im Gewerberat ab.540 Resignation der Meister und Gesellen war dann alsbald die Folge. Denn in der Tat war der Anspruch auf stärkere Repräsentation, als der Gesetzgeber sie vorgesehen hatte, nicht aus der Luft gegriffen. In Münster standen den ca. 1580 Handwerkern nur 97 Fabrikanten und Fabrikarbeiter sowie 333 Handeltreibende gegenüber;541 in Warendorf repräsentierten 225 Meister den Handwerkerstand, während die Stadt nicht mehr als 15 Fabrikanten und 23 Kaufleute aufwies.542 Überall waren die Handwerker zahlenmäßig weitaus stärker als die anderen gewerbetreibenden Berufe vertreten. Dennoch vermochten sie sich aufgrund der von dem Gesetzgeber hintersinnig verordneten Mehrheitsverhältnisse im Plenum gegen die beiden anderen Stände nicht durchzusetzen. Die schwache Position der Meister wurde dadurch noch weiter untergraben, dass ihre Gesellen häufig gegen sie stimmten.543 So verfielen sie auf einen naheliegenden Ausweg, der ihnen zunächst auch gangbar erschien: Statt sich endlos um einen schließlich doch nicht zu erreichenden Konsens mit den anderen Abteilungen zu mühen, begannen die Meister, sich selbständig zu artikulieren.544 Als sich die Handwerker- und die Handelsabteilung in Lippstadt, wie festgestellt, nicht über den Inhalt des geplanten Ortsstatuts nach § 168 der Gewerbeordnung von 1845 einigen konnten, gaben die Abteilungen in dieser Frage getrennte Stellungnahmen ab. Da der Magistrat der Stadt, dem in der Angelegenheit die Entscheidungskompetenz zustand, ganz unverhohlen die Interessen des dort besonders stark repräsentierten, einflussreichen Handelsstandes vertrat, konnten sich die numerisch weit überlegenen Handwerker nicht durchsetzen.545 Wegen der starren Drittelparität empfanden sie ihre Mitarbeit im Gewerbe539 S. Denkschrift des Centralvorstandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen, in GStA/ PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1, fol. 178. 540 Vgl. Circular-Reskript des Handels-Ministers an sämtliche Regierungen, die Zusammensetzung des Gewerberates betr., v. 22. Oktober 1850, in: Rönne (1851), S. 47. 541 S. Schreiben des Wahlkommissars v. Olfers an die Reg. v. 12. August 1850, in STAM, Reg. Münster Nr. 790. 542 S. Schreiben des Landrats des Krs. Münster v. 16. September 1850, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 791 543 S. Tilmann (1935), S. 47. 544 Tilmann (1935), S. 47. 545 Tilmann (1935), S. 47; Der „Centralvorstand des Handwerkerbundes der Provinz Westfalen“ hatte schon in seiner Denkschrift v. 21. September 1849 gefordert, „dass die Theilung des Gewerberathes angemessener Weise dem Befinden der Kommunal- und Kreisbehörden überlassen bleiben“ solle; s. Denkschrift des „Centralverbandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen“, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19, Bd. 1, fol. 178.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
rat einmal mehr als fruchtlos. In solchen Fällen gingen die Handwerksdeputierten vor allem dann, wenn den Räten Entscheidungsbefugnisse zustanden, dazu über, auch selbständig Beschlüsse zu fassen.546 Der Minister v. der Heydt war aber keineswegs bereit, die auf diese Weise erreichte, vom Gesetzgeber jedoch nicht beabsichtigte Erweiterung des Einflusses der Handwerker in den Räten tatenlos hinzunehmen. Durch Zirkularverfügungen vom 7. November 1850 und 1. Dezember 1851 erhielten die Regierungen ausdrücklich die Anweisung, die unerwünschte Verselbständigung der Handwerker zu unterbinden. Der Gesetzgeber habe den Aufbau des Gewerberates aus drei Abteilungen gerade deshalb gewählt, „um diesen zu einer umsichtigen Würdigung der verschiedenartigen Interessen, welche in der einen oder anderen Richtung der gewerblichen Tätigkeit sich geltend machen, und des Einflusses der darüber hinaus zu treffenden Entscheidung auf die gesamte bürgerliche Gesellschaft zu befähigen.“547 Natürlich wussten alle Beteiligten, dass die Handwerker in der weiteren Mitarbeit im Gewerberat auf die Dauer keinen Sinn sehen würden, wenn sie keinen ihrer Zahl entsprechenden Einfluss in dem Gremium erlangen konnten. Einzelne Regierungen äußerten denn auch in diesem Sinne ihre Bedenken gegen den von dem Minister gewählten Abstimmungsmodus.548 Die Argumentation von der Heydts stand auch schon deshalb auf tönernen Füßen, weil die Gefahr, dass die Handwerker ihre einseitigen Interessen wirklich durchsetzen konnten, in Wahrheit gering war. Auch wenn die einzelnen Abteilungen der Räte Beschlüsse fassten, mussten diese nämlich an den Magistrat weitergeleitet werden. Die städtische Behörde, die, wie das Beispiel Lippstadts zeigt, keineswegs überall handwerksfreundliche Tendenzen verfolgte, prüfte mit Ausnahme weniger Fälle, in denen die Gewerberäte Entscheidungskompetenzen besaßen (§ 2 der Verordnung v. 9.02.1849), nicht nur die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Entschließungen, sondern traf die Entscheidungen selbst. So hingen die Beschlüsse der Handwerker in den Gewerberäten gleich in zweifacher Weise von fremder Zustimmung ab: Zum einen sollten sie erst dann Gültigkeit erlangen, nachdem die Plenarversammlung des Gremiums, also auch die Fabrikanten und Kaufleute, sie gutgeheißen hatten. Zum anderen setzte die Ausführung der Stellungnahmen und Entscheidungen der Handwerker die Zustimmung der Kommunalverwaltung, die allein über die notwendige Exekutivgewalt verfügte, voraus. Da die Professionisten angesichts des engen Konnexes zwischen Fabrikanten und Kaufleuten, welcher nicht zuletzt auf deren gemeinsamer liberaler Grundüberzeugung beruhte, stets gewärtigen mussten, überstimmt zu werden und die Mehrzahl der Magistrate mitsamt dem Minister einer Erweiterung des Handwerkereinflusses ablehnend gegenüberstand, beschlich Meister und Gesellen geradezu zwangsläufig das Gefühl lähmender Ohnmacht, das ihnen jedes Interesse an dem Institut nahm. Zudem behinderten finanzielle Erwägungen die Arbeit der Gewerberäte auf der Seite der Handwerker. Denn diese waren trotz ihrer geringen und dem jeweiligen 546 S. Tilmann (1935), S. 47; desgl. Zirkularreskript des Handelsministers v. 4. Oktober 1850, s. Rönne (1851), S. 46; s. Rönne (1851), S. 47. 547 Zirkularverfügung von der Heydts v. 7. November 1850, zitiert nach Tilmann (1935), S. 47. 548 S. Tilmann (1935), S. 48.
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Einkommen angepassten Beitragslast549 durchaus nicht alle willens oder im Stande, die in § 21 der Verordnung von 1849 vorgesehenen Zahlungen zu leisten. In Münster wurde 1853 bei einer größeren Anzahl von selbständigen Handwerkern, insbesondere bei Schuhmachern, Schneidern und Tischlern, vergeblich versucht, die Beiträge einzutreiben; es stellte sich dann heraus, dass diese Meister damals bereits zu Tagelöhnern geworden oder in das Gesellen-Verhältnis zurückgekehrt waren, aus Scham oder Unwissenheit ihre Abmeldung aber unterlassen hatten.550 So konnte es nicht ausbleiben, dass die unzureichenden Einnahmen der Gewerberäte deren Tätigkeit unmittelbar behinderten: Erstreckte sich der Bezirk eines Gewerberates über die Stadtgrenzen hinaus auf teilweise entfernt liegende Gemeinden, ergab sich, wie in Altena, Lippstadt oder Paderborn, die Frage, wer die Reisekosten der auswärtigen Mitglieder zu dem Sitz des Gremiums zu tragen hatte. So versuchten die in Plettenberg wohnenden Angehörigen des Gewerberates in Altena wiederholt, eine Erstattung ihrer Reisekosten zu erreichen. Der Minister lehnte aber jedes Mal mit dem Bemerken ab, dass die gewählten Vertreter der Gewerbetreibenden ihr Amt nach § 15 der Verordnung vom 9. Februar 1849 unentgeltlich zu verwalten hätten. Die betroffenen Meister und Gesellen dürfte diese Argumentation nicht überzeugt haben. Idealismus und finanzielle Leistungsfähigkeit der Handwerker wurden auf eine zu harte Probe gestellt. b. Die Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten Die Kaufleute und Fabrikanten, die sich von Anfang an kaum bemüht hatten, ihre Abneigung gegenüber den Gewerberäten zu verbergen,551 stellten sans phrase fest, dass sie der neuen Einrichtung nicht bedurften; mehr noch, sie betrachteten die oktroyierte Zwangsgemeinschaft mit unverhohlenem und schnell wachsendem Misstrauen, da die Entschlossenheit der Handwerker, Beschlüsse zu fassen, welche den empfindlichen Lebensnerv von Handel und Industrie trafen, überdeutlich war. Kaufleute und Fabrikanten stimmten darin überein, durch demonstrativ zur Schau getragene Passivität am besten ihre Freiheit bewahren und der befürchteten Bevormundung durch das zahlenmäßig starke und effizienter organisierte Handwerk entgehen zu können.
549 1851 betrugen die Beiträge in Münster für Meister nicht über 5 Sgr. und für Gesellen nicht mehr als 1 1/2 Sgr.; s. Schreiben des Gewerberates Münster an die Reg. v. 22. Februar 1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790; 1852 war man zu einer stärker differenzierenden Regelung übergegangen: Nunmehr war der Beitrag der Meister zwischen 2 1/2 und 10 Sgr. abgestuft, s. Schreiben des Gewerberates v. 10. Mai 1852 an die Reg., in: STAM, Reg. Münster N. 790. In Soest lagen die Beiträge wegen der geringen Handwerkerzahl weitaus höher. Sie schwankten zwischen 1 und 3 Tl. pro Jahr, s. Stadtarchiv Soest XIX a 3 und Stadtarchiv Soest XIV a 8. 550 Schreiben des Gewerberates Münster an die Reg. v. 12. Juli 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790. 551 So wandten sich die Kaufleute und Fabrikbesitzer Paderborns bereits vor den Wahlen gegen die Errichtung eines Gewerberates; s. Schreiben der Reg. Minden an das Ministerium v. 5. Juli 1851, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 35.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Typisch für die Obstruktion der Handwerksfremden war das Schicksal des ersten in Westfalen gegründeten Gewerberates in der Stadt Minden.552 Nachdem sich das dortige Gremium im Mai 1850 eine Geschäftsordnung gegeben hatte, nahmen einzelne Mitglieder aus der Gruppe der Kaufleute und Fabrikanten schon seit Herbst 1850 nicht mehr an den Sitzungen teil. Um die Beschlussfähigkeit zu erhalten, mussten deren Stellvertreter einberufen werden. Seit Anfang 1851 erschienen aber auch die Vertreter nicht mehr. Selbst der Hinweis auf die eidesstattliche Verpflichtung zur Teilnahme half nichts. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, gegen die säumigen Mitglieder Zwangsmittel anzuordnen, um sie zur Anwesenheit bei den Sitzungen zu bewegen. Das Beispiel ist gerade deshalb so eindrucksvoll, weil es sich in diesem Fall nicht um einen der von Anfang an dahinsiechenden und untätigen Räte handelte. Nach Auskunft des Magistrats hatte das Mindener Gremium zunächst „auf das Tätigste gewirkt und ist ihm sogar auch die Anerkennung geworden, dass viele Städte der Provinz Westfalen wie des Rheinlandes … seine Gutachten vorzugsweise erbeten und erhalten haben“.553 In der Tat stand die Einrichtung in hohem Ansehen bei den Innungen, führte Unterstützungskassen für Gesellen und Meister ein und organisierte eine Handwerkerfortbildungsschule. In Minden wirkte sich aber auch der entscheidende Konstruktionsfehler des Gesetzes von 1849 sofort massiv aus: Die Kaufleute – von dem Magistrat der Stadt als „des Gewerberates natürliche Feinde“ bezeichnet – standen für Gewerbefreiheit, während sich die Handwerker gerade aus der Überzeugung von der Nützlichkeit korporativer Gebundenheit, der Notwendigkeit von Prüfungsbestimmungen, Arbeitsgrenzen, kurz, einer entfalteten Gewerbeverfassung554 zusammengeschlossen hatten. Wie denn sollte bei so diametral entgegengesetzter Interessenlage ein Konsens hergestellt werden? Überall blockierte eben dieses ganz und gar unlösbare Problem von Anfang an die Arbeit der Gewerberäte.555 Die Kaufleute und Fabrikanten entwickelten nicht weniger als drei verschiedene Möglichkeiten, sich mit den Konflikt auseinander zusetzen: (1) In den meisten Fällen reichten ihr Desinteresse und ihre Ablehnung so weit, dass sie sich nicht an den Wahlen zum Gewerberat beteiligten und das neue Institut schon deshalb keine Bedeutung erlangen konnte. (2) Die Geschäftsleute wirkten zwar bei der Errichtung des Rates mit, zogen sich dann aber mehr und mehr von der Mitarbeit zurück und beließen die Einrichtung in einem ungewissen, lähmenden, hilflosen Schwebezustand, so dass ihr allmähliches Verkümmern die Folge war. Dieses Schicksal ereilte fast alle Gewerberäte, die in Westfalen zustandegekommen waren. (3) Eine weitere Möglichkeit, die allerdings das Zusammengehen von Handwerk und Lokalverwal552 553 554 555
Stadtarchiv Minden, F 183. Schreiben des Magistrats (1852), in: Stadtarchiv Minden, F 183. Der Begriff wird hier wiederum nur im rechtlichen Sinne verstanden; s. Huber (1953), S. 23 f. Der liberale Zeitgenosse von Reden bezeichnete die Versuche, die Gewerberäte zu beseitigen, als den „ganz natürlichen Ausdruck des Zwists unter den feindlichen Elementen, aus denen die Gewerberäthe zusammengesetzt sind“. Dieser Zwiespalt werde vorzugsweise durch die Meister veranlasst, die den Gewerberat zur allmählichen Herstellung der alten Zunftrechte benutzen wollten; solcher Absicht träten die übrigen Mitglieder des Gewerberates im Interesse der Freiheit des Kapitals und der Arbeit entgegen; s. Reden (1853), S. 27.
C. Die Gewerberäte
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tung voraussetzte, lässt sich für Soest nachweisen: Die Handwerker gewannen dort die Oberhand und setzten ihre Eigeninteressen mit Unterstützung der Lokalgewalt gegenüber Handel und Industrie durch.556 Das konnte natürlich keine längerfristig erfolgreiche Strategie sein. In der Tat hatten die Kleingewerbetreibenden der Hellwegstadt diese Rolle auch schon bald wieder ausgespielt. Der 1852 in Hamm abgehaltene Westfälische Provinzial-Handwerkertag forderte wegen der allgemeinen Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten gegenüber dem neuen Organisationsmodell in einem „bestimmten Antrag“, dass an allen Orten, wo aus „Gleichgültigkeit, Eigensinn oder aus Widersetzlichkeit der Kaufleute und Fabrikanten die Zustimmung zur Errichtung eines Gewerberates oder die Wahl zu demselben nicht zu Stande zu bringen sei, nur Handwerkerabteilungen gebildet und konstituiert werden“ sollten.557 Die Handwerkerbewegung erkannte die Ursache für die Handlungsunfähigkeit der meisten Räte zutreffend in der unglückseligen Verquickung der antagonistischen Interessen von Kaufleuten und Handwerkern. Es war nicht zu übersehen – und nur zu verständlich –, dass der Fabrikant in seiner Abteilung des Gewerberates den Interessen des Kleingewerbes entgegenarbeitete; war es doch die Industrie, gegen die sich die handwerksfreundlichen Regelungen, welche die Meister durchzusetzen suchten, vor allem richteten. Bei der Abgrenzung der handwerklichen und industriellen Tätigkeiten mussten sich Fabrikanten und Kaufleute schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse immer für die Freigabe erklären. Die Handwerker waren deshalb im Gewerberat von einer ihnen „grundsätzlich feindlichen Majorität“558 abhängig. Ihre Versuche, sich mittels Verselbständigung der Handwerkerabteilung aus der Umklammerung durch die beiden anderen Gruppen zu lösen, scheiterten aber, wie skizziert, schon in der Aufbauphase der Gewerberäte am Widerstand von der Heydts. Hoffnung auf eine Belebung und fruchtbare Arbeit des Instituts konnte es daher bei realistischer Betrachtung des Möglichen nicht geben.559 556 Joest (1978), S. 171; sie setzten sich aber nicht immer durch. Der Versuch der Soester Tischler, im Jahre 1851 die Anlegung eines städtischen Holzmagazins für kapitalschwache Schreiner zu erreichen, scheiterte am Widerspruch der Handelsabteilung des Gewerberates, s. Joest (1978), S. 186, 187. 557 S. Schreiben des Vorstandes des Provinzial-Handwerker-Vereins „in Vertretung sämtlicher Handwerker-Vereine, Gewerberäthe und Innungen der Provinz Westfalen“ v. 21. Februar 1853 an das Handelsministerium, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 558 So schon Riedel (1861), S. 196. 559 Wie die meisten anderen Gewerberäte scheiterte auch der Lippstädter an den antagonistischen Interessen von Handwerkern und Fabrikanten; s. Bericht des Goldschmiedes und Vorsitzenden der Kreisprüfungskommission, Schütteler, an den Landrat von Schorlemer v. 3. August 1860, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adh. 11, Bd. 9, fol. 177 ff. (182). Der Landrat des Krs. Hagen berichtete a. a. O., fol. 110 ff. (116 RS) zum Scheitern der Räte: „Die hier in Hagen und Schwelm errichteten Gewerberäte sind schon seit 5 Jahren wieder außer Wirksamkeit getreten. Ihre Tätigkeit war ohne jeden sichtbaren Erfolg, und sie sind, seitdem sie wieder eingegangen, in keiner Weise vermisst worden. Die Ursache ist meines Erachtens hauptsächlich darin zu suchen, dass es bei der Art und Weise der Zusammensetzung des Gewerberaths an einem gemeinsamen reellen Interesse, der Grundbedingung einer lebensvollen Wirksamkeit, fehlte.“
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Je offenkundiger die Handwerker allein ihren Vorteil suchten, desto größer wurde natürlich das Desinteresse der beiden anderen Gruppen. Folgerichtig musste der Gewerberat in Münster gegen Ende des Jahres 1852 feststellen, dass ihm bis dahin „beinahe nur den Handwerkerstand betreffende Gegenstände zur Beratung und Begutachtung vorgelegt“ worden seien.560 Die wohlhabenden Kaufleute und Fabrikanten der Stadt, die der ersten Steuerklasse angehörten, hatten sich in dem im Jahre 1835 gegründeten Kaufmannsverein längst eine ihnen gemäßere Interessenvertretung561 geschaffen. Bald beteiligten sie sich nicht mehr an den Beratungen des staatlicherseits inaugurierten Gremiums namens Gewerberat; die notwendigen Neuwahlen boykottierten sie schon seit 1851 geschlossen.562 Noch ernüchternder verlief diese schnelle Abwendung der Beteiligten von dem Institut in den westfälischen Kleinstädten. In Höxter trat der Gewerberat nach den Wahlen und den notwendigen Vorbereitungen im November 1850 erstmals zusammen. Bereits im August 1851 wurde aber in einer mit mehr als 180 Unterschriften versehenen Petition um Beseitigung des neuen Gremiums gebeten. Selbst von den 11 Mitgliedern des Gewerberates sprach sich die überwältigende Mehrheit, nämlich 9, im Einvernehmen mit der Kaufmannschaft und den Gemeindevertretern563 für dessen Auflösung aus. Die vollkommene Verweigerung der Basis zweier der drei Abteilungen, die sich nicht nur für Münster nachweisen lässt, sondern überall dort, wo Gewerberäte bestanden, beobachtet werden konnte, hatte neben den bereits genannten nicht zuletzt auch finanzielle Gründe. Die Fabrikanten und Kaufleute wollten den ihnen auferlegten Kosten entgehen. In Münster hatte der Rat seine Aufwendungen für die Geschäftsführung mit 350 Tl. jährlich angesetzt. Die Handwerker sollten nach dem Willen des Gewerberates 150 Tl., der Fabriken- und Kaufmannstand aber 200 Tl. jährlich zahlen. Die weit überproportionale Belastung der 22 Fabrikanten der Stadt, denen 1018 selbständige Handwerksmeister und ca. 600 Gesellen gegenüberstanden, mit nahezu einem Viertel der Gesamtkosten wurde von den Beschwerten naturgemäß als Affront verstanden.564 Die Fabrikarbeiter hatten ohnehin von Anfang an nicht nur gegen die Unternehmermehrheit, sondern auch gegen die Pflicht zu Kostenbeiträgen protestiert und deshalb das neue Institut boykottiert.565 Der münsterische Magistrat, der unverhohlen die Interessen des „Handels- und Fabrikenstan560 Schreiben des Gewerberates Münster an die Regierung v. 16. September 1852, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 792. 561 S. Haunfelder (1985). 562 S. Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Münster an die Regierung Münster v. 18. Juni 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 792. Die Schwierigkeiten hatten gleich nach der Einführung des Gewerberates am 15. Mai 1851 in Münster begonnen. Schon bei der ersten Nachwahl, die in der Fabrikenabteilung notwendig wurde, erschien niemand; s. Schreiben v. 11. Juni 1851, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790. 563 Bericht der Regierung Minden an das Ministerium v. 5. Juni 1852, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V Nr. 19, fol. 47. 564 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster an die Reg. v. 23. Januar 1852, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 565 S. Benario (1933), S. 106; vgl. dazu auch Hasemann, Art. „Geselle“, (1856), S. 369 ff. (420).
C. Die Gewerberäte
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des“ vertrat, forderte in einem Schreiben an die Regierung566 eine Herabsetzung der Beiträge der Geschäftsleute. Obwohl auf Anordnung der Regierung in der Tat eine Neuverteilung erfolgte, ließen sich weder für das Jahr 1851/52 noch für 1852/53 die Beiträge vollständig eintreiben.567 4. Der Niedergang Trotz der Widerstände und Mißhelligkeiten kam der Niedergang der ersten handwerklichen Selbstverwaltungsorgane seit der Zunftzeit dann aber für das Ministerium doch überraschend schnell. Die Handwerkerbewegung des Vormärz und der Revolutionszeit hatte eine Verbesserung der desolaten ökonomischen Situation des Kleingewerbes bekanntlich allein von der Wiederbelebung alter Vorzugsrechte und neuer Institutionen und „Assoziationen“ erhofft.568 Als sich der eben erst konstituierte sog. „Centralvorstand des Handwerkervereins der Provinz Westfalen“ 1849 in einer großen Denkschrift mit seinen Forderungen an die Öffentlichkeit wandte, verdammte er mit starken Worten die Gewerbefreiheit als die Ursache des Niedergangs des Handwerks.569 An eben dieser Gedankenwelt des Zünftlers orientierten sich die Handwerkerabteilungen der Gewerberäte. Auch zu Beginn der fünfziger Jahre waren die Handwerker in ihrer Mehrzahl nicht bereit, eine marktorientierte Wirtschaftsgesinnung zu übernehmen. So hatte sich im Mindener Gewerberat nach Beobachtung der dortigen Regierung „eine sehr exclusive, die Grundsätze der Verordnung vom 9. Februar 1849 in ihrer vollen Härte verfolgende Richtung Geltung verschafft“.570 Statt Initiativen zur Verbesserung der ökonomischen Lage der Handwerker zu ergreifen, beschäftigte sich der Rat, so klagte die Regierung, „nur mit theoretischen Spitzfindigkeiten, wie sich eine Arbeit von der anderen sondern lasse“.571 Dabei 566 Schreiben des Magistrats der Stadt Münster an die Reg. Münster v. 23. Januar 1852, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790. 567 S. Schreiben des Gewerberats Münster an die Reg. v. 9. August 1852 und 13. Juni 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790; in Berlin hatte der zu Beginn der sechziger Jahre noch bestehende Gewerberat Hunderte von Schuldnern. Die Eintreibung der Beiträge war häufig nur unter Polizeibeistand möglich; s. GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B V 35 Nr. 29, Bd. 2, fol. 201. 568 Die von den Handwerkern mit Vehemenz geforderte Rückkehr zu einer vorliberalen Wirtschaftsordnung machte den Konflikt mit den Kaufleuten und Fabrikanten natürlich von vornherein unausweichlich; er lässt sich daher auch überall nachweisen; s. z. B. für Lippstadt Maron (1988), S. 63. 569 S. Denkschrift des „Centralvorstandes des Handwerkervereins der Provinz Westfalen“ v. 21. September 1849, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19, Bd. 1, fol. 177. 570 Schreiben der Reg. Minden an das Handelsministerium v. 24. März 1857, in GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 19, fol. 79 RS. 571 S. Anm. 570, fol. 80; Ähnliches lässt sich überall in Westfalen feststellen. Dabei verstiegen sich die Handwerker zu Absonderlichkeiten, welche die sog. „Missbräuche“ der Zunftzeit noch in den Schatten stellten. So vertraten die Lippstädter Böttchermeister die Auffassung, es handele sich beim Abfüllen und Verpacken von Seife in Holzfässer im Unternehmen eines örtlichen
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
könne die ebenso erwünschte wie notwendige „Lust an der praktischen Tätigkeit“ bei den Meistern nicht aufkommen. Die Beamten hatten beobachtet, dass die erforderlichen mentalen Veränderungen im Kleingewerbe nicht stattfanden, sondern durch die neue Gesetzgebung geradezu verhindert wurden. Die Meister von den Vorzügen der dynamischen Konkurrenzwirtschaft zu überzeugen, betrachteten die Vertreter des Handwerks in den Gewerberäten keineswegs als ihre Aufgabe. Als die Mindener Regierung dem dortigen Gewerberat vorschlug, doch eine sog. Handwerker-Vorschuss-Kasse zu errichten, um den Betrieben die Möglichkeit zu Investitionen zu geben, zeigte sich das Gremium völlig desinteressiert.572 Selbst als das liberale Denken seit der Mitte der fünfziger Jahre das politische Leben wieder zunehmend zu prägen begann, suchte der Mindener Gewerberat die Anhänger neuer Ideen noch immer aus seinen Reihen fernzuhalten.573 Praktische Initiativen, um die wirtschaftliche Situation der Handwerker zu verbessern, ergriff er daher erst recht nicht. Da sie den Organisationsgedanken nun einmal als Allheilmittel betrachteten, mochten sich jedenfalls die in den Räten engagierten Professionisten so bald nicht mit der Aussichtslosigkeit ihres am Zunftideal orientierten Bemühens um den Aufbau einer effizienten Interessenvertretung abfinden. (1) Sie suchten deshalb die Ursache für das gleichwohl nicht zu übersehende, allmähliche Absterben ihrer Organisationen vor allem in der Obstruktion der zumeist mit den Kaufleuten eng verbundenen Lokalbehörden. Die wenig eindeutige Bestimmung der Kompetenzen der Gewerberäte in § 2 der Verordnung von 1849 im Verein mit dem ungeklärten Verhältnis zu den Kommunalbehörden führte in der Tat in den meisten Fällen zu einer immer fühlbarer werdenden und schließlich dauerhaften Vergiftung des Klimas zwischen der gewerblichen Interessenvertretung und den amtlichen Stellen. Schon 1852 klagte das publizistische Organ der westfälischen Handwerkerbewegung, das „Centralblatt für den Handwerkerverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen“, die Unterbehörden kämen den Handwerkern nicht in der notwendigen Weise entgegen. „Wird diesem Übelstande abgeholfen, werden diejenigen Unterbehörden, welche in der Erfüllung ihrer Pflicht saumselig sind, mit mehr Liebe zu Werke gehen, dann werden auch die Handwerker mit mehr Muth und Vertrauen die Sache wieder aufgreifen.“574 Diese Analyse teilte auch der Vorstand des westfälischen Provinzial-Handwerker-Vereins, welcher dazu 1853 beSeifenfabrikanten gewerberechtlich um Böttcherarbeiten, die geprüften Handwerksmeistern zu übertragen seien, während der Fabrikant sie von Hilfskräften ausführen ließ. Gegen den Vorstoß der Handwerker erhob die Handelsabteilung des Gewerberates scharfen Protest. Erwartungsgemäß entschied die Regierung in Arnsberg die Auseinandersetzung im Sinne der Handels- und Fabrikenabteilungen des Gewerberates; s. Maron (1988), S. 59. 572 S. Schreiben der Regierung an das Ministerium v. 24. März 1857, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 80. Dabei wären in Minden ökonomische Aktivitäten und ein neues Wirtschaftsdenken durchaus vonnöten gewesen. Nach Auskunft der Regierung befand sich „der Handwerkerstand in Minden durchgehends noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Ausbildung, ohne einen besonderen Grad von Strebsamkeit zu erkennen zu geben“; s. a. a. O., fol. 79 RS. 573 S. Anm. 572, fol. 79 RS. 574 S. „Centralblatt für den Handwerksverein und die Gewerberäthe der Provinz Westfalen“, Jahrg. 1852 (Münster), v. 3. April 1852.
C. Die Gewerberäte
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merkte: „Es gibt in der Provinz Westfalen noch viele Orte, wo eben die Ansichten des Handwerkerstandes … und der Kommunalbehörde von abweichenden Interessen geleitet wurden“. Die Anträge der Meister und Gesellen würden überstimmt oder verdrängt. Da beinahe alle Aktivitäten des Gewerberates zunächst der Billigung des Magistrats oder Bürgermeisters bedürften, sei es nur natürlich, dass die Angelegenheiten nicht immer im Interesse der Gewerbetreibenden erledigt würden. Besonders heftige Klage wurde darüber geführt, dass notwendige Anordnungen zur Ausfüllung der Gewerbeordnung unterblieben; vor allem weigerten sich, wie bereits festgestellt, die Lokalverwaltungen, die im Gesetz vorgesehenen Orts-Statuten zur Förderung des Handwerkerstandes zu erlassen.575 Aus diesen Gründen, besonders aber wegen der wenig konkreten Bestimmung der Aufgaben und Befugnisse der Gewerberäte in der Verordnung von 1849, kam es zu den „widerwärtigsten Streitigkeiten“ zwischen Gewerberäten und Magistraten.576 Meistens blieb der Magistrat Sieger. (2) In gleicher Weise fühlten sich die Handwerker von den Regierungen vernachlässigt. Der Gewerberat Münsters klagte, dass er bei der Aufstellung von Ortsstatuten, der Förderung der Innungen sowie der einvernehmlichen Regelung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten nicht die erhoffte Unterstützung der vorgesetzten Regierung gefunden habe.577 Der Vorsitzende des Rates in Münster, der damals schon seit langem in standespolitische Angelegenheiten aktive und erfahrene Kleidermacher Bartz, äußerte 1853, dass „fast alles, was vom Gewerberat beschlossen und zur Förderung der gewerblichen Einrichtungen vorgenommen und selbst durch ortsstatuarische Bestimmungen für Münster anerkannt und festgestellt werden sollte, von der vorgesetzten Behörde, der Regierung Münster, keine befriedigende Erledigung gefunden hat“.578 Trotz der angestrengten Arbeit der Gewerberäte werde seitens der Behörden keine Rücksicht auf die Interessen der Handwerker genommen. Seit diese begriffen hätten, dass ihren Anliegen wie eh und je keine Beachtung geschenkt werde, verweigerten sie ihre Mitarbeit in den Räten. Die Verantwortung für die mangelnde Teilnahme an den Wahlen zum Gewerberat sei, so bemerkte Bartz, in der Handhabung und Auslegung des Gesetzes vom 9. Februar 1849 durch die Verwaltung zu suchen. In der Tat konnte es niemand übersehen: Kaum, dass die revolutionäre Gefahr gebannt war, legten die Behörden aller Ebenen keinen Wert mehr auf die Einhaltung der Verordnung. Nicht allein dem Minister, sondern offenbar auch den Mittel- und Unterbehörden waren die Gewerberäte und die Eingriffe in den freien Arbeitsvertrag nicht mehr als eine Notmaßnahme zur Besänftigung der unruhigen Arbeitermassen gewesen.579 575 S. Schreiben des Vorstandes des Provinzial-Handwerkervereins in Vertretung sämtlicher Handwerker-Vereine, Gewerberäte und Innungen der Provinz Westfalen v. 21. Februar 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781; Joest (1978), S. 171. 576 Mascher (1866), S. 541. 577 Schreiben des Vorsitzenden des Gewerberates Münster, Bartz, an die Reg. v. 28. Januar 1854, in: STAM, Reg. Münster Nr. 792. 578 Schreiben des Gewerberates Münster an die Reg. Münster v. 19. September 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 790. 579 S. dazu Vietinghoff-Scheel (1972), S. 87.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
(3) Auch die bereits erwähnten diversen Reskripte des Jahres 1850580 hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die andauernde Bevormundung nahm den Handwerkern je länger je mehr das Interesse an der Mitarbeit in den Institutionen. (4) Die in der Tat offenkundige Obstruktionspolitik der Behörden gegenüber den Räten581 hatte ihre Ursache mitunter auch darin, dass die aus den Parlamenten des Staates und den politischen Interessenvertretungen auf kommunaler Ebene verdrängten Demokraten an manchen Orten ein neues Betätigungsfeld in den Gewerberäten gefunden hatten. Jedenfalls fürchtete die wieder erstarkte Reaktion zu Beginn der fünfziger Jahre, dass ehemalige Revolutionäre die Räte als Ausgangsbasis für die Rückgewinnung ihres verlorenen Einflusses nutzen könnten. Von der Heydt veranlaßte deshalb die Regierungen, darauf hinzuweisen, dass die „sog. Volkspartei“ nicht den maßgeblichen Einfluss in den Räten gewinnen dürfe.582 Überall sollten Vorkehrungen getroffen werden, „um die Befähigung der Gewählten einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen und solche Personen, gegen deren moralisches oder politisches Verhalten Bedenken obwalten, vom Gewerberate auszuschließen“.583 Die Zusammensetzung der Institute in Westfalen gab jedoch keine Veranlassung für entsprechende Maßnahmen der Regierung.584 Als endgültigen Vernichtungsschlag mussten die Meister aber ein Schreiben von der Heydts empfinden, worin sich der Minister ohne Umschweife von den Gewerberäten distanzierte.585 1853 erklärte er lapidar, die in die Gremien gewählten Mitglieder besäßen nicht überall das Vertrauen der Gewerbetreibenden, ein Teil der Deputierten verfolge einseitig seine eigennützigen Interessen; auch herrsche die irrige Auffassung, die Gewerberäte könnten von der Kommunalbehörde unabhängige Wirksamkeit entfalten; schließlich, so lautete der Hauptvorwurf, hätten demokratische Tendenzen in die Räte Eingang gefunden. Die Regierungen wurden angewiesen, überall dort, wo bei den Wahlen Teilnahmslosigkeit festzustellen sei, die Gremien aufzulösen.586 Anregungen zu ihrer Reorganisation und Wiederbelebung gab der Minister bezeichnender580 S. o., Anm. 458, 459, 460. 581 S. dazu auch unten, „Die Auflösung“. S. 172 ff. 582 Tilmann (1935), S. 48. 583 Schreiben von der Heydts an Gerlach v. 17. August 1853, s. Tilmann (1935), S. 49; ein Hinweis auf das einschlägige Reskript v. 5. Februar 1853 findet sich in: Schreiben des Gewerberates Münster an die Reg. Münster v. 19. September 1853, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 790. 584 Zwar hatte es im Jahre 1848 auch unter den Handwerkern linksdemokratische Zusammenschlüsse als sog. „Junges Münster“ gegeben, s. Schulte (1954), S. 248. Doch ist eine Kontinuität dieser Organisationen und ihre Einflussnahme auf die Zusammensetzung der Gewerberäte nirgends nachzuweisen. In Berlin dagegen hatten sich sozialistische und kommunistische Gesellen der Arbeiterverbrüderung auf das energischste bemüht, ihre Vertreter in die Gewerberäte zu entsenden; s. Tilmann (1935), S. 48; Teuteberg (1961), S. 330, 331. 585 Schreiben des Ministers v. d. Heydt an die Reg. v. 3. Februar 1853, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. 586 Insbesondere auf diese Verfügung, aber auch auf die vorhergehenden nahm der Vorsitzende des Gewerberates in Münster, Bartz, Bezug, als er in seinem Auflösungsantrag an die Regierung v. 28. Januar 1854 darauf hinwies, dass es der Gewerberat „infolge der inzwischen erschienenen Ministerial-Verordnungen und Verfügungen für unmöglich gehalten, die Wünsche des hauptsächlich vertretenen Handwerkerstandes zu erfüllen“, s. Schreiben des Gewerberates in Münster an die Reg. v. 28. Januar 1854, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781.
C. Die Gewerberäte
169
weise nicht. Der Gewerberat in Münster machte denn auch aus seiner tiefen Enttäuschung darüber kein Hehl, dass man ihn – der doch vor allem die wohlhabende, konservative Meisterschaft repräsentierte – demokratischer Tendenzen zieh. Empört wandte er sich gegen die in dem Reskript zum Ausdruck kommende „Geringschätzung“.587 Trotz der vielfachen Behinderungen und Schwierigkeiten habe er Hunderte von Anträgen auf einfache Weise erledigt und die Regierung dadurch entlastet. Die Räte seien eine nicht zu ersetzende Notwendigkeit geworden. Den Handwerkern sei deshalb nach wie vor an der Arbeit dieser Gremien außerordentlich viel gelegen. Sie hätten aber keine Hoffnung mehr, dass der Staat das Kleingewerbe durch gesetzgeberische Maßnahmen vor der drohenden Erosion schützen werde.588 (5) Als folgenreicher noch für das weitere Schicksal der Gewerberäte erwies sich der industrielle Aufschwung seit Beginn der fünfziger Jahre, welcher die aktuellen wirtschaftlichen Probleme auch der Handwerker allmählich als weniger drängend erscheinen ließ. Rechtlich-organisatorische Maßnahmen waren seither jedenfalls für die wirtschaftlich aktiveren Meister nicht mehr die einzige Hoffnung auf Besserung der ökonomischen Situation. So begann der dynamischere Teil des Kleingewerbes damals zu glauben, dass er mit der positiven Wirtschaftsentwicklung ein wirksameres Unterpfand dauerhafter Prosperität in den Händen halte. 5. Untauglicher Reformversuch Angesichts solcher Umstände konnte die Handwerker nichts anderes als Resignation erfassen, wenn sie die Überlebenschancen ihrer selbstverwalteten Interessenvertretung nüchtern bedachten. Sie hatten in der Tat wenig zu hoffen. Das Handelsministerium ließ es nämlich nicht bei den die Bestimmungen der Verordnung vom 9.2.1849 einschränkenden Zirkularen vom 28. August und 5. Oktober 1850 bewenden. Zum äußeren Anlass eines neuerlichen Eingriffs in die gerade erst umgestaltete Gewerbeordnung wurden – vielleicht lancierte – Petitionen der Berliner und anderer Innungsvorstände vom Februar 1853, die darauf antrugen, die Arbeitnehmer aus dem Gewerberat zu entfernen, die Gesellen aus den Prüfungskommissionen der Handwerksmeister auszuschließen und einen Beamten mit dem Vorsitz in den Abteilungen und im Plenum zu betrauen.589 Von der Heydt zögerte nicht lange; die 587 Vgl. Schreiben v. 19. September 1853, s. Anm. 583. 588 S. Anm. 583. 589 In: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 71, Bd. 1, fol. 189, 189 RS; dazu Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe, a. a. O., fol. 177; dazu Schreiben des Ministers v. d. Heydt v. 13. März 1853, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19, Bd. 1, fol. 215. Zur Begründung führten die Meister aus, den Arbeitnehmern fehle die für die Mitarbeit im Gewerberat notwendige Erfahrung, und die Mitwirkung von Gesellen bei der Meisterprüfung sei wegen deren fehlender Qualifikation eine „Abnormität“; schließlich könne ein Mitglied des Gewerberates denselben nicht unparteiisch leiten; s. Behr (1990), S. 138. In einer weiteren Petition forderten die Berliner Meister nicht nur den Ausschluss des „unselbständigen Elements“ aus den Gewerberäten, sondern auch eine Regelung, wonach jede
170
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
wiedererstarkte Staatsgewalt ergriff die Gelegenheit, die breite demokratische Grundlage, auf die sie – im Zustande der Bedrängnis – die Mitwirkung des Handwerks gestellt hatte, zu demontieren.590 Der Minister forderte die Bezirksregierungen durch Erlass vom 13. März 1853 auf, „in geeigneter Weise“ festzustellen, inwieweit die Abänderungsvorschläge empfehlenswert seien.591 Zuvor schon hatte er in einem Reskript vom 3. Februar 1853 an die Regierungen festgestellt, es könne „keinem Bedenken unterliegen, mit der Wiederauflösung des Gewerberates vorzugehen“, wenn sich Teilnahmslosigkeit zeige oder der Gewerberat selbst keine Notwendigkeit für seine Tätigkeit mehr erkenne592: „So wie die Errichtung derselben nach § 1 dadurch bedingt ist, dass die gewerblichen und kaufmännischen Korporationen und die Gemeinde die Einsetzung des Gewerberates als Bedürfnis erkennen, ebenso wird auch da, wo das Gegenteil der Fall ist, zu dessen Wiederauflösung zu schreiten sein; eine gedeihliche Wirksamkeit des Gewerberates ist nur da zu erwarten, wo derselbe sich auf das Vertrauen des Gewerbestandes stützt.“ Folgerichtig forderte von der Heydt die Regierungen ausdrücklich auf, über Fälle von Teilnahmslosigkeit Bericht zu erstatten. Unverzüglich wurde ein Amendement zur Verordnung vom 9. Februar 1849 entworfen und zur Diskussion gestellt. Die Regierungen in Münster und Arnsberg befürworteten die geplante Ausschließung der Arbeitnehmer aus dem Gewerberat.593 Der Soester Rat lehnte dies ebenso wie der Magistrat Münsters dagegen ab.594 Gegen die geplante Übertragung des Vorsitzes des Gremiums auf ein Mitglied des Gemeindevorstandes wandten sich die westfälischen Regierungen allerdings nachdrücklich.595 Sie sahen illusionslos, dass dies sogleich die allgemeine Auflösung des Instituts bedeutet hätte. Eine solche Regelung müsse als lästige Bevormundung betrachtet werden; alles Vertrauen werde den Gewerberäten entzogen, ihre geringe Wirksamkeit entfiele völlig, argumentierten sie in realistischer Einschätzung der Lage.596 Der Oberpräsident schloss sich der
590
591 592 593 594
595 596
Abteilung des Gewerberates endgültige Beschlüsse in den die Abteilung allein betreffenden Angelegenheiten fassen dürfe; so Petition der vereinigten Vorstände und Repräsentanten der Berliner Innungen „um Hebung des bedrückten Handwerkerstandes“ v. 1. Februar 1854, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 1, fol. 270 ff. In dem Bericht der Kommission für die Arbeiter-Unterstützungskassen zu der Novelle wurde der Ausschluss der Arbeitnehmer in bester liberalistischer Manier u. a. damit begründet, dass dann, wenn die Meister ihre eigenen Interessen im Gewerberat wahrnähmen, dies zugleich auch diejenigen der unselbständigen Berufsgenossen fördere; s. Bericht der Kommission für Arbeiter-Unterstützungskassen d. II. Kammer v. 3. April 1854, in: GStA/PK, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19, Bd. 1, fol. 270. STAM, Oberpräsidium Nr. 2794, fol. 178. Zitiert nach Behr (1990), S. 140, 141. STAM, Oberpräsidium Nr. 2754, fol. 186, 190. Der Magistrat der Stadt Münster hatte sich für die Entfernung der Arbeitnehmer aus dem Gewerberat, jedoch gegen eine Ausschließung der Gesellen aus den Prüfungskommissionen ausgesprochen, da „durch die Theilnahme das Ehrgefühl der Gesellen gehoben und ungerechtfertigten Erschwerungen der Prüfung vorgebeugt“ werde; s. Schreiben der Reg. Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781.; vgl. Behr (1990), S. 139; Joest (1978), S. 171. Vgl. Schreiben des Oberpräsidiums an den Minister v. d. Heydt v. 3. Oktober 1853, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. Vgl. Schreiben der Regierung Münster, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. Ebenso äußerte sich
C. Die Gewerberäte
171
Argumentation der Bezirksregierungen an. Er erklärte apodiktisch, dass die Gewerberäte „in ihrer gegenwärtigen Einrichtung keine Aussicht auf Entfaltung einer gedeihlichen Wirksamkeit“ böten. Stattdessen schlug er vor, an deren Stelle Gewerbedeputationen nach § 59 der Städteverordnung für die östlichen Provinzen vom 30. Mai 1853 einzurichten597 – wobei es sich bezeichnenderweise um unselbständige Organe des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlungen handelte. Die Handwerker ließen sich von der entwaffnenden Offenheit des Ministers zunächst aber noch nicht einschüchtern, wie sich am Beispiel Münsters zeigen lässt. Unter der Führung der Handwerkerabteilung empörte sich der dortige Gewerberat über die Geringschätzung, die von der Heydt in seinem Reskript vom 3. Februar 1853 zum Ausdruck gebracht habe. Das Gremium forderte die Regierung auf, „für die Erhaltung der Selbstverwaltung jeden Standes auf die eine oder andere Weise schleunigst Bedacht“ zu nehmen. 598 Gleichzeitig machten die Handels- und Fabrikabteilungen in Münster aber keinen Hehl daraus, dass sie der Vertretung durch den Gewerberat keineswegs bedürften, da hierfür sowohl der Kaufmannsverein als auch die Handelskammer zur Verfügung stünden.599 Diese Obstruktion seitens der anderen Abteilungen, aber auch der Widerstand der Regierung gegen die wesentlichen Initiativen der Handwerkerabteilung wie den Erlaß von Ortsstatuten, die Förderung der Innungen sowie die Regelung der Arbeitsverhältnisse, vor allem aber der neue Kurs des Ministeriums ließen das Vertrauen der münsterischen Handwerker in die Dauerhaftigkeit des Gewerberates schließlich doch schwinden.600 Anfang des Jahres 1854 verwandten sich nicht weniger als 147 Bürger, darunter auch viele Handwerker, beim Magistrat für dessen baldige Auflösung.601 Trotz der unübersehbaren Auflösungserscheinungen wurde die Novelle der Verordnung vom 9. Februar 1949 am 15. Mai 1854602 aber noch verabschiedet. Sie brachte gleich eine ganze Reihe von Neuerungen. So wurde das Wahlrecht für den Gewerberat dem Kommunalwahlrecht angepasst. Fortan konnten nur noch diejenigen an der Wahl der Mitglieder des Gewerberates teilnehmen, die ein Gewerbe selbständig betrieben und befugt waren, an den Gemeindewahlen teilzunehmen. Damit wurden die ökonomisch weniger leistungsfähigen Handwerker und alle Arbeitnehmer ohne viel Federlesens von der Wahl der Interessenvertretung des Gewerbes ausgeschlossen. Die Räte unterstanden künftig der Aufsicht der Behörden.
597 598 599 600 601 602
der Magistrat der Stadt Münster. Dies musste um so mehr gelten, als die Gewerberäte damals anderwärts bereits weitaus stärker diskreditiert waren als in Münster. So wiesen die Berliner Innungen in einer Petition vom 1. Februar 1854 darauf hin, dass die Gewerberäte ihrem Zweck „durchaus nicht“ entsprächen; s. Petition der „Vereinigten Vorstände und Repräsentanten der hiesigen Handwerker-Innungen zur Hebung des bedrückten Handwerkerstandes“ v. 1. Februar 1854, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I 1 Nr. 71, Bd. 1, fol. 269–280 RS (270). STAM, Oberpräsidium Nr. 2754, fol. 191 f., zitiert nach Behr (1990), S. 139; Preußische Gesetzessammlung 1853, Nr. 24, S. 282. Bericht des Gewerberates v. 18. September 1853, zitiert nach Behr (1990), S. 142. Bericht des Gewerberates v. 18. September 1853, zitiert nach Behr (1990), S. 141. Vgl. Goeken (1925), S. 34, 35. S. Behr (1990), S. 143. Pr. Gesetzes-Sammlung 1854, S. 263, 264.
172
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
Die Regierungen mussten die Wahl der Vorsitzenden und ihrer Stellvertreter bestätigen. Kam eine Einigung nicht zustande, hatten sie geeignete Persönlichkeiten zu ernennen. Um die Überwachung vollkommen zu machen, stand der Kommunalverwaltung das Recht zu, einen Kommissar zu bestimmen, der an den Sitzungen des Gewerberates ohne Stimmrecht teilnehmen und den Gewerberat zu außerordentlichen Sitzungen einberufen konnte. Die Motive der Novelle lassen, kaum verhüllt, die Absichten des Gesetzgebers erkennen: Da man die Gewerberäte als Kommunal-Institute betrachtete, sollte auch das Kommunalwahlrecht für sie gelten.603 Die Funktionsträger wurden von den Regierungen abhängig gemacht, um die Leitung der Geschäfte durch im Sinne der Staatsgewalt „ungeeignete“ Personen zu vermeiden. Die Ausschließung der Gesellen aus der Interessenvertretung wurde mit deren häufigem Ortswechsel begründet. Den Hilfskräften, so argumentierte der Gesetzgeber, fehle die unabdingbare Kenntnis der lokalen gewerblichen Verhältnisse sowie das notwendige Interesse an deren Regelung. Die Gleichstellung mit den Meistern und Fabrikanten, welche die bis dahin geltende Wahlordnung vorsah, habe, und diese Begründung ist besonders dekuvrierend, eine „unerwünschte Lockerung des untergeordneten Verhältnisses zu den Arbeitgebern“ gebracht. Ein solcher Strauß, aus ebenso inhaltsleer-fadenscheinigen wie entwaffnendoffenen Argumenten für die Änderung des Gesetzes von 1849 geflochten, ließ keinen Zweifel daran, dass es von der Heydt nicht um eine Wiederbelebung der absterbenden Gewerberäte zu tun war; es ging ihm vielmehr um die vollständige behördliche Bevormundung der selbstverwalteten Organisation und vor allem um die Ausschaltung der Arbeitnehmer. Die Meister wiederum, welche ihre eigene politische Entrechtung so lebhaft beklagten, waren zugleich an der Verdrängung der Gesellen von jedweder Mitsprache ebenso interessiert und bedenkenlos beteiligt wie der Staat. Bereits 1852 hatten sich die Gesellen gegen solche Bestrebungen der Arbeitgeber zur Wehr setzen müssen.604 An manchen Orten schlossen sie sich aus Protest gegen die ganz und gar hilflose Stellung, die sie in den Gewerberäten einnahmen, schon vor ihrer ausdrücklichen Entrechtung selbst aus.605 6. Die Auflösung So war das Schicksal der Gewerberäte in Westfalen spätestens seit dem Jahr 1853 besiegelt. Zwar hatten sich schon 1852 drei Räte aufgelöst. Doch hofften viele ge603 Motive zur dem „Entwurf betr. einige Abänderungen der Gewerbeordnung“ v. 17. Januar 1845 und der Verordnung v. 9. Februar 1849 wegen Errichtung von Gewerbe-Räthen, v. 28. März 1854, S. 7, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B I Nr. 62, Bd. 4, fol. 260; s. auch Schreiben des Ministers von der Heydt an die Reg. Münster v. 13. März 1853, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781; Geissen (1936), S. 61. 604 S. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 422, desgl. Riedel (1861), S. 195. 605 In Berlin nahm 1853 kein einziger Geselle an den Wahlen teil; s. Hasemann, wie Anm. 604. Aus Westfalen sind solche Fälle demonstrativer Total-Verweigerung allerdings nicht bekannt geworden.
C. Die Gewerberäte
173
rade der in Ehrenämtern tätigen Handwerker länger als andere auf eine durchgreifende Reform der Verfassung des Instituts und damit auf eine Wende zum Positiven. Ein Jahr später waren diese Illusionen aber endgültig zerstoben. Die westfälischen Regierungen machten sich damals bereits Gedanken über die geeignete Nachfolgeorganisation für die Gewerberäte. Die Regierung Münster betrachtete die Abstinenz des „Fabrikenstandes“ als die wesentliche Ursache für den Misserfolg der Gewerberäte.606 Sie schlug deshalb, da sie die Handwerker nicht tatenlos einem ungewissen Schicksal überlassen wollte, dem Minister vor, die Räte unter Ausschluss des Fabriken- und des wohlhabenden Handelsstandes als Interessenvertretung der Handwerker und des Kleingewerbes fortbestehen zu lassen.607 Aus Minden hingegen kam die Anregung, die Gewerberäte aufzuheben und an deren Stelle Gewerbekammern als technische Deputationen der Kommunalbehörden zu errichten und direkt den Magistraten zu unterstellen.608 Auch die Regierung Arnsberg wollte auf Gewerberäte verzichten. Stattdessen sollten nach § 56 der Gewerbeordnung Deputationen gebildet werden.609 Ihr Vorschlag glich also dem der Regierung in Minden. Der Vorsitzende des Gewerberates in Münster, Bartz, forderte die Regierung auf, an Stelle des Gewerberates die Einsetzung einer sog. Gewerbe-Kommission zu veranlassen, „damit dem Kleingewerbestande in den Fällen seiner Unkenntnis über die Ausführung der Gewerbegesetze von Fachgenossen eine Belehrung und Zurechtweisung verbleibe und ihnen nicht alle Vertretung ihrer Sache verloren gehe.“610 Nichts von alledem wurde aber verwirklicht. Als das Gesetz vom 15. Mai 1854, das doch eine Reform der Gewerberäte im konservativen Sinne bringen sollte, erlassen wurde, entfalteten die meisten der Gewerberäte in Westfalen schon längst keine praktische Wirksamkeit mehr. Statt sich neu zu organisieren, stellten sie, wie in Münster, mit der Begründung, dass sie ihren Verpflichtungen nicht länger nachkommen könnten, selbst die Auflösungsanträge.611 Den wenigen Räten, die noch existierten, aber permanent beschlussunfähig waren, blieb schließlich nur noch die Regelung des Prüfungswesens (nach § 23 der Verordnung vom 9. Februar 1849), wobei sie bezeichnenderweise insbesondere über Anträge auf Befreiung von der Prüfungspflicht zu entscheiden hatten. Die Agonie des Mindener Rates währte besonders lange. Immer wieder drangen Petitionen auf die umgehende Beseitigung der Einrichtung. Beklagt wurden, wie überall, 606 Schreiben der Reg. Münster an den Minister (1853), in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. 607 Der Vorschlag hätte, wäre er verwirklicht worden, den Räten vermutlich eine erfolgreiche Zukunft gesichert. Da man aber in Berlin nicht daran dachte, die Selbstverwaltung des Handwerks wirklich sicherzustellen, musste der Vorschlag ungehört bleiben. 608 Schreiben v. 3. Oktober 1853, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. 609 Schreiben v. 15. November 1853, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2794. 610 Schreiben des Vorsitzenden des Gewerberates Münster, Bartz, an die Regierung v. 28. Januar 1854, in: STAM, Reg. Münster Nr. 792. 611 Vgl. z. B. Schreiben des Magistrats der Stadt Münster (von Olfers) an die Regierung v. 12. Mai 1854, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 792. Am 28. Januar 1854 hatte der münsterische Gewerberat wegen fehlender Mitwirkung der Kaufmannschaft seine Auflösung bei der Regierung beantragt. Der Minister gab diesem Ersuchen am 19. Juni 1854 statt; vgl. Behr (1990), S. 144; s. auch Böhmert (1858), S. 223.
174
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
die geringe und allzu einseitige Beteiligung am Gewerberat sowie die nutzlosen Kosten.612 Die örtliche Handelskammer wollte die Aufgaben der Deputierten auf wenige Belanglosigkeiten beschränken und die Kaufleute ganz von der Mitgliedschaft entbinden. Während sich der Bürgermeister Mindens 1852 noch für die Beibehaltung des Gewerberates aussprach, votierte das Landratsamt damals bereits entschieden für dessen Auflösung.613 1857 schließlich fanden sich auch die Stadtverordnetenversammlung und die Regierung in dem Bemühen um die Beseitigung der Einrichtung in Minden zusammen.614 Der allgemein feststellbare Meinungsumschwung von der korporativ-statischen zur liberal-dynamischen Wirtschaftsidee besaß in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auch bei den Kleingewerbetreibenden selbst bereits eine so bemerkbare Basis, dass nach Auffassung der Mindener Regierung „bei dem unverkennbaren Streben auch des Handwerkerstandes nach möglichst uneingeschränkter und ungehinderter Thätigkeit dieser Einrichtung der Boden immer mehr entzogen wird“.615 Nicht mehr allein die ökonomische Elite, sondern auch ein Teil der Handwerker begann die wirtschaftliche Freiheit, wie der Liberalismus sie verstand, als sinnstiftendes Ideologem, welches das genossenschaftliche Denken verdrängte und als neues kollektives Weltbild künftigen Wohlstand verhieß, zu entdecken. Die Mindener Behörde hielt die Tätigkeit des Gewerberates, der alles Vertrauen verloren habe, vor diesem Hintergrund für „ganz unfruchtbar“; Möglichkeiten zur Besserung des Zustandes sahen die Beamten nicht mehr.616 Als letzte Einrichtung ihrer Art in Westfalen wurden die Räte in Minden und Olpe im Jahre 1858 aufgehoben.617
612 Schreiben der Regierung Minden an das Handelsministerium v. 6. April 1858, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 BV 35, Nr. 19, fol. 74. 613 Voraussetzung für die Auflösung war die Teilnahmslosigkeit der Gewerbetreibenden und ein die Auflösung befürwortendes Votum der Kommunalbehörde, s. STAM, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B V 35 Nr. 29, Bd. 2, fol. 200. 614 Schreiben der Regierung Minden an das Handels- und Gewerbeministerium vom 24. März 1857, in: GStA/PK, Ministerium für Handel und Gewerbe, Rep. 120 B V 35, Nr. 19, fol. 80 RS, 83. 615 Schreiben der Regierung Minden an das Ministerium vom 24.3.1857, in: GStA/PK, Rep. 120 B V 35 Nr. 19, fol. 70. 616 Völlig untätig waren die Räte allerdings nicht; so behandelte der erst 1853 errichtete Gewerberat in Paderborn in den wenigen Jahren seines Bestehens nicht weniger als 51 Plenarsachen und 53 Handwerker-Abteilungssachen; s. Anm. 215. 617 Zur Auflösung des Gewerberates in Minden s. Schreiben der Reg. v. 26. Oktober 1858, in: Stadtarchiv Minden, F 183; zur Aufhebung des Rates in Olpe s. Jacobi (1857), S. 520. Am längsten bestanden zwei Gewerberäte im Rheinland und einer in Brandenburg. Sie lösten sich erst im Jahre 1864 auf; s. Teuteberg (1961), S. 333.
175
C. Die Gewerberäte Tabelle 5: Anzahl der Gewerberäte in Preußen618 davon
von den errichteten wurden aufgehoben
Provinz
genehmigt
kamen nicht zustande
wurden errichtet
18 52
18 53
18 54
18 55
18 56
18 57
18 58
18 59
18 60
18 61
18 62
18 63
18 64
Preußen
3
1
2
1
2
1
1
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Posen
3
-
2
-
1
Pommern
-
1
2
8
5
3
1
1
-
-
-
-
-
-
-
1
Brandenburg
-
1
-
-
Schlesien
15
3
12
2
8
2
Sachsen
20
4
16
2
11
3
-
-
Westfalen
21
6
15
3
4
3
1
1
1
2
Rheinprov.
21
6
15
4
2
2
1
2
Insgesamt
93
26
67
-
30
10
4
2
3
-
10
-
-
-
-
-
-
-
2
-
-
-
-
-
-
-
-
-
1
1
1
2
-
-
-
-
1
-
-
-
-
-
-
-
Das schnelle Ende der Institution war von Anfang an in ihrer Konstruktion durch den Gesetzgeber angelegt; die Verordnung von 1849 trug, wie Teuteberg pointierte, „den Todeskeim schon bei ihrem Erlass in sich“.619 Niemand trauerte dem Institut, in das die Handwerker so große Hoffnungen gesetzt hatten, nach. Als die Gewerbeordnung im Jahre 1865 wegen der Beseitigung des Koalitionsverbotes erneut geändert werden musste, meinte der Innenminister Graf Eulenburg lapidar: „Die Aufhebung des bereits antiquierten Abschnitts I dieses Gesetzes über die Gewerberäthe erscheint selbstverständlich“.620 Dabei waren den Räten durchaus wichtige und zukunftsträchtige Aufgaben zugefallen, die nun zunächst unerledigt blieben und erst Jahrzehnte später wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen und gesetzgeberischer Initiativen wurden. Zu nennen sind vor allem die sachkundige Mitwirkung der Meister und Gesellen bei der Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten (§ 2) sowie die Befugnis des Gewerberates, selbständig die Arbeitszeit für einzelne Fabrik- und Handelszweige festsetzen zu dürfen (§ 49). Allerdings war auch diese Vorschrift, wie die Konstruktion der Gewerberäte überhaupt, in Wahrheit doch nichts als hohles Blendwerk gewesen. Denn wenn ein Gewerberat die Höchstarbeitszeit für seinen Bezirk verbindlich festsetzte, war noch immer die Zustimmung des Magistrats oder der Gemeinde, später auch noch die der Regierung oder 618 Quelle: GStA/PK, Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Rep. 120 B V 35 Nr. 29, Bd. 2, fol. 200; 1864 bestanden nur noch je ein Rat in Berlin, Aachen und Trier; die Tabelle ist auch abgedruckt bei Tilmann (1935), S. 46 und Teuteberg (1961), S. 333. 619 Teuteberg (1961), S. 333. 620 Schreiben des Innenministers Graf zu Eulenburg an den Handelsminister Graf v. Itzenplitz v. 20. Dezember 1865, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19, Bd. 5, fol. 28 RS.
2 3
176
II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
des Landrats erforderlich.621 An deren Veto musste jede Initiative scheitern. Lähmender noch als die häufige Blockierung der Entscheidungen des Rates durch die Behörden hatte sich das völlige Fehlen von Strafbestimmungen zu ihrer Durchsetzung ausgewirkt. Jeder Gewerbetreibende, der durch Anordnung des Gewerberates verpflichtet wurde, konnte ungestraft gegen dessen Entscheidung verstoßen. So war das Institut eben nicht mehr als eine unfreiwillige Konzession des Staates an die Handwerker in bewegter Zeit gewesen. Es hatte seine Aufgabe, der im Gewerbestand herrschenden Aufregung, den zahlreichen Massenversammlungen, den Kongressen und Handwerkertagen mit ihren unkontrollierbaren und gruppenegoistischen Zielsetzungen und Wirkungen entgegenzuarbeiten, erfüllt. Der Staat hatte sich durch die Einbindung der Gewerberäte in die öffentliche Verwaltung geschickt an die Spitze der Handwerkerbewegung gestellt und die Gewerbetreibenden auf den gewünschten Weg gebracht.622 Das gespannte Verhältnis zur staatlichen Autorität entkrampfte sich zwar nicht wirklich, doch fanden die Meister und Gesellen in den Versammlungen der Räte ein ihnen gemäßes Betätigungsfeld, auf dem sie sich mit den Vertretern des Handelsstandes und den Fabrikanten auseinandersetzen konnten. Dabei verbrauchten sie ihre Antriebskräfte schnell. Das politische Ziel, dem die Institution nach dem Willen ihres Schöpfers, des Ministers von der Heydt, dienen sollte, war demnach bald erreicht. Das Ministerium tat dann nichts mehr, um die Räte am Leben zu erhalten und ihre Konstruktionsmängel zu beseitigen. Ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen im Gewerbe war weder wirklich gewollt noch hätten die Gewerberäte ihn herbeiführen können. Daher vermisste man die Einrichtung nach ihrem Absterben nirgends.623 Die unabdingbaren Aufgaben der Gewerberäte übernahmen die Kommunalverwaltungen. 621 Schreiben des Innenministers Graf zu Eulenburg an den Handelsminister Graf v. Itzenplitz v. 20. Dezember 1865, in: GStA/PK, Innenministerium, Rep. 77, Tit. 307, Nr. 19, Bd. 5, fol. 28 RS. 622 Schon in seinem Zirkularerlass vom 3. Februar 1853 hatte der Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten erklärt, Zweck und Ziel der Gewerberäte sei es, das „regellose Treiben“ der Handwerkervereine in geordnete, d. h. von der Obrigkeit kontrollierbare Bahnen zu lenken und den Behörden die Entscheidung in Fragen widerstreitender gewerblicher Interessen zu sichern. Es komme darauf an, „dass die Regierung die auf Geltendmachung ihrer Interessen gerichteten Bestrebungen der Gewerbetreibenden auf gesetzliche Bahnen leitete, gleichzeitig aber zur Wahrung anderweiter, gleichberechtigter Interessen sich die Vermittlung, und wenn es erforderlich wurde, die Entscheidung sicherte. Wenn man hierbei dem allseitig geäußerten Verlangen der Beteiligten nach einem aus ihrer Mitte hervorgegangenen Organ für die Wahrnehmung der Interessen und Verhältnisse des gewerblichen Verkehrs entgegenkam, so musste es doch von vornherein für unstatthaft erkannt werden, demselben die weitgreifende und unabhängige Wirksamkeit beizulegen, auf welche das Andringen gerichtet war“, STAM, Reg. Münster Nr. 792, zitiert nach Behr (1990), S. 147. 623 „Wünsche gegen Wiedererrichtung des Gewerberates sind nicht zu unserer Kenntnis gekommen“, s. Schreiben der Regierung Münster v. 20. September 1860 an das Handelsministerium, in: STAM, Reg. Münster Nr. 5781. Diese Feststellung der Regierung Münster wird bestätigt durch Kaufholds Auswertung der Berichte der anderen preußischen Regierungen aus dem Jahre 1860 zu dieser Frage (s. Kaufhold, (1975), S. 172, 173, 183). Die Stellungnahmen wurden im Zusammenhang mit der Diskussion um den Gesetzentwurf „betreffend die Ergänzung und Abänderung der Allg. Gewerbeordnung sowie die Aufhebung der über die Errichtung von Gewerberäten und verschiedene Abänderungen der Allg. Gewerbeordnung unter dem 9. Feb-
C. Die Gewerberäte
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Schon wenige Jahre nach dem Verschwinden der Institution behauptete die Regierung in Münster, der Magistrat sei der natürliche Vertreter des Handwerks als des größten Zahlers der Gewerbesteuer. Dass in den Stadtverwaltungen die Kaufleute dominierten und deshalb ein deutlicher Interessengegensatz zum Handwerk fortbestand, verschwieg man schamhaft.624 Dieser latente Antagonismus drang in der Tat seither nicht mehr an die Öffentlichkeit, da die Enttäuschung der düpierten Handwerker in Resignation gemündet war, die sie für Jahrzehnte von jedweden politischen Aktivitäten fernhielt. Ihre Abstinenz hatte aber auch noch einen weiteren Grund: Die tradierten standespolitischen Intentionen der Handwerker wurden nach dem Wiedererstarken liberalen Gedankengutes in der Öffentlichkeit mit Misstrauen, ja mit kaustischem Spott bedacht. Viktor Böhmert, der publizistisch aktivste Protagonist schrankenloser Gewerbefreiheit, schrieb 1858: „Die gleichsam in Spiritus gesetzten Reste der alten Innungen leisteten seitdem (seit Erlass der Verordnung vom 9. Februar 1849, G. D.) nichts, als dass sie von Zeit zu Zeit darüber im Gewerberathe Streit anfingen, ob ein Bartscherer auch die Haare schneiden oder ein Friseur auch Barbieren, welcher Holzarbeiter Beil oder Hobel gebrauchen und des Leimtopfes sich bedienen darf, und was dergleichen Unsinns mehr ist. Das natürliche Ende ist dann, dass … Innungen und Gewerberäthe fast nur noch als Anlässe nutzloser Kraft- und Zeitverschwendung erscheinen“.625 Ein letztes Mal stand die Idee der Gewerberäte 1865 öffentlich zur Diskussion, als die Aufhebung des Koalitionsverbotes erörtert wurde. Nach dem Ende der Räte hatte die Einschränkung der Vertragsfreiheit im Arbeitsrecht nicht mehr aufrechterhalten werden können, da ein Kontrollorgan fehlte. Seitdem verpflichtete jeder Arbeitgeber nach Belieben Hilfskräfte aller Art, ganz so, wie er es auch schon vor 1849 getan hatte.626 Doch begann man es nun, erstaunlicherweise in der hochliberalen Phase der sechziger Jahre, als problematisch zu empfinden, die Arbeitnehmer schutzlos sich selbst zu überlassen. Die Institution der Gewerberäte hatte demnach immerhin zu einem geschärften Bewusstsein für die Angemessenheit der Mitwirkung und Selbstbestimmung des arbeitenden Menschen beigetragen. Gleichwohl konnte sich der Gedanke einer Wiederbelebung der Räte, nunmehr allenfalls zur Schlichtung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten bestimmt, aber nicht mehr durchsetzen. Man glaubte mehrheitlich, das persönliche Rechtsverhältnis zwischen Arbeitruar 1849 erlassenen Verordnung“, welche die liberalen Abgeordneten Duncker und Veit für ihre Fraktion (die liberale Fraktion Vincke) am 23. März 1860 im Abgeordnetenhaus eingebracht hatten, verfasst. Die Berichte stützen das Urteil der Mehrzahl der Zeitgenossen über die Räte, das auch die neuere Forschung im Wesentlichen teilt. 624 1852 hatte der Magistrat der Stadt Minden hinsichtlich der beantragten Aufhebung des Gewerberates in der Stadt selbst geschrieben: „Die Aufhebung des Gewerberates würde bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Magistrats aus Männern des Handelsstandes, die auch in Zukunft dessen Mehrheit bilden werden, die Interessen des Handwerkerstandes geradezu in die Hände von Personen legen, welche des Gewerberaths natürliche Feinde sind“ …; s. Schreiben des Magistrats der Stadt Minden an die Reg. Minden (1852), in Stadtarchiv Minden, F 183. In der zeitgenössischen Publizistik wurden die Gewerberäte nun als „Fehlgeburt“ apostrophiert, so Mascher (1866), S. 541; ähnlich Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 420. 625 Böhmert (1858), S. 224. 626 S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 87.
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II. Das handwerkliche Ordnungsgefüge
geber und Arbeitnehmer nicht, wie es der Lüdenscheider Fabrikant Wilhelm Turck in zweckdienlicher Übertreibung formulierte, durch „eine Art von Vehmegericht“ zerreißen zu sollen.627
627 So der Lüdenscheider Fabrikant, Vorsitzende der Handelskammer und Deputierte bei den Beratungen zur Aufhebung des Koalitionsverbots, Wilhelm Turck, in: Protokoll der Verhandlungen der zur Berathung der Koalitionsfrage berufenen Kommission, Berlin 1865, S. 28, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787; ebenso äußerte sich auch der westfälische Oberpräsident von Düesburg in seinem Gutachten zur Reform der Gewerbegesetzgebung v. 17. November 1865, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2787.
III. DAS NIEDERLASSUNGSRECHT A. DAS STADTHANDWERK 1. Die Übergangszeit Betrachtet man das Niederlassungsrecht für Handwerker in historischer Zeit, so ist stets das Freizügigkeitsrecht des Staates von dem Zu- und Abzugsrecht der Städte, deren Heimat-, Bürger- und Gemeinderecht also, zu unterscheiden. Mit dem Untergang der jahrhundertealten staatlichen Organisation in Westfalen im Jahre 1802/03 und dem Ausgreifen großer Flächenstaaten auf das Land zwischen Rhein und Weser gewann das Freizügigkeitsrecht an Bedeutung. Das nunmehr dominierende Preußen hatte schon durch Verordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts Ansätze zur Gewährung der inneren Freizügigkeit im Lande geschaffen. Der Grundsatz der ungehinderten Bewegungsfreiheit an jedem beliebigen Ort im Staate gewann durch Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1804 die Qualität positiven Rechts.1 Einen größeren Fortschritt stellte es allerdings dar, den Untertanen die Befugnis einzuräumen, das Staatsgebiet zu verlassen. Diese „äußere“ Freizügigkeit, das Grundrecht zum „Plebiszit der wandernden Füße“,2 fand in Westfalen mit der Vereinbarung zwischen der preußischen Regierung und den anderen Nachfolgestaaten des Fürstbistums Münster aus dem Jahre 1805, welche die vollständige Freizügigkeit der Untertanen und ihres Vermögens im gesamten Territorium des ehemaligen Stifts Münster einführte,3 einen ersten, vorsichtigen Ansatz. Das tradierte Zu- und Abzugsrecht auf der Ebene der Städte wurde nach 1803 zunächst noch nicht berührt. Trotz nachhaltiger Eingriffe in das Kommunalverfassungsrecht4 betrachtete auch Preußen das Bürgerrecht weiterhin als conditio sine qua non für die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes. Im ehemals geistlichen Westfalen trat lediglich insofern ein Wandel ein, als das Bürgerrecht in den nunmehr preußischen Landesteilen seit 1805 nach den Richtlinien des Allgemeinen Landrechts verliehen wurde. An den Niederlassungsbedingungen änderte sich dadurch aber noch nichts. Lahrkamp vermutet für Münster, dass „allenfalls“ strenger auf die Einhaltung der Modalitäten für den Erwerb des Bürgerrechts acht gegeben worden sei.5 Eine radikale Reform des Niederlassungsrechts für Handwerker auf kommunaler Ebene brachte erst die gänzliche Umgestaltung der Stadtverfassungen nach französischem Muster im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen. Schon am 13. Oktober 1807 erließ der neue Landesherr in Berg eine der französi1 2 3 4 5
Mascher (1866), S. 553. S. Maunz-Dürig-Herzog-Scholz (1982), Art. 11, Rdz. 17. Vgl. Verordnung v. 25.1.1805, in: Scotti (1841), Bd. 3, Nr. 97, S. 101, 102. S. für Münster Lahrkamp (1976), S. 287 ff. Lahrkamp (1976), S. 299.
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III. Das Niederlassungsrecht
schen Gesetzgebung entsprechende Munizipalordnung,6 welche aber nicht überall Rechtskraft erlangte. In Münster schuf die Neuordnung der städtischen Verfassung und Verwaltung zusammen mit der des Landes durch das Dekret v. 18. Dezember 1808 eine andere rechtliche Situation. Nachdem die Stadt 1810 in den französischen Staat einbezogen worden war, wurde die Kommunalverfassung durch den Erlass einer besonderen Verwaltungsordnung für das Lippe-Department v. 28. April 1811 neuerlich modifiziert, ohne dass dies aber für die Stadtverfassung nochmals substantielle Änderungen gebracht hätte.7 Die französische Gesetzgebung hatte nicht allein den Fortfall des bis dahin üblichen Einzugsgeldes zur Folge.8 Viel wesentlicher war, dass der Beginn der selbständigen Gewerbeausübung nicht länger an den vorhergehenden Gewinn des Bürgerrechts geknüpft war,9 ja, ein Bürgerrecht im Sinne der früheren Stadtrechte nicht einmal mehr existierte. Dadurch wurde mit der jahrhundertealten Tradition, welche die selbständige Ausübung eines städtischen Gewerbes immer auf’s engste mit dem Bürgerrecht verschwistert gesehen hatte, gebrochen. Die dem mittelalterlichen Rechtsdenken eignende stadtbürgerliche Zulassungsschwelle zu den Zunftgewerben war niedergelegt. Erst dadurch konnte die Gewerbefreiheit wirklich Platz greifen: Wäre das städtische Bürgerrecht – wie es das ALR noch vorschrieb (II §§ 247) – die conditio sine qua non für die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes geblieben, so hätte die Kommunalverwaltung in jedem Einzelfall ihr Veto gegen die selbständige Ausübung des Gewerbebetriebes und damit gegen die generell ausgesprochene Gewerbefreiheit, nämlich auf dem Umweg über ihr Privileg, das Bürgerrecht zu erteilen, zu entziehen oder zu verwehren, einlegen können. Eben diesen ganz und gar unbefriedigenden Zustand der Halbheit hatten die preußischen Bestimmungen über die Einführung der Gewerbefreiheit im nach 1806 verbliebenen Rumpf-Preußen geschaffen. Sie ließen die radikale Konsequenz der französischen Gesetzgebung im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen vermissen. Die Gewerbefreiheit im ostelbischen Preußen blieb durch das Niederlassungsrecht dauerhaft eingeschränkt.10 Wer dort einen Handwerksbetrieb eröff6
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Lahrkamp (1976), S. 311 unter Hinweis auf Winkopp, Der Rheinische Bund H. 12, S. 526–547. Von der Entwicklung des staatlich geregelten Freizügigkeitsrechts in Preußen wurde Westfalen seit 1806 zunächst nicht mehr betroffen. Das Steinsche Edikt des Jahres 1807 mit der Aufhebung der Erbuntertänigkeit, die preußische Städteordnung vom 18.11.1808 (s. dazu Rüffer (1903), S. 257 sowie Koselleck (1975), S. 564), die das Niederlassungsrecht in den Städten von den Bindungen an Stand, Geburt, Religion und persönliche Verhältnisse befreite, das Gewerbepolizeigesetz von 1811, das die Einführung des gesamtstaatlichen Bürgerrechts erzwang, sie alle erlangten in Westfalen auch nach Wiederherstellung der preußischen Herrschaft keine Rechtskraft mehr. Lahrkamp (1976), S. 311. S. Verordnung v. 14.9.1810, in: Sammlung der Präfektur-Verhandlungen des Ruhr-Departements (1811) Nr. 54, S. 242; diese Regelung wurde auch in den nicht sogleich der französischen Herrschaft unterworfenen Territorien im westlichen Münsterland eingeführt: In Bocholt beispielsweise wurde das Einzugsgeld seit 1811 nicht mehr erhoben, s. Reigers (1966), S. 65. Durch gesetzliche Regelung während der Fremdherrschaft z. B. bestimmt in: Sammlung der Präfektur-Verhandlungen des Ruhr-Departements Nr. 54 (1811), S. 242. Allerdings war das Niederlassungsrecht durch die preußische Städteordnung v. 19.11.1808 auf eine völlig neue Basis gestellt worden. Das Bürgerrecht konnte fortan von jedem erworben
A. Das Stadthandwerk
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nete, bevor er das Bürgerrecht gewonnen hatte, wurde mit einer empfindlichen Polizeistrafe von 5 bis 10 Talern belegt.11 Die Lokalgewalten im Gebiet Rumpf-Preußens besaßen daher noch jahrelang einen zwar rechtlich genau bestimmten und eng begrenzten, jedoch spürbaren Einfluss auf die gewerbliche Niederlassung. Hardenbergs Gewerbegesetze stießen in dieser Frage an ihre Grenzen. Ein derartiger Zustand lebte auch in den Teilen Westfalens fort, die der rücksichtslosen, aber folgerichtigen französischen Gesetzgebung nicht unmittelbar unterworfen waren: In dem großherzoglich hessischen Herzogtum Westfalen gestattete der Gesetzgeber auch nach Einführung der Gewerbefreiheit nur denjenigen Handwerkern in den Städten die Ausübung des selbständigen Gewerbebetriebes, die das Bürgerrecht gewonnen hatten.12 Damit schufen die Hessen in Südwestfalen den widersinnigen Zustand, dass die Gewerbezulassung einerseits von der staatlichen Polizei allgemein, d. h. für das gesamte Territorium, erteilt wurde, während andererseits die Befugnis zur Ausübung vieler Gewerbe noch immer am örtlichen Stadtbürgerrecht hing. Jeder Ortswechsel des Meisters musste die Ausübung seines Gewerbes auf das empfindlichste beeinträchtigen. So verhinderte die Fortgeltung der überkommenen städtischen Niederlassungsbestimmungen die volle Entfaltung der Gewerbefreiheit im südlichen Westfalen. Notwendige Konsequenz dieser unausgegorenen Rechtslage war ein andauernder Machtkampf zwischen den Polizeibehörden einer- und den Stadtverwaltungen andererseits um die entscheidenden Kompetenzen. 2. Das Niederlassungsrecht nach Wiedererrichtung der preußischen Herrschaft Angesichts dieser verworrenen Situation nimmt es nicht wunder, dass das Niederlassungsrecht nach der Neukonstituierung der preußischen Herrschaft in Westfalen sofort wieder in den Focus des staatlichen Interesses geriet.13 Man sah sich in
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werden, der sich in der Stadt „häuslich niedergelassen“ hatte und einen unbescholtenen Lebenswandel nachweisen konnte (§§ 17, 18, 24, 25, 46 des Gesetzes); s. dazu Rüffer (1903), S. 257. Becker wiederholt die in der älteren Literatur auffindbare, längst widerlegte Behauptung, die Einführung der Gewerbefreiheit habe bei den Handwerkern „zur Neugründung vieler Kleinbetriebe“ geführt; s. Becker (1995), S. 60. Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Handwerks in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Jacobi (1868); Aßmann/Stavenhagen (1969); Bergmann (1973); Jeschke (1977); Scale (1978); Henning (1978); Saalfeld (1978); Fischer (1978); Gömmel (1979); Saalfeld, Die sozialökonomischen Lebensbedingungen… (1984); Deter (2005). Reskript des Polizeiministers v. Schuckmann v. 2.11.1826 und 6.8.1827, in: Kamptz: Annalen 10 (1826), 1127 und 11 (1827), 740. 1833 wurden Mahnfristen festgelegt, da es „unbillig erschiene, eine nicht gesetzlich, sondern nur administrativ angedrohte Strafe“ sofort zu vollstrecken (Reskript v. 27.4. und 4.10.1833); s. dazu ausführlicher Koselleck (1975), S. 592, 593. Verordnung der Hessischen Regierung v. 25.1.1812, in: Scotti (1831), Nr. 466, S. 615, 616. Noch immer bildete die in Hardenbergs berühmter „Geschäftsinstruktion für die Regierungen in sämtlichen Provinzen“ v. 26. Dezember 1808 (§ 34) verkündete Maxime, „die Gewerbe jedes Mal ihrem natürlichen Gang zu überlassen“, die Maxime der preußischen Wirtschaftspolitik.
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III. Das Niederlassungsrecht
Berlin verpflichtet, rückwärtsgewandter Engherzigkeit nicht länger Raum zu geben, da auf staatlicher Ebene das liberale Freizügigkeitsrecht der Franzosenzeit inzwischen auch in Preußen festgeschrieben worden war. Art. 18b der deutschen Bundesakte v. 8.6.1815 hatte endgültig die „Befugnis des freyen Wegziehens aus einem deutschen Bundesstaat in den anderen, der erweißlich sie zu Unterthanen annehmen will …“, normiert. Art. 18 c des gleichen Gesetzes verkündete die „Freyheit von aller Nachsteuer … in so fern das Vermögen in einen anderen deutschen Bundesstaat übergeht“.14 a. Der Widerstand gegen die Niederlassungsfreiheit Diese zukunftweisenden Entscheidungen, welche der Deutsche Bundestag getroffen hatte, waren den Verantwortlichen in den Städten aber allenthalben Anlass, im Interesse der örtlichen Gewerbetreibenden nur desto entschlossener nach der Einführung von Zuzugsbeschränkungen zu trachten. Hatte schon die Verkündung der Gewerbefreiheit, die nahezu zeitgleich mit der Aufhebung der Eigenbehörigkeit auf dem Lande erfolgt war, die Furcht vor Zuzüglern in den Städten rapide wachsen lassen, so nahm diese nun geradezu epidemische Formen an. Damit war eines der großen Themen der Gesetzgebungsdiskussion des Vormärz angeschlagen. Die Konkurrenzangst der Gewerbetreibenden einer- und die Sorge der städtischen Magistrate und Bürgermeister vor Ausplünderung der örtlichen Armenkassen andererseits blieben auch auf die Mittelbehörden in Westfalen nicht ohne Eindruck. Während sich die Ministerialbürokratie, der liberalen Wirtschaftspolitik Preußens verpflichtet, im allgemeinen noch eher großzügig verhielt, griff die Regierung in Minden durch Erlass der Verordnung v. 20.11.181915 zu einer ebenso simplen wie wirkungsvollen Maßnahme: Sie machte jede Niederlassung, sei es in Stadt oder Land, erlaubnispflichtig. Die Ortsbehörden hatten nun jeweils zu prüfen, ob die Niederlassung ohne Nachteile für die Kommune gestattet werden konnte. Diejenigen, die in eine andere Gemeinde übersiedeln wollten, bedurften der Bestätigung ihres zu keinerlei Bedenken Anlass gebenden sittlichen Verhaltens durch Zeugnisse des Predigers und der Ortsbeamten; zugleich mussten sie nachweisen, dass sie durch hinreichendes Vermögen und Arbeitsfähigkeit im Stande waren, sich das notwendige Auskommen selbst zu verschaffen. Wer diesen Anforderungen nicht genügte, konnte zu dem vorherigen Wohnort zurückgeschickt werden. Mit ihren harschen Bestimmungen war die Regierung den Forderungen der Städte und der Gewerbetreibenden in ihrem Sprengel weitestgehend entgegengekommen. Dass mit solchen Generalklauseln zugleich aber der Willkür Tür und Tor geöffnet wurde und die Bestimmungen mit der liberalen Wirtschaftspolitik jener Zeit keineswegs zu vereinbaren waren,16 erkannten bald auch die Beamten in Minden. Die Verordnung v. 20.11.1819 wurde deshalb durch eine weitere Verordnung v. 12.1.182417 dahin geändert, dass seither nur noch den Vagabunden, den aktuell Armen und er14 15 16 17
Zitiert nach Koselleck (1975), S. 578. Zum Recht auf Freizügigkeit grundlegend Ziekow (1997). Verordnung v. 20.11.1819, S. 453, in: Amtsblatt der Reg. Minden, Jahrg. 1819, S. 453. Zur Bedeutung der liberalen Wirtschaftspolitik s. u. a. Kap. „Rückblick“, S. 344 ff. Verordnung v. 12.1.1824, in: Handbuch zum Amtsblatt der Reg. Minden, Bd. 1, (1839), S. 453.
A. Das Stadthandwerk
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werbsunfähigen Personen, den nicht legitimierten Ausländern und besonders den fremden Juden ein innerhalb des Regierungsbezirks gewählter Wohnsitz polizeilich verweigert werden konnte. Die Erlaubnispflicht wich so einer bloßen Anzeigepflicht. Vermutlich erfolgte diese Modifizierung aber auf ministerielle Weisung. Denn ein Jahr zuvor schon, 1823, hatte Preußen die für eine liberale Wirtschaftsordnung unabdingbare Trennung von „kommerzieller Rechtsfähigkeit“ (Koselleck) und Stadtbürgerrecht eingeführt.18 Damit wurde auch das im ehemals kurkölnischen Sauerland geltende Niederlassungsrecht demjenigen in den übrigen Landesteilen Westfalens angepasst. Natürlich war das Streben nach Reanimierung des restriktiven Niederlassungsrechts des Ancien régime kein auf Ostwestfalen beschränktes Phänomen. Die politisch führende Schicht Westfalens teilte die Auffassung der etablierten Handwerker, dass das Zuzugsrecht äußerst vorsichtig zu handhaben sei. Ein prononcierter Vertreter engherziger Niederlassungspolitik war im Regierungsbezirk Münster der Oberbürgermeister der Provinzialhauptstadt und Geheime Regierungsrat Hüffer, der wiederholt eine umfassende Beschränkung des Niederlassungsrechts forderte. Er bezeichnete die Niederlassungsfreiheit als „unglückselig“ und „verderblich“. Die reichen Armenstiftungen in den westfälischen Städten, allen voran die Münsters, zögen „fremdes Gelichter scharenweis heran, um das Erbe der Väter verzehren zu helfen“.19 Der wachsende Druck auf den Gesetzgeber, restriktive Maßnahmen zu ergreifen, wurde bei den Beratungen des 1. Westfälischen Provinzial-Landtages im Jahre 1826, dem der Freiherr vom Stein als Landtagsmarschall präsidierte und den er nachhaltig zu beeinflussen wusste, sehr deutlich fühlbar. Stein, der in der berühmten Denkschrift an Ingersleben vom September 182620 sein Reformprogramm niedergelegt hatte, trat auch in Münster als Mentor der bürgerlichen Interessenvertreter auf. In den Vorschlägen für eine Städteordnung, die in den Gebieten westlich der Elbe in Kraft treten sollte, suchte er die Schwächen der preußischen Städteordnung von 1808 so weit wie möglich zu beseitigen. Die für den Handwerkerstand wichtigste seiner Forderungen betraf die „Erhaltung einer tüchtigen, religiös-sittlichen, arbeitsfähigen und arbeitsamen Bürgerschaft“ durch „zweckmäßige Normen bei Erteilung des Bürgerrechts“ (Pkt. 7 der Denkschrift). Stein wollte mit seinen Vorschlägen der alteingesessenen Bürgerschaft in den Städten wieder wirksame Mittel an die Hand geben, die es ihr ermöglichten, sich in ihren Vorrechten zu behaupten; die Bildung einer unterschiedslosen, für alle Staatsbürger offenen „Einwohnergemeinde“, welche die französische Gesetzgebung in Westfalen geschaffen hatte, suchte er rückgängig zu machen, und die Zuwanderung vom Lande sollte ausdrücklich unterbunden werden.21 Der Landtagsmarschall brachte sein Anliegen nicht allein prononciert vor; er scheute sich auch nicht, hierbei einen die Notsitua18 19 20 21
Kabinetts-Ordre v. 6.4.1823; s. dazu: Koselleck (1975), S. 592 f., dazu Kaufhold (1982), S. 87, Anm. 71. S. Hüffer (1952), S. 395 (Denkschrift von 1826). S. Freiherr v. Stein (1969), S. 31 ff.. In der alten Stein-Ausgabe ist die Denkschrift abgedruckt in Bd. 6, S. 405 ff. Der Zusammenschluss der in Handel und Gewerbe Tätigen in Innungen, die Erschwerung des Zuganges zu den Korporationen sowie die Erneuerung ihrer Vorzugsrechte waren die Wege, an
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III. Das Niederlassungsrecht
tion insbesondere der ländlichen Unterschichten ganz und gar verkennenden Ton anzuschlagen: „Das wilde, regellose Eindringen roher Menschen in das Bürgertum und Gewerbe“ sollte abgewehrt und so die eingesessenen gewerbetreibenden Schichten der Städte vor dem befürchteten, Arbeit und Wohlstand gefährdenden regellosen Konkurrenzkampf geschützt werden.22 Das Eintrittsbillet für den Bürgerstand sollte in einem angemessenen Vermögen bestehen. Stein zog – schon ganz im Sinne modernen Einwanderungsrechts – gar in Erwägung, Bewerber um das Bürgerrecht zu einer Sparkasseneinlage zu verpflichten und sie einer Prüfung im schriftlichen Ausdruck und im Rechnen zu unterwerfen.23 Diese Konzeption des Landtagsmarschalls wollte das Kommunalverfassungsrecht unverhohlen zum wichtigsten Mittel berufsständischer Selektionspolitik umschaffen. Den städtischen Meistern musste der entschiedene Einsatz der Rechtsordnung für ihre spezifischen wirtschaftlich-sozialen Ziele, der hier vorgesehen war, höchst willkommen sein. Hätte sich der konservative Herr auf Cappenberg durchgesetzt, wäre das durch die Heere Napoleons nach Westfalen getragene Grundrecht auf Freizügigkeit für die Masse der Landbevölkerung, die unterbäuerliche Schicht zumal, welche angesichts der im Vormärz ein dramatisches Ausmaß annehmenden Übervölkerung auf räumliche und soziale Mobilität besonders angewiesen war, zu einem schönen Traum verblasst. Die Wirkung der Steinschen Aversion gegen das liberale Niederlassungsrecht wurde in der Provinz durch Vinckes, des westfälischen Oberpräsidenten Wendung gegen die Gewerbereformen verstärkt. Die Regierung in der konservativen, von den wirtschaftsstrukturellen Veränderungen der Frühindustrialisierung damals noch gänzlich unberührten Bischofsstadt Münster fand, durchaus mit Unterstützung Vinckes, in diesem Zusammenhang deutliche Worte. Sie wandte sich vor dem Hintergrund der beklagten sozialen Missstände direkt gegen die herrschende Gewerbefreiheit: „Überhaupt scheint es nötig, dass hinsichtlich der Gewerbepolizei manches wieder hervorgerufen werden muss, was bei Aufhebung der Zünfte untergegangen ist, und der Staat muss die Beaufsichtigung auch der Gewerbe selbst mit allen Nachtheilen der unmittelbaren Einwirkung übernehmen, wenn nicht ähnliche, dem Zeitgeiste passendere Institutionen wieder geschaffen werden können oder sollen. Wenn auch nicht bei allen Gewerben die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in die Augen springend ist, so ist es doch immer nötig, nicht bloß das eigene Interesse wirkend sein zu lassen, denn gerade dies, so wohltuend es auch wirken mag, ist auch das Beförderungsmittel zum Eigennutze und der Unmoralität des Volkes. Die Gewerbe hängen durch ein unsichtbares Band ebenso zusammen wie die Wissenschaften, und es kann durchaus nicht gleichgültig sein, ob bei
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deren Ende nach Auffassung Steins das berufsständische Klassenwahlrecht als alleinige Mitwirkungsform der Bürger stehen sollte; vgl. Gembruch (1960), S. 190. S. Gembruch (1960), S. 198. Neue Stein-Ausgabe, s. Anm. 20, Bd. 7, S. 44. Deshalb lehnte Stein auch die in der preußischen Städteordnung von 1808 vorgesehene großzügige Regelung für den Erwerb des Bürgerrechts, nach der es, wie er inzwischen meinte, schon allen „Nichtverbrechern“ möglich sei, sich auch gegen den Willen der eingesessenen Bürgerschaft in den Städten niederzulassen, ab; s. Gembruch (1960), S. 179.
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der Fabrikation und Verkauf der Waaren selbst leichtfertig oder betrüglich gehandelt, dadurch der Ruf geschmälert und der Absatz derselben im Auslande geschwächt wird.“24 Damit hatte die Spitze der preußischen Verwaltung in Westfalen der in der Provinz herrschenden Gewerbeverfassung unmissverständlich den Kampf angesagt. Dies galt mittelbar auch für das Niederlassungsrecht. Nicht allein in Minden, auch in Münster wollte man nicht länger eine Ordnung hinnehmen, welche die preußische Obrigkeit den Handwerkern in ihren Stammlanden keineswegs zumutete: In Ostelbien, wo sich die Organisationsstrukturen des Handwerks durch das Fortleben der Zünfte kaum verändert hatten, konnte insbesondere die mangelnde Obsorge für die wandernden Gesellen nicht zu einem derart gravierenden Problem wie in den gewerbefreiheitlichen Westprovinzen werden. Auch der westfälische Provinziallandtag unterstützte wenige Jahre später das Ziel, die Zahl der Gewerbetreibenden in den Städten zu begrenzen, ausdrücklich. Als er aufgefordert wurde, ein Gutachten „über die Anwendbarkeit der Grundsätze der Städteordnung auf das westfälische Communalwesen“ zu erstellen,25 bekannte sich die Versammlung grundsätzlich zum Gedanken der kommunalen Selbstverwaltung.26 Die Anforderungen, die der Landtag an eine Überarbeitung der Städteordnung stellte, entsprachen z. T. wörtlich denjenigen, welche Stein kurz zuvor in seiner Denkschrift formuliert hatte: Das wichtige Ziel der „Bildung und Erhaltung eines tüchtigen, religiös-sittlichen, arbeitsamen und arbeitsfähigen Bürgerstandes“, werde, so hieß es, gefährdet durch die „unbedingte Niederlassungsfreiheit in den Städten“. Sie stehe „in grellstem Widerspruch mit dem Geiste der Städteordnung, die den Bürgersinn beleben“ solle. Durch den ungehinderten Zuzug „würdige“ man „den Bürgerstand herab“ und mache ihn „zum Gebrauch seiner Rechte unfähig“.27 Ein wichtiges Mittel, um zu verhindern, dass sich allzu viele Gewerbetreibende in den Städten ansässig machten, sollte nach dem Willen des westfälischen Provinziallandtages die Einführung des Prüfungszwanges für Handwerker sein.28 Die Versammlung in Münster begnügte sich, der Unterstützung der regionalen Autoritäten eingedenk, nicht mit der Erstellung des verlangten Gutachtens, sondern legte eine eigenständige Konzeption für die Neufassung der Städteordnung vor.29 Obgleich die Forderungen der Provinzial-Stände nach restaurativen Änderungen teilweise berücksichtigt wurden, hielt der Entwurf des Berliner Gesetzgebers für eine revidierte Fassung der Städteordnung dann aber doch an dem freien Besitzund Gewerberecht fest (§§ 26–28). Im Gegensatz zur französischen Gesetzgebung, aber in Übereinstimmung mit dem ALR und der Preußischen Städteordnung von 1808 kannte die Revidierte Städteordnung zwei Klassen von Einwohnern: Bürger 24
Schreiben der Reg. Münster an den Innenminister v. 10.3.1826, in: GStA/PK, Rep. 120 B V, Nr. 9, fol. 48, 49. Vincke hatte dieses Schreiben abgezeichnet. 25 Darstellung der Verhandlungen des ersten westfälischen Landtages und ihrer wesentlichen Resultate, in: Landtagsverhandlungen (1828), S. 8 ff. 26 S. Anm. 25, S. 9. 27 S. Anm. 25, S. 9; s. dazu Roebers (1915), S. 60. 28 Dazu Anm. 25, S. 10. 29 Dieser Entwurf, welcher zunächst nicht publiziert worden ist, findet sich in: Vormbaum (1976), S. 289.
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und Schutzverwandte (§ 10). Das neue Gesetz sah die Beschränkungen des Gewerbebetriebes für Schutzverwandte, wie sie der Steinschen Städteordnung von 1808 noch eigen war, nicht mehr vor.30 Beide Gruppen waren wirtschaftlich gleichgestellt. Das Niederlassungsrecht wurde durch die Scheidung der Einwohner in zwei Klassen nicht berührt. Der Provinzial-Landtag war demnach mit seinen auf Ausgrenzung der Unterschichten gerichteten Vorstellungen nicht durchgedrungen. Das Kommunalwahlrecht übernahm die Maximen der in Westfalen seit Jahrzehnten geltenden, ungeliebten Munizipalordnung französischen Ursprungs. Als der fertige Entwurf des Gesetzes den Abgeordneten des westfälischen Provinziallandtages in Münster noch einmal zur Beratung überwiesen wurde, verwarfen sie ihn folgerichtig. Die Ablehnung der Revidierten Städteordnung durch den Landtag formulierte Hüffer, der forderte, die Städteordnung durch eine Gewerbeordnung zu ergänzen und auf diese Weise die Zuzugsfreiheit faktisch zu beschränken.31 Einmal mehr wurde damit deutlich, dass das Niederlassungsrecht für die Handwerker einen zentralen Stellenwert in der Auseinandersetzung um das Kommunalverfassungsrecht besaß. Da es eine Gewerbeordnung (im Rechtssinne) mit den funktionierenden Selektionsmechanismen der Zunftzeit nicht mehr gab, sollte nun das Kommunalrecht die Aufgabe übernehmen, den Zuzug vom Lande und den Konkurrenzdruck von der gewerblichen Wirtschaft der Städte fernzuhalten. In einer Denkschrift an den Kronprinzen aus dem Jahre 1833 beklagte Hüffer ganz in diesem Sinne, dass noch immer kein Gesetz zur Einschränkung der Niederlassungsfreiheit ergangen sei.32 Trotz der starken Widerstände im Lande wurde die Revidierte Städteordnung von 1831 schließlich aber doch ab 1835 auch in Westfalen eingeführt.33 b. Die Reaktion des Staates Um die liberale Gewerbepolitik nicht an der starren, auf die Konservierung von Niederlassungsbeschränkungen gerichteten Haltung der Städte scheitern zu lassen, verstärkte der Staat sein Aufsichtsrecht über die Kommunen. Dauernd suchte er den Stadtvätern die Aufrechterhaltung der Zuzugsfreiheit plausibel zu machen; alle Hindernisse der Bürgerrechtsverleihung beseitigte der preußische Gesetzgeber so weit wie möglich. Das Einspruchsrecht gegen die Aufnahme von Zuwanderern wurde den Kommunen entzogen. Die städtischen Schutzverwandten erfreuten sich der besonderen, fürsorgenden Aufmerksamkeit der Berliner Bürokratie. Diese hielt solche unterstützenden Maßnahmen zugunsten der Minderberechtigten für notwen30 31 32
33
Nach der Städteordnung v. 1808 war die Befugnis zum Betreiben eines Gewerbes und zum Besitz von Grundstücken im Stadtbereich vom Besitz des Bürgerrechts abhängig. Hüffer (1952), S. 401. Vgl. Denkschrift Hüffers an den Kronprinzen v. 10. Mai 1833, in: Hüffer (1952), S. 418 ff. (420); ebenso lebhaft hatte Hüffer schon 1831 in einem Brief an Stein beklagt, dass in der Pr. Städteordnung keine Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit enthalten seien (Schreiben v. 19.2.1831), s. Hüffer (1952), S. 270. Am 18. März 1835 erging eine Kabinettsordre an den preußischen Innenminister, den Oberpräsidenten der Provinz, v. Vincke, mit den Anweisungen für die Einführung der Revidierten Städteordnung zu versehen; s. Preußische Gesetzessammlung (1835), S. 577; Hüffer (1952), S. 401; zur Einführung der Revidierten Städteordnung in Westfalen jetzt ausführlich Wex (1997).
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dig, obgleich die Ausübung des freien Gewerbebetriebs durch das Kommunalverfassungsrecht nicht behindert wurde, das freie Niederlassungsrecht also nicht konkret beeinträchtigt war. Die Bemühungen des Staates hatten einen einleuchtenden Grund: Nach § 13 der Revidierten Städteordnung, der auf Drängen der Stände eingefügt worden war, konnten die Gemeinden, die für die Erteilung des Bürgerrechts bis dahin schon Gebühren (Bürgerrechtsgelder) und Einzugsgelder verlangt hatten, solche weiter erheben; die Kommunen durften diese Beiträge mit Genehmigung des Ministeriums des Innern und der Polizei auch neu festsetzen. Der Gesetzgeber fürchtete nun nicht ohne Grund, dass die durch den § 13 eröffneten Möglichkeiten gezielt zur faktischen Beseitigung der Niederlassungsfreiheit eingesetzt würden.34 Die intensiven Bemühungen des Staates um die Durchsetzung dieses Freiheitsrechts gipfelten deshalb in dem Erlass des Gesetzes „über die Aufnahme neu anziehender Personen“ v. 31.12.1842, welches das liberalste seiner Art in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war.35 Es bestimmte, dass jeder Preuße überall dort, wo er sich eine Wohnung oder auch nur ein Unterkommen zu verschaffen wusste, seinen Aufenthalt nehmen konnte. Allein bereits eingetretene, nicht aber bloß zu besorgende Verarmung hinderte die Ansiedlung. Damit waren nur mehr Arme, Erwerbsunfähige sowie Angehörige von Strafgefangenen von der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen. Die in wirtschaftspolitischen Fragen betont liberale Attitüde des preußischen Staates in der Zeit des Vormärz kam auch den Ausländern zugute. Obgleich diesen kein Rechtsanspruch auf Zulassung zum Gewerbebetrieb eingeräumt wurde, gestand der Gesetzgeber doch auch den Fremden das Recht auf Freizügigkeit innerhalb Preußens zu. Sie mussten aber, wollten sie dort dauerhaft selbständig tätig werden, das Indigenat erwerben. Voraussetzung dafür war unter anderem der Nachweis einer Wohnung, ein Leumundszeugnis und der Nachweis, sich selbst unterhalten zu können. Das ständige Bemühen des Staates, liberale Grundsätze durchzusetzen, stieß auf dem Felde des Niederlassungsrechts allerdings bald an natürliche Grenzen. Denn nur die Freizügigkeit fiel in die gesamtstaatliche, die Armenhilfe aber in die kommunale Zuständigkeit. Da die Gemeinden die Einführung der Freizügigkeit mit der Plünderung ihrer Armenkasse gleichsetzten, blieb dem Staat, wollte er nicht das Scheitern seiner Initiative riskieren, nichts weiter übrig, als das Gesetz vom 31.12.1842 in ein Bündel „flankierender Maßnahmen“ einzubinden. Die Vorschriften, die deshalb 1842/43 erlassen wurden,36 sowie die preußischen Einwohnerbestimmungen, welche die Armenhilfe und die Bestrafung der Bettelei zum ersten Male gesamtstaatlich zu regeln suchten, stellten einen Kompromiss zwischen dem staatlichen Wunsch nach allgemeiner Freizügigkeit und den Vorbehalten regionaler 34 35 36
S. dazu unten, S. 192 ff. Preußische Gesetzessammlung (1843), S. 5–7; vgl. dazu Maunz-Düring-Herzog-Scholz (1982), Bd. 1, Art. 11, Rz. 15, Anm. 3; Mascher (1866), S. 553; Braun (1863), S. 49, 50. Gesetze v. 31.12.1842 über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Untertan (Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 15 ff.), Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege (Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 8 ff.) und Gesetz v. 6.1.1843 über die Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen (Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 19 ff.); vgl. dazu Steuer (1928), S. 31 ff.
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Interessenvertreter, die sich aus der kommunalen Verpflichtung zur Armenpflege notwendig ergaben, dar. „Der Staat blieb liberaler, als den Ständen lieb war, aber die Stände waren weniger sozial, als ihnen der Staat zu sein zumutete“, formulierte Koselleck pointiert.37 Der Widerstand gegen die zunächst vorgesehene Regelung, dass jede Gemeinde jedermann offenzustehen habe, war in den Provinzen allgemein gewesen. Deshalb hatte Preußen 1842 nicht die schrankenlose Freizügigkeit eingeführt, sondern sich zu dem skizzierten Kompromiss entschließen müssen. Jedem, der nicht ein hinreichendes Vermögen oder die notwendigen Kräfte nachwies, um seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen,38 konnte der Zuzug verweigert werden. Trotz dieser Modifizierungen des ursprünglichen Planes beurteilten die selbständigen Handwerker das Freizügigkeitsgesetz des Jahres 1842 sehr kritisch. Ihre Skepsis rührte aus dem Umstand, dass die von ihnen gewünschte Erhebung eines gesonderten, zusätzlich zum Bürgerrechtsgeld geforderten Eintrittsgeldes in den Städten auf rechtliche Bedenken stieß und deshalb als wenig wahrscheinlich erschien. § 1 des Zuzugsgesetzes untersagte nämlich die „Erschwerung des Zuzuges durch lästige Bedingungen“. Deshalb wurde auf Bitten des westfälischen Provinziallandtages 1845 ein weiteres Gesetz erlassen, welches in der Provinz Westfalen die Erhebung des Einzugsgeldes ausdrücklich zuließ.39 Mit diesem Entgegenkommen waren die Meister zwar noch immer nicht zufriedengestellt, doch wollte sich der Gesetzgeber zu größeren Zugeständnissen nicht mehr verstehen.40 Auch die im Grunde handwerksfreundliche Gewerbeordnung, die nach endlos langen Vorbereitungen 1845 schließlich in Kraft trat, zeigte sich weit liberaler, als die Meister es gewünscht hatten. Sie hielt gegen den expliziten Widerstand der selbständigen Handwerker die Trennung von Gewerberecht und Bürgerrecht aufrecht; auch für die Ausländer wurde keine abweichende Regelung getroffen. Damit bestätigte der Gesetzgeber die bisherige Verwaltungspraxis.41 Mit der Revolution des Jahres 1848 wurde wiederum ein neues Kapitel in der Geschichte des Niederlassungsrechts für die Kleingewerbetreibenden in Preußen aufgeschlagen. In den berühmten „Deutschen Grundrechten“ der Frankfurter National-Versammlung garantierte der glücklose Reichsgesetzgeber das Recht aller Deutschen, an allen Orten des Reichsgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, „jeden Nahrungszweig zu betreiben und das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen“, 37 38 39 40
41
Koselleck (1975), S. 631. § 4 des Zuzugsgesetzes, wie Anm. 36. Gesetz wegen der Befugnis der Städte der Provinz Westfalen zur Erhebung von Eintrittsgeldern, v. 24. Januar 1845, in: Preußische Gesetzessammlung (1845), S. 39 (Nr. 2540), hier: § 1. Dem Niederlassungsrecht wurde nicht nur von Seiten der Handwerker besondere Bedeutung für das Gedeihen der Gewerbe zugemessen. Der preußische Staatsrat und zeitgenössische Handwerkskenner Hoffmann beispielsweise machte nicht die Gewerbefreiheit, sondern die Gemeindeverfassung dafür verantwortlich, dass Minderjährige, noch nicht ausgelernte Handwerker den selbständigen Gewerbebetrieb beginnen konnten; s. Hoffmann (1847), S. 265. Dennoch war nicht jede Verbindung von Bürgerrecht und Gewerbeordnung gelöst. So bestimmte § 20 der Gewerbeordnung v. 1845: „Die Exekution auf Erfüllung dieser Verpflichtung darf aber nicht bis zur Untersagung des Gewerbebetriebes ausgedehnt werden“; s. dazu Koselleck (1975), S. 598.
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ausdrücklich.42 Einschränkend wurde aber, ganz in Übereinstimmung mit den Zielen der damals einflussreichen Handwerkerbewegung, welche die Revolution bekanntlich wesentlich mittrug, hinzugefügt, dass die spezifischen Bedingungen für den Aufenthalt und Wohnsitz durch ein „Heimathsgesetz“ und jene für die Ausübung des Gewerbebetriebs durch eine „Gewerbeordnung“ erst zukünftig geregelt werden sollten.43 Damit waren in Frankfurt Versprechungen gemacht worden, denen man in Berlin unter dem Druck der revolutionären Ereignisse wenigstens für den Augenblick Rechnung tragen zu müssen glaubte. Anders als 1845 kam die so offensichtlich in die Bredouille geratene preußische Regierung den nach möglichst weitreichenden Zugangsbeschränkungen strebenden Handwerkern nun eilfertig entgegen. Nach § 67 der Verordnung v. 9.2.1849 konnte der Betrieb eines stehenden Gewerbes durch Ausländer seither nur mehr aus erheblichen Gründen und mit ministerieller Genehmigung gestattet werden.44 Der Grundsatz der unbeschränkten Niederlassung ausländischer – und dies hieß damals deutscher – Handwerker aus den preußischen Nachbarländern war damit aufgegeben. Es bedurfte erst einer Revolution, um die langjährigen Forderungen der Meister gegen die Phalanx der liberalen Ministerialbürokratie durchzusetzen. Diese Bestimmungen müssen im Zusammenhang mit dem Gesetz über die Erhebung von Eintrittsgeld gesehen werden. Zugleich nämlich suchten auch die Kommunen den Zuzug zu beschränken. Durch die Erhebung von Einzugsgeld45 betrieben sie nichts anderes als die räumliche und soziale Ausgrenzung des natürlichen Bevölkerungszuwachses. Auch die Freizügigkeit der preußischen Untertanen wurde nunmehr beschnitten. Die großzügige Regelung des Gesetzes v. 1842 änderte eine Novelle v. 21.5.185546 ab. Fortan konnte, wenn der Zuwanderer die öffentliche Armenpflege schon ein Jahr nach der Ansiedlung in Anspruch zu nehmen gezwungen war, auf den früheren Aufenthaltsort zurückgegriffen werden. Das Entgegenkommen des Gesetzgebers gegenüber den Petita der Handwerkerbewegung währte allerdings nicht lange. Denn schon für den Beginn der fünfziger Jahre lassen sich Regelungen nachweisen, die Ausländern entgegenkamen. Seit längerem schon hatte sich nämlich gezeigt, dass es angesichts der wachsenden Zahl „Vagierender“, also heimatlos auf den Straßen umherziehender Angehöriger der Unterschichten, einer Regelung zur Übernahme Ausgewiesener und Heimatloser 42
S. dazu Steuer (1928), S. 32. Auch die Gesellen forderten 1848 das freie Niederlassungsrecht, aber ebenfalls eingeschränkt durch ein sog. „Heimathgesetz“, das in ganz Deutschland gelten sollte; s. Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Kongresses (1980), S. 208 ff. (212). 43 Vgl. Steuer (1928), S. 32. 44 Zu den Gründen sollten überdies der betreffende Gemeindevorstand und die beteiligte Innung gehört werden. Zu den Forderungen der Handwerker in der Revolution wurden in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verschiedene Untersuchungen vorgelegt, vgl. Simon (1983); Dowe/Offermann (1983); Bergmann (1986), Zerwas (1988); Conze/Zorn (1994). 45 S. dazu ausführlicher unten, S. 192 ff. 46 Gesetz zur Ergänzung der Gesetze vom 31. Dezember 1842 über die Verpflichtung zur Armenpflege und die Aufnahme neu anziehender Personen, in: Preußische Gesetzessammlung (1855), S. 311–315.
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bedurfte. Unter diesen befanden sich naturgemäß auch Gesellen, die dauerhaft arbeitslos oder nicht zur Selbständigkeit gekommen und darüber alt geworden waren. Die Missstände, die aus dem regellosen, gegenseitigen Zuschieben solcher Personen resultierten, wurden je länger desto unerträglicher, weil die deutschen Kleinstaaten keine gesetzlichen Bestimmungen für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit besaßen. Um hier endlich Abhilfe zu schaffen, verpflichteten sich die deutschen Länder mit Ausnahme Österreichs in dem am 15. Juli 1851 geschlossenen sog. Gothaer Vertrag zur Übernahme solcher Personen nach allgemeingültigen Regelungen.47 Wichtiger noch für die wandernden Gesellen war eine Ergänzung der Gothaer Konvention durch die sog. Eisenacher Übereinkunft v. 11. Juli 1853. Darin trafen die vertragsschließenden Staaten Absprachen, die sie gegenseitig zur Verpflegung erkrankter Staatsangehöriger verpflichteten und die Beerdigung verstorbener Ausländer regelten.48 Das schnelle Wiedererstarken der Reaktion und die Neubelebung des Liberalismus schon seit dem Ende der fünfziger Jahre ließen die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit schließlich selbst Teilen der Handwerker obsolet erscheinen. Der Wandel in den politischen Überzeugungen wurde nachhaltig unterstützt durch die veränderten ökonomischen Erfordernisse, denen sich jedenfalls der seit der Jahrhundertmitte in einem stürmischen Industrialisierungsprozess befindliche Teil der westfälischen Städte plötzlich gegenübersah. In den von dem Aufschwung erfassten Regionen entstand alsbald ein großer Mangel an Arbeitskräften, so dass eben die Kommunen, welche wenige Jahre zuvor noch die Einwanderung von Arbeitskräften mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern suchten, plötzlich sämtliche Zuwanderungshemmnisse aufgehoben wissen wollten.49 Dies galt umso mehr, als Preußen 1861 bestimmte, dass ausländische juristische Personen mit ministerieller Genehmigung in Preußen ein stehendes Gewerbe betreiben durften – eine Maßnahme, die unmittelbar auf die Förderung der Industrie zielte.50 Schließlich wurde mit der Konstituierung des Norddeutschen Bundes auch das Recht der Freizügigkeit auf eine neue Basis gestellt. Das in Art. 3 seiner Verfassung vom 17.4.186751 ausgesprochene Indigenat gab jedem Bundesangehörigen das Recht, in allen Staaten des Bundes als Inländer betrachtet zu werden, d. h. sich niederzulassen und, wie in Art. 3 ausdrücklich gestattet wurde, ein Gewerbe zu treiben. Durch die interterritoriale Niederlassungsfreiheit, welche Art. 3 der Bundesverfassung begründete, wurden auch die selbst noch innerhalb der preußischen Monarchie bestehenden Ungleichheiten beseitigt.52 Diese Bestimmung übernahm man später in die Reichsverfassung. Den neuen Grundsätzen widersprachen zunächst jedoch noch zahlreiche Vorschriften der Gemeinden und Staaten des außerpreußi47 48 49 50 51 52
S. dazu genauer Steuer (1928), S. 32. Vgl. Steuer (1928), S. 33. So z. B. auch im bergischen Barmen, das noch 1845 die Einwanderung in die Stadt zu verhindern suchte, 1859 aber für die Aufhebung sämtlicher Einwanderungsbeschränkungen eintrat; s. Köllmann, Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage“ … (1974), S. 106. Preußische Gesetzessammlung (1861), S. 441, 518. In Kraft getreten am 1.7.1867; s. dazu Steuer (1928), S. 33, 34. S. Steuer (1928), S. 34.
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schen Bundesgebietes. Erst der Erlass weiterer Gesetze ermöglichte den freien Verkehr von Personen innerhalb des Territoriums des Bundes: Neben der Aufhebung des Passzwanges am 12. Oktober 1867 wurde das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz v. 6. Juni 1870 in Verbindung mit der Beseitigung der polizeilichen Beschränkung der Eheschließungen v. 4.5.1868 verabschiedet. Vor allem aber führte der Norddeutsche Bund durch Gesetz v. 1. November 1867 die persönliche und interkommunale Freizügigkeit ein. Damit war schon beinahe die Entscheidung für die vollständige Gewerbefreiheit gefallen. Denn im Denken der Zeitgenossen der hochliberalen Phase war die Freiheit der Niederlassung untrennbar mit der Freiheit der Berufswahl verknüpft.53 Das Freizügigkeitsgesetz wiederholte dementsprechend in § 1 Abs. 3 das in Art. 3 Abs. 1 der Verfassung des Norddeutschen Bundes begründete Recht jedes Bundesangehörigen, am Orte des Aufenthaltes bzw. der Niederlassung Gewerbe aller Art zu betreiben und untersagte ausdrücklich jede obrigkeitliche Beschränkung oder Hinderung durch lästige Bedingungen. Die Mehrzahl der selbständigen Handwerker allerdings dürfte ihre Interessen durch die Einführung der Freizügigkeit54 nicht gefördert gesehen haben. Angesichts der unzweideutigen liberalen Meinungsführerschaft in jenen Jahren wagten sie aber keinen Widerstand – nicht einmal mit Kritik gingen sie damals an die Öffentlichkeit. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes v. 186955 machte in § 1 die Niederlassungsfreiheit von dem Erwerb des Bürgerrechts für den ganzen Bund unabhängig: „Der Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen und Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind“. Die traditionelle, durch Jahrhunderte nachweisbare Abhängigkeit des Gewerberechts vom Bürgerrecht war damit endgültig aufgehoben. Hatte man ursprünglich den Status des Bürgers als unabdingbare Voraussetzung, ein Gewerbe ausüben zu können, betrachtet, so genügte es fortan, ein Gewerbe zu betreiben, um auch als Bürger anerkannt zu werden. War bis dahin die Zahlung eines Bürgerrechtsgeldes vorgeschrieben, so durfte dies von einem Gewerbetreibenden seither nicht mehr verlangt werden (§ 13, S. 3). Zugleich erhielt das Prinzip des modernen Staatsbürgerrechts endgültig den Vorrang vor dem tradierten Ortsbürgerrecht.56 Diese Änderungen waren erst durch einen grundlegenden Wandel in den Städten möglich geworden. Durch seine liberale Gewerbepolitik hatte der preußische Staat die Städte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedrängt, eine allgemeine Staatsbürgerschaft zu ermöglichen; die Kommunen gaben ihren notorischen Widerstand gegen die Freizügigkeit aber erst auf, als sich einerseits die Mobilität der „handarbeitenden Klassen“ in einem bis dahin nicht gekannten Maße erhöhte57 und andererseits der Staat den Gemeinden die Versorgung der Ortsarmen abnahm sowie die Kosten für die Sozialfürsorge leistungsfähigeren politischen 53 54 55 56 57
Vgl. Steuer (1928), S. 40. Zu diesen Zusammenhängen noch immer am brauchbarsten: Krahl (1937), S. 9, 74. Der Text ist auch abgedruckt in: Jahrbücher für National-Ökonomie und Statistik, hrsg. v. Bruno Hildebrand u. a. (1869), S. 114–144. Das Institut des Ortsbürgerrechts hatte in erster Linie den Zweck, den Gemeinden die Armenlast für mittellose Fremde zu ersparen. Vgl. Koselleck (1975), S. 564.
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Körperschaften übertrug.58 So konnte die Freizügigkeit, das „notwendige Korrelat“ der Gewerbefreiheit,59 bereits hergestellt werden, bevor die Gewerbefreiheit selbst im Jahre 1869 zum Prinzip erhoben wurde. 3. Das Einzugsgeld Nach dem Ende der Fremdherrschaft suchten die Städte, wie bereits bemerkt, sofort wieder an die alte Tradition lokaler Niederlassungsbeschränkungen im Wege des Statutarrechts anzuknüpfen. Auf den Sieg der Abzugsfreiheit, der in der Bundesakte v. 8.6.1815 seinen Niederschlag gefunden hatte, musste fast naturgesetzlich der Rückschlag im Zuzugsrecht der Gemeinden folgen. Hier hatte der preußische Gesetzgeber den Kommunen einen beachtlichen Spielraum für eigene Initiativen eingeräumt, den diese zu nutzen wussten. So abstoßend sich die uni sono erhobenen Forderungen nach einem restriktiven Niederlassungsrecht wegen ihrer philisterhaften Engherzigkeit auch ausnehmen, so hatten sie doch eine leicht nachvollziehbare Ursache: In Preußen kannte man die in Süddeutschland üblichen Heiratsbeschränkungen für Mittellose nicht, so dass die ansässigen Bürger glaubten, sich auf andere Weise gegen die unerwünschte Bevölkerungsvermehrung schützen zu müssen. In der Tat führte das starke Bevölkerungswachstum im Vormärz zu einer Pauperisierung immer breiterer Schichten.60 Da niemand eine Lösung für das drängende Armutsproblem parat hatte, wollten sich die Bürger wenigstens den Anblick des Elends aus den Augen schaffen. Auf der Suche nach Möglichkeiten, sich des unerwünschten Zuzugs von außen zu erwehren, waren die Gemeinden bald fündig geworden: Sie erinnerten sich ihrer eigenen, gerade erst beseitigten Stadtrechte. Indem sie an deren Bestimmungen anknüpften, besaßen sie probate Mittel, um die Folge der ungeliebten Niederlassungsfreiheit, den Zustrom von Zuzüglern, aus ihrem Weichbild fernzuhalten. Vor allem drei Wege boten sich an: – – –
Die Zurückweisung nichtpreußischer Einwanderer, der Kapitalnachweis, das Einzugsgeld.
Während das Fernhalten von Ausländern, wie gezeigt, vor allem die staatliche Gesetzgebung beschäftigte und der Kapitalnachweis keine hervorragende Bedeutung als Mittel restriktiver Einwanderungspolitik in den westfälischen Städten gewinnen konnte, wurde die Erhebung von Einzugsgeld schon unmittelbar nach der Wiederherstellung der preußischen Herrschaft in der neuen Provinz wieder allgemeine 58 59
60
Mascher (1866), S. 554. Vgl. Mascher (1866), S. 554; auch Böhmert, der große Protagonist der Gewerbefreiheit, betonte die überragende Bedeutung der Freizügigkeit für die Verwirklichung der Gewerbefreiheit. „Die Freiheit der Arbeit muss mit der Freiheit des Handels- und Güteraustausches und mit Gesetzen, die allen wirtschaftenden Bürgern gleiche Gerechtigkeit widerfahren lassen, Hand in Hand gehen“; s. Böhmert (1858), S. 152. S. für Westfalen Wischermann (1984), S. 51–70.
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Übung.61 Nur den Soldaten, welche die Feldzüge der Jahre 1813–1815 mitgemacht bzw. langjährig gedient hatten, musste die Zahlung auf Anordnung der Regierungen erlassen werden.62 Die Höhe der in Westfalen ganz traditionell „Bürgergewinn“ genannten63 Abgaben war von Stadt zu Stadt außerordentlich unterschiedlich; möglicherweise richteten sich die jeweiligen Forderungen auch nach dem Vermögen und dem Stand des Antragstellers.64 Köllmann glaubte schon aus der Höhe des Geforderten schließen zu können, dass die Abgabe unmittelbar gegen zuwandernde Handwerker gerichtet war – und in der Tat, seine Auswertung von Protokollen der Naturalisationsgesuche der Stadt Barmen bestätigt diese Vermutung.65 Die Instrumentalisierung der Abgabe als Mittel des Niederlassungsrechts lässt sich auch für Münster zeigen: Dort betrug das Einzugsgeld im Jahr 1831 sieben Taler. Die Handwerksmeister der Provinzialhauptstadt verlangten eine Erhöhung des dort geforderten Betrages, und zwar insbesondere für Ausländer, da „dergleichen Subjekte“ sich das geringe Einzugsgeld „mehrenteils erbetteln und später vollends an den Bettelstab sinken“.66 Andere, argumentierten die Meister, umgingen die Zahlungen, indem sie heimlich in der Stadt Aufträge übernähmen oder sich in deren nächster Umgebung niederließen, eine Hütte errichteten und von dort aus für den städtischen Bedarf arbeiteten. Zudem sei der geforderte Betrag in vielen, selbst kleinen Städten noch weitaus höher.67 Ihre Kritik war nicht ganz unbegründet: Andernorts war man im Umgang mit den überall unerwünschten Zuzüglern in der Tat weit weniger zimperlich: Wolfgang Köllmann hat festgestellt, dass der Rat der bergischen Stadt Barmen die Zuwanderung nichtpreußischer Arbeitskräfte generell ablehnte. Durch den Zuzug Arbeitsuchender von außen würden, so argumentierte man dort, die Verdienstmöglichkeiten der Eingesessenen zu sehr beschränkt, und die vermögenslosen Neuankömmlinge fielen allzu leicht der Armenfürsorge zur Last. Mit dieser Begründung 61
S. z. B. Schreiben des Bürgermeisters von Ahaus v. 7.1.1819, in: STAM, Krs. Ahaus, Landratsamt Nr. 2063; Schreiben der Handwerker der Stadt Münster an Oberpräsident v. Vincke v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 209, 210; Bocholt konnte bereits Anfang des Jahres 1815 wieder Einzugsgeld erheben, s. Reigers (1966), S. 83; Verordnungen der Reg. Minden v. 20.3. und 25.10.1816, in: Amtsbl. der Reg. Minden 1816, S. 209; allerdings machten nicht alle Städte von der Möglichkeit, Einzugsgeld zu erheben, Gebrauch; s. Hasemann, Art. „Geselle“ (1856), S. 428. 62 Vgl. Verordnung der Reg. Münster v. 20.3. und 25.10.1816, in: Amtsbl. der Reg. Münster 1816, S. 209; desgl. mit genaueren Bestimmungen: Gesetz v. 7.4.1838, in: Preußische Gesetzessammlung (1838), S. 255. 63 An den traditionellen Formen wurde häufig festgehalten; mancherorts herrschte sogar Unklarheit über die veränderte Rechtslage. In Paderborn zeigten die Tischlermeister 1829 und 1831 mehrfach selbständig arbeitende Gesellen an, weil diese „weder als Bürger noch als Meister“ dazu berechtigt seien, s. Stadtarchiv Paderborn Nr. 373 f. 64 Kamptz, 7. Bd., 1823, S. 639 f.. In Bielefeld wurden bis zu 7 Tl. gefordert. Die Regierung hatte durch Reskript v. 11. September 1823 hierzu ihre Erlaubnis gegeben. S. Spies (1977/78), S. 63, 64. 65 S. Köllmann, Rheinland und Westfalen … (1974), S. 215. 66 S. Schreiben der Handwerker der Stadt Münster an Oberpräsident v. Vincke v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 209, 210. 67 Wie Anm. 65.
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beschloss der Barmener Rat, einer beabsichtigten Niederlassung allenfalls bei Nachweis eines Kapitals von wenigstens 100 Talern oder einer entsprechenden Bürgschaft zustimmen zu wollen. Mit solchen Forderungen, welche die Niederlassung in der Regel ausschlossen, glaubte man sich in guter Gesellschaft. Denn nicht nur in Preußen verlangte man bei der Aufnahme das Zuzugsgeld68 und ggf. einen Vermögensnachweis. Auch in der Bürgerrechtsgesetzgebung der süddeutschen Staaten machten sich eben zu dieser Zeit restriktive Tendenzen bemerkbar; in den zwanziger Jahren tauchten dort weitgefasste, unbestimmte Rechtsbegriffe wie „guter Leumund“, „Unbescholtenheit“ u. s. w. als Aufnahme- und Niederlassungsvoraussetzungen auf.69 Konflikte zwischen den Vertretern städtischer Bürgerfreiheit und den liberal gesonnenen Staatsbeamten, welche die Wiedereinführung des Einzugsgeldes kaum goutierten, blieben nicht aus. Die Politik der Berliner Regierung war gerade für die Exponenten des städtischen Bürgertums in Westfalen bitter. Hatten sie doch gehofft, sich, nachdem die Jahrzehnte völliger Einflusslosigkeit unter der Herrschaft der französischen Munizipalordnung mit der Einführung der Städteordnung vorüber waren, endlich der unerwünschten Zuzügler leichter als zuvor entledigen zu können. Der westfälische Landtag gab, wie bereits bemerkt, seiner Enttäuschung damals unverhohlen Ausdruck.70 Der Widerstand der Städte wurde zusätzlich dadurch angefacht, dass zur gleichen Zeit, Anfang der dreißiger Jahre, in Preußen ein Gesetzentwurf zur Regelung der Zuzugsbestimmungen diskutiert wurde, der davon ausging, dass jede Gemeinde jedermann offen stehen solle.71 Unter dem dauernden Druck der Stände72 entschloss sich der Staat, wie gezeigt, mit dem – ansonsten vergleichsweise liberalen – Zuzugsgesetz v. 31.12.184273 dann aber doch zu einem Kompromiss, der den früheren Unterschied in der Rechtsstellung, welcher aus den Rechtsbegriffen Gemeindemitgliedschaft, dem Wohnsitz oder der bloßen Anwesenheit resultierte, erneuerte. Die bis dahin bestehende, nur durch das Einzugsgeld beeinträchtigte Freizügigkeit wurde insoweit stärker gehemmt. Jedem, der nicht ein hinreichendes Vermögen oder die Fähigkeit nachwies, seinen Lebensunterhalt zu verdienen,74 konnte der Zuzug verweigert werden. Der Provinz Westfalen wurden schließlich sogar ausgedehntere Beschränkungen nachgelassen als den übrigen preußischen Landesteilen: Die Landgemeinde68
69 70 71 72 73 74
In Bielefeld ging der Rückgriff auf vergangene Strukturen so weit, dass man dort während der zwanziger Jahre glaubte, durch die Zahlung der Einzugsgelder werde ein Bürgerrecht im traditionellen Sinne (als besonderes Vorrecht vor anderen, dieses Recht entbehrenden Einwohnern) begründet. Erst ein Vertreter der Regierung musste dem Stadtsekretär erklären, dass die in Westfalen bestehende Verwaltungsordnung nur vom Einwohner und nicht vom Bürger spreche und man durch die Entrichtung von Einzugsgeldern keine besonderen Rechte außer denen eines jeden Staatsbürgers erworben habe; s. Spies (1977/78), S. 68. Maunz-Dürig-Herzog-Scholz (1982), Bd. 1, Art. 11, Rz. 14. S. auch Koselleck (1975), S. 594. S. Koselleck (1975), S. 631. Allerdings teilten nicht die Ständeversammlungen aller preußischen Provinzen die Auffassung des westfälischen Provinziallandtages zur Frage der Niederlassungsfreiheit. Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 5–7. § 4 des Zuzugsgesetzes, wie Anm. 73.
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ordnung für die Provinz Westfalen v. 31.10.184175 sowie das Gesetz v. 24.1.1845 „wegen der Befugnis der Städte der Provinz Westfalen zur Erhebung von Eintrittsgeldern“ räumte den Gemeinden die Befugnis ein, besondere Zuzugsgebühren einzutreiben.76 Damit besaßen die Gemeinden eine zweifelsfreie rechtliche Basis, auf der sie das Einzugsgeld erheben konnten. Von der neuen Möglichkeit machten die westfälischen Kommunen in den folgenden Jahren dann auch regen Gebrauch.77 In Hamm ging man so weit, vor Zahlung des Einzugsgeldes die Aufnahme in die Stadt überhaupt zu verweigern und früher Zugezogene nach fruchtlosem Vollstreckungsversuch aus der Stadt zu verbannen.78 Auch dort, wo solch rücksichtsloses Vorgehen nicht üblich war, erklärten die Kommunen die vorhergehende Zahlung des Einzugsgeldes zur Bedingung für die Gewährung der Armenunterstützung.79 Damit begann für viele Handwerksgesellen und Dienstboten, die den verlangten Betrag durch die geringen Einnahmen aus ihrem Arbeitsverhältnis nicht aufbringen konnten, ein circulus vitiosus. Da sie von der örtlichen Armenunterstützung ausgeschlossen blieben, waren sie im Notfall auf die Hilfe ihres Herkunftsortes angewiesen; diese erlosch aber wiederum, wenn die Bedürftigen länger als drei Jahre abwesend waren. So wurden viele von ihnen zu beklagenswerten Opfern einer lückenhaften Gesetzgebung.80 Die Zuzugsgebühren trugen zur Heimatlosigkeit der mobilen Unterschicht, die sich zu einem erheblichen Teil aus Handwerksgesellen rekrutierte, nachhaltig bei, da die Gemeinden die Abwehr von Zuzüglern nach der Sanktionierung durch den Staat mit Verve betrieben. Durch die revolutionären Ereignisse sah sich die Berliner Regierung schon nach wenigen Jahren aber gezwungen, wenigstens gegen die Höhe der Forderungen energisch einzuschreiten.81 Deshalb erfuhren die Bestimmungen über das Einzugsgeld bald eine – wenngleich wenig systematische – Novellierung. Durch die 75 76 77
78 79 80 81
§§ 18 ff., in: Preußische Gesetzessammlung 1841, S. 297. Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 39, 40; s. dazu Keller (1871), S. 300. In Hamm beispielsweise setzte die Erteilung des Bürgerrechts die Zahlung eines Bürgerrechtsgeldes von 5 Talern an die Gemeindekasse voraus. Von allen, die sich dort als selbständige Einwohner niederlassen wollten, forderte das Ortsstatut des Jahres 1846 die Zahlung eines Einzugsgeldes von 10 Talern, s. Vormbaum (1976), S. 278. Ebenso wurde auch in Soest und Minden das Einzugsgeld erhoben. Nicht nur Folge einer anderen Rechtslage, sondern vor allem Ausdruck neuer ökonomischer Grundsätze war es, wenn der Düsseldorfer Bürgermeister in einer Mitteilung v. 10. Mai 1847 erklärte, dass in seiner Stadt „vom neuen Ansiedler kein Eintrittsgeld erhoben und dass die häusliche Niederlassung im Sinne des § 1 im Gesetz v. 31.12.1842 durch keine lästige Bestimmung erschwert wird, insofern der Neuanziehende den Bedingungen desselben Gesetzes zu genügen im Stande ist“, zitiert nach Vormbaum (1976), S. 291. Zu den rechtlichen Bedenken gegenüber der Einführung eines vom Bürgerrechtsgeld zu unterscheidenden Einzugsgeldes s. oben. S. Vormbaum (1976), S. 279. Die Beschwerde mehrerer Hammer Bürger unter Wortführung des Drahtziehers Fleischer gegen die Einzugs-Regelung des Statuts wurde unter Hinweis auf das Gesetz von 1845 abschlägig beschieden. S. für Dortmund Winterfeld, Die Stadt Dortmund … (Manuskript), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, S. D3. S. Koselleck (1975), S. 633; s. dort auch Ausführungen zu den Folgen verschuldeter bzw. unverschuldeter Armut, z. B. der Einweisung in Arbeitshäuser. S. Koselleck (1975), S. 633 mit Quellenangaben.
196
III. Das Niederlassungsrecht
Gemeindeordnung des Jahres 1850, die allerdings nur in einigen Städten für kurze Zeit in Kraft trat, wurde die Abgabe aufgehoben. Bald kam es aber zu einem neuerlichen Kurswechsel:82 Die Städte- und Gemeindeordnung für Westfalen v. 19.3.1856 räumte den Kommunen wieder die Befugnis ein, das Einzugsgeld zu erheben.83 Neben dieser Abgabe, die auf Grund eines von der zuständigen Regierung bestätigten Gemeindebeschlusses verlangt werden konnte, wurde es den Gemeinden nun zusätzlich gestattet, ein sog. Hausstands- und Einkaufsgeld einzutreiben. Dieses Hausstandsgeld war zu entrichten, wenn jemand heiratete. Das Einkaufsgeld musste gezahlt werden, damit die Neubürger an den Nutzungen des GemeindeVermögens teilhaben konnten. Doch schon wenige Jahre später wurden auch diese Regelungen wieder modifiziert. Unter dem Einfluss des damals mit Macht erstarkenden liberalen Gedankengutes beschränkte ein weiteres Gesetz v. 14.5.186084 die zu zahlenden Summen. Das Einzugsgeld blieb aber in der alten Form bestehen; an die Stelle des Hausstandsgeldes trat nun das Bürgergeld; das Einkaufsgeld blieb ebenfalls erhalten. Die Maximal-Beträge des Einzugsgeldes wurden dahin begrenzt, dass diese Abgabe in Stadtgemeinden von weniger als 2.500 Einwohnern 3 Taler, in solchen bis zu 10.000 Einwohnern 6 Taler, und in Städten bis 50.000 Einwohnern 15 Taler nicht übersteigen durfte.85 Noch im Jahre 1860 befassten sich auch die Landstände der Provinz Westfalen mit dem Problem des Einzugsgeldes.86 Sie legten den Entwurf eines „Gesetzes, betr. das Einzugs- und Einkaufsgeld in den Landgemeinden und den nach der Landgemeinde-Ordnung verwalteten Städten der Provinz Westfalen“ vor. Das Gesetz wurde am 24. Juni 1861 verabschiedet.87 Seither besaßen Landgemeinden und die nach der Landgemeindeordnung verwalteten Städte Westfalens das Recht, Einzugsgeld und Einkaufsgeld zu erheben (§ 2), wobei das Einzugsgeld den Betrag von 5 Tlr. nicht übersteigen durfte (§ 3). Das Gesetz bestimmte, dass die Niederlassung von der Zahlung des Einzugsgeldes abhängig gemacht werden konnte, wobei nur wenige Ausnahmen nachgelassen wurden. Als 1861 die Beschränkungen der Freizügigkeit fielen, geriet naturgemäß auch das Einzugsgeld wieder in das Kreuzfeuer der Kritik. Als Anfang der sechziger Jahre liberales Denken auch das Wirtschaftsrecht machtvoll zu beeinflussen be82
§§ 46, 106 der Gemeindeordnung für den Preußischen Staat v. 11.3.1850, in: Preußische Gesetzessammlung 1850, S. 213–251. 83 S. Preußische Gesetzessammlung 1856, S. 237–264 (Städteordnung); a. a. O. S 265–292 (Gemeindeordnung). 84 § 3 des Gesetzes betreffend das städtische Einzugs-, Bürgerrechts- und Einkaufsgeld, in: Preußische Gesetzessammlung 1860, S. 237–240 (238). 85 Beispiele für die Erhebung des Einzugs- und Bürgerrechtsgeldes aus Westfalen finden sich bei Reitzenstein (1865), S. 3, für die Städte und Gemeinden des Kreises Recklinghausen (nach den Gesetzen v. 14.5.1860 und 24.1.1861) sowie Essellen (1851), S. 33 (nach § 2 des Statuts der Stadt Hamm auf Grund der Revidierten Städteordnung v. 17.3.1831). 86 S. Amtsbl. der Reg. Münster v. 13.12.1862, S. 189. 87 Gesetz, „betreffend das Einzugs- und Einkaufsgeld in den Landgemeinden und den nach der Landgemeinde-Ordnung verwalteten Städten der Provinz Westphalen“, in: Preußische Gesetzessammlung 1861, S. 446 ff..
A. Das Stadthandwerk
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gann, gehörte die Beseitigung aller Hindernisse, die der Freizügigkeit und der freien Niederlassung entgegenstanden, naturgemäß zu den wichtigsten Anliegen der Reformer. Besonders die Vertreter der westfälischen Industrie, die sich in einigen Regionen seit 1850 in einem stürmischen Expansionsprozess befand, wiesen immer wieder darauf hin, dass das von den Gemeinden erhobene Einzugsgeld die Mobilität der Arbeiter und Handwerker behindere. Der westfälische Deputierte Wilhelm Turck aus Lüdenscheid, Mitglied in der Kommission zur Beratung der Koalitionsfrage, die 1865 in Berlin tagte, ritt denn auch eine heftige Attacke gegen die Erhebung des Einzugsgeldes88: „Ich glaube nicht, dass in Preußen eine Steuer besteht, die so aller Vernunft Hohn spricht wie diese; man hat sie eine Blutsteuer genannt. Was soll der arme Mann mit seinem einzigen Kapital, wenn er für die Benutzung einer Gelegenheit, seine Arbeit zu verwerthen, mit einer Steuer belastet wird, welche keine Gegenleistung bietet? Er sucht nur das Leben, will nur sein Kapital verwerthen, um Weib und Kind zu ernähren, und sitzt in einer Barrikade“.89 Das eindringliche Plädoyer des westfälischen Fabrikanten blieb nicht ohne Eindruck auf die Versammlung. Die Mitglieder der Kommission sprachen sich einstimmig für die Aufhebung der Einzugsgelder aus. Dieses Votum wurde auch von dem westfälischen Oberpräsidenten v. Düesberg unterstützt.90 4. Eine Bilanz Die damals immer und immer wieder artikulierte Furcht vor der Zuwanderung beruhte auf der Verbindung zweier Faktoren, die beide gleichermaßen dem Einfluss der städtischen Politik entzogen waren und damit zwangsläufig Angstgefühle bei der so lange privilegierten urbanen Bevölkerung hervorrufen mussten: (1) Die Freiheit der Wirtschaft, welche in Westfalen eine Folge des Reformprogramms der französischen Politik auf deutschem Boden war, hatte die Ökonomie ebenso wie die Gesellschaft radikal aus den alten Bindungen befreit. Alle Hemmnisse, die den Menschen durch Heimatrechte, Ausschließungsregelungen und Wanderungsverbote an seinen Heimatort gebunden hatten, waren schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gefallen. (2) Der Freizügigkeit stand in den Städten aufgrund der schwankenden Konjunkturen kein der Zuwanderung entsprechendes, dauerhaft vorhandenes Angebot an Arbeitsplätzen gegenüber. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwog das Arbeitskräftepotential das Arbeitsplatzangebot bei weitem. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gewerbetreibenden in den Städten wie auch die Lokalpolitiker den Wegfall der alten Bindungen als einen Dammbruch empfanden. Sie harrten voller Furcht der drohenden Überflutung; jedes, selbst das unbedeutendste Mittel ergriffen sie, wenn es denn nur vor dem Ertrinken zu retten versprach. 88 89 90
S. STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. Wie Anm. 88. Schreiben des Oberpräsidenten von Düesberg an den Handelsminister von Itzenplitz v. 7.11.1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787.
198
III. Das Niederlassungsrecht
Köllmann vertrat die Ansicht, dass die restriktiven Maßnahmen die Zuwanderung kaum hemmen konnten, weil für alle preußischen Untertanen prinzipiell die Niederlassungsfreiheit gegeben war. Man habe sich lediglich bemüht, „die wenigen abzuhalten, die man abhalten konnte“.91 Das kontinuierliche Bevölkerungswachstum auch der westfälischen Stadtgemeinden dürfte diese These bestätigen. Trotz der nicht abreißenden Klagen der städtischen Gewerbetreibenden über die unerwünschte Zuwanderung spricht andererseits aber auch nicht viel dafür, dass das Handwerk in den urbanen Gemeinwesen durch die Neuankömmlinge depossiert worden ist. Zwar wuchs schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge des gravierenden Missverhältnisses zwischen Arbeitskräftesuchenden und Arbeitsplatzangebot die Mobilitätsbereitschaft beständig.92 Die in den Städten so gefürchtete räumliche Neuverteilung des Arbeitskräftepotentials zwischen Stadt und Land veränderte die Situation zu dieser Zeit jedoch noch nicht wirklich. Der Bevölkerungsüberschuss verharrte zunächst noch auf dem Lande, wo es – in machen Regionen – zu erschreckender Verelendung der Spinner- und Weberbevölkerung kam. Erst als nach 1850 das Arbeitsplatzangebot im westlichen Westfalen sprunghaft anstieg, kam es zu den durch die Reformgesetzgebung bereits seit langem ermöglichten Zuzugswellen. Nun gewannen die Wanderungen entscheidenden Einfluss auf die lokale Wirtschaftsentwicklung. Da die Industriereviere seit Beginn der Hochindustrialisierung das große Arbeitskräftereservoir der Dörfer aber vergleichsweise schnell aufsogen, fiel wider Erwarten auch das Angstsyndrom der Übervölkerung von den Stadtbewohnern ab. Hierzu trug nicht zuletzt auch die erhebliche Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft nach dem Ende der Agrarreformen bei. Die Stadtbürger konnten nun leichten Herzens auf Zuzugsbeschränkungen und Einzugsgeld verzichten. Die imaginierte malthusianische Falle war nicht zugeschlagen. Wenn auch nicht sehr viele Zuzugswillige durch die restriktiven Bestimmungen von der Übersiedlung in die Städte abgehalten worden sein mögen, ist doch nicht zu leugnen, dass die Niederlassungshemmnisse, so lange sie Bestand hatten, die Abwanderung in die Städte im Einzelfall beträchtlich behindern konnten. Liberale Zeitgenossen wie der schon zitierte Fabrikant Turck aus Lüdenscheid wussten die kleinlichen Behinderungen deutlich zu benennen: „Das Einzugsgeld hat auch deshalb in vielen Fällen diesen hässlichen Charakter, weil es wirklich den Entschluss des einzelnen Arbeiters, von einem Ort zum anderen zu ziehen, bedeutend erschwert. Es ist keine Kleinigkeit, … die Kosten des Umzugs aufzubringen, und dann soll man noch 20 Thl. Einzugsgeld bezahlen …“.93 Unzweifelhaft war die Abgabe unsozial, da sie den Gewerbetreibenden gerade in der Zeit erhöhten Kapitalbedarfs die Barmittel entzog. Sie hatte sich zu einer Steuer entwickelt, welche die wirtschaftlich Aktiven, die den Schritt in die Selbständigkeit wagten, bei der Existenzgründung in Schwierigkeiten bringen konnte.94 Wer sich aber der Zahlung entzog, setzte sich einem hohen Risiko aus. Denn der Anspruch auf Versorgung in 91 92 93 94
Köllmann, Rheinland und Westfalen (1974), S. 215. Köllmann, Demographische Konsequenzen … (1974), S. 50. STAM, Oberpräsidium Nr. 2787, fol. 46. Vgl. die Ausführungen des Vorsitzenden der 8. Sitzung v. 31.8.1865 bei den Verhandlungen der
A. Das Stadthandwerk
199
Krankheits- und Notzeiten hing in den Städten davon ab, ob das Einzugsgeld bezahlt worden war. Alle Zuwanderer, die dieser Pflicht nicht genügt hatten, konnten notfalls als arbeitsunfähige und arbeitsscheue Elemente ausgewiesen und an ihren Heimatort oder in ihr Heimatland zurückgeschickt werden.95 All diese Wirkungen waren keine Zufallsprodukte einer unzulänglichen Gesetzgebung. Sie wurden vielmehr vom Gesetzgeber ermöglicht und von den Kommunen gewollt. Die Steuerpflichtigen fanden dennoch, wie zu allen Zeiten, Mittel und Wege, sich der Beschwer zu entziehen: Zwar war die Befugnis, Einzugsgeld zu erheben, seit Erlass der Landgemeindeordnung für Westfalen v. 19.3.1856 auch den Landgemeinden eingeräumt. Da aber im wesentlichen die Städte von diesem Recht Gebrauch machten, ließen sich zahlreiche Handwerker, die für den städtischen Markt arbeiteten, nicht mehr in den Städten selbst, sondern, wie dies auch schon im 18. Jahrhundert verbreiteter Usus war, in den Dörfern der Umgebung nieder; auf diese Weise entgingen sie nicht nur der Pflicht, das Einzugsgeld zu zahlen, sondern auch den hohen Abgaben und Lebenshaltungskosten.96 So führte die Erhebung der Einzugsgelder zur Verzerrung des Wettbewerbs zwischen Stadt und Land. Andere Zuwanderer ignorierten die Forderungen der Stadtkasse einfach. Fehlte ihnen die notwendige Summe, um das volle Kommunalrecht zu erwerben, so unterließen sie die Meldung zu dauerndem Aufenthalt bei der Polizei. In Dortmund, wo zwischen 1852 und 1867 ein Einzugsgeld in Höhe von 10 Rtl. pro Familie verlangt wurde, entrichteten nicht wenige Neubürger erst Jahre nach ihrem Einzug die fällige Summe, da in der Stadt niemand mehr zur Zahlung des Einzugsgeldes gezwungen wurde.97 Die Resultate, welche die Erhebung des Einzugsgeldes zeitigte, waren demnach ebenso vielschichtig und widersprüchlich wie die Ursachen, die der Einführung dieser Abgabe zugrunde lagen. Indem der preußische Staat die Erhebung des Einzugsgeldes duldete, machte er, der doch im Bereich der Wirtschaft liberalen Ordnungsprinzipien anhing, Konzessionen an die Lokalgewalten und die mit ihnen auf’s engste verbundenen gewerbetreibenden Schichten. Man wusste in Berlin nur zu gut, wie schwer es den ehemals Privilegierten in den Städten fiel, sich mit der Gleichordnung des modernen Staatsbürgerrechts abzufinden; so ließ der Gesetzgeber dem Stadtbürgertum in weiser Selbstbeschränkung noch einen Zipfel seiner seit Jahrhunderten bevorrechtigten Stellung, um nicht zuletzt die Meister mit der liberalen Gewerbepolitik zu versöhnen. Natürlich zog auch der Staat selbst seinen Vorteil aus dieser Regelung. So lange das Institut des Ortsbürgerrechts mit dessen typischen, insbesondere durch das Einzugsrecht begründeten, restriktiven Wirkungen bestand, konnte er den Gemeinden die Armenlast aufbürden. Das Zugeständnis an
95 96 97
zur Beratung der Koalitionsfrage berufenen Kommission (Berlin 1865), in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787, fol. 41. Winterfeld, Die Stadt Dortmund … (Manuskript), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, S.D 3. So hinsichtlich Paderborn Schreiben des Innungs-Vorstehers Klaholt aus Paderborn an die Reg. Minden v. 24.7.1860, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787. Vgl. Winterfeld, Die Stadt Dortmund … (Manuskript), in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, S. D3.
200
III. Das Niederlassungsrecht
die depossedierten Erben vergangener Zunftherrlichkeit fiel der Staatsgewalt auch deshalb um so leichter, als die tatsächliche Ausschließungswirkung des Einzugsgeldes, wie bereits festgestellt, gering blieb. Seit die prosperierende Industrie im westlichen Westfalen der latenten Mobilitätsbereitschaft der ländlichen Arbeitermassen ein konkretes Ziel setzte, wurde das Einzugsgeld plötzlich zu einem echten Hindernis für die stürmische Wirtschaftsentwicklung. Als sich, für jedermann sichtbar, die Produktionsbedingungen fundamental von denen des 18. Jahrhunderts zu unterscheiden begannen, erkannten auch die Kleingewerbetreibenden, dass der wärmende Schutz tradierter Rechtsverhältnisse unter dem Diktat der mit dynamischer Kraft expandierenden industriellen Produktionsweise nicht länger zu verteidigen war. So dürfte es nicht einmal mehr die Handwerksmeister gewundert haben, dass die administrativen Hemmnisse des freien Zuzugs nach 1860 fielen.98 B. DAS LANDHANDWERK Nicht nur in den Städten riss die französische Fremdherrschaft die durch das zünftige und das kommunale Statutarrecht gemeinsam errichteten, spezifischen Schranken gegen die Niederlassung von Handwerkern, wie sie in der Pflicht zum Erwerb des Bürgerrechts und der Zahlung des Einzugsgeldes seit je bestanden hatten,99 nieder. Mit der Einführung des neuen Rechts fielen auch die unterschiedlichen, insbesondere in den Landgemeinden des südlichen und östlichen Westfalens geltenden Zuzugshemmnisse100 fort. Der Gewinn der Niederlassungsfreiheit stand in seiner Bedeutung für die Dörfer zwar hinter derjenigen der Einführung der Gewerbefreiheit für die Städte zurück,101 wurde aber als bedeutender Reformschritt durchaus bemerkt. Denn dort, wo Staat und Landgemeinden die Niederlassung zuziehender Handwerker beeinflusst hatten,102 hatten sie die nämlichen Partikularinteressen vertreten, derer sich in den Städten Zunft und Verwaltung gemeinsam zum Vorteil der etablierten Meister verschrieben hatten. Die Liberalisierung des Zuzugsrechts wurde, wie eine Stellungnahme des Briloner Landrats v. Droste-Padberg aus dem Jahre 1819 zeigt, im ehemals kurkölnischen Sauerland denn auch als gravierender Eingriff empfunden: „Die Gewerbefreiheit an sich kann also für das Landhandwerk 98
Die Gemeinden hatten ihren Widerstand gegen die Freizügigkeit bereits aufgegeben, als der preußische Staat ihnen die Versorgung der Ortsarmen abnahm; s. Mascher (1866), S. 554. 99 Zu den einschlägigen, bis zum Beginn der Franzosenzeit geltenden Regelungen s. ausführlich Deter (1990), S. 90–104. 100 Das in den westfälischen Territorien höchst unterschiedliche Niederlassungsrecht für Landhandwerker bis zum Beginn der Fremdherrschaft ist dargestellt bei Deter (1990), S. 105–126. Zum Landhandwerk vgl. Nipp (1980), S. 153–176. 101 Durch die einseitige Fixierung insbesondere der Forschung des 19. Jahrhunderts und auch der neuesten Forschung auf das Zunftrecht und die Geschichte der Zünfte ist bislang völlig unbeachtet geblieben, dass die Reformen des frühen 19. Jahrhunderts auch für das Landhandwerk gravierende Änderungen seiner Rechtslage brachten. 102 Anders im Stift Münster; dort bestanden zwar Niederlassungsverbote für Landhandwerker, die aber ignoriert wurden; s. Deter (1990), S. 105–109.
B. Das Landhandwerk
201
keine Änderung herbeigeführt haben, wohl aber ist ein großer Übelstand durch die gänzlich frey gegebene Ansiedlung jedes sich dazu anmeldenden entstanden. Den Gemeinden sind dadurch alle Mittel genommen, die durch Qualifikation, durch das Bedürfnis der Gemeinde und deren Vortheil gewünschte Ansiedlung gestatten oder abschlagen zu können. Den rechtschaffenen Handwerkern werden durch diese Ankömmlinge, welche den Reiz der Neuheit für sich haben, der Erwerb genommen, die Eingesessenen werden mit schlechten Waaren betrogen, und die Zahl der Handwerker wird so unverhältnismäßig vermehrt, dass einer nach dem anderen den Bettelstab ergreifen muss …“.103 Die Etablierten im Dorf, die Bauern vor allem, aber auch die angesessenen Handwerker sahen in der Mobilität der besitzlosen Unterschicht eine latente Gefahr für die von ihnen repräsentierte soziale Ordnung. Häufiger Wohnungswechsel gehörte seit je zum Kennzeichen der besitzlosen Bevölkerung, und dieser Umstand war Grund genug zur sozialen Deklassierung: „Ein fremder Heuerling wird sowohl von seinen Standesgenossen als von den Bauern missachtet, ja angesehen, als wenn irgendein Makel auf ihm ruhet“,104 hieß es damals im nördlichen Westfalen. In der Nichtachtung der Fremden wirkten die Eingesessenen demnach einträchtig zusammen, und was für den Bereich der Landwirtschaft galt, reproduzierte sich im Landhandwerk. Schon der um die Konservierung der ständischen Gesellschaft so nachhaltig bemühte Osnabrücker Minister Justus Möser, einer der Ahnherren des politischen Konservativismus in Deutschland,105 hatte sich viele Jahrzehnte zuvor dieses Prinzip der Agrargesellschaft zu eigen gemacht: „Die Nation (d. h. der Verband der ‘Hofgesessenen’, J. M.) ist nun mit Flüchtlingen vermischt, die sich aus einer Landesverweisung nichts machen, die durch Galgen und Rad gebändigt werden müssen und die dem ungeachtet immer in der größten Versuchung bleiben, sich dasjenige durch Stehlen und Betteln zu erwerben, was sie sich mit ihrer Hände Arbeit nicht verschaffen können“.106 Möser empfahl zur Kontrolle jenes unerwünschten, aber bedrohlich zunehmenden Bevölkerungssegments eine restriktive Anwendung des Ansiedlungsrechts. Er zählte damit zu den geistigen Vätern der Heimatgesetzgebung des Vormärz, welche die Überwachung der „sozialen Bewegung“ zum Ziele hatte und die Ausgrenzung der mobilen Unterschicht betrieb.107 Ganz im Sinne Mösers hielten es die westfälischen Landgemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Städte für ein Gebot der Vernunft, sich des Zuzugs zu erwehren. In der Tat stellten die potentiell unterstützungsbedürftigen Schichten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Masse der Landbevölkerung in Westfalen. Nach einer Schätzung aufgrund der Berufszählungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Minden-Ravensberg gehörten dort 76 %, im Fürstbistum Paderborn sogar 80 % der ländlichen Hauswirte zu den Heuerlingen, Kleinbauern und Handwerkern. 103 Schreiben des Landrats des Krs. Brilon, v. Droste-Padberg, v. 1.2.1819 an die Reg. Arnsberg, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1388. 104 Zitiert nach Mooser (1984), S. 206. 105 Ribhegge (1992), S. 23 ff. 106 Zitiert nach Mooser (1984), S. 201. 107 S. Mooser (1984), S. 202.
202
III. Das Niederlassungsrecht
Tabelle 6: Gliederung der ländlichen Bevölkerung nach den Besitzverhältnissen108 in westfälischen Regionen Bauern, Meier, Kötter Ganze und halbe Bauern
Hochstift Paderborn
Minden-Ravensberg
Grafschaft Mark
absolut
absolut
absolut
-
auf 1000 Einw.
v. H.
-
-
4167
auf 1000 Einw.
v. H.
31,2
21,7
4600
auf 1000 Einw.
v. H.
49,5
38,1
Ganze und halbe Meier
2277
33,1
22,0
929
7,0
4,8
-
-
-
Insgesamt Kötter
2277
22,0
5096
38,2
26,5
4600
49,5
38,1
Bardenhauer
3858
33,1
1724
25,1
16,7
-
-
-
-
-
-
Neubauern Insgesamt
Heuerleute, Hausleute
oder Einlieger Altsitzer Insgesamt
1–3 Insgesamt
-
56,0 -
37,3 -
5913 -
44,4 -
30,8
1426
15,3
42,7
2486
26,8
81,1
54,0
5913
44,4
30,8
-
-
-
-
-
-
36,0
24,0
8205
61,6
31,6
-
5582 2481
2933
4359
623
24,3 11,8
46,9
36,1
6,7
5,2
20,6
2481
36,0
24,0
8205
61,6
42,7
3109
33,5
25,8
10340
150,2
100
19214
144,2
100
12068
129,9
100
Tabelle 7: Soziale Zusammensetzung der unterbäuerlichen Klasse (Zahl der Hauswirte) in Minden-Ravensberg (1798) und Paderborn (1802)109 Paderborn Landhandwerker
4633
Kleinbauern
5913
Heuerlinge
8205
Summe
18751
Minden-Ravensberg 25 %
3486
44 %
2481
31 %
5582
100 %
11549
30 % 48 % 22 %
100 %
Wenngleich die Handwerker in diesem Tableau nicht den gewichtigsten Platz einnehmen, erklärt ihre große Zahl doch, weshalb sich die Gemeinden diese Zuzügler trotz des zu Beginn des 19. Jahrhunderts liberalisierten Niederlassungsrechts vom Halse zu halten suchten. Wie die konkurrierende Nachfrage nach Land den fremden Heuerling, so bemakelte diejenige nach Arbeit den zugezogenen Landmeister, und 108 Quelle: Reekers (1964), S. 160. Die deutlich höhere Zahl der «Heuerleute», Hausleute oder Einlieger in Minden-Ravensberg ist auf das dort schon seit dem 18. Jahrhundert bemerkbare stärkere Bevölkerungswachstum zurückzuführen, welches seine wirtschaftliche Grundlage im Spinner- und Webergewerbe hatte. 109 Quelle: Mooser (1984), S. 199; Doppelzählungen und die schwierige Abgrenzung der einzelnen Schichten lassen diese Angaben allerdings nur als Annäherungswerte erscheinen.
B. Das Landhandwerk
203
die aus der erzwungenen Mobilität vieler Kleingewerbetreibender resultierende ökonomisch-soziale Disqualifizierung gerann neuerlich zu ausgrenzenden Rechtsregeln, welche die großzügigere Haltung des preußischen Staates unterliefen. Als probates Mittel zur Erreichung ihrer selbstischen Ziele nutzten die Kommunen in der Zeit des Vormärz geschickt den Umstand, dass auch die Neuankömmlinge aus dem Handwerk auf die Teilhabe an den kommunalen Einrichtungen, insbesondere die gemeine Weide, angewiesen waren. Im Gegensatz zu den besitzenden, alteingesessenen Bauern konnten sie sich ihre Nutzungsrechte aber nur durch zusätzliche Leistungen sichern. Diejenigen, welche lediglich ein Haus besaßen oder zur Miete wohnten, mussten ebenso wie die Heuerlinge ein Weidegeld an die Kommune bezahlen. Im Paderborner Land wurde von den Mietern ein regelmäßiges „Einliegergeld“ erhoben, dessen Entrichtung auch zur Teilhabe an den sonstigen kommunalen Einrichtungen (Holz, Brunnen, Servitute) berechtigte.110 In den 1840er Jahren überstieg die Forderung den Betrag von zwei bis drei Talern pro Familie (pro Jahr) allerdings nicht. Der Niederlassung der Handwerker auf dem Lande weit hinderlicher konnte der Umstand sein, dass man von ihnen zudem ein „meist sehr bedeutendes“111 Einzugsgeld verlangte, welches bis zu 12, in einigen Gemeinden des Krs. Paderborn aber bis zu 200 Taler112 (!) betrug; auch dessen Zahlung war Voraussetzung für die Nutzung des Gemeindevermögens. Eine solche, mancherorts als unüberwindbares Hindernis wirkende Abgabe, wie man sie in Paderborner Dörfern verlangte, lässt sich für Minden-Ravensberg nicht nachweisen. Dort war nur die obrigkeitliche Zustimmung, nicht aber ein zusätzlicher kommunaler Konsens zur Niederlassung der Landhandwerker erforderlich.113 Dennoch lässt sich nachweisen, dass die Eingesessenen aber auch in diesem Streusiedlungsgebiet Strategien entwickelt hatten, um sich jedes unerwünschten Zuzuges zu erwehren. So konnten die Bauern dort selbst dann, wenn die Gerichtsobrigkeit der Niederlassung zugestimmt und die Neuankömmlinge in der Gemeinde eine Wohnung gefunden hatten, das Einzugsgeld und damit die Teilhabe an den Gemeindenutzungen verweigern. Damit waren die Siedler mehr „Schutzuntertanen“ der Bauern als der Gemeinde, pointiert Mooser zutreffend.114 Denn mit der Verweigerung der Nutzung der kollektiven Ressourcen war, solange die Marken noch nicht geteilt waren, der Existenz des Landlosen in der Bauerschaft die ökonomische Grundlage entzogen. So verfügten die pauperes, die zudem von jedweder politischen Mitwirkung ausgeschlossen blieben, auch nach der Beseitigung der al110 Mooser (1979), S. 239. Die Allmende war erst nach 1850 fast überall aufgelöst; s. Brakensiek (1991) und Brakensiek (2004). 111 Zitiert nach Mooser (1979), S. 239. 112 So Mooser (1984), S. 206. 113 S. Mooser (1979), S. 239; allerdings war dies im 18. Jahrhundert noch anders gewesen. So stellte der Kammerassessor Hoffbauer 1787 fest, dass zur Ansiedlung eines Neubauern oder bloßen Hausbesitzers die Zustimmung von zwei Dritteln der „Interessenten“, d. h. der Gemeindemitglieder, notwendig sei; s. STAM, KDK Minden III 431, fol. 128. 114 S. Mooser (1979), S. 239. Eine exakte Trennung der verschiedenen Sphären ist zumeist allerdings nicht möglich. Die ländliche Gemeinde war vor der Beendigung der Agrarreformen eben noch immer nicht allein Siedlungsverband und politische Einheit, sondern auch Wirtschaftsgenossenschaft.
204
III. Das Niederlassungsrecht
ten Ordnung noch immer über keinen im Rechtsalltag wirklich durchsetzbaren Anspruch auf Niederlassung. Eine Regelung des Domizil- bzw. Heimatrechts, zu der die kommunale Armenunterstützungspflicht doch nötigte, kannte man in Westfalen bis in die 1840er Jahre nicht.115
115 Im Hochstift Osnabrück wurde die Gewährung der Armenunterstützung seit 1774 von einem zehnjährigen Aufenthalt am Orte abhängig gemacht, s. Mooser (1979), S. 239, Anm. 23. G. Stüve beklagte 1851 den „Mangel aller festen Grundsätze“ im Heimatrecht der Häusler. Die Bauern seien bei der Aufnahme von Heuerlingen „lediglich nach Gutdünken“ verfahren; zitiert nach Mooser (1979), S. 239, Anm. 24, m. w. Nachw.
IV. DER GEWERBEBETRIEB A. FREIE PREISBILDUNG, PREISTAXEN UND OBRIGKEITLICHE QUALITÄTSKONTROLLEN 1. Die Übergangszeit Mit der Aufhebung der Zünfte war überall dort, wo die Gemeinschaft der Handwerker regelnd und ordnend tätig geworden war, ein Vakuum entstanden, das es nun auszufüllen galt. Auch auf dem Gebiete der Preis- und Qualitätskontrollen stellte sich zu Beginn der französischen Herrschaft die Frage, ob mit den bestehenden Rechtstraditionen gebrochen werden sollte. a. Liberalisierung in den Nahrungsmittelhandwerken Nachdem sich der Gedanke der Freiheit auf dem Gebiet des Gewerberechts einmal Bahn gebrochen hatte, durfte man erwarten, dass mit den Zünften zugleich auch die Lebensmitteltaxen beseitigt würden. Solch radikaler Veränderung standen aber unüberwindliche Sachzwänge, die ihren Grund in ökonomischen und psychologischen Faktoren gleichermaßen hatten, entgegen. Große Teile der Bevölkerung lebten in ständiger Sorge um die Erwirtschaftung des bloßen Existenzminimums. Deshalb waren die fremden Herren, wie in Frankreich selbst, so auch in Westfalen gezwungen, ihren reformerischen, auf die weitestgehende Durchsetzung liberaler Ideen im Wirtschaftsleben gerichteten Anspruch mit dem tradierten Gedanken des Verbraucherschutzes zu versöhnen. Immerhin war es ein Fortschritt, dass der neue Gesetzgeber nun, wenn auch wenig konkrete, so doch brauchbare Rechtsgrundlagen für die Preisbestimmung schuf: Art. 11 des großherzoglich bergischen Organisationsdekrets vom 13. Oktober 1807 betraute die Municipal-Direktoren mit der Aufgabe, „die Preise der einer Taxe unterworfenen Eßwaren“ zu bestimmen. In dem zu Frankreich gehörenden Nordwestfalen galten die Bestimmungen des Art. 30 des französischen Gesetzes „über die Brot- und Fleischtaxen vom 22. Juli 1791, die Municipal- und correctionelle Polizei betreffend“.1 Da die praktische Durchführung der Preiskontrollen schon vor Beginn der Fremdherrschaft wenigstens partiell den Kommunen oblegen hatte, konnte die neue Administration die bestehenden Verhältnisse fortgelten lassen, ohne eigens neue Organisationsstrukturen schaffen zu müssen. Das Taxensystem für die Grundnahrungsmittel Brot und Fleisch mit der seit altersher gewöhnli1
S. Stellungnahme des Innenministers v. Brenn an den Gewerbeminister v. Schuckmann v. 12.12.1831, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, BI 1 Nr. 23, Bd. 1.
206
IV. Der Gewerbebetrieb
chen, regelmäßigen Anpassung an die Schwankungen von Getreide- und Viehpreisen wurde demnach beibehalten bzw. dort, wo es außer Kraft gesetzt worden war, wieder eingeführt. Die örtlichen Maires entschieden allein über die Festsetzung der Taxen.2 Die mit der Preisbestimmung verbundenen, schon aus der Zunftzeit bekannten Missstände und Querelen rissen naturgemäß auch während der französischen Herrschaft nicht ab; sie wurden nur durch neue Instanzen entschieden: Die von der Mitwirkung an der Kommunalverwaltung ausgeschlossenen und damit jeden Einflusses auf die Preisgestaltung beraubten Bäcker und Metzger wandten sich mit ihren Klagen wegen fehlerhafter Taxierung und Übervorteilung fortan an den Präfekten als die nächsthöhere Instanz.3 Nach dem Urteil der Zeitgenossen allerdings wirkte der Fortbestand der obrigkeitlichen Preisfestsetzung aber auch nach Einführung der Gewerbefreiheit nicht eigentlich benachteiligend, sondern eher stabilisierend auf das Wirtschaftsergebnis der betroffenen Nahrungsmittelhandwerke.4 b. Das Ende der Qualitätskontrollen Wesentlicher waren die Veränderungen, welche die französische Herrschaft in dem großen Bereich der Qualitätskontrollen herbeiführte. Die institutionalisierte Prüfung der wichtigsten Nahrungsmittel wurde beseitigt. Jedermann konnte schlachten und backen, ohne über die Güte seiner Produkte Rechenschaft ablegen zu müssen. Unter solchen Umständen ließ die Beschaffenheit der angebotenen Waren schon bald zu wünschen übrig. Dennoch griffen die Behörden nunmehr nur noch bei eklatanten Verstößen gegen die Sorgfaltspflichten der Produzenten ein. Besonders plastisch tritt das Unbefriedigende dieser Situation in einem Fall, der in Siegen bekannt wurde, hervor: Den drei Hirten der Stadt, die zugleich die örtlichen Tierärzte waren, hatten sich mit der Einführung der Gewerbefreiheit eine neue Einnahmequelle eröffnet. Sie kauften krankes Vieh billig auf, schlachteten es und setzten das Fleisch zu konkurrenzlos niedrigen Preisen ab. Erst auf die Beschwerde der örtlichen Metzgermeister, die sich in ihrem Gewerbe beeinträchtigt sahen, wies der Dillenburger Präfekt den zuständigen Maire darauf hin, dass es „Obliegenheit der Polizey“ sei, gegen den Verkauf von gesundheitsschädlichem Fleisch „zweckdienlich Maaßregeln zu ergreifen“.5 Die Hirten sollten künftig besonders gut beaufsichtigt werden, da sich ihnen zahlreiche Gelegenheiten zu unerwünschter Tätigkeit böten. Wirksamere Prohylaxe wäre aber, wie man schon damals wusste, die regelmäßige Untersuchung des Schlachtviehs und Fleisches gewesen. Zu solch fühlbaren Eingriffen in das Wirtschaftsleben wollte sich die in mancher Hinsicht an einem ideologisch verstandenen Liberalismus orientierte Rechtsordnung der Fremdherrschaft denn aber doch nicht verstehen. 2 3 4 5
Münstermann (o. J.), S. 27. Lahrkamp (1976), S. 529. S. Nachweise über die im Jahre 1810 bei Aufhebung der Zünfte und jetzt (1820) vorhandenen Gewerbe, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458. Irle (1972), S. 94, 95.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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Das einstmals effiziente System der Gewerbeaufsicht war während der Franzosenzeit einer partiellen, nur wenige Bereiche des Wirtschaftslebens erfassenden Materialprüfung gewichen. Sie beschränkte sich nach französischem Recht auf die Gewerbe der Apotheker und Goldschmiede. Für die letzteren wurde zum 1. Mai 1812 in Münster ein „bureau de garantie“ eröffnet, in welchem sie ihre Waren zur Überprüfung des Edelmetallgehaltes vorlegen mussten.6 Das Leggewesen hingegen lag darnieder, die Kontrolle über die Buchdrucker war weniger Gewerbeaufsicht denn Pressezensur.7 2. Auf der Suche nach dem richtigen Weg – die konzeptionslosen Jahre 1815–1845 Mit dem Ende der Fremdherrschaft war die Zeit des Experiments und der Reform auf dem Gebiet der Gewerbeverfassung in Westfalen keineswegs vorbei. Die Rechtslage, die der preußische Staat bei der Inbesitznahme seiner neuen, westlichen Provinzen vorfand, war zu unfertig, zu zersplittert und von den Verhältnissen in Ostelbien zu sehr unterschieden, als dass sie längerfristig hätte fortbestehen können. Das galt insbesondere für die Bestimmungen über Preistaxen und Qualitätskontrollen; auf diesem Felde wurde die Diskrepanz der Rechtsverhältnisse innerhalb des wieder erstarkten preußischen Staates besonders deutlich sichtbar. a. Die Nahrungsmitteltaxen Schon 1808 waren die Viktualientaxen in einem Teil der preußischen Monarchie aufgehoben worden;8 das Edikt vom 7. September 1811 hatte dann für den gesamten Umfang der Monarchie alle polizeilichen Preisbestimmungen für Lebensmittel, Kaufmanns- und Bäckerwaren beseitigt (§ 161).9 Als der preußische Staat im Jahre 1815 seine verlorenen Länder im Westen wiedergewann, wurden dort die gewerbepolizeilichen Bestimmungen seiner Edikte vom 2. November 1810 und vom 7. September 1811 zwar nicht formell eingeführt. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Rechtslage innerhalb der Monarchie begann aber doch eine neue, durch den überall spürbaren Reformeifer ins Werk gesetzte, höchst eigentümliche Entwicklung: 6 7
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Lahrkamp (1976), S. 528. Kaiserl. Dekrete v. 5.2.1810 und 3.8.1810; s. dazu Verfügungen des Präfekten des Lippe-Departments, Graf Dusaillant, v. 26. Juli 1811 und 31. Juli 1811, in: STAM, Kaiserreich Frankreich, Gruppe A I Nr. 2. Zum Schicksal des wichtigsten Bereiches der obrigkeitlichen Qualitätskontrolle, dem Leggewesen, in Westfalen während der Fremdherrschaft s. Wadle (1982), S. 155, 156. § 11 der Verordnung vom 24. Oktober 1808 wegen Aufhebung des Zunftzwanges und Verkaufs-Monopols der Bäcker-, Schlächter- und Hökergewerbe in den Städten der Provinzen OstWestpreußen und Lithauen, in: Pr. Ges. Sammlung, Bd. 1 (1822), S. 315; s. dazu Mascher (1866), S. 487; Rüffer (1903), S. 278–280. Pr. Ges. Sammlung (1811), S. 263 ff.
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IV. Der Gewerbebetrieb
Im Osten der Monarchie, wo die Taxen aufgehoben waren, gab es allenthalben Bestrebungen, sie wieder einzuführen. Dort war der von der freien Konkurrenz erhoffte, mäßigende Einfluss auf die Preisgestaltung ausgeblieben.10 Das zeigte sich nicht nur im Jahre 1815, als die Preise für die wichtigsten Nahrungsmittel ungewöhnlich hoch standen.11 Viel deutlicher noch wurde diese unerwartete Entwicklung im Jahre 1819, als die Getreidepreise stark absanken, die Verbraucherpreise für Brot und Bier sich dagegen kaum verringerten.12 Für die Kunden besonders ärgerlich war, dass Preissteigerungen für Backwaren noch immer, wie schon zur Zunftzeit üblich, durch die Reduzierung des Brotgewichtes erreicht wurden. Mangels geeigneter Kontrollmöglichkeiten konnte sich das Publikum vor der Willkür der Bäcker kaum schützen. Die Behörden lasteten der Steuergesetzgebung, vor allem aber den Preisabsprachen der Handwerker das Ausbleiben echten Wettbewerbs unter den Nahrungsmittelhandwerkern an.13 Es war nämlich üblich geworden, dass die Meister einzelner Orte die Preise für ihre Produkte in aller Öffentlichkeit verabredeten. Der Widerstand der Verwaltung änderte an dieser Praxis nichts, da den Behörden jede rechtliche Handhabe fehlte, gegen das Anbieterkartell vorzugehen. Zwar durften die Zünfte nach § 199 Tit. 8, Teil 2 des ALR keine verbindlichen Preise für die Verfertigung von Handwerkswaren festsetzen. Nach Aufhebung des Zunftzwanges wurden die Preisabsprachen aber als erlaubte Privatvereinbarungen angesehen. Diese Verabredungen besaßen zwar, wie durch die Königl. KabinettsOrdre vom 19.4.1813 klargestellt worden war, keine Rechtsverbindlichkeit, da sie gegen den Grundsatz der Gewerbefreiheit verstießen.14 Doch machte sich auch niemand, der einen solchen Vertrag unterschrieb, strafbar, so dass die Handwerker wegen ihrer Preispolitik keine Sanktionen zu befürchten hatten. Natürlich konnte sich die Verwaltung mit dieser Entwicklung, von der sie offenkundig überrascht worden war, nicht abfinden. Sie wollte „das Volk gegen die Folgen dieser unnatürlichen Verhältnisse schützen“15 und verlangte deshalb die Wiedereinführung der Polizeitaxen. Unterstützt wurde sie in ihrem Bemühen von den Provinzialständen 10
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Schreiben des Polizeiministeriums an das Gewerbeministerium vom 28.2.1815, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1; v. Rohrscheidt (1888), S. 370; Kaufhold (1982), S. 73–114 (111, 112); a. A. Leuchs, der allerdings stets pointiert den gewerbefreiheitlichen Standpunkt vertrat: „In Preußen sind die Preise der Lebensmittel nach Aufhebung der Taxen nicht nur nicht gestiegen, sondern herabgegangen;“ vgl. Leuchs (1827), S. 167. Bericht der Reg. Potsdam an das Finanzministerium v. 21.7.1815, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, B I 1 Nr. 23, Bd. 1, fol. 28. Schreiben der Reg. Cöslin v. 5.11.1819 an den Minister v. Bülow, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, B I 1 Nr. 23, Bd. 1. Bericht der Reg. Potsdam an das Finanzministerium v. 21.7.1815; darauf Antwort des Finanzministeriums v. 21.7.1815 sowie Stellungnahme des Polizeiministers v. 26.7.1815 und des Innenministers v. Schuckmann v. 5.12.1815, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, B I 1 Nr. 23, Bd. 1, fol. 28, 34, 40, 62, 63. Kabinetts-Ordre v. 19.4.1813, in: Pr. Gesetz-Sammlung 1813, Nr. 12, S. 7. So die Reg. Potsdam im Schreiben v. 8.6.1816 an den Finanzminister v. Bülow, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1, fol. 21–24 (24).
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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„aller Klassen in allen Provinzen“,16 die sich einstimmig gegen die freie Preisbildung für die wichtigsten Nahrungsmittel ausgesprochen hatten. Auch die zuständigen Ressortminister von Schuckmann und von Bülow betrachteten die Preisabsprachen der Handwerker als Verhöhnung der Gewerbefreiheit, welche dem Geist der einschlägigen Gesetzgebung zutiefst widerspräche. Das selbstsüchtige Verhalten der Meister zeige, so äußerten sie desillusioniert, dass die Gewerbefreiheit insgesamt immer problematischer werde.17 Um dem Kartell ein Ende zu machen, schlug der Polizeiminister schließlich vor, Strafbestimmungen gegen die Preisabsprachen der Handwerker zu erlassen – ein Gedanke, der allerdings ebensowenig verwirklicht wurde wie die Wiederbelebung der Taxen im Osten. Ganz anders wurde das Problem der Preisbestimmung in den Nahrungsmittelhandwerken dort beurteilt, wo die Taxen, wie in Rheinland-Westfalen, die stürmischen Jahre der Reform überdauert hatten. Gerade zu der Zeit, als der Osten mit Macht nach der Wiederherstellung der obrigkeitlichen Preisfestsetzung strebte, suchte sich der Westen der Monarchie von eben diesen Preisbindungen zu befreien. Eigentliche Ursache für die auch in Westfalen bald immer vernehmlicher werdende Forderung nach einer Liberalisierung war die Missernte des Jahres 1815/1816. Infolge der hohen Getreidepreise hatten zahlreiche Nahrungsmittelhandwerker ihr Gewerbe aufgeben müssen. In den Städten arbeiteten nur noch die wohlhabenden Bäcker, die über größere, frühzeitig und noch zu günstigen Konditionen eingekaufte Getreidevorräte verfügten, weiter. Selbst diese aber wollten die Gunst der Stunde nicht ungenutzt verstreichen lassen und verlangten höhere Preise. In der ländlichen Umgebung der Städte dagegen wurde das Brot zur gleichen Zeit noch weitaus billiger verkauft.18 Diese Unausgewogenheit des Marktes rief in der um das Nötigste bangenden Bevölkerung der Stadtgemeinden beträchtliche Unruhe hervor. Um hier ausgleichend zu wirken und die gespannte Situation möglichst schnell zu entkrampfen, griffen die westfälischen Regierungen zu dem naheliegendsten Mittel: Sie führten den freien Markt auch für den bisher ausgeschlossenen Bereich der Grundnahrungsmittel ein.19 Die Verfügung der Regierung Minden über die Aufhebung der Taxen datiert vom 21. Juni 1816, die der Regierung Arnsberg vom 30. Dezember 1816. Fast gleichzeitig wurde auch im Regierungsbezirk 16 17
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Schreiben des Ministers v. Schuckmann an den Gewerbeminister v. Bülow v. 16.2.1823, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1. Schreiben des Ministers v. Schuckmann an d. Finanzminister v. Bülow v. 28.2.1815, 5.12.1815, 16.2.1823 und 6.4.1823, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1; die Behauptung Viebahns, die Entbehrlichkeit der Polizeitaxen sei durch die Erfahrung festgestellt und ihre Wiedereinführung sei nicht ernstlich angeregt worden, ist demnach unrichtig, s. v. Viebahn (1868), S. 597. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 18.2.1817, in: Stadtarchiv Soest XXXV a 22. Schreiben der Reg. Arnsberg an das Handelsministerium v. 23.6.1818, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1, fol. 97–98. Zu den Nachteilen der Fleisch- und Brottaxen aus liberaler Sicht: Böhmert (1858), S. 354–363; desgl. Mascher (1866), S. 331. Zu den Fleischpreisen s. Lenz (1975).
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IV. Der Gewerbebetrieb
Münster das Taxenwesen beseitigt.20 Langwierige rechtliche Überlegungen gingen dieser Liberalisierung nicht voran. Die Verwaltung stand unter Handlungszwang, da die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher durch die Verringerung der Zahl der Anbieter immer kleiner geworden und die Segnungen der freien Konkurrenz damit schon allzu sehr gemindert worden waren. Im Regierungsbezirk Arnsberg gab es noch einen weiteren, höchst eigentümlichen Grund für die Aufhebung der Taxen: Dort hatte sich kraft Gewohnheit auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit die Überzeugung erhalten, dass die Bäcker in den Städten einerseits verpflichtet seien, die Bevölkerung mit Brot zu versorgen, andererseits aber, gleichsam als Gegenleistung, über die Aufhebung des Zunftzwanges hinaus das Recht zum ausschließlichen Verkauf von Backwaren bewahrt hätten.21 In dieses anachronistische Rechtsverhältnis sollte die Beseitigung der obrigkeitlichen Preisbestimmung Bewegung bringen und der Konkurrenzwirtschaft den Weg ebnen. So hoffte man, dass endlich auch auf dem Markt für die notwendigsten Nahrungsmittel die Gewerbefreiheit eingeführt werde. Um eine willkürliche oder für den Kunden nicht überprüfbare Preisbestimmung zu verhindern, hatten die westfälischen Behörden mit der Liberalisierung gewisse Auflagen verbunden: Die Bäcker und Fleischer sollten das Gewicht ihrer Produkte künftig deklarieren. Die Regierung Arnsberg verlangte, dass sie in den Geschäftsräumen Tafeln anbringen und dort die jeweils geltenden Preise vermerken sollten.22 Die Nahrungsmittelhandwerker hatten diese für einen Monat im Voraus festzusetzen und bekanntzugeben. Da sie ihre Waren nunmehr jedenfalls in den größeren Städten nach festen Gewichten verkaufen mussten,23 waren die Preise für die Kunden erstmals wirklich vergleichbar geworden. Solche Bäcker und Brauer, die sich vor anderen durch den Absatz guter und preiswerter Waren auszeichneten, wurden im Amtsblatt der Regierungen öffentlich belobigt, diejenigen, die ihre Kunden sichtbar übervorteilten, hingegen getadelt.24 Wer sich Unkorrektheiten zuschulden kommen ließ, wurde bestraft. Die münsterische Regierung hatte angeordnet, dass jeder Bäcker der Behörde monatlich das Verzeichnis seiner Brotpreise einsenden musste. Auch im Münsterland suchte die Administration mit Lob und Tadel ein echtes Konkurrenzverhältnis unter den Meistern nicht nur zu schaffen, sondern auch dauerhaft zu erhalten, um so der latent vorhandenen Gefahr der Kartellbildung entgegenzuwirken. Natürlich mühten sich die Handwerker aber, diese Auflagen abzuschütteln, um in ihren Geschäften frei schalten zu können. Unter Berufung auf die §§ 161, 162 der die Gewerbefreiheit konstituierenden Verordnung vom 7.9.1811 verlangten sie, von den lästigen Deklarierungspflichten befreit zu werden. Vor allem die Bäcker fühlten sich eingeengt. Wiederholt wiesen sie auf 20 21 22
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v. Rohrscheidt (1888), S. 371; Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bocholt v. 9.2.1820 an die Reg. Münster, in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. S. Anm. 19. Verordnung der Reg. Arnsberg v. 30.12.1816, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg, 1817, Stück 3, Nr. 27; s. auch in: Stadtarchiv Soest, XXXV a 22; Bekanntmachung der Reg. Arnsberg v. 31.3.1818, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 11.4.1818, vgl. auch in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 1. Verordnung v. 30.12.1816, in: Amtsbl. d. Reg. Arnsberg, Jahrgang 1817, Stück 3, Nr. 27. So z. B. Amtsbl. Reg. Minden v. 29.9.1817, S. 459–461; Amtsbl. Reg. Minden v. 26.2.1824, S. 77.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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die starken Schwankungen der Korn- und Holzpreise hin, die es ihnen unmöglich machten, die Preise für Wochen im voraus festzusetzen.25 Schon 1817 war in Soest öffentlich gerügt worden, dass die Bäcker trotz gesunkener Kornpreise die Brotpreise nicht nur nicht ermäßigten, sondern noch versuchten, die Kunden durch den Verkauf zu leichten Brotes zu übervorteilen. Man sah angeblich, wie ihr Wohlstand in Anstoß erregender Weise stieg, während zu eben dieser Zeit viele der übrigen Einwohner zusehends verarmten. Die Phantasie der biederen Soester reichte durchaus hin, sich zutreffende Vorstellungen vom Zustandekommen der überhöhten Nahrungsmittelpreise zu machen; Bergius formulierte noch Jahrzehnte später mit entwaffnender Deutlichkeit: „Personen gleichen Handwerks kommen selten zusammen, ohne dass sich ihr Gespräch zu Verabredungen gegen das Publikum hinlenkt und mit Entwürfen zur Erhöhung der Preise endigt.“26 Solchem Eigennutz, „der Willkür einer einzelnen Gewerksklasse“,27 glaubte sich die Soester Bevölkerung hilflos preisgegeben. Die Forderung nach umgehender Restituierung der Brottaxe verstand sich da schon bald von selbst. Die Landräte des Arnsberger Bezirks, dem liberalen Credo der Beamten der Reformzeit verpflichtet, stellten dagegen noch 1818 ungerührt fest, die Aufhebung der Taxen habe sich bewährt.28 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Annahme Kaufholds, nicht die Gewerbefreiheit, sondern die zwischen 1811 und 1815 gestiegenen Getreidepreise sowie die besonderen Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre seien die eigentliche Ursache der Preissteigerungen bei den Nahrungsmitteln gewesen,29 in dieser Allgemeinheit als fragwürdig. Obgleich sich der Marktpreis nach Aufhebung der Taxen frei bildete, fielen nämlich, als die Rohstoffpreise sanken, die Verbraucherpreise im Allgemeinen nicht mit. Das Kartell der Anbieter, das sich in der Überschaubarkeit kleiner Städte leicht bildete, setzte die natürliche Wirkung von Angebot und Nachfrage außer Kraft. Überschlägige Rechnungen der Verwaltung in jenen Jahren ergaben, dass der tatsächlich verlangte Brotpreis weitaus höher lag als derjenige, der bei dem Fortbestehen von Taxbestimmungen hätte gefordert werden können. Die Ursache für die verbraucherfeindliche Preisentwicklung lag demnach nicht zuletzt im Fortfall der Taxen. Auch höheren Ortes verschloss man sich endlich nicht mehr der Erkenntnis, dass die freie Preisbestimmung für die hohen Lebensmittelpreise verantwortlich war.30 Im Jahre 1819 war es dann nur noch eine Minderheit der Arnsberger Landräte, die sich gegen die Wiedereinführung der Taxen wandte. Die Regierung in Arnsberg erklärte, dass die Reform nur Nachteile gebracht habe. Dennoch beließ die Regierung es trotz gegenteiliger Überzeugung zu25 26 27 28 29 30
Schreiben der Soester Bäcker an den Magistrat der Stadt v. 23.10.1816 und Protokoll ihrer Versammlung v. 21.2.1817, in: Stadtarchiv Soest XXXV a 22. Bergius (1857), S. 22, 23. Schreiben v. 19.8.1818 (o. Verf.), in: Stadtarchiv Soest XXXV a 22. Schreiben der Reg. Arnsberg an den Magistrat der Stadt Soest v. 31.3.1818; in: Stadtarchiv Soest XXXV a 22. Kaufhold (1982), S. 73–114 (112). Bericht der Reg. Arnsberg v. 23.6.1819 an Oberpräs. v. Vincke, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1.
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IV. Der Gewerbebetrieb
nächst bei der freien Preisbestimmung, um die Zahl der Bäcker zu erhöhen und dann mittelbar, durch stärkere Konkurrenz, Preissenkungen eintreten zu lassen. Nur wenig später verlangten aber nicht mehr allein die Eingesessenen des Arnsberger Bezirks, sondern auch die Bevölkerung im Bezirk Minden die Wiedereinführung der Taxen. Ein entsprechender Antrag der Regierung wurde 1823 genehmigt. Diesem Beispiel folgten die beiden anderen westfälischen Regierungsbezirke dann umgehend nach.31 Die Brottaxe wurde nun wieder wie eh und je unter Berücksichtigung des Getreidepreises und der Qualität des Kornes aufgrund eines amtlich veranstalteten Probebackens berechnet. Dieses Verfahren führte man gewöhnlich für mehrere Orte gemeinsam durch. Für den Kreis Hagen beispielsweise fand die Preisbestimmung in Herdecke statt. Auf die dort festgestellte Taxe wurde für die übrigen Orte ein Zuschlag als Entgelt für die Transportkosten des Getreides oder Mehles vom Getreideumschlagplatz Herdecke aus gewährt.32 Die Ortsbehörden machten die so festgestellten Festpreise dann jeweils monatlich im Voraus in den einschlägigen Lokalzeitungen bekannt.33 1831 kam es aber – diesmal von höchster Stelle ausgehend – zu einer erneuten Kehrtwendung. Der preußische Gewerbeminister von Schuckmann ergriff die Initiative und suchte den Polizeiminister von Brenn für eine Beseitigung der Polizeitaxen in Westfalen zu gewinnen. Er, der im Jahre 1815 selbst die Verbraucher in Ostelbien vor willkürlicher Preisfestsetzung der Bäcker und Fleischer durch den Erlass obrigkeitlicher Preisbestimmungen schützen wollte und der die Wiederherstellung der Taxen in Westfalen zu Beginn der zwanziger Jahre betrieben hatte, bedauerte nun, dass es nicht bei der Taxfreiheit geblieben war. Zur Durchsetzung seines Anliegens bediente er sich nicht nur der damals hinlänglich bekannten Sachargumente gegen die Taxen. Er griff vielmehr zu einer fadenscheinigen Rechtsbegründung, indem er fälschlicherweise behauptete, die Taxen in den ehemals bergischen Teilen des Regierungsbezirks seien während der Fremdherrschaft beseitigt gewesen und erst durch die preußische Regierung „ganz unbefugt“ wieder hergestellt worden.34 Die Argumentation Schuckmanns entbehrte insofern nicht ganz des Realitätsbezuges, als es für die Aufhebung der Taxen im Jahre 1816 tatsächlich an einer gesetzlichen Grundlage gefehlt hatte; deshalb hatten die Regierungen bei der Restituierung der Preisbestimmungen im Jahre 1822 ebenfalls geglaubt, auf eine solche Legitimation verzichten zu können.35 Als Schuckmann nun, zehn Jahre später, die Taxen wieder aufheben wollte, stieß er mit seinem Plan naturgemäß nicht auf Verständnis, sondern auf allgemeines, fassungsloses Erstaunen. Solche Konzeptionslosigkeit mochte der Polizeiminister von Brenn denn doch nicht mittragen. 31 32 33 34 35
Zur Wiedereinführung der Taxen in Soest im Jahre 1824/25 s. Geck (1825), S. 200, 201. Hopff (1922), S. 59. So z. B. im Soester Wochenblatt v. 29.5.1830 für den Monat Juni 1830, in: Stadtarchiv Soest, XIX b 1. Schreiben des Ministers v. Schuckmann an den Innenminister v. Brenn v. 18.5.1831, in: GStA/ PK, Ministerium d. Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, B I Nr. 23, Bd. 1. So Stellungnahme des Innenministers v. Brenn gegenüber dem Gewerbeminister v. Schuckmann v. 12.12.1831, GStA/PK, Ministerium des Innern für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120, B I Nr. 23, Bd. 1.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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Er verwies auf die bevorstehende Neuregelung des Gewerberechts und betrachtete die Angelegenheit damit als erledigt. Trotz dieser Abfuhr konnte Schuckmann aber Teilerfolge erzielen: Er ließ verlauten, dass es dem geltenden Recht widerspreche, Handlungen zu bestrafen, die nicht durch das Gesetz verboten seien.36 Eben dieser Fall lag aber bei Verdikten wegen Verstoßes gegen die Taxbestimmungen vor. Vermutlich solche Überlegungen waren es auch, welche die Regierung Minden im Jahre 1834 bewogen, die Ersetzung der Taxen durch freiwillige, von den Bäckern und Fleischern anzufertigende Nachweise zu beantragen.37 Der Minister erteilte die Genehmigung umso bereitwilliger, als „überhaupt die Befugnis der Polizeibehörde zur Aufstellung von Taxen großem Bedenken unterliege, und des Königs Majestät da, wo nicht aufgrund besonderer Gesetze noch polizeiliche Taxen stattfänden, nur eine solche Einrichtung genehmigt habe, wie jetzt in Minden hergestellt werden solle“.38 Etwa zur gleichen Zeit kam die regelmäßige Festsetzung der Taxen auch im Regierungsbezirk Arnsberg außer Gebrauch, ohne dass das Verfahren aber förmlich aufgehoben worden wäre. Angesichts der ablehnenden Haltung, die das zuständige Ministerium nun gegenüber dem Taxwesen einnahm, duldete die Regierung die freie Preisbestimmung. Erst 1838, als sie sich durch zahlreiche Klagen über zu leicht gebackenes bzw. im Verhältnis zu den Kornpreisen zu teueres Brot wiederum zum Handeln genötigt sah, erneuerte und erweiterte die Arnsberger Regierung die Vorschriften über Brot- und Fleischtaxen vom 12. April 1822 und 15. November 1825.39 Seither wurde in allen Städten des Regierungsbezirks, in welchem die obrigkeitliche Preisbestimmung durch Regierungsverfügung vom 18. Oktober 1823 eingeführt worden war, die Brottaxe wöchentlich und die Fleischtaxe vierzehntäglich durch die Ortsbehörden festgesetzt und durch Aushänge an den Geschäftslokalen bekannt gemacht. Zuwiderhandlungen der Nahrungsmittelhandwerker bedrohte man mit empfindlichen Strafen.40 Dort, wo die Regierungen keine Regelungen getroffen hatten, blieb es weiterhin gleichgültig, ob die Bäcker feststehende Preise mit veränderlichem Gewicht oder feststehendes Gewicht mit veränderlichen Preisen bestimmten.41 Die Folge war, dass niemand wusste, wie viel Brot er wirklich für sein Geld bekam.
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Schreiben des Ministers v. Schuckmann an den Innenminister v. Brenn v. 4.1.1832, in: GStA/ PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120, B I 1 Nr. 23, Bd. 1. v. Rohrscheidt (1888), S. 371, 372. Zitiert nach v. Rohrscheidt (1888), S. 372. Verordnung der Reg. Arnsberg v. 13. November 1838, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg v. 1.12.1838, S. 321–323. Die Strafandrohung hatte gute Gründe: Seit die Behörden Gewicht und Preis des Brotes festsetzten, griffen die Bäcker zu einem ebenso simplen wie wirksamen Mittel, um ihre Einnahmen zu erhöhen: Sie stellten ein Gefäß mit heißem Wasser in den Backofen, so dass das Brot noch einige Tage nach dem Ausbacken schwerer war, als es nach dem Korngehalt hätte sein dürfen, s. dazu die Verordnung der Reg. Arnsberg v. 2.10.1840, in: Amtsblatt Reg. Arnsberg v. 10.10.1840, S. 303. So durch Ministerialreskript v. 2. April 1834 bestimmt, s. v. Rohrscheidt (1887), S. 457–485 (468).
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IV. Der Gewerbebetrieb
Das kaum mehr rational begründbare, in sich widersprüchliche Verhalten der Behörden in der Frage der obrigkeitlichen Preisbestimmung, das nicht einmal im eng begrenzten Bereich Westfalens eine einheitliche, überschaubare und verlässliche Position erkennen ließ, war typisch für den Zustand der preußischen Gewerbeverfassung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die allgemeine Verwirrung und Konzeptionslosigkeit machte eben nicht bei der Detailfrage der Polizeitaxen halt. Sie wurde dadurch vollständig, dass Teile der staatlichen Verwaltung wie auch der Handwerker in Westfalen zunächst noch für längere Zeit unwidersprochen der irrigen Ansicht waren, dass das preußische Gewerbepolizeiedikt vom 7. September 1811 wenn auch nicht ausdrücklich, so doch mittelbar durch die Patente über die Einführung des Allgemeinen Landrechts in Westfalen geltendes Recht geworden sei. Damit wären nach § 161 des Gesetzes alle polizeilichen Preissätze für Lebensmittel, Kaufmanns- und Backwaren in den westlichen Provinzen Preußens längst unwirksam gewesen.42 b. Qualitätskontrollen Nach dem Ende der Fremdherrschaft glaubte man die fast völlige Abwesenheit obrigkeitlicher Qualitätskontrollen insbesondere im Bereich der Nahrungsmittelwirtschaft nicht länger verantworten zu können. Die städtischen Polizeibehörden verschafften sich fortan durch Stichproben ein Bild von der Güte des Fleisches und der Backwaren, die an die Endverbraucher abgegeben wurden. Die Durchführung dieser Prüfungen handhabte man, da gesetzliche Regelungen völlig fehlten und die Lokalbehörden zuständig waren, höchst unterschiedlich. Die Fleischer in Münster empfanden die Kontrollen als schwere Last, deren Notwendigkeit sie aber im Interesse der Konsumenten anerkannten. Umso mehr waren sie darüber aufgebracht, dass große Mengen Fleisches aus den benachbarten Landgemeinden unter Umgehung dieser Qualitätsprüfung in die Stadt gebracht und an den Türen verkauft wurden.43 In Bocholt wurde das Brot allmonatlich nach der Entnahme von Stichproben untersucht. Die Qualitätsprüfung des gesamten Fleisches, wie sie die Schaumeister bzw. besoldete Sachverständige zur Zunftzeit durchgeführt hatten, konnte dagegen dort nicht aufrechterhalten werden.44 In Siegen konnten die Hirten ihr 42
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v. Rohrscheidt (1888), S. 373; s. dazu auch: Petition der Münsterschen Handwerker an den Oberpräsidenten v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1, fol. 207 ff. (210); Petition der Münsterschen Handwerker an den Prinzen Wilhelm v. Preußen v. 2.2.1831, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, Bd. 1; desgl. in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I Nr. 17, Bd. 2, fol. 9–19 (12 f.); Schreiben v. 28.2.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2793, fol. 9. Petition der Münsterschen Handwerker an den Oberpräsidenten v. 15.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1, fol. 207 ff. (213). Daraufhin veranlasste der Oberpräsident die Regierung Münster, für eine ordnungsgemäße Qualitätskontrolle des von auswärts in die Stadt Münster gebrachten Fleisches Sorge zu tragen. Inwieweit die Initiative Erfolg hatte, ließ sich allerdings nicht feststellen; s. Schreiben des Oberpräsidenten v. Vincke an den Vertreter der Münsterschen Handwerkerschaft v. 22.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bocholt v. 9.2.1820 an die Reg. Münster, in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
215
bedenkliches Nebengewerbe ungehindert fortsetzen. 1824 führten die Siegener Metzger erneut Klage darüber, dass die Hirten durch das Schlachten von minderwertigem Vieh den guten Ruf des Metzgergewerbes der Stadt herabsetzten und den Absatz Siegener Fleisches in den Nachbarstädten Olpe, Berleburg und Laasphe erschwerten.45 Auch in den kleineren Orten Westfalens war die Klage über die unzureichende Überprüfung und die fehlende Beanstandung schlechter Arbeit der Nahrungsmittelhandwerker, verbunden mit dem wehmütigen Hinweis auf die funktionierende Qualitätskontrolle zur Zunftzeit, an der Tagesordnung.46 Der Schultheiß von Madfeld im Kreis Brilon wurde besonders deutlich: Das Unterlassen solcher Prüfung sei ein „starker Missgriff“. Die Brote hielten zwar das angegebene Gewicht; sie seien aber nicht gar ausgebacken. Zudem bestünden sie aus einem „Mischmasch von allen Dingen, Roggen, Gerste, Bohnen, Erbsen, Kartoffeln und Gott weiß was für andere Dinge“. Das Backwerk verkleistere die Zähne und sei von so „heilloser Beschaffenheit“, dass schon zahlreiche Einwohner erkrankt seien.47 Strenge Qualitätskontrollen der Lebensmittel durch die Polizei seien dringendst erforderlich. Da es sich bei diesen Schilderungen um keine Einzelfälle, sondern um die Darstellung verbreiteter Verhältnisse handelte, sah sich die Regierung in Arnsberg 1838 erneut veranlasst, die örtlichen Polizeibehörden auf die Notwendigkeit regelmäßiger Kontrolle der Qualität von Brot und Fleisch hinzuweisen. Weil es aber an Ausführungsbestimmungen für diese Anordnung einerseits und der unabdingbar notwendigen fachlichen Kompetenz der Polizei andererseits fehlte, dürfte auch diese erneute Erinnerung ohne heilsame Wirkung geblieben sein.48 Generell lässt sich feststellen, dass der Verbraucherschutz in den größeren Städten Westfalens im allgemeinen den Zeitumständen entsprechend hinreichend entwickelt war, während er in den kleineren Orten sehr zu wünschen übrig ließ. Die daraus resultierenden Unzuträglichkeiten für die konsumierende Bevölkerung sind nicht gering zu schätzen, zumal der ganz ungehinderte Zudrang Ungelernter zu den Handwerksberufen die Qualität der Produkte wenn auch nicht allgemein, so doch im Einzelfall spürbar minderte.49 Was für die Nahrungsmittelhandwerker bewiesen werden kann, lässt sich für alle anderen Gewerbszweige vermuten. Das Fehlen von Kontrollen begünstigt das Schweigen der Quellen; die Mangelfreiheit der Handwerksprodukte wird dadurch aber keineswegs indiziert.
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Irle (1972), S. 95. Bericht der Regierung Arnsberg v. 23.6.1819 an den Oberpräsidenten v. Vincke, in: STAM, Nr. 2774 Bd. 1; so auch die Stellungnahme eines Bürgermeisters aus dem Krs. Ahaus v. 1.5.1819, in: STAM, Krs. Ahaus Nr. 2063; desgl. Schreiben des Landrats des Krs. Brilon v. 12.2.1819, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1388. Schreiben des Schultheißen von Madfeld v. 20.1.1819, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1388. Verordnung der Reg. Arnsberg v. 13.11.1838, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 1.12.1838, S. 321, 322. Droege (1972), S. 173.
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IV. Der Gewerbebetrieb
3. Die neue Gewerbeordnung In das unentwirrbare Gestrüpp mehr oder weniger gut gegründeter Rechtsansichten zur obrigkeitlichen Preisbestimmung in Westfalen sollte erst die allgemeine Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 Klarheit bringen. a. Brot- und Fleischtaxen Die Frage der Aufrechterhaltung der Brot- und Fleischtaxen brachte während der Diskussion über den Inhalt der künftigen Gewerbeordnung all die alten, längst ausdiskutierten Argumente wieder hervor.50 Die Ministerien waren sich uneins, und die Provinzialstände favorisierten verschiedene Lösungsmodelle. Nach den Jahrzehnte dauernden Beratungen der Materie hatte schließlich Einigkeit darüber erzielt werden können, dass die obrigkeitliche Preisbestimmung wenigstens im Grundsatz auch in den westlichen Provinzen der Monarchie entsprechend dem Edikt vom 7. September 1811 aufgehoben werden sollte, allerdings mit der Modifizierung, dass an einzelnen Orten wegen besonderer polizeilicher Rücksichten Taxen für die wichtigsten Nahrungsmittel mit Genehmigung des Ministeriums beibehalten oder neu eingeführt werden durften. Demnach sollten in der Regel keine Polizeitaxen mehr erlassen werden. Wo solche noch bestanden, waren sie innerhalb der Frist eines Jahres aufzuheben. Das galt für die Fleischtaxen ausnahmslos, während die Brottaxen mit Genehmigung der Ministerien in einzelnen Orten beibehalten oder neu eingeführt werden konnten, solange dies durch „besondere Umstände“ gerechtfertigt schien (§§ 88, 89 der Gewerbeordnung vom 17.1.1845).51 Nach dem Willen des Staatsrates sollte der unbestimmte Rechtsbegriff der „besonderen Umstände“ weit ausgelegt werden.52 Mit dieser Durchbrechung des Grundsatzes der Taxenfreiheit hatte es aber noch nicht sein Bewenden. Die Gewerbeordnung forderte die Lokalbehörden zudem auf, die Bäcker dazu anzuhalten, monatlich Preise und Gewichte ihrer Backwaren im Verkaufslokal anzugeben, sich also einer Selbsttaxe zu unterwerfen (§ 90). Auf die Einführung der Gewichtsbäckerei allerdings hatte die Gewerbeordnung sehr zum Missfallen der Kunden verzichtet. Überall dort, wo keine Taxen angeordnet waren, wusste deshalb auch künftig niemand, wie viel Brot er für sein Geld bekam. Nicht zuletzt deshalb hielten die Westfalen an den Taxen fest. Noch im Jahre 1845 wurde der Fortbestand der obrigkeitlichen Preisbestimmung in der Stadt Münster und in den Kreisen Beckum und Warendorf genehmigt.53 1846 gaben die zuständigen Ministerien zahlreichen weiteren Anträgen aus dem Regie50 51 52 53
Eine Zusammenstellung der verschiedenen Ansichten nach den Akten des Kgl. Staatsrates aus dem Jahre 1844 findet sich bei v. Rohrscheidt (1888), S. 373, 374. Pr. Ges. Sammlung 1845, Nr. 2541, S. 41. Schreiben des Innenministers Graf v. Arnim an den Finanzminister v. Flottwell v. 21.7.1845, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 2. Schreiben des Finanzministers v. Flottwell an den Innenminister v. Manteuffel v. 5.9.1845, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 2, fol. 5.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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rungsbezirk Arnsberg statt, so dass die Preisbindung in den Kreisen Hagen und Iserlohn sowie in den Städten Arnsberg, Olpe, Siegen, Feudenberg, Meschede, Laasphe, Obermarsberg, Hallenberg, Hamm und Kamen beibehalten werden konnte.54 1847 kamen noch Altena und Plettenberg hinzu.55 Für die wichtigsten Nahrungsmittel galt demnach in weiten Teilen Westfalens auch nach Erlass der Gewerbeordnung von 1845 nicht die freie Preisbestimmung. Lediglich die Polizeistrafen bei Verstößen gegen die Taxbestimmungen fielen nun niedriger aus.56 Natürlich stieß die Fortdauer der fixierten Preise auf den Widerstand der Bäcker. Sie suchten sich nicht nur durch Verstöße gegen die Bestimmungen einen Freiraum in der Preisgestaltung zu verschaffen; sie wollten vielmehr die Taxbestimmungen selbst zu Fall bringen.57 Dies gelang ihnen aber nicht. Die Verordnung vom 9.2.1849 brachte vielmehr noch eine Erweiterung der bestehenden Vorschriften. Deren § 72 ließ abweichend von § 90 der Gewerbeordnung von 1845 an Stelle der monatlichen Selbsttaxen Preisbestimmungen für einen von der Polizei zu bestimmenden Zeitraum treten. Die Vorschrift galt nicht allein für Bäcker, sondern allgemein für die Verkäufer von Backwaren. Ob die Behörde eine entsprechende Bestimmung traf, stand in ihrem Ermessen. Neu war auch eine in § 73 der Verordnung vom 9.2.1849 enthaltene Regelung: Die Bäcker, die der obrigkeitlichen oder auch der Selbsttaxe unterworfen waren, hatten in ihrem Verkaufslokal eine Waage aufzustellen, die den Kunden das Nachwiegen der gekauften Backwaren ermöglichen sollte. Diese im Grunde moderaten, relativ liberalen Regelungen befriedigten aber niemanden. Noch immer hatte der Gesetzgeber nicht den richtigen Weg gefunden, um die widerstreitenden Interessen von Produzenten und Konsumenten zum Ausgleich zu bringen, und wie eh und je dominierte in der Verwaltung auch bei vergleichbarer Sachlage einmal die taxenfreundliche, dann wieder die gewerbefreiheitliche Tendenz. In den auf Getreideimport angewiesenen Regionen Südwestfalens hielt man die Bestimmungen der §§ 72, 73 der Verordnung von 1849 keineswegs für ausreichend, um auch im Fall der Getreideknappheit einen angemessenen Brotpreis gewährleisten zu können. Dort kannte man noch die Zeiten, in denen die Getreidepreise so hoch standen, dass der „geringe Mann“ keinen Scheffel Kornes vorrätig hatte und deshalb allein auf den Einkauf im Laden angewiesen war. Niemanden wunderte es da, dass die Bäcker bei ungewöhnlichen Nachfragesteigerungen die Preise kräftig erhöhten. Gewöhnlich hatten sie in diesem Falle die heilsame Wirkung der Konkurrenz schon längst durch Preisabsprachen außer Kraft gesetzt, wenn die Behörden auf die Marktentwicklung mit der Einführung bzw. Anpassung der Taxen reagierten. Solches ließ sich mit den Bestimmungen der Verordnung von 1849 nicht ver54 55 56 57
Schreiben des Innen- und Finanzministers an die Reg. Arnsberg v. 7.3.1846 und 31.1.1847, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 2. Wie Anm. 54. Schreiben der Minister v. Flottwell und v. Manteuffel an die Regierung Arnsberg v. 7.7.1846, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Handel, Gewerbe und Bauwesen, Rep. 120 B I 1 Nr. 23, Bd. 2, sowie zahlreiche weitere Einzelfälle, fol. 48, 60, 69, 70, 75. Petition der Bäcker der Stadt Soest v. 28.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, D B 51/141, fol. 196 a.
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IV. Der Gewerbebetrieb
hindern. Eben darum wünschte man sich in Südwestfalen auch noch zu Beginn der fünfziger Jahre effizientere Vorschriften, die gegebenenfalls eine schnelle Einführung der Taxen ermöglichten.58 Erst als sich liberale Auffassungen gegen Ende der fünfziger Jahre allgemein wieder durchsetzten, verstummten solche Stimmen; niemand mehr wollte nun das Gemeinwohl dekretieren; niemand auch verließ sich länger auf Staatshilfe, wo Selbsthilfe möglich schien. Nach einer 1859 bei den Provinzialregierungen vorgenommenen Umfrage regte sich nirgends mehr das Bedürfnis nach Wiedereinführung polizeilicher Taxen, und dort, wo sie noch bestanden, äußerten die Beamten Bedenken gegen ihre Zweckmäßigkeit. Daraufhin bestimmte ein Ministerialreskript vom 9. September 1859, dass die Preisbestimmung überall dort, wo ihre Beibehaltung von den Gemeindebehörden und -vertretern wegen besonderer örtlicher Gegebenheiten befürwortet worden war, nicht sofort aufgehoben, aber doch auf die allmähliche Beseitigung der Zwangstaxen hingewirkt werden sollte.59 Die neuerlichen Bemühungen um eine Reform der Gewerbeverfassung zu Beginn der sechziger Jahre waren demnach von der Überzeugung getragen, dass allein durch die möglichste Verwirklichung des Prinzips der freien Konkurrenz die periodisch auftretenden Missstände in der Versorgung der Bevölkerung beseitigt werden könnten. Die Kommission für Handel und Gewerbe regte die Diskussion um das Taxenwesen erneut an, indem sie 1861 die Preisbestimmungen als völlig nutzlos bezeichnete und die Regierungen aufforderte, die noch bestehenden Brottaxen zu beseitigen.60 Sie hielt die aus den lokalen Verhältnissen hergeleiteten Gründe für das Weiterbestehen der Preisbindung nicht für überzeugend und beantragte die Aufhebung des § 89 der Gewerbeordnung, während der § 90 sowie die §§ 72 und 73 der Verordnung von 1849, die den freien Gewerbebetrieb nicht beschränkten, wirksam bleiben sollten.61 Der westfälische Oberpräsident teilte die liberale Auffassung der Kommission und befürwortete ebenfalls die Beseitigung des § 89 der Gewerbeordnung.62 Da die preußische Regierung selbst keinen Entwurf vorlegte, brachten einzelne Abgeordnete (Taucher, Müller, Reichenheim, Rüpell u. a.) eine Vorlage ein, die die Brottaxen als mit der Gewerbefreiheit unvereinbar erklärte.63 Aber auch diese Initiative zeitigte zunächst keine praktischen Wirkungen. Erst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes wurde das Problem der Vereinheitlichung der Gewerbeverfassung erneut akut. Der Entwurf einer Gewerbeordnung, der dem Reichstag am 7. April 1868 vorgelegt wurde, enthielt keine Bestimmungen über Brottaxen mehr, da die polizeilichen Beschränkungen auf das geringste zulässige Maß reduziert werden sollten.64 Man glaubte, dass die freie Preisentwicklung 58 59 60 61 62 63 64
So die Stellungnahme des Landrats des Krs. Brilon v. 24.10.1853 zur Abänderung der Verordnung v. 1849, in: STAM, Landratsamt Brilon Nr. 1358. v. Viebahn (1868), S. 597, 598. Bericht der Kommission für Handel und Gewerbe vom 22. April 1861, in: v. Rohrscheidt (1888), S. 382. Vgl. Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses v. 1861, Bd. II und IV, Drucksachen Bd. V, Nr. 163, zitiert nach Rohrscheidt (1888), S. 382. Bericht des Oberpräsidenten v. 16.11.1861, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794. v. Rohrscheidt (1888), S. 382. v. Rohrscheidt (1888), S. 384.
A. Freie Preisbildung, Preistaxen und obrigkeitliche Qualitätskontrollen
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in Teuerungszeiten einen beruhigenderen Einfluss auf das Marktgeschehen ausübe als das Eingreifen der Behörden. Aus diesem Grunde auch schwieg das zunächst verabschiedete Notgewerbegesetz vom 8. Juli 1868 zur Frage der Taxen. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869 gab dann aber die Abstinenz auf und wiederholte in den §§ 72–74 die Bestimmungen, die bereits die Gewerbeordnung von 1845 und die Verordnung von 1849 getroffen hatte. Mit diesen Regelungen war die Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Der Gesetzgeber hielt die Bestimmungen für ausreichend, um auch in Teuerungszeiten ein gewisses Vertrauen der mittellosen Bevölkerung in die Preisgestaltung zu erhalten. Man konservierte die Taxen also nicht deshalb, weil man sie für notwendig erachtete; man schätzte sie vielmehr allein „als ein Beruhigungsmittel für aufgeregte, zu Gewaltmaßregeln hinneigende Bevölkerungen“.65 Praktische Bedeutung erlangten die Bestimmungen dann auch nicht mehr. Selbst dort, wo nach Geist und Buchstaben der §§ 73 und 74 verfahren worden war, stiegen die Brotpreise trotz starker Konkurrenz erheblich an.66 Eine wirksame Kontrolle war fast ausgeschlossen, da nur der Verkauf, nicht aber die Herstellung von taxwidrig ausgebackenem Brot verboten war.67 So fanden die Bäcker immer neue Möglichkeiten, die Taxen zu umgehen. Sie täuschten wie eh und je die Behörden durch Angabe hoher Einkaufspreise für das Getreide oder Mehl, und dies geschah umso bedenkenloser, als die Gewerbeordnung kein Mittel gegen solche Manipulationen kannte. Die liberale Kritik an den Bestimmungen hatte recht, wenn sie meinte, die Taxen ständen zwar noch im Gesetz verzeichnet, seien aber ohne jede Lebenskraft und nicht mehr als die „nutzlosen Trümmer des einst so mächtigen Baues“.68 Sie wurden deshalb, dem liberalen Zeitgeist genügend, an den meisten Orten bald nach Erlass der Gewerbeordnung aufgehoben.69 b. Qualitätskontrollen Für die Qualitätskontrollen der Nahrungsmittel blieben auch nach Erlass der Gewerbeordnung von 1845, die keine einschlägigen Bestimmungen enthielt, die Lokalbehörden zuständig. Nach dem Gesetz vom 11. März 185070 war der öffentliche Verkauf von Nahrungsmitteln durch ortspolizeiliche Vorschriften, die weder mit der Gewerbeordnung noch mit Gesetzen und Verordnungen einer höheren Instanz in Widerspruch stehen durften, zu regeln (§ 6 c). Eine geordnete Gütekontrolle anderer, für den lokalen Markt erzeugter Handwerksprodukte hatte sich nicht wiederbeleben lassen. Die Gewerbeordnung von 1845 zählte diese Aufgabe nicht zu den Innungszwecken.71 Obgleich die Meister im wohlverstandenen Eigeninteresse
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Riedel (1861), S. 174. v. Rohrscheidt (1887), S. 467. v. Rohrscheidt (1887), S. 469. Zitiert nach v. Rohrscheidt (1887), S. 468. So in Hagen im Jahre 1869, s. Hopff (1922), S. 59. Pr. Ges. Sammlung (1850), S. 265–268 (266); s. dazu v. Rohrscheidt (1887), S. 460. § 104 des Gesetzes enthielt keine einschlägigen Bestimmungen.
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IV. Der Gewerbebetrieb
durchaus an der Qualitätsprüfung ihrer Waren interessiert waren,72 kam es wegen der organisatorischen Schwäche der wenigen Innungen in Westfalen nicht zum Aufbau einer effizienten Selbstkontrolle des Handwerks, wie sie die Zünfte gekannt hatten. B. GENOSSENSCHAFTLICHE ORGANISATIONSFORMEN 1. Die Anfänge des Genossenschaftswesens nach der Aufhebung der Zünfte Für die Stadt Bremen konnte die Gründung ganz unterschiedlicher Genossenschaften wie Vorschussvereine, Sparkassen, Rohstoffvereine durch die Handwerker schon bald nach Einführung der Gewerbefreiheit festgestellt werden.73 Hier drängt sich die Erklärung, dass es sich um Ersatzinstitutionen für die verlorene Zunft gehandelt haben muss, geradezu auf.74 Wolfram Fischer vermutet, dass die Reaktion der Bremer Handwerker auf die Revolutionierung der Gewerbeordnung in ihrer Stadt typisch für das Verhalten der Betroffenen in ganz Deutschland gewesen sei.75 Für den engeren Bereich Westfalens muss dieser Schluss aber auf Bedenken stoßen, da hier zwischen der Einführung der Gewerbefreiheit und der Ausbreitung des Genossenschaftswesens ein bedeutender zeitlicher Abstand lag und deshalb andere Kräfte bei der Entwicklung der Handwerker-„Associationen“ mitgewirkt haben dürften als allein die Einführung der Gewerbefreiheit. a. Der Assoziationsgedanke Der Begriff „Association“ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur „Zauber- und Erlösungsformel“ geworden, wie Rudolf Braun trefflich formulierte.76 Damit verbanden sich wenig konkrete Vorstellungen von einem gesellschaftlichökonomischen Ordnungsprinzip, welches geeignet schien, die Gebrechen der Zeit dadurch zu heilen, dass sich die schwachen Kräfte bisher vereinzelter Wirtschaftssubjekte vertraglich zusammenschlossen und diese sich gegenseitig beistanden. Als natürliche Reaktion auf die herrschende liberale Wirtschaftstheorie war deshalb 72 73
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S. Petition des Handwerkervereins des Krs. Meschede v. 30.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 128. Zum Genossenschaftswesen in Deutschland noch immer grundlegend Gierke (1868); s. auch Knittel (1895); Faust (1965). Ein ausführlicher Überblick über die verschiedenen zeitgenössischen Definitionen des Genossenschaftsbegriffs und die systematische Einordnung einzelner Genossenschaftstypen findet sich bei Mascher (1866), S. 677 ff. Branding (1951), S. 77 ff. Fischer (1955), S. 72; Fischer übersieht, dass die Einführung der Gewerbefreiheit in Bremen mit dem Beginn der Genossenschaftsbewegung zusammenfiel, was durchaus nicht in ganz Deutschland der Fall war. Braun (1965), S. 139; dazu auch Teuteberg (1961), S. 5–8, 61; Tenfelde (1984); Eisenberg (1985); Stein (1936); Gimmler (1972); als Beispiele zeitgenössischer Stimmen seien genannt Dael (1849) u. Schulze-Delitzsch (1858).
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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weniger die Zunftorganisation des Alten Handwerks insgesamt als vielmehr eine ganz praktische, offensichtlich nützliche Einrichtung wie etwa der gemeinsame Einkauf der Handwerksbetriebe Vorbild. Durch solche Beispiele angeregt, wurde der alte Gedanke genossenschaftlicher Selbsthilfe schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder belebt. So beabsichtigte man 1833 in Soest, eine Rohstoffeinkaufsgenossenschaft zu errichten, ein Plan, der – 1839 wieder aufgenommen – doch nicht verwirklicht werden konnte.77 Im Jahre 1848 verlangten westfälische Handwerker die Gründung von „Gewerbehallen“, also Verkaufsmagazinen auf genossenschaftlicher Basis unter Mitwirkung des Staates.78 Andere forderten die Errichtung von Vorschusskassen oder Handwerkerbanken zur Behebung der allgemeinen Kreditnot.79 Die Idee des Assoziationswesens, die eine sozio-ökonomische Grundvorstellung der Zeit um 1850 war,80 hatte in diesen Jahren – durch die Überwindung polizeistaatlicher Hemmnisse gestärkt – auch in Westfalen überall Anklang gefunden. Sie wurde in der Vorstellung vieler, die – über die Maßen erschreckt von dem schnell voranschreitenden Verfall der durch die industrielle Konkurrenz bedrängten Berufssparten – nach einem Rettungsanker suchten, zum Allheilmittel gegen die ökonomische Auszehrung des Kleingewerbestandes. Die Handwerker transponierten Vorstellungen, die dem jahrhundertealten Traditionsgut ihres Standes entstammten, in die moderne industrielle Welt. Zu Hilfe kam ihnen dabei die kollektive Erfahrung, dass der Kosmos des Alten Handwerks durch die Gewerbefreiheit und den Industrialisierungsprozess in seinem inneren Gefüge zerbrochen war und das Lebensgefühl einer anderen Zeit nach neuen Inhalten verlangte. Die drängende Soziale Frage lieferte die Energie, welche nötig war, um aus überkommenen Formen, erprobtem Gemeinsinn und neuen Ideen Einrichtungen zu formen, die den Anforderungen gewandelter wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse standhalten konnten. Der Organisationswille, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall im Handwerk mächtig aufbrach, war demnach von ganz anderer Art als die Haltung, welche die Einrichtungen des Zunftwesens getragen hatte.81 Im Ergebnis wurden – und das gilt nicht nur für die Genossenschaften, sondern ebenso für die neuen Krankenkassen, Sparkassen, den Arbeitsnachweis, die
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S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Soest v. 21.10.1833; desgl. Schreiben v. 6.3.1839, in: Stadtarchiv Soest XXXV a 35. So die Petitionen des Bielefelder Handwerkervereins v. 9.6.1848 und des Handwerkervereins des Krs. Meschede v. 30.8.1848, in: Deutsches Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, S. 109, 128, 129, 138. So die Bonner Handwerker in ihrer Petition an den Minister Camphausen v. 19.4.1848; s. Stieda (1900), S. 1098; Bericht des volkswirtschaftlichen Ausschusses der Frankfurter Nationalversammlung (Abg. Veit), 1848/49, S. 886. Vgl. dazu Escherich (1850), S. 1–66 (41); o. Verf., Die gegenwärtige Bewegung in dem Gewerbestande … (Nachdruck 1980), S. 159: „Wenn uns nicht Alles täuscht, so finden wir, wo wir uns auch umsehen, dieses mächtige Prinzip unserer Zeit in der Association, in der freien Verbrüderung in der sittlichsten Bedeutung, deren Zweck ist – wechselseitige Unterstützung, gegenseitige Assekuranz.“; vgl. auch Teuteberg (1961), S. 5–8. So auch Braun (1965), S. 171.
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IV. Der Gewerbebetrieb
Fabrikengerichte, das Lehrlingswesen – Selbsthilfeeinrichtungen geschaffen, die sich prinzipiell von ihren alten Vorbildern aus der Zunftzeit unterschieden. b. Die Protagonisten Die Entstehung der modernen Genossenschaftsidee und ihre Umsetzung in ein lebensfähiges, effizientes Organisationswesen wäre undenkbar ohne die theoretischen Entwürfe und organisatorischen Leistungen bedeutender Männer, der Väter des Genossenschaftswesens. Schon der Osnabrücker Justus Möser hatte im 18. Jahrhundert eine Konzeption für den genossenschaftlichen Zusammenschluss der Handwerker entworfen, der diesen den Betrieb größerer gewerblicher Unternehmen, für die der einzelne zu schwach war, ermöglichen sollte. Möser wollte das genossenschaftliche Wirtschaften durch staatliche Privilegien, insbesondere Herstellermonopole, fördern. Er sah auch, dass der „Mangel an Gelde“ eine der Ursachen des ökonomischen Zurückbleibens des deutschen Handwerks war. Die Möglichkeiten, die ein Kreditsystem auf kooperativer Basis in dieser Hinsicht bot, erkannte er jedoch noch nicht.82 Neben Männern wie Schulze-Delitzsch,83 Raiffeisen,84 Lassalle, Huber und Pfeiffer, die zu Recht immer im Zusammenhang mit der Geschichte des Genossenschaftswesens als die Ersten dieser Bewegung im 19. Jahrhundert genannt werden, wurde Friedrich Harkort zum Protagonisten der neuen „Assoziationen“ in Westfalen.85 Er entwickelte seine Gedanken zur gleichen Zeit, als die „redlichen Pioniere“ Englands in Rochdale berieten, noch vor Schulze-Delitzsch und Raiffeisen.86 Insbesondere durch die Einrichtung von Volksbanken auf genossenschaftlicher Basis sollte den Handwerkern geholfen werden. Nach Harkorts Entwürfen war es die Aufgabe dieser Kassen, gerade denjenigen, die keine Sicherheit bieten konnten, persönlichen Kredit zu gewähren und so die Kapitalbildung im Handwerk auf breitester Basis zu fördern. Hier – so erkannte der Unternehmer, Politiker und Sozialreformer mit sicherem Blick für die Notstände seiner Zeit – versagten manche der schon bestehenden Einrichtungen dem Kleingewerbe ihre Hilfe: Die in den vierzi82 83
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Runge (1966), S. 39. Franz Hermann Schulze aus Delitzsch (1808–1893), der Schöpfer der gewerblichen Genossenschaften, ging von der Notlage der vorwiegend städtischen Handwerker und Arbeiter aus und gestaltete seine Selbsthilfeorganisationen in liberal-kritischer Einstellung gegenüber staatlichen Einflüssen. Zur Person Hermann Schulzes sei auf Eheberg (1971) in der ADB sowie auf Aldenhoff-Hübinger (2007) in der NDB hingewiesen. Zur Genese seiner Ideen s. ausführlich Offermann (1979), S. 206 ff. Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) ließ sich, betroffen von der Not der ländlichen Bevölkerung, in konservativer Einstellung gegenüber Staat und Kirche vom Gedanken christlicher Nächstenliebe leiten. Zu den geistigen Grundlagen der Genossenschaftsbewegung s. ausführlich Gierke (1868); Faust (1965); Loest (1959), S. 317–324 (317). Tigges (1928), S. 21 ff., insbesondere S. 27; Harkort entwickelte seine Gedanken im Jahre 1845 in der Schrift „Die Vereine zur Hebung der unteren Volksklassen nebst Bemerkungen über den Central-Verein in Berlin“ (1858). Zu den Anfängen der Genossenschaftsbewegung in Südwestdeutschland in den 1840er Jahren s. Sombart (1904), 2. Teil, S. 26.
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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ger Jahren vorhandenen kommunalen Kassen waren – wie etwa die Iserlohner Sparkasse im Jahre 1838 – zwar gegründet worden, um gerade den „kleineren Handwerkern“ Sparmöglichkeiten für die Zeit der Not und des Alters zu geben. Manche dieser Einrichtungen, wie die 1825 errichtete Paderborner Leihbank und Sparkasse, reüssierten sogar: Wenn vor 1825, so schrieben im Jahre 1838 151 Paderborner Bürger ihrem Magistrate, „jemand einem Juden etwas in Versatz gab“, so musste er „von einem Anlehen ad 1 Reichstaler wöchentlich 1 Silbergroschen Zinsen zahlen“.87 Ein Taler aber hatte in Preußen seit 1821 30 Silbergroschen. Der Zinssatz betrug demnach 173 %. Solche untragbaren Verhältnisse gewährleisteten natürlich den Erfolg der neuen Kasse. Die Paderborner Bürger, die sich 1838 zu Wort meldeten, sparten deshalb auch nicht mit Anerkennung. Sie äußerten, „dass bei gerichtlichen Exekutionen die Leihbank sich als ein sehr wohltätiges Institut bewährt habe, da Familien dadurch oft ihr ganzes Mobiliar gerettet“ hätten. „Armen Professionisten“ habe „die Leihbank den größten Nutzen gewährt“. Sehr viele hätten „derselben ihre Subsistenz (Lebensunterhalt) zu verdanken, und würden ohne diese längst der Armenkasse zur Last gefallen sein“.88 Andere Institute – größere gab es in Soest (1824), Bielefeld (1825), Paderborn (1825), Höxter (1826), Minden (1826), Wiedenbrück (1826), Herford (1829) und Münster (1829)89 – hatten sich jedoch nicht als die Sparkassen der kleinen Leute erwiesen, als die sie erdacht worden waren. Die Kundschaft bestand nicht selten aus „den Kindern wohlhabender Leute“.90 Sparkassen, die den zahlenmäßig überwiegenden, in finanziell beengten Verhältnissen wirtschaftenden Teil des Handwerkerstandes erreichten, waren deshalb eine noch weitgehend unerfüllte Forderung. Nicht minder mangelhaft war die Versorgung des kleinen Handwerks mit Krediten. Die kommunalen Geldinstitute befassten sich nicht mit Risikogeschäften.91 Sie waren deshalb für die häufig grundbesitzlosen Handwerker kein geeigneter Partner. Die Sparkassen gewährten in der Regel nur Hypothekenkredite, die grundbuchrechtlich abgesichert waren. Kreditsuchenden Personen, die keine Hypotheken eintragen lassen konnten, wurde nur dann ein Darlehn gewährt, wenn zwei grundbesitzende und kreditwürdige Bürger sich für sie selbstschuldnerisch verbürgten.92 87
Schreiben vom 28.7.1838, in: Stadtarchiv Paderborn A 1344 f., fol. 470, zitiert nach Hohmann (1983), S. 159 ff. (172). Zum Wucher auf dem Lande differenziert Blömer (1988); der Zins für Kleinkredite lag bei Juden 1869 bei 8 Prozent, s. Blömer, a. a. O., S. 44 Anm. 40. Nach anderen Feststellungen hielten sich die jüdischen Händler „meist“ an den üblichen Zinssatz von 4–5 %, s. Naarmann (1995), S. 137. Zu den Wuchergesetzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Debatte über deren Berechtigung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. jetzt Liebner (2010), S. 220–293. 88 S. Anm. 15; zu den Anfängen des Sparkassenwesens in Westfalen grundlegend Egenolf (1988); s. dort auch weitere Literaturhinweise. Von den zwischen 1824 und 1829 in Westfalen gegründeten acht Sparkassen stellten fünf ihren Geschäftsbetrieb bis zum Ende der 1830 Jahre wieder ein. 89 Eine Aufzählung der ersten westfälischen Sparkassen findet sich bei Reusch (1934), S. 6. 90 Das Zitat ist abgedruckt bei Schulte (1954), S. 147. 91 Das Sparkassenwesen in Preußen wurde durch das Reglement v. 12. Dezember 1838 neu geordnet; s. dazu Köllmann (1966), S. 26, 27; Reden (1853), 1. Abt., S. 255. 92 So z. B. bei der Dortmunder Sparkasse, s. v. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 6, A 170.
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IV. Der Gewerbebetrieb
Handwerker ohne Landbesitz, denen keine zahlungskräftige Freunde zu Hilfe kamen, konnten – wenn sie nicht über ausreichende Eigenmittel verfügten – die zur Produktionsfinanzierung erforderlichen Gelder bei dem allgemeinen Kapitalmangel zumeist nur zu überhöhten Zinssätzen beschaffen. Auch wenn die Rolle des Realkapitals für die Handwerksbetriebe noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein gering blieb,93 wurde die Kreditfrage für manchen kleinen Handwerker doch zu einem Existenzproblem.94 Den Zeitgenossen waren diese Missstände sehr wohl bewusst. Friedrich Wilhelm Freiherr von Reden zählte in seiner Analyse des Pauperismus in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Mängel des Kreditwesens, und zwar einerseits „die Schwierigkeit und Kostbarkeit solider Krediterlangung“, andererseits die „Leichtigkeit unsolider Kreditbewilligung“ zu den wesentlichsten Ursachen der Verarmung weiter Kreise der Bevölkerung.95 Diese Ansicht teilten süddeutsche Zeitgenossen, die ganz gegen die Überzeugung der Handwerker feststellten, dass nicht die sich erst zaghaft entwickelnde Industrie das selbständige Handwerk bedrohe, sondern dass es der Kapitalmangel der Kleingewerbetreibenden selbst sei, der diese in die Hände des Verlegers treibe.96 Die übereinstimmenden Analysen kundiger Zeitgenossen lassen das Anliegen Harkorts, durch die Errichtung von Kreditanstalten der Not und dem Wucher zu steuern und zur Bildung von Eigenkapital in den bisher mittellosen Bevölkerungsschichten beizutragen, um so drängender erscheinen. Auf diesem Felde fand die junge Genossenschaftsbewegung denn auch eine ihrer wichtigsten und dankbarsten Aufgaben. 2. Der Aufbau des Genossenschaftswesens nach 1849 Die Wiedererrichtung einer neuen, berufsständischen Ordnung des Handwerks in Westfalen wurde mit dem Erstarken der Handwerkerbewegung und dem Erlass der Verordnung von 1849 eingeläutet. Den Meistern eröffneten sich jetzt Möglichkeiten, auch außerhalb von Innungen in berufsständischen Gemeinschaftseinrichtungen zusammenzufinden. Der Vereinzelung, der die westfälischen Handwerker seit der Einführung der Gewerbefreiheit anheimgegeben waren, konnte nunmehr durch gemeinsames Mühen um die Verbesserung der ökonomischen Situation entgegengewirkt werden. Dabei ermöglichte die freie, durch gesetzliche Bestimmungen 93
94 95 96
Angesichts des lückenhaften Quellenmaterials zur Frage der Kapitalbildung und Kapitalverwendung im Kleingewerbe wird man sich mit Schätzungen und Währungsrechnungen für einzelne Wirtschaftsbereiche und größere Teilräume zufrieden geben müssen; vgl. Tilly (1973), S. 145–165; Fischer (1972), S. 344 ff.; Noll (1971), S. 193–212, bes. S 201 ff.; Hoffmann (1965), S. 79 f., S. 492 ff.; Kaufhold (1976), S. 321 ff., 340; Lütge (1966), S. 453; Schmidt (1974), S. 720–752 (733). Offermann (1979), S. 211; zum Kapitalmangel in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts s. Ritter (1961), S. 115, 116, 118. Frh. v. Reden (1847), in: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zur Reichsgründung (1980), S. 228 ff. (229). Immerhin bestanden aber allein im Regierungsbezirk Arnsberg 1848 bereits 21 Sparkassen; s. Egenolf (1988), S. 69. S. Sedatis (1979), S. 58, 59.
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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nicht eingeengte Form der Genossenschaft Experimente auf dem Wege zu ihrer zweckmäßigsten Verfassung, die den streng reglementierten Innungen versagt blieben. In den wirtschaftlichen Aktivitäten der beweglichen Genossenschaften sah Gustav Schmoller denn auch den zukunftsweisenden Aspekt des wiederauflebenden Gemeinschaftsgeistes und der aus langer Lethargie erwachten, erneuerten Wirtschaftsgesinnung der Handwerker, wohingegen er die Innungen als den „Tummelplatz“ der rückwärtsorientierten Meister abtat.97 a. Kreditgenossenschaften Das besondere Interesse der Handwerker galt dem Aufbau von Kreditinstituten. Die kommunalen Sparkassen hatten sich, wie bereits festgestellt wurde, als wenig geeignet für die Erfordernisse des kleinen Handwerks erwiesen. Neben anderen Hindernissen stand ihre Beschränkung auf die größeren Orte einer engen Verbindung zum breiten Handwerk in den kleinen Städten und Landgemeinden im Wege. Gewerbliche Hilfskassen, die im Vormärz vereinzelt auf Spenden- und Zuschussbasis errichtet worden waren, hatten keinen Erfolg gehabt, da sie als reine Almosenanstalten galten.98 Dieses unbefriedigenden Zustandes überdrüssig, begannen die Handwerker mit dem Erstarken des Korporationsgedankens nach dem revolutionären Aufbruch des Jahres 1848 in eigener Verantwortung, Kreditkassen zu errichten. Sie durften dabei auf die ideelle – und in bescheidenen Maßen auch auf die materielle -Unterstützung der Behörden und des sozial denkenden wohlhabenden Bürgertums rechnen. Die Organisation der Institute folgte keineswegs einem einheitlichen Muster. Es wurde vielmehr in verschiedenen Formen das gleiche, von den engagierten Philanthropen erstrebte Ziel, die erleichterte Kreditbeschaffung für Handwerker, verfolgt.99 Als erste Einrichtung dieser Art wurde 1849 in Münster die „Darlehnskasse für kleine Handwerker“ durch den 1848 gebildeten Münsterschen Bürgerverein, der sich die „Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen“ zur Aufgabe gemacht hatte, gegründet.100 Der Betriebsfonds der Kasse wurde durch zinslose Darlehn, der Reservefonds durch Schenkungen aufgebracht. Die Leistungen des Instituts, das in den 20 Jahren von 1849 bis 1869 etwa 2000 bis zum Betrage von 15 Talern zinslose Darlehn an kleine Meister fast aller Gewerbe gewährte und sie auch ordnungsgemäß zurückgezahlt erhielt, fanden allgemeine Anerkennung. Ein 1860 in der Stadt gegründeter Handwerkervorschussverein löste sich dagegen 1864 wieder auf. 97
Schmoller (1870), S. 88 ff.; ebenso Georg v. Viebahn, der in den Genossenschaften den Weg sah, auf welchem die „atomisierte bürgerliche Gesellschaft und in ihr der Handwerker sich wieder sammeln, die socialen Lebensverhältnisse neu, freier und sicherer als früher gestalten“ kann; s. Viebahn (1868), S. 579. 98 Offermann (1979), S. 211. 99 So z. B. Frh. v. Reden (1847), S. 118 ff. (129); die Errichtung von sog. „Volksbanken“ gehörte zum Programm der Handwerkerbewegung des Jahres 1848; s. Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Congresses zur Hebung der gewerbl. Arbeiter … (Nachdruck 1980), S. 218. 100 Goeken (1925), S. 32, 33. An der Errichtung des Bürgervereins hatten Adlige, insbesondere der Bruder des Bischofs und spätere Vorsitzende des Vereins katholischer Edelleute, Wilderich v. Ketteler, maßgeblichen Anteil; s. Reif (1979), S. 448.
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IV. Der Gewerbebetrieb
Wenig später, im Jahre 1850, konstituierte sich in Bochum der sog. „Handwerkerhülfsverein“. Das Vermögen dieser Vorschusskasse war nicht nur durch freiwillige Beiträge der Handwerker selbst zusammengekommen; auch die Stadt Bochum hatte ein zinsfreies Darlehn zur Verfügung gestellt und dadurch die Leistungsfähigkeit der Kasse erhöht.101 Die Regierung in Arnsberg bedachte diesen Verein mit „Anerkennung und besonderem Lob“.102 Zunächst war jedoch ein anderer Typus des Kreditvereins erfolgreicher. In Dortmund hatten die andauernden Klagen junger Meister, insbesondere aus den kapitalintensiven Bauhandwerken, die gegen die übermächtige Konkurrenz finanzkräftiger Bauunternehmer chancenlos blieben, den Gewerbeverein schon Ende des Jahres 1849 veranlasst, eine Kommission zur Errichtung einer sog. „VorschußBank“ zu bilden.103 Deren Arbeit zeitigte aber keine Früchte. Zielstrebiger ging der Dortmunder Kaufmann von der Leyen ans Werk: Er entwickelte das Modell des sogenannten „Dortmunder Bürgschaftsvereins“. Die Verfassung dieses Instituts knüpfte an eine in Preußen geltende Bestimmung an, wonach die Kommunalsparkassen in der Regel nur dann berechtigt waren, Kredite an Gewerbetreibende zu geben, wenn sichere Bürgen dafür eintraten. Deshalb gründete eine Anzahl wohlhabender Männer den Verein. Zwei von ihnen bürgten für alle bewilligten Kredite, während der Verein selbst die Rückbürgschaft übernahm und die Ausfälle durch uneinbringliche Forderungen trug. Schon im Frühjahr des Jahres 1850 begann man in Dortmund damit, diesen Entwurf zu realisieren. Mit einem Bürgschaftskapital von 1120 Talern konstituierte sich ein „Creditverein für das Wohl der arbeitenden Klasse“. Nach seinem Statut hatte er den Zweck, „vorzugsweise Handwerkern, denen es, sei es zum Betrieb ihres Handwerks, sei es zur Anschaffung von Bedürfnisgegenständen, augenblicklich an Geldmitteln fehlt, es möglich zu machen, respektive zu erleichtern, Vorschüsse aus der hiesigen (städtischen) Sparkasse zu erlangen“.104 Anders als die Kasse in Münster gewährte das Dortmunder Institut also nicht selbst Kredite; es übernahm für die Darlehnsnehmer, die bei der städtischen Sparkasse 5 % Zinsen zu zahlen hatten, lediglich die Rückbürgschaft.105 Voraussetzung war, dass der Schuldner mit mindestens 5 Talern an der Gesamtverbürgung der Kasse beteiligt war. In dem neunköpfigen geschäftsführenden Ausschuss waren neben vermögenden, sozial denkenden Kaufleuten der Stadt auch vier Handwerker vertreten. Die Verfassung des neuen Vereins wurde als beispielhaft für ähnliche Einrichtungen in der „Monatsschrift für preußisches Städtewesen“ besprochen.106 Auch die Regierung in Arnsberg empfahl den Landräten und Bürgermeis101 Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an die Reg. Arnsberg v. 8.4.1850, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 102 Schreiben der Reg. Arnsberg an den Magistrat der Stadt Bochum v. 21.4.1850, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 103 v. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 3, S. 600–603. 104 v. Winterfeld, wie Anm. 103, S. 603. 105 Statut des Dortmunder Credit-Vereins (1851), in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt, Nr. 92, fol. 99–103. 106 Monatsschrift für das preußische Städtewesen (1856), S. 29; desgl. in: Zeitschrift des preußischen Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen (1859), S. 241.
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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tern die Gründung von Handwerkerkreditvereinen nach dem Dortmunder Muster.107 Trotz lebhafter Förderung von „offizieller“ Seite blieb die Beteiligung zahlreicher wohlhabender Bürger, die allein größere Bürgschaftssummen hätten zeichnen können und deren Unterstützung deshalb für das Gedeihen des Vereins unerlässlich war, in Dortmund aber aus. Damit fehlte der Kreditorganisation die Grundlage. Nach einigen Jahren kümmerlichen Daseins ging sie ein.108 Immerhin aber durch das Dortmunder Beispiel angeregt, suchte auch der Gewerberat in Soest eine Handwerker-Darlehnskasse einzurichten.109 Die Gründung des Instituts im Jahre 1854 erfolgte mit ideeller Unterstützung des Magistrats. Die geforderte materielle Hilfe der Stadt blieb dagegen aus. Von den 103 Gründungsmitgliedern gehörten nicht weniger als 47 dem Handwerkerstand an.110 Der geschäftsführende Ausschuss war, ebenso wie bei der Dortmunder Kasse, mit 4 Meistern besetzt. Dank der Mitgliedschaft zahlreicher wohlhabender Bürger der Stadt, die eine Bürgschaftssumme von nicht weniger als 3.000 Talern schnell zusammengebracht hatten, nahm die Kasse einen raschen Aufschwung. Sie existierte bis zur Gründung einer Sparkasse in Soest im Jahre 1868. Die Kredite, die vergeben wurden, betrugen im Durchschnitt 25 Taler und reichten damit zu bescheidenen Existenzgründungen und zur Überbrückung vorübergehender Zahlungsschwierigkeiten aus. Allgemeine Anerkennung blieb dem erfolgreichen Institut denn auch nicht versagt. Die über Soest hinausreichende Ausstrahlung des Dortmunder Organisationsmodells zeigte sich darin, dass nicht nur in Soest, sondern im Jahre 1857 auch in Unna und Coesfeld Bürgschaftsvereine nach diesem Muster errichtet wurden.111 Der von Schulze-Delitzsch geschaffene und propagierte Typus des vor allem auf den städtischen Handwerkerstand zugeschnittenen Vorschuss- und Kreditvereins konnte sich dagegen in Westfalen zunächst nicht durchsetzen.112 Noch 1859 war die Provinz in Schulzes „Central-Correspondenz-Bureau der Deutschen Vorschuss- und Credit-Vereine“ allein durch den Vorschussverein in Herford vertreten,113 während aus anderen Landesteilen Preußens bereits von dem „segensvollen 107 So z. B. Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Bochum v. 5.2.1853, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 108 Eine ausführliche Kritik des Dortmunder Modells findet sich bei Schulze-Delitzsch (1870), S. 92, 93. 109 Joest (1978), S. 202–205; s. auch Schreiben des Vorsitzenden des Gewerberats v. 8.11.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX g 9. 110 Gustav Schmoller stellte 1870 fest, dass in den Vorschussvereinen etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Mitglieder nicht dem Handwerkerstande zuzurechnen seien, sondern kleinere Kaufleute, Fabrikanten, Rentiers und ähnliches wären, s. Schmoller (1870), S. 666. 111 Schulze-Delitzsch (1870), S. 93. 112 S. Schulze-Delitzschs Darstellung der Vorzüge dieses Typs der Vorschuss- und Kreditvereine, schon damals „Volksbanken“ genannt, in: Schulze-Delitzsch (1867), S. 4 ff. Die Konzeption Schulzes war praktisch nur auf Handwerker zugeschnitten. Statutarische Regelungen wie die Beschränkung der Aufnahme in Rohstoff-, Magazin- und Verkaufsgenossenschaften auf Handwerksmeister, die Aufnahmegebühr von einem Taler für die Kreditgenossenschaften und vor allem die Solidarhaftung schlossen die Arbeiterschaft faktisch aus; s. Offermann (1979), S. 214. 113 Schulze-Delitzsch (1870), S. 103.
228
IV. Der Gewerbebetrieb
Einfluss“ der Kreditvereine Schulze-Delitzschs berichtet wurde.114 Immerhin gründete der Vorsitzende des Dortmunder Gewerbevereins, Dr. Becker, der „rote Becker“ genannt, 1862 einen Vorschussverein für die Gewerbetreibenden der Stadt, der nach Grundsätzen, wie sie Schulze-Delitzsch formuliert hatte, organisiert war und der den früheren Bürgschaftsverein ersetzte. Aus dieser Einrichtung ging wenig später die Dortmunder Volksbank hervor.115 Trotz der Errichtung eines „Landesverbandes der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften für Rheinland und Westfalen“ im Jahre 1862 in Witten116 sowie der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, „Innung der Zukunft“, später „Blätter für Genossenschaftswesen“, mit deren Hilfe Schulze seinen Ideen publizistische Wirksamkeit verschaffte, existierten im Jahre 1866 in Westfalen nur folgende Kassen nach seinem Modell:117 Arnsberg; Bielefeld (1861; 335 Mitgl.); Bochum (1861; 222 Mitgl.); Bünde; Dortmund (1862; 600 Mitgl.); Gelsenkirchen; Hagen; Halle; Hamm; Herford (1859; 356 Mitgl.); Minden (1865; 165 Mitgl.); Münster (1849),118 Paderborn (1860; 216 Mitgl.); Soest;119 Witten.120 Diesen 15 Instituten in Westfalen standen in Deutschland insgesamt im Jahre 1866 nicht weniger als 1047 Vorschuss- und Kreditvereine nach der Konzeption Schulzes gegenüber.121 Die genossenschaftliche Kreditorganisation war demnach in Westfalen bis dahin nicht nur wegen ihrer Beschränkung auf relativ wenige Kassen ohne eigentliche Breitenwirkung geblieben. Es stellte sich vielmehr je länger je mehr heraus, dass die Vorteile des genossenschaftlichen Kredits, soweit die Handwerker sich seiner überhaupt bedienten, so gut wie ausschließlich den größeren Handwerksbetrieben zugute kamen.122 Das Ergebnis war, dass die Darlehensgewährung durch die Vorschusskassen den Ausleseprozess innerhalb des Handwerks selbst beschleunigte, statt – der ursprünglichen Intention der Väter des Genossenschaftswesens gemäß – die kleinen Existenzen zu retten und nach Kräften zu entwickeln. Die Vision Schulzes, wonach der Handwerker durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss kreditwürdig werde, über die Genossenschaften in Konkurrenz mit den größeren Unternehmern treten und dadurch die berufliche Selbständigkeit behaupten könne,123 hatte sich in Westfalen als nicht leicht realisierbar erwiesen. 114 Schmoller (1870), S. 94. 115 v. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 4, S. 864. 116 Schulze-Delitzsch (1867), S. 20, 24 ff.; Mascher (1866), S. 723. 117 Schulze-Delitzsch, Jahresbericht für 1866 (1867), S. 20. Die Jahreszahlen geben das Jahr der Gründung an. 118 Die Gründung war unabhängig von Schulzes späterer Initiative erfolgt, s. o. 119 Bis 1869 war noch der sog. „Vorschussverein“ in Siegen hinzugekommen, s. Schulze-Delitzsch (1870), S. 514 ff. 120 Mit der 1861 gegründeten Volksbank in Witten ging es nach 1874 rapide abwärts; 1879 musste der Konkurs angemeldet werden; die Mitglieder erlitten beträchtliche Verluste; s. Haren (1924), S. 466, Zum Geld- und Kapitalverkehr im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert vgl. Kluitmann (1931). 121 Schulze-Delitzsch (1867), S. 1; dazu finden sich auch in verschiedenen Kreisbeschreibungen Angaben. 122 So Sombart (1904), T. 2, S. 29. 123 S. dazu Offermann (1979), S. 219; so auch der Lüdenscheider Fabrikant Turck, s. Protokoll zur
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B. Genossenschaftliche Organisationsformen
b. Sparkassen Mit dem genossenschaftlichen Selbsthilfeprinzip eng verwandt war die Förderung des Spargedankens. Er musste den „arbeitenden Klassen“ als eine aus den industriellen Daseinsverhältnissen erwachsene Notwendigkeit allerdings erst nahegebracht werden.124 Fast alle zeitgenössischen Sozialreformer mühten sich um die Verbreitung des Sparwillens als des wichtigsten Mittels der Daseinsvorsorge für die in den Sog konjunktureller Schwankungen geratenen handarbeitenden Schichten. Unausgesetzt priesen sie das Sparen als den Weg „natürlicher Entwicklung“ zur sittlichen Hebung des Volkes durch die notwendige „Aufbesserung seiner materiellen Lage“.125 Solchen volkserzieherischen Bestrebungen verdankten die frühen Sparkassen ihre Entstehung. Demgemäss waren sie zumeist keine berufsständischen Selbsthilfeorganisationen. In der Regel handelte es sich vielmehr um städtische Einrichtungen, denen, wie das preußische Statistische Büro zutreffend urteilte, „jede Genossenschaftsatmosphäre, jedes Prinzip der Gegenseitigkeit und Solidarität“126 fehle. Die Vorteile der städtischen Einrichtungen lagen demgegenüber aber in der Garantie der Einlagen durch die Stadtverwaltung sowie in der Möglichkeit, günstige Kredite aufnehmen zu können. Die Handwerker bedienten sich dieser Kassen in unterschiedlichem Maße.127
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Verhandlung der Beratung der Koalitionsfrage v. 2. Sept. 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787, fol. 62. S. Braun (1965), S. 144. Zitiert nach Offermann (1979), S. 218. Die Sparkassen in Preußen, in: Zeitschrift des Kgl. Pr. Statistischen Bureaus, Berlin 1861, S. 85 ff. (88); zu den Nachteilen, die das Sparen bei Sparkassen im Vergleich zu Kreditvereinen für die Handwerker mit sich brachte, vgl. Mascher (1866), S. 715. Zur Entwicklung des Sparkassenwesens in Westfalen s. Reusch (1934); allgemeiner: o. Verf., Die Sparcassen in Preußen als Glieder in der Kette der auf das Princip der Selbsthülfe aufgebauten Anstalten, in: Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, 1. Jahrg. (1861), S. 85–117; Trende (1957); Bei der Bezirkssparkasse Bielefeld wurde 1853 folgende Kundenverteilung festgestellt: 69 städt. Dienstboten (1781 Tlr.), 87 ländl. Dienstboten (1999 Tlr.), 85 Handwerker (4810 Tlr.), 15 Handwerksgesellen (296 Tlr.), 68 Bauern (7853 Tlr.), 82 ländl. Tagelöhner (4606 Tlr.), 7 städt. Tagelöhner (665 Tlr.). Bei der Stadtsparkasse Bocholt waren die Berufsgruppen 1858 ebenso unterschiedlich vertreten: 3 Handwerksgesellen (265 Tlr.), 10 Handwerksmeister (819 Tlr.), 1 Fabrikarbeiter (49 Tlr.), 42 Dienstboten (2145 Tlr.), 37 Handarbeiter (3838 Tlr.), s. Egenolf (1988), S 71, 72). Im Regierungsbezirk Arnsberg verteilten sich die Einlagen bei den Sparkassen 1856 (in TW) folgendermaßen: Gruppe
Betrag der Einlagen
Anzahl d. Sparer
Einlage pro Kopf
Handwerksgesellen
93.188
1.418
66
Handwerksmeister
323.789
2.072
156
Fabrikarbeiter
143.093
1.316
109
Berg- und Hüttenarbeiter
195.575
1.373
142
Dienstboten
338.620
5.661
60
Andere Handarbeiter
808.799
6.211
130
Quelle: Wischermann (1984), S. 122.
230
IV. Der Gewerbebetrieb
Angeregt durch die Agitation bürgerlicher Philanthropen für den Spargedanken, empfahlen einige Sozialreformer gerade den Handwerkern unter Hinweis auf die Kosten für die Meisterprüfung und Betriebsgründung, den Rohstoffeinkauf und die Konjunkturflaute sowie die Notwendigkeit individueller Alters-, Kranken- und Arbeitslosenvorsorge den Konsumverzicht als wirksamstes Mittel ökonomischer Absicherung. Aus dem ersparten Kapital erwachse Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen und dadurch das Bedürfnis nach höherer Bildung. Der Verbreitung solcher Überlegungen in der Handwerkerschaft verdankten die vielbesprochenen, von den Schulzeschen Vorschuss- und Kreditvereinen seit den fünfziger Jahren errichteten Sparkassen ihre Lebenskraft. Die Mehrzahl der Vorschussvereine hatte sich von Anfang an einen Teil ihres Betriebskapitals durch Annahme von Spareinlagen verschafft. Bestandteil des Vereinszweckes waren die angegliederten Sparkassen aber nicht. Zu Beginn der sechziger Jahre versuchten einzelne Magistrate und Regierungen, den Genossenschaften die Annahme von Spareinlagen von Nichtmitgliedern zu untersagen. Man stützte sich dabei auf das Reglement vom 12. Dezember 1838, welches angeblich nur Gemeinden die Errichtung von Sparkassen gestattete.128 Durch Reskript des preußischen Innenministers von Westphalen vom 15. November 1856 wurde dann aber ausdrücklich klargestellt, dass jedermann die Annahme fremder Gelder gegen Zins gestattet sei.129 Die Klärung der Rechtslage hatte eine erfreuliche Ausweitung der Spartätigkeit bei den Vorschuss- und Kreditvereinen zur Folge. Von den 124 Vorschussvereinen nach Schulze-Delitzschem System, die 1861 in Preußen bestanden, gab es nach einer Schätzung in der „Innung der Zukunft“ „kaum zehn bis zwanzig“, welchen nicht eigene Sparkassen angegliedert waren. Da die von Schulze initiierte Genossenschaftsbewegung in Westfalen vor 1870 aber zu keiner wirklichen Bedeutung gelangte und auch die Spar- und Darlehnskassen nach dem System „Raiffeisen“ erst später in der Provinz Fuß fassten, blieben die genossenschaftlich organisierten Sparkassen im Untersuchungszeitraum ohne größeren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks zwischen Rhein und Weser. c. Magazine, Gewerbehallen, Rohstoff- und Produktionsgenossenschaften Die Gewerbegesetzgebung des Jahres 1849 verbesserte die Chance der Meister, erfolgreiche Verkaufsgenossenschaften einzurichten, beträchtlich, indem sie den Forderungen der Handwerkerbewegung entsprechend den Betrieb von Magazinen durch Kaufleute stark einschränkte (§§ 33, 34 der Verordnung vom 9.2.1849).130 Diese Angaben gewinnen ihren eigentlichen Wert erst, wenn man berücksichtigt, dass etwa 90 % der sozialen Unterschicht nicht sparfähig war, s. Schulz (1981), S 487 ff.; vgl. auch Ditt (1981). Zur Sparfähigkeiten der Gesellen s. Reith (1992), S. 61–67. 128 Kgl. Reglement, die Einrichtung der Sparkassen betr., v. 17. Dezember 1838, Pr. GesetzSammlung 1839, S. 1 ff. Eine Besprechung des Gesetzes findet sich bei Weber (1840), S. 211, 212. 129 Schulze-Delitzsch (1870), S. 412. 130 Die Errichtung von Gewerbehallen und Rohstoffmagazinen gehörte zu den Forderungen der
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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Dadurch wurde dem Handwerk die Möglichkeit gegeben, seine noch immer recht primitiven Beziehungen zum Markt effizienter zu gestalten und den Verkauf seiner Erzeugnisse so zu organisieren, wie es der ungewohnte Wettbewerb mit der Industrie verlangte. Auch der Einkauf der Rohmaterialien und selbst die Herstellung der Produkte ließen sich – wenigstens nach dem Entwurf der Theoretiker – günstiger gestalten; dabei war allerdings die Eigeninitiative der Handwerker gefordert, weil der wirtschaftsliberale Staat in den engeren Bereich des Handwerksbetriebes nicht fördernd eingriff131. Um die notwendige Bewegungsfreiheit der Erwerbsgenossenschaften nicht einzuschränken, sollten diese von den Innungen scharf getrennt bleiben. Diese Regelung hatte der Gesetzgeber getroffen, da die strenge Innungsform das „freigenossenschaftliche Leben“ der „speculativen Einrichtungen“, für die man die Erwerbsgenossenschaften hielt, ersticken würde.132 Ein vollständiger Überblick über die Gründung genossenschaftlicher Ein- und Verkaufs- sowie Produktionseinrichtungen scheitert an der dürftigen Überlieferung. Fest steht, dass diese Genossenschaften in Westfalen keineswegs – wie etwa in Berlin – „in großer Zahl“ entstanden.133 Natürlich verlief die Entwicklung in den einzelnen Handwerkssparten durchaus unterschiedlich. Der erste, allseitig sichtbare Einbruch des Handels in die Sphäre des Handwerks gelang den Möbelmagazinen unter kaufmännischer Leitung.134 So ist es leicht erklärlich, dass es gerade die Tischler waren, die sich in Westfalen durch Selbsthilfeeinrichtungen auf genossenschaftlicher Basis der bedrohlichen Konkurrenz zu erwehren suchten.135 In Paderborn existierten seit 1850 zwei Rohstoffgenossenschaften der Tischler.136 Das seit 1833 geplante genossenschaftliche Holz- und Möbelmagazin der Schreinermeister in Soest konnte erst 1854 auf eine neuerliche Initiative des Magistrats der Stadt hin errichtet werden. Es hatte die doppelte Funktion einer Verkaufsgenossenschaft mit angeschlossener Kreditkasse für den Ankauf von Rohmaterialien (Holz), wurde aber schon 1855 an einen Kaufmann vermietet.137 Etwa zur gleichen Zeit bauten die Tischler in Minden ein Möbelmagazin auf genossenschaftlicher Basis auf.138 In Werne betrieben die „Vereinigten Schreinermeister von Herbern und Werne“ im Jahre 1863 ebenfalls ein solches Magazin,139 während die 1862 in Witten gegrün-
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Handwerker- und Gesellenbewegung des Jahres 1848; s. Vorschläge des Frankfurter GesellenCongresses zur Hebung der gewerblichen Arbeiter (Nachdruck 1980), S. 208 f., 218, 219; desgl. o. Verf., Der deutsche Handwerker-Congreß und die von demselben entworfene Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland … (Nachdruck 1980), S. 165 ff. (197, 198). Zur staatlichen Handwerksförderung im 19. Jahrhundert s. Deter, Die Handwerksförderung (1990). So Riedel (1861), S. 193. So Bergmann (1973), S. 83. Wernet (1963), S. 183. Die Entwicklung wiederholte sich, nur Jahrzehnte später (um 1900), in Lippe, als dort die Industrialisierung einsetzte. Auch dort wurden damals Einkaufsgenossenschaften und Selbsthilfeorganisationen des Handwerks gegründet; s. Steinbach (1976), S. 25. Stadtarchiv Soest, XXXV a 35. Stadtarchiv Soest, XXXV a 35 und XXXV a 66. S. Gutachten der Tischler der Stadt Minden, betr. das Ortsstatut, v. 26.1.1852, in: Stadtarchiv Minden, F 188. S. Mitteilung des Bürgermeisters von Werne v. 10.7.1863, in: STAM, Krs. Lüdinghausen,
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IV. Der Gewerbebetrieb
dete Genossenschaft zur Beschaffung von Rohstoffen für Schreiner und Zimmerleute bald wieder einging.140 Nach dem von H. Schulze-Delitzsch herausgegebenen „Jahresbericht über die auf Selbsthilfe gegründeten deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“141 befanden sich im Jahre 1866 in der gesamten Provinz Westfalen allerdings nur zwei nach Schulzes Modell organisierte Magazine und Rohstoffgenossenschaften: Neben der Schuhmacher-Association in Dortmund existierte nur noch das Schneidermagazin in Hamm. In Deutschland insgesamt konnte Schulze dagegen für das Jahr 1866 nicht weniger als 187 Rohrstoffmagazine und Produktivgenossenschaften zählen. In vielen Teilen Norddeutschlands hatten sich neben den Ein- und Verkaufsgenossenschaften der Handwerker Fertigungsbetriebe auf genossenschaftlicher Basis etabliert. Uhrmacher, Tischler, Weber, Schneider, Schuhmacher, Buchdrucker, Maschinenbauer, Stellmacher, Metallarbeiter und Klempner schlossen sich zu solchen „Productivassociationen“, der „Blüthe des ganzen Genossenschaftswesens“, zusammen.142 In Westfalen dagegen war nur eine solche Einrichtung, die „Productivgenossenschaft für Nähmaschinen“, in Bielefeld tätig.143 Der Erfolg der Bemühungen Schulzes war hier also einmal mehr denkbar gering.144 Eine andere – wenig praktische, aber desto interessantere – Variante des Assoziationsgedankens vertrat der führende Kopf des sozialen Katholizismus in Deutschland, der einem alten westfälischen Adelsgeschlecht entstammende Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler. Ketteler beabsichtigte in den sechziger Jahren, Produktivassoziationen für Handwerker zu errichten, die den Produzenten außer dem Tagelohn einen angemessenen Gewinnanteil verschaffen sollten.145 Die noch unausgegorenen Ideen des Bischofs, die er aber immerhin über zwei Jahrzehnte hinweg verfolgte, kamen wegen Geldmangels, des ZusammenLandratsamt Nr. 826. 140 Stadtarchiv Soest, XXXV a 35. 141 Schulze-Delitzsch (1867), S. 1, 53 ff. Die im Jahre 1863 in Dortmund errichtete SchuhmacherEinkaufsgenossenschaft besorgte den Einkauf der Rohmaterialien ohne Zwischenhändler; s. v. Winterfeld, Die Stadt Dortmund …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, BXIII 125, Bd. 4, S. 908. 142 Dazu auch Schmoller (1870), S. 207; so der Geh. Reg. Rat Herzog, in: Protokoll der Verhandlungen zur Beratung der Koalitionsfrage v. 2. Sept. 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. 143 Die Rohstoffgenossenschaften waren bei Schustern und Schneidern im allgemeinen besonders verbreitet, wurden aber auch von Tischlern, Nagelschmieden und Buchbindern organisiert, s. Geh. Reg. Rat Herzog, in: Protokoll zur Verhandlung der Beratung der Koalitionsfrage v. 2. Sept. 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787; s. auch Schmoller (1870), S. 648, 628, 630; zu den Rohstoff- und Verkaufsgenossenschaften s. ausführlich: Mascher (1866), S. 716 ff. 144 Zur Entwicklung der Rohstoff- und Magazingenossenschaften zwischen 1859 und 1902 s. statistische Nachweise bei Sombart, 1. T. (1904), S. 27. Aus der Statistik ergibt sich, dass diese Genossenschaften sich auch außerhalb Westfalens nicht durchsetzen konnten. Sombart hielt sie grundsätzlich für lebensfähig. Zu den Gründen für ihr Scheitern s. Sombart (1902), 2. Bd., 35. Kapitel; s. dazu auch Tilmann (1935), S. 54. 145 Zu dem Entwurf der Statuten für diese Assoziationen s. Franz (1914), S. 242, 243. S. dazu auch Thomanek (1961) und Brehmer (2009). Auch die frühen Gewerkschaften vertraten das Ziel, durch Errichtung sog. Produktivassoziationen von den Arbeitgebern unabhängig zu werden; vgl. Lenger (1988), S. 107.
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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bruchs ähnlicher Unternehmungen in Böhmen sowie der Warnung Viktor Aimé Hubers vor den großen kaufmännischen Schwierigkeiten nicht zur Ausführung. Nur ein einziger Versuch, ein Unternehmen nach Kettelers Vorstellungen zu organisieren, wurde in Deutschland gemacht. Im Jahre 1863 gründeten 120 Handwerksmeister der Stadt Recklinghausen unter Leitung einer siebenköpfigen Kommission katholischer Bürger eine Genossenschaft, die in einem gemeinsamen Magazin ihre in eigenen Werkstätten hergestellten, durch Kredite des Vereins vorfinanzierten Produkte absetzten.146 Die Assoziation fügte demnach die Vorschusskasse nach der Idee Schulze-Delitzschs mit einer Produktionsgenossenschaft, die für einen gemeinsamen, monopolartig beherrschten Markt arbeitete, zusammen. Verkauft wurden Möbel, Kleider, Schmiede- und Schlosserwaren, Böttcher-, Drechsler- und Kupferschmiedarbeiten, sogar Kutschwagen, Chaisen und Droschken. 1867 florierte der Betrieb noch. Auch diese bestechend einfache, jedenfalls auf den ersten Blick überzeugend wirkende Konzeption fand aber keine Nachahmung. Wo lagen die Ursachen für den überraschend geringen Erfolg, den nicht nur die Produktiv- und Magazinassoziationen, sondern der Genossenschaftsgedanke überhaupt in den westlichen Provinzen Preußens anfänglich konstatieren mußte? Der Münsteraner Regierungsrat König stellte 1865 fest, die Bewohner seines Bezirks hätten eine „Abneigung“ gegen die Bildung von Genossenschaften.147 Solch substanzlose Äußerung eines im Übrigen kenntnisreichen Fachmannes vermag die Spuren, die auf den richtigen Weg führen, aber nicht zu verwischen. Zu den mannigfachen Widerständen, die den Erfolg der Assoziationen überall behinderten, trat in Westfalen die schon fast zwei Generationen währende Zunftfreiheit. Trotz gegenteiliger Bekundungen der Meister selbst hatte die Gewöhnung an das selbständige, in keinerlei Organisationen eingebundene Wirtschaften den Gemeinschaftsgeist im westfälischen Handwerk doch geschwächt. Der Zusammenhalt der Meister war zu oberflächlich und zu blaß, als dass an die Geschlossenheit und die Organisationskraft des Alten Handwerks hätte angeknüpft werden können. Über die Errichtung weniger, kurzlebiger Assoziationen gelangte man deshalb nicht hinaus. Die handwerksfremden Zeitgenossen allerdings urteilten zu hart, wenn sie meinten, allein „die Trägheit und Indolenz und vor allem der individualistische und egoistische Zeitgeist“148 der Kleingewerbetreibenden habe den Erfolg der von den Meistern 146 Franz (1914), S. 245. 147 König (1865), S. 24. Einem anderen Genossenschaftstypus, dem Konsumverein zum Zwecke gemeinsamen, billigen Einkaufs von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, der auch in Westfalen Anhänger fand, wird hier keine weitere Aufmerksamkeit zugewandt, weil er in Westfalen nicht, wie andernorts, eine Einrichtung des städtischen Kleinbürgertums, sondern der Industriearbeiterschaft war. Von den Mitgliedern des 1864 gegründeten Lüdenscheider Konsumvereins waren nur 10 % Handwerker, s. Tigges (1928), S. 21, 56, 57; 1866 gab es in Westfalen folgende Konsumvereine: Buchholz bei Sprockhövel, Delle bei Breckerfeld, Hagen, Hamm, Herbede a. d. Ruhr, Hörde, Lüdenscheid, Recklinghausen und Witten a. d. Ruhr, s. Schulze-Delitzsch, Jahresbericht für 1866 (1867), S. 65. Zu den Konsumvereinen in Westfalen äußerte sich der Lüdenscheider Fabrikant Turck aus eigener Kenntnis sehr positiv; s. Protokoll zur Verhandlung der Beratung der Koalitionsfrage v. 2. Sept. 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. 148 Franz (1914), S. 249.
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IV. Der Gewerbebetrieb
errichteten Magazine und Produktionsgenossenschaften behindert bzw. vereitelt. In Wahrheit waren es auch die unlösbaren ökonomischen und organisatorischen Probleme, welche die idealen Entwürfe und ihre mehr oder weniger gekonnten Realisierungsversuche zum Scheitern brachten. Auffällig ist aber auch, dass die Genossenschaften nach dem Schulze-Delitzschem System fast ausschließlich in den protestantischen Landesteilen Westfalens Fuß fassen konnten. Das war kein Zufall, sondern hatte einen sachlichen Grund: Bischof Ketteler, dessen Publikationen das katholische Deutschland stark beeinflussten, förderte mit größtem Eifer die Errichtung von Spar- und Darlehnskassen und Kreditvereinen. Als Vorbild dienten ihm aber nicht die Vereine des politisch engagierten, liberalen Parteimannes Schulze-Delitzsch, sondern diejenigen Friedrich Wilhelm Raiffeisens, der aus streng konservativer, betont christlich-sozialer Überzeugung agierte. Für Raiffeisen war das Genossenschaftswesen – ganz im Sinne der Kirche – eine religiös-sittlich fundierte Einrichtung. Im Gegensatz zu Schulze-Delitzsch, der den Gedanken absoluter Selbsthilfe vertrat, suchte Raiffeisen die Selbsthilfe durch Staatshilfe zu ergänzen. Ketteler schätzte an Raiffeisens Konzeption vor allem, dass die Überschüsse seiner Kassen allein der Institution und ihren Mitgliedern und nicht, wie dies bei den anderen Einrichtungen häufig geschah, politischen Zwecken zugute kamen. Mit seiner intensiven und wirksamen Propaganda beeinträchtigte der Bischof das Werk Schulzes in den westlichen Provinzen Preußens auf das Empfindlichste. Im Rheinland und in Westfalen wurde Schulzes Vereinen und Kassen dadurch zunächst fast völlig der Boden entzogen,149 ohne dass es in der Provinz vor 1870 zur Errichtung von Instituten nach dem Modell Raiffeisens gekommen wäre. d. Das Genossenschaftsgesetz und die weitere Entwicklung Der Aufbau eines effizienten Genossenschaftswesens wurde schließlich aber durch Maßnahmen des Gesetzgebers gefördert und beschleunigt. Das preußische „Gesetz betr. die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ vom 27. März 1867 gab den Kredit-, Rohstoff-, Produktions- und Konsumvereinen die bis dahin fehlende einheitliche und verbindliche Form. Der Versuch SchulzeDelitzschs, die bestehenden Innungen den Genossenschaften einzugliedern, scheiterte allerdings.150 Durch die gesetzliche Regelung, welche die Solidarhaftung aller Genossen mit ihrem ganzen Vermögen bestimmte (§ 11), wurde das Vertrauen der Geschäftspartner in die neue Einrichtung gestärkt.151 In eben diesem Sinne regelte auch das Genossenschaftsgesetz des Norddeutschen Bundes vom 4. Juli 1868 die Rechtsverhältnisse der neuen Gesellschaftsform.152 Dieses Gesetz wurde später Teil der Reichsgesetzgebung und als solcher durch das Gesetz vom 1. Mai 1889 sowie eine Novelle vom 12. August 1896 den veränderten Bedingungen angepasst. 149 Vgl. Christlich-soziale Blätter 1869, S. 127; Franz (1914), S. 222. 150 Steuer (1928), S. 52. 151 Über die Bedeutung der Solidarhaftung für den Erfolg der Genossenschaften s. Endemann (1863), S. 489–492. 152 Genossenschafts-Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 4. Juli 1868, in: Gesetz-Blatt des Norddeutschen Bundes 1868, Nr. 134, S. 415.
B. Genossenschaftliche Organisationsformen
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Nach 1870 begann endlich auch der Siegeszug des Genossenschaftswesens in Westfalen, und zwar in der Form der sog. „Spar- und Darlehnskassen“ Raiffeisens.153 Der vergleichsweise späte Erfolg dieser Genossenschaften hatte folgenden Grund: Da Raiffeisen seine insbesondere für die Interessen der Landwirtschaft konzipierten Organisationen ursprünglich auf das Prinzip der Wohltätigkeit gegründet hatte und diesen Weg erst nach schlechten Erfahrungen wieder verließ, begann die eigentliche Wirksamkeit seiner Ideen in der breiten Öffentlichkeit nicht vor dem Ende der sechziger Jahre, und zwar zuerst im Rheinland.154 Seine Genossenschaften erlangten dann aber auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Handwerksbetriebe in den Dörfern und kleinen Städten Westfalens Bedeutung. Etwa gleichzeitig entwickelten sich einige Genossenschaftszweige der Organisation Schulze-Delitzschs, insbesondere die Volksbanken, auch in den westlichen Provinzen Preußens zu florierenden Wirtschaftsunternehmen. Beide Organisationen trugen aber nur bedingt dazu bei, den Kleinmeisterstand der gefährdeten Berufssparten gegen den industriellen Großbetrieb zu halten. Die Beteiligung der Handwerker an den Kreditvereinen insgesamt war nämlich rückläufig. Ihr Anteil am Mitgliederbestand der Schulze-Delitzschen Kreditgenossenschaften betrug um 1900 nur noch ein Viertel.155 Die wenigen Rohstoff- und Magazingenossenschaften, die in Westfalen existierten, verloren damals ebenfalls schnell an Bedeutung.156 Alle Formen der gewerblichen Genossenschaften blieben weit zurück hinter der Zahl und Stärke der entsprechenden landwirtschaftlichen Organisationen. Dieser nur bescheidene Erfolg hatte natürlich, wie bereits festgestellt, auch damit zu tun, dass die Zusammenarbeit der Handwerker einzelner Berufszweige bei der Organisation des Wirtschaftsbetriebes mit der Einführung der Gewerbefreiheit in Westfalen ihr vorläufiges Ende gefunden hatte. Für Jahrzehnte blieben die Professionisten allein auf ihre eigenen Kräfte verwiesen. Gleichwohl war es kein Zufall, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gerade diejenigen Teilbereiche der Handwerkswirtschaft wiederum der genossenschaftlichen Zusammenarbeit öffneten, die schon zur Zunftzeit auf kollektiver Basis betrieben worden waren: Rohstoffbeschaffung, Unterhalt gemeinsamer Betriebsanlagen sowie Organisierung des Absatzes kehrten nun unter den Schlagworten Rohstoffgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften sowie Magazine und Gewerbehallen wieder. In diesen Bereichen bestanden eben praktische Bedürfnisse, die eine Zusammenarbeit nahe legten. Wirklich neu waren nur die wegen des wachsenden Kapitalbedarfs aufgrund der allmählich beginnenden Technisierung Anklang findenden Kredit- und Sparkassen auf genossenschaftlicher Basis. Dem kollektiven Wirtschaften war aber zur 153 S. dazu Quabeck (1912), S. 448–531; Lukas (1972). 154 Schulze-Delitzsch (1870), S. 488, 490. 155 Aus diesem Grunde sieht Offermann (1979), S. 220, 221 m. w. Nachw. die Schulzesche Genossenschaftsbewegung insgesamt als gescheitert an. S. dazu Sombart (1904), 2. T., S. 29; genaue statistische Angaben über den Zustand des Genossenschaftswesens im Handwerk zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich bei Hesse (1920), S. 216 ff. mit weiterführenden Literaturhinweisen. 156 Gerade das Prinzip der Solidarhaft drängte die ärmeren Mitglieder aus den Genossenschaften hinaus. Deshalb betrachtete Ketteler die gesetzlichen Bestimmungen als völlig unzureichend; s. Franz (1914), S. 256.
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IV. Der Gewerbebetrieb
Zunftzeit wie auch unter der Herrschaft liberaler Ordnungsvorstellungen gemeinsam, dass es niemals das gesamte Handwerk erfasste. Immer blieb es auf einzelne Teilbereiche des Wirtschaftsbetriebes, einzelne Berufszweige, einzelne Orte beschränkt – stets bildete es eher die Ausnahme als die Regel. Bei so frappanter Übereinstimmung der Anwendungsbereiche gemeinschaftlicher Organisationsformen im zünftigen und gewerbefreiheitlichen Handwerk bleibt doch ein entscheidender Unterschied: Das Alte Handwerk hatte seinen genossenschaftlichen Rückhalt an der Zunft; es bedurfte keiner weiteren Organisationsformen, um Teile der wirtschaftlichen Aktivitäten der einzelnen Betriebe der Gemeinschaft zu überlassen. Ganz anders war es nach Einführung der Gewerbefreiheit: Die Erkenntnis, dass sich manche Bereiche gewerblichen Wirtschaftens gemeinsam effizienter gestalten ließen, hatte sich, reanimiert durch den Associationsgedanken, längst wieder Bahn gebrochen, als man noch immer auf der Suche nach der geeigneten Rechtsform für den neuen Zusammenschluss der Meister war. Diese Unklarheit über das zweckmäßigste „Grundgesetz“ der kollektiven Wirtschaftsweise, die erst mit dem Inkrafttreten des Genossenschaftsgesetzes von 1867 endgültig ihr Ende fand, barg eine Chance in sich, war aber auch die Ursache für häufiges Scheitern, für das schnelle Ende mancher idealistischer Planung. In Westfalen hatten die Handwerker die wolkigen Vorstellungen von den wunderbaren Heilkräften der „Association“, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die öffentliche Diskussion beherrschten, überdies niemals ganz geteilt. Das Ende der Zünfte, das hier früh gekommen und vollständig gewesen war, hatte die Meister möglicherweise unfähig gemacht, sich leichten Herzens kollektiven Wirtschaftsformen zu öffnen. Diese Schwerfälligkeit verband sich mit der Ablehnung, mit der weite Kreise des katholischen Handwerks den Organisationen Schulze-Delitzschs gegenüberstanden. Das Ergebnis war, dass der Genossenschaftsgedanke auf das westfälische Kleingewerbe vor 1870 keinen wesentlichen Einfluss gewinnen konnte. Die Assoziationen hatten sich noch nicht, wie manche Handwerker gehofft und ihre Freunde von der schreibenden Zunft zu Beginn der Genossenschaftsbewegung euphorisch verkündet hatten, als der „Zauberstab, den die göttliche Vorsehung in die Hand des Arbeiters gelegt hat“,157 erwiesen.
157 Mascher (1866), S. 729.
V. DAS ARBEITSRECHT A. DIE ÜBERGANGSZEIT 1. Die Bestimmungen des ALR Das im Jahre 1794 in den westfälischen Provinzen Preußens und 1803 auch in den neugewonnenen sog. Erbfürstentümern in Kraft getretene Preußische Allgemeine Landrecht kodifizierte in seinem zweiten Teil Sonderprivatrechte, zu denen auch das Arbeitsrecht1 des zünftigen Handwerks gehörte. Die Vorschriften gaben die in Jahrhunderten gewachsenen und im 18. Jahrhundert durch staatliche Eingriffe modifizierten, gegen Ende jenes Säkulums aber teilweise bereits als obsolet empfundenen Rechtsvorstellungen noch einmal mit akribischer Sorgfalt wieder.2 Da der Gesellenstatus integraler Bestandteil der Zunftordnung war, wurde auch der Arbeitsvertrag der Handwerksgesellen entscheidend von den hergebrachten Grundsätzen der Handwerkswelt geprägt. Die Korporationen betrachteten die Gesellenjahre traditionell als bloßes Übergangsstadium zwischen der Lehrzeit und der Niederlassung als selbständiger Meister – eine Fiktion, die das handwerkliche Arbeitsverhältnis nachhaltig prägte.3 Aufgrund des Gewichtes ständischer Traditionen be1
2
3
Mestitz geht davon aus, daß für die vorindustrielle Epoche nicht von der Existenz eines wirklichen „Arbeitsrechtes“ gesprochen werden kann. Mayer-Maly u. a. unterstellen dagegen die Kontinuität arbeitsrechtlicher Regelungen seit dem Spätmittelalter; vgl. dazu Steindl (1990), S. 99–105 (101). Aus der umfangreichen Literatur zur Geschichte des Arbeitsrechts seien z. B. genannt: Schmoller (1874), S. 71–123; Schmoller (1874), S. 447–527; Dierig (1910); Könnecke (1912); Ritscher (1917); Braun (1922), S. 325–369; Ebel (1934); Ebel (1936); Mayer-Maly (1956); Ebel (1964), VIIff.; Ogris (1967), S. 286–297; Demmer (1968); Bernert (1972); Kaiser (1972); Söllner (1972);Mayer-Maly (1975), S. 59–63; Wahsner (1976); Engelhardt (1976), S. 538–598; Trautmann (1976), S. 472–537; Kollmann (1977); Teuteberg (1977), S. 47–73; Vormbaum (1980); Mestiz (1984), S. 1 ff.; Bender (1984), S. 251 ff.; Klassen (1984); Steindl (1984), S. 29–138; Schröder (1984); Brand (1990); Schröder (1991), S. 7–76; Schröder (1992); Becker (1995); Sellier (1998); Nutzinger (1998); Reith (1999); Krämer (1999); Häberlein/Jeggle (2004); Kittner (2005); Buchner/Hoffmann-Rehnitz (2009); auf spezifisch westfälische Verhältnisse rekurrieren: Wenzel (1970), S. 286–291; Deter (1987); Deter (1990), S. 209–222. ALR II 8 §§ 325 ff. Die Bestimmungen des Landrechts zum Arbeitsvertrag der Handwerksgesellen beruhten auf der preußischen Handwerksordnung von 1733. Diese bildete auch die Grundlage der Generalprivilegien, welche im Arbeitsvertragsrecht im Allgemeinen übereinstimmten und die gleichen Vorschriften wie das Landrecht enthielten. Zum handwerklichen Arbeitsrecht des ALR s. Brentano, Art. Gewerkvereine (1900), S. 613; Becker (1995), S. 45 ff. Zum Arbeitsvertrag im Naturrecht vgl. Klippel (1990). Ein lebendiges Bild der Lage der Handwerksgesellen vermitteln die zeitgenössischen Selbstzeugnisse, die Wolfram Fischer herausgegeben hat; s. Fischer, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks (1957); zum Stellenwert der Arbeit in der frühneuzeitlichen Gesellschaft vgl. Dülmen (2000). Ludolf Kuchenbuch und Thomas Sokoll haben darauf hingewiesen, daß die rechtliche Ordnung der Arbeit, die Arbeitsverfassung, nur wenig über die Arbeit selbst und
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V. Das Arbeitsrecht
durfte es zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung bis zum Ende der Zunftzeit nicht einmal des geschriebenen Rechts. So trug, um ein besonders anschauliches Beispiel hervorzuheben, die Sanktion allgemeiner Diskriminierung maßgeblich dazu bei, die Verpflichtung der Hilfskräfte zur Ehelosigkeit auch durchzusetzen.4 Da der zünftige Geselle nicht allein ein bloßes Arbeitsverhältnis einging, sondern zugleich gehalten war, seine Fachkenntnisse zu erweitern und zu vertiefen, schrieb das ALR, einmal mehr der Handwerksgewohnheit folgend, die Wanderpflicht fest. Die Regelung hatte im Allgemeinen den häufigen Arbeitsplatzwechsel der Gesellen zur Folge, wenngleich das Wandern im ländlich-kleinstädtisch geprägten Westfalen nicht denselben Stellenwert besaß wie in anderen Gegenden des Reiches.5 Damit die Obrigkeit die Kontrolle über die Arbeitsverhältnisse dieser fluktuierenden Masse nicht verlor, bestimmte das ALR unter Rückgriff auf die handwerkliche Tradition, dass der eingewanderte Geselle sich nicht selbst einen Arbeitsplatz suchen durfte; stattdessen hatte die Zunft ihm diesen zu verschaffen und den Ankömmling nur demjenigen Meister zuzuteilen, der die zunftinterne Warteliste anführte.6 Mit einer solchen Regelung verhinderten die Gewerksgenossen, dem Zunftideal der gleichen Nahrung getreu, von vornherein das Entstehen jedweden Arbeitsmarktes im eigentlichen Sinne. Nur wenn der Arbeitsvertrag bereits abgeschlossen war, bevor der Geselle in die Stadt einwanderte oder der Arbeitssuchende in einer Fabrik arbeiten wollte, konnte er seinen Arbeitgeber frei wählen.7 Die für das Alte Handwerk noch ganz und gar typische Regelung implizierte natürlich auch, dass der korporierte Meister seine Hilfskräfte nicht nach eigenem Gusto einstellen und nur zünftige Gesellen seines Gewerbes beschäftigen durfte. Einen spürbaren Eingriff in das Herkommen der Zünftigen bedeutete dagegen bereits die Bestimmung des ALR, wonach Lohn und Kostgeld unter Aufsicht der Behörden festzusetzen seien.8 Wegen der Subsidiarität der Bestimmungen der Kodifikation blieb diese dem Zunftbrauch widersprechende Vorschrift aber ohne praktische Wirkung.9 Vielmehr dominierte die Orientierung des Gesellenlohns an der lokalen Gewohnheit, die in Wahrheit zumeist nichts anderes als ein Lohndiktat des Meisters darstellte. Denn da der Geselle den Arbeitgeber nicht auswählen konnte, musste er sich in praxi mit dem Angebot des Meisters abfinden oder aber die Stadt verlassen. Nahm er die vorgeschlagene Stelle an, hatte er die ihm aufgetragene Arbeit „willig“ auszuführen, und nur an Sonn- und Feiertagen durfte er diese „unterlassen“.10 Wer an der alten Sitte des „Blauen Montags“, der Fünftage-
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den Alltag der Arbeitenden aussage; so Kuchenbuch/Sokoll (1990), hier nach Reith (1998), S.12. Zur politischen und rechtlichen Situation der Unterschichten vgl. Lorenz (1991); natürlich soll hier kein vollständiges Tableau des zünftigen Arbeitsrechts in Westfalen entfaltet werden; dieses muss an anderer Stelle geschehen. S. v. Rohrscheidt (1898), S. 139 f.; nur das Bauhandwerk machte hier eine Ausnahme. Vgl. Bade (1982), S. 21, 22 mit Hinweisen aus Westfalen. S. dazu auch Reininghaus (1999). S. dazu vor allem auch Bd. 2. ALR II 8 §§ 340, 341. ALR II 8 §§ 347, 420. ALR II 8 § 250. S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 27. ALR II 8 §§ 357, 358.
A. Die Übergangszeit
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woche also, festhielt, sollte, dem erzieherischen Impetus des aufgeklärt-absolutistischen Gesetzgebers entsprechend,11 mit Gefängnis bestraft werden. Den Arbeitsunwilligen durch die Polizei an den Arbeitsplatz zurückführen und so zur Wiederaufnahme der Arbeit zwingen zu lassen, bestimmte das ALR hingegen nicht.12 Dieser Antagonismus – einerseits Bestrafung des Feierns, andererseits Verzicht auf polizeilichen Zwang zur Arbeit – war allerdings nur vordergründiger Natur. Denn in Wahrheit sollten die Strafdrohungen nicht die Verletzung des Arbeitsvertrages ahnden, sondern den Widerstand gegen die Zunftordnung und damit gegen die Obrigkeit verhindern.13 Ihrer hoheitlichen Gewalt hatte der Staat des 18. Jahrhunderts die Korporationen nicht entkleidet. Ausdruck der engen Verwobenheit von Zunftverfassung und öffentlicher Autorität, die sich zur Instrumentalisierung der Korporationen für die Zwecke des absoluten Staates wandelte, war auch die Pflicht der Meister, der Obrigkeit jeden ihrer rechtswidrig feiernden Gesellen anzuzeigen; selbst den Herbergswirt sollte eine Strafe treffen, wenn er Gesellen während der Arbeitszeit bewirtete. Sogar die private Lebensführung der Gesellen sollte kontrolliert werden. So verpflichtete das Gesetz die Meister, das Betragen der Gesellen zu beaufsichtigen, sie zu einem „stillen, gottesfürchtigen“ Dasein anzuhalten und vor Ausschweifungen zu bewahren.14 Ihrer Überwachung diente die der Reichsgesetzgebung entlehnte sog. Kundschaft, in welche das Verhalten des Gesellen und seine jeweilige Arbeitsdauer einzutragen waren. Das Papier galt als Ausweis und diente als Beleg ordnungsgemäßer Wanderschaft. Es war Voraussetzung dafür, dass der Geselle Arbeit bekam und nicht zu den Vagabunden gezählt wurde.15 Das ALR sah eine vierzehntägige Kündigungsfrist für beide Parteien des Arbeitsvertrages vor.16 Das Kräfteverhältnis zwischen Meistern und Gesellen, welches das Gesetz festzuschreiben suchte, wird bei der Aufzählung der Gründe für eine fristlose Kündigung deutlich: Der Arbeitgeber konnte seinen Gesellen fristlos entlassen, wenn dieser ihn oder seine Familie beleidigte, ungehorsam war, Angehörige der Meisterfamilie „zum Bösen“ verleiten wollte, den Meister bestahl, nachts außer Haus blieb oder mit Feuer und Licht unvorsichtig umging.17 Dem Gesellen hingegen war die fristlose Kündigung des Arbeitsvertrages ausschließlich dann möglich, wenn der Meister ihm gegenüber grundlos tätlich geworden war.18 Vereinigungsfreiheit bestand für die Gesellen nicht. Die Bestimmung des Reichsschlusses aus dem Jahr 1731, wonach sie „keine Brüderschaft ausmachen dürfen“, wurde vom preußischen Landesgesetzgeber aufgenommen: „Die Gesellen 11 12 13 14 15 16 17 18
Allerdings ist stets zu beachten, dass solche Vorschriften keineswegs in jedem Falle zur Anwendung kamen. Zur Geschichte des „Blauen Montags“ s. Köhne (1920). S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 12; Ausnahmen: Gesinderecht des ALR II 5 §§ 51, 52, 167 [vgl. dazu Vormbaum (1980)] sowie Seeschiffsmannschaft ALR II 8 §§ 1546 ff. So schon Vietinghoff (1972), S. 28. ALR II 8 § 356. ALR II 8 § 392. ALR II 8 § 385. ALR II 8 §§ 379–384; eine Generalklausel zur Umschreibung der Kündigungsgründe kannte das Gesetz nicht. ALR II 8 §§ 388.
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V. Das Arbeitsrecht
machen unter sich keine Communion oder privilegierte Gesellschaft aus“.19 Erlaubt war lediglich der Zusammenschluss zu sog. Laden, die allein der Fürsorge für Kranke dienten und sich allenfalls auch die Pflege der Geselligkeit unter den Gewerksbrüdern angelegentlich sein lassen konnten. Nichtsdestoweniger bestanden um 1800 aber, wie in allen größeren Städten des Reiches, so auch in Westfalen Gesellenbrüderschaften, die wie eh und je auch die Wahrung ihrer Interessen gegenüber den Meistern zu ihren Aufgaben zählten und vor Kampfmaßnahmen nicht zurückschreckten.20 Die auf verschiedenen Ursachen beruhende Attitüde latenter Streikbereitschaft, welche die Gesellen an der Schwelle zum neuen Jahrhundert mit bis dahin unbekannter Militanz zur Schau trugen21 und die sie mit revolutionärem Gedankengut sympathisieren ließ, empfahl dem Gesetzgeber des aufgeklärt-absolutistisch regierten Preußen die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit natürlich nicht eben. Fokussiert man die Vielzahl dieser arbeitsrechtlichen Vorschriften des zunächst auch in Westfalen nur subsidiär geltenden ALR, welche man sich um das primär zu achtende Statutarrecht erweitert denken muss, so ergibt sich das Bild eines weitgehend reglementierten Arbeitsverhältnisses, welches in vollendeter Weise in das Zunftgehäuse eingefügt war und individuellen Gesichtspunkten keinerlei Raum gab. Damit widersprach das ALR dem Ideal der Gewerbe- und Vertragsfreiheit des heraufziehenden bürgerlich-liberalen Jahrhunderts zutiefst – ein Umstand, den die am Grundsatz der Rationalität orientierte französische Fremdherrschaft in Westfalen keineswegs zu tolerieren gesonnen war. 2. Das französische Recht Der Code Napoleon, welcher dort bald nach der Etablierung der französischen Heere rechts des Rheines eingeführt wurde,22 stellte die gesamte Rechtsordnung und damit auch das gewerbliche Arbeitsvertragsrecht auf eine völlig neue Basis.23 Das Gesetzbuch, ganz und gar an den revolutionären Prinzipien von Freiheit und Gleichheit orientiert, formte aus dem traditionsverhafteten Handwerksgesellen den Typus des gewerblichen Arbeiters. Der Code begriff den Dienstvertrag als « le louage des gens de travail qui s’engagent au service de quelqu’un » (Cap. III, p. 557, Art. 1779) und konstitutierte damit ein weitaus freieres Verfügungsrecht der Gewerbegehilfen über ihre Arbeitskraft, als es die Westfalen bis dahin gekannt hatten. Der Arbeitsvertrag der Handwerksgesellen war seiner janusköpfigen Natur – 19 20 21 22
23
ALR II 8 § 396. Vgl. z. B. Althaus (1997). Zum Fortleben des Koalitionsgedankens im allgemeinen vgl. Brentano, Art. Gewerkvereine (1900), S. 620; für Westfalen s. Deter (1987). S. Grießinger (1981); Deter (1987), S. 94. Im Großherzogtum Berg trat der Code am 1. Januar 1810 in Kraft; Art. 1 des Décret impérial portant la mise en activité du Code Napoléon du 12 novembre 1809, 2. Teil des Gesetzesbulletins des Großherzogtums Berg Nr. 2 (1809), S. 8–11. Im neugeschaffenen Königreich Westphalen wurde der Code durch Art. 45 der Verfassung ab 1. Januar 1808 und im Herzogtum Arenberg ab 01.07.1808 (s. Conrad (1966), Bd. 2, S. 398; Possel-Dölken (1978), S. 34) eingeführt. Vgl. Bernert (1972), S. 147 ff.; Brand (2006).
A. Die Übergangszeit
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einerseits Privatrechtsverhältnis zu sein, andererseits aber durch die Ein- bzw. Unterordnung der Parteien und ihres Vertrages unter die hoheitlich handelnde Zunft und ihre Ordnung ein besonderes Gewaltverhältnis zu begründen – vollständig entkleidet worden. Bei aller Liberalisierung der arbeitsrechtlichen Beziehungen verstand sich der Gesetzgeber allerdings doch zu einem gewissen Schutz des Arbeitnehmers: „on ne peut engager ses services qu‘à temps, ou pour une entreprise determiné“ (p. 557, Cap. III, Art. 1780). Das Prinzip der freien Aushandlung des Arbeitslohnes, welches manchen aufgeklärten Zunftgegner in der Gesellenschaft für die neue Ordnung hätte einnehmen können, verlor aber sogleich jede werbende Wirkung durch eine den Gedanken der Waffengleichheit der Vertragsparteien und damit auch der Kontrahenten bei Lohnstreitigkeiten zutiefst verletzende Bestimmung: „Le mâitre est cru sur son affirmation“ (p. 557, Cap. III, Art. 1781).24 Bei solchen Auseinandersetzungen sollte nach der „despotischen Vorschrift“ des Art. 1781 dem Arbeitsherrn auf dessen bloßes Wort geglaubt werden, weil für diesen „das Übergewicht an Bildung“ spreche.25 Mit der den Arbeitgebern zugebilligten größeren Glaubwürdigkeit im Prozess hatte das neue Regime aus dem Westen den Gesellen unmissverständlich deutlich gemacht, dass es nicht ihre Interessen waren, denen es Priorität einräumte. Die Regelung, wonach Ansprüche auf Arbeitslohn bereits nach sechs Monaten verjährten, erschöpfte die das Dienstvertragsrecht betreffenden Bestimmungen bereits. Hinsichtlich der Kündigung blieben, da das Gesetz keine Regelungen traf, auch nach dem neuen Recht die ortsüblichen Kündigungsfristen maßgeblich.26 Die Koalition im Sinne des Arbeitsrechts, der Zusammenschluss von Arbeitgebern bzw. Arbeitnehmern zur Durchsetzung jeweils besserer Bedingungen des Arbeitsvertrages, war bereits durch ein französisches Gesetz aus dem Jahre 1791 strikt untersagt worden.27 Eine gewisse Beschränkung der Abschlussfreiheit blieb, obgleich der Befähigungsnachweis gefallen war, insoweit bestehen, als kein Meister den Lehrling seines Mitmeisters als Gesellen beschäftigen durfte, ehe ein Entlassungszeugnis ausgestellt war.28 Die zahlreichen Lücken dieser kargen Regelungen glaubte man durch die Grundsätze der Sachmiete füllen zu können. Dem Dienstherrn war es gestattet, den Arbeiter vorzeitig zu entlassen, wenn dieser die ihm aufgetragenen Aufgaben nicht erfüllte. Lohnkürzungen waren erlaubt, wenn der Dienstverpflichtete erkrankte. Dieser wiederum konnte den Dienst dann sofort aufkündigen, wenn der Arbeitgeber den Lohn nicht zahlte.29 Die Arbeitsverhältnisse im Handwerk wurden demnach endgültig aus der ständischen Ordnung herausgelöst und in rechtlicher Hinsicht den Fabrikarbeitsverhältnissen angepasst, die schon lange der korporativen Bindungen entbehrten und schlicht als zivilrechtliche Rechtsverhältnisse beurteilt wurden. Damit galten auch für die westfälischen Handwerker die im Code civil enthaltenen Regelungen über 24 25 26 27 28 29
Dazu ausführlich Bernert (1972), S. 144. S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 36. Bernert (1972), S. 146 m. w. Nachw. Gesetz v. 14.–17. Juni 1791, s. Schönberg (1896), Bd. II 1, S. 585. Gesetz v. 14.–17. Juni 1791, wie Anm. 27, S. 597. Vgl. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 36.
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V. Das Arbeitsrecht
die allgemeinen Inhalte von Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen. Dogmatisch handelte es sich um „eine Art“30 von Schuldverträgen und Schuldverhältnissen mit gegenseitigen Leistungen. Unterschiede zu den Dienstverträgen existierten nicht länger. Die Essenz des auf freier Unterkunft beruhenden Arbeitsvertrages des Code civil bestand in dem Versprechen des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber Handlungen zu leisten, während sich der Arbeitgeber hierfür ein Entgelt zu zahlen verpflichtete. Sofern die Gesellen in Westfalen den Inhalt des für sie relevanten neuen Rechts überhaupt wahrnahmen, mochten sie goutieren, dass sie nunmehr den Tenor des Arbeitsvertrags, insbesondere die Dauer des Arbeitsverhältnisses, nach Gutdünken aushandeln konnten. In eben dieser Freiheit lag aber auch das Risiko, einen Vertrag mit ungünstigen Konditionen abzuschließen – eine Gefahr, der das französische Recht kaum entgegenzutreten beabsichtigte. Korporationen, Vereinigungen oder Vereinbarungen von Gewerbetreibenden und Arbeitnehmern, die durch kollektives Handeln die jeweiligen Interessen nachdrücklich hätten vertreten können, blieben verboten.31 Nicht den Zusammenschluss der Gesellen in unabhängigen Organisationen, sondern deren Überwachung intendierte das französische Empire. Ihrer außerordentlichen Kargheit halber konnten die arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Codes allein aber nicht tragen. Schon 1809 erließ Napoleon deshalb auch für das Großherzogtum Berg ein Dekret, „die gegenseitigen Verbindlichkeiten der Gesellen und ihrer Meister betreffend“.32 Die ohne weitere Absprachen, lediglich auf „Treu und Glauben“ eingegangenen Verträge hatten fortan dem Maßstab der „guten Sitten“ zu genügen (§ 1). Ein eng begrenzter Katalog von Kündigungsgründen ermöglichte die Auflösung des Lehrvertrages.33 Das seit je häufige Entlaufen der Lehrlinge sollte dadurch unterbunden werden, dass die Meister fakultativ die Rückführung des Vertragsbrüchigen oder Schadensersatz verlangen konnten. Einen spezifischen Gesellenstand kannte das Gesetz, dem Prinzip der Gewerbefreiheit entsprechend, nicht mehr. Schriftliche Arbeitsverträge konnten nur „durch die competente Behörde“ aufgehoben werden. Die Arbeiter waren gehalten, sich nicht länger als für ein Jahr bei einem bestimmten Meister zu verpflichten (Art. 11).34 Lag diese Bestimmung auch im Interesse der abhängig Beschäftigten, so verletzte das dem Code entlehnte und nun wiederholte, den Meistern zugestandene
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So Bernert (1972), S. 147. Bernert (1982), S. 130. Decret, die gegenseitigen Verbindlichkeiten der Gesellen und ihrer Meister betreffend, v. 3. November 1809, in: Gesetz-Bulletin des Großherzogtums Berg, Jahrg. 1809, Nr. 4, S. 164 ff.; desgl. in: Sammlung der Präfectur-Verhandlungen des Ruhr-Departements Nr. 3 v. 8.2.1810, S. 18. Das Gesetz knüpfte an das entsprechende französische Loi relative aux Manufactures, Fabriques et Ateliers du 22 Germinal An XI (12.4.1803), Bulletin des Lois, 3e Série, Tome 8, Page 129, an. Als solche wurden in Art. 3 aufgeführt: Mangelhafte Ausführung der Verbindlichkeiten, schlechte Aufführung, Untreue, aber auch üble Behandlung und Übervorteilung des Lehrlings bei der Festsetzung von Lehrgeld und Lehrzeit. Das Gesetz kannte die Aufhebung des Dienstvertrages nur aus bestimmten, fest umrissenen Gründen: Unfähigkeit, den Dienstpflichten nachzukommen; schlechte Aufführung, Untreue, üble Behandlung; erheblich geringerer als der ortsübliche Lohn; Fristablauf (Art. 22–24).
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Privileg der größeren Glaubwürdigkeit bei gerichtlichen Streitigkeiten aus Lohnforderungen (Art. 20, 21) die Hilfskräfte natürlich einmal mehr. Ihren signifikantesten Ausdruck fand die verordnete Inferiorität des die Arbeit nehmenden Vertragspartners in der Einführung sog. „Büchelchen“.35 Die örtlichen Polizeibehörden mussten den Arbeitsnachweis, der auch die persönlichen Daten „der Gesellen oder Knechte“ enthielt, ausstellen und nach dem Wechsel der Arbeitsstelle jeweils auf den neuesten Stand bringen, so dass eine lückenlose Kontrolle des Berufswegs jedes einzelnen Arbeiters möglich war. Damit wurde an die Tradition der sog. „Kundschaften“, die der Reichsschluss des Jahres 1731 eingeführt und welche die Territorien durchzusetzen verstanden hatten, angeknüpft. Die außerordentliche Bedeutung, die der französische Gesetzgeber diesen Arbeitsbüchern beimaß, erhellt schon der Umstand, dass sie im Großherzogtum als Pass dienen sollten. Der Arbeiter, welcher kein solches Dokument besaß, wurde entweder als Landstreicher betrachtet und in das „Depot für Bettler“ transferiert oder aber, wenn er einen Arbeitsplatz nachweisen konnte, mit einer Geldbuße belegt (Art. 43). Wer Vorschuss auf seinen Lohn erhalten hatte, konnte erst dann aus dem Betrieb ausscheiden und das Arbeitsbuch erhalten, wenn er die Schuld durch seine Arbeit getilgt und die Verbindlichkeiten damit erfüllt hatte (Art. 49). Die Gewährleistung der Rückzahlung sollte die Kreditwürdigkeit des Arbeiters erhöhen – eine – jedenfalls vordergründig so zu verstehende – sozialpolitische Maßnahme des Gesetzgebers, die den Arbeitnehmer bei Konjunkturschwankungen, Teuerung und persönlichen Schicksalsschlägen wie Krankheiten vor der größten Not bewahren sollte. Besondere, lange fortwirkende Bedeutung kam einer Bestimmung zu, wonach den Arbeitgebern Absprachen zur Senkung der Löhne unter Androhung von Geldstrafen untersagt wurden, während den Arbeitern jedwede Vereinigung mit dem Ziel von Arbeitskampfmaßnahmen verboten und schon der Versuch der Ausführung mit Gefängnis bestraft wurde (Art. 60, 61).36 Auch zum Rechtsweg traf das Gesetz Regelungen: Über „gemeine Polizeyhändel“, die sich aus Arbeitsverhältnissen ergaben, hatten die Maires, die Bürgermeister also, zu entscheiden, ohne dass gegen deren Spruch ein Rechtsmittel zulässig gewesen wäre (Art. 64). Die eigentlichen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten fielen in die Zuständigkeit der sog. Tribunäle, der ordentlichen Gerichtsbarkeit also (Art. 65).37 Gerichtsstand war der Arbeitsort. Die Zwecke des Gesetzes wurden in der Praxis aber nicht erreicht. Die Arbeitsbücher fanden rechts des Rheins keinen 35 36
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Wie Anm. 32, Dekret v. 3.11.1809, 2. Titel, § 1 ff. Das etwa gleichzeitig erlassene preußische Edikt v. 7.9.1811 überließ den Arbeitsvertrag der Handwerksgesellen ebenfalls der freien Vereinbarung. Inwieweit das traditionelle und in der französischen Gesetzgebung erneut eingeschärfte Koalitionsverbot danach in Rumpf-Preußen noch Beachtung fand, ist umstritten: Ritscher stellte fest, das Koalitionsverbot sei weiterhin als bestehend und geltend betrachtet worden; Kollmann dagegen nahm an, dass die strafrechtsbewehrten Koalitionsverbote mit der Aufhebung des Zunftzwanges fortgefallen seien. Jedenfalls wurden auf Grund der wiederholten Verbote des „Feierns“ an den sog. Blauen Montagen weiterhin Strafen verhängt, s. Ritscher (1917), S. 152. In arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten waren die sog. Friedensgerichte selbständig und nicht wie sonst nur als Güteinstanz zuständig; s. Münstermann (o. J.), S. 39–41.
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Eingang,38 und auch die Vorschussregelung diente den Interessen der Arbeiter nicht. Denn die verantwortungsbewussten Arbeitgeber ließen gewährte Vorschüsse nicht in das Arbeitsbuch eintragen, und nur „unredliche Unternehmer“, die die Arbeiter ihrer Freiheit berauben und sie an sich fesseln wollten, nutzten die Regelung.39 Mit diesen wenigen Bestimmungen stand das Arbeitsvertragsrecht auf weit dürftigerem Fundament, als dies bis dahin in Westfalen der Fall gewesen war. Nur der infolge der andauernden Kriege während der französischen Ära allerorten fühlbar werdende Mangel an gewerblichen Hilfskräften verhinderte, dass der kalte Wind nahezu schrankenloser Liberalität den Gesellen schärfer als zuvor ins Gesicht blies. B. DIE REANIMIERUNG DES PREUSSISCHEN RECHTS 1. Die Wiedereinführung des ALR Als die preußische Kodifikation 1814 in Westfalen wieder eingeführt wurde, entbehrten wesentliche Teile ihres handwerklichen Arbeitsrechts wegen der Beseitigung der Zunftordnung des sachlichen Grundes.40 Zu verfolgen, wie obsolet gewordenes Recht in einer längst veränderten Umwelt angewandt wurde, gehört zum Spannendsten, was die Rechtsgeschichte ihren Jüngern zu offerieren vermag. Eine seltene Gelegenheit, dieser Frage nachzuspüren, bietet der hier zu betrachtende Gegenstand, und die Singularität, welche die westfälischen Rechtsverhältnisse damals von denen des übrigen Preußens schied, erhöht den Reiz der Untersuchung. Für das ostelbische Preußen ist festgestellt worden, dass die Freimeister wegen des wirtschaftlichen und sozialen Drucks, der dort unverändert von den Zünften ausging, selbst nach Aufhebung des Zunftzwanges nur schwerlich Gesellen bekamen.41 Die Rechtswirklichkeit des Lehr- und Arbeitsverhältnisses unterschied sich im Osten damals eben nur wenig von derjenigen vor Einführung der Gewerbefreiheit, doch mit der wesentlichen Ausnahme, dass es nun an jeder hoheitlichen Aufsicht über diesen wichtigen Bereich des Rechtslebens fehlte. Die Außerkraftsetzung des Code und die Wiedereinführung des ALR nebst abändernden und ergänzenden Bestimmungen, doch ohne die inzwischen erlassenen Gewerbereformvorschriften Preußens in der neu gebildeten Provinz Westfalen stellte die Rechtsverhältnisse, wie sie vor Beginn der Fremdherrschaft bestanden hatten, dagegen keineswegs wieder her. Überall dort, wo die Kodifikation nun als primäre Rechtsquelle in Kraft gesetzt wurde, beanspruchten ihre speziellen Normen zum handwerklichen 38 39 40
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Schmitz (1894), S. 51, 52. Schmitz, wie Anm. 38, S. 51. Vietinghoff-Scheels Feststellung, die Zunftverfassung sei auch in Teilen des Regierungsbezirks Münster bestehen geblieben, ist unrichtig; s. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 35; lediglich im Krs. Wittgenstein-Berleburg lebte sie bis 1845 fort. Zur Bedeutung des ALR für die Sozial- und Wirtschaftsordnung in Westfalen vgl. Deter (1991), S. 82–97 sowie Deter (1995), S. 297–325. S. Roehl (1900), S. 163, 167.
B. Die Reanimierung des preußischen Rechts
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Arbeitsrecht gegenüber dem Gewohnheitsrecht vorrangige Geltung,42 während das Statutarrecht mit Ausnahme Wittgensteins beseitigt blieb. Nichtsdestoweniger herrschte in Westfalen tiefe Unsicherheit über die Wirksamkeit der Normen, welche das Rechtsverhältnis zwischen Meistern und Gesellen regeln sollten. Auch der Dienstvertrag des Landrechts ließ nämlich zahlreiche Lücken offen, und zwar insbesondere für den wichtigen Bereich der Kündigungsfristen.43 Erst allmählich fand man zu einem einheitlichen Rechtsgebrauch. Spezifische, besonders bedeutsame Detailprobleme wurden seit Beginn der zwanziger Jahre durch Erlasse gelöst, wobei so weit wie möglich auf die einschlägigen handwerksrechtlichen Bestimmungen des ALR Bezug genommen wurde. Dies galt beispielsweise für die Frage, wie gegen Gesellen, die an Arbeitstagen feierten, eingeschritten werden solle,44 oder für Unklarheiten über die Kündigungsfristen.45 Insbesondere harrte die wichtige Frage, wann das Handwerks- und wann das Gesinderecht herangezogen werden sollte,46 einer Antwort. Auch diese fand man unter Rückgriff auf das ALR. Die liberale Ordnung der Arbeitsverhältnisse im Handwerk sollte nicht durch die eher autoritäre Gestaltung des Gesindedienstverhältnisses, an der auch der preußische Gesetzgeber der Reformzeit festhielt, beeinträchtigt werden. Mit Hilfe des zunftorientierten Handwerksrechts des ALR wurde das zunftfreie Handwerk, wie es in Westfalen bestand, allmählich wieder an die überlieferte Handwerksordnung herangeführt47. Denn die arbeitsrechtlichen Bestimmungen des ALR galten, soweit sie mit der Zunftfreiheit kompatibel waren, weiter, konnten aber abbedungen werden.48 Damit waren die Weichen gestellt: Wenngleich die Gestaltung des Arbeitsvertrages grundsätzlich frei war, sollte, so musste aus den Entscheidungen des Gesetzgebers geschlossen werden, der vom ALR geschaffene Rechtszustand doch so weit wie dies angesichts der Gewerbefreiheit und des Fehlens von Zünften möglich war, erhalten bleiben.49 Die handwerksrechtlichen Teile des ALR waren, sofern ihr Inhalt den preußischen Gewerbegesetzen von 1810/11 nicht widersprach, auch im ostelbischen Preußen in Kraft geblieben50. Während, wie bereits festgestellt, das Arbeitsverhältnis 42 43
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Mit Ausnahme des Kreises Wittgenstein-Berleburg. Nach der Einführung der Gewerbefreiheit in Rumpf-Preußen schwankte man dort zunächst zwischen der Anwendung von Handwerks- und Gesinderecht; so ein Gesetzentwurf von 1812, s. Rohrscheidt (1898), S. 39. Zu den arbeitsrechtlichen Regelungen des ALR vgl. Brand (1992) sowie ders., ALR und deutsches Arbeitsrecht (1995) u. ders., Die arbeitsrechtlichen Regelungen (1995). Erlass v. 24.10.1820, in: Annalen der preußischen inneren Staatsverwaltung (Preußische Annalen) 1820, S. 874; Erlass v. 2.6.1824, a. a. O. 1824, S. 584; Erlass v. 15.3.1829, a. a. O. 1829, S. 149; Erlass v. 20.7.1829, a. a. O. 1829, S. 609. Publicandum v. 15.11.1823, in: Annalen der preußischen inneren Staatsverwaltung,, Bd. 7, 1823, S. 942. S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 39 m. w. Nachw. In Wittgenstein hatten auch die Zunftartikel ihre Gültigkeit nicht verloren. Vgl. Rohrscheidt (1898), S. 589; Verordnung v. 13.5.1819, in: wie Anm. 45, Bd. 3, Berlin 1819, S. 537. Vgl. auch Vietinghoff-Scheel (1972), S. 40. Verordnung v. 13. Mai 1819, in: Annalen, wie Anm. 45, Bd. 3, 1819, S. 537; Rohrscheidt (1898), S. 589.
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V. Das Arbeitsrecht
im Osten der Monarchie wegen der Fortexistenz der Zünfte seine überkommene Form aber nur wenig änderte,51 wurde der Arbeitsvertrag im westfälischen Handwerk nicht länger durch Einflüsse aus der Schatztruhe des handwerklichen Herkommens bestimmt. Nur in den westlichen Provinzen war der Arbeitsmarkt wirklich frei. Auch die erneute Anwendung eines Teiles der handwerksrechtlichen Bestimmungen des ALR stand dem Prinzip des freien Individual-Arbeitsvertrages, das der Code civil nach Westfalen gebracht hatte, nicht im Wege.52 Das durch das französische Recht besonders betonte Koalitionsverbot blieb bestehen.53 Zwar hatte die preußische Kodifikation geregelt, dass u. a. Lohn und Kost der Gesellen durch die Zunft „unter Direktion der Obrigkeit“ bestimmt werden sollten (ALR II 8 § 350). Doch war diese Vorschrift mit der Beseitigung der Zunftordnung gegenstandslos geworden. An ihre Stelle trat in der neugewonnenen preußischen Provinz der rein schuldrechtliche liberale Arbeitsvertrag, der auf den bloßen Austausch von Arbeit und Lohn gerichtet war.54 Noch für lange Zeit prägte die Vertragsfreiheit das Arbeitsverhältnis im westfälischen Kleingewerbe.55 Ganz wie zur Zeit der Fremdherrschaft wurde der freie Arbeitsvertrag auch unter preußischer Ägide als zentraler Teil jeder freien Wirtschaftsverfassung betrachtet.56 Freie Gestaltung ersetzte die Gebundenheit der Vertragsdauer, der Arbeitszeit, der Lohntaxen. 2. Unklarheit in der Rechtsanwendung Auseinandersetzungen konnten wegen der unsäglichen Verworrenheit der Rechtsverhältnisse nicht ausbleiben. Streitigkeiten zwischen den dem Handwerk zuzurechnenden Meistern und ihren Gesellen oder Lehrlingen wegen Nichteinhaltung der Kündigungsfristen, Heranziehung der Lehrlinge zu häuslichen Arbeiten, schlechter Behandlung oder anderen Misshelligkeiten, welche die Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisse im Handwerk seit je belasteten, fielen in die Kompetenz der Polizeibehörden. Die Streitigkeiten wurden durch den örtlichen Bürgermeister unter Zuziehung zweier sachkundiger Meister desselben Handwerks nach den Vor51 52
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S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 40. 1811 hatte auch das in Ostelbien fortbestehende Rumpf-Preußen die freie Abrede der Parteien des Arbeitsvertrages eingeführt. Nach § 8 des Gesetzes v. 7.9.1811“wird die Lehrzeit oder die Dauer des Dienstes, das etwaige Lehrgeld, Lohn, Kost und Behandlung bloß durch freien Vertrag bestimmt“; s. dazu Vietinghoff (1972), S. 34. ALR II 8 § 396 ff.; s. Ritscher (1917), S. 154. Zum Verhältnis von französischem Recht und preußischem Gesetzgeber s. Conrad (1969). Lediglich im Bergbau bestand bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts noch die Ordnung der vergangenen Zeit, charakterisiert durch Normallöhne, Mitwirkung der Bergbehörde bei der Einstellung der Arbeiter, aber auch Arbeitszeitschutz etc.; s. z. B. Zycha (1949), S. 309. Auch im Gesinderecht blieb das Arbeitsverhältnis teils privat- und teils polizeirechtlich geregelt. Die preußische Gesindeordnung aus dem Jahre 1810 berücksichtigte vornehmlich die Interessen der Arbeitgeber. Die Bestrafung des Vertragsbruchs blieb erhalten. Lediglich für die Entlohnung wurde die freie Vereinbarung maßgeblich. Erst die Zurückdrängung des individuellen Arbeitsvertrages, die Ersetzung des individualistischen durch das kollektive Arbeitsrecht schuf hier sehr viel später Wandel. Vgl. dazu Kaiser (1972).
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schriften des ALR T. 2, Tit. 8, §§ 179 ff. – sofern diese mit der Zunftfreiheit vereinbar waren – in Übereinstimmung mit den beiden Meistern entschieden.57 Gegen die so gefundenen Verdikte der Polizeibehörden war der Rekurs bei der nächsthöheren Verwaltungsinstanz, dem Landrat also, und schließlich bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit zulässig.58 Ebenso wie das Arbeits- und Ausbildungsrecht des ALR selbst blieb natürlich auch der entsprechende Rechtsweg dem breiten Publikum in der nachzünftigen Zeit unbekannt. So wandte sich ein durch die Entscheidung der Beckumer Verwaltung beschwerter Lehrling mit der Begründung gegen das Verfahren, die Begutachtung seines Falles durch zwei zugezogene Meister könne er nicht akzeptieren, da längst keine Innungen mehr existierten und die Meister deshalb getrost als inkompetent erachtet werden könnten.59 Auf dieses völlige, angesichts des wiederholten und umfassenden Umsturzes der Rechtsordnung nicht verwunderliche Unverständnis wies der Beckumer Landrat hin, als er im Jahre 1826 feststellte, die Bevölkerung müsse mit den arbeitsrechtlichen Bestimmungen erst vertraut gemacht werden. Um der durch den Fortfall der Zünfte allgemein gewordenen Missachtung der Bestimmungen des tradierten Handwerksrechts, welches im ALR noch einmal seinen Niederschlag gefunden hatte, zu begegnen, stellte er klar, dass es nunmehr die Polizeibehörden seien, die die Funktionen der Zünfte auf dem Gebiete des Arbeitsrechts wahrnähmen: „Es ist hierbei zu bemerken, dass die in diesen Gesetzesstellen (des ALR) erwähnten Rechte und Pflichten der Zünfte und Ältesten hinsichtlich der Qualifikation und Zulässigkeit der Meister der Handwerkerzunft, der Aufsicht auf Gesellen und Lehrlinge und der Entscheidung vorkommender Streitigkeiten nach Aufhebung der Zünfte auf die Amts-Polizei-Behörden übergegangen sind, und dass deren Entscheidungen oder Verfügungen jeder sich unterwerfen muss, jedoch die Freiheit hat, dagegen bei höherer Instanz oder nach Umständen bei Gericht Recurs zu nehmen“.60 Eine konkrete Rechtsgrundlage dafür konnten die Behörden aber nicht benennen. Denn aus der Zuweisung der Entscheidung gewerberechtlicher Streitigkeiten an die Polizeibehörden folgten nicht notwendig die weitergehenden Aufsichtsbefugnisse, die sich der Beckumer Landrat hier in unnachahmlicher Selbstherrlichkeit zueignete. Jedenfalls war die Renitenz der Gesellen und Lehrlinge nur zu verständlich, da diese sich an den unter der Herrschaft des Code civil geltenden freien Arbeitsvertrag gewöhnt hatten und sich nun, nach Wiedereinführung des ALR, nicht widerstandslos unter die Kuratel der preußischen Administration stellen lassen wollten. Die Verwaltung hatte die Reanimation des ALR benutzt, um sich selbst mit den Aufsichtsrechten der Zünfte gegenüber den Hilfskräften zu begaben – ein Vorgang, der den Widerstand der Betroffenen, die sehr wohl zwischen der genossenschaftlichen Kontrolle durch die 57 58 59 60
Z. B. Verhandlungsprotokolle vom 1.2.1826 und 23.1.1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. Zur Arbeitsverfassung des Handwerks nach Einführung der Gewerbefreiheit völlig undifferenziert Becker (1995), S. 60–63. Bekanntmachung des Landrats des Kreises Beckum v. 21.2.1826, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. Schreiben des Lehrlings Horstmann an den Landrat des Kreises Beckum v. 29.1.1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. Bekanntmachung v. 21.2.1826, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499.
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V. Das Arbeitsrecht
Gewerksangehörigen und obrigkeitlicher Aufsicht zu unterscheiden wussten, hervorrufen musste. Und dass die Wiederbelebung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Zunftrechtes keine leere Drohung war, bekamen Lehrlinge und Gesellen alsbald zu spüren; die Ortsbehörden wandten die vormaligen Zunftbestimmungen bei der Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten durchaus selbstbewusst an. So mussten die Lehrlinge künftig wieder die vereinbarte Lehrzeit61 und die Gesellen die gesetzliche Kündigungsfrist einhalten.62 Doch damit nicht genug: Als ein entlaufener Lehrling aus Beckum seine Lehre nicht sofort wieder antrat, wurde er durch den örtlichen Polizeidiener aufgefordert, sich auf der Stelle bei seinem Meister einzufinden, andernfalls er „realiter dahin abgeführt und allenfalls durch körperliche Züchtigung dazu angehalten werden soll“.63 Es waren raue, eben preußische Sitten, die in den Alltag der Arbeitsverhältnisse eingezogen waren, nachdem die Franzosen Westfalen verlassen hatten. Es ist festgestellt worden, dass bis zur Neuregelung durch die Gewerbeordnung trotz der Beseitigung der hoheitlichen Funktionen der Zünfte in Preußen weiterhin nicht die jeweilige Vereinbarung, sondern der Handwerksbrauch das Arbeitsverhältnis bestimmt habe,64 so dass faktisch alles beim alten geblieben sei. Vietinghoff stützt diese seine Auffassung65 mit Hinweisen auf die zeitgenössische Literatur,66 die der Darstellung der hergebrachten Form des Arbeitsvertrages breiten Raum widmete. Undifferenziert bemerkte er, das praktische Arbeitsvertragsrecht im Handwerk habe in den Jahrzehnten nach 1810 die alten Formen beibehalten. Dass in den westlichen Provinzen Preußens ihrer Zunftlosigkeit halber nur noch in eingeschränktem Maße an die alte Ordnung angeknüpft werden konnte, beachtete er nicht. Die Beseitigung der Zunftordnung und die Dominanz des liberalen Arbeitsvertragsrechts hatten dort aber zur Folge, dass die Einheit des Handwerks, die trotz aller Gegensätze und Auseinandersetzungen über die Jahrhunderte bewahrt worden war, auch nach dem Ende des fremdherrlichen Rationalismus in Westfalen weiter zerfiel. Zwar hielt ein Teil der Hilfskräfte in der neuen preußischen Provinz, wie überliefertes Zunftgerät, Siegel,67 Fahnen, Herbergsschilder etc. dokumentieren, auch nach der Einführung der Gewerbefreiheit an dem Brauchtum der Korporationen fest68 – ein Umstand, der ebenso wie das Bemühen, sich von den Arbeitern69 abzugrenzen, auf ein fortwirkendes Zusammengehörigkeitsgefühl der unselbständigen Handwerker mit den Meistern hinweist. Diese mentale Befindlichkeit eines Teils der Gesellen zu verallgemeinern wäre aber verfehlt. Denn 61 62 63 64 65 66 67 68 69
So z. B. Entscheidung des Bürgermeisters von Beckum (mit Zuziehung von zwei Meistern) v. 23.1.1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499; desgl. Entscheidung des Beckumer Bürgermeisters v. 1.2.1826, a. a. O., nach ALR II 8 § 295. Z. B. Entscheidung des Bürgermeisters von Beckum (mit Zuziehung von zwei Meistern) v. 23.1.1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499, nach ALR II 8 § 38. Anordnung v. 18.2.1826, in: Kreisarchiv Beckum, Amt Beckum, A 499. Die Wirkungen der Vertragsfreiheit betont Kollmann (1916), S. 53 f. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 41. S. Pieper-Lippe (1963). S. dazu ausführlich Pieper-Lippe (1963). Hoffmann (1841), S. 90 ff. S. o., S. 237 ff.
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zugleich begannen sich andere „Gehilfen“ als „Arbeitnehmer“ zu gerieren70 – jene Aktiven vor allem, die später in der Achtundvierziger-Revolution als der aufrührerische Kern der Bewegung hervortraten71. Den freien Arbeitsvertrag assoziierten sie nicht ganz zu Unrecht mit dem Gegensatz von Kapital und Arbeit. Die jahrhundertealte Verbundenheit innerhalb des Handwerks verblasste bei diesen durch neuartiges Gedankengut beeinflussten Gewerbegehilfen zur bloßen Reminiszenz. Die sich allmählich entfaltende Arbeiterschaft sog ihre organisatorische Kraft eben auch aus dem von alten Rechtsbindungen befreiten Kleingewerbe. Das liberale Arbeitsvertragsrecht des Vormärz zeitigte nicht nur tiefgreifende Bewusstseinsveränderungen bei den betroffenen Arbeitnehmern, sondern ebenso auch Friktionen im Geschäftsgebaren der Meister. So sahen sich die Maurer beispielsweise genötigt, neue, ihnen bis dahin fremde Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit ihres Betriebes anzustellen. Die Kostenanschläge mussten nun einen Arbeitslohn berücksichtigen, der nicht mehr in den Zunftrollen oder durch die lokale Gewohnheit festgelegt war, sondern auf freier Vereinbarung des Meisters mit den Gesellen beruhte.72 In der Tat blieb dieser Umstand nicht ohne Wirkung auf die wirtschaftliche Lage des Handwerksbetriebes. Es ist festgestellt worden, die Gesellenlöhne seien nach Einführung der Gewerbefreiheit angestiegen.73 Mag die Entwicklung in den einzelnen Berufssparten auch unterschiedlich verlaufen sein, eine gewisse Erhöhung des Lohnniveaus dürfte kaum zu bestreiten sein. Denn infolge der Freiheitskriege war die Situation auf dem Arbeitsmarkt zunächst angespannt, und die neugewonnene Gelegenheit, den Lohn selbst auszuhandeln, ließen die Gesellen nicht ungenutzt verstreichen, wie der Warendorfer Bürgermeister im Jahre 1819 klagte: „Der Geselle ist dem Meister nicht mehr gehorsam, führt ein ungebundenes Leben, fordert hohen Lohn, den er leicht verthut, verlässt seinen Meister oft eben so geschwind als er gekommen ist; verlässt ihn oft dann, wenn er seiner Hülfe am meisten bedarf und wandert fort, oder gar zu einem anderen Meister über, der seiner schon wartet, der mitunter aus Brotneid seine Entfernung von dem vorigen Meister veranlasst hat. Zwar sind Gesetze vorhanden, die dieses verbieten, allein welche Förmlichkeiten müssen vorhergehen, bis solchem Unfug gesteuert wird! Bringt es einmal ein Meister dahin, so ist dem Übel doch nur auf kurze Zeit geholfen. Der Geselle setzt seinen Stab weiter und lebt in anderen Orten gleich ungebun70 71
72 73
Karl Friedrich Wernet, Handwerksgeschichtliche Perspektiven (1963), S. 102. Vgl. dazu auch Brand (2005). Dazu aufschlussreich: Brämer (1866); Kampffmeyer (1924); Renzsch (1980); Zwahr (1981); Conze/Engelhardt (1981); Specker (1986); Lenger (1987); Schulte-Beerbühl (1991). Das Verhalten der Handwerker in der Achtundvierziger-Revolution hat im Zusammenhang mit der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung in den achtziger Jahren breites Interesse gefunden, vgl. Mooser (1982), Herzig (1984), Bergmann (1984), Gailus (1984), Haupt (1985), Bergmann (1986), Kocka (1986). Vgl. Heiser (1939), S. 13. Wie Anm. 72. Werner Sombart hat die Auffassung vertreten, der in vorkapitalistischer Zeit durch „Gesetze und Sitte“ bestimmte Lohn sei ein „Unterhaltslohn“ gewesen. Erst im 19. Jahrhundert habe sich dieser Unterhaltslohn zum Leistungslohn gewandelt. Diese Entwicklung sei einer der „bedeutendsten Vorgänge des 19. Jahrhunderts“; so Sombart (1927), S. 670 f.. Die Auffassung Sombarts wird von Reith bezweifelt; s. Reith (2002), S. 39–63 (41,63).
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V. Das Arbeitsrecht
den; ein anderer tritt an seinen Platz und führt denselben Wandel. Der Meister, der ohne Gesellen nicht fertig werden kann, muss nachgeben und zuletzt dieses über sich walten lassen. Überdies liegt den Gesellen wenig daran, ob sie Arbeit haben; die Erfahrung stellt täglich in den wandernden Handwerksbereichen hierüber Beispiele auf. (Diese) verlassen sich auf die Geschenke, die sie (überall) entweder von der Polizei oder von ihren Handwerksgenossen erhalten oder legen sich, wenn diese nicht ausreichen, auf’s Betteln. Die Zunftgesetze dagegen zwangen sie zur Arbeit.“74 Der freie Arbeitsvertrag entband, so macht diese keineswegs untypische Jeremiade deutlich, den Gesellen tatsächlich aus alten Zwängen. Die Meister konkurrierten nun um ihre Hilfskräfte; es war in Westfalen ein wirklicher Arbeitsmarkt entstanden, den die Zunft stets unterbunden hatte und dessen Chancen die Gesellen nun selbstbewusst zu nutzen wussten. Das Handwerksrecht des ALR sicherte den Wanderburschen das Geschenk, während die lästigen Aufsichtsrechte der Zunft entfallen waren – eine günstige Konstellation fürwahr, die den Hilfskräften nützte, solange sie die stärkere Position am Markt besaßen. Nach der Einführung der Gewerbefreiheit, als noch kein Überangebot an Arbeitskräften bestand, war der freie Arbeitsvertrag nicht nur den Meistern, sondern auch vielen Ortsobrigkeiten ein Dorn im Auge. So forderte der Bürgermeister der münsterländischen Kleinstadt Freckenhorst schon 1819, den Rückgriff auf die Zunftordnung nicht verhehlend, eine neue gesetzliche Regelung des Verhältnisses der Gesellen zu den Meistern, Vorschriften über die Wanderschaft, den Leistungsnachweis usw.75 Der Wunsch nach einer Neuordnung des Arbeitsvertragsrechts war in der Tat nicht unbegründet. Zeigte sich doch, dass das fortbestehende Koalitionsverbot, welches sich schon zur Zunftzeit nicht vollständig hatte durchsetzen lassen, auch jetzt jedenfalls in den größeren Städten, wo es zur Wiederbegründung von Gesellenorganisationen kam, nicht beachtet wurde. 1817 war in Paderborn die Tischler-Gesellen-Herberge mit Erlaubnis der Stadtverwaltung wieder errichtet worden, um nicht zuletzt das hergebrachte System der Auflage im Interesse kranker Gesellen neu zu beleben. Die Hilfskräfte nutzten nun diese Verbindung, um den örtlichen Arbeitsmarkt zu kontrollieren. Sie zahlten den neu zuwandernden, arbeitslosen Gesellen 8 Ggr., wofür diese sich verpflichten mussten, bei keinem Paderborner Meister Arbeit anzunehmen. Der Herbergsvater wurde unter der Androhung, ihm die Herberge zu entziehen, bewogen, jeden neu eintreffenden Gesellen sofort von dieser Regelung in Kenntnis zu setzen. So kam es zu einer nachhaltigen Verknappung des Arbeitskräfteangebots mit der Folge, dass die bereits in der Stadt beschäftigten Gesellen den Arbeitsplatz auswählen und Lohnforderungen desto leichter durchsetzen konnten. Die Hilfskräfte gingen, nicht anders als zur Zunftzeit, verschlungene Wege, „damit sie ihren freien Lauf haben von einem zum andern, um die Meister desto besser prellen zu können“,76 klagten die Paderborner Tischler74 75 76
Bericht des Bürgermeisters der Stadt Warendorf v. 30. Juni 1819, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458. Zu dem in den Quellen immer wieder beklagten Problem der Abwerbung von Gesellen s. jetzt ausführlich Spohn (1993). Stellungnahme des Bürgermeisters der Stadt Freckenhorst v. 4.1.1819, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458. Schreiben der Tischlermeister der Stadt Paderborn an den Magistrat v. 22.9.1821, in: Stadtar-
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meister im Jahre 1821 dem Magistrat. Widerstand blieb nicht aus. Denn die Meister waren keineswegs bereit, sich mit diesen Gegebenheiten abzufinden, sofern sie ihnen bedrohlich oder auch nur ungünstig erschienen. Als der Festungsbau in Minden begann und infolgedessen der dortige Arbeitskräftebedarf sprunghaft zunahm, konnten „sich die Zimmermeister auf ihre Gesellen durchaus nicht sicher verlassen, weil dieselben willkürlich von einem Meister zum Anderen liefen und diejenigen Meister, welche beim Festungsbau auszuführende Arbeiten contractlich übernommen hatten, … in nicht geringe Verlegenheit und Kosten versetzt wurden.“77 Um der angeblichen „Zügellosigkeit“78 der Zimmergesellen zu wehren, errichteten die Meister in der Stadt schon 1826 einen „Zimmergewerk“ genannten Verein. Da sie unter der starken Stellung der Gesellen nach eigenem Bekunden „ungemein litten“, fanden sie für ihre neue Organisation trotz der förmlich verordneten Gewerbefreiheit doch die Zustimmung der Lokalverwaltung. Zweck des Zusammenschlusses war es u. a., das Abwerben von Gesellen zu verhindern. Kein Meister am Orte sollte einen Gesellen ohne Entlassungsschein oder mündliche Genehmigung des vorherigen Arbeitgebers einstellen dürfen. Gesellen von auswärts sollten nur dann beschäftigt werden, wenn Mangel an Zimmerleuten in der Stadt bestand. Hier waren es also die Meister, die eine Koalition bildeten, um den Arbeitsmarkt in ihrem Sinne zu beeinflussen – ein Mittel, welches den Gesellen verwehrt blieb. Dass deren marktkonformes Verhalten von den Arbeitgebern nicht hingenommen wurde, zeigt einmal mehr, wie wenig die der Zunftordnung nachträumenden Meister die Möglichkeiten des freien Arbeitsvertrages damals zu akzeptieren bereit waren. Da sich die Streitfälle wegen Verletzung des Ausbildungs- und Arbeitsrechts der Gesellen mit der zunehmenden Verschlechterung der Wirtschaftslage im Handwerk häuften,79 suchte der bereits erwähnte Landrat des Kreises Beckum die handwerksrechtlichen Normen des ALR unmissverständlich einzuschärfen.80 Als weiterhin geltend wurden folgende Vorschriften bestimmt (II 8):
77 78 79 80
chiv Paderborn Nr. 373 f.; damals entbehrten die Meister bereits 10 Wochen der benötigten Gesellen. So in: „Nachrichten über den im Jahre 1826 hierselbst … unter dem Namen „Zimmergewerk“ errichteten Verein …“ v. 31.10.1852, in: Stadtarchiv Minden, F 206. Wie Anm. 77. Z. B. Entscheidungen des Bürgermeisters der Stadt Beckum v. 1.2.1826, 18.2.1826, 23.2.1826, 25.7.1826, 23.1.1827, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. „Da kürzlich bemerkt worden, dass bei einigen Mitgliedern des Handwerkerstandes, besonders aber den Gesellen und Lehrlingen und deren Aeltern, die Meinung zu herrschen scheint, als ob mit der Aufhebung der Gilden, Zünfte und Aemter auch die mit dieser Verfassung verbundenen gegenseitigen Verbindlichkeiten und Pflichten weggefallen seyen, diese Meinung aber schon deshalb irrig ist, weil jene Verfassung sich auf gesetzliche Bestimmungen gründete, die noch eben so gültig sind, als fürderhin, so erscheint es nothwendig, mit diesen im Allgemeinen Landrecht enthaltenen Bestimmungen den Handwerkerstand und das Publikum überhaupt besonders vertraut zu machen, um Unordnungen und Vergehen zu verhüthen, wozu irrige Ansichten von den Pflichten der Gehülfen und Lehrlinge gegen die Meister und dieser gegen Jene Anlass geben könnten und dagegen zu warnen, indem Übertretungen der gesetzlichen Vorschriften nicht ungestraft bleiben werden“. Bekanntmachung des Landrats des Kreises Beckum v. 21.2.1826, in: Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499.
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V. Das Arbeitsrecht
„a) Allgemeine Pflichten: §§ 236, 237, 241–245; b) Meisterrecht: § 250; c) Recht zum feilen Verkauf: §§ 263–267; d) Recht, Gesellen und Lehrlinge zu halten: §§ 268, 271, 272; e) Verlust des Meisterrechts: § 274; f) Von Lehrlingen: §§ 283, 287–291; g) Pflichten des Meisters: §§ 292–294; h) Pflichten des Lehrlings: §§ 295–297: i) Recht der Zucht: §§ 298–302; j) Aufhebung des Lehr-Contrakts: §§ 303–307: k) Entweichung des Lehrlings: §§ 308–309; l) Wahl eines anderen Gewerbes des Lehrlings: §§ 310–312, 315–316; m) Krankheiten der Lehrlinge: §§ 317–319; n) Lehrzeit: §§ 320–325; o) Wanderschaft der Gesellen: §§ 330–335, 340–342; p) Kosten und Lohn der Gesellen: § 352; q) Rechte und Pflichten zwischen Meistern und Gesellen: §§ 356–369, 378–390, 392, 393, 395–397“. Allerdings beruhten die Entscheidungen, die nach den Bestimmungen des Dritten Abschnitts des ALR „Von Handwerkern und Zünften“ getroffen wurden, auf einer durchaus anfechtbaren Rechtsgrundlage, wenn man bedenkt, dass diese Vorschriften im Grunde ein intaktes Zunftsystem voraussetzten. Eine weitere, allgemein spürbare Schwäche der Reanimierung des Handwerksrechts des ALR war es, dass der Inhalt der vielen einzelnen Bestimmungen der Bevölkerung inzwischen unbekannt geworden war. Das preußische Recht hatte in Westfalen eben längere Zeit nicht gegolten. Die dürftigen Vorschriften des Codes zum Arbeitsrecht aber hatten den Vertragsparteien weitestgehende Gestaltungsfreiheit gelassen. Stärker als durch den Umstand, den gewöhnlichen Lohnarbeitern zugerechnet zu werden, hatte sich – trotz anfänglicher Einkommensverbesserung – die Rechtsstellung der Handwerksgesellen mit der Einführung der Gewerbefreiheit aber doch dadurch verschlechtert, dass die Werkstatt- und Warenschau der Zünfte bzw. obrigkeitlicher Kontrollinstanzen weggefallen war. Damit oblag die Beurteilung der Arbeitsleistung der Gesellen allein dem Meister, dessen Qualitätsanforderungen nicht an objektive Maßstäbe gebunden waren. Schlechte Arbeit minderte nicht nur den Lohn, sondern führte auch schnell zu Entlassungen.81 Eben dieser schwankende Lohnanspruch aber war das einzig greifbare Recht, das dem zum Lohnarbeiter gewordenen Gesellen gegenüber dem Meister verblieben war. Da die überkommenen Lohntaxen, die in den geistlichen Staaten Westfalens bis zu deren Ende bestanden hatten, weggefallen waren, richteten sich Lohnhöhe und Auszahlungsmodalitäten seither allein nach kaufmännischen Gesichtspunkten.82
81 82
S. Gellbach (1939), S. 33. Schloßstein (1982), S. 64.
B. Die Reanimierung des preußischen Rechts
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Die nach dem Zusammenbruch der Franzosenherrschaft in Westfalen getroffenen Regelungen, die Einführung der Allgemeinen Gerichtsordnung und des Landrechts, die Übernahme der Gewerbesteuer- und Gewerbepolizeigesetze sowie die Aufhebung des Dekrets über die Errichtung von Fabrikengerichten konnten die rechtlichen Anpassungsprobleme, die in den wiedergewonnenen bzw. neu erworbenen westfälischen Landesteilen Preußens auftraten, aber keineswegs lösen. Es waren die einander widerstreitenden Vorgaben des Gesetzgebers, die notwendig zu einer beträchtlichen Rechtsunsicherheit führen mussten: Einerseits sollten alle örtlichen „besonderen Rechte und Gewohnheiten, sofern sie durch die unter den vorherigen Regierungen eingeführten Gesetze aufgehoben und abgeschafft wurden, auch fernerhin nicht mehr zur Anwendung kommen“.83 Damit wurde die von der bergisch-französischen bzw. westphälischen Regierung geschaffene freiheitliche Gewerbeverfassung festgeschrieben. Da das Statutarrecht der Zünfte aufgehoben war, konnten die arbeitsrechtlichen Regelungen, die das ältere Handwerksrecht ausgebildet hatte, nicht mehr herangezogen werden. Andererseits aber behielten sämtliche früheren Gesetze und Gewohnheiten, die durch das Landrecht nicht ausdrücklich abgeschafft waren, ihre Geltung. Dort, wo das Allgemeine Landrecht – wie in Ostelbien – nur subsidiär galt, mussten die Richter bzw. die Verwaltung in jedem einzelnen Fall prüfen, ob spezielle Vorschriften vorrangig waren.84 In Westfalen aber war das Landrecht als primäre Rechtsquelle wieder eingeführt worden, so daß eine gravierende rechtliche Diskrepanz zwischen dieser Provinz und den preußischen Kernlanden entstanden war. Die Wiedereinführung des ALR in Westfalen war ein höchst komplexer Vorgang: Die neu belebte oranien-nassauische Herrschaft im Fürstentum Siegen beseitigte den Code bereits durch ein Patent vom 20.12.1813 rückwirkend.85 Im September 1814 führte Preußen dann in dem von ihm beanspruchten Teil seines Gouvernements die eigene Gerichtsverfassung und das Allgemeine Landrecht ein.86 Die durch den Code Civil aufgehobenen früheren Provinzialrechte allerdings blieben für die Zukunft abgeschafft (§ 2 des Patents v. 9.9.1814) und das ALR galt in den wiedergewonnenen Provinzen seither nicht als bloß subsidiäres Gesetz wie vor 1806, sondern als primäre Rechtsquelle. Durch Patent vom 25.5.1818 wurde das ALR dann auch in den ehemaligen Fürstentümern Corvey, Salm-Salm, Salm, Kyrburg, Salm-Horstmar, den Besitzungen des Herzogs von Croy sowie des Herzogs von Looz-Corswarem, den Grafschaften Rietberg, Steinfurt, Hohenlimburg und Dortmund, dem Vest Recklinghausen, den Herrschaften Rheda und Gütersloh, Anholt, Werth und Gemen, der Stadt Lippstadt sowie dem Amt Reckenberg eingeführt. In dem von Hannover abgetretenen Reckenberg aller83 84
85 86
§ 2 des Patents v. 9.9.1814, Pr. Ges.-Sammlung 1814, S. 89 ff. Auch in den 1803 von Preußen erworbenen, Erbfürstentümer genannten Kerngebieten des Fürstentums Münster sowie des ehemaligen Fürstentums Paderborn war das ALR zunächst durch Patent vom 5.4.1803 mit Wirkung vom 1.6.1804 eingeführt worden, und zwar entsprechend den Grundsätzen des Publikations-Patents vom 5.2.1794. Auch hier ließ das Landrecht als nur subsidiär geltende Rechtsquelle alle Gesetze und Gewohnheiten in dem beschriebenen Rahmen bestehen. In dieser Form blieb die Kodifikation bis zur Einbeziehung Westfalens in den französischen Rechtskreis geltendes Recht (vgl. Possel-Dölken (1978), S. 29). Rintelen (1838), T. II. S. 327. Patent v. 9.9.1814, Pr. Ges.-Sammlung 1814, S 89 ff.; s. dazu Behr (1983), S 59.
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V. Das Arbeitsrecht
dings galt das ALR jedenfalls formell nicht als vorrangiges Recht; denn die Einführungsverordnung vom 25.3.181887 bezog sich insoweit nicht auf das Patent vom 9.9.1814, sondern auf ein Patent vom 15.11.181688. Im Amt Reckenberg war der Code civil nämlich unmittelbar nach dem Wiedererwerb von dem früheren hannoverischen Landesherrn durch die Verordnung vom 23.8.1814 rückwirkend mit der Folge aufgehoben worden, daß in diesem Gebiet alle früheren Provinzialrechte erneut Gültigkeit erlangt hatten. Aus diesem Grunde galt das ALR im Amt Reckenberg nur als subsidiäres Recht. In den südlichen Landesteilen der Provinz Westfalen erhielt das ALR zunächst keine Gültigkeit. Im Herzogtum Westfalen, im Fürstentum Siegen, in den Ämtern Burbach und Neuenkirchen und in den Grafschaften Wittgenstein-Wittgenstein und Wittgenstein-Berleburg erfolgte die Einführung der preußischen Gesetzgebung und Gerichtsverfassung, insbesondere des ALR, erst durch das Patent vom 21.6.1825 mit Wirkung zum 1.10.182589. Nach diesem Patent erlangte die Kodifikation nur den Rang einer subsidiären Rechtsquelle; denn sie trat hier an die Stelle des gemeinen Rechts und „der Landesgesetze oder Vorschriften, die gemeines Recht erläuterten, ergänzten oder abänderten“ 90. Die übrigen Provinzialgesetze, Statutar- und Gewohnheitsrechte behielten ihre vorrangige Gültigkeit91. Sie waren nämlich in Südwestfalen entweder nie vom Code civil aufgehoben oder inzwischen rückwirkend wieder eingeführt worden. Deshalb blieb hier auch die Frage problematisch, ob durch die subsidiäre Anwendbarkeit des ALR solche Provinzialgesetze außer Kraft gesetzt worden waren, die inhaltlich nur gemeines Recht wiedergaben92. Im Herzogtum Westfalen war außerdem umstritten, ob die hessischen Landesgesetze als Provinzialrecht oder als gemeines Recht einzustufen seien. Die Rechtsprechung nahm an, dass die allgemeinen hessischen Gesetze aus der Zeit von 1806 bis 1815 durch das Patent vom 21.6.1825 nicht aufgehoben worden seien; denn die von den deutschen Fürsten in ihren Territorien erlassenen Gesetze galten nicht als gemeines Recht. Als aufgehobenes „ius subsidiarium“ wurden dagegen – wenig konsequent – die hessischen Verordnungen aus der Zeit vor 1806 betrachtet, weil sie nicht unmittelbar für das Herzogtum Westfalen verabschiedet worden waren93. Da die Zunftverfassung in den Grafschaften Wittgenstein nicht beseitigt worden war, galten, wie schon festgestellt, im Bereich des Kreises Berleburg die Zunftprivilegien weiter. Dieser eigentümliche Anachronismus, der im äußersten Süden 87 88
89 90 91 92 93
Vgl. Possel – Dölken (1978), S. 35. Preußische Gesetz-Sammlung 1816, S. 233; dieses Patent führte das ALR in den ehemals sächsischen Provinzen ein und setzte dessen Bestimmungen „an die Stelle der bisher angewandten Landes- und subsidiarischen Gesetze“; vgl. § 2 des Patents vom 15.11.1816; s. Possel – Dölken (1978), S. 35, m. w. Nachw. Preuß. Gesetzessammlung 1825, S. 153; Kochendörffer (1928), S. 172; Wurm (1971), S. 25. Die Einführung erfolgte allerdings mit Ausschluß mehrerer Titel des ALR, zu denen namentlich die drei ersten Titel des 2. Teiles über das Ehe-, Erb- und Familienrecht gehörten. § 2 des Patentes vom 21.6.1825, in: Pr. Ges.-Sammlung 1825, S. 153. § 3 des Patentes vom 21.6.1825, in: Pr. Ges.-Sammlung 1825, S. 153. Vgl. Possel-Dölken (1978), S. 36. v. Haxthausen (1843), S. 89.
B. Die Reanimierung des preußischen Rechts
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der Provinz fortdauerte, war in der Zukunft Ursache für all die Schwierigkeiten, die mit der Anwendung tradierter, inhaltlich aber längst überholter und mit der übrigen Rechtsordnung des Landes unvereinbarer Statutarrechte notwendig verbunden waren. Über die die daraus resultierenden Streitigkeiten hatte die Regierung in Arnsberg zu entscheiden. Das Fehlen konkreter Unterlagen über den Umfang der geltenden Provinzialrechte wurde von den Gerichten und Verwaltungsbehörden als wachsender Missstand empfunden.94 Es geschah häufig, dass sich Urteile in gleichliegenden Rechtsfragen widersprachen, weil der Nachweis eines Gewohnheitsrechtes abweichend beurteilt wurde. Die Schwierigkeit der Beweislage und die oft unverständliche Sprache der älteren Rechtsquellen führten dazu, dass die Richter immer häufiger das geltende Provinzialrecht außer acht ließen und auf das ALR zurückgriffen.95 Wenn die Gerichte und Verwaltungsbehörden ihre Kenntnisse nicht den wenigen geschriebenen Rechtsquellen entnehmen oder sich auf eigene Erfahrungen aus älterer Zeit verlassen konnten, wurden in vielen Prozessen ältere Justizbeamte als Zeugen oder Sachverständige gehört. Diese konnten aber nur ihre subjektiven Rechtsmeinungen zum Ausdruck bringen. Zu dem Problem der Auffindung der jeweils geltenden Bestimmungen hatte die preußische Verwaltung nach 1814 noch die Aufgabe zu bewältigen, die unerträglichen Unterschiede des gewerblichen Arbeitsrechts innerhalb des Staates auszugleichen – eine Schwierigkeit, welche die Rechtswahrer nicht nur in Westfalen, sondern auch in anderen Teilen der Monarchie belastete. Neben Regionen mit völliger, zunftloser Gewerbefreiheit existierten solche mit intakten Zunftverfassungen nicht nur in Wittgenstein, sondern auch in Sachsen, Neupommern und der Lausitz96 und wieder andere mit Niederlassungsfreiheit, doch fortbestehenden Zünften. Es bedurfte jahrzehntelanger Bemühungen, unzähliger Ideen, Anregungen, aber auch Rückschläge, bis die angekündigte „Revision aller gewerberechtlichen Vorschriften“97 ein vorläufiges Ende fand. In der Tat war die Entscheidung gewerberechtlicher, insbesondere arbeitsrechtlicher Streitigkeiten durch die Ortspolizeibehörden nicht der Endpunkt einer Entwicklung, die so offenkundig der überzeugenden und dauerhaften Konzeption entbehrte: Mit dem Siegeszug des Liberalismus, der ja einer möglichst weitgehenden Freiheit von jeder staatlichen Einflussnahme huldigte, und der Realisierung der Gewaltenteilung erschien das Festhalten an dem Prinzip der Entscheidung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten durch die Obrigkeit zunehmend als unzeitgemäß, ja schließlich als der Sache gänzlich unangemessen. Liberales Denken wirkte als übermächtiges Movens zur Durchsetzung einer möglichst weitreichenden Freiheit von jeder staatlichen Einflussnahme. Immer mehr reglementierendes Recht wurde abgebaut, wenngleich es keineswegs vollständig verschwand98. Wichtiger noch war, dass sich das Privatrecht in eben jener Epoche aus der vernunftrechtlicher 94 95 96 97 98
Possel-Dölken (1978), S. 38. Possel-Dölken (1978), S. 38. Schönberg (1896), S. 456 ff.; Roehl (1900), S. 173 ff. So § 37 des Steuergesetzes v. 30.5.1820, Pr. Ges.-Sammlung (1820), S. 147 ff. Schmelzeisen (1967), S. 18; zur Wirkung des Liberalismus auf das Handwerk im Vormärz Thamer (1983), S. 55–73.
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V. Das Arbeitsrecht
Auffassung entsprechenden Verbindung mit dem Polizeirecht, wie das ALR sie geschaffen hatte, zu lösen begann und nach größerer Selbständigkeit strebte. Zugleich wurde es wissenschaftlich weiter ausgeformt und in ungemein fruchtbarer Weise neu durchdrungen – Leistungen, die nicht zum wenigsten dazu beitrugen, dass sich die allgemeine und vollständige Abkehr von der bisherigen Zuständigkeitsregelung und die Zuordnung der arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zur Zivilgerichtsbarkeit schließlich beinahe von selbst verstanden. Zunächst aber war keineswegs klarer geworden, welchen Vorschriften das Handwerk in Westfalen nachleben sollte. Durch das Reskript über die Feier des Blauen Montags v. 7.10.182999 sowie ein weiteres Reskript v. 21.5.1831 hatte der Handels- und Gewerbeminister festgestellt, dass weder das preußische Gewerbepolizeiedikt v. 7. September 1811 noch Abschnitt 3 Tit. 8 T. 2 „Von Handwerkern und Zünften“ des ALR in der Provinz Westfalen geltendes Recht seien.100 Und durch ein weiteres Ministerialreskript vom 13.8.1833 wurde ausdrücklich bestimmt, dass das Rechtsverhältnis zwischen Meistern einerseits und Gesellen und Lehrlingen andererseits künftig „überall, wo Zünfte und Innungen, welche als Corporationen unter Aufsicht der Polizeibehörden stehen, nicht mehr existieren, als ein Privatrechtsverhältnis“ zu betrachten sei.101 Die Entscheidung über alle vorkommenden Streitigkeiten aus diesem Bereich sollte den „richterlichen Behörden“ obliegen. Die örtlichen Polizeibehörden wurden deshalb angewiesen, solche Streitigkeiten künftig an den ordentlichen Richter zu verweisen.102 Diese Neuregelung begründete der Oberpräsident damit, dass die in der Gesindeordnung bestimmte Zuweisung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten an die Polizeibehörden nicht auf die Rechtsverhältnisse zwischen Meistern, Gesellen und Lehrlingen übertragen werden könnten. Auch in Frankreich und in der Rheinprovinz würden derartige Streitigkeiten von den Conseils de Prud‘ hommes, und wo solche nicht bestünden, von den ordentlichen Gerichten entschieden.103 Diese Neuorientierung hatte für das Arbeitsrecht 99
100 101 102
103
Der Bürgermeister Kleine in Minden war 1829 von den dortigen Schneidermeistern gebeten worden, die Feier des „Blauen Montags“ durch die Handwerksgesellen zu beschränken und zu diesem Zweck die den alten Brauch untersagenden Vorschriften des ALR T. II, Tit. 8 §§ 359– 364 in Erinnerung zu bringen. Die Mindener Regierung war unsicher, ob diese Vorschriften wegen der Zunftlosigkeit Westfalens dort noch Anwendung finden konnten. Das zuständige Innen- und Polizeiministerium entschied, dass dies nicht der Fall sei; s. Schreiben der Regierung Minden v. 23.9.1829 und Schreiben des Innenministeriums v. 7.10.1829, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 187, 188. S. Schreiben der Regierung Minden v. 5.8.1833, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B V 33 Nr. 4 Bd. 1, fol. 100. Bekanntmachung vom 26.8.1833, in: Amtsblatt der Regierung Minden vom 13.9.1833, Nr. 493, S. 241. Diese Änderung der Zuständigkeit ist von Vietinghoff-Scheel (1972) übersehen worden. Seine pauschale Behauptung, Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis hätten noch bis 1890 zur Zuständigkeit des Gemeindemagistrats gehört, entbehrt der Grundlage. Die Magistrate waren in Westfalen jedenfalls nur für solche Streitigkeiten aus Arbeitsverhältnissen, die der Gesindeordnung unterfielen, zuständig, nicht aber für diejenigen aus dem Bereich der gewerblichen Wirtschaft; vgl. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 145. Aktennotiz vom 20.1.1834, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2774, fol. 249. 1830 war ein Schritt von prinzipieller Bedeutung getan worden: Die Zuständigkeit des Kölner „Rats der Gewerbe-
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der Gesellen natürlich die nachhaltigsten Konsequenzen. Die Anordnungen des Beckumer Landrats über die Anwendung zahlreicher Vorschriften der Kodifikation auf das Arbeits- und Ausbildungsverhältnis im Handwerk waren damit obsolet. Es blieb, da auch die Gesindeordnung nicht herangezogen werden konnte, nichts anderes übrig, als auf die allgemeinen Bestimmungen des ALR, wie sie sich in T. 1, Tit. 5 und Tit. 2 Abschnitt 8 fanden, zu rekurrieren. Die Regierung Minden mochte sich mit der Zuweisung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten an die ordentlichen Gerichte aber nicht abfinden. Sie hielt die Zuständigkeit der Zivilgerichte für nicht opportun, da diese wegen „der weitläufigen Formen des Prozesses“ zu langsam arbeiteten.104 Gerade die Auseinandersetzungen zwischen Meistern und Gesellen verlangten, so die Behörde, eine „schleunige“ Entscheidung. Diese Argumentation entbehrte wegen der hohen Mobilität der Gesellen in der Tat nicht des sachlichen Grundes. Man hätte in Minden die Kompetenz der Polizeibehörden, der örtlichen Verwaltung also, vorgezogen, wie sie in Ostelbien selbstverständlich war und wie man es bis dahin auch in Westfalen gehalten hatte.105 Die ostwestfälische Regierung wollte sich zudem nicht länger mit der höchst lückenhaften Regelung des materiellen Arbeitsrechts begnügen, die Ergebnisse zeitigte, welche sie für nicht hinnehmbar hielt: „In die Verordnung müssten unseres Erachtens folgende Bestimmungen aufgenommen werden: 1. Die Untersuchung und Entscheidung der Streitigkeiten aus den Arbeitskontracten zwischen Handwerksmeistern und Gesellen gebührt der Local-Polizeibehörde, vorbehaltlich des Rekurses an die vorgesetzte Regierung. 2. Der Gesell ist verbunden, die gewöhnlichen Arbeitsstunden an allen Werktagen zu arbeiten. 3. Der Vertrag muss schriftlich abgeschlossen werden. Ist keine Zeit der Dauer bestimmt, so steht sowohl den Meistern als Gesellen eine 14-tägige Aufkündigung zu. 4. Jedoch ist das einseitige Abgehen vom Vertrage beiden Theilen ohne vorher erfolgte Kündigung in den Fällen gestattet, wo dies nach der Gesinde-Ordnung der Herrschaft oder dem Gesinde erlaubt ist. 5. Übertretungen dieser Bestimmungen von Seiten der Gesellen werden polizeilich mit Geld oder mit Gefängnisstrafe geahndet, während die Meister, wenn sie unerlaubterweise den Contract brechen, den Gesellen den stipulierten Lohn
verständigen“ wurde auch auf das Handwerk ausgedehnt. In den folgenden Jahren wurden in Krefeld, Gladbach, Barmen-Elberfeld, Solingen, Lennep, Remscheid, Burtscheid und Düsseldorf nach dem französisch-bergischen Dekret v. 17.12.1811 ebenfalls solche Räte errichtet. Auch hier wurde, über den Wortlaut des Dekrets v. 17.12.1811 hinaus, das Handwerk durch die jeweilige Einsetzungsordre einbezogen; s. Bahr (1905), S. 7; Schöttler (1985), S. 7 übersieht, dass die Handwerker zunächst nicht an den rheinischen Räten beteiligt waren. 104 S. Schreiben der Reg. Minden v. 5.8.1833, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B V 33 Nr. 4 Bd. 1, fol. 100. 105 S. Deter (1987), S. 127 ff.
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V. Das Arbeitsrecht
nebst Kostgeld für die ganze Contractzeit auszahlen müssen, vorausgesetzt, dass der Geselle nicht ein anderweitiges Unterkommen gefunden hat.“106 Bei aller rechtstechnischen Unausgegorenheit lässt der Vorschlag der Mindener Behörde doch erkennen, worauf es ihr ankam: Neben der Beschleunigung der Verfahren, die durch die Zuweisung der arbeitsrechtlichen Streitigkeiten im Handwerk an die Verwaltungsbehörden gewährleistet werden sollte, ging es ihr vor allem um die klare Regelung der „klassischen“ Essentials des Arbeitsvertrages wie Arbeitszeit, Kündigungsfrist, Schriftform. Sollten die speziellen Bestimmungen des ALR „Von Handwerkern und Zünften“ nicht länger angewandt werden, musste Neues an deren Stelle treten. Dennoch fand der Vorschlag der ostwestfälischen Regierung in Berlin keinerlei Unterstützung. Im Auftrag des Ministers belehrte der Staatsrat Kunth die Mindener Beamten, dass das Arbeitsverhältnis der Gesellen bereits seit der Einführung der Gewerbefreiheit ein bloßes Privatrechtsverhältnis sei – ein Umstand, der die bisherige Zuständigkeit der Polizeibehörden für die Entscheidung der aus dem kleingewerblichen Arbeitsverhältnis resultierenden Streitigkeiten von selbst verbiete.107 Die beklagte Schwerfälligkeit des Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten sei durch die Verordnung über den Mandats- und summarischen Prozess v. 1.6.1833 bereits gemildert worden. Außerdem werde eine Neuregelung des gesamten Bereichs des handwerklichen Arbeitsrechts und des einschlägigen Rechtsweges durch den Erlass einer allgemeinen Gewerbeordnung in naher Zukunft erfolgen. Nachdem das Handwerksrecht des ALR damit von höchster Stelle als obsolet erklärt worden war, gewannen die verstreuten Vorschriften über Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse, die sich vor allem in Teil I des 11. Titels des ALR finden, naturgemäß an Bedeutung. Doch bezogen sich diese Regelungen, dem Hang des aufgeklärt-absolutistischen Geist atmenden Gesetzes zum Speziellen entsprechend, überwiegend auf einzelne Berufszweige wie Gesinde, Tagelöhner, Bergleute etc. Den unzünftigen, im Gewerbe Beschäftigten widmete die umfangreiche Kodifikation dagegen nur wenig Aufmerksamkeit (II 8 §§ 417 ff.). Stattdessen wurde auf die vertraglichen Abmachungen und die allgemeinen Inhalte der Arbeitsverträge zwischen Dingenden (Arbeitgebern) und gedungenen Mitarbeitern und Tagelöhnern (II 8 § 423 i. V. m. I 11 §§ 869 ff.) verwiesen. Da mit der Aufhebung der Zünfte jedes objektive Kriterium zur Unterscheidung der im Tagelohn arbeitenden Handwerker von den gewöhnlichen Tagelöhnern entfallen war, gewannen diese Bestimmungen damals aber auch für das Kleingewerbe eine ganz neue, grundsätzliche Bedeutung. Lediglich zur notdürftigen Ergänzung und Lückenfüllung der Verträge der Handarbeiter und Tagelöhner waren die wenigen Regelungen über das Entstehen und die Inhalte der Ansprüche auf die geschuldeten Leistungen, die Folgen von Leistungsstörungen und Vorschriften über die Beendigung der Arbeitsverhältnisse getroffen worden.108 Wichtig war die Bestimmung, dass Arbeitsverträge nur be106 In: Schreiben der Regierung Minden an das Handels- und Gewerbeministerium v. 5.8.1833, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B V 33 Nr. 4 Bd. 1, fol. 100 RS. 107 Schreiben v. 13.8.1833, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B V 33 Nr. 4 Bd. 1, fol. 102. 108 Ausführlich zu den arbeitsrechtlichen Bestimmungen des ALR Bernert (1972), S. 59 ff., insbes.
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fristet abgeschlossen werden konnten. Fehlte es an entsprechenden Vereinbarungen, so dauerte das Arbeitsverhältnis bloß einen Tag (ALR I 11 §§ 905–907). Dies änderte sich auch durch eine stillschweigende Vertragsverlängerung nicht.109 Der Handarbeiter und Tagelöhner trug das volle Arbeitsplatzrisiko. Doch damit nicht genug: Wurde das Arbeitsverhältnis vorzeitig gänzlich oder partiell beendet, hatte der Meister die geleistete Arbeit dennoch nicht immer verhältnismäßig, sondern nur zum Teil, und zwar insoweit er tatsächlich bereichert war, zu vergüten. Der Gedungene hatte also die Gefahr der Gegenleistung so lange, bis er alle geschuldeten Handlungen erbracht hatte, zu tragen. Außerdem war das außerordentliche Kündigungsrecht des Handarbeiters eingeschränkt. Denn unter gewissen Voraussetzungen musste er sich am Vertrag festhalten lassen, wenn der Arbeitgeber auf der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bestand. Damit war der Tagelöhner auch mit der Gefahr des Fortbestandes seines Arbeitsvertrages beschwert.110 Die Zusammenschau dieser Bestimmungen macht überdeutlich, dass der Gesetzgeber die allgemeinen Bestimmungen zum Arbeitskontrakt der Handarbeiter im ALR als bloß auf schuldrechtlichen Austausch zwischen Arbeit und Lohn gedachten Vertrag konzipiert hatte.111 Die Gerichte konnten deshalb allenfalls für die Vertragserfüllung, nicht aber für Inhalte des Arbeitsverhältnisses Sorge tragen112 (ALR II 3 § 423). C. DIE WEITERENTWICKLUNG DES HANDWERKLICHEN ARBEITSRECHTS 1. Ansätze zu Neuregelungen Der Inhalt der individuellen Arbeitsverträge hing aber auch in Westfalen nicht nur vom Brauch, sondern maßgeblich von Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt ab – und diese waren den Gesellen langfristig keineswegs günstig. Die demographische Entwicklung hatte eine Zunahme der Zahl der Hilfskräfte zur Folge, ein Umstand, der deren Position bei der Aushandlung der Arbeitsverträge zusehends verschlechterte. Dieser Effekt wurde durch die Aufhebung der Wanderpflicht113 im Jahr 1831 latent verstärkt, wenngleich die Maßnahme auf die intakte Zunftordnung Ostelbiens zielte und für den Westen der Monarchie nur geringfügige unmittelbare Bedeutung besaß. Denn in Westfalen hatte natürlich schon die beinahe völlige Beseitigung der Zünfte die Wanderpflicht erlöschen lassen. Immerhin war aber das S. 71 f. 109 Vgl. Bernert (1972), S. 121. 110 Der Arbeitgeber konnte trotz Vorliegens eines Grundes zur außerordentlichen Kündigung auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bestehen, wenn die zeitweise Unmöglichkeit der geschuldeten Handlungen auf einem bloßen Zufall beruhte (ALR I 11 §§ 908, 909); s. dazu Bernert (1972), S. 128, 129, 141. Vgl. auch Rückert (1998) und ders. (2007). 111 Vgl. für das 19. Jahrhundert Zycha (1949), S. 309. 112 S. dazu auch Koselleck (1967), S. 119. 113 Kabinetts-Order v. 1.8.1831, Preußische Annalen, Bd. 15, 1831, S. 472. Zur Wanderschaft s. u. a. Ehmer (1988); Elkar (1999); Reininghaus (1999).
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V. Das Arbeitsrecht
von der Zunftordnung seit je geforderte und durch das ALR festgeschriebene sog. Geschenkgeben (ALR II 8 § 340) keineswegs mit den Zünften verschwunden, wie die Einlassungen des Warendorfer Bürgermeisters zeigen. Anlässlich der Aufhebung der Wanderpflicht stellte der preußische Innenminister deshalb klar, dass wandernde Gesellen nicht länger Anspruch auf Unterstützung gegen die Gewerksgenossen oder Gemeinden hätten.114 Fiel die Unterstützung aber fort, so konnte der Geselle die Wanderschaft nicht mehr, wie bis dahin üblich, nutzen, um die Zeit ungünstiger Konjunkturen zu überbrücken oder sich nach entfernten Orten zu verfügen, wo er ein höheres Salaire zu erzielen hoffte. So hatten die politischen Intentionen, die der Gesetzgeber mit der Aufhebung der Wanderpflicht verfolgte,115 den Nebeneffekt, die Position der Gesellen auf dem Arbeitsmarkt zu schwächen. Politisch-polizeilichen Überlegungen entsprang auch die gleichzeitig angeordnete Einführung des Wanderbuches, das die Nachfolge der Kundschaft der Zunftzeit sowie der sog. „Büchelchen“ der Franzosenzeit antrat und die lückenlose Kontrolle der Wanderungen und des Verhaltens der Gesellen ermöglichen sollte.116 Der Entwurf für eine neue Gewerbeordnung, den der Staatsrat Hoffmann 1835 vorlegte, verharrte ganz auf der Linie der bis dahin geltenden Gesetzgebung. Dementsprechend streifte er das Arbeitsrecht nur am Rande. Der Arbeitsvertrag sollte weiterhin frei ausgehandelt werden. Neu war lediglich das Gebot, Gesundheit und Sicherheit der Gesellen während ihrer Beschäftigung zu schützen.117 Ein striktes Verbot der Vereinigungen der Arbeitskräfte, und zwar selbst solcher mit sozialer Zielsetzung, erschien dem seit langem mit dem Handwerksrecht vertrauten, damals noch ganz antizünftlerisch gesonnenen Hoffmann selbstverständlich.118 Diese Haltung wurde ihm insofern erleichtert, als auch die Provinziallandtage, die sich in den zwanziger Jahren konstituiert hatten und auf denen die Vertreter der Städte eine 114 Resolution des Innenministeriums v. 30. Sept. 1833, in: Preußische Annalen, Bd. 17, 1833, S. 800; Reskript vom selben Tage, a. a. O., S. 801; vgl. auch Vietinghoff-Scheel (1972), S. 42. 115 Die zu Beginn der dreißiger Jahre virulente Kommunisten- und Revolutionsfurcht veranlasste die Staaten des Deutschen Bundes zur Überwachung der Handwerker. Diese sollte der „kräftigen Abwehr der Gefahren, welche der bürgerlichen Ordnung aus der an verschiedenen Orten vermehrten systematischen Verführung des Handwerkers drohen“, dienen; s. Wanderreglement v. 21.3.1835, Preußische Annalen, Bd. 19, 1835, S. 210. Das Wandern verbreite, so glaubte man nicht ganz zu Unrecht, „staatsgefährdende“, demokratische und republikanische Gedanken. Außerdem wurde die Wanderpflicht und die damit verbundene Wanderunterstützung als Quelle des Vagabundentums betrachtet; s. Hoffmann (1841), S. 147 ff.; vgl. auch Hoffmann (1803), S. 96 ff.; Rudolph (1935), S. 36. 116 1826 hatte das Innenministerium noch Vorbehalte gegen die Einführung des Wanderbuches geäußert: Die Eintragungen verewigten einzelne Vergehen; dadurch werde die Integrierung der betroffenen Gesellen in das Arbeitsleben unnötig erschwert; s. Reskript v. 14.6.1826, in: Preußische Annalen, Bd. 10, 1826, S. 390. Vgl. Brandes (2003). 117 Vgl. dazu Roehl (1900), S. 202. Zur Begründung der Vertragsfreiheit im 19. Jahrhundert s. Rückert, Zur Legitimation … (1997) sowie ders., Natürliche Freiheit … (1997). 118 „Alles Niederlegen der Arbeit, aller Tumult, der so oft unter den Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern ausbricht, geht von dem Esprit de corps aus“. … „in diesen Gehilfenvereinen liegt ganz eigentlich der Keim aller Zunftmißbräuche, und es ist ganz vergebene Mühe, hier etwas Wesentliches verbessern zu wollen, wenn man diese Zusammenkünfte“ … autorisiert; so Hoffmann, zitiert nach Ritscher (1917), S. 156.
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gewichtige Stimme besaßen, aus ihrer vehementen Ablehnung jedweder Koalitionen der gewerblichen Arbeitnehmer kein Hehl machten.119 Zwar gingen in der Diskussion des Gesetzentwurfes die Meinungen auseinander, doch hielt der preußische Nomothet schließlich am Koalitionsverbot für Gesellen und Arbeiter fest.120 Diese starre Position, die zu dem ansonsten unangefochten geltenden Prinzip der Freiheit in der Wirtschaft in merkwürdigstem Gegensatz stand, hatte ihre Ursache natürlich in anderen als spezifisch arbeitsrechtlichen Überlegungen – welche man damals keineswegs nur in Preußen anstellte: Es war die Revolutionsfurcht, welche die Fürsten und ihre Vertreter am Bundestag in Frankfurt umtrieb und sie veranlasste, das Arbeitsrecht in den Dienst der inneren Sicherheit zu stellen. Damals beschäftigte sich die Bundesversammlung nicht zufällig mit der Frage der Gesellenverbindungen.121 Das Misstrauen gegen die „Versammlungen und Verbindungen von Handwerksgesellen“ in der Schweiz, die man revolutionärer Machinationen zieh, saß tief122. Um dieser als real erachteten Bedrohung zu wehren, sollte nicht nur das Wandern ins westliche Ausland untersagt werden; vielmehr wollte man vor allem die Verbindungen der in Deutschland arbeitenden Handwerksgesellen strenger polizeilicher Aufsicht unterwerfen. In Ausführung dieses Bundesbeschlusses aus dem Jahre 1835123 erließ Preußen noch im selben Jahr ein Reglement, das die Behörden verpflichtete, gegen Gesellenverbindungen einzuschreiten und selbst gelegentliche Zusammenkünfte scharf zu observieren.124 Am 3.12.1840 kam es schließlich auch zu einem Bundesbeschluss gegen solche Handwerksgesellen, welche durch Teilnahme an verbotenen Verbindungen, Gesellengerichten, sog. „Verabredungen“ und traditionellen Verrufserklärungen auffällig geworden waren.125 Verstöße gegen das Koalitionsverbot sollten drakonisch bestraft werden: Haftstrafe, Abschiebung in die Heimat, Polizeiaufsicht und Arbeitsverbot in allen anderen Bundesstaaten schienen den Bundesorganen geeignet, dem immer wiederholten und ebenso oft ignorierten Verbot der kollektiven Interessenwahrnehmung der Handwerksgesellen endlich die erwünschte Beachtung zu verschaffen. Die Vorstellung, dass die Koalition als Instrument zur Verbesserung der Vereinbarungen des Arbeitsvertrages und damit der 119 120 121 122
S. Ritscher (1917), S. 155. S. Ritscher (1917), S. 156, 157. Dazu ausführlich Ritscher (1917), S. 162, 163. „Das Wandern der deutschen Handwerksgesellen nach fremden Ländern gebe den Revolutionären Gelegenheit, ihre Netze auszuspannen, ohne sich einer persönlichen Gefahr dabei auszusetzen. Die Handwerksgesellen, welche – gleichsam infiziert mit dem Gifte revolutionären Geistes – an von den politischen Flüchtlingen gegründeten Verbindungen teilgenommen hätten, sollten nach ihrer Rückkehr in die deutsche Heimat dazu dienen, die ihnen im Auslande beigebrachten revolutionären Grundsätze unter ihren Mitbürgern weiter zu verbreiten und ähnliche Verbindungen zur Beförderung der revolutionären Zwecke ihrer Lehrer zu stiften, womit, falls der Plan gelänge, keine geringe Gefahr für ganz Deutschland verbunden sey,“ hieß es 1834 im Bundestag. S. Protokolle der Deutschen Bundesversammlung vom Jahre 1834 und folgende, 33. Sitzung v. 11. Sept. 1834, zitiert nach Ritscher (1917), S. 163. 123 Beschluss v. 15. Januar 1835, § 36, s. Ritscher (1917), S. 164. 124 S. Ritscher (1917), S. 164. 125 Schönlank/Schanz (1909), S. 672; Steuer (1928), S. 59. Zur „Verfassung“ des Gesellenwesens insgesamt s. Stock (1844).
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V. Das Arbeitsrecht
Arbeitsbedingungen gewerblicher Arbeitnehmer keineswegs notwendig mit Aufruhr und Revolution identisch war, hatte sich noch nicht durchgesetzt. Während diese Erkenntnis im fortgeschrittenen England längst keinem Zweifel mehr unterlag, glaubte man im Deutschen Bund, an der Unterdrückung der Gesellenverbindungen unbeirrt festhalten zu müssen. Der Bundestag fürchtete ganz wie schon die Obrigkeit des 18. Jahrhunderts die Handwerksgesellen, deren Empfänglichkeit für demokratische und kommunistische Ideen, wie sie der „Bund der Gerechten“ und der Anhang Wilhelm Weitlings verbreiteten, natürlich nicht verborgen geblieben war.126 Die Diskussion um die Gewerbeordnung wurde deshalb maßgeblich und dauerhaft durch die „kommunistische Gefahr“ bestimmt, der man nach allgemeinem Dafürhalten nur durch strenge „Zucht und Ordnung“ unter den gewerblichen Arbeitnehmern wehren zu können glaubte.127 Ebenso wie es nicht gelang, den sog. Koalitionen, Interessenvertretungen der Gesellen, Legitimität zu verleihen, kam es zunächst auch nicht zu den geringsten Ansätzen einer Arbeiterschutzgesetzgebung für das Handwerk. Zwar waren die Probleme erkannt und eine gewisse Sensibilisierung erreicht. Das Notwendige zu tun verhinderte aber ein Bündnis von Bedenkenträgern, welches von den Konservativen bis zu den Liberalen reichte. Als der preußische Gesetzgeber durch das „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ v. 8. März 1839128 endlich wenigstens die schlimmsten Auswüchse der Kinderarbeit einschränkte, gaben die Behörden darauf acht, dass das Gesetz nicht über seinen engen Geltungsbereich für Fabriken, Berg-, Hütten- und Pochwerke hinaus ausgedehnt wurde. Auf das Bauhandwerk, in dem zahlreiche Kinder beschäftigt waren,129 erstreckten sich die Schutzbestimmungen bezeichnenderweise nicht.130 Als Ausnahmegesetz, das „eine wesentliche Beschränkung der freien Disposition über die menschliche Arbeitskraft“131 zum Inhalt hatte, dürfte das Regulativ manchem Vertreter der damals in Hochblüte stehenden liberalen Wirtschaftstheorie als systemwidriger Verstoß gegen das Prinzip der Vertragsfreiheit verdächtig gewesen sein. Jedenfalls rührte sich für seine Anwendung auf das Kleingewerbe keine Hand. 2. Die Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 Die Allgemeine Gewerbeordnung, auf Druck der Handwerkerbewegung nach jahrzehntelangem Vorarbeiten zustandegekommen und am 17.1.1845 endlich publiziert, stellte die Beziehungen zwischen den Meistern und ihren Gesellen nur for-
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Schönlank/Schanz (1909), S. 673; Steuer (1928), S. 60. Roehl (1900), S. 236 f. Preußische Gesetzes-Sammlung 1839, S. 156. So Vietinghoff-Scheel (1972), S. 56. Das Obertribunal lehnte auch die Anwendung dieser Schutzbestimmungen auf die Hilfsgewerbe der Seidenindustrie ab, da für diese dreijährige Lehrkontrakte geschlossen wurden und es sich daher um Handwerke handele; s. Thun (1879), S. 189. 131 So die Polizeiabteilung des Innenministeriums im Jahre 1841; s. Kuczynski (1968), S. 96.
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mell auf eine neue Grundlage.132 Inhaltlich beruhte das Gesetz, dessen arbeitsrechtliche Bestimmungen als Kompromiss zwischen „dem individualistischen Prinzip der Gewerbefreiheit und dem Zunftsystem“ charakterisiert worden sind,133 wesentlich auf handwerklichen Vorstellungen. Der eigentliche Arbeitsvertrag wurde nur knapp abgehandelt. Seine Grundlage blieb die freie Vereinbarung zwischen dem Meister und seinem Gesellen (§ 134). Fehlten vertragliche Abreden, sollten die Innungsstatuten die Lücken füllen. Wegen des geringen Erfolges, den der Innungsgedanke in Westfalen damals zeitigte, konnte natürlich auch die Vorschrift, wonach die Innungsstatuten die Lücken individueller Abreden füllen sollten, keine das Arbeitsverhältnis in der Provinz prägende Bedeutung gewinnen. Doch kann Vietinghoff-Scheels134 apodiktische, an Behauptungen Berléungs orientierte Feststellung,135 die von der Gewerbeordnung eröffnete Chance, durch Ortsstatuten verbindliche Anordnungen zum handwerklichen Arbeitsvertrag zu treffen und so eine flexible Anpassung des Arbeitsrechts an die örtlichen Verhältnisse zu ermöglichen, sei nirgends wahrgenommen worden, nicht unwidersprochen bleiben. Es lassen sich durchaus ortsstatuarische Regelungen in Westfalen nachweisen, wenngleich sie als singuläre Erscheinungen ihren untypischen Charakter niemals verloren. Auch das Recht der einzelnen Innungen nahm sich des Arbeitsverhältnisses der Gesellen an. So traf das Statut der Herforder Schlosser-Innung136 aus dem Jahre 1852 detaillierte Regelungen zu allen Fragen des handwerklichen Arbeitsvertrages: Es sollte dort „Jahrein und Jahraus“ an 6 Tagen in der Woche 12 Stunden täglich gearbeitet werden. Während der ersten 14 Tage eines Arbeitsverhältnisses, die als Probezeit galten, hatte der Meister dem Gesellen bei Kost und Wohnung einen Wochenlohn von 15 Sgr. zu zahlen; wohnte der Geselle außerhalb des Meisterhauses, sollte der Lohn individuell vereinbart werden. Überstunden wurden gesondert vergütet. Ebenfalls konnten sich die Vertragspartner auf Akkord- oder Stücklohn einigen. Beendet werden sollte das Arbeitsverhältnis erst nach Ablauf einer vierzehntägigen Kündigungsfrist. Solange es an einem zuständigen Gewerbegericht fehlte, war es Aufgabe des Innungsvorstandes, arbeitsrechtliche Streitigkeiten unter Vorsitz eines Beisitzers zu entscheiden. Rechtsmittel konnten auf dem ordentlichen Rechtsweg eingelegt werden. Mit diesen Bestimmungen regelte die Innung die zentralen Gegenstände des Arbeitsvertrages, so dass sich in der Zusammenschau mit der Gewerbeordnung das vom Gesetzgeber gewünschte, vergleichsweise vollständige Bild des handwerklichen Arbeitsrechts ergab. Die Minimalregelungen zur Arbeitszeit und zum Arbeitsschutz schränkten die Freiheit der Meister im Innenverhältnis vorsichtig ein – eine Notwendigkeit, die aus dem natürlichen Ungleichgewicht der Arbeitsmarktparteien resultierte. Wegen des geringen Erfolges des Innungsgedankens in Westfalen und des fast überall fehlenden Statutarrechts war dieses Tableau allerdings ganz untypisch für die Rechtslage in der Provinz. 132 133 134 135 136
Berléung (1906), S. 43. S. dazu Tuchtfeldt (1955), S. 26. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 62. Berléung (1906), S. 43. Statut der vereinigten Schlosser-etc.-Innung zu Herford v. 15.11.1852, in: Stadtarchiv Herford VII, 146, § 40.
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V. Das Arbeitsrecht
Weitaus größere Bedeutung kam daher den subsidiären Bestimmungen der Gewerbeordnung zu, die für den Fall unzureichender vertraglicher Abreden galten. Die Gesellen hatten dem Meister „Achtung zu erweisen“ und seinen Anordnungen Folge zu leisten. Zu sog. „häuslichen“ Arbeiten waren sie ausdrücklich nicht verpflichtet (§ 138). Die fristlose Kündigung wurde aus wichtigem Grunde zugelassen (§§ 140, 141)137 – ganz so, wie es das ALR auch schon gehalten hatte. Eigens wies der Gesetzgeber darauf hin, dass die Wanderpflicht beseitigt sei und die vagierenden Gesellen keinen Anspruch auf Unterstützung hätten (§ 143). Nur wenige Bestimmungen schränkten die Vertragsfreiheit ein. So wurde die örtliche Verwaltung verpflichtet darauf hinzuwirken, dass die Meister gebührende Rücksicht auf die „Gesundheit und Sittlichkeit“ der Gesellen und Lehrlinge nähmen und ihnen ggf. Zeit zum Schul- und Religionsunterricht ließen (§ 136) – eine ganz bemerkenswerte Vorschrift, stellte sie doch, sieht man von dem für eine Sondergruppe geltenden Kinderschutzregulativ einmal ab, erstmals in der preußischen Gewerbegesetzgebung eine, wenngleich noch rudimentäre, Arbeitsschutznorm dar.138 Verabredungen gewerblicher Arbeitnehmer zum Zwecke der Arbeitseinstellung sollten wie je streng bestraft werden, ohne vorherige polizeiliche Erlaubnis begründete Gesellenverbindungen blieben verboten, Kontraktbruch der Arbeitnehmer wurde geahndet.139 Immerhin gab es eine gewisse Verbesserung gegenüber den bis dahin geltenden Regelungen, indem man den französischen Bestimmungen folgte und die Koalitionen der Arbeitgeber mit der gleichen Strafe wie diejenigen der Arbeitnehmer bedrohte, also eine gewisse Rechtsgleichheit herstellte. Der Zusammenschluss der Gesellen und Arbeiter in Unterstützungskassen, den man aus Gründen sozialer Notwendigkeit nicht unterbinden konnte, sollte keinesfalls zu einem Forum umfunktioniert werden, welches durch Verabredungen und Vereinigun137 Das Gesetz normierte einen abschließenden Katalog von zur fristlosen Kündigung berechtigenden Gründen: Die Kündigung durch den Meister: Diebstahl, liederlicher Lebenswandel, grober Ungehorsam und beharrliche Widerspenstigkeit, unvorsichtiger Umgang mit Feuer und Licht, Tätlichkeit oder Schmähungen gegen den Amtsherrn, „verdächtiger Umgang“ mit Familienmitgliedern des Meisters, Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeit, ekelerregende Krankheit. Kündigung durch den Gesellen: Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeit, Tätlichkeiten des Meisters, Verleiten zu gesetz- oder sittenwidrigen Handlungen, Vorenthalten des Lohnes. 138 Die sozialpolitische Komponente des Gesetzes hatte die Erkenntnis zur Ursache, dass „diese Menschenklasse … sich in der Regel nicht helfen“ kann, „weil sie viel zu ungebildet ist“; zitiert nach Tilmann (1935), S. 11; man fürchtete, dass die Verwaltung ohne direkten Auftrag des Gesetzgebers die wahre Situation so lange ignorieren würde, „bis teils die Jammergestalten körperlich und geistig verkrüppelter Menschen, teils ausbrechende Aufstände sie zu spät enttäuschten“. 139 §§ 181–184 der Gewerbeordnung v. 17.1.1845; es berührt schon sehr eigenartig, wenn die Gewerbeordnung die Innungen und Organisationen der Handwerksmeister energisch förderte, den Gesellen die korporative Interessenwahrnehmung aber verweigerte; so auch schon Brentano, Art. Gewerkvereine (1900), S. 620. Das Koalitionsverbot war dem preußischen Gesetzgeber durch das rheinisch-französische Strafgesetzbuch, das dem Code penal entsprach, vermittelt worden; s. Krahl (1937), S. 16; s. dazu auch unten. Zu den Koalitionsbeschränkungen für Landarbeiter s. Flemming (1980), S. 262 ff.; Ritscher (1917), S. 201. Zu Ausständen vgl. Lis/ Lucassen/Soly (1994).
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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gen eine Veränderung der Arbeitsbedingungen herbeizuführen geeignet war. Auch in den anderen deutschen Bundesstaaten blieben die Koalitionen der Gesellen ebenso wie die der Arbeiter vor 1848 streng untersagt. Der Reichsschluss des Jahres 1731, der das Koalitionsrecht der gewerblichen Arbeiter und Gesellen zunichte gemacht hatte, wirkte, wie man sieht, außerordentlich lange nach. Eines der wesentlichsten Ziele der Reformbemühungen des sich absolutistisch gebärdenden Staates des 18. Jahrhunderts, „die Umgestaltung des Arbeiterrechts der Gesellen im Sinne ihrer Unterordnung unter Polizei, Meister und ruhigen Gang der Geschäfte“ (Schmoller), empfand auch noch die liberale Bürgerwelt des 19. Jahrhunderts keineswegs als anstößig. Der Arbeiter hatte den Zunftgesellen ersetzt, doch sollte die moderne Gewerkschaft keineswegs die Stelle des Gesellenverbandes einnehmen – eine Situation, wie sie sich spannungsgeladener kaum denken lässt. Denn zweifellos ermöglichte die Vertragsfreiheit in ihrer spezifischen Gestalt der „Freiheit“ des individuellen Arbeitsvertrages den Missbrauch der Lohnarbeit. Sie war, wie Franz Wieacker pointiert formulierte, „eine Freiheit zur Unterwerfung unter größere wirtschaftliche Macht. … Der Gegensatz von Vertragsfreiheit und Vereinigungsunfreiheit ist eines der wenigen traurigen Kapitel, welche der Interpretation der bürgerlichen Rechtsordnung als eines Mittels der Klassenherrschaft Nahrung geben konnte.“140 Es waren dürftige Bestimmungen, die an die Stelle des Gesellenrechts des ALR, das den reichen Bestand entsprechender Regelungen des Zunftrechts noch einmal in all seiner ganzen Breite kodifiziert hatte, traten. Einerseits konnten sie die Traditionen des Handwerksrechts nicht leugnen, setzten sich andererseits aber durch die Kargheit der getroffenen Regelungen doch sehr deutlich von dem Gesellenrecht der Zünfte und dessen Ausformung durch den aufgeklärt-absolutistischen Staat des 18. Jahrhunderts ab. So verzichtete der Gesetzgeber 1845 darauf, den Meistern die Sorge für ihre hilfsbedürftigen Gesellen zu übertragen, da dies „ungerecht und unbillig“ sei.141 Besonders plastisch tritt diese Abkehr von spezifisch handwerklichen Traditionen am Beispiel der Vorschriften zur Wanderschaft hervor: Während das ALR der „Wanderschaft, und Verhalten auf derselben“ nicht weniger als 24 Paragraphen gewidmet hatte,142 begnügte sich die Gewerbeordnung mit dem bloßen Hinweis auf die Beseitigung der Wanderpflicht. Alle Fragen, welche die Gewerbeordnung nicht regelte, waren, da in Westfalen nur wenige Innungen errichtet wurden, deren Statuten arbeitsrechtliche Bestimmungen enthielten, weiterhin nach dem landrechtlichen Dienstvertragsrecht zu lösen143 – wie denn auch die in der Gewerbeordnung festgeschriebenen arbeitsrechtlichen Normen mit den entsprechenden handwerksspezifischen Vorschriften des ALR übereinstimmten. Sie waren lediglich dahingehend erweitert worden, dass nun auch der Geselle fristlos kündigen konnte, wenn ihm der Lohn nicht gezahlt wurde. 140 141 142 143
Wieacker (1953), S. 12. Tilmann (1935), S. 12. ALR II 8 §§ 326–349. S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 61.
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V. Das Arbeitsrecht
So hielt das neue Recht unverändert an mancherlei tradierten Formen des Arbeitsvertrages im Kleingewerbe fest – ein Konservativismus, den Vietinghoff mit der Behauptung zu erklären suchte, „dass sich die wirtschaftliche und betriebsorganisatorische Struktur des Handwerks in den fünfzig Jahren seit der Verkündung des ALR kaum gewandelt“144 habe. In solch apodiktischer Form kann die Feststellung natürlich keinen Bestand haben. Mag die Aufnahme der Gesellen in die Hausgemeinschaft des Meisters damals noch die Regel und der technische Standard der Betriebe unverändert gewesen sein,145 so rechtfertigt es ein solcher Umstand allein doch keineswegs, den tiefgreifenden Wandel zu ignorieren, den das Handwerk um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchlebte. In den bedeutenden Städten begann das Sozialmodell des „ganzen Hauses“ sichtbar zu zerfallen,146 zahlreiche Handwerke rangen in aussichtslosem Kampf mit der Industrie um ihre Existenz, Konjunktureinbrüche steigerten, wie sich wenig später, in der Krise der Jahre 1846/1847 zeigen sollte, das Arbeitsplatzrisiko der Gesellen ganz außerordentlich – all diese Menetekel deuten eher auf eine Hyperkinese denn auf eine behäbig-behagliche Selbstzufriedenheit des Handwerks an der Schwelle der Hochindustrialisierung und am Vorabend der Revolution hin. Dass der Gesetzgeber an der überkommenen Form des Arbeitsvertrages unverändert festhielt, hatte nicht in der Stabilität der ökonomischen Verhältnisse, sondern gerade im Gegenteil, in der Krise, die auch die westfälischen Handwerker in zahllosen Petitionen nach der Wiederherstellung einer modifizierten Zunftordnung verlangen ließ, seine Ursache. Das hergebrachte Recht, romantisch verklärt und unwirklich überhöht, galt Meistern wie Gesellen als letzter Rettungsanker im unaufhaltsam erscheinenden Niedergang. Diese mentale Befindlichkeit der Professionisten, ihr Rückgriff auf mittelalterliche Denkformen und Traditionsbestände, war es, der die Gewerbeordnung, und damit auch deren arbeitsrechtliche Vorschriften, zu entsprechen suchte. Als Gegenstand von außerordentlicher politischer Bedeutung erwies sich die Strafbarkeit des Arbeitsvertragsbruchs, den das neue Recht normierte. Das Problem, einen säumigen Arbeitnehmer zur Leistung der vereinbarten Arbeit anzuhalten, suchte man damals in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich zu lösen: Zahlreiche Staaten hatten den Arbeitgebern die Möglichkeit eröffnet, die Verpflichteten mit Hilfe der Polizei an ihren Arbeitsplatz zurückzuschaffen und sie so zur Vertragserfüllung zu zwingen.147 Das preußische Allgemeine Landrecht kannte eine solche Regelung zwar nicht, drohte den Gesellen aber eine empfindliche Strafe an, falls sie an Werktagen feierten statt zu arbeiten. Diese Regelung übernahm die Gewerbeordnung, indem sie in § 184 bestimmte, dass die gewerblichen Arbeitneh144 S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 62. 145 Jacobi (1857), S. 539; Sombart (1902), S. 476. 146 Das Arbeitsverhältnis der Landarbeiter wandelte sich damals in ganz ähnlicher Weise. Es ist festgestellt worden, dass sich die patriarchalischen Bindungen zwischen Dienstherren und Arbeitern um 1850 auch im Bewusstsein der Zeitgenossen im preußischen Osten bereits in voller Auflösung befanden; s. Flemming (1980), S. 253 mit w. Nachw. 147 So z. B. in Hannover § 160 GewO v. 1. Aug. 1847, Hannoversche Gesetzessammlung (Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreibungen des Königreich Hannover) I, S. 215 (galt nur für Handwerksgesellen); ähnliche Bestimmungen kannte man in Bayern, Braunschweig und Österreich.
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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mer, „welche ohne gesetzliche Gründe eigenmächtig die Arbeit verlassen, oder ihren Verrichtungen sich entziehen … mit Geldbuße bis zu 20 Thalern oder Gefängnis bis vierzehn Tage zu bestrafen“ seien. Einer langen Tradition folgend,148 sollte die Strafdrohung die zumeist vermögenslosen und daher durch Schadensersatzforderungen wenig zu beeindruckenden Arbeitnehmer zur Vertragstreue anhalten. Dass es dabei zu einem Wechsel des Strafgrundes kam – das ALR bestrafte die Auflehnung gegen die Obrigkeit, während die Gewerbeordnung den Vertragsbruch ahndete – war angesichts der fortdauernden Strafdrohung nur von akademischer Bedeutung. Als weitaus problematischer musste es empfunden werden, dass die Vorschrift das für das liberale Zeitalter signifikante und auch für die Gewerbeordnung im übrigen typische Prinzip der Nichteinmischung des Staates in das privatrechtliche Arbeitsvertragsverhältnis durchbrach – bildete die Strafbarkeit des Arbeitsvertragsbruches doch ein aus Gründen der Effizienz beibehaltenes, systemfremdes Residuum des Obrigkeitsstaates inmitten eines ansonsten liberalen Arbeitsvertragsrechtes. Der in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende hohe Stellenwert, den die störungsfreie Arbeitsleistung für den Gesetzgeber besaß, wird durch das bereits erwähnte umfassende Koalitionsverbot der Gewerbeordnung, das die kollektive Einflussnahme der Arbeitnehmer auf den Arbeitsvertrag unmöglich machte, einmal mehr bestätigt.149 Trotz ihrer relativen Fortschrittlichkeit war es eine unverkennbar einseitige Regelung dieses Rechtsbereiches, welche die Gewerbeordnung getroffen hatte, und die zeitgenössischen Kritiker erkannten das auch.150 Insbesondere in Ostwestfalen scheint das Festhalten an dem Brauch des „Blauen Montags“, des arbeitsfreien Tages der Gesellen, ein Problem gewesen oder aber von den Behörden zu einem solchen gemacht worden zu sein. Jedenfalls wurden in schöner Regelmäßigkeit Initiativen ergriffen, um diese ungeliebte Sitte auszumerzen. Schon 1829 hatte sich die Regierung in Minden an das Innen- und Polizeiministerium gewandt,151 um ein neuerliches Verbot der Feier des Blauen Montags zu erreichen. Das Ministerium erfüllte den Wunsch der Mindener Beamten aber nicht. Stattdessen machte es unmissverständlich klar, dass das entsprechende Verbot des ALR wegen des Fehlens von Zünften in Westfalen nicht anwendbar sei.152 Eine Untersagung des arbeitsfreien Tages in den Westprovinzen könne deshalb allenfalls durch eine Revision der Gewerbegesetzgebung erfolgen. Zugleich machte das Ministerium aber kein Hehl daraus, dass es einer solchen Regelung kritisch gegenüber stand. 148 Nachweise finden sich bei Sickel (1876), S. 121 ff., 168 ff.; einen Überblick vermittelt Loening (1876). 149 Der Begriff des Koalitionsrechts war ambivalent: Man verstand darunter zum einen alle Rechtsnormen zu der Frage, ob und inwieweit Unternehmer und Arbeiter sich zu Berufsvereinen zusammenschließen durften und ob bzw. inwieweit sie hierin beschränkt waren. Daneben erfasste der Begriff des Koalitionsrechts aber auch die Rechtsnormen über die Freiheit des einzelnen, diesen Vereinigungen, welche die Einwirkung auf die Gestaltung der Einzelarbeitsverhältnisse bezweckten, beizutreten. 150 S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 76. 151 Schreiben der Reg. Minden an das Innen- und Polizeiministerium v. 23.9.1829, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 187; Vgl. Köhne (1920). 152 Schreiben v. 23.9.1829, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1, fol. 187.
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V. Das Arbeitsrecht
Wenige Jahre später, 1836, nahm sich der Bielefelder Bürgermeister dann der Sache an, da die Arbeitspausen die Meister in „große Verlegenheit“ brächten.153 Er veröffentlichte die entsprechenden Vorschriften des ALR trotz ihrer offensichtlichen Unanwendbarkeit als Bekanntmachung, welche die Polizeidiener in allen Werkstätten gut sichtbar zu „affizieren“ hatten.154 Die Meister sollten dafür Sorge tragen, dass der Text der Bekanntmachung dort verblieb und dessen Inhalt neuen Gesellen umgehend zur Kenntnis gebracht wurde. Dasselbe hatte in den Wirtshäusern, in welche Gesellen einkehrten, zu geschehen. Meistern wie Gastwirten wurde durch ihre Unterschrift zu bestätigen aufgegeben, dass sie die notwendigen Veranlassungen getroffen hatten und auf deren Einhaltung Acht gaben. Daraufhin verließen mehrere Gesellen die Stadt. Überhaupt ist nicht zu verkennen, dass der Bielefelder Bürgermeister und nicht die dortigen Arbeitgeber die treibende Kraft bei der entschlossenen Durchsetzung des Verbots des „Blauen Montags“ in der Stadt war. Denn die Meister vertraten, wie er selbst einräumte, dezidiert der Auffassung, dass der damals in Bielefeld herrschende Mangel an Tischlergesellen auf die dort notorische Durchsetzung der Arbeitspflicht an allen Wochentagen zurückzuführen sei.155 Eindruck scheint die Bekanntmachung jedenfalls gemacht zu haben. Denn wenig später schon veranlasste der Landrat den Bielefelder Bürgermeister, die Bekanntmachung der ALR-Vorschriften auch in den Werkstätten der Weber in der Feldmark der Stadt anschlagen zu lassen, da sich auch deren Gesellen der Arbeit entzögen.156 3. Der revolutionäre Impetus Eine Wende in der durch die Jahrhunderte tradierten, feindseligen Haltung des Staates gegenüber den Koalitionen der Handwerksgesellen und Arbeiter brachten erst die Ereignisse des Jahres 1848. Bereits in den Wochen nach Ausbruch der Revolution wurde die Errichtung eines Ministeriums für Arbeit gefordert.157 Die Opponenten teilten das noch wenig konkretisierte Gefühl, dass der im Rahmen der Vertragsfreiheit zustandegekommene Einzelarbeitsvertrag nicht geeignet sei, ausgewogene Arbeits- und Lebensverhältnisse sicherzustellen. Der preußische Minister für Handel und Gewerbe begriff erstaunlich schnell, dass die Katastrophe, welche die gewalttätigen Auseinandersetzungen für die restaurative Ordnung des Staates bedeuteten, nicht zuletzt auch in den künstlich zurückgestauten, dem Arbeitsverhältnis in Industrie und Gewerbe aber natürlicherweise immanenten Konflikten ihre 153 Schreiben v. 11.8.1836, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I A 1 Nr. 23. 154 Bekanntmachung des Bürgermeisters der Stadt Bielefeld v. 28.1.1836, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I A 1 Nr. 23. Es handelte sich um ALR T. II Tit. 8, § 356. 155 Wie Anm. 153; der Bürgermeister wies diese Auffassung zurück, indem er erklärte, in allen größeren Orten des Regierungsbezirks herrsche Mangel an Tischlergesellen. 156 Schreiben des Landrats des Krs. Bielefeld v. 18.11.1836, in: Stadtarchiv Bielefeld, Rep. I A 1 Nr. 23. 157 S. Bernstein (1907), S. 10, 28 f.; Quarck (1924), S. 67; Todt/Radandt (1950), S. 108. S. auch Benöhr (1991).
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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Ursache hatten. Schon im Mai 1848 propagierte er daher die Bildung von sog. „Ausschüssen und Kommissionen für die Erörterung der Verhältnisse zwischen den Gewerbetreibenden und den von ihnen beschäftigten Arbeitern“. Keinesfalls sollte, wie die Begründung zur Errichtung des neuen Organs zeigt, Koalitionen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vorschub geleistet werden: „Wollte jede Klasse der Gewerbetreibenden das Mittel zur Verbesserung ihrer Lage nur darin suchen, dass der Lohn ihrer Arbeit auf Kosten Anderer erhöht und jede Mitbewerbung ausgeschlossen werde, so könnte die hieraus folgende gegenseitige Beschränkung der verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten keineswegs die Lage Aller erleichtern, sondern sie würde unfehlbar die Gelegenheit zur Arbeit im Ganzen vermindern und mit der Hemmung des allgemeinen Verkehrs auch auf die gesamte Gewerbsamkeit nachtheilig zurückwirken“.158 Die Treuherzigkeit, mit welcher der Minister hier mitten im Getümmel revolutionärer Auseinandersetzungen einem idealen Harmoniemodell das Wort redete, erscheint dem konfliktgewohnten Betrachter des 21. Jahrhunderts kaum mehr begreiflich. Doch war die Autorität des Staates und das Vertrauen in seine Organe damals selbst in der Zeit der tiefsten Krise noch nicht vollständig geschwunden, so dass die Hoffnung auf eine Bändigung des furors, der vor allem auch Ausdruck ungelöster sozialer Konflikte war, mittels staatlicher Initiativen durchaus nicht ganz utopisch erschien: „Ein großer Theil der zwischen den Arbeitgebern und Arbeitern entstandenen Misshelligkeiten kann nur durch freiwillige Vereinbarung beider Theile über die künftige Feststellung ihres gegenseitigen Verhältnisses behoben werden“.159 Hierzu den rechtlichen Rahmen zu liefern, beeilte man sich in Berlin. Zwar war den zunächst vorgesehenen Ausschüssen kein wirklicher Erfolg beschieden.160 Das bloße Zusammenbinden von Meistern und Gesellen in einem Gremium allein löste keinen ihrer zahlreichen Konflikte. Schon die Existenz einer gemeinsamen Organisation hätte, wenn sie denn in Westfalen verwirklicht worden wäre, der Auseinandersetzung, zu deren Bewältigung ein Arbeits- bzw. Arbeitskampfrecht im modernen Sinne nicht einmal in Ansätzen existierte, aber die kaustische Schärfe genommen. Natürlich kam in den eruptiven Ereignissen des Jahres 1848 die Verklammerung ganz verschiedener Ebenen historischen Wandels zum Ausdruck. Die weitgehende Ungeregeltheit der Arbeitsrechtsbeziehungen wurde aber nicht zuletzt aufgrund der Industrialisierungsvorgänge zu einer besonders schwärenden Wunde. Die tiefe Unzufriedenheit der zahlreichen Handwerker, die den Aufstand nicht zum wenigsten geschürt hatte,161 wich allerdings bald dem diffusen Gefühl, nach jahrzehntelangem Desinteresse des Gesetzgebers an ihren Schwierigkeiten endlich vom Staate wieder ernst genommen zu werden.
158 Bekanntmachung des Königl. Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten v. 8. Mai 1848, in: Amtsblatt der Reg. Arnsberg v. 27.5.1848, S. 223; s. dazu auch Vietinghoff-Scheel (1972), S. 82. 159 Wie Anm. 158. 160 S. dazu oben. 161 Husung hat für Norddeutschland festgestellt, dass die Handwerker die größte Protestaktivität aller sozialen Gruppen im Vormärz aufwiesen; so Husung (1983), S. 212–216. Für Westfalen dürfte nichts anderes gelten. Sozialgeschichtliche Untersuchungen hierzu fehlen bislang aber.
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V. Das Arbeitsrecht
Dass das selbständige Handwerk sich nicht mit der bestehenden Rechtslage abfinden wollte, sondern eine durchaus intensivere Rückbindung an die von der Zunft entwickelten Rechtsregeln erstrebte, zeigte sich, als sich die Meister mit dem sog. „Deutschen Handwerkerkongress“, der am 15. Juli 1848 in Frankfurt eröffnet wurde, ein eigenes Sprachrohr schufen.162 In ihrem „Entwurf einer allgemeinen Handwerks- und Gewerbeordnung“163 entwickelten die „Professionisten“ zwar kein brauchbares neues Arbeitsrecht für das Kleingewerbe. Sie setzten aber Akzente, die sich, da sie die Vertragsfreiheit nachhaltig zu beschränken beabsichtigten, durchaus von den Wertungen der preußischen Handwerksordnung unterschieden. So forderten sie die verbindliche Festschreibung einer mindestens dreijährigen Wanderzeit für jeden Gesellen. Reisen ins Ausland sollten durch die Behörden gefördert und nicht, wie bisher, behindert werden. Nach Ablauf einer vierzehntägigen Probezeit war, so wurde jedenfalls vorgeschlagen, beiden Parteien nachgelassen, binnen 8 Tagen das Arbeitsverhältnis aufzukündigen, sofern nicht etwas anderes vereinbart war. Der Gewerbeordnung entsprechend konnten die Gesellen den Arbeitgeber frei wählen. Die Arbeitszeit sollte für jedes Gewerbe unter Zustimmung der Gesellen durch die Gewerberäte und Gewerbekammern verbindlich festgelegt werden, um so die großen Unterschiede bei den Arbeitsanforderungen innerhalb Deutschlands ausgleichen zu können. Aus gutem Grund erschien es den Meistern besonders wichtig, alle Hilfskräfte wieder in sog. Gesellenschaften zu organisieren und so in den Innungsverband zu integrieren. Gesellen sollten nur bei Meistern ihres Fachs arbeiten164 und in Fabriken keine handwerkliche Tätigkeiten ausüben. Zur genauen Überwachung ihres Verhaltens wurde erneut die Einführung eines obligatorischen Arbeitsbuches vorgeschlagen. Damit wollten die Arbeitgeber wie zur Zunftzeit wenigstens eine gewisse Kontrolle über die Mitarbeiter ausüben. Dass es ihnen keineswegs um die Einführung der Koalitionsfreiheit für die Unselbständigen ging, zeigt schon die gleichzeitig erhobene Forderung, dass solche Gesellen-Verbindungen, welche Verrufserklärungen und sog. „Ausschließungen“ (der Meister) bezweckten, zu verbieten seien. Um die Hilfskräfte des Handwerks, die sich während der Märzereignisse besonders revolutionär gebärdet hatten, gewogen zu machen, konzedierten die Meister ihnen eine eigene Vertretung „mit Sitz und Stimme“
162 Die preußische Provinz Westfalen wurde dort durch den Mindener Drechslermeister Todt vertreten; s. Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen, hrsg. v. Köllmann und Reulecke Bd. 1 (1980), S. 172. Zuvor schon hatte in Hamburg ein „Vorkongreß norddeutscher Handwerker“ v. 1. bis 6. Juni getagt; der in Berlin vom 17. bis 30. Juli abgehaltene „Preußische Handwerkerkongreß“ schloß sich den Vorschlägen der Frankfurter Versammlung weitgehend an; s. zu den Handwerkerkongressen Georges (1993), S. 60 ff., 163 Der Text findet sich in: Der deutsche Handwerker-Congreß und die von demselben entworfene Handwerker- und Gewerbe-Ordnung für Deutschland, nach den Mittheilungen der Tischlermeister Bunkenburg und Kielmannsegge, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen, hrsg. v. Köllmann/Reulecke Bd. 1 (1980), S. 181 ff. Der Entwurf wurde der Nationalversammlung am 15. August 1848 zugeleitet. 164 Die Arbeit von Gesellen außerhalb der Werkstatt des Meisters sollte untersagt werden; s. Zusammenstellung der Anträge, welche in Betreff der nachstehenden Fragen bei dem Ministerium eingegangen sind, v. 18. Juni 1848, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 59 Bd. 1, fol. 91.
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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bei der Lehrlingsprüfung und bei der Verhandlung von Gesellenangelegenheiten im Innungsvorstand. Die Gesellen, die ebenfalls im Juli 1848 in Frankfurt einen Kongress mit dem Ziel, auf den Inhalt einer neuen Gewerbeordnung Einfluss zu nehmen, abhielten, fanden, ebenso wie die Meister, durch die Revolution erstmals eine eigene, unverwechselbare Sprache, die ihnen spezifische Essentials arbeitsrechtlichen Inhalts zu formulieren gestattete.165 Die Wanderschaft sollte seitens des Staates nicht allein nicht gehindert, sondern wirksam gefördert werden.166 Um das Reisen nicht zu erschweren, verlangten die Gesellen, dass die Ableistung des Militärdienstes keineswegs nur im jeweiligen Heimatstaat, sondern überall in Deutschland möglich sein sollte. Die Wahl des Arbeitsplatzes wollte man den Hilfskräften frei stellen; der Lohn sollte so bemessen sein, dass sie „ohne Nahrungssorgen als Mensch und Staatsbürger“167 leben konnten. Da die Gesellen – durchaus nicht zu Unrecht, wie man weiß – der individuellen Aushandlung des Arbeitslohnes misstrauten, sollten die Innungen verpflichtet werden, für Lohn- und Akkordarbeit einen sog. Minimum-Tarif festzusetzen. Die Arbeitszeit wünschte man ebenfalls exakt zu bestimmen, und zwar auf 12 Stunden täglich, worin drei Pausen (Frühstücks-, Mittagsund Vesperzeit) enthalten waren. Diese Begrenzung des Arbeitstages sollte ausdrücklich dem Zwecke dienen, den Gesellen den Besuch von Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Die wichtigen Kündigungsregelungen wollten die Deputierten in Frankfurt der freien Vereinbarung überlassen. Schließlich verlangten sie, dass die Lohnzahlungen im Falle des Konkurses des Arbeitgebers vorrangig befriedigt werden sollten. Die Präsenz der Meister und Gesellen in Frankfurt, begleitet und unterstützt von einer Flut von Petitionen nicht zuletzt auch aus Westfalen,168 veranlasste den Volkswirtschaftlichen Ausschuss der Nationalversammlung, am 20. Februar 1849 den Entwurf einer Reichsgewerbeordnung vorzulegen, der jedoch keinerlei arbeitsrechtliche Vorschriften enthielt.169 Nur der Minderheitenentwurf einer Gewerbeordnung170 sah eine gründlichere Regelung des Arbeitsvertrages, wenngleich lediglich des industriellen, vor. Gesetzeskraft erlangten diese Entwürfe nicht mehr. Immerhin wurden vom Paulskirchen-Parlament aber die berühmten Grundrechte verabschiedet, die in Art. VIII jedem Deutschen auch förmlich das Recht der Vereinigungsfreiheit zusicherten, welches lediglich durch die Maßgabe, dass Volksver165 Abdruck ihrer Denkschrift bei Biermann (1909), S. 457. 166 „Frei und ungehindert soll er reisen, keiner anderen Legitimation als der der reisenden Staatsbürger überhaupt bedürftig, soll er, überall vor der Brutalität und Willkür visirender Beamten geschützt und unnöthiger Kosten überhoben sein;“ in: Vorschläge des Frankfurter GesellenKongresses zur Stellung der gewerblichen Arbeiter, nach den Mittheilungen der Gesellen Koch und Jordan, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen, Bd. 1 (1980), S. 225. 167 S. Anm. 166. 168 Gesammelt in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141. 169 Verhandlungen der Reichsversammlung Bd. II, S. 891 f. Ein Minoritätsgutachten zu dem Entwurf verlangte immerhin ein Verbot der Kinderarbeit und die Errichtung paritätisch besetzter Gewerbegerichte, a. a. O., S. 900 ff. 170 S. Anm. 169, S. 921 ff.
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V. Das Arbeitsrecht
sammlungen unter freiem Himmel bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verboten werden konnten, eingeschränkt wurde.171 Da die Nationalversammlung zugleich auch das Freizügigkeitsrecht garantierte,172 schuf sie wesentliche Voraussetzungen zur organisierten und damit effizienten Interessenvertretung der Arbeitnehmer und zur Entfaltung eines freien Arbeitsmarktes. Dieser Fortschritt der Gesetzgebung, die Befreiung auch der Gesellen aus jahrhundertealten Bindungen, erzeugte natürlich ein positives Sentiment, welches dazu beitrug, den revolutionären Impetus im Kleingewerbe schnell ersterben zu lassen. Weitergehende Bedeutung war der Reichsgesetzgebung hingegen nicht beschieden. Zwar galten die Grundrechte ohne weiteres auch für die Länder, doch konnte die Reichsgewalt sie in der kurzen Frist ihrer Wirksamkeit nicht durchsetzen.173 Wirklicher Sukkurs wuchs den Handwerkern von der kurzlebigen Reichsgewalt deshalb nicht zu. Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse hatte auch die preußische Regierung schon im April 1848 das Vereinigungsrecht garantiert.174 Das zarte Pflänzchen grundrechtlich geschützter Freiheiten wurde allerdings bald von der schnell erstarkenden Reaktion wieder zertreten. Eine schon am 11. März 1850175 erlassene Verordnung stellte Vereinigungen mit politischer Zielsetzung unter polizeiliche Aufsicht und verbot ihnen jedweden Konnex mit anderen Vereinen. Der Begriff der politischen Intention wurde in der Folge von den Gerichten außerordentlich weit ausgelegt. Vereine, die auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinwirkten und zu diesem Zwecke Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung zu gewinnen suchten, unterfielen ihm und gerieten damit unter dauernde polizeiliche Kontrolle. 4. Die Verordnung vom 9. Februar 1849 Eine Rückwendung anderer Art brachte die Verordnung über die Errichtung von Gewerberäten vom 9. Februar 1849.176 Mit der Einführung des Befähigungsnachweises für 52 der wichtigsten Handwerkszweige, verbunden mit dem strafbewehrten Verbot der Ausübung eines anderen als des erlernten Gewerbes, knüpfte der preußische Gesetzgeber unter dem Druck der Handwerkerbewegung noch enger an das Ordnungsmodell der Zünfte an. Dem entsprach die Einschränkung der Vertragsfreiheit bei der Beschäftigung der Hilfskräfte. Die Meister waren seither verpflichtet, nur noch Gesellen ihres Gewerbes einzustellen. Dies bedeutete, dass die Gehilfen allein in ihrem erlernten Beruf arbeiten konnten, wenn sie es nicht vorzogen, in einer Fabrik Beschäftigung zu suchen. Mit dieser Regelung wurden die aus 171 S. dazu schon Otto v. Gierke, Das Genossenschaftsrecht Bd. 1 (1868), S. 888 f. 172 Gesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes v. 17.12.1848, Art. 3 und 30, in: (Frankfurter) Reichsgesetzblatt v. 28.12.1848, S. 49 ff. 173 S. dazu Huber (1968), S. 783. 174 § 4 der Verordnung v. 6. April 1848, in: Preußische Gesetzessammlung 1848, S. 87 und Art. 27 der Verfassung v. 5. Dez. 1848, a. a. O., S. 375. 175 Preußische Gesetzessammlung 1850, S. 277. 176 Preußische Gesetzessammlung 1849, S. 93.
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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der Zunftzeit sattsam bekannten Auseinandersetzungen über die Arbeitsgrenzen der verschiedenen Gewerbe neu entfacht. Nicht zuletzt zur Entscheidung solcher Streitigkeiten schuf der Gesetzgeber das Modell des Gewerberates.177 Zweifel an der flächendeckenden Durchsetzung dieser Bestimmungen in Westfalen sind allerdings erlaubt. 1854 berichtete der Bürgermeister von Lienen im Krs. Warendorf, „die wenigen Handwerksgesellen und Lehrlinge stehen hier auf dem platten Lande in demselben Verhältniß wie die gewöhnlichen Dienstboten, indem die Gesellen ebenso wie diese auf 1/2 Jahr gemiethet … werden“.178 In dem hier erörterten Zusammenhang ist allerdings eine andere, den damals geschaffenen Gewerberäten zugedachte Aufgabe von größerem Interesse: Die neuen Gremien sollten nach Anhörung aller Beteiligten die tägliche Arbeitszeit der einzelnen Gewerbezweige festsetzen. Diese Regelung verdient ihrer zukunftweisenden Bedeutung halber besonders hervorgehoben zu werden. War sie es doch, die erstmals in Preußen die Möglichkeit eröffnete, einen Maximalarbeitstag rechtsverbindlich festzulegen. Wegen der Bedeutungslosigkeit der Gewerberäte in Westfalen blieb deren Einfluss auf die Arbeitsvertragsordnung in der Provinz und damit auf die Beschränkung des Arbeitstages faktisch aber äußerst gering. Doch noch eine weitere Vorschrift verdient Erwähnung, die ebenfalls der Reduzierung überlanger Arbeitszeiten dienlich sein konnte: 1837 waren die preußischen Regierungen ermächtigt worden, die Arbeit an den Sonntagen zu verbieten,179 und 1849 bestimmte der Gesetzgeber, dass niemand zur Arbeit an Sonn- und Feiertagen verpflichtet sei.180 Dass letztere Regelung allerdings eher der Besänftigung der revolutionär gesonnenen Gesellen als wirklichen sozialen Überzeugungen des Gesetzgebers entsprang, zeigt die der Norm applizierte, entwertende Einschränkung, wonach anderweitige Vereinbarungen in dringenden Fällen weiterhin zulässig sein sollten.181 Immerhin entbrannte mit dem Erlass dieser Vorschrift aber eine öffentliche Diskussion um die Sonntagsruhe. Der preußische Oberkirchenrat trat nachhaltig für eine strengere Achtung des Gebots der Sonntagsheiligung ein. 1850 wies er in einer den preußischen Regierungsbehörden überreichten Denkschrift auf die religiöse und soziale Bedeutung der Sonntagsruhe hin. Den Staat forderte er auf, in 177 S. dazu ausführlich Kap. „Die Gewerberäte“. 178 Schreiben des Bürgermeisters von Lienen v. 1.6.1854, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 416. 179 Kabinettsordre v. 7. Februar 1837, in: Preußische Gesetzes-Sammlung 1837, S. 19. S. dazu Krämer (1999), S. 156–175. 180 § 49 der Verordnung v. 9.2.1849. 181 S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 125. In die Zeit der Revolution fallen auch die Anfänge des Tarifwesens. Als die Gesellen erstmals ihrer politischen Macht inne wurden und sie dadurch auch ihre Fähigkeit zur kollektiven Interessenwahrnehmung wiederentdeckten, gelang es ihnen jedenfalls ansatzweise, erfolgreich tarifliche Abreden zu treffen. Als die Breslauer Buchdrucker die Vereinbarung eines Lohntarifs erreicht hatten, versuchte die sog. „Nationalbuchdruckerversammlung“ in Mainz im Juni 1848, einen allgemeinen deutschen Tarif mit Regelung des Mindestlohnes, der Arbeitszeit und der Kündigungsmodalitäten durchzusetzen – ein Unterfangen, welches aber an der Weigerung der Arbeitgeber, eine kollektive Regelung der Arbeitsverhältnisse zuzulassen, scheiterte. Die erstarkende Reaktion machte dann zunächst alle weiteren Bemühungen um die Einführung eines Tarifsystems zunichte; s. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 19.
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V. Das Arbeitsrecht
seinen Büros und Betrieben ein Beispiel zu geben und auf die Einhaltung des arbeitsfreien Sonntags zu dringen. Auch der preußische Handels- und Gewerbeminister tat sich als Befürworter des Ruhetages hervor. Durch Reskript v. 27. Mai 1851 wies er die Regierungen auf die früheren Sonntagsverordnungen hin, verlangte ihre nochmalige Publizierung und suchte die Gewerbetreibenden durch die Innungen, Gewerberäte und Kommunalbehörden zu veranlassen, selbst die Sonntagsarbeit einzustellen.182 In der Tat entfaltete sich überall eine umfangreiche Propagandatätigkeit für die Sonntagsruhe, die auch in Westfalen nicht ohne Wirkung blieb. So beschlossen in Münster fast sämtliche Bäcker, an Sonntagen nicht mehr zu arbeiten.183 Dieser bemerkenswerte Erfolg der Kampagne im frommen Münsterland hatte seine Ursache in der Verbindung, welche die religiös motivierte Forderung mit politischen und sozialen Intentionen eingegangen war. 5. Das Koalitionsverbot Im ostelbischen Rumpfpreußen wurden mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1810/11 auch die hergebrachten Koalitionsverbote für Handwerksgesellen aufgehoben.184 Anders dagegen in Westfalen: Dort, wo, wie in den napoleonischen „Modellstaaten“ Berg und Westphalen, das französische Recht eingeführt wurde, galten seither die Koalitionsverbote aus der Zeit der großen Revolution, welche im Code pénal formuliert worden waren. Diesen Bestimmungen lag ein Gedanke zu Grunde, welchem jedenfalls eine gewisse Rationalität nicht abzusprechen war: Die Beseitigung auch der letzten ständischen Sonderrechte sollte die Gewähr dafür bieten, dass neue Korporationen, welche wiederum darauf ausgingen, sich Privilegien zu verschaffen, künftig nicht mehr entstehen konnten. Seit die französischen Bestimmungen nach Wiedererrichtung der preußischen Herrschaft in Westfalen außer Kraft gesetzt worden waren, galt auch in der neuen Provinz die völlige Koalitionsfreiheit. Eine Kehrtwendung brachte dann aber die im Jahre 1845 in Kraft getretene Gewerbeordnung, welche in ihrem § 183 den Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern untersagte, gemeinschaftlich die Arbeit aufzukündigen, also zu streiken.185 Zwar wurde den Arbeitgebern in Handwerk und Industrie gleichzeitig verboten, die Arbeiter gemeinsam nach Absprache zu entlassen, also auszusperren, um die Löhne herabsetzen zu können; doch war diese Bestimmung rein deklaratorischer Natur, da sich derartige Abreden naturgemäß kaum nachweisen ließen – ein Umstand, der dem Gesetzgeber nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Anlass für die Einführung des strikten Koalitionsverbotes im Jahre 1845 hatten weder die Arbeitsrechtsbeziehungen in Preußen im Allgemeinen 182 Braun (1922), S. 310. 183 Braun (1922), S. 359; zur Einflussnahme der katholischen Kirche auf die Gesetzgebung zur Sonn- und Feiertagsarbeit am Beispiel der Rheinprovinz s. umfassend Krämer (1999). 184 Vgl. Born (1959), S. 32. 185 Seit 1854 wurden auch die Landarbeiter und das ländliche Gesinde durch die Gesindeordnung dem Koalitionsverbot unterworfen, und 1860 dehnte das preußische Berggesetz dieses auch auf die Bergarbeiter aus.
C. Die Weiterentwicklung des handwerklichen Arbeitsrechts
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noch diejenigen in Westfalen im Besonderen geboten. Es waren vielmehr die damaligen Lohnkämpfe in England und Frankreich, welche es dem preußischen Gesetzgeber geraten erscheinen ließen, zu diesem rigorosen Mittel zu greifen, das von den Zeitgenossen zunächst jedoch noch keineswegs als illiberal erachtet wurde. Bevor das Koalitionsverbot in die Gewerbeordnung aufgenommen wurde, hatten, mit Ausnahme der ostpreußischen, alle preußischen Provinzialstände, also auch diejenigen in Münster, ihr Einverständnis mit dieser harschen Neuregelung erklärt.186 Zunächst brachte es die politische Entwicklung aber mit sich, dass die Einschränkung der Freiheitsrechte der Gesellen kaum bemerkt wurde. Denn das Revolutionsjahr 1848 eröffnete auch ihnen bis dahin unbekannte Möglichkeiten kollektiver Interessenwahrnehmung, wie schon der Gesellenkongress, den die Hilfskräfte damals in Frankfurt organisierten, zeigt. Doch waren diese Initiativen nicht von Dauer. Die schnell erstarkende Reaktion in Preußen entzog politischen Aktionen bald den Boden. Die Handwerkerbewegung spaltete sich, und zahlreiche Gesellen schlossen sich mit der „Arbeiterverbrüderung“ Stephan Borns zusammen, die von Berlin ihren Ausgang nahm, in Westfalen allerdings nur im sich damals schnell entwickelnden Ruhrrevier Anhänger gefunden haben dürfte.187 Aus der uralten Wurzel des Korporationsgedankens wuchs zugleich der Wunsch nach Errichtung von spezifischen Gesellenvereinigungen, die mehr als bloße Krankenladen sein sollten, aber bald wieder neu. Der „unverkennbar vortheilhafte Einfluss auf die Sittlichkeit und Bildung der Gesellen“,188 den solche Verbindungen nach dem Dafürhalten der Zeitgenossen ausübten, wurde jetzt wieder gerühmt und der Hinweis auf die Vereinigungsfreiheit, die derlei Zusammenschlüsse der Gesellen nicht hindere, keineswegs vergessen. Die Renaissance des Korporationsgedankens konnte natürlich nicht ohne Einfluss auf den Willen der Hilfskräfte zur interessenorientierten Koalition bleiben.189 Mehr als ein Signal, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands zu berücksichtigen seien, setzten sie damit aber nicht. Denn ihre Initiativen waren nicht von Dauer; die Gesellen waren während der fünfziger und sechziger Jahre politisch zumeist indifferent. Im Jahre 1854 kam es zu einem Bundestagsbeschluss,190 wonach Arbeitervereine und Verbindungen, welche sozialistische, kommunistische oder einfach auch 186 S. Born (1959), S. 33. 187 Vgl. Born (1959), S. 29. Stephan Born (1824–1898) trat 1847 dem „Bund der Kommunisten“ bei und gründete 1848 in Berlin die erste deutsche politische Arbeiterorganisation. 188 S. Riedel (1861), S. 178. 189 Ein knapper Überblick über die Geschichte des Koalitionsrechts findet sich bei Steuer (1928), S. 58 ff. 190 S. Bergius (1857), S. 106. Durch Beschluss v. 13. Juni 1854 verpflichtete der Bundestag die Landesregierungen, alle Arbeitervereine, die „politische, sozialistische oder kommunistische“ Zwecke verfolgten, aufzulösen und eine Wiederbegründung solcher Vereinigungen zu untersagen. Ein preußisches Gesetz vom 24. April 1854 bestimmte zudem, dass Angehörige des Gesindes und landwirtschaftliche Tagelöhner, die ihre Arbeitgeber mit Streiks bedrohten, zu Gefängnis bis zu einem Jahr verurteilt werden konnten. Durch Gesetz v. 21. Mai 1860 wurde auch den preußischen Berg- und Hüttenarbeitern die Gründung von Berufsvereinigungen untersagt; s. Syrup/Neuloh (1957), S. 184, 185.
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V. Das Arbeitsrecht
nur politische Ziele verfolgten, binnen einer Frist von zwei Monaten aufzuheben und zu verbieten waren. Wenngleich Preußen dieser Proposition nicht Gesetzeskraft verlieh,191 verhinderte die strenge polizeiliche Aufsicht über das gewerbliche Leben doch bereits jeden Ansatz organisierter Interessenvertretung der Arbeitnehmer in Handwerk und Industrie.192 Die gewöhnliche Unterdrückung der ArbeiterVereinigungen fand ihre Rechtfertigung in der fortgeltenden Gewerbeordnung des Jahres 1845. Obzwar das Koalitionsverbot in deren § 183193 durch Art. 30 der Verfassung und die sog. „Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ vom 11.3.1850194 obsolet geworden war, galt § 182195 der Gewerbeordnung doch noch immer. Wegen der für die Arbeitgeber in diesem Bereich so offenkundig bestehenden größeren Bewegungsmöglichkeiten standen integere Vertreter der veröffentlichten Meinung jener Zeit nicht an, Toleranz gegenüber den eigennützigen Verabredungen der Gesellen und Arbeiter zu fordern.196 Den führenden Liberalen erschien damals gerade die Koalitionsfreiheit als ein Unterpfand des handwerkenden Mittelstandes in dessen epochaler Auseinandersetzung mit der großen Industrie197. Gehörte dieses Grundrecht dann nicht auch den Gesellen? Die Verbote, im Verein mit den Strafvorschriften für den Arbeitsvertragsbruch betrachtet, offenbaren eine offensichtliche Ungleichbehandlung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Kleingewerbe. Denn die Meister hinderte jedenfalls faktisch niemand daran, ihrerseits Vereinbarungen zum Nachteil der Gesellen zu treffen, den Arbeitslohn nach eigenem Ermessen festzusetzen oder Hilfskräfte zu entlassen. Während auf der einen Seite die größte Freiheit herrschte, waltete auf der anderen, und zwar auf der durchaus schwächeren, jedenfalls den Buchstaben des Gesetzes nach Beschränkung und Zwang. Dem offenkundigen Bestreben der Konservativen, die Interessen der Meister nachhaltig zu fördern, korrespondierte eine der Gerechtigkeit widerstreitende Unfreiheit der Gesellen – wobei allerdings Rechtslage und tatsächliche Situation auseinanderfielen. Es waren zunächst insbesondere die Teilnehmer der Kongresse deutscher Volkswirte, die auf die Nachteile der Beschrän-
191 S. dazu schon Gierke (1868), S. 888 f. 192 Ritscher (1917), S. 196. 193 „Die Bildung von Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen ohne polizeiliche Erlaubnis ist, sofern nach den Kriminalgesetzen keine härtere Strafe eintritt, an den Stiftern und Vorstehern mit Geldbuße bis zu 50 Thalern oder Gefängnis bis 4 Wochen, an den übrigen Theilnehmern mit Geldbusse bis zu 20 Thalern oder Gefängnis bis zu 14 Tagen zu ahnden.“ 194 Preußische Gesetzes-Sammlung 1850, S. 277 ff. 195 „Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter, welche entweder die Gewerbetreibenden selbst, oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, dass sie die Einstellung der Arbeit oder die Verhinderung derselben bei einzelnen oder mehreren Gewerbetreibenden verabreden, oder zu einer solchen Verabredung Andere auffordern, sollen mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft werden …“ 196 So z. B. Bergius (1857), S. 106. 197 Zur Koalitionsfreiheit s. Isele, Art. Koalitionsfreiheit (1978), Sp. 906, 907.
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kung der Koalitionsfreiheit hinwiesen.198 Sie erkannten, dass es sich bei der Frage der Arbeiterkoalition um das Kernproblem der Sozialpolitik schlechthin handelte. Aber auch die liberale Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses war der schockanten Ungleichheit und Unfreiheit überdrüssig.199 Das Eintreten der Liberalen für die Koalitionsfreiheit war ein Ausfluss der Freihandelslehre,200 welche staatliche Eingriffe generell ablehnte. Die Hochblüte des Liberalismus in den sechziger Jahren sensibilisierte die politische Klasse Preußens für das Unrecht, welches sich in dem Koalitionsverbot der Gewerbeordnung manifestierte. Es wäre allerdings falsch, sich die Arbeitsrechtsbeziehungen jener Jahre in Westfalen als durch die einseitige Parteinahme des Staates zugunsten der Unternehmer dominiert und deshalb per se sonderlich spannungsgeladen vorzustellen. Bevor der Sozialismus größere Wirksamkeit zu entfalten begonnen hatte, war auch der Sozialneid geringer entwickelt und die Arbeitsverhältnisse deshalb keineswegs durch ständige Auseinandersetzungen geprägt. Liberale Überzeugungen, die in den sechziger Jahren auch das Denken der Arbeitnehmer bestimmten, appellierten vor allem an die Eigenverantwortlichkeit des Menschen. Dass sich die Parteien des Arbeitsvertrags in Westfalen in jenen Jahren noch keineswegs in geschlossenen Blöcken und schroffer Gegensätzlichkeit gegenüberstanden, wird auch durch die Analyse der Verhandlungen über die Reform des Koalitionsrechts beim Handels- und Gewerbeminister bestätigt. Zur Beratung dieses Gegenstandes bildete Graf Itzenplitz, der Minister für Handel und Gewerbe, 1865 eine Kommission, an der Vertreter von Handwerk und Industrie aller preußischen Provinzen teilnahmen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber waren paritätisch vertreten. Aus dem Regierungsbezirk Minden wurden u. a. der „durch Intelligenz und Bildung hervorragende“ Maler Mohrien und ein Altgeselle der Schneider-Innung in Minden namens Riechmann, „ein junger Mensch von untadelhafter Führung“,201 entsandt; aus dem Arnsberger Bezirk reisten der Maurermeister Liehenhoff aus Östrich, Krs. Iserlohn und der Malergeselle König aus Iserlohn nach Berlin. Dort wurde nicht nur die Aufhebung der einschlägigen Verbotsbestimmungen erörtert, sondern auch so unterschiedliche Fragen wie die Strafbarkeit von Streiks, der Umgang mit Streikbrechern, die Bildung von Schiedsgerichten zur Entscheidung von arbeitsrechtli198 S. dazu Steuer (1928), S. 61. Zur Geschichte des Koalitionsrechts in Deutschland s. Kollmann (1916); Born (1959); Teuteberg (1961); die Arbeiterschaft selbst war während der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre noch weitgehend politisch unbedarft. 199 Die Diskussion um die Aufhebung der Koalitionsbeschränkungen wurde durch eine Audienz schlesischer Weber bei König Wilhelm I. befördert. Es ist hier nicht der Ort, die Gesetzgebungsdebatte en detail zu schildern; s. dazu Syrup/Neuloh (1957), S. 185, 186. Konkreter Anlass für die Reformbestrebungen im Landtag dürfte nicht zuletzt auch die Einführung der Koalitionsfreiheit in Frankreich im Jahre 1864 gewesen sein. 200 S. hierzu die Berichte über die Verhandlungen des 8. Kongresses deutscher Volkswirte zu Nürnberg im Jahre 1865. 201 Zu letzterem bemerkte der Mindener Regierungspräsident, es könne nicht garantiert werden, dass der Geselle „der schwierigen Aufgabe gewachsen und im Stande sein werde, an den bevorstehenden Verhandlungen über eine Frage von so hoher Bedeutung mit Nutzen teil zu nehmen“; Schreiben der Regierung Minden an den Oberpräsidenten v. Düesberg v. 3.7.1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787.
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chen Streitigkeiten oder die Beibehaltung der Prüfungspflicht im Handwerk zur Diskussion gestellt. Dabei zeigte sich, dass es trotz der Brisanz der Themen zu keiner erkennbaren Polarisierung der Auffassungen zwischen den Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus Westfalen kam. Es wurden zu den einzelnen Fragen sowohl von den Unternehmern als auch von den Gesellen, Arbeitern und Werkmeistern ganz unterschiedliche Meinungen geäußert, und keineswegs war es nur der Eigennutz, der die Auffassungen der Deputierten bestimmte. So sprach sich z. B. der Lüdenscheider Fabrikant Turck durchaus im Interesse der Arbeiter für die Beibehaltung einer gesetzlichen Kündigungsfrist aus: „Der Arbeiter kann, wenn er Arbeit sucht, nicht frei kontrahieren, er muss sich in der Regel das vorschreiben lassen, was ihm der Arbeitgeber als Bedingung auferlegt … Hat ein Handwerker bei einer großen Submission eine Menge Leute herangezogen, und er ist gesetzlich befugt, sie plötzlich zu entlassen, so ist das ein Druck für die Arbeiter. Ich beantrage daher die Einführung einer gesetzlichen Kündigungsfrist“.202 Turck war allerdings auch der Ansicht, die Koalitionsfreiheit schade den Interessen der Arbeitnehmer. Die führenden Sozialpolitiker der Zeit vertraten in dieser Frage natürlich andere Auffassungen. Uni sono lehnten sie eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer durch Gesetz oder Verwaltungsmaßnahmen ab. Rudolf Gneist blieb es vorbehalten, diese Ansicht expressiv zu formulieren: „Der Interessenkampf der unorganisierten Arbeiter gleicht dem der Franktireurs, die aus jedem Hinterhalt dem Gegner in den Rücken fallen: es wird ein Kampf aufs Messer, weil mit ihnen nicht zu paktieren ist. Erst wenn man mit ihnen einen nachhaltigen Frieden schließen kann und die Garantie vorliegt, dass alle dazu Gehörigen sich dem Pakte anschließen und sich ihm nachhaltig unterwerfen, wird es ein Friedensschluss zwischen geregelten zivilisierten Heeren.“203 Die Aufhebung des Koalitionsverbots tat auch deshalb not, weil es noch weitere Behinderungen gab, welche die Interessenvertretung der Handwerksgesellen beeinträchtigten. So wirkte das allgemeine Vereins- und Versammlungsrecht retardierend. Nach dem Vereinsgesetz Preußens vom 11. März 1850204 waren Versammlungen, in denen öffentliche Angelegenheiten beraten werden sollten, bei der Ortspolizeibehörde anzumelden. Dieser stand das Recht zu, die Zusammenkunft aufzulösen, wenn Anträge oder Vorschläge erörtert wurden, die als Aufforderung zu strafbaren Handlungen verstanden werden konnten. Eine weitere Hemmung berufspolitischer Betätigung bestand in dem für Vereine, die politische Gegenstände in Versammlungen erörtern wollten, verhängten Verbot, Frauen, Schüler oder Lehrlinge als Mitglieder aufzunehmen oder an ihren Versammlungen teilnehmen zu lassen. 202 Protokolle der Verhandlungen der zur Berathung der Koalitionsfrage berufenen Kommission, Berlin 1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787; andererseits sprach sich eben jener Unternehmer gegen die Einführung der Koalitionsfreiheit aus, da diese das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern „feindselig“ gestalte. Es sei nicht möglich, dass die Arbeitermassen bei so wichtigen Fragen die notwendige Mäßigung behielten. Fehle es aber an dieser, so werde der Arbeitgeber gezwungen, die Interessen der Arbeiter zu schädigen. Zu den Auseinandersetzungen um das Koalitionsrecht s. Trautmann (1976). 203 Zitiert nach Kesten-Conrad (1906), S. 99 ff. 204 Preußische Gesetzes-Sammlung 1850, S. 277 ff.
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Die Häupter der deutschen Freihandelsschule, von Prince-Smith, Schulze-Delitzsch, Lette und Michaelis, begründeten als Abgeordnete der linksliberalen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus die Anträge, mit denen die Liberalen 1862, 1863 und 1865 die Koalitionsfreiheit forderten. 1865 nahm die Versammlung einen Antrag des Abgeordneten Schulze-Delitzsch auf Beseitigung der Koalitionsbeschränkungen an.205 Auch das in Westfalen dominierende Zentrum hatte sich hierfür ausgesprochen. Während das Abgeordnetenhaus den Entwurf mit dem Hinweis auf die allen Menschen zustehende Freiheit unterstützte, hielt das Herrenhaus Koalitionen für zerstörerisch und lehnte die Vorlage ab.206 Die Bedeutung der erstrebten Liberalisierung konnte allerdings in der Rechtspraxis nur eher gering sein. Denn eigentliche Wirksamkeit hatte das Koalitionsverbot in Preußen nie gezeitigt. Eine Untersuchung des Handelsministeriums im Jahre 1865 ergab, dass die gegen Streiks gerichteten Bestimmungen in 20 Jahren lediglich in 26 Fällen angewandt worden waren. Hierbei handelte es sich stets um Ausstände, bei denen es zu Tumulten und Ausschreitungen gekommen war; gleichwohl verhängten die Gerichte zumeist das Strafminimum, nämlich 1 bis 3 Tage Haft.207 Die Verwaltungsbehörden sollen bei Streiks als Vermittler zwischen den Parteien aufgetreten sein,208 was gegen das Gesetz verstieß. Es ist die Vermutung geäußert worden, die Durchsetzung des Koalitionsverbots sei von der preußischen Beamtenschaft vereitelt worden.209 Ihre Bestätigung findet diese Auffassung in dem Faktum, dass sich 1865 alle preußischen Oberpräsidenten für die Koalitionsfreiheit aussprachen. Sofern sie ihr Votum begründeten, wiesen sie darauf hin, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitnehmer, welche grundsätzlich erlaubt sei, nicht dadurch strafwürdig werden könne, dass sie von mehreren gemeinsam ausgesprochen werde – eine Argumentation, die in der Tat der Schlüssigkeit nicht entbehrte. In Westfalen spielte die Diskussion um das Koalitionsrecht nur eine untergeordnete Rolle. Der Mindener Regierungspräsident wies ausdrücklich darauf hin, dass diese Frage in seinem Bezirk bis dahin „nicht praktisch geworden“ sei.210 Die Bemerkung erhellt, dass der Gedanke organisierter Interessenwahrnehmung der gewerblichen Arbeitnehmerschaft jedenfalls in den ländlichen Regionen der Provinz damals noch nicht wirklich entwickelt war. Dort konnte man eben nicht, wie in manchen größeren Städten, an die Traditionsreste der zünftigen Gesellenverbände anknüpfen. Möglicherweise hat auch die repressive Politik der Restaurationsjahre die Abstinenz der Hilfskräfte bei der Wahrnehmung kollektiver Interessen gefördert. 205 S. dazu Steuer (1928), S. 61 m. w. Nachw. 206 Vietinghoff-Scheel (1972), S. 118. Auf Seiten der Konservativen trat vor allem Hermann Wagener für die Koalitionsfreiheit ein, während innerhalb der Regierung Bismarck der Wortführer für die Aufhebung des Koalitionsverbots war. 207 S. Born (1959), S. 33. 208 So Kollmann (1916), S. 124. 209 Vgl. Born (1959), S. 34. 210 Schreiben der Regierung Minden an den Oberpräsidenten v. Düesberg v. 3.7.1865, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787.
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Zur Anwendung der §§ 181, 182 der Gewerbeordnung, welche die Koalition der Gesellen und Arbeiter mit Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr bedroht hatten,211 kam es in Westfalen während der beiden Dezennien zwischen 1845 und 1865 bezeichnenderweise nicht in einem einzigen Fall. Der Oberpräsident in Münster, von Düesberg, stellte deshalb fest, dass das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in seiner Provinz „im Ganzen als ein zufriedenstellendes zu bezeichnen ist“.212 Der Nachfolger Vinckes zögerte nicht, die einschlägigen Verbots- und Strafbestimmungen als „über die Grenzen der inneren Berechtigung hinausgehend“ zu bezeichnen und sich für deren Aufhebung auszusprechen. Auch die in der Verordnung v. 9.2.1849 verhängte Beschränkung der Beschäftigung von Handwerksgesellen in Fabriken und das für Meister geltende Verbot, Gesellen aus anderen Handwerkssparten anzunehmen (§§ 47, 48), lehnte v. Düesberg als „nutzlose Erschwerung für den Fabrik- und Handwerksbetrieb“ rundheraus ab. Seine Überzeugungen entsprachen der damals herrschenden Auffassung von der Ordnung der Wirtschaft. 6. Der Kontraktbruch Noch ein anderes Beispiel aus dem Bereich des gewerblichen Arbeitsrechts verdient es näher betrachtet zu werden: Das rigide Verbot des Kontraktbruches, welches die Gewerbeordnung noch einmal ausgesprochen hatte, bestand fort und die Arbeitgeber zögerten nicht, ihr Recht auch durchzusetzen. In Bielefeld wurden Gesellen, die den „Blauen Montag“ begingen oder „bummelten“, auch in den sechziger Jahren noch von der Verwaltung nach § 84 der Gewerbeordnung zu einer Geldstrafe von 5 Rtl. oder drei Tage Gefängnis verurteilt.213 Wenn Gesellen ihren Arbeitsplatz verließen, wandten sich die dortigen Arbeitgeber mit der Bitte um Bestrafung und zwangsweise Rückführung an die Arbeitsstelle ebenfalls an die Stadtverwaltung.214 Selbst für das ganz und gar agrarisch strukturierte Amt Beckum im Münsterland lassen sich nicht nur zahlreiche Klagen, die Meister vor der Gemein211 „§ 181. Gewerbetreibende, welche ihre Gehülfen, Gesellen oder Arbeiter, oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, dass sie sich mit einander verabreden, die Ausübung des Gewerbes einzustellen, oder die ihren Anforderungen nicht nachgebenden Gehülfen, Gesellen oder Arbeiter zu entlassen oder zurückzuweisen, ingleichem diejenigen, welche zu einer solchen Verabredung Andere auffordern, sollen mit Gefängniß bis zu einem Jahr bestraft werden. § 182. Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter, welche entweder die Gewerbetreibenden selbst, oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen oder Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, dass sie die Einstellung der Arbeit oder die Verhinderung derselben bei einzelnen oder mehreren Gewerbetreibenden verabreden, oder zu einer solchen Verabredung Andere auffordern, sollen mit Gefängniß bis zu einem Jahr bestraft werden.“ 212 Schreiben des Oberpräsidenten v. Düesberg v. 17.11.1865 an den Minister für Handel und Gewerbe, v. Itzenplitz, in: STAM, Oberpräsidium Nr. 2787. 213 1860 saß der Böttchergeselle Bremer eine solche Strafe in Bielefeld ab, s. Protokoll v. 14.1.1860, in: Stadtarchiv Bielefeld Rep. I C Nr. 51. Zur Bestrafung des Kontraktbruches s. Kowalzig (1875). 214 Eine ganze Reihe solcher Fälle aus den Jahren 1860 und 1862 sind in Bielefeld dokumentiert,
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debehörde wegen des Entlaufens ihrer Lehrlinge anstrengten, nachweisen.215 Auch dort wurden Gesellen wegen vertragswidrigen Verlassens der Arbeit belangt. Die Dienstherren trugen unmittelbar auf zwangsweise Ergreifung der Entwichenen an. Zweifellos waren die Strafbestimmungen, die das Verbot des Arbeitsvertragsbruchs bewehrten, für die Gesellen demütigend. Aus diesem Umstand allzu weitreichende Schlüsse auf den Charakter des Arbeitsrechtsverhältnisses nach Erlass der Gewerbeordnung zu ziehen, wäre aber verfehlt. Denn die restaurative Gesetzgebung der Jahre 1845 und 1849 erhob die Gesellen aus dem durch die Gewerbefreiheit über sie verhängten Arbeiterstatus, um sie wiederum zum integrativen Teil der neuerlich belebten handwerklichen Korporationen umzuschaffen. Seither betrachtete man das Gesellenverhältnis nicht mehr als bloßen Austausch von Arbeit und Lohn, sondern betonte, wie zur Zeit des Alten Handwerks, den Bildungscharakter der Gesellenjahre: „Der Gesellenstand ist daher ein fortgesetztes, freies Lehrlingsverhältniß, welches wie das eigentliche nicht nur die technische, sondern auch die intellectuelle und sittliche Bildung umfasst. Da das Handwerk nur solche Verrichtungen umgreift, die methodisch erlernt werden müssen, um geübt werden zu können, so ist der Gesellenstand eine natürliche Vorbedingung des selbständigen Handwerks; mit dem Interesse der Allgemeinheit am guten Handwerk ist auch dasjenige an einer zweckentsprechenden Gesellenbildung und damit die Verpflichtung des Staates gegeben, durch bestimmte Einrichtungen das Gesellenbildungswesen zu leiten“,216 erklärte der Zeitgenosse Riedel 1861. Der Geselle war aus der relativen Freiheit des Arbeiterstandes wieder in die neu errichtete Ordnung des Kleingewerbes zurückgekehrt.217 Anders als zur Zeit des Alten Handwerks konnte er sich nun aber jederzeit erneut als Arbeiter verdingen, ohne den Gesellenstatus zu verlieren.218 Der spezifische Ehrbegriff des Handwerks war unter Meistern und Gesellen zwar durchaus noch virulent; ihn in seiner alten, dem Zeitalter der Hochindustrialisierung unangemessenen Rigidität wiederzubeleben, hatte der Gesetzgeber klugerweise vermieden. 7. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes Dennoch drängte die Vielzahl der freiheitlichem Denken widersprechenden Behinderungen, welche die Gewerbeordnung geschaffen hatte, unaufhaltsam zur Katharsis.219 Im Frühjahr 1866 brachte die Regierung die von ihr erarbeitete Vorlage zur
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s. Stadtarchiv Bielefeld Rep. I C Nr. 51; ein Fabrikarbeiter, der den „Blauen Montag“ gefeiert hatte, kam mit einer „ernstlichen Verwarnung“ davon, s. Schreiben v. 18.6.1860, a. a. O. Kreisarchiv Warendorf, Amt Beckum, A 499. So Riedel (1861), S. 135 zu den §§ 35 Abs. 3, 48, 27 der Verordnung v. 9.2.1849. Gewiss trifft Werner Ogris‘ Feststellung zu, das „alte klassische Handwerksrecht“ habe auf die Gestaltung des modernen Arbeitsrechts keinen entscheidenden Einfluss gehabt, s. Ogris (1967), S. 290. Doch blieb das Zunftmodell, wie die hier beschriebenen Entwicklungen zeigen, auch nach der Beseitigung nicht ohne nachhaltige Wirkungen. Wie Anm. 216. Natürlich fand diese Entwicklung auch publizistischen Niederschlag; vgl. Huber (1865); Löwenfeld, (1899), S. 471–602 ff.; vgl. auch Schippel (1898/99), S. 81 ff., 100 ff., 132 ff., 177 ff.;
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Aufhebung des Koalitionsverbots in das preußische Abgeordnetenhaus ein. Auf Grund der Landtagsauflösung und des bald darauf beginnenden Krieges mit Österreich fanden die Beratungen über diesen Gegenstand aber ein vorläufiges Ende. Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes befasste sich der Reichstag des eben errichteten Staatenbundes dann sogleich mit der Koalitionsfrage, die als Teil der auszuarbeitenden Gewerbeordnung des Bundes neu geregelt werden sollte. Die Liberalen unternahmen, von Bismarck unterstützt, im Jahre 1867 einen neuen Vorstoß zur Beseitigung des Koalitionsverbotes.220 Im Frühjahr 1869 wurde der Reichstag mit dem Entwurf der Gewerbeordnung, und damit auch mit den Koalitionsrechtsbestimmungen, befasst. Die Vorlage enthielt Strafbestimmungen gegen den sog. Koalitionszwang. Diese sahen vor, dass diejenigen, welche andere Personen mittels Gewalt, Drohungen, Ehrverletzungen oder Verrufserklärungen zur Teilnahme an Koalitionen oder an einem Streik zwingen wollten, mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft werden sollten. In dieser Form wurde der Grundsatz der Koalitionsfreiheit geltendes Recht: § 152 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes gewährleistete sie im ganzen Bundesgebiet.221 Vereinigungen und Verabredungen der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen waren allerdings nur mit der Einschränkung erlaubt, dass deren Mitglieder sich jederzeit wieder aus den eingegangenen Bindungen zurückziehen konnten.222 Mit dieser Einschränkung ist die Koalitionsfreiheit in die Reichsgewerbeordnung aufgenommen worden,223 welche das bedeutsame Grundrecht im gesamten Bundesgebiet einführte.224 Die Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, ihre Gehilfen und Gesellen sowie die Fabrikarbeiter wegen der Verabredung zur Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen wurden aufgehoben.225 Damit konnten die Arbeitnehmer auch ihr wesentlichstes Kampfmittel, den Streik, einsetzen. Da den Gesellen und Arbeitern aber die notwendigen und vom allgemeinen Vertrags- und Vereinsrecht gewährten Zwangsmittel versagt blieben, vermochten die Koalitionen ihre Ziele damals noch nicht mit der jedenfalls aus der
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Dierig (1910); Reindl (1922); Frh. v. Berlepsch (1903/04), Sp. 727; Wissell (1923), S. 734 ff.; Kollmann (1916). Zur Gesetzgebungsgeschichte der Reform des Koalitionsrechts ausführlich Vormbaum (1976), S. 248 ff. Danach wurden alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen oder Vereinigungen zum Zwecke der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere durch Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, aufgehoben. § 153 der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (1869), S. 114 ff. Zur Entstehungsgeschichte des Koalitionsrechts der Reichsgewerbeordnung ausführlich Kollmann (1916), S. 173 ff. und Ritscher (1917), S. 236 ff.; desgl. Beyendorff (1901); vgl. auch Waentig (1908); Born (1959). Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes v. 21. Juni 1869, in: Bundesgesetzblatt 1869, S. 245 ff. (281). Diese Liberalisierung war allerdings keine allgemeine; in Preußen blieb nämlich das Gesetz über die Arbeitseinstellung v. 24. April 1854 bestehen, wonach Landarbeiter, Dienstboten und Schifferknechte wegen Streiks, aber auch wegen der bloßen Aufforderung dazu mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft werden konnten; s. Preußische Gesetzes-Sammlung 1854, S. 214– 216.
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Sicht der sich solidarisierenden Gesellen und Arbeiter erforderlichen Severität durchzusetzen.226 Trotz dieser von den Konservativen verteidigten Einschränkungen wurde mit der Gewährung der Koalitionsfreiheit doch ein ganz neues Kapitel in den Arbeitsrechtsbeziehungen aufgeschlagen. Denn erst die epochemachende Liberalisierung ermöglichte den Zusammenschluss der Arbeitnehmer zu Gewerkschaften, die sich insbesondere im entstehenden Ruhrgebiet zu zentralen Säulen der Sozialordnung entwickeln sollten. Die Gewerbeordnung des Jahres 1869 befreite das Arbeitsrechtsverhältnis noch aus weiteren, damals aber längst als obsolet empfundenen Bindungen. Die Modalitäten des Arbeitsvertrages wurden – wie schon in der Gewerbeordnung von 1845 – ausdrücklich zum „Gegenstand freier Übereinkunft“ zwischen den Gewerbetreibenden und ihren Gesellen erklärt (§ 105).227 Den Kontraktbruch wollte der Nomothet nicht länger geahndet wissen.228 Die Beschränkungen für die Annahme von Gesellen und Gehilfen, welche die Verordnung v. 9. Februar 1849 getroffen hatte,229 wurden beseitigt. Dementsprechend gestattete der Gesetzgeber den Gesellen auch ausdrücklich, außerhalb ihres Handwerks zu arbeiten.230 Das Recht zur freien Wahl des Arbeitsplatzes bedeutete allerdings nicht, dass die Unterscheidung zwischen Gesellen, Gehilfen und Lehrlingen schlechterdings gegenstandslos geworden wäre.231 Das Gesetz von 1869 übernahm beispielsweise die Bestimmungen der preußischen Gewerbeordnung v. 17.1.1845 über den Beginn und die Beendigung des Gesellenverhältnisses (§§ 110–112)232 und auch die Vorschriften zum Schutze der Gesellen (§§ 106, 107),233 die noch um das Gebot der Sonntagsruhe (§ 105) und eine Regelung zur Schulpflicht in den Fortbildungsschulen234 (§ 106) erweitert wurden. Der Liberalismus wollte die Gesellen eben aus allen alten Bindungen befreien und ihnen die bis dahin verweigerte Wahrnehmung ihrer ureigensten Interessen ermöglichen.235 Die Rechtswissenschaft, deren Beihilfe zu diesem 226 S. Steuer (1928), S. 62. Gleichwohl ist für die Jahre 1867–1870 aber doch von einem „Streikboom“ gesprochen worden; s. Engelhardt (1981), S. 385–409 (386). 227 Zum freien Arbeitsvertrag vgl. Bitzer (1872). 228 Diese Regelung wurde bald als erheblicher Mangel des Gesetzes empfunden. Denn seither fehlte ein wirksamer Rechtsschutz gegen den Kontraktbruch der Gesellen und Arbeiter; Streiks mehrten sich ebenso wie das willkürliche Verlassen der Arbeitsstätte; s. Krahl (1937), S. 94. Die Problematik fand starken Widerhall in der zeitgenössischen Publizistik; vgl. Schmoller (1874), S. 447–527; Held (1875); Roscher (1874); Böninger (1891); Schmoller (1872), S. 293– 320. 229 Für Baumeister: § 25 der Verordnung v. 9. Februar 1849; für Handwerksmeister § 47, a. a. O., und für Fabrikinhaber §§ 31, 32, a. a. O. 230 Dies war bis dahin durch § 48 der Verordnung v. 9.2.1849 untersagt. 231 S. dazu Schreiben des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Graf v. Itzenplitz, v. 24. Juli 1868, in: STAM, Landratsamt Krs. Brilon Nr. 1358. 232 §§ 138 ff. der Gewerbeordnung v. 17.1.1845. 233 § 136 der Gewerbeordnung v. 1845. 234 Zur Gesetzgebung zu den Fortbildungsschulen und deren Entwicklung in Westfalen s. Deter (1988). 235 Die §§ 105–114 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes, in: Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869, die das Arbeitsverhältnis der Handwerksgesellen
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Unterfangen unerlässlich war, versagte damals jedoch vor der Aufgabe, das Arbeitsvertragsrecht in der notwendigen Weise neu zu durchdringen und zu entwickeln.236 Die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, welche mit kindlichem Vertrauen an die Selbstheilungskräfte des Marktes geglaubt und sans gêne auch die Arbeitsverhältnisse dem freien Wettbewerb überantwortet hatten, nährten schon bald aber auch wieder Zweifel am schrankenlosen Liberalismus. 1870 legte Gustav Schmoller seine bedeutende „Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert“ vor, mit der er vorsichtige Kritik an den bis dahin als Arkanum der modernen Wirtschaft und Gesellschaft betrachteten Prinzipien der Selbsthilfe und freien Konkurrenz übte,237 und wenig später begannen Adolph Wagner und Lujo Brentano die soziale Frage zu thematisieren.238 Der Verein für Socialpolitik, dessen prominenteste Mitglieder diese drei waren, widersetzte sich dem Prinzip des Laissez faire und propagierte im Interesse der Arbeitnehmer eine staatliche Sozialpolitik,239 der, in Ansätzen realisiert, schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Westfalen beeindruckende Erfolge nicht versagt blieben.240
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regelten, entsprachen beinahe wörtlich den §§ 134–145 der preußischen Gewerbeordnung v. 17.1.1845. Dementsprechend blieb auch die Anwendung direkten Zwanges zur Ausführung gewerblicher Arbeiten im Falle des Kontraktbruches untersagt; s. Schreiben des Handels- und des Innenministers an die Reg. Arnsberg v. 30. September 1869, in: GStA/PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 74, fol. 60. S. Vietinghoff-Scheel (1972), S. 136. „… Es verwandelte sich mir der Nihilismus des laissez faire et laissez passer in die Forderung prohibitiver Reformen, wobei die Reformen mir immer mehr als die Hauptsache erschienen, nicht die Frage, ob sie der Staat oder die Gesellschaft in die Hand zu nehmen habe“; s. Schmoller (1870), S. VII. Zu Gustav Schmoller, Adolph Wagner und Lujo Brentano pointiert Ringer (1987), S. 136 ff. Vgl. Lexis, Art. Kathedersozialismus (1910), S. 804 ff. Zur zeitgenössischen Diskussion des Arbeitsvertragsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Gewerbeordnung des Jahres 1869 s. Teuteberg (1977), S. 47 ff.
VI. DAS STÄDTISCHE UND STAATLICHE FINANZWESEN UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DAS KLEINGEWERBE A. DAS ZOLLWESEN Mit der staatlichen Neugliederung West- und Norddeutschlands durch die französische Fremdherrschaft begann der Aufbau eines den neuen Grenzen entsprechenden Zollwesens. Die Organisation steckte aber noch in den Anfängen, als das französische Herrschaftssystem auf westfälischem Boden zusammenbrach.1 Reformen von bleibender Effizienz konnten daher erst nach der Etablierung neuer Staatlichkeit in ganz Westfalen eingeleitet und zu Ende gebracht werden. Nachdem zunächst die alten preußischen Zölle mit Wirkung vom 1.10.1814 in Westfalen noch einmal wieder hergestellt worden waren, begann die völlige Neuordnung des preußischen Zoll- und Steuerwesens mit der Aufhebung der verschiedenen Landbinnenzölle und der Aus- und Durchfuhrzölle durch die Verordnung vom 11.6.1816.2 Das folgende Gesetz vom 26.5.1818 über den Zoll und die Verbrauchssteuern von ausländischen Waren und die Zoll- und Verbrauchssteuerverordnung vom 26.5.18183 bedeuteten die Abkehr vom Merkantilismus und den Übergang zu einer gemäßigten Handelsfreiheit.4 An die Stelle der Einfuhrverbote trat die grundsätzliche Freiheit der Ein- und Durchfuhr aller ausländischen und der Ausfuhr aller inländischen Gewerbeerzeugnisse. Der Zolltarif dieser Gesetze begünstigte den großen, getreideexportierenden Grundbesitz, während dem Schutz der Gewerbe vor der übermächtigen englischen Konkurrenz kein besonderer Stellenwert eingeräumt wurde.5 Allerdings wollte man die heimische Industrie und das eigene Handwerk doch nicht völlig schutzlos dem freien Markt überlassen. Gemäßigte Einfuhrzölle übernahmen die Abschirmung gegen die ausländische Konkurrenz. Im Innern gewährte das Gesetz völlige Freiheit des Verkehrs zwischen allen Landesteilen der Monarchie. Alle Binnenzölle auf ausländische Waren wurden aufgehoben. Damit war der entscheidende Schritt zur Ausbildung eines expansionsfähigen inneren Marktes getan. Das Zollgesetz von 1818 gewann über Preußen hinaus Bedeutung, indem es zur Grundlage des späteren Zollvereins wurde.6 Ein gemeinsames Zollvereinsgesetz 1 2 3 4 5 6
S. dazu Leesch (1998). Zur Reform des Zollwesens im rheinbündischen Deutschland s. Dufraisse (1981), S. 328–352 und Berding (1981), S. 91–107. Pr. Ges. Sammlung 1816, 193. Pr. Ges. Sammlung 1818, 102. Huber (1967), Bd. 1, S. 215. Gembruch (1960), S. 216. Über die Vereinbarungen mit den Westfalen benachbarten Staaten s. Leesch (1982), S. 435, 436.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
mit Zollordnung, das 1837 vereinbart worden war, trat durch das Gesetz vom 23.1.18387 an die Stelle des preußischen Zollgesetzes vom 26.5.1818. Als der Norddeutsche Bund die Zollvereinseinrichtungen übernahm, erließ er das Vereinszollgesetz vom 1.7.1869,8 das bis 1939 in Geltung geblieben ist. Diese Bestimmungen brachten bis dahin ganz unerhörte Neuerungen,9 die naturgemäß für das Großgewerbe weitaus bedeutender waren als für das Handwerk. Dennoch hatten sie, wenn auch zunächst nur in wenigen Bereichen, spürbare Auswirkungen auf das Kleingewerbe. Vor allem die Tischlerei bekam schon bald die Konkurrenz fremder Werkstätten, die ihre Produkte unter dem Sammelbegriff der „Berliner Möbel“ bis in die kleinsten Orte versandten, zu spüren. Als natürliche Reaktion auf das stärkere Angebot ausländischer Waren verlangten im Jahre 1848 auch die westfälischen Handwerker allenthalben die Einführung von Schutzzöllen auf ausländische Fertigwaren; gleichzeitig aber sollten alle Rohstoffe und Halbfertigwaren zollfrei eingeführt werden dürfen.10 Solche antagonistischen Forderungen offenbarten nur die ganze wirtschaftspolitische Unbedarftheit der Petenten, bewirkten indessen nichts. Erst der Zolltarif von 1879, der ohne wesentliche Beteiligung des Kleingewerbes zustande kam und eine Frucht der Interessenkonvergenz von Landwirtschaft und Industrie war, brachte die auch vom Handwerk ersehnte Wende zum Schutzzoll. B. DAS STEUERRECHT 1. Die Zeit der Fremdherrschaft Die generelle Einführung der Gewerbefreiheit setzte die gleiche Verteilung der Abgaben und ihre möglichst einfache Erhebung voraus. Deshalb bedingte die Reform der Gewerbeverfassung die Umwandlung des Finanzsystems.11 Wegen der Verflochtenheit der Rechtsmaterien zögerte die französische Herrschaft auch rechts des Rheins nicht, die Steuerorganisation sogleich auf eine andere Basis zu stellen, zumal die Einführung der einheitlichen, Stadt- und Landhandwerk gleichermaßen beschwerenden Gewerbesteuer in Westfalen nicht auf gänzlich neuem, revolutionärem Denken beruhte. 7 8 9 10
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Pr. Ges. Sammlung 1838, 33. Pr. Ges. Sammlung 1869, 317. Leesch (1982), S. 435; Kaufhold (1982), S. 91. Bericht des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Frankfurter National-Versammlung (1849), S. 887; Petition der Färbermeister der Stadt Soest v. 4.11.1848, Petition des Tabakspinners Heuken in Soest v. 29.10.1848, Petition des konstitutionellen Vereins Heepen v. 4.9.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 166, 203, 146 a; Der deutsche Handwerker-Congreß (Nachdruck 1980), S. 165 ff. (191, 192); Vorschläge des Frankfurter GesellenCongresses (Nachdruck 1980), S. 208 ff. (215). S. dazu Hoffmann (1803), S. 52; zum folgenden grundlegend: Leesch (1982), S. 415–493. Zum Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Régime vgl. Hartmann (1978). Zum Steuerwesen im Westfalen des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Grafschaft Mark s. Reininghaus (1994).
B. Das Steuerrecht
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Die selbständige Steuererhebung der Gemeinden beseitigte man überall. Fortan wurde der Finanzbedarf der Kommunen durch Zuschläge zu den Staatssteuern gedeckt.12 Einfachheit und Klarheit zeichnete das Steuersystem des Königreichs Westphalen, dessen Konstitution die Aufhebung aller Steuerprivilegien versprochen und die Einführung eines einheitlichen Steuersystems verordnet hatte, aus.13 Neben verschiedenen Konsumtionssteuern wurden von den großen französischen Steuern nur die Grund-, Personal- und Patentsteuer in modifizierter Form übernommen. Nachdem die Akzise bzw. die Gebäude- und Viehsteuer beseitigt worden waren,14 erhob man die Grundsteuer ab 1.1.1809 auch in den Städten. Durch Dekret vom 15.3.1810 wurde die seit 1808 eingetriebene Personalsteuer von einer gerechteren, kombinierten Klassen- und Einkommensteuer abgelöst.15 Wichtigste Abgabe für das Handwerk war fortan die Patentsteuer (Droits des Patentes),16 eine Gewerbesteuer, die in zwei Teilleistungen zerfiel, nämlich in 1. eine feste Steuer, deren Höhe nach der Art des Gewerbes und der Größe des Ortes – es gab eine Reihe von Gewerbe- und Ortsklassen, in die die Steuerpflichtigen eingeteilt waren – differierte, und 2. eine proportionale Abgabe, die je nach Art des Gewerbes einen bestimmten Prozentsatz des Mietzinses für die zum Gewerbebetrieb gehörenden Gebäude wie Wohnhaus, Werkstatt, Magazine usw. ausmachte. Die Gewerbesteuer war nicht kontingentiert, sondern wurde nach einem festen Steuerfuß bei der jährlichen Lösung des Gewerbepatentes erhoben. Ihre verschiedenen Steuerklassen wurden bei den Handwerkern nach der Anzahl der Beschäftigten des jeweiligen Betriebes unterschieden. Der selbständige Professionist musste für jeden von ihm betriebenen Erwerbszweig ein besonderes Patent lösen, während diejenigen, die für fremde Rechnung arbeiteten, befreit waren. In dieser Form ist die westphälische Patentsteuerordnung das Vorbild für die preußische Gewerbesteuer von 1810 geworden.
12 13
Dazu instruktiv: Engler (1905), S. 83. Das verwirrende Nebeneinander verschiedener Steuern und Zölle im Bereich des Kgr. Westphalen musste erst durch eine Reihe von Dekreten beseitigt werden; vgl. Kgl. Dekrete v. 17.6.1808, 9.9.1808, 25.11.1809, 20.1.1810, 12.1.1810, 20.2.1810, 4.8.1810, 8.9.1811, 13.12.1811; s. auch Hildebrand (1924), S. 11. 14 Einzelheiten zur Steuerpolitik des Kgr. Westphalen finden sich bei Richter (1907), S. 1–112 (15 ff.); s. dazu auch Ernst (1980), S. 29; Kleinschmidt (1893), S. 101. 15 Zur westphälischen Grund- und Personalsteuer, der Mahl- und Schlachtsteuer sowie den indirekten Steuern s. Hildebrand (1924), S. 68 ff. 16 Gesetz v. 5. August 1808, die Einführung der Patentsteuer betr., in: Gesetz-Bulletin des Königreichs Westphalen, 2. T., (1808), Nr. 50, S. 275 ff.; die Bestimmungen über die Erhebung der Patentsteuer wurden modifiziert durch das Gesetz v. 12.2.1810, welches die Modalitäten der Erhebung der Patentsteuer regelt, in: Gesetz-Bulletin des Kgr. Westphalen, Nr. 8, Jahrg. 1810, S. 123 ff.; zur Patentsteuer im Kgr. Westphalen s. die Rede des Staatsrats von Martens in der Sitzung der Versammlung der Reichsstände v. 5.8.1808, in: Westphälischer Moniteur v. 13.8.1808, S. 401–404; vgl. auch: Westphalen unter Hieronymus Napoleon, hrsg. v. G. Hassel und K. Murhard, 1. Jahrg., 1812, S. 37, 38 und S. 70–88; Hildebrand (1924), S. 73–79.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
Im Großherzogtum Berg, dessen Steuerverwaltung wenig übersichtlich organisiert war, wurden nach Aufhebung der preußischen Akzise17 seit 1810 die Grundsteuer, die Personal- und Mobiliarsteuer sowie die Patentsteuer nach französischem Vorbild erhoben.18 Die bergische Patentsteuer unterschied sich von der westphälischen durch die Anzahl der Gewerbeklassen und die Regelung, dass der Gewerbetreibende für alle von ihm ausgeübten Erwerbstätigkeiten nur ein einziges Patent lösen musste.19 Nordwestfalen, das seit dem Senatsconsult vom 13. Dezember 1810 zum Kaiserreich Frankreich gehörte, wurde gänzlich dem französischen Steuersystem eingegliedert.20 Neben die Grundsteuer, die Personal- und Mobiliarsteuer, die Türund Fenstersteuer sowie die Patentsteuer als direkte Steuern traten Stempelsteuern, Registrierungsgebühren sowie eine Reihe von Verbrauchssteuern.21 Im Vest Recklinghausen, das dem Herzog von Arenberg zugeschlagen worden war, wurde die Steuerverfassung schon 1806 grundlegend reformiert.22 Außer der Grundsteuer und einer Personalsteuer für bestimmte Berufe sowie einer Vieh- und Erbschaftssteuer23 erhob die neue Herrschaft auch eine Gewerbesteuer. Diese Abgabe hatten vor allem die Kaufleute, Fabrikanten, Mühlenbesitzer und Wirte zu leisten, während aus der Vielzahl der handwerklichen Berufe nur die Bäcker, Brauer und Metzger herangezogen wurden. Nach der Einverleibung des Vestes Recklinghausen in das Großherzogtum Berg im Jahre 1811 führte die Regierung zu Beginn des Jahres 1812 das bergisch-französische Steuersystem ein. Auch das hessisch gewordene Herzogtum Westfalen und die ebenfalls HessenDarmstadt zugewiesenen, mediatisierten Grafschaften Wittgenstein erlebten eine Steuerreform.24 Die dort eingeführten Bestimmungen suchten eine größtmögliche Steuergerechtigkeit mit der Erschließung weiterer Einnahmequellen zu verbinden. Wichtigste Steuergattung blieb die Grundsteuer, für die durch ein neues Kataster eine gerechtere Bemessungsgrundlage geschaffen wurde. Schon seit 1804 erhob man zusätzlich eine Vermögenssteuer, die auch Gewerbebetriebe samt Handwerksgerätschaften, die bewegliche Habe, Barschaften und Geldforderungen erfasste. Durch Verordnung vom 24. Juni 1808 ordnete der Landesherr zur Deckung der vermehrten Staatsausgaben unter Schonung des schon stark belasteten Grundvermögens die Erhebung einer Verbrauchs- und Gewerbesteuer an.25 Die Erlaubnis 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Verordnung v. 1.4.1810, in: Sammlung der Präfektur-Verhandlungen des Ems-Departements 1810, S. 243. Dekret über die Einführung einer allgemeinen Patentsteuer v. 31.3.1809, in: Gesetzes-Bulletin des Grhzgt. Berg, 1. Abt., Düsseldorf 1810, S. 342 ff. Über die Festsetzung und Erhebung der Patentsteuer handelt genauer Engler (1905), S. 82. Eine ausführliche und instruktive Darstellung der Steuererhebung in diesem Gebiet am Beispiel der Stadt Münster findet sich bei Engler (1905), S. 80–83. Münstermann, Almanach des Lippe-Departements für das Jahr 1813 (o. J.), S. 33; Hartmann (1912), S. 270. S. dazu Molitor (1926), S. 76 ff. Edikt über die Einführung einer Vieh- und Erbschaftssteuer vom 15. April 1809, in: Scotti (1831), 3. Abtl. Nr. 33, S. 73 ff. Schöne (1966), S. 53 ff.; bzgl. Wittgenstein: STAM, Oberpräsidium Nr. 6, 49, 53. Verordnung v. 24.6.1808, in Scotti (1831), Bd. 2, 2. T., Nr. 273, S. 360–363, auch in: Grhzgl.
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zum Gewerbebetrieb wurde nur gegen Zahlung des jährlich fälligen Steuerbetrages erteilt. Die Angehörigen der verschiedenen gewerblichen Berufe waren jeweils unterschiedlichen Steuerklassen zugeteilt. Bäcker und Metzger zahlten, eingestuft in zwei Klassen, jährlich zwei oder vier Gulden, während alle übrigen Handwerker in drei Klassen eingeordnet waren und einen halben, einen oder eineinhalb Gulden entrichteten. 1813 erließ der Großherzog eine gründlich ausgearbeitete Steuerverordnung, die das Steueraufkommen nochmals vergrößern und die verschiedenen Gewerbearten nach einem verbesserten Maßstab heranziehen sollte.26 Die Handarbeiter hatten mindestens acht, höchstens 24 Florin zu zahlen, die Handwerker – aufgeteilt in drei Klassen – 45, 40 bzw. 30 Florin in den sog. Provinzhauptstädten bzw. 40, 35 oder 20 Florin auf dem Lande und in den Landstädten zu entrichten. Für jeden Gesellen mussten fünf bzw. neun Florin zusätzlich gezahlt werden. Auch der Handel wurde durch die Gewerbesteuer erfasst, der Handwerkshandel blieb allerdings bis zu einem umlaufenden Kapital von 200 Florin steuerfrei. 1810 und 1811 war zusätzlich eine allgemein „Bürgersteuer“ (Einkommenssteuer) erhoben worden,27 und 1812 sah sich die Regierung gezwungen, eine Viehsteuer auszuschreiben. Das Nebeneinander dieser zahlreichen Abgaben war nur schwer durchschaubar und machte das Steuerrecht im Herzogtum Westfalen zum kompliziertesten innerhalb Westfalens. Mit diesen Regelungen hatte das alte, durch Ungleichheiten zwischen den Territorien und den verschiedenen Ständen gekennzeichnete und von zahlreichen Privilegien der Führungsschichten Adel und Kirche durchlöcherte Steuersystem in Westfalen sein Ende gefunden und war, jedenfalls in den meisten der neuen Länder, durch ein vereinfachtes, direkte Steuern bevorzugendes System ersetzt worden, das die Forderung eines französischen Dekrets vom Oktober 1789 zu verwirklichen suchte, „alle Steuern und öffentlichen Lasten, wie immer sie geartet sein mögen, auf alle Bürger und Eigentümer im Verhältnis zu ihren Gütern und ihrer Leistungsfähigkeit“28 zu verteilen. Steuergleichheit und Steuergerechtigkeit hatten in Westfalen unzweifelhaft zugenommen; diese Vorzüge der Reform wurden aber durch den exorbitanten Anstieg der Steuerlast sogleich wieder zunichte gemacht: –
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Die bergische Regierung scheute sich nicht, neben erhöhten Grund- und Viehsteuern die Gewerbesteuer eines Jahres gleich mehrfach jährlich einzutreiben.29 Für die Stadt Soest beispielsweise konnte festgestellt werden, dass die Hess. Verordnungen (1811), S. 99–103; zur Gewerbesteuer im Hzgt. Westfalen s. Stellungnahme des Oberpräsidenten von Vincke, in: Bericht Vinckes an den Staatskanzler Fürsten v. Hardenberg über den Zustand des Hzgt. Westfalen vom 9.5.1817, in: STAM, Oberpräsidium, VI Nr. 4; dazu auch Ullmann, (1903), S. 6, 7. Verordnung v. 8.6.1811, in: Sammlung der in der Grhzgl. Hess. Zeitung v. Jahr 1813 publizierten Verordnungen und höheren Verfügungen, Darmstadt 1814, S. 39–42: VO v. 2. Oktober 1813, in: Scotti (1831), Bd. 2, 2. T., Nr. 554, S. 803 ff.; s. dazu Ullmann (1903), S. 9, 10. Verordnung v. 8.6.1811, in: Sammlung der in der Grhzgl. Hess. Zeitung v. Jahr 1811 publizierten Verordnungen und höheren Verfügungen, Darmstadt 1812, S. 671 ff. S. Leesch (1981), S. 418, 419. Molitor (1926), S. 77; aus Hemer beispielsweise wurde 1811 berichtet, die Steuern führten den
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
Belastung der Bevölkerung während der Franzosenzeit auf das Dreifache des zuvor Geleisteten angestiegen war.30 Im Fürstentum Siegen klagten die Zeitgenossen über ähnlich drückende Überbürdung.31 Im Königreich Westphalen war das geringe Barkapital der Bewohner durch die Steuerverwaltung so weit abgeschöpft worden, dass das Land gegen Ende der Herrschaft Jerômes verarmt war.32 Das Städtchen Lippspringe etwa hatte unter der fürstbischöflichen Regierung im Jahre 1800 600 Taler Steuern gezahlt, unter preußischer 1803 870 Taler, 1809 waren es dagegen 2.153 Taler, 1813 gar 4.700 Taler.33 Aus dem zu Frankreich geschlagenen nördlichen Münsterland presste die Verwaltung ebenfalls immer höhere Beiträge heraus.34 Aber nicht nur die Höhe der Steuerschuld, auch manche Ungereimtheiten der
Erhebungsmodalitäten drückten die Handwerker: – Da die meisten Gewerbetreibenden in Westfalen mehrere Berufe nebeneinander ausübten, war es nach der französischen, bergischen oder westphälischen Patentgesetzgebung kaum möglich, die richtige Gewerbesteuerklasse zu bestimmen. – Die in den größeren Orten eingeführte stärkere Besteuerung der Handwerker entbehrte, soweit diese nicht für den überörtlichen Bedarf arbeiteten, jeder sachlichen Grundlage. – Durch die Fixierung der Steuerschuld konnten die beträchtlichen Konjunkturschwankungen, denen die Gewerbe ausgesetzt waren, nicht steuermindernd berücksichtigt werden. – An die individuelle Leistungsfähigkeit der Gewerbetreibenden wurde im allgemeinen nicht wirklich angeknüpft.35 Die negativen Auswirkungen dieser Mängel auf den Gewerbebetrieb, die mit der viel zu hoch angesetzten Steuerbemessung zusammentrafen, verstärkten sich nochmals durch die Verhängung der Kontinentalsperre, welche die Kolonialwaren um das Fünf- bis Sechsfache verteuerte, also in erheblichem Maße Kaufkraft abschöpfte und damit den Handel lahmlegte.36 Gleichzeitig kam die sog. „Hollandgängerei“, die zu einer wichtigen Nebenerwerbsquelle der unterbäuerlichen Schichten Westfalens geworden war, gänzlich zum Erliegen.37 Die natürlichen Folgen dieser Politik blieben nicht aus: Überall war die wirtschaftliche Lage trostlos; Zusammenbrüche gehörten zur Tagesordnung. Nieman30 31 32 33 34 35 36 37
Ruin der Bevölkerung herbei, s. Keinemann (1974), S. 83. Geck (1825), S. 165–168. S. Schenck (1820), S. 415 ff. Ernst (1979), S. 197–226 (201). Rothert (1976), Bd. 3, S. 181. Bzgl. Borghorst s. Keinemann (1974), S. 82; bzgl. Osnabrück s. Rothert (1976), Bd. 3, S. 187. Das blieb der erst später allgemein eingeführten Einkommenssteuer, die z. Z. der Fremdherrschaft noch die Ausnahme war, vorbehalten; S. Littmann (1965), S. 532. Rothert (1976), Bd. 3, S. 181. Ernst (1979), S. 197–226 (200).
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den nahm es da wunder, dass sich die erschöpfte Bevölkerung des Druckes auf wenig legale Weise zu entziehen suchte. Wie der Bürgermeister der westmünsterländischen Gemeinde Liederen, von Graes, zu berichten wusste, waren die sog. „Kontraventionen“ unter der Herrschaft der französischen Patentgesetzgebung notorisch gewesen: „Endlich zeigt sich das schädliche der Patente auch noch dadurch, dass unter allerlei Vorwänden mancher ohne Patent durchschlüpft, z. B. unter der Firma als Knecht eigentlich auf seine Rechnung arbeitet, der wachsamsten Polizey entgeht, sich durchschlüpft, und so den Staat und seinen Mitbürger betrügt, welches factisch ist“.38 Mancherorts nahm der Widerstand gegen die wirtschaftliche Erdrosselung durch den Staat entschiedenere, über die bloße Steuerhinterziehung hinausgehende Formen an: Im verarmten Vest Recklinghausen rotteten sich die Menschen zusammen und gingen mit Waffen in der Hand und dem Rufe: „Tod den Bluthunden“ gegen die Steuer- und Zollbeamten vor.39 In Todtenhausen bei Minden kam es ebenfalls zu einem Aufstand gegen den Steuerdruck, der fünf Beteiligte das Leben kostete.40 Dass das Aufbegehren der gepeinigten Bevölkerung gegen die gnadenlose Steuerpraxis überall im Dunstkreis der französischen Herrschaft nur zu gerechtfertigt war, stellte auch der Oberpräsident von Vincke schon bald nach der Inbesitznahme des Herzogtums Westfalen durch die Preußen fest, als er das dort eingeführte, verwirrende Steuersystem und seine depossedierenden Wirkungen auf die wirtschaftende Bevölkerung beschrieb: Die ordentlichen und außerordentlichen Steuern, die Amts- und Gemeindeabgaben, Kriegskostenbeiträge41 und Einquartierungsgelder hatten, wie er schrieb, bewirkt, dass „selbst die Eltern über den Tod ihrer Kinder, für die sie kein Brot mehr hatten, sich freuen konnten, und eine stumpfe Gleichgültigkeit sich der großen Masse bemächtigen musste“.42 2. Übergangsregelungen nach dem Ende der französischen Herrschaft Unmittelbar nach der Besetzung der westfälischen Lande durch die Truppen der Verbündeten wurde eine provisorische Verwaltung geschaffen.43 Damit konnte die Neuordnung des Steuerwesens in Angriff genommen werden. Die Diskussion um die angemessenste Art der Besteuerung der Gewerbe in der neu geschaffenen preußischen Provinz Westfalen wurde im Berliner Handels- und Gewerbeministerium zunächst kontrovers geführt. Während der Staatsrat Kunth vorschlug, nach einer Übergangsfrist die preußischen Edikte vom 2.11.1810 und 38 39 40 41
42 43
Schreiben des Bürgermeisters der Gemeinde Liederen, Krs. Ahaus, v. 11.12.1818, in: STAM, Krs. Borken, Landratsamt Nr. 54. Molitor (1926), S. 78. Rothert (1976), Bd. 3, S. 184. Für das Hzgt. Westfalen s. Verordnung v. 18.12.1813 in Scotti (1831), 2. Abt. 2. T., Nr. 565 f., S. 837 f.; desgl. Verordnung v. 10.6.1815, in Scotti (1831), 2. Abt., 2. T., S. 915; für das Kgr. Westphalen s. Kgl. westphälisches Dekret v. 20.3.1813, in: Gesetz-Bulletin des Kgr. Westphalen, 1. Th., 1813, S. 231 ff. Zitiert nach Kochendörffer (1928), S. 191 f. Dazu grundlegend Leesch (1982), S. 428 ff.; Trende (1933), S. 213 ff.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
7.9.1811 auch in den westlichen Provinzen in Kraft zu setzen,44 vertrat der Obersteuerrat und spätere Staatsrat Beuth45 die Auffassung, dass man die neuen Landesteile nicht mit der preußischen Gewerbesteuer, die bedeutend höher war als die westphälische, beschweren sollte, um die öffentliche Meinung in den Westprovinzen nicht unnötig gegen die preußische Obrigkeit aufzubringen.46 Neben solchen taktischen Überlegungen sprachen aber auch sachliche Gründe, insbesondere die einfache und klare Form, für die vorläufige Beibehaltung des westphälischen Steuersystems. Andererseits konnte man den bestehenden Zustand auf die Dauer nicht unverändert belassen, da vor allem die bergischen und französischen Steuergesetze bei der Bevölkerung verhasst waren und allzu sehr an die eben erst überwundene Fremdherrschaft erinnerten. Die Regierung musste deshalb für eine Übergangszeit bis zur Neuregelung des preußischen Steuerwesens für das westliche und nördliche Westfalen eine brauchbare, alle Seiten befriedigende Lösung finden. Als geeignete Grundlage dieser Zwischenlösung bot sich das Steuerrecht des zusammengebrochenen Königreichs Westphalen an. Demgemäss wurden die Tür- und Fenstersteuern sowie die französische Grundsteuer beseitigt und stattdessen zum 1.10.1814 die westphälischen Konsumtions-, Stempel- und Personalsteuern und die Kontribution mit ihren alten Steuersätzen auch in den ehemals französischen Gebieten eingeführt. Wichtiger für das Handwerk war die Anordnung der Generalfinanzverwaltung der wieder eroberten Provinzen vom 3.4.1814, wonach die westphälische Patentsteuer auf alle ehemals bergischen und französischen Gebiete zwischen Rhein und Weser ausgedehnt wurde.47 Die neuen Bestimmungen verschafften den Handwerkern nach den Jahren der Fremdherrschaft zwar einige Erleichterung. Doch blieben sie noch immer mit einer im Vergleich zu den Tagen des Alten Handwerks „um mehr als das Doppelte“48 gesteigerten Abgabenlast beschwert. Friedrich Wilhelm III., der um diese Überforderung wohl wusste, versprach, als er am 5.4.1815 das Rheinland und Westfalen offiziell „in Besitz nahm“, den Einwohnern gleichsam entschuldigend, er wolle baldmöglichst ein neues Steuersystem, das auch in den altpreußischen Provinzen gelten solle, einführen.49 3. Das Steuersystem in der preußischen Provinz Westfalen seit 1818 Die grundlegende Reorganisation des gesamten Steuerwesens war in Preußen aus mehr als einem Grund notwendig. Einerseits musste der hohe, wegen der drücken44 45 46 47 48 49
S. Schreiben der Staatsräte Sack und Kunth v. 27.1.1814, in: GStA/PK, Ministerium des Innern für Gewerbe, Handel und Bauwesen, Rep. 120 B Abt. I 1 Nr. 17, Bd. 1, fol. 12. Zu diesem, der später faktischer Leiter der preußischen Wirtschaftspolitik wurde, s. Franz (1995), Bd. 1, Sp 272. Beuth legte seine Auffassung später in einem Votum nieder: s. Votum v. 19.3.1815, betr. die Einführung der Patentsteuergesetzgebung in den westlichen Provinzen, wie Anm. 44, fol. 18. Zur Wiedereinführung der westphälischen Patentsteuer im vormals hannoverschen Amt Reckenberg s. Verordnung v. 24.1.1816, in: Amtsbl. Reg. Münster v. 27.1.1816, S. 25, 26. So der Bürgermeister der Stadt Ahaus in einer Stellungnahme über die Auswirkungen der Einführung der Gewerbefreiheit, v. 7.1.1819, in: STAM, Krs. Ahaus, Landratsamt Nr. 2063. Vgl. Henkel/Taubert (1979), S. 52.
B. Das Steuerrecht
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den Kriegs- und Kriegsfolgenlasten entstandene Finanzbedarf des Staates gedeckt werden, andererseits wollte man der Wirtschaft durch die Beschränkung auf ein Mindestmaß an Steuern die möglichste Schonung angedeihen lassen. Während die verwirrende Vielfalt der einschlägigen Vorschriften, die im preußischen Staatsgebiet wirksam waren, beseitigt und das Steuersystem nach rationalen Gesichtspunkten geordnet und vereinfacht werden50 sollte, erklärte man die Stabilität der Steuergesetze zum leitenden Gesichtspunkt der Reform. Wichtiges Ziel war es zudem, die insbesondere in Ostelbien noch nicht erreichte rechtliche Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen durchzusetzen. Unter diesen ganz unterschiedlichen Aspekten forderte die Verwaltung auch in Westfalen die Revision des geltenden Rechts.51 Die neue, nunmehr gewerbefreundliche Politik des preußischen Staates bekamen zuerst die Gemeinden zu spüren. Sie durften, um den erstrebten Aufschwung der Wirtschaft nicht zu behindern, keine gesonderten Kommunalsteuern einziehen.52 Nur Zuschläge zur Grund- und Klassen- bzw. Mahl- und Schlachtsteuer, nicht aber zur Gewerbesteuer konnten künftig erhoben werden.53 Die Höhe der Zuschläge zugunsten der Gemeinden war durch ein Maximum begrenzt, das ohne Genehmigung nicht überschritten werden durfte. Diese Regelung ging in das Abgabengesetz vom 30.5.182054 ein, verhinderte die Erhebung beträchtlicher Gemeindesteuern aber nicht. In Soest beispielsweise, wo die bis 1806 gänzlich unbekannten Kommunalabgaben erhebliches Missfallen hervorriefen, mussten Zuschläge in Höhe von 25 Prozent auf die genannten Steuern an die Gemeindekasse abgeführt werden.55 Nur in so wohlhabenden Städten wie Dortmund blieben die Bürger wenigstens in den Jahren mit guten Ernten von den lästigen Kommunalabgaben befreit.56 Erst 1838 wurde ein allgemeines Gemeinde-Einkommensteuer-Regulativ erlassen,57 welches die längst fällige Vereinheitlichung des Kommunalabgabenwesens in Preußen brachte. Grundlegend für die große Finanzreform war das Gesetz über das Abgabenwesen vom 30.5.1820.58 Es beseitigte alle älteren Konsumtionssteuern, insbesondere die westphälische Mahl- und Schlachtsteuer, die noch im Regierungsbezirk Minden erhoben wurde, die älteren direkten Steuern wie die preußische Personalsteuer von 50
51 52 53 54 55 56 57 58
Huber (1967), Bd. 1, S. 212. Hier wirkten die Gedanken Hardenbergs, die er in seiner Denkschrift vom 5. März 1809 formuliert hatte, nach. Hardenberg wollte Handel und Gewerbe lediglich zu einer Einkommenssteuer heranziehen, s. dazu Klein (1965), S. 23, 25; v. Beckerath (1912), S. 2. Zum preußischen Steuerrecht im 19. Jahrhundert nunmehr grundlegend Böhmer (2004). Kochendörffer (1928), S. 180, 181. Rskr. v. 30.12.1817, zitiert nach Koselleck (1967), S. 595, Anm. 121. Abweichend von dieser Regel wurde in Münster, offenbar aufgrund besonderer Genehmigung, in den Jahren 1820–1823 ein Kommunalzuschlag zur Gewerbesteuer erhoben, s. Göken (1925), S. 24. Pr. Ges. Sammlung 1820, S. 134 ff. S. Geck (1825), S. 55, 58. S. v. Winterfeld, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 1, S. 164. Gräff-Rönne-Simon, Bd. 4 (1843), S. 539 ff. Vgl. dazu vor allem v. Witzleben (1985); s. auch Ohnishi (1980); Mamroth (1890); Kries (1856).
294
VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
1811, die im Regierungsbezirk Arnsberg geltende Vermögenssteuer, die französische und bergische Personal- und Mobiliarsteuer, die in manchen Teilen Westfalens noch immer eingezogen wurde, die französische Tür- und Fenstersteuer sowie schließlich alle bis dahin in den neu erworbenen Landesteilen erhobenen Gewerbeund Patentsteuern.59 Dieses ganz ungeregelte Nebeneinander verschiedenster Abgaben wurde nun ersetzt durch einen begrenzten Kanon direkter und indirekter Steuern: Damit stellte der Gesetzgeber das in Westfalen geltende Steuersystem erstmals auf eine einheitliche Grundlage. a. Mahl- und Schlachtsteuern Von den zahlreichen indirekten Steuern hatte die sog. Mahl- und Schlachtsteuer, das Kernstück der Konsumtionssteuern, die größte Bedeutung.60 Diese Abgabe beanspruchte keine allgemeine Geltung. Sie wurde vielmehr alternativ zur Klassensteuer nur in wenigen größeren Städten und deren unmittelbarer Umgebung erhoben.61 In Westfalen waren dies Arnsberg, Bielefeld, Herford, Minden, Münster, Paderborn, Warendorf, Coesfeld, Bocholt, Hamm, Dortmund und Soest. Da die Abgabe beim Kauf von Mehl oder Fleisch geleistet werden musste, hatten die Bäcker, Schlächter und alle, die mit Produkten dieser Handwerker handelten, die Steuer zu entrichten. Ihre Gewerbebetriebe standen ebenso unter Steueraufsicht wie die Mühlen und die Schlachthäuser. Der Staat nahm die Nahrungsmittelhandwerker als Steuereintreiber in Anspruch und griff spürbar in deren Wirtschaftsbetrieb ein, indem er sie fortlaufend zu Steuervorauszahlungen und Kautionen heranzog.62 Zudem kann man vermuten, dass die Steuer den Gewinn der Bäcker und Fleischer beeinträchtigte, da sich der Verbrauch infolge der unausbleiblichen Preissteigerungen verringerte bzw. die Handwerker, um dem vorzubeugen, ihre Gewinnspanne herabsetzten.63 Die Abgabe belastete aber nicht nur die Nahrungsmittelhandwerker, sondern die gesamte städtische Bevölkerung, vor allem die ärmeren Schichten, also auch große Teile des Handwerks, schwer. Die mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Gemeinden brachten pro Kopf der Bevölkerung nahezu die dreifache Steuersumme der klassensteuerpflichtigen Gemeinden auf (100:37,8).64 Diese außerordentliche Diskrepanz hatte Folgen für die gesamte Handwerkswirtschaft: Stadt und Land blieben steuerrechtlich getrennt. Die Preise der Güter des täglichen Verbrauchs zo59 60 61 62 63 64
Z. B. Verordnung v. 1.12.1820, in: Amtsbl. Reg. Minden, S. 433 ff. Reinick (1863), S. 217–227 (218). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Mahl- und Schlachtsteuer findet sich bei Weydemeier (1847), S. 698 ff. (701 ff.); Hoffmann (1840), S. 336 ff.; Grabower (1932), S. 528 ff., insbes. 534 ff.; v. Beckerath (1912), S. 20. Ab. 1.9.1820. Haunfelder (1976), S. 42. So Hoffmann, Über den Begriff …, (1847), S. 463; exakt beweisen lässt sich diese Vermutung allerdings nicht. S. dazu im einzelnen v. Beckerath (1912), S. 47. v. Beckerath (1912), S. 22 f.; nach v. Beckerath lag der wesentliche Vorzug der Mahl- und Schlachtsteuer in der Höhe ihrer Erträge, s. v. Beckerath (1912), S. 21; Haunfelder (1976), S. 41.
B. Das Steuerrecht
295
gen in den größeren Städten nach Einführung der Steuer sofort stark an.65 Der Landhandwerker hatte fortan nicht nur durch die Einnahmen aus seinem kleinen Landbesitz, sondern auch wegen seiner weit geringeren Lebenshaltungskosten erhebliche Konkurrenzvorteile vor seinem städtischen Kollegen. Das hatte zur Folge, dass die Abwanderung vom Land in die größeren Städte stockte – ja für eine gewisse Zeit völlig zum Erliegen kam. Von allem Anfang an drängte die städtische Bevölkerung deshalb auf die Beseitigung der als veraltet, unsozial und die größeren Städte benachteiligend geltenden Abgabe.66 Man erhoffte sich von der Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer – naturgemäß – vor allem eine spürbare Verbilligung von Brot und Fleisch. Das hätte die Lebenshaltungskosten der Handwerksfamilien gesenkt und gleichzeitig die Kaufkraft ihrer städtischen Kunden gestärkt. Stattdessen sollte die Einführung der Klassensteuer insbesondere eine Entlastung der Kleinbürger bringen – eine nicht unrealistische Erwartung, wie jedermann wusste; zog doch die direkte Steuer trotz aller ihrer Unzulänglichkeit gerade die wohlhabenden Schichten um ein Vielfaches stärker heran als dies bei der Erhebung der Konsumtionssteuer der Fall war. Noch bevor auch der westfälische Provinziallandtag im Jahre 1846 die allgemeine Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer verlangte,67 war diese Abgabe bereits in Herford beseitigt worden. Die anderen Städte folgten, zuletzt unter dem Eindruck der revolutionären Bewegung des Jahres 1848, die sich in Westfalen nicht zuletzt auch die Aufhebung der Steuer zum Ziel gesetzt hatte.68 Wunschgemäß wurde die verhasste Abgabe durch die Klassensteuer ersetzt. Diese dem Staat aufgezwungene Entscheidung machte der Gesetzgeber für das übrige Preußen aber schon 1851 wieder rückgängig;69 nur den Westfalen blieb die neuerliche Erhebung der Mahl- und Schlachtsteuer, die von den Zeitgenossen unverändert als „un-
65
66
67 68
69
Wie schmerzlich dieser Effekt von der städtischen Bevölkerung empfunden wurde, zeigt der Umstand, dass infolge der Erhöhung der Lebenshaltungskosten die Geburtenzahl in den großen Städten zurückging. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Steuergesetzes s. v. Beckerath (1912), S. 23. Zur Bedrückung gerade der kleinen Handwerker und Arbeiter in Münster durch dieses Steuergesetz vgl. Hoth (1985), S. 119. Ausführlich zu den Nachteilen der Mahl- und Schlachtsteuer, die wegen der zahlreichen Verstöße gegen die Steuerpflicht, die diese Steuerart provozierte, als „Verderben für die Moralität“ bezeichnet wurde, s. Geck (1825), S. 58, 59. Von den Zeitgenossen wurde die Mahl- und Schlachtsteuer als „zweite Gewerbesteuer“ betrachtet, da sie den städtischen Gewerbetreibenden die notwendigsten Lebensmittel erheblich verteuerte; s. Bergius (1857), S. 67. Zur Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen (Torkontrollen etc.): Amtsbl. Reg. Münster v. 25.8.1821, S. 233–248; desgl. v. 15.2.1823, S. 52, 53; desgl. v. 24.12.1825, Beilage, S. 1–26; desgl. v. 9.5.1846, Extrablatt, S. 1–32. Amtsbl. Reg. Arnsberg: 14.2.1824, S. 83. Landtagsabschied des westf. Provinziallandtages für das Jahr 1846, in: Amtsbl. Reg. Münster v. 26.12.1846, Extrablatt, S. 21, 22. Die Mahl- und Schlachtsteuer wurde in Herford seit dem 1.7.1844, in Arnsberg und Bielefeld seit dem 1.7.1846, in Hamm seit dem 1.2.1847, in Paderborn seit dem 1.4.1848, in Minden seit dem 1.5.1848 und in Münster seit dem 1.6.1848 nicht mehr erhoben; s. Reinick (1863), S. 217–227 (218); dazu ausführlich Haunfelder (1976), S. 43–46. Gesetz v. 1.5.1851, Pr. Ges.-Sammlung 1851, 193.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
gerecht im Princip, unbillig in der Verteilung und ungleich in der Belastung“70 empfunden wurde, erspart. b. Klassensteuer Von den direkten Steuern beeinflusste neben der Gewerbesteuer vor allem die Klassensteuer das verfügbare Einkommen des Handwerkers. Das Gesetz „betreffend die Klassensteuer“ vom 30.5.182071 normierte für die nicht mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Orte eine klassifizierte Kopfsteuer, welche die Einteilung in Steuerklassen nur nach äußeren Merkmalen (Gewerbe, äußere Lebensstellung des Steuerpflichtigen) vornahm.72 Damit bestimmte sich die Steuerschuld nicht nach den individuellen Verhältnissen (z. B. dem Einkommen) des Steuerpflichtigen, sondern nach der gesellschaftlichen Stellung oder der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen. Zunächst wurden fünf, ab 1821 zwölf Steuerstufen gebildet. Damit konnte die individuelle Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen insbesondere in den westlichen, ökonomisch entwickelteren, also auch differenzierter wirtschaftenden Provinzen aber keineswegs hinreichend berücksichtigt werden. Obgleich die Klassensteuerordnung die unteren Einkommensschichten nicht so schlecht stellte wie die Mahl- und Schlachtsteuer, war die Einkommensstufung der einzelnen Klassen doch so unterschiedlich, dass auch bei dieser Abgabeart nicht einmal der Schein der Steuergerechtigkeit gewahrt wurde.73 Anfänglich war vorgesehen, dass die erste und zweite Klasse 14, die dritte 73 und die vierte 13 Prozent der gesamten Einnahmen aus der Klassensteuer aufbringen sollte.74 Tatsächlich brachte jedoch die vierte Klasse, welche die Arbeiter und Tagelöhner umfasste, den größten Betrag auf.75 Das berechtigterweise wenig günstige Urteil auch über diese gerade die Bedürftigsten benachteiligende Regelung,76 die dem heutigen Betrachter unfasslich ungerecht erscheint, relativiert sich allerdings, wenn man berücksichtigt, dass die Belastung der Pflichtigen durch die Klassensteuer nicht sehr hoch, ja – an aktuellen Steuerquoten gemessen – geradezu märchenhaft niedrig war, wie das Zahlenbeispiel für die Handwerker der Stadt Soest zeigt:
70 71 72 73 74 75 76
Weydemeier (1847), S. 463 ff. (464). Pr. Ges.-Sammlung 1820, 140; dazu instruktiv: Grabower (1932), S. 502 ff.; Grätzer (1884). Hoffmann (1840), S. 140 ff. Die Einteilung in fünf Klassen entsprach den Vorstellungen Hoffmanns von der Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft, s. v. Beckerath (1912), S. 3, 4. So auch Gembruch (1960), S. 216. S. Grabower (1932), S. 526. S. Grabower (1932), S. 526. Grabower (1932), S. 544; v. Beckerath stellte fest, die Steuer habe die Reichen bevorzugt, die mittellosen, teilweise in „entsittlichender Dürftigkeit“ lebenden Volksmassen unverhältnismäßig belastet. Der Klassensteuer habe jeder „sozialpolitische Einschlag“ gefehlt, s. v. Beckerath (1912), S. 19.
297
B. Das Steuerrecht
Tabelle 8: Klassensteuerleistung der selbständigen Handwerker der Stadt Soest 185077 (in Rtl. pro Jahr) Steuerbetrag bis 1 Rtl.
bis 1–2 Rtl.
Zahl der Meister absolut 239
in v. H.
40,2
230
38,7
42
7,1
bis 3–4 Rtl.
45
7,6
bis 4–6 Rtl.
23
3,9
bis 6–8 Rtl.
5
0,8
bis 8–12 Rtl.
7
1,2
bis 12–18 Rtl.
2
0,3
bis 18–24 Rtl.
1
0,2
594
100
bis 2–3 Rtl.
Es dürfte deshalb weniger die absolute Höhe als vielmehr das allzu grobe Raster, welches das Abgabengesetz anlegte, ursächlich für die Unzufriedenheit der Handwerker gewesen sein. Der Kampf um eine gerechte Einschätzung zur Klassensteuer entbrannte denn auch gleich nach der Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer in allen größeren Städten Westfalens. In Münster gehörte die Auseinandersetzung um diese Frage zu den wichtigsten Gegenständen politischer Agitation während der Revolutionszeit.78 Die Reformvorstellungen zur Steuergesetzgebung, welche die westfälischen Handwerker im Jahre 1848 der Obrigkeit präsentierten, müssen den Zeitgenossen allerdings utopisch erschienen sein: Alle Steuern, welche die Konsumtion und den Ertrag der Arbeit belasteten, also auch die Klassensteuer, sollten aufgehoben, zumindest aber stark ermäßigt werden. An die Stelle hatte nach dem Willen der Meister und Gesellen eine progressive Einkommen- und Vermögenssteuer zu treten.79 77
78 79
Errechnet nach: Belege zur Rechnung der Gewerberats-Casse zu Soest v. 3.12.1850, in: Stadtarchiv Soest XIX a 8. Berücksichtigt wurden die in der Regel für den örtlichen Bedarf arbeitenden Handwerksberufe, also nicht Weber, Gärtner, Scherenschleifer, Lithographen, Bandagisten. Zur Höhe der Klassensteuerleistung allgemein s. Ritter (1961), S. 120. Haunfelder (1976), S. 45. Für die Aufhebung der Gewerbesteuer und Einführung einer progressiven Einkommen- und Vermögensteuer s. – Petition des Handwerker-Vereins der Grafschaft Mark in Hamm v. 1.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 74. – Der Gemeindevorstand zu Rehme, Krs. Minden, verlangte in einem Immediat-Gesuch v. 28.3.1848 namens der Handwerker des Amtes Oeynhausen die völlige Aufhebung der Klassen- und Gewerbesteuer, in: GStA/PK, Zivilkabinett, 2.2.1 Nr. 27824, fol. 6. – Die Kleider- und Schuhmacher zu Menden forderten ebenfalls in einem Immediat-Gesuch v. 2.4.1848 die Ermäßigung der Klassensteuer für Gesellen, in: GStA/PK, Zivilkabinett, 2.2.1 Nr. 27824, fol. 5.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
Unterstützt wurden diese Forderungen der Handwerker, namentlich diejenigen nach Einführung der Einkommen- und Vermögenssteuer, durch die zahlreichen Publikationen zum Pauperismus-Problem, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus naheliegenden Gründen breiten Raum in der öffentlichen Diskussion einnahm.80 Natürlich hatten die radikalen Vorstellungen der Kleingewerbetreibenden keine Chance, verwirklicht zu werden. Immerhin wurden aber wenigstens Ansätze zu einer gerechteren Besteuerung realisiert. Ein Gesetz vom 1.5.185181 führte eine kombinierte Klassen- und Einkommenssteuer ein. Für Einkommen bis zu 1.000 Talern wurde die Klassensteuer beibehalten. Die unterste der drei Hauptklassen war den kleinen Handwerkern und Gewerbetreibenden, die noch auf Nebenverdienst durch Tagelohn oder ähnliche Lohnarbeit angewiesen waren, sowie den gewöhnlichen Lohnarbeitern, Handwerksgesellen, dem Gesinde und den Tagelöhnern vorbehalten. Die zweite Klasse erfasste die kleineren Grundbesitzer und Gewerbetreibenden, die von dem Ertrage ihres Besitzes selbständig leben konnten, und die ihnen wirtschaftlich Gleichstehenden. Der dritten Klasse wurden alle Besserverdienenden zugezählt. Die Einschätzung oblag verschiedenen Kommissionen. Mit dieser Skizzierung der Klasseneinteilung sind aber auch die Mängel der Steuer bereits beschrieben: Die fehlende Deklarationspflicht machte eine einigermaßen gründliche und vollständige Veranlagung unmöglich. Die Mitglieder der mit der Einschätzung befassten Kommissionen, die aus gewählten Vertretern der Steuerpflichtigen bestanden, berücksichtigten naturgemäß die Interessen ihrer eigenen Berufsgruppe oder sozialen Schicht in besonderem Maße, so dass der erwünschte Ausgleich nicht immer zustande kam. Hinzu traten zahlreiche weitere Mängel, die auch diese Art der Veran-
80
81
– Nicht nur die Handwerker Westfalens, sondern die Handwerkerbewegung Deutschlands insgesamt verlangte generelle Steuersenkung bzw. -befreiung; s. Bericht des Volkswirtschaftlichen Ausschusses … (1849), S. 887; s. dazu auch Stieda, Art. „Handwerk“, in: HDSW (1900), Bd. 4, Sp. 1097–1114 (1100). In dieser Frage waren Meister und Gesellen – selten genug – einer Meinung, s. Hasemann, Art. „Geselle“, in: Ersch und Gruber (Hrsg.), Bd. 63, (1856), S. 416. Die Forderung nach Steuersenkung bzw. Steuerbefreiung des Kleingewerbes wurde von der demokratischen Bewegung unterstützt. So forderte der sog. „Volksbildungsverein“ in Herford 1848 die Beseitigung der Gewerbesteuern und ihre Ersetzung durch eine progressive, in ganz Deutschland gleichmäßige Einkommen- und Vermögensteuer, s. Kohl (1930), S. 44; so auch Weydemeier (1847), S. 699 ff., insbes. 711 ff. – Vorschläge des Frankfurter Gesellen-Congresses … (Neudruck 1980), S. 208 ff. (219, 220). – Der deutsche Handwerker-Congreß … (Neudruck 1980), S. 165 ff. (192 f.) – Die Besteuerung der Maschinen, die Handwerksprodukte herstellten, verlangte der Handwerkerverein des Krs. Meschede, s. Petition v. 30.8.1848, in Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 137; ebenso der konstitutionelle Verein Heepen, s. Petition v. 4.9.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141, fol. 146. So z. B. Escherich (1850), S. 3, 21–23, 32. Escherich sah in den Steuern auf die „unentbehrlichen Lebensbedürfnisse“ … „die wirksamste Ursache zunehmender Verarmung in den unteren Volksklassen“, s. Escherich, a. a. O., S. 22, 23; so auch Weydemeier (1847), S. 701; desgl. Reden (1847), S. 230. Pr. Ges. Sammlung 1851, 193.
B. Das Steuerrecht
299
lagung trotz ihrer positiven Ansätze bald als unzeitgemäß erscheinen ließen.82 Sie wurde aber erst mit dem Einkommenssteuergesetz von 1891 beseitigt. c. Grundsteuern Das Abgabengesetz vom 30.5.182083 hatte die bis dahin bestehenden regionalen Regelungen der Grundsteuer in Gültigkeit belassen.84 Die zehn verschiedenen Grundsteuerverfassungen, die damals in Westfalen geltendes Recht waren und deren verbindendes Merkmal die Steuerfreiheit des adeligen Großgrundbesitzes war, konnten zunächst nicht vereinheitlicht werden, da es an einem brauchbaren Kataster fehlte. Am 21.1.1839 erging dann das Grundsteuergesetz für die westlichen Provinzen.85 Die Gebäudebesteuerung, die bis dahin mit der Grundsteuer verbunden gewesen war, wurde verselbständigt und durch das Gesetz vom 21.5.186186 „betreffend die Einführung einer allgemeinen Gebäudesteuer“ geregelt. d. Gewerbesteuern Wichtiger als Mahl-, Schlacht- und Klassensteuer, als Grund- und Gebäudesteuer waren für das gesamte Handwerk die Gewerbesteuern. Sie sollten eben den Teil der Gewerbetreibenden, der weder durch die Klassensteuer noch durch Verbrauchssteuern ausreichend erfasst wurde, in dem seitens des damals außerordentlich geldbedürftigen preußischen Staates erwünschten Umfang heranziehen.87 Deswegen kannte das Gesetz vom 30.5.182088 „wegen Entrichtung der Gewerbesteuer“ den Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung gewerblicher Tätigkeit, der die französische Gewerbesteuergesetzgebung ausgezeichnet hatte, nicht mehr. Steuerpflichtig waren künftig nur noch die Gewerbetreibenden der in dem Gesetz, das in Westfalen zum 1.1.1821 in Kraft trat, ausdrücklich bezeichneten Gewerbe. Die Gewerbesteuerzahlung wurde – im Gegensatz zu den bis dahin geltenden Patentgesetzen – nicht länger als Vorbedingung für die Erteilung des Gewerbescheines, sondern als Folge des Gewerbebetriebes aufgefasst. Den Gewerbeschein und die an ihn 82 Eine verhalten positive Bewertung der Reformgesetzgebung des Jahres 1851 findet sich bei v. Beckerath (1912), S. 96. 83 Pr. Ges. Sammlung 1820, S. 134. 84 Kritisch zur Grundsteuererhebung Weydemeier (1847), S. 569 ff.; s. dazu auch Grabower (1932), S. 484 ff.; v. Beckerath (1912), S. 64. 85 Pr. Ges. Sammlung 1839, S. 30. 86 Pr. Ges. Sammlung 1861, S. 317; zur Grundsteuererhebung in den Städten s. Grabower (1932), S. 496 ff. 87 Die Gewerbesteuer war demnach bloßer „Appendix“ der Klassensteuer, so Hoffmann (1840), S. 200; v. Beckerath (1912), S. 1. 88 Pr. Ges. Sammlung 1820, 147. Die Gewerbesteuer war damals eine Staats-, keine Gemeindesteuer. Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes v. 30.5.1820 s. Roehl (1900), S. 75–77; Huber (1967), S. 212 ff.; Hoffmann (1840), S. 189 ff. Zum Gesamtkomplex der Gewerbesteuer wichtig Grabower (1932), S. 551–570; Schürhoff (1927), S. 2–8. Eine kritische Besprechung des Gesetzes findet sich bei Richter (1863), S. 33–35. Zur Steuerleistung der verschiedenen Lederhandwerke im 19. Jahrhundert in Göttingen vgl. Buchhagen (1997), S. 44, 45.
300
VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
geknüpfte Patentsteuer hob man auf, um die Anzeige an die Behörde bei Betriebseröffnung und die Gewerbesteuer an ihre Stelle treten zu lassen. Damit verlor die Gewerbebefugnis ihren Charakter als ein vom Staat quasi erkauftes Recht, und der allzu enge Zusammenhang von Gewerberecht und fiskalischem Interesse war gelöst. Ein erheblicher Nachteil der neuen Steuern allerdings war die Kompliziertheit ihrer Erhebungsmodalitäten. Die steuerpflichtigen Professionen wurden zu Klassen zusammengefasst, die das Gesetz mit großen Buchstaben bezeichnete und nach der Art des Gewerbebetriebes unterschied: Klasse A erfasste den Handel mit, B den ohne kaufmännische Rechte, C die Gast-, Schank- und Speisewirtschaften, D die Bäckereien, E das Fleischergewerbe, F Brauereien, G Brennereien, H das Handwerk, J die Müllereien, K das Schifffahrt- und Fuhrgewerbe sowie L die Gewerbebetriebe im Umherziehen. Die Handwerker waren „dann gewerbesteuerpflichtig, wenn sie entweder ihr Gewerbe mit mehr als einem erwachsenen Gesellen und einem Lehrling“ betrieben oder wenn sie „auch außer den Jahrmärkten Lager von fertigen Waren auf den Kauf“ hielten (§ 12 des Gesetzes). Nur für Bäcker und Fleischer galt diese Einschränkung nicht. Sie waren in jedem Fall der Steuer unterworfen. Durch die Berücksichtigung objektiver Bemessungsgrundlagen sollten die – dies war ohne Zweifel ein Fortschritt – „geringen Handwerker, welche mühselig den täglichen Bedarf erarbeiteten“,89 künftig von der Gewerbesteuer befreit sein. „Erst bei den Wohlhabenden tritt also der Steuerfall ein, und diese können ohne Zweifel zum Theil sehr ansehnliche Abgaben tragen“,90 urteilte der Statistiker Dieterici damals. Die Höhe der Steuerschuld wurde nicht allein durch die Klassen, sondern auch durch die Zuordnung zu einer der vier sog. Abteilungen bestimmt. Damit knüpfte das Gesetz an die unterschiedliche Wohlhabenheit und Gewerbsamkeit der verschiedenen Betriebsorte an. Zur ersten Abteilung gehörten die zehn bedeutendsten Städte der Monarchie, zu denen in Westfalen allerdings keine zählte. Die zweite Abteilung erfasste die mittelgroßen, in der Regel mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Städte, denen noch einige Industrieorte zugesellt wurden; dazu rechneten in Westfalen Münster, Coesfeld, Warendorf, Bocholt, Minden, Bielefeld, Herford, Paderborn, Soest, Iserlohn, Altena, Hamm, Dortmund, Siegen und Arnsberg.91 Zur dritten Abteilung gehörten die sonstigen Orte mit mehr als 1.500 Einwohnern, zur vierten alle übrigen Gemeinden, insbesondere also das flache Land. Dieser Differenzierung lag einmal mehr die unzulässig vereinfachende Vermutung zugrunde, dass die Gewerbetreibenden in den größeren Städten leistungsfähiger als diejenigen in Kleinstädten und auf dem Lande seien. Die Steuerschuld wurde nach einem komplizierten Verfahren bestimmt: Die von einem Steuerbezirk aufzubringende Summe wurde dadurch ermittelt, dass der für die einzelnen Abteilungen und Klassen festgesetzte Durchschnittssatz soviel 89 Dieterici (1875), S. 354. 90 Dieterici (1875), S. 354. 91 Ein Verzeichnis der Städte der Abt. III um 1830 findet sich bei Schimmelpfennig (1834), S. 199. Ebenso enthält GStA/PK, Rep. 151 II, Nr. 2598, fol. 11 ein Verzeichnis sämtlicher Ortschaften des preußischen Staates, die zu den drei ersten Gewerbesteuerklassen zählten.
B. Das Steuerrecht
301
mal zu zahlen war, wie die Abteilungen und Klassen Mitglieder hatten. Das auf diese Weise gefundene Steuerkontingent wurde dann durch die Kommunal- bzw. Kreisbehörden unter Mitwirkung eines Beirats aus Gewerbetreibenden der betreffenden Klasse auf die einzelnen Professionisten nach dem Umfang ihres Betriebes aufgeteilt.92 Für die Bäcker und Fleischer wiederum war eine abweichende Regelung getroffen worden. In den beiden ersten Abteilungen veranlagte die Behörde die Steuerpflichtigen nach der Zahl der Einwohner. Auf den Kopf der Bevölkerung der größeren Städte hatten die ortsansässigen Bäcker und Fleischer in der ersten Abteilung acht und in der zweiten Abteilung sechs Pfennige zu zahlen. Die Nahrungsmittelhandwerker der anderen Abteilungen traten, getrennt nach Steuerbezirken und nach Klassen, zu sog. „Steuergesellschaften“ zusammen. Diese wählten aus ihrer Mitte fünf Abgeordnete, die das nach den Gesetzen errechnete Steuerkontingent auf die einzelnen Gewerbetreibenden verteilten.93 Ein wesentlicher Fortschritt bestand darin, dass gegen die Steuerveranlagung erstmals Rechtsmittel eingelegt werden konnten.94 Die so geregelte Steuerordnung unterschied sich von der französischen wie der westphälischen Patentgesetzgebung vorteilhaft dadurch, dass sie sich um Differenzierung nach dem Grad der individuellen Leistungsfähigkeit bemühte und auf diese Weise den wirtschaftlich Schwächeren Schutz vor Überforderung durch den Staat gewährte. Nicht unterschätzt werden darf auch ein günstiger psychologischer Effekt: Die Berücksichtigung eines demokratischen Elements, wie es die Steuergesellschaften darstellten, versöhnte den Bürger eher mit dem Unabwendbaren der Steuerleistung. Misst man die Vorschriften allerdings an dem Anspruch, den der Gesetzgeber mit ihnen verband, ergibt sich ein anderes Urteil. Die Väter der Gewerbesteuerordnung hatten „eine solche Verteilung der Steuersätze“ angestrebt, „welche sich den persönlichen Verhältnissen der einzelnen Steuerpflichtigen möglichst genau anschließt“.95 Es zeigte sich aber – ebenso wie bei der Klassensteuer – bald, dass den unbestrittenen Vorzügen des Gesetzes96 doch zahlreiche Ungereimtheiten und sachliche Mängel gegenüberstanden, die das Mühen des Gesetzgebers um mehr Steuergerechtigkeit schließlich kaum mehr sichtbar werden ließen: – Durch die Beschränkung der Steuerpflicht auf größere Betriebe sollten diejenigen Handwerker von der Steuer befreit werden, welche sich mit Ausbesserun92 93
94 95 96
S. dazu Schürhoff (1926), S. 3. Aufgrund dieser Bestimmungen glaubten die Bäcker und Metzger in verschiedenen Städten des Regierungsbezirks Arnsberg, dass das Hausieren Auswärtiger mit Brot und Fleisch untersagt sei und allein sie, die einheimischen Handwerker, berechtigt seien, Brot und Fleisch am Orte zu verkaufen. Die Regierung Arnsberg musste durch Verordnung v. 8.3.1821, in: Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 24.3.1821, S. 91–93 ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Begründung von Steuergesellschaften i. S. d. Gewerbesteuergesetzes keinerlei Zunftrechte, insbesondere nicht das Recht des Alleinverkaufs begründeten. Schürhoff (1926), S. 5. Die Behörden, die in solchen Verfahren entschieden, waren Landrat, Bezirksregierung und Finanzminister. So Hoffmann (1840), S. 203. Zu den Vorzügen des Gewerbesteuergesetzes im einzelnen s. Schürhoff (1926), S. 6, 7.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
gen und Flickarbeiten abgaben.97 Auf dem Lande war es aber noch immer gewöhnlich, dass Schneider oder Schuhmacher mit Gesellen von Hof zu Hof zogen, um gegen Kost und geringen Tagelohn die nötigen Flickarbeiten auszuführen. Solche Handwerker waren steuerpflichtig, während Meister desselben Gewerbes, die in der Stadt allein oder mit einem Gehilfen arbeiteten und mitunter ein erheblich höheres Einkommen erzielten, demgegenüber steuerfrei blieben. – Noch ungerechter waren die Grenzen der Steuerfreiheit, wenn man die verschiedenen Handwerksgruppen betrachtet: Ein steuerpflichtiger Maurer oder Zimmermann mit zwei Gehilfen konnte durchaus weit weniger als ein Schlosser, Maler oder Drechsler, der allein oder mit einem Gehilfen arbeitete, verdienen.98 – Ebenso wenig wie die Zahl der Beschäftigten sagte die Lagerhaltung allein etwas über die Prosperität des Handwerksbetriebes aus: Bürstenbinder, Seiler, Nagelschmiede oder Korbmacher hielten ebenso wie Hutmacher, Seifen- und Pottaschensieder, Ziegelbrenner, Töpfer und Lohgerber ständig Waren vorrätig, auch wenn der Geschäftsbetrieb noch so armselig war.99 – Die Berücksichtigung der Größe und wirtschaftlichen Situation des Betriebsortes bei der Bestimmung der Steuerschuld war nur bei solchen Handwerkern, die vorzugsweise für den örtlichen Bedarf arbeiteten, gerechtfertigt, nicht hingegen bei jenen Gewerben, deren Produkte im überregionalen Raum Absatz fanden. Das Gewerbesteuergesetz traf die dadurch gebotene, sachlich notwendige Unterscheidung nicht. Mit dem rasch fortschreitenden Ausbau des Verkehrswesens und dem wachsenden Güteraustausch führte eben dieser Mangel zu schroffen Ungleichheiten unter den Gewerbetreibenden.100 – Die in § 20 des Gesetzes bestimmte Klassifizierung der Gewerbe wurde infolge der grundstürzenden Veränderungen, die Handwerk und Industrie im Laufe des 19. Jahrhunderts erlebten, sowie der Bildung neuer Gewerbezweige immer unhaltbarer. Das gilt auch für die Zuordnung der Städte und Gemeinden zu den einzelnen Gewerbesteuerklassen. So führten die Soester Bäckermeister 1848 bewegte Klage darüber, dass sie in dieselbe Gewerbesteuerklasse (II) wie die Bäcker in den größeren Industriestädten eingestuft seien, obgleich der Umsatz in der Ackerstadt Soest, in der jeder Haushalt Schwarz- und Grobbrot selbst herstelle, weitaus geringer als in den industrialisierten Gegenden sei.101 – Die Kriterien, nach denen die in den einzelnen Branchen gewählten Kommissionen die aufzubringenden Sätze zu verteilen hatten, wurden in dem Gewerbesteuergesetz nicht hinreichend deutlich. Die blasse Formulierung „der Umfang, 97 98 99
Hoffmann (1840), S. 219. Richter (1863), S. 26, 27. Schreiben der Reg. Münster v. 3.7.1821, in: STAM, Krs. Beckum, Landratsamt Nr. 224; s. dazu auch Hoffmann (1840), S. 200; diese Mängel wurden durch Ministerialriskript v. 21.11.1861 behoben; s. Richter (1963), S. 28. 100 Vgl. Richter (1863), S. 30. 101 S. Petition der Bäcker der Stadt Soest v. 28.8.1848, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141, fol. 196 a.
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worin jeder einzelne das Gewerbe betreibt“ ließ den Kommissionsmitgliedern allzu viel Freiheit bei ihren Entscheidungen. Vermutlich diente ihnen die Liquidität der einzelnen Meister sowie die Zahl der Gesellen und Lehrlinge, welche diese beschäftigten, als ungenauer Gradmesser der Steuerfähigkeit. Nicht zuletzt schonte die Kontingentierung nach Mittelsätzen die großen Betriebe zum Nachteil der kleineren.102 Wie Henkel/Taubert am Beispiel der Stadt Eupen nachgewiesen haben, zahlte ein Fabrikant, Kaufmann oder Großhändler mit 700 Arbeitskräften nur etwa sechsmal soviel an Gewerbesteuer wie ein durchschnittlicher Handwerker oder Krämer, der bestenfalls einen Gehilfen hatte.103 Zwar handelte es sich bei der Gewerbesteuer nur um eine von mehreren Steuerarten, doch waren, worauf bereits hingewiesen wurde, die Bemessungsmaßstäbe der anderen Steuern kaum gerechter. Mit diesen Unzuträglichkeiten, die in dem Gewerbesteuergesetz selbst beschlossen lagen, hatte es aber noch nicht sein Bewenden. Die Nahrungsmittelhandwerker wurden gegen Ende der vierziger Jahre zusätzlich durch unbedachte Nachwirkungen der Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer hart betroffen. Auch nach der Befreiung der Bäcker und Metzger von dieser antiquierten Abgabe zog man die Meister in den ehemals mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Städten im gleichen Umfang zur Gewerbesteuer heran wie zuvor. Dabei blieb unberücksichtigt, dass die Stadtbewohner mit der Beseitigung der Mahl- und Schlachtsteuer von der Pflicht befreit worden waren, ihren Bedarf an Brot und Fleisch bei den städtischen Nahrungsmittelhandwerkern decken zu müssen. Die Folge der neuen Freiheit war, dass der städtische Markt mit Produkten, welche die rege Konkurrenz von außerhalb herbeischaffte, überschwemmt wurde. Nach Schätzungen des westfälischen Provinzial-Handwerker-Vereins aus dem Jahre 1853 kam mehr als ein Drittel, häufig sogar die Hälfte des täglichen Konsumquantums an Nahrungsmitteln aus den umliegenden Landgemeinden auf die städtischen Märkte.104 Diesen Anteil dürfte die Zulieferung von auswärts schon bald nach Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer in den Jahren 1846 bis 1848 erreicht haben. Entsprechend hoch waren die Umsatzeinbußen der ortsansässigen Bäcker und Metzger in den ehemals mahl- und schlachtsteuerpflichtigen Städten. Die daraus resultierenden Einnahmeausfälle wurden bei der Veranlagung zur Gewerbesteuer in keiner Weise steuermindernd berücksichtigt, obgleich der offen zu Tage liegende Sachverhalt den Behörden natürlich bekannt war. Zahllose Beschwerden der betroffenen Handwerker in dieser Angelegenheit richteten ebenso wenig aus wie die Bemühungen des westfälischen Provinzial-Handwerker-Vereins beim Berliner Handels- und Gewerbeministerium.
102 Eheberg (1927), S. 1068–1100 (1070). 103 S. dazu Trende (1933), S. 227, der sich auf eine Denkschrift über den Zustand der westfälischen Wirtschaft bezieht; ebenso Henkel/Taubert (1979), S. 52, 53. 104 S. Schreiben des „Vorstandes des Provinzial-Handwerker-Vereins in Vertretung sämtlicher Handwerker-Vereine, Gewerberäte und Innungen der Provinz Westfalen“ v. 21.2.1853 an das Handels- und Gewerbeministerium, in: STAM, Reg. Münster, Nr. 5781.
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Nach alledem widersprach die Ermittlung der Erträge der Gewerbebetriebe, die noch immer nach äußeren, allzu rohen Kriterien erfolgte,105 dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit nicht selten in unerträglicher Weise. Und dieses Ungleichgewicht war den Zeitgenossen sehr wohl bekannt.106 Der angestaute Unmut der Handwerker machte sich deshalb im Jahre 1848 auch in einer Flut von Petitionen gegen die Gewerbesteuer Luft, die den Abgeordneten in Berlin und Frankfurt zugestellt wurden. Die Professionisten zwischen Rhein und Weser forderten nicht nur die Reform der Klassensteuer, sondern mit ebensolchem Nachdruck auch die gänzliche Beseitigung der Gewerbesteuer und deren Ersetzung durch eine progressive Einkommen- und Vermögensteuer sowie eine Besteuerung aller Maschinen, die Handwerksprodukte herstellten.107 Einhellig verurteilten sie, tief beeindruckt von der damals herrschenden und noch kaum bezweifelten Niedergangsthese, dass das Steuerrecht solche Handwerker, die zur Serienfertigung übergingen, belohnte, statt diese von ihrem arbeitsplatzvernichtenden Tun abzuhalten. Dass der Verteilungsschlüssel der Gewerbesteuer für manchen Berufsanfänger und ärmere Professionisten durchaus auch Vorteile brachte, erkannten sie nicht. War doch der Anteil derjenigen, die von der Gewerbesteuer befreit waren, während des gesamten Untersuchungszeitraums außerordentlich hoch. Für die ländlichen Regionen scheint dies die Regel gewesen zu sein: Von den 80 Handwerkern, die im Jahre 1821 im münsterländischen Dorf Greven arbeiteten, zahlte nur ein einziger, ein Weber, Gewerbesteuern.108 Im Kreis Hamm waren noch im Jahre 1867 nur 7,9 %,109 im Kreis Lüdinghausen 1861 nicht mehr als 10 % der Handwerker110 gewerbesteuerpflichtig. Selbst im früh industrialisierten Kreis Hagen waren es 1867 nicht mehr als 14,2 % der Meister, die Gewerbesteuern zahlten.111 Nicht viel anders war die Situation in den Städten: Von 87 Schuhmachermeistern, die Paderborn im Jahre 1864 zählte, betrieben nur 7, also 8 %, ihr Handwerk in steuerpflichtigem Umfang.112 Von über 1.000 Meistern, die das wohlhabende Münster 1845 aufwies, zahlten nur 21 % Gewerbesteuern.113 Ähnlich war es in Dortmund, wo 1830 nicht mehr als 22,6 % der Meister gewerbesteuerpflichtig waren (1825: 15,8 %).114 Im gesamten Regierungsbezirk Münster standen den 933 Bäckern und 521 Fleischern, die dort 105 106 107 108
109 110 111 112 113 114
Eheberg (1927), S. 1068–1100, (1070, 1071). Hasemann, Art. Gewerbe (1856), in: Ersch und Gruber (Hrsg.), Bd. 65, S. 388. S. Anm. 79. Herrmann/Schründer (1938), S. 50. Diese und die folgenden Daten sind jeweils errechnet nach den Zahlenangaben der einzelnen Fundstellen. Die Nahrungsmittelhandwerker sind nicht berücksichtigt. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Gewerbesteuerstatistiken des westfälischen Handwerks im 19. Jahrhundert würde den Rahmen der hier behandelten Thematik sprengen. Statistik des Krs. Hamm (1870), S. 118. Übersicht über die Verhältnisse des Krs. Lüdinghausen für 1862, S. 12 (ohne Berücksichtigung der Müller); dabei stellten Bäcker und Metzger jeweils mehr Steuerpflichtige als alle übrigen Handwerker zusammen. Hohorst (1977), S. 205. Schreiben v. 29.2.1864, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 787. Göken (1925), S. 32. v. Winterfeld, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII 125, Bd. 1, S. 88.
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im Jahre 1865 zur Gewerbesteuer herangezogen wurden, insgesamt nicht mehr als 924 steuerpflichtige Handwerker aus allen übrigen Handwerksberufen zusammengenommen gegenüber.115 Bestätigt werden diese Zahlen durch entsprechende Angaben aus anderen Regionen Preußens: Im Regierungsbezirk Trier betrug der Anteil der Besteuerten an der Gesamtzahl der Meister 1850 nur 5,2 %. 1860 war er geringfügig auf 5,9 % angestiegen.116 In Berlin schwankte der Anteil der gewerbesteuerpflichtigen Handwerker in den Jahren 1829 bis 1850 zwischen 27,2 % (1829) und 16,9 % (1849).117 Die Masse der Handwerker war demnach ständig von der Gewerbesteuer befreit. Die wenigen leistungsfähigen Handwerksbetriebe in den Städten, vor allem aber die generell verpflichteten Nahrungsmittelgewerbe der Bäcker, Fleischer, Müller und Brauer hatten die Hauptlast des Steueraufkommens zu tragen.118 Sie zahlten im Regierungsbezirk Münster im Jahre 1865 durchschnittlich:119 Bäcker 4 2/3 Thl., Fleischer 5 1/4 Thl., sonstige Handwerker (mit mehr als einem Gesellen): 4 1/2 Thl. Die insgesamt doch recht großzügige Behandlung der Handwerker lässt die zahlreichen Ungereimtheiten des Gesetzes in milderem Lichte erscheinen. Vermutlich auch deshalb veranlasste der massenhafte Protest des Jahres 1848 den Gesetzgeber nicht, das Gewerbesteuerrecht zu reformieren. Die pflichtigen Handwerker suchten – und fanden – schließlich auch so Mittel und Wege, sich die Last zu erleichtern. An dem geforderten Respekt vor dem Willen des Gesetzgebers mangelte es auch in Westfalen allenthalben.120 In zahlreichen Amtsblattbekanntmachungen wurde deshalb unermüdlich auf die Pflicht zur Zahlung der Gewerbesteuer hingewiesen.121 Wiederholtes Einschärfen der Bestimmungen, ständiges Anprangern der Verstöße und regelmäßiges Veröffentlichen einschlägiger Bestrafungen halfen wenig; Parallelen zur heutigen Steuermoral drängen sich auf. Erst die Novelle des Gewerbesteuergesetzes vom 19.7.1861 beseitigte einige der Missstände der bis dahin geltenden Regelung.122 Seither begründete die Lagerhaltung nicht mehr in jedem Fall die Steuerpflicht; der Finanzminister wurde vielmehr ermächtigt, Befreiungen auszusprechen, solange der Warenvorrat des Gewer-
115 116 117 118 119 120
König (1865), S. 57. Kaufhold (1975), S. 184. Bergmann (1973), S. 203. S. dazu Hoffmann (1840), S. 212. S. König (1865), S. 57. S. Schreiben v. 22.1.1831, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2774, Bd. 1; desgl. Schreiben von vier Zimmermeistern aus dem Krs. Siegen an die Reg. Arnsberg v. 18.8.1835, in: STAM, Reg. Arnsberg I 19 Nr. 19, Bd. 1; desgl. Schreiben des Hauptzollamtes Paderborn an den dortigen Stadtdirektor v. 5.4.1836, in: Stadtarchiv Paderborn A 298. 121 Zu Verstößen gegen die Gewerbesteuervorschriften s. Amtsbl. Reg. Minden: 11.7.1818, S. 288 (Verordnung v. 3.7.1818); 9.3.1819, S. 210, 211; 31.5.1827 (Verordnung v. 23.5.1827), S. 223; 2.8.1833, S. 205, 206 (Verordnung v. 28.7.1833); 30.10.1835, S. 154. Amtsbl. Reg. Arnsberg: 1.5.1824, S. 214; 29.3.1828, S. 107, 108; 20.9.1828, S. 356, 357; 7.9.1839, S. 248, 249. Amtsbl. Reg. Münster: 24.8.1822, S. 331, 332. 122 Schürhoff (1927), S. 10.
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VI. Das städtische und staatliche Finanzwesen
betreibenden nur von geringem Umfang war.123 Die Großbetriebe wurden aber auch nach der Reform noch immer nicht ihrer wirklichen Leistungsfähigkeit entsprechend zur Steuer herangezogen, und die notorische Überbelastung der Bäcker und Fleischer fand erst mit dem Gesetz vom 5.6.1874 ein Ende.124 Die beiden Berufe wurden seitdem den Handelsklassen zugeordnet. Das Gewerbesteuerrecht insgesamt erhielt schließlich durch das Gesetz vom 24.6.1891125 eine neue Grundlage. 4. Zusammenfassung Schon der konzise Überblick über die Steuergesetzgebung vom Ende des 18. bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zeigt, dass die Entwicklung, sieht man von den im Vergleich zur Gegenwart zumeist relativ niedrigen Steuersätzen einmal ab, nicht zu Gunsten des Handwerks verlaufen ist. Hatte das 18. Jahrhundert vor allem den bäuerlichen Grundbesitz zu den öffentlichen Abgaben herangezogen,126 so beschwerte das 19. Jahrhundert – jedenfalls bei Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit – die Gewerbetreibenden stärker als die Grundbesitzer.127 Seit der Einführung der Gewerbefreiheit waren alle Gewerbetreibenden, auch die bis dahin weitgehend verschonten Landhandwerker, zur Steuer veranlagt worden. Mit der Reform des Jahres 1820 änderte sich dies insoweit, als künftig nur mehr der kleinere Teil des Handwerks mit der Gewerbesteuer beschwert war. Die neuen Steuergesetze brachten demnach keine gleichmäßige Entlastung des Gewerbes, sondern eine neue Differenzierung. Da der handwerkliche Kleinbetrieb, der auf dem Lande und in den geringen Städten dominierte, nicht gewerbesteuerpflichtig war, kam es – ganz wie zur Zunftzeit – zu einer steuerlichen Besserstellung der Handwerker in den ländlichen Regionen. Gleichzeitig wurden – auf der anderen Seite des gewerblichen Spektrums – auch die über die engen Grenzen des Handwerks hinausgewachsenen Industriebetriebe dank der günstigen Maximalsteuersätze außerordentlich bevorzugt – ein Effekt, der nicht nur die Leistung unterneh123 S. Anweisung zur Ausführung des Gesetzes v. 19.7.1861, betr. einige Abänderungen des Gesetzes wegen Entrichtung der Gewerbesteuer v. 30.5.1820, in: Amtsbl. Reg. Minden 1861, S. 296; Amtsbl. Reg. Münster v. 14.9.1861, S. 219–224; Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 31.8.1861 (Extrablatt). 124 Pr. Ges. Sammlung 1874, S. 219. 125 Pr. Ges. Sammlung 1891, S. 205. 126 Diese Erscheinung war allgemein: Für Ostwestfalen s. Henning (1970). Als typisch können auch die Verhältnisse Sachsens angesehen werden. Als von Heynitz seine Berechnungen über die Staatswirtschaft Sachsens um 1786 anstellte, zeigte sich, dass dort Bauern und Landarbeiter 31,25 % ihrer Einkünfte als Abgaben entrichteten, Handwerker und „Kapitalisten“ 18,5 %, Rittergutsbesitzer 10,4 %, die Bergwerke 27,7 %, während die Kirche und die Domänen befreit waren; s. Kellenbenz (1977), Bd. 1, S. 383. 127 So Bergius (1857), S. 69; ähnlich Wagner (1890), S. 16. Die Belastung der nichtadligen Grundbesitzer war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings auch nicht gering: Sie betrug 20–25 % des Reinertrages. Erst in den sechziger Jahren kam es zu einer Senkung der Steuerquote. Neben den Abgaben hatten die Grundbesitzer auch noch die Ablösungen aufzubringen.
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mender Persönlichkeiten belohnen, sondern vor allem die notwendige Kapitalbildung fördern sollte. Übrig blieb die stärkere Inanspruchnahme des handwerklichen Mittelstandes. Gleichwohl maß Adolf Wagner der Gewerbesteuer insgesamt keine allzu große Bedeutung zu: „Es ist zu beachten, dass die Gewerbesteuer eigentlich nur in den wirtschaftlich bedeutenderen Städten eine merkliche Belastung des Gewerbebetriebes bilden sollte, in den anderen und auf dem Lande mehr nur als mäßiger Zuschlag zur Classensteuer fungierte“.128 Die Benachteiligung des Stadthandwerkes wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die ungerechte, da einseitig belastende Mahl- und Schlachtsteuer außerordentlich verstärkt. Der die Kapitalbildung behindernde, die Entwicklungsmöglichkeiten des Handwerksbetriebes hemmende Einfluss staatlicher Steuerpolitik auf diesen, den leistungsfähigsten Teil des Handwerks, war wohl größer, als die Professionisten selbst wahrhaben wollten.129 Das in der Handwerkerbewegung des Jahres 1848 tonangebende Stadthandwerk überschätzte in traditioneller Weise die Bedeutung gewerblicher Verfasstheit für das Wirtschaftsgeschehen. Trotz der zahlreichen Proteste gegen die Mängel der Steuergesetzgebung machten die Meister vor allem die Gewerbefreiheit für ihr schlechtes Betriebsergebnis verantwortlich, statt – mit vielleicht größerem Recht – die Abgaben, die jedenfalls dem lebenskräftigsten Teil der Handwerkerschaft aufgebürdet waren, als eine der wesentlichen Ursachen ihrer Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation im 19. Jahrhundert zu erkennen. Nach Ritter lagen der offenbaren Ungleichbehandlung von Stadt- und Landhandwerk keine raumordnerischen Gesichtspunkte, sondern die tradierte Annahme zugrunde, dass die Leistungsfähigkeit des Landhandwerks generell geringer als die des Stadthandwerks sei.130 Das traf zwar zu, war aber nur die halbe Wahrheit. Die steuerliche Sonderung von Stadt und Land war nicht allein Ausdruck der Rücksichtnahme auf den – tatsächlich oder angeblich – wirtschaftlich schwächeren Teil der Bevölkerung. Sie war vor allem politisch motiviert und eine Konzession an die altständische Partei in Preußen. Nicht ohne Grund begrüßte der einem konservativen Sozialmodell das Wort redende münsterische Landtagsmarschall Freiherr vom Stein, Gutsherr auf Cappenberg, die hohe indirekte Besteuerung der großen Städte, welche, wie bereits festgestellt, die Abwanderung vom Land in die Stadt für einige Zeit fast völlig zum Erliegen brachte.131
128 Wagner (1890), S. 20. 129 So schon Bergius (1857), S. 65. Zu den Stadt-Land-Beziehungen des Handwerks s. Kaufhold (1975). 130 Ritter (1961), S. 131. 131 Gembruch (1960), S. 215.
VII. DAS HANDWERK IN DER POLITISCHEN UND SOZIALEN UMWELT A. DIE POLITISCHE REPRÄSENTATION DES KLEINGEWERBES 1. Die Städte a. Die Übergangszeit Mit der völligen Umgestaltung der politischen Struktur der Stadtverwaltungen und Regierungen in Westfalen nach der territorialen Neugliederung der Jahre 1802/03 wurde die innere Übereinstimmung der Zunftorganisation mit dem komplizierten Gefüge der Lokalgewalt überall beseitigt. Durch die Änderung der Kommunalverfassung verloren die Korporationen ihre Funktion als Stützpfeiler des tradierten Regierungs- und Verwaltungssystems vollständig. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Einfluss der korporativen Gewalt auf die Stadtverwaltung nicht allein in den im 18. Jahrhundert bereits preußischen Landesteilen Westfalens, sondern auch in den 1802/03 von der Monarchie neugewonnenen ehemaligen geistlichen Staaten beseitigt wurde.1 Auch vor den kleinen, damals neugeschaffenen Territorien Westfalens machte die einmal angestoßene Entwicklung nicht halt: Nach französisch-preußischem Vorbild griffen diese Staaten ebenfalls in die tradierte Kommunalverfassung ein und beschnitten die Selbstverwaltungsrechte erheblich. Die Fürstentümer Rheina-Wolbeck2 und Salm schritten auch hier voran. 1806 erging an die Stadt Bocholt eine Verfügung, welche die Stadtverfassung abänderte, den Magistrat reorganisierte und den Einfluss der Ämter und Gilden auf die öffentlichen Angelegenheiten ausschaltete.3 Im Herzogtum Arenberg blieben den Gildenmeistern lediglich bestimmte Aufgaben bei der Revision der Stadtkasse.4 Auch im nunmehr hessischen Herzogtum Westfalen wurden die Selbstverwaltungsrechte der Gemeinden erheblich beschnitten und die Stadtverwaltungen zur untersten Ebene der Staatsverwaltung degradiert. Schultheißen, die von herzoglichen Amtmännern abhingen, administrierten Städte wie Dörfer gleichermaßen. Dem beigeordneten Gemeinderat verblieb lediglich die Verwaltung des Gemeindevermögens. Die städtische Selbstverwaltung erlosch.5 1 2 3 4 5
S. dazu Deter (1990), S. 260, 261. S. Darpe (1875), S. 134. Reigers (1966), S. 45, 46. Verordnung des Herzogl. Arenbergischen Statthalters v. 9.1.1808, in: Scotti (1831), 3. Abt., Nr. 24, Z. 14, S. 53, 54; s. dazu Deter (1990), S. 261. Erst die Schultheißeninstruktion v. 29.2.1812 belebte die Mitwirkung der Eingesessenen bei den öffentlichen Angelegenheiten wieder neu. Sie führte eine immerhin rudimentäre Gemein-
A. Die politische Repräsentation des Kleingewerbes
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So hatten die auf westfälischem Boden Herrschaft ausübenden Staaten die jahrhundertealte Teilhabe der Zünfte an der öffentlichen Gewalt in den Kommunen bereits weitestgehend beseitigt und damit den zentralen Pfeiler des Zunftgebäudes demontiert, als die französische Verwaltung mit ihren radikaleren Lösungsmodellen in Westfalen Herrschaft auszuüben begann. Der Errichtung des Königreichs Westphalen und des Großherzogtums Berg folgte sogleich die Einführung der französischen Munizipalverfassung.6 Diese beruhte auf einem Dekret Napoleons v. 18. Dezember 1808, „die Verwaltungsordnung des Großherzogtums Berg enthaltend“.7 Das Gesetz war der durch Verordnung v. 17. Februar 1800 angeordneten französischen Kommunalverfassung nachempfunden.8 Die Vorschriften beseitigten mit bis dahin unbekannter Radikalität die Reste organisch gewachsener Strukturen der Kommunalverwaltung in den ehemals geistlichen Staaten Westfalens ebenso wie die Ruinen städtischer Selbstverwaltung in den vormals preußischen Landesteilen, welche die Zentralisierungspolitik des absoluten Staates zurückgelassen hatte. Die Kommunen, zum Teil damals erst geschaffen, bildeten nunmehr staatliche Verwaltungsbezirke mit ernannten Maires, Adjunkten und Munizipalräten. Die neue Ordnung galt, ganz im Gegensatz zu den bis dahin bestehenden, scharf differenzierenden Regelungen erstmals für Städte und Landgemeinden gleichermaßen. Seither wurden die Gemeinderäte auf Vorschlag des jeweiligen Maire durch die Präfektur ernannt; die Vertretungskörperschaft führte als beratendes Gremium ohne exekutive und legislative Funktionen ein bloßes Schattendasein, da alle ihre Beschlüsse von der staatlichen Genehmigung abhängig waren.9 Natürlich kann gar nicht geleugnet werden, dass die französische Gesetzgebung den Handwerkern im ökonomischen und privaten Bereich größtmögliche Bewegungsfreiheit, Rechtsgleichheit und Freiheit der Arbeit gebracht hatte. Politische Freiheit und Mitwirkungsrechte in ihrem Gemeinwesen besaßen sie dagegen weni-
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devertretung von zwei bis drei frei gewählten Deputierten ein, an deren Zustimmung der Schultheiß gebunden war. Bzgl. Grhzgt. Berg s. Gesetz-Bulletin Grhzgt. Berg, Erste Abt. (1810), S. 196; STAM, Regierung Münster, Nr. 322; 1811/12 wurde auch die Kommunalverwaltung in den ehemals selbständigen westmünsterländischen Territorien nach französischem Muster organisiert, s. Reigers (1966), S. 67. Gesetz-Bulletin Großherzogtum Berg. Erste Abt. (1810), No. VII, S. 196 ff.: Die neue Kommunalverfassung war zuvor schon durch das Dekret v. 13. Okt. 1807 in Siegen eingeführt worden; s. Organisation die Municipalverfassung der Städte und Gemeinden im Grhzgt. Berg betreffend, v. 13. Oktober 1807, abgedruckt in: Scotti (1821), S. 1106; vgl. Vormbaum (1976), S. 286, 287. v. Maurer (1871), S. 304. Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts s. Steinbach/Becker (1932) sowie Heffter (1950). Steinbach/Becker betonen die Kontinuität zwischen tradierter Stadtverfassung und kommunaler Selbstverwaltung des 19. Jahrhunderts, während Heffter den Neuanfang zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorhebt; s. dazu auch Hartlieb v. Wallthor (1956), S. 26–44 und Haase (1965), S. 178, 203; Ester (1981/82), S. 7–55; G. Filbry (1957), S. 168–234; zur Verfassungsgeschichte Münsters während der Franzosenzeit noch immer grundlegend Hülsmann (1905); s. auch Spies (1977/78) und Lahrkamp (1976) sowie Schönbach (1991). Zu dem Umbruch in den Städten grundlegend Gall (1991) sowie Gall (1993); vgl. dort insbesondere auch den Beitrag von Schambach.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
ger denn je. Sie konnten weder wählen noch zum Vertreter der Gemeinde gewählt werden. Waren sie, was nur in ganz seltenen Fällen vorkam, zu diesem Ehrenamt ausersehen und besaßen sie einen Sitz im Munizipalrat, so durften sie nur beraten, vorschlagen und prüfen; im Übrigen blieb ihnen nichts als abzuwarten, was der allmächtige Präfekt beschloss. Eine solche Ordnung war naturgemäß nicht geeignet, dass Vertrauen der Bürger in die Kommunalverwaltung zu stärken. Folge der Oktroyierung der französischen Munizipalverfassung in Westfalen war, dass die Handwerker als Subjekte, als Anreger und Träger städtischer Politik endgültig ausschieden. Sie sanken zu bloßen Objekten des Staatswillens herab, und der wenig einflussreiche Munizipalrat stand dieser Entwicklung nicht im Wege. Das Niedergangssyndrom des Kleingewerbes, das damals entstand und auf Meistern wie Gesellen während des ganzen 19. Jahrhunderts lähmend lastete, wurde durch das bereits erwähnte Verschwinden der rechtlichen Unterscheidung von Stadt und Land nachhaltig genährt. Die Stadtmeister stellten ernüchtert fest, dass sie plötzlich zu eben jener Bedeutungslosigkeit im politischen Leben verurteilt waren, die nach ihrem Dafürhalten allein den Landhandwerkern zur Nichtachtung gereichen sollte. Als wenig später mit der Aufhebung der Zünfte auch die wichtigste Quelle gesellschaftlichen Ansehens der Handwerker, ihr genossenschaftlicher Zusammenhalt, verschüttet wurde, blieb Meistern wie Gesellen in der Tat kein objektives Kriterium für die Abgrenzung gegen die unteren Schichten der unqualifizierten Handwerker, der Tagelöhner, Knechte und Mägde mehr übrig.10 Die bis dahin in den Stadtgemeinden jedenfalls partiell noch erhebliche soziale Reputation der Kleingewerbetreibenden verflüchtigte sich. Wie sich der Verlust des politischen Einflusses der Handwerker im Sozialgefüge einer westfälischen Mittelstadt auswirkte, lässt sich am Beispiel Warendorfs eindrucksvoll zeigen.11 Fast gleichzeitig mit der Entmachtung der korporierten Professionisten kam es dort im Jahre 1810 zum Zusammenschluss des städtischen Handelsbürgertums, der Akademiker und Beamten in einem Geselligkeitsverein. Dessen Mitglieder stellten den größten Teil der städtischen Funktionsträger Warendorfs in der bergischen Zeit und in den folgenden Jahrzehnten unter preußischer Herrschaft. Der Wandel war derartig tiefgreifend, dass kein Mitglied des Stadtrates aus der Zeit vor 1804 im Jahre 1816 noch in diesem Gremium vertreten war. Die lokale Führungsschicht Warendorfs war völlig ausgewechselt worden: Die Stelle des zünftig organisierten Handwerker-Bürgertums nahm nunmehr das Wirtschaftsbürgertum der Kaufleute und Fabrikanten ein.12 10
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Zur Zunftzeit war die Sonderung der Zunfthandwerker von den Unterschichten in manchen Städten zusätzlich zu den Stadtrechten und Zunftordnungen durch Polizeiordnungen aufrechterhalten worden. So bildeten die Mitglieder der zehn Ämter und Gilden in Bielefeld nach der dortigen Polizeiordnung aus dem Jahre 1662 den dritten Stand; damit waren sie von den übrigen Handwerkern, Tagelöhnern, Knechten und Mägden des vierten Standes streng geschieden; s. Schubart (1835), S. 58. Zum Ehrgefühl der Handwerker vgl. Thamer (1991), S. 81–96. Ester (1981/82), S. 44, 45; für Münster vgl. Engler (1905). Die Umgestaltung der Sozialstruktur der Stadt konnte auch ökonomische Ursachen haben: in Iserlohn waren durch die weitgehende Industrialisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche ehemalige Handwerker zu Arbeitern geworden, so dass ein Mangel an selbständigen Handwerkern entstand.
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Die Entmachtung und schließliche Aufhebung der Korporationen gestaltete die politische Physiognomie der Städte demnach gründlich um. Der Schock, den diese abrupte Veränderung der urbanen Sozialstruktur bei den Zeitgenossen hinterließ, muss tief gewesen sein. Der westfälische Oberpräsident Vincke, ein dezidierter Gegner der Gewerbefreiheit, sprach denn auch vom „Untergang“ der Städte infolge der „rücksichtslosen Übereilung fast aller Gesetzgebungen“ und der „großen Vergessenheit und Undankbarkeit“ des Gesetzgebers gegenüber den Bürgern. Allerdings glaubte er, nur in den großen „Haupt-Residenz- und Stapelstädten“ könne das alte ständische Element fortleben und damit die städtische Autonomie gewahrt bleiben. Nur solche Städte würden, „solange dieses in ihnen besteht, ihre Selbständigkeit behalten, wenngleich auch für sie der Glanz des Mittelalters nicht wiederkehren kann“.13 Zur Kategorie der in diesem Sinne lebensfähigen Kommunen zählte nach Ansicht Vinckes in Westfalen allein Münster. Für alle anderen Städte der Provinz hielt er in der Zukunft eine administrative Trennung vom platten Land für überflüssig, ja unzulässig.14 Der Untergang der Zunftverfassung hatte, wie man sieht, Implikationen, die weit in andere Rechtsbereiche hineinwirkten. b. Die preußische Provinz Westfalen Wegen der territorialen Folgen des Tilsiter Friedens v. 9.7.1807 war die preußische Städteordnung von 1808 im Rheinland und in Westfalen nicht eingeführt worden.15 Erst mit der königlichen Anordnung eines Militärgouvernements für die ehemalige preußische Provinz zwischen Rhein und Weser am 19.11.1813 begann die Reintegration Westfalens in den preußischen Staat.16 Zwar wurde das ALR durch das Patent v. 9.9.1814 ohne rückwirkende Kraft zum 1.1.1815 in den Gebieten zwischen Elbe und Rhein eingeführt, in denen das preußische Recht schon vor dem Frieden von Tilsit gegolten hatte. Für den Teilbereich der Kommunalverfassung allerdings machten die Preußen die französische Rechtsreform nicht rückgängig. Vielmehr bestätigten sie die Munizipalräte in ihrer Funktion. Nach der als Gesetz verkündeten Kabinetts-Ordre v. 13.1.1827 sollte das ALR in Westfalen nur für die Angelegenheiten des Privatrechts verbindlich sein.17 Die Vorschriften des Teil II Tit. 7 Abschn. 2 besaßen demnach dort keine Gültigkeit. So blieb die Gemeindeverfassung in Westfalen weiterhin durch die französischen Gesetze geregelt. Die Munizipalordnung lebte in der Provinz noch für mehr als zwei Jahrzehnte fort.18 Auch unter der preußischen Herrschaft änderte sich demnach zunächst nichts an 13 14
15 16 17 18
Gutachten Vinckes, am 31.6.1818 an den Staatskanzler gesandt, zitiert nach Roebers (1915), S. 11. Auch Vincke hatte aber bereits frühzeitig eingeräumt, dass das Zunft- und Korporationswesen nicht länger geeignet sei, als Grundlage der Vertretung der Bürgerschaft bei der städtischen Verwaltung zu dienen, da nicht alle geeigneten Einwohner einer Zunft angehörten und auch nicht alle Zünfte in jeder Stadt gleichmäßig vertreten seien; s. v. Meiers, Die Reform der Verwaltungsorganisation in Preußen, S. 250 ff., nach: Thiede (1927), S. 53. Die preußische Städteordnung von 1808 (Textausgabe) (1957). S. Scotti (1841), Bd. 3, Nr. 209, S. 192; vgl. auch Kochendörffer (1932) I, S. 149–172. Bergius (1844), S. 243. Die einzige wirkliche Veränderung, die die Bürger im Bereich der Kommunalverfassung fest-
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den fatalen Folgen dieses Gesetzes für die politische Mitwirkung und Interessenvertretung der Handwerker. Signifikant waren die Machtverhältnisse in der Provinzialhauptstadt: Unter den 62 zwischen 1809 und 1835 ernannten Gemeinderäten der Stadt Münster befanden sich lediglich 7 Handwerker.19 Auch unter den 24 Mitgliedern, die der Soester Stadtrat im Jahre 1822 aufwies, überwogen die Akademiker, Kaufleute und Landwirte. Nur ein Färber vertrat damals den ausgedehnten Handwerkerstand der Börde-Stadt.20 Berücksichtigt man, dass die Gemeindevertretung kaum wirkliche Rechte hatte, kann man demnach für die ersten Jahrzehnte der preußischen Herrschaft in Westfalen getrost von der Fortdauer der beinahe völligen Ausschaltung des Handwerkerstandes von jedweder kommunalen Interessenvertretung sprechen. Sich mit ihrem jähen Sturz abzufinden ließen sich die Meister aber niemals herbei. Sie alle waren während der auf die Zunftaufhebung folgenden Jahrzehnte tief erfüllt von der Urangst des Kleinbürgers vor dem Abstieg ins Proletariat. Die Vorstellung, ohne feste Abgrenzungsnormen gegenüber den Unterschichten dem sozialen Niedergang hilflos ausgeliefert zu sein, schreckte sie ebenso sehr wie die stets gegenwärtige – und jedenfalls für die von der Industrie bedrängten Sparten begründete – Furcht vor der Verarmung. Die zahlreichen Petitionen aus den dreißiger und vierziger Jahren sprechen eine beredte Sprache. Dort wird wieder und wieder der Verfall des gesellschaftlichen Ansehens der Professionisten beklagt; das „ehrbare Handwerk“ der Zunftzeit sei zum „Proletariat“ verkommen. Die wirkliche oder vermeintliche Deklassierung lasteten die Meister allein der Einführung der Gewerbefreiheit an. Dass sie ihren politischen Einfluss nicht unmittelbar durch die Liberalisierung ihrer Berufsordnung, sondern bereits früher, durch die Suspendierung der mittelalterlichen Stadtrechte und die Einführung einer handwerksfeindlichen, einseitig das Großbürgertum privilegierenden Kommunalverfassung verloren hatten, war den Nachgeborenen nicht mehr gegenwärtig.21 Die vielgliedrige Reformgesetzgebung reduzierte sich im Denken der Handwerker schließlich ganz auf die ungeliebte Gewerbefreiheit. Allerdings stieß der Zustand der Kommunalverfassung in Westfalen je länger je mehr auch außerhalb des Handwerks auf Ablehnung. Die als notwendig empfundene Neuordnung fand dort in dem Freiherrn vom Stein ihren bedeutendsten Anreger. In seiner im September des Jahres 182622 verfassten Denkschrift an Ingersleben perhorreszierte er die bestehenden Verhältnisse und forderte dringlich die „Einführung einer neuen Städteordnung in den westlichen Provinzen“. Der derzeitige kommunalverfassungsrechtliche Zustand sei, so klagte Stein, unhaltbar, da die Ge-
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stellen konnten, bezog sich auf die Titulatur. Nach dem Abzug der Franzosen führten die Maires wieder den Titel „Bürgermeister“, s. Reigers (1966), S. 83. Filbry (1957), S. 229–231. S. Geck (1825), S. 149. Lenger weist darauf hin, daß der Einfluß des Kleinbürgertums in den Städten Süddeutschlands dagegen “beachtlich” geblieben sei; vgl. Lenger (1988), S. 65. Wie gering das soziale Ansehen der Handwerker nach Einführung der Gewerbefreiheit tatsächlich war, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass es den Handwerkern und Tagelöhnern in der Stadt Soest untersagt war, die Jagd auszuüben. S. Geck (1825), S. 204. S. Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften 7. Bd. (1969), S. 31 ff.
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meinde von aller Teilhabe an ihren ureigensten Angelegenheiten ausgeschlossen sei. Die Reformbestrebungen hatten schließlich Erfolg. Die französische Gemeindeverfassung wurde in Westfalen durch die Revidierte Städteordnung vom 17.3.183123 abgelöst, während sich für die Landgemeinden zunächst noch keine Änderungen ergaben. Das neue Gesetz basierte auf der Steinschen Städteordnung v. 19.11.1808;24 was man daran erkennen konnte, dass die dort vorgesehenen Organe auch nach der Modifizierung des Gesetzes erhalten blieben. Neben dem Magistrat, dem Bürgermeister sowie den sog. „gemischten Deputationen“ bildete die Stadtverordnetenversammlung das Hauptorgan der Kommune. Sie wurde von allen stimmfähigen Bürgern frei gewählt. Doch blieb, mit ausdrücklicher Billigung Steins und des ersten westfälischen Provinzial-Landtages, der das Wahlrecht noch weiter einengend von der Steuerkraft der Bürger bei gleichzeitiger Erhöhung des Zensus abhängig machen wollte,25 das Bürgerrecht und damit das Wahlrecht an Eigentum und Bildung geknüpft. Bürger war derjenige, der an öffentlichen Geschäften der Stadtgemeinde durch Abstimmung bei den Wahlen teilnehmen konnte (§ 1). Jeder, der im Stadtbezirk Grundeigentum mit einem gewissen Mindestwert – in kleineren Städten nicht weniger als 300 Tl., in großen nicht über 2.000 Tl. – besaß oder der ein Gewerbe betrieb, dessen reine Einnahmen jährlich je nach der Regelung des Statuts mindestens 200 bis 600 Tl. betrug, musste das Bürgerrecht erwerben (§ 15). Alle anderen Einwohner, die aus sonstigen Quellen ein reines Einkommen von wenigstens 400– 1.200 Tl. (je nach Statut) nachweisen konnten und wenigstens seit 2 Jahren in der Stadt wohnten, waren berechtigt, aber nicht verpflichtet, das Bürgerrecht zu erwerben (§ 16). Dies alles betraf nur die Stimmberechtigung des Bürgers. Seine Wählbarkeit unterlag einem nochmals verschärften Zensus für Grundbesitz und Einkommen: Besitz eines Grundeigentums von mindestens 1.000 bis 12.000 Reichstalern (je nach Größe der Stadt und Bestimmung der städtischen Satzung) oder ein jährliches reines Einkommen von mindestens 200 bis 1.200 Talern waren Voraussetzung für das passive Wahlrecht. Die genaue Festsetzung des Zensus für Stimmberechtigte und Wählbare blieb in jedem Fall dem Statut überlassen (§ 56). Demnach standen nach der Revidierten Städteordnung die Höhe des Einkommens und der Umfang des Besitzes in direktem Verhältnis zum Maße der politischen Freiheit. Nur die Führung eines gutgehenden Handelsunternehmens, der Besitz eines größeren Hauses oder die Tätigkeit als Beamter sollte nach dem Willen des Gesetzgebers jene Fähigkeit und Bildung gewährleisten, die zur Leitung der Stadtgeschäfte erforderlich war. Vom Bürgerrecht und damit vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben, wie im 18. Jahrhundert auch, die sog. Schutzverwandten, die ihren Wohnsitz im Stadtbezirk hatten (§ 24). Sie besaßen auf die „Rechte wirklicher Bürger, welche diesen als 23 24 25
Ges. Sammlung für die Kgl. Pr. Staaten (1831), S. 9 ff.; s. dazu Huber (1957), Bd. 1, S. 176; vgl. auch Hoffmann (1847); bzgl. Westfalen wichtig Wex (1997). S. v. Rohrscheidt (1898), S. 357 ff.; Riedel (1861), S. 184. Der Landtag wollte die „ungebildete Klasse“, also auch die Handwerker, möglichst bei den Wahlen ausschalten; s. Roebers (1915), S. 61.
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Mitglied der Stadtgemeinde zukommen …, keinen Anspruch“,26 waren nichtsdestoweniger aber in einem bestimmten Rahmen verpflichtet, die Gemeindelasten mit zu tragen. Immerhin gewährleistete die Städteordnung des Jahres 1831 den städtischen Einwohnern ein zwar abgestuftes und begrenztes, aber doch größeres Maß an politischer Mitwirkung, als es die französisch-bergische Kommunalverfassung vorgesehen hatte. Dennoch bevorzugte auch sie unübersehbar das obere, meist liberale Bürgertum. Die neue Ordnung wurde zunächst nur freiwillig und gebietsweise eingeführt, in Westfalen vorab in Bielefeld, Dortmund, Herford, Höxter und Minden. Insgesamt entschlossen sich 58 westfälische Städte zu der Reform. Welche Mitspracherechte die Revidierte Städteordnung von 1831 den Handwerkern einräumte, lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel, demjenigen Siegens etwa, einer typischen Mittelstadt der Provinz Westfalen, zeigen. Von den 580227 Einwohnern des Ortes im Jahre 1839 zählten die Wahllisten 917 Bürger. Gewählt wurde in drei Abteilungen, getrennt nach Bezirken. Wählbar waren in Siegen nur diejenigen Bürger, welche in ihrem Stadtbezirk ein Grundeigentum von wenigstens 3.000 Talern besaßen oder über ein jährliches Einkommen von 400 Talern verfügten. Nach der amtlichen Liste von 1838 waren 156 Bürger vorhanden, die diese Bedingungen erfüllten. Und in der Kleinstadt Rheine waren um die Mitte des Jahrhunderts nur 46 von 169 Handwerkern wahlberechtigt; dazu zählten alle Bäcker und Brauer, aber nur zwei von drei Uhrmachern und fünf von zehn Tuchmachern. Von 14 Schuhmachern waren jedoch nur zwei und von dreizehn Schneidern war einer wahlberechtigt.28 Damit blieb natürlich die Masse der Handel- und Gewerbetreibenden weiterhin gänzlich von der Möglichkeit ausgeschlossen, die öffentlichen Angelegenheiten aktiv mitzugestalten. Ebenso verhielt es sich in den anderen größeren Kommunen: Von den 18 Stadtverordneten in Bielefeld, die im Jahre 1834 gewählt wurden, übten nur zwei ein Handwerk aus.29 Es gab allerdings auch Städte, in denen die Professionisten ihre politische Rolle noch nicht ausgespielt hatten. Dies zeigte sich in Lippstadt schon bei der ersten Stadtverordnetenwahl nach der Einführung der Revidierten Städteordnung im Jahre 1835: Trotz des hohen Zensus wurden dort nicht nur präpotente Kaufleute, sondern auch Vertreter zahlreicher alter Handwerksfamilien gewählt. Dieser geschlossene Kreis ehemals ratsfähiger Familien der Stadt hatte in den langen Jahrhunderten zünftischer Mitherrschaft bedeutende Vermögen angesammelt, die deren Angehörigen auch für die Zukunft die Teilhabe an der städtischen Administration sicherten.30 Ähnliches lässt sich für Münster feststellen. Bei der Stadtverordnetenwahl des Jahres 1835 waren von den 535 dort wählbaren Personen immerhin 137 Handwerker,31 eine
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§ 43 der Preußischen Städteordnung v. 19. Nov. 1808, in: Altmann (1897) T. II, S. 9. Anzahl der Einwohner der Stadt Siegen im Jahre 1839, in: Gemeindestatistik des Landes NRW (1966), S. 257. Schenck (1820), S. 74 und Kocka (1990), S. 324. Spies (1977/78), S. 77, 78. S. Klockow (1964), S. 229. S. Filbry (1957), S. 233, 234.
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durchaus respektable Zahl, wenn man die groß- und bildungsbürgerlich geprägte Struktur der Provinzial-Hauptstadt in Rechnung stellt. Trotz des den meisten Handwerkern ganz und gar ungünstigen Zensus besaß die Revidierte Städteordnung aber doch auch handwerksfreundliche – und das hieß damals nichts anderes als restaurative – Elemente. So versprach das Gesetz die Wiederherstellung der Zunftordnung,32 während die Städteordnung von 1808 noch die Aufhebung der Zünfte angekündigt hatte.33 In der Tat beabsichtigte der preußische Gesetzgeber zu Beginn der dreißiger Jahre, die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen der durch das berufsständische Klassenwahlrecht restaurierten ständischen Ordnung nicht zuletzt durch die Wiederbelebung der verblichenen Gewerbeverfassung zu festigen.34 Dazu kam es zunächst aber nicht. 1841 erging immerhin die Landgemeindeordnung für Westfalen, die in den 39 Städten, welche die Revidierte Städteordnung von 1831 bis dahin noch immer nicht eingeführt hatten, Eingang fand.35 Mit dem Erlass dieser neuen Kommunalverfassung ließen sich aber keine dauerhaften Verhältnisse schaffen. Schon wenige Jahre später brachte die Revolution des Jahres 1848 die Allgemeine Gemeinde-Ordnung v. 11.3.185036 hervor, die für Stadt- und Landgemeinden gleichermaßen galt. Dieses neue Gesetz war bestrebt, die Staatsaufsicht wieder zu beschränken und den Gemeinden größere Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Die Ordnung sah neben dem Gemeindevorstand einen nach dem Dreiklassenwahlrecht bestimmten Gemeinderat vor. Doch wollte sich die zu Beginn der fünfziger Jahre wieder erstarkende Reaktion nicht einmal mit den geringen Zugeständnissen dieses Gesetzes abfinden. So ließ sie dessen weitere Einführung bereits wieder aussetzen, als es erst in wenigen Städten wirksam geworden war.37 Durch Gesetz v. 24.5.185338 wurde die Gemeindeordnung auch förmlich aufgehoben. Die damit erforderliche Neuregelung des Gegenstandes ließ nicht lange auf sich warten. Die restaurative „Städteordnung für die Provinz Westfalen“ v. 19.3.185639 löste das Gesetz v. 17.3.1831 in jenen Städten ab, welche die Revidierte Städteordnung nicht eingeführt hatten. Nach § 13 dieser neuen Städteordnung konnten die stimmfähigen Bürger seither nach dem Dreiklassenwahlrecht, das bereits in der sistierten Gemeindeordnung des Jahres 1850 vorgesehen war, an den Kommunalwahlen teilnehmen. Die Stadtverordnetenversammlung hatte nunmehr eigene Entscheidungsbefugnisse (§ 35) und war auch zur Kontrolle der Verwaltung verpflichtet (§ 37). Mit dem Dreiklassenwahlrecht wurde die für lange Zeit gültige 32 33 34
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Preußische Gesetzes-Sammlung 1831, S. 17, § 52. § 34 der Städteordnung v. 1808, in: Altmann (1897), T. II, S. 8. Vgl. Gembruch (1960), S. 190; damit entsprach das Gesetz wenigstens in der Tendenz den Vorstellungen, die man sich in Westfalen von einer idealen Gemeindeordnung machte: Werner von Haxthausen forderte in seiner programmatischen Schrift „Über die Grundlagen unserer Verfassung“ (1833) eine „organische Gliederung der Gemeinden in naturgemäße Korporationen“, a. a. O., S. 118. Gemeindeordnung v. 31. Oktober 1841, in: Preußische Gesetzessammlung 1841, S. 322 ff. S. dazu Keller (1866), S. 300, 301. Dazu Keller (1866), S. 300, 301. Gesetz vom 24.5.1853, in: Preußische Gesetzessammlung 1853, S. 238 f. Preußische Gesetzes-Sammlung 1856, S. 237.
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Form der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten gefunden, welche die Masse der Kleingewerbetreibenden wegen fehlenden Grundbesitzes bzw. zu geringen Einkommens auch weiterhin von politischer Einflussnahme ausschloss. So gehörten in der Kleinstadt Rheine (ca. 2.000–3.000 Einwohner) 1863 der Ersten Wählerklasse insgesamt nur 20 Personen an; darunter fand sich nur ein Handwerker, ein Maurermeister. Zur Zweiten Klasse zählten 62 Personen; zu diesen gehörten acht Handwerker, wovon fünf in den Nahrungsmittelgewerben tätig und ein weiterer Lohgerber war. Zwar besaßen im Gegensatz zu den Arbeitern fast alle Meister das Wahlrecht; doch gehörte die große Mehrzahl von diesen der Dritten Wahlklasse an.40 Den in größeren Städten zahlreichen, in Mietwohnungen lebenden Meistern blieb die politische Betätigung dagegen versagt. Nicht zuletzt dieser Umstand nährte das nie erlahmende Streben der „kleinen Leute“ nach Haus- und Grundbesitz, dass noch heute deutlich sichtbar fortwirkt. Allein die schmale Elite ökonomisch leistungsfähiger Handwerker partizipierte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in vollem Umfang an der politischen Willensbildung. So waren die wenigen Gerber, Bäcker und Metzger in den Stadtverordnetenversammlungen Westfalens die kleinlauten Erben einer großen Vergangenheit. In allen Kommunalverfassungsorganen blieben die Handwerker unterrepräsentiert. Aus bedeutender Macht war langwährende Ohnmacht geworden. Der im Vergleich zur Zunftzeit so überaus signifikanten Ausschließung der Handwerker von der politischen Mitwirkung auf lokaler Ebene korrespondierte ein noch geringerer Einfluss der Kleingewerbetreibenden auf die Staatsgeschäfte. Selbst in der Zeit ihres größten politischen Engagements während des Jahres 1848 waren die Meister in den staatlichen Vertretungskörperschaften nur äußerst schwach repräsentiert.41 In der Frankfurter National-Versammlung gehörten von den 812 Mitgliedern und Stellvertretern trotz des demokratischen Wahlrechts nur 4 Abgeordnete dem Handwerkerstand an.42 Auf dieser Ebene zeigte sich, dass die mangelnde Repräsentation des Kleingewerbes im politischen Raum nicht allein auf den einengenden Verfassungsbestimmungen, sondern auch auf einem gewissen Desinteresse der gewerbetreibenden Schichten an politischer Mitwirkung beruhte, das seine Ursache nicht zuletzt in den eklatanten Bildungsdefiziten vieler Handwerker hatte. Nach dem fruchtlosen Aufbegehren des Jahres 1848 fanden die enttäuschten Kleingewerbetreibenden lange Zeit nicht zur politischen Handlungsfreiheit zurück. Erst mit dem stürmischen Aufschwung der Industrie gewannen sie in den aufstrebenden Städten des Ruhrgebietes allmählich wieder an politischem Einfluss. Unter den 79 Wahlmännern, die sich bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1863 in Dortmund durchsetzen konnten, befanden sich immerhin 20 Handwerksmeister.43 Den nachhaltigen, nicht selten dominierenden Einfluss auf 40 41 42 43
So Kocka (1990), S. 324, 325 unter Bezugnahme auf Kaiser (1978), S. 102–111. Zur politischen Artikulation der Handwerker in der Revolutionszeit vgl. u. a. Bergmann (1984), Bergmann (1986), Gailus (1984), Haupt (1985). Schwarz (1965), S. 8. Vgl. v. Winterfeld, Die Stadt Dortmund (Manuskript) …, in: Stadtarchiv Dortmund, Best. 202, B XIII, 125, Bd. 4, S. 906, 907; allerdings stellten die Kaufleute 1863 noch immer die größte
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die Stadtgeschäfte, den ihre Korporationen vielerorts noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts ausgeübt hatten, vermochten sie aber nirgends wiederzugewinnen. 2. Die Landgemeinden a. Die Übergangszeit Wer die politischen Mitwirkungsrechte der Landhandwerker zu erhellen sucht, dem begegnet die historische Wirklichkeit als schier unentwirrbares Knäuel aus geschriebenen und gewohnheitlich geachteten Rechten, aus sozialen Vorrechten und diesen korrespondierenden Benachteiligungen, aus Bräuchen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten, aus landschaftlichen Besonderheiten und regionalen Gegensätzen. Da zu Beginn des 19. Jahrhunderts weder Funktion noch Bedeutung der Gemeinde in den verschiedenen Teilen Westfalens einheitlich geordnet waren, ist zunächst einmal die räumliche Differenzierung zu beachten: Die unterschiedliche Siedlungsstruktur des Münsterlandes und Minden-Ravenbergs einerseits und des Paderborner Landes, der Hellwegbörde und des Sauerlandes andererseits brachten einen je eigenen Gemeindetypus hervor. Im Gebiet der Streusiedlung Nordwestfalens besaß die Bauerschaft naturgemäß eine viel geringere Funktionsfülle als das geschlossene Dorf Süd- und Südostwestfalens, dass jedenfalls in weiten Teilen des Landes durch den Flurzwang und die Huterechte44 vor allem eine kommunale Wirtschaftsgenossenschaft darstellte. Ebenso war die Bedeutung der Gemeinde und damit das Gewicht der individuellen Mitspracherechte durch den kommunalen Bodenbesitz differenziert: Dort, wo das Dorf, wie im Paderborner Land, die gemeinen Marken, also Weide und Holz, besaß, die für die Viehhaltung gerade der unterbäuerlichen Schicht von fundamentaler Bedeutung waren, kam der Kommune natürlich ein höherer Stellenwert zu als in Minden-Ravensberg beispielsweise, wo jenes Land allein im Obereigentum der Markenherrn, also des Adels und des Landesherrn, stand. Überall lag die genossenschaftliche Verwaltung des Kommunalvermögens in den Händen derjenigen Gruppen, welche die Gemeinde im sozialen und politischen Sinne konstituierten. Als politische Träger der Gemeinde, als die eigentlichen „vollberechtigten Gemeindemitglieder“, betrachtete jedermann allein die besitzenden Bauern.45 Nur sie bildeten die Gemeindeversammlung bis zum Beginn des Reformzeitalters, sie auch stellten die Dorf- oder Bauerschaftsvorsteher, welche die lokale Exekutive ausübten und der Gemeindeversammlung rechenschaftspflichtig
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Gruppe der Wahlmänner und bildeten damit die politisch führende Schicht. Vgl. zum Einfluss Berliner Unternehmer auf die Kommunalverwaltung in der Zeit der Frühindustrialisierung Kaelble (1971), S. 371–415. Gegen den von Kocka diagnostizierten „Bürgerlichkeitsrückstand“ der katholischen Städter wandte sich Reininghaus, indem er auf die „feste, über Vereine vermittelte kirchliche Bindung katholischer Handwerker“ hinweist; s. Kocka (1988), S. 11–76 (63 f.); Reininghaus (1997), S. 11–23 (17,18). Für das Paderborner Land vgl. hierzu Deter, Bodennutzungssysteme (1990). Vgl. hierzu für Minden-Ravensberg Meyer zum Gottesberge (1933), S. 16 ff. und ALR II 7, § 18 ff.; zum Paderborner Land Haxthausen (1829), Bd. 1, S. 165 ff. und Henning (1964), S. 201 ff.
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waren. Diese Vorsteher verwalteten die Gemeindefinanzen, regelten die Nutzung der Gemeinheiten sowie die Verteilung der Gemeindedienste, die insbesondere für den Wegebau notwendig waren. Eine Rechtsgrundlage für die Ordnung der kommunalen Angelegenheiten gab es damals im allgemeinen nicht.46 Sie war vielmehr aus der informellen sozialen Kontrolle innerhalb des Dorfes erwachsen47 und besaß daher in den verschiedenen Regionen Westfalens noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine durchaus unterschiedliche Physiognomie. Im Hochstift Paderborn genossen die ländlichen Gemeinden einerseits eine gewisse Autonomie, waren andererseits aber Teil der staatlichen Selbstverwaltung. Dies zeigte sich im wichtigen Bereich der öffentlichen Sicherheit. Der Paderborner Landgemeinde stand die Polizeigewalt bei Grenzverletzungen, Felddiebstählen und anderen Verstößen gegen die Interessen der Dorfgemeinschaft zu.48 Signifikanter für die Mitwirkung der Gemeindevertreter an der staatlichen Verwaltung war das Umlagesystem zur Erhebung der Grundsteuer, welches die stiftischen Kommunen für eine bestimmte Summe korporativ haften ließ. Diese Regelung verschaffte dem von der Gemeinde gewählten und vom fürstlichen Amt bestätigten „Schatzeinnehmer“, der zumeist mit dem Dorfvorsteher identisch war, de facto eine große Macht durch die Festlegung der Steuer, da die Sätze der Grundsteuer auf einer Art Selbsteinschätzung beruhten.49 Bedeutende Unterschiede in der absoluten Höhe der Steuern zwischen den Gemeinden und in der schichtenspezifischen Verteilung innerhalb der Kommunen waren die natürliche Folge. Im preußischen Minden-Ravensberg kannte man dagegen keine bauernschaftsinterne Gerichtsbarkeit50 und Ordnungsgewalt mehr. Diese Funktionen waren längst an die staatlichen Ämter bzw. die sog. Brüchten-Gerichte der adeligen Markenherrn übergegangen. Wie diejenige der Städte hatte die preußische Bürokratie auch die autonome Verwaltung der Landgemeinden stark beschnitten. Im preußischen Westfalen gab es seit 1719 auch keine Mitwirkung von Bauernschaftsvertretern an der Steuerveranlagung mehr.51 Die Abgaben wurden seither durch die Kriegs- und Domänenkammer Minden eingenommen; den Bauernschaftsvertretern oblag lediglich die Eintreibung gemeinsam mit einem Steuerbeamten des Amtes. Immerhin war die Bauernschaftsverwaltung in Minden-Ravensberg aber in ihren inneren Angelegenheiten autonom geblieben. Diese Selbständigkeit wurde auch durch die grundherrschaftliche Verfassung nicht wesentlich beeinträchtigt.52 Das 1794 eingeführte ALR bestätigte in T. II, Tit. 7 §§ 18–86 den Charakter der Dorfgemeinde als öffentlicher Korporation. Nur den sog. „eingesessenen Wirten“ erkannte das Gesetz das Stimmrecht in der Gemeindeversammlung zu. Diese Privilegierten durften aber nichts zum Nachteil der „übrigen Dorfbewohner“ beschließen. Umgekehrt waren die „unangesessenen“ Einwohner aber auch nicht verpflichtet, zu sol46 47 48 49 50 51 52
Eine Ausnahme bildete die Dorfordnung für das Fürstentum Minden (1755). So Mooser (1979), S. 236. So Mooser (1979), S. 238. Meyer zum Gottesberge (1933), S. 33 ff. insbes. S. 34. Meyer zum Gottesberge (1933), S. 33 ff. insbes. S. 34. S. Mooser (1979), S. 237 m. w.Nachw. Vgl. Mooser (1979), S. 238; Meyer zum Gottesberge (1933), S. 135 ff.
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chen Gemeindelasten beizutragen, „wovon bloß die angesessenen Wirte den Vorteil ziehen“.53 Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den einzelnen Territorien zwar unterschiedlich ausgebildete, aber doch immerhin noch vorhandene gemeindliche Autonomie brachte dem Landhandwerk allerdings wenig Nutzen. Die Bauern allein waren, wie bereits angedeutet, die vollberechtigten, aber auch voll verpflichteten Mitglieder der Gemeinde.54 Die Teilhabe an der Selbstverwaltung setzte die Erfüllung spezifischer Aufgaben wie die Übernahme von gemeindlichen Ämtern und Diensten voraus; die Ausübung solcher Tätigkeiten im Interesse der Gemeinde wiederum war an den voll- und kleinbäuerlichen Besitz geknüpft. Zwar wurden diese Rechte und Pflichten nach der Besitzgröße differenziert, doch blieben sie stets den in ständischer Gemeinsamkeit verbundenen bäuerlichen Grundeigentümern vorbehalten. So darf man die gemeindliche Autonomie getrost als die Autonomie der besitzenden, alteingesessenen Bauern betrachten. Die unangefochtene politische Bevorrechtigung dieser Schicht im Dorf wurde noch verstärkt durch ihre signifikante wirtschaftliche Besserstellung: Während die Bauern im Rahmen ihrer hergebrachten Quote ein unentgeltliches Nutzungsrecht an der gemeinen Mark besaßen, mussten die bloßen Hausbesitzer und Heuerlinge Weidegeld an die Genossenschaft der Mark-Berechtigten, den Markherrn oder die Kommune zahlen.55 Im Hochstift Paderborn erhoben die Gemeinden hierfür und für die Teilhabe an den kommunalen Einrichtungen (Holz, Brunnen, Servitute) ein regelmäßiges sog. „Einliegergeld“. So trennte die bessere Rechtsstellung die voll- und kleinbäuerlichen Besitzer der Gemeinde gleich in mehrfacher Weise von den übrigen Bewohnern. Nicht zuletzt dieser Ausschluss der landlosen Einwohner von den kommunalen Rechten trug zu der scharfen Scheidung zwischen den Bauern und der Unterschicht bei, die ein Konnubium überall zumeist ausschloss. Nach der Etablierung der Fremdherrschaft in Westfalen änderte sich die verfassungsrechtliche Situation der Landgemeinden grundsätzlich. In den Dörfern des Großherzogtums Berg und des Königreichs Westphalen wurde die französische Munizipalverfassung eingeführt, wodurch nun auch die Kirchspiele des Münsterlandes, welche bis dahin als überlokale Verbände auch staatliche Funktionen wahrgenommen hatten,56 die kommunale Selbständigkeit erlangten. Für die Landgemeinden des ehemaligen kurkölnischen Sauerlandes erließ der hessische Landesherr 1812 die bereits erwähnte „Schultheißeninstruktion“. Danach hatten die Eingesessenen alle drei Jahre zwei bis drei Deputierte zu wählen, die der Bestätigung des Amtes bedurften. Der Gemeinderat versammelte sich einmal jährlich unter dem Vorsitz des Schultheißen. Die Befugnisse der Gemeindevertretung deckten sich im Großen und Ganzen mit denen des Munizipalrates.57
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ALR II 7 §§ 19, 21, 23, 44. Vgl. Mooser (1979), S. 238. Vgl. Mooser (1979), S. 239. Vgl. Mooser (1979), S. 237. Meyer zu Gottesberge (1933), S. 99.
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b. Die preußische Provinz Westfalen Nach dem Ende der Franzosenzeit blieb das in diesen Übergangsjahren erlassene Kommunalverfassungsrecht zunächst bestehen, so dass sich an dem Ausschluss der Landhandwerker von den öffentlichen Angelegenheiten keineswegs etwas änderte. Nur im ehemaligen Fürstentum Siegen und den Ämtern Burbach und Neuenkirchen führte die preußische Verwaltung im Jahre 1817 eine neue Kommunalverfassung ein.58 Danach wurden der Bürgermeister und die zwei Beigeordneten von der Regierung auf fünf Jahre ernannt. Jede Einzelgemeinde hatte das Recht, einen Schöffen zu wählen, welcher der Bestätigung des Landrats bedurfte. Diese Vertreter der Einzelgemeinden bildeten einen Schöffenrat, dessen Vorsitz der Bürgermeister übernahm. Für den Kreis Wittgenstein wurde 1824 die Aufhebung des bis dahin üblichen jährlichen Wechsels des Vorsteheramtes verfügt und an dessen Stelle die Ernennung eines Schulzen oder Schöffen durch den Landrat angeordnet.59 Ebenso wenig wie durch diese Reformbestimmungen auf gemeindlicher Ebene ermöglichte der preußische Gesetzgeber den Landhandwerkern auf staatlicher Ebene eine Repräsentation und damit die Chance selbstbestimmten politischen Handelns. Das Wahlrecht zum westfälischen Provinziallandtag (seit 1825) war an einen Steuerzensus gebunden, welcher der ländlichen Unterschicht weder das aktive noch das passive Wahlrecht gewährte.60 Der Zensus begünstigte die größeren Bauern, durch welche die übrigen Landbewohner ihre Interessen vertreten lassen mussten. Die französische Gemeindeverfassung, die nach der Etablierung der preußischen Provinz Westfalen fortgalt und die bis 1841 in Kraft blieb, brachte den ländlichen Unterschichten und damit den Handwerkern natürlich ebensowenig Mitwirkungsrechte wie ihren Berufsgenossen in der Stadt. In den ernannten Vertretungskörperschaften spielte dieser zahlenmäßig längst dominierende Teil der Landbevölkerung wie eh und je kaum eine Rolle. Selbst in dem großen Dorf Greven, dass sich durch eine umfangreiche Handels- und Gewerbetätigkeit vor den anderen Landgemeinden des Münsterlandes auszeichnete, befanden sich unter den 24 Mitgliedern des Gemeinderates im Jahre 1816 nur zwei Handwerker, aber 17 Landwirte.61 Demzufolge ließ auch die Besetzung der gemeindlichen Leitungsfunktion jede ausgewogene Repräsentation der ländlichen Unterschichten vermissen. Die Gemeindeordnung verlangte, dass die Vorsteher der einzelnen Landgemeinden aus dem Kreis der vollberechtigten Mitglieder gewählt werden sollten; eine Alternative zu dieser Regelung bestand darin, dass alle Berechtigten in periodischem Wechsel das Amt versahen. Nach den Feststellungen Josef Moosers funktionierte diese ständische Demokratie jedoch nur selten.62 Denn in der Regel vergaben die größeren Bauern das Amt in ihrem Kreis. Nur die „wohlhabenden Einwohner“ besäßen die „notwendige Achtung“, um sich durchsetzen zu können, stellte der Vlothoer Bür58 59 60 61 62
Meyer zu Gottesberge (1933), S. 99. Meyer zu Gottesberge (1933), S. 115. Mooser (1982), S. 70. Prinz (1950), S. 382, 383. Mooser (1979), S. 242.
A. Die politische Repräsentation des Kleingewerbes
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germeister 1817 fest;63 zugleich beklagte er aber die mit dem besitzorientierten Auswahlmechanismus verbundene parteiische Verwaltung. In Minden-Ravensberg überließen die größeren Grundbesitzer das Amt allerdings nicht selten auch einem Stellvertreter, der in der Regel zu den Kleinbauern zählte. Seinen Grund hatte dieses merkwürdige Vertreterwesen in der Überlastung des Vorstehers mit staatlichen Aufträgen, mit denen die selbstbewussten Bauern nicht behelligt werden wollten. Wegen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Übergewichts der größeren Grundbesitzer im Dorf dürfte die Einsetzung eines Vertreters für sie aber keinen größeren Machtverlust bedeutet haben. Zwar wurde das Gebot des Amtswechsels in Minden-Ravensberg beachtet, doch verhinderte dies die gewöhnliche Zirkulation des Amtes unter den großbäuerlichen Familien nicht. Im Paderborner Land hingegen war es nicht ungebräuchlich, das Vorsteher-Amt lebenslang auszuüben und es dann in der Familie weiterzugeben. Mooser belegt dies eindrucksvoll am Beispiel der Folge der Gemeindevorsteher des Dorfes Rebbecke im Kreis Büren:64 Stefan Richter Wilhelm Rötzmeier Stefan Richter Franz Richter Franz Lübbesmeier Stefan Hasselhorst Franz Lübbesmeier
um 1780–1790 1792 – nach 1800 nach 1800 bis 1848 1848–1857 1857–1865 1865–1900
Es bedurfte augenscheinlich erst einer Revolution, um die Herrschaft der Familie Richter, die den größten Besitz im Orte hatte, zu beenden; doch wurde sie sogleich nun durch eine andere, nämlich die der ebenfalls bäuerlichen Familie Lübbesmeier, ersetzt. Die wirtschaftlich und sozial dominierenden Bauern besaßen demnach faktisch wie eh und je das Monopol der lokalen politischen Macht, während die Handwerker hiervon auch nach dem Ende der französischen Herrschaft völlig ausgeschlossen blieben. Wegen der engen verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb der großbäuerlichen Schicht im Dorfe und der hohen Bedeutung der Verwandtschaft in der vorindustriellen Gesellschaft liegt die Vermutung nahe, dass sich die insbesondere von manchen Beamten beklagte parteiische Verwaltung der Gemeinden gelegentlich gegen die Nichtverwandten richtete, und dies waren für die Bauern die „kleinen Leute“ des Dorfes, eben die Schicht der geringen Kötter und Heuerlinge, zu denen auch die Landhandwerker zählten. Im Jahre 1841 wurde die französische Munizipalverfassung durch die westfälische Landgemeindeordnung ersetzt.65 Danach gehörten zwar alle selbständigen Einwohner der Gemeinde an; doch wurde von der Gemeindeangehörigkeit weiterhin die Gemeindemitgliedschaft unterschieden. Die Landgemeindeordnung verband die Ausübung der Gemeinderechte mit dem Hausbesitz (§ 40) und machte sie zudem von einem erhöhten Zensus abhängig. Alle Gemeindeangehörigen, die die63 64 65
Mooser (1979), S. 242. Mooser (1979), S. 243. Preußische Gesetzes-Sammlung 1841, S. 297–321.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
sen Anforderungen nicht genügten, blieben von den Gemeinderechten ausgeschlossen. Die Gesamtheit der sog. „Meistbeerbten“ oder eine Versammlung gewählter Gemeindeverordneter bildeten die gesetzliche Vertretung der Gemeinde (§ 47). Zum Zwecke der Wahl teilte man die Meistbeerbten in zwei Klassen ein, deren erstere aus den Eigentümern der im Jahre 1806 kontributions- und schatzpflichtigen bäuerlichen Besitzungen gebildet wurde. Der so gewählten Gemeindeversammlung stand die Befugnis zu, verbindliche Beschlüsse zu fassen (§ 59). Auf Grund der materiellen Voraussetzungen der Gemeindemitgliedschaft änderte sich an dem Ausschluss der Landhandwerker von der Kommunalpolitik auch nach Erlass der neuen Landgemeindeordnung nichts. Der zumeist hohe Zensus fügte der eklatanten sozialen und ökonomischen Überlegenheit der Bauern die trotz der Kommunalverfassungsänderungen unbeschadet fortdauernde politische Dominanz weiterhin hinzu. So ist mit Recht von der „Bauernaristokratie“66 im westfälischen Dorf auch des 19. Jahrhunderts gesprochen worden, deren geschlossen ausgeübte Vorherrschaft die anderen Schichten nur schwer ertrugen. So klagten die durch den hohen Zensus ausgeschlossenen Kleinbauern in Bredenborn (Krs. Höxter) im Jahre 1846: „Die bisherige Erfahrung hat es aber gelehrt, dass dies zum größten Nachteil der übrigen Einwohner ist, denn bei den vorigen Wahlen wurden vier Schwäger Gemeindeverordnete und die übrigen sind lauter Verwandte. Diejenigen Meistbeerbten, die vier und darüber steuern, sind fast eine Familie in hiesiger Gemeinde.“67 Demnach spiegelte die politische Machtverteilung im Dorf auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur die vorpolitisch bestehenden Abhängigkeiten wieder; sie verstärkte diese vielmehr nochmals kräftig. Die signifikante Vereinigung der von der Rechtsordnung gestützten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vorherrschaft in der Hand der „mächtigen Familien“ auf dem Lande68 wurde um so drückender empfunden, als die Gegenstände kommunaler Politik aus den sozialen und ökonomischen Beziehungen der Dorfbewohner resultierten. Da die besitzlosen Heuerlinge und die nur über wenig Land verfügenden Kötter, die typischen Rekrutierungsschichten des Landhandwerks, von beiden Formen der politischen Repräsentation, der Vertretung im Landtag und in der Gemeinde, wie eh und je ausgeschlossen waren, blieb den Angehörigen dieser Schichten nur das Recht der Beschwerde, die den Instanzenzug der Behörden durchlaufen musste.69 Gegen bestehende Gesetze war natürlich keine Beschwerde zulässig, so dass gerade die Elemente der Reformgesetzgebung, welche die ländlichen Unterschichten besonders belasteten, von den Betroffenen mit legalen Mitteln weder beeinflusst noch angegriffen werden konnten. Die einzige Alternative hierzu, der normverletzende soziale Protest, war natürlich mit hohem Risiko verbunden. Mit der Pauperisierung weiter Teile der ländlichen Unterschichten im Vormärz vertiefte sich die Kluft zwischen der „Real“- und der Einwohnergemeinde noch weiter, zumal die Landarmen und Landlosen mit den Gemeinheitsteilungen auch 66 67 68 69
So Mooser (1979), s. 244. Zitiert nach Meyer zum Gottesberge (1933), S. 154, Anm. 2. So Mooser (1979), S. 244. So Mooser (1982), S. 71; vgl. zur Stellung der unterbäuerlichen Schichten in der Gemeinde auch Mooser (1979).
A. Die politische Repräsentation des Kleingewerbes
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die Nutzung der gemeinen Mark verloren.70 Diese Spannungen wurden zudem nachhaltig verstärkt durch den seit dem 18. Jahrhundert andauernden Funktionswandel der ländlichen Gemeinde von „um die Bedürfnisse der kollektiven bäuerlichen Landwirtschaft sich organisierenden selbstverwalteten Einheiten zu … politischen Institutionen“.71 Durch den Bau von Schulen, Kirchen und Wegen, durch die Besoldung von Lokalbeamten und die zunehmenden Erfordernisse der Armenversorgung wuchs der finanzielle Aufwand der Kommunen nachhaltig. Zu den neuen Lasten wurden alle Einwohner des Dorfes herangezogen, wenngleich auch nach ihrem Grund- und Klassensteueraufkommen gestaffelt. Mit den wachsenden finanziellen Leistungen, die nun auch die Unterschichten zu erbringen hatten, entstand aber ein immer größerer Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Funktionen der Gemeinde und ihrer politischen Verfassung: Tendenziell gleichen Pflichten entsprachen ungleiche Rechte. So erhielt die tradierte Herrschaft einer präpotenten Minderheit über die Gemeinde eine neue Dimension.72 Um die Frage der politischen Teilhabe an der Gemeindevertretung trotz der sich verändernden Situation weiterhin in der erwünschten Weise regeln zu können, kam dem Mittel des Zensus zentrale Bedeutung zu. Diesen konnte der Oberpräsident unter Berücksichtigung der spezifischen Verhältnisse jeweils lokal oder regional festsetzen. Es ist für den Kreis Bielefeld gezeigt worden, wie flexibel der Zensus von der Verwaltung gehandhabt und planmäßig zur Stärkung des konservativen Lagers eingesetzt wurde. Dort begann – ungewöhnlich genug – das Recht der vollen Gemeindemitgliedschaft auf Vorschlag des Landrats bereits bei zwei Talern Grundsteuer, womit die Wahlfähigkeit der Bauern zum Landtag deutlich unterschritten wurde. Mit dieser großzügigen Regelung erreichte man, dass möglichst viele Kleinbauern zu den „Meistbeerbten“ und somit zu den politisch berechtigten Bauern zählten. Man suchte diese Kleinbauern geschickt an die Oberschicht zu binden, „da in hiesigem Kreise so schon eine Opposition zwischen dem sehr zahlreichen Heuerlingsstande und den größeren Grundbesitzern besteht, die nicht vertretenen kleinen Grundbesitzer aber jedenfalls dem Heuerlingsstande sich anschließen werden“. Das Wahlrecht wurde also als subtiles Mittel eingesetzt, um die Vorrangstellung der Besitzenden gegenüber der besitzlosen Klasse zu festigen. Es war nach alledem keineswegs das Ziel der Gemeindeverfassung des Jahres 1841, die hergebrachte besitzdeterminierte Struktur der ländlichen Gesellschaft zu modifizieren. Das Recht diente vielmehr gerade dazu, die sozialökonomische Schichtung zu petrifizieren. Das unterschiedliche Maß der Berechtigungen spiegelte im Grunde die Besitzunterschiede wider, und umgekehrt dienten eben diese Besitzunterschiede dazu, den Grad der politischen Mitwirkung zu bestimmen. Den wirtschaftlich starken Bauern sicherte die 70
71 72
Schon zu Beginn der Reformen hatten sich die Spannungen zwischen den Landbesitzern und den Landarmen bzw. Landlosen gezeigt. 1789 berichtete ein lippischer Beamter: „… haben von diesen nur die größeren Güterbesitzer den geringsten anscheinenden Vorteil, so widersetzen sich die kleineren fast alle Zeit. Sie gönnen ihnen die Vorteile nicht, und wenn sie weiter keine Gründe haben, so ertönt aus ihnen, sie sähen keinen Vorteil davon und wären ebenso klug wie sie“; zitiert nach Mooser (1979), S. 246. So Mooser (1979), S. 254. Zum folgenden Mooser (1979), S. 254.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
Gemeindeverfassung auch unter den sich verändernden sozio-ökonomischen Verhältnissen der vierziger Jahre die politische Dominanz, und dem entsprach, dass die Besitzlosen ohne politische Mitwirkung blieben.73 So trug auch die Kommunalverfassung das Ihre zu den Spannungen bei, die sich in den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 entluden. Natürliche Folge dieser in Berlin durchaus erkannten Kausalitäten war die Forderung nach einer neuen Gemeindeordnung. Das daraufhin ergangene Gesetz v. 11.3.185074 hinterließ aber kaum Spuren. Denn dessen Vorschriften wurden nach der Konsolidierung der bedrohten Staatsmacht bald wieder beseitigt. Die nun folgende Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen v. 19.3.185675 räumte der Gemeindeversammlung in § 32 zwar einige Kompetenzen und Kontrollrechte ein. Die kleinen Kötter, Heuerlinge und Einlieger, zu denen die Landhandwerker stets zählten, erhielten hieran aber wiederum keinen Anteil. Nach § 15 des Gesetzes waren nämlich erneut nur diejenigen Grundbesitzer wahlberechtigt, die einen bestimmten Steuerzensus überschritten (mindestens 4 Rtl. Klassensteuer). Damit blieb der Grundbesitz auch noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts das Kriterium, welches über das Maß der Rechte innerhalb der Gemeinde bestimmte. Die Ausschließung der „kleinen Leute“ im Dorfe von der politischen Mitwirkung wurde sogar perfekter gewährleistet als dies im 18. Jahrhundert geschehen war.76 So fand der Gesetzgeber mit geradezu somnambuler Sicherheit immer wieder Mittel und Wege, um die Entmündigung des Landhandwerks zu perpetuieren. Aus seiner erzwungenen und gelegentlich beklagten Sprachlosigkeit im politischen Raum konnte es sich noch für lange Zeit nicht befreien. Doch war die politische Emanzipation im modernen Sinne wirklich das vordringlichste Ziel des Heuermannes oder Kötters? „Was hilft uns das alles, wir müssen erst Gänseweide haben“,77 erklärten Einlieger zu den Wahlen im Mai 1848. B. DIE SOZIALE SICHERUNG DER MEISTER UND IHRER FAMILIEN Das Leitbild des Alten Handwerks war der Meister, der selbständige Gewerbetreibende also, der auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung arbeitete und für seine Familie sorgte. Dabei war der Zunfthandwerker aber keineswegs allen Risiken, die für die Unternehmerexistenz im Zeitalter des Liberalismus so typisch wurden, ausgesetzt. Die feste Einbindung in die Gewerbsgenossenschaft begründete vielmehr – jedenfalls im idealtypischen Fall – einen zwar minimalen, aber doch realisierbaren Anspruch auf Fürsorge und Vorsorge gegen die Zunft – in jenen Tagen verbreiteter Existenzunsicherheit ein unschätzbarer Vorteil, den die Korporationen ihren Mitgliedern über die Jahrhunderte hinweg geboten hatten. 73 74 75 76 77
Vgl. Mooser (1979), S. 246, 247. Preußische Gesetzes-Sammlung 1850, S. 213. Preußische Gesetzes-Sammlung 1856, S 265–292. S. Meyer zum Gottesberge (1933), S. 153, 154. Zitiert nach Mooser (1984), S. 17.
B. Die soziale Sicherung der Meister und ihrer Familien
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1. Das Stadthandwerk a. Das Ende der korporativen Versorgung Mit der Aufhebung der Gewerksgenossenschaften im Königreich Westphalen durch Dekret vom 22.1.180978 wurde auch das Zunftvermögen beschlagnahmt. Für die gemeinschaftlichen Kassen ordneten die Behörden die Sequestration an.79 Zuvor schon, als sich das nahe Ende der Zunftordnung unmissverständlich ankündigte, hatten viele Korporationen mit unterschiedlichem Erfolg versucht, ihr Eigentum vor dem Zugriff der öffentlichen Hand zu bewahren. Manchen Ämtern und Gilden gelang es, die Barmittel rechtzeitig an die Mitglieder zu verteilen. Andere, weniger bewegliche, deklarierten das gesamte Vermögen als der Sterbekasse der Zunft gehörig; wieder andere erklärten, das Gildevermögen sei in Gänze der Sterbe- und Unterstützungskasse der Korporationen verpfändet.80 Dieser Weg wurde gewählt, da nach Art. 5 des westphälischen Dekrets vom 22.1.1809 die Bestände der Sterbeund Unterstützungskassen im Eigentum der Interessenten verbleiben sollten. Die Machinationen führten naturgemäß zu Auseinandersetzungen zwischen den Korporationsmitgliedern und dem Generaldirektor der westphälischen Amortisationskasse, der für die Einziehung des Zunftvermögens zuständig war. Da die Geldmittel der Hilfskassen zumeist nicht von den Barbeständen der allgemeinen Zunftkassen getrennt waren, gelang es den Meistern nur in seltenen Fällen, den Nachweis zu führen, dass es sich bei den Mitteln ihrer Laden um selbständige, ausschließlich zur Unterstützung von Kranken, Witwen und Waisen errichtete Institute handelte.81 Konnte das separierte Vermögen doch einmal dem Gewerk erhalten werden, vermochte es, wie im Falle der Paderborner Schuhmachersterbekasse, gelegentlich sogar bis in das 20. Jahrhundert mit der ursprünglichen Zweckbestimmung fortzubestehen.82 Die berufsunabhängigen Laden dagegen brauchten nicht um ihre fernere Existenz zu fürchten. Sie blieben unbehelligt. So blühten die zahlreichen Mindener Sterbekassen noch Mitte des 19., teilweise im 20. Jahrhundert. Rückschlüsse auf 78 79 80
81
82
In: Gesetzes-Bulletin des Kgr. Westphalen (1809), S. 107 f. Zur Hinterbliebenenversorgung nach Zunftrecht vgl. Krebs (1974). S. Schreiben der Kaufmannschaft der Stadt Minden v. 9.6.1810, in: Stadtarchiv Minden, D 149. So z. B. das Mindener Backamt, s. Protokoll v. 25.5.1809, betr. die Aufnahme des Inventars bei den Ämtern, in: Stadtarchiv Minden, D 150; desgl. Schreiben der Mitglieder der Kaufmannschaft der Stadt Minden v. 9.6.1810, in: Stadtarchiv Minden, D 149; desgl. Erklärung der Gildemeister des Schuhmacheramtes Minden, in: Protokoll der Aufhebung der Zünfte in Minden vom 20.2.1809, in: Stadtarchiv Minden, D 149. S. dazu Schreiben der Kaufmannschaft der Stadt Minden v. 9.6.1810 und Schreiben des Generaldirektors der Amortisations-Kasse vom 28.6.1810, in: Stadtarchiv Minden, D 149; desgl. Protokoll v. 25.5.1809, betr. das Backamt, in: Stadtarchiv Minden, D 150. Zur Alterssicherung der Handwerker in der Frühen Neuzeit s. Reith (1990), S. 14–34; Keller (2000), S. 199–223. Pöppel (1924); geradezu provozierend mochte es den Behörden – sofern sie hiervon Kenntnis erlangten – anmuten, dass die Paderborner Schuhmacher, deren organisatorischer Zusammenhalt nach der Aufhebung der Gilde durch den Fortbestand der Sterbekassen gesichert war, eben um 1810 einen neuen Willkomm-Pokal in Auftrag gaben, vgl. Pieper-Lippe (1974), S. 110, 111.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
das ungebrochene Fortleben solcher Versorgungseinrichtungen lassen sich aus der vergleichsweise hohen Dichte von Kranken- und Sterbekassen ziehen, die in den protestantischen Regionen Westfalens für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt werden kann. Eben dort nämlich, im preußischen Westfalen, war der Typus der berufsunabhängigen Unterstützungskasse schon während des 18. Jahrhunderts bevorzugt vertreten gewesen. Im Gebiet des Großherzogtums Berg und des französischen Kaiserreichs hatten die Laden der Zünfte ein ganz unterschiedliches Schicksal: –
–
–
Soweit die Unterstützungsfonds mit den allgemeinen Zunftkassen identisch waren, entgingen beide – zumeist durch rechtzeitige Verteilung an die Genossen – dem Zugriff der in Geldangelegenheiten unerbittlich, ja geradezu unersättlich fordernden fremdherrschaftlichen Behörden.83 Hatte bereits vor Aufhebung der Korporation eine klare Scheidung und getrennte Kassenführung von Zunftkasse und Unterstützungsfonds stattgehabt, konnte also das Vermögen der Versorgungseinrichtung eindeutig identifiziert werden, so überwies die staatliche Verwaltung die Mittel nach Aufhebung der Zunft dem städtischen Armenfonds.84 Nur den von den Korporationen völlig unabhängigen allgemeinen Sterbekassen oder Totenladen blieb das Schicksal der Auflösung – ebenso wie im Kgr. Westphalen – erspart. Wiesen deren Mitglieder nach, dass die Zugehörigkeit der Kasse nicht von der Ausübung eines Handwerks abhängig war, bestanden demnach zwischen der Zunft und der Kasse keine organisatorischen Beziehungen, so ließ die Aufhebungsgesetzgebung diese Einrichtungen unberührt.85
Wie viele dieser Laden nach dem Ende der Fremdherrschaft im westlichen und nördlichen Westfalen noch fortbestanden, lässt sich im einzelnen nur durch lokale Detailstudien klären. Ebenso wie in Minden-Ravensberg dürften es auch in den ehemals preußischen Landesteilen des Großherzogtums Berg nicht wenige Kassen gewesen sein, welche die Patentgesetzgebung unberührt belassen hatte. In Bochum 83 84
85
So z. B. für Lippstadt Looz-Corswarem (1985), S. 243 ff. S. Schreiben der Reg. Münster an den Landrat des Krs. Warendorf v. 2.10.1822; desgl. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Warendorf an die Reg. Münster v. 26.10.1822, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458. Im Jahre 1813 hatte der Armenfonds der Stadt Warendorf aus den Armenkapitalien der aufgehobenen Zünfte erhalten: Wandmacher-Armenkasse: 350 Rtl., Leineweber-Armenkasse: 450 Rtl., Kramer-Armenkasse: 565 Rtl.. Es handelte sich also um durchaus beachtliche Beträge, deren Zinsen bis dahin den bedürftigen Gildemitgliedern zugeflossen waren; vgl. Nachweise über die zu den städtischen Armen-Fonds geflossenen Zinsen von Armen-Kapitalien der aufgehobenen Zünfte v. 18.12.1822, in: STAM, Krs. Warendorf Nr. 458; desgl. Schreiben des Landrats an die Reg. Münster v. 24.4.1823, a. a. O.; desgl. Übersicht über die dem städtischen Armenfonds überwiesenen Armenmittel der aufgehobenen Zünfte zu Warendorf v. 8.7.1817, a. a. O. Im Ruhrdepartement z. B. wurde das Aufhebungsdekret durch Verordnung v. 5.2.1810 zur Ausführung gebracht, s. Sammlung der Präfektur-Verhandlungen des Ruhr-Departements, 1810, Dortmund 1811, S. 15, 16. Die selbständigen Kassen knüpften an Stelle der Berufszugehörigkeit an die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde oder einem Stadtviertel an.
B. Die soziale Sicherung der Meister und ihrer Familien
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etwa wurde die Kontinuität der 1766 und 1803 gegründeten Laden keineswegs unterbrochen. Sie blühten noch Mitte des 19. Jahrhunderts, über einen zahlreichen Mitgliederbestand verfügend, lebenskräftig fort.86 Die Annahme, dass manche Kasse von der Aufhebung seitens der welschen Herren verschont geblieben sei, findet ihre Bestätigung auch in dem Interesse, welches die französische Verwaltung noch gegen Ende ihrer kurzen Wirksamkeit in Westfalen dem Kassenwesen entgegenbrachte. Der Präfekt des Ober-Ems-Departements forderte im Jahre 1812 die Maires seines Bezirks auf, über das Bestehen „sogenannter Hilfskassen, insbesondere für Tagelöhner und Handwerker“ zu berichten.87 Er wollte erfahren, welchen Nutzen die Gesellschaften hätten und wie staatlicherseits fördernd auf das Kassenwesen eingewirkt werden könne. Und noch im Jahre 1813 stellte der verdiente Präfekt Gisbert von Romberg kritisch fest, dass die Mitglieder der Unterstützungskassen „vorzüglich Unbemittelte“ seien, „die nur geringe Kenntnisse von einer passenden Einrichtung und dem Rechnungswesen“ besäßen. Es seien „mancherlei Unordnungen, ja selbst Erpressungen“ vorgefallen.88 Romberg beabsichtigte deshalb, alle derartigen Einrichtungen unter die Aufsicht der Verwaltung zu stellen. Eher noch als das in diesen Initiativen auch zum Ausdruck kommende Bemühen, offenkundige Missstände, die schon der preußischen Verwaltung nicht entgangen waren, abzustellen, verfolgte das zentralistisch aufgebaute Gemeinwesen, welches die Franzosen auf westfälischem Boden geschaffen hatten, das Interesse, auch den Rest korporativer Selbständigkeit, der sich im Kassenwesen manifestierte, zu beseitigen. Dass dies nicht gelang, hatte seinen Grund in dem schnellen Ende der französischen Herrschaft in Westfalen. Vor allem dieses Ereignis verhinderte eine Reform, die unweigerlich das Ende auch des noch verbliebenen Restes des selbstverwalteten Versicherungswesens gebracht hätte. Im Herzogtum Westfalen dagegen konnten nicht einmal Spuren des Kassenwesens der Handwerkerverbände in die neue Zeit hinübergerettet werden. Dem Edikt über die Aufhebung der Zünfte folgte ein solches nach, welches die Überweisung des gesamten Vermögens der Korporationen an den Lokal-Armen-Fonds anordnete.89 Hinweise auf die Existenz berufsunabhängiger Kassen, die das Gesetz verschonte, finden sich in dem katholischen Land nicht. b. Die „organisationslose“ Zeit: 1813–1845 Am Beispiel Berlins ist überzeugend dargelegt worden, wie die sozialen Funktionen der Handwerker-Korporationen der Stadt nach Aufhebung des Zunftzwanges sichtlich an Bedeutung gewannen, ja, wie sie zum eigentlichen Schwerpunkt der 86 87 88 89
S. Verzeichnis der im Kreis Bochum bestehenden Verbindungen zur gegenseitigen Unterstützung v. 6.9.1852, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. Schreiben des Präfekten des Ober-Ems-Departements v. 30.11.1812, in: Sammlung der Präfektur-Akten des Ober-Ems-Departements, 1812, S. 403, 404. Verfügung des Präfekten des Ruhr-Departements, v. Romberg, in: Sammlung der PräfekturVerhandlungen, Grhzgt. Berg, Ruhr-Departement, 1813, Nr. 296, S. 174. Verordnung der Großherzogl. Hess. Reg. v. 6. Juni 1812, in: Scotti (1831), Bd. 2, 2. T., S. 741, 742.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
Innungstätigkeit gerieten.90 Die Leistungen der Zünfte auf diesem Felde übertrafen in der Hauptstadt damals dasjenige, was die „Professionisten“ zur Zeit des Alten Handwerks für notwendig erachtet hatten, um ein Vielfaches. Ein entwickeltes Kassenwesen schützte Meister und Gesellen vor den Folgen von Armut, Krankheit, Brand, ja sogar vor hoher Miete.91 Der Vergleich des handwerkseigenen Versorgungssystems, welches das zünftige Handwerk der preußischen Metropole hervorgebracht hatte, mit demjenigen, welches im Westfalen der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts nur schleppend und mühsam an wenigen Orten wieder zum Leben erweckt werden konnte, weist eindringlich nach, welch lähmende Wirkungen die Aufhebung der Korporationen in Westfalen für den wichtigen Bereich der Daseinsvorsorge der Handwerksfamilie gezeitigt hatte. Immerhin gab es, im ostwestfälischen Paderborn beispielsweise, Ausnahmen. Hier wirkten offenbar Impulse der Vergangenheit nach: Das Zunftwesen des gleichnamigen Hochstiftes hatte sich in den letzten Jahren der fürstbischöflichen Herrschaft der besonderen Förderung des Landesherrn Franz Egon von Fürstenberg erfreut. Das so gestärkte Selbstbewusstsein der Meister war der Wurzelgrund, aus dem schon bald nach dem Ende der Fremdherrschaft neue handwerkliche Versorgungskassen in der Hauptstadt des Hochstifts wuchsen.92 Als der Renaissance der Zwangskorporationen in Paderborn im Jahre 1819 durch das energische Eingreifen der Mindener Regierung ein jähes Ende bereitet wurde, überdauerte allein93 das gerade neu begründete Kassenwesen der Paderborner Handwerker den Machtspruch der Regierung: Durch großzügigste Auslegung des Aufhebungspatents des Königreichs Westphalen vom 22.1.1809, das die Existenz der (berufsunabhängigen) Sterbekassen ausdrücklich unangetastet gelassen hatte, erklärte die Regierung nun auch das Bestehen berufsbezogener Handwerkerkassen als mit der Gewerbefreiheit vereinbar. Auf dieser – rechtlich allerdings eher zweifelhaften – Grundlage gestattete sie den Paderborner Meistern im Interesse verarmter und erkrankter Berufsgenossen, freiwillige Unterstützungskassen aufrechtzuerhalten. Die Einführung der Zwangsmitgliedschaft für die Handwerker in diesen Einrichtungen, welche die wiederbelebten Ämter unter wohlwollender Duldung des Paderborner Stadtdirektors durchzusetzen suchten, scheiterte dagegen am Widerstand der Mindener Regierung. In den anderen Städten Westfalens entschlossen sich die Meister dagegen nur sehr zögernd, berufsständische Versorgungseinrichtungen neu zu begründen. Die auffällige Abstinenz hatte gute Gründe: Der preußische Staat erleichterte die Reanimierung der organisierten handwerksspezifischen Vorsorge nicht eben, da er das Vermögen der aufgehobenen Unterstützungskassen der Ämter und Gilden keineswegs – wie das Zunftvermögen durch Kabinettsordre vom 31.5.1822 – an die Berechtigten zurückgab, sondern in der Verwaltung der öffentlichen Armenfonds be90 91 92 93
Bergmann (1973), S. 58–63. Bergmann (1973), S. 59. S. Bericht des Stadtdirektors Meyer an die Regierung v. 28.7.1819, in: Stadtarchiv Paderborn, 374 a. Schreiben der Reg. Minden v. 2.9.1819 an den Landrat des Krs. Paderborn und den Stadtdirektor Meyer, in: Stadtarchiv Paderborn, 374 a.
B. Die soziale Sicherung der Meister und ihrer Familien
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ließ.94 Nicht zuletzt deshalb war das Interesse der Handwerkerschaft an einem Neubeginn nur sehr gering. Immerhin errichteten die Schuhmacher (1831) und die Schneider (1838) Münsters Sterbeladen;95 auch die Meister des einst so wohlhabenden Soests, das zur Biedermeierzeit noch immer zu den größten Städten Westfalens zählte, wünschten die Wiederbelebung einer handwerksspezifischen, selbstverwalteten Armenversorgung. Sie beklagten lebhaft, dass in den zurückliegenden Jahren so viele ehemalige Zunftmitglieder völlig verarmt der städtischen Fürsorge zur Last gefallen seien – Meister, die doch bei rechtzeitigem Eingreifen berufsständischer Unterstützungseinrichtungen vor diesem sie entehrenden Schicksal hätten bewahrt werden können.96 Trotz solch bemerkenswerter Einsicht in das Notwendige hatten die Professionisten, denen es allerdings an der erforderlichen Förderung und Ermunterung durch die Soester Stadtverwaltung fehlte, zunächst aber nicht die Kraft zum Aufbau eines eigenen Kassenwesens. Hier zeigte sich aufs deutlichste, dass die Meister – trotz der in den meisten Gewerben leicht positiven wirtschaftlichen Entwicklung97 – einen Preis für die Befreiung aus den Fesseln des Zunftwesens zu zahlen hatten. Eben deshalb wurden sie in den Tagen des Vormärz nicht müde, an den sozialen Auftrag des Staates zu appellieren. Demgegenüber beharrte die Regierung in nicht minderer Entschlossenheit auf der konsequentesten Trennung von Staat und Wirtschaft. Der „Nachtwächterstaat“ überließ es den Städten, für die sozialen Folgen der neuen, liberalen Gewerbeverfassung aufzukommen. Den Kommunen blieb deshalb nichts anderes übrig, als aus ihrer Armenkasse alte und kranke Handwerker, aber auch heruntergekommene Meisterfamilien ebenso wie die beschäftigungslosen Gesellen und Tagelöhner zu unterstützen.98 Erst zu Beginn der vierziger Jahre sah man sich in Soest, wo ein sehr zahlreicher Handwerkerstand sein nicht selten karges Brot verdiente,99 willens und in der Lage, die berufsständisch organisierte Sozialtätigkeit neu zu beleben. Eines Anstoßes des Gesetzgebers oder der Stadtverwaltung bedurfte es infolge des in jenen Jahren in der Handwerkerschaft unübersehbar erstarkenden Korporationsgedankens nicht mehr. 1842 errichteten die Soester Schuhmacher eine Sterbekasse, wenig später folgten fast alle anderen Gewerke der Bördestadt.100 Dort blieb die damals initiierte soziale Sicherung der Meister durch Kassen im allgemeinen aber auf die Übernahme der Beerdigungskosten verstorbener Vereinsmitglieder beschränkt – eine Minimallösung fürwahr. Die um so vieles wichtigere Versorgung in Krankheit oder Alter überantwortete man dagegen noch nicht der Gemeinschaft der Berufsgenossen. In Krankheitsfällen mussten die Meister auf die Fortführung der Werkstatt durch die
94 95 96 97 98 99
S. Schreiben der Reg. Münster v. 16.3.1823, in: STAM, Krs. Warendorf, Landratsamt Nr. 458. S. Goeken (1925), S. 27. Geck (1825), S. 49 f.; Joest (1978), S. 141. S. dazu ausführlich Deter (2005). S. dazu Koselleck (1967), S. 591, 595. Gesichert ist, dass eine Anzahl kleiner Handwerksmeister in der Phase der Frühindustrialisierung weniger verdiente als der Durchschnitt der Industrie-Arbeiter; s. dazu Engelsing (1973), S. 49. 100 Joest (1978), S. 189.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
Gesellen und auf die Einkünfte, die ihre Angehörigen in der zumeist nebenher betriebenen kleinen Landwirtschaft erwirtschafteten, vertrauen. In den geringeren Städten Westfalens, in denen das berufsständische Versorgungssystem schon zur Zunftzeit nur rudimentär entwickelt gewesen war, erhoffte zunächst niemand von der Wiederbegründung eigener Gewerkskassen wirksamen Schutz vor Verarmung.101 Die Handwerksfamilien waren hier, wenn sie nicht über hinreichendes eigenes Vermögen verfügten, in Notfällen gänzlich auf familienabhängige Unterstützung oder die Versorgung durch öffentliche und private Wohltätigkeitseinrichtungen angewiesen. Eben diese Wohltätigkeitsanstalten erlebten im Gefolge der schweren Hungerkrise zu Beginn der dreißiger Jahre einen bedeutenden Aufschwung. Ebenso wie in anderen westfälischen Orten,102 gründeten die Frauen wohlhabender Bürger auch in Lippstadt im Jahre 1833 eine der typischen Armenanstalten jener Zeit, für deren Aufbau und Unterhaltung sich der Bürgermeister sehr einsetzte.103 Es wurde ein Haus angemietet und so hergerichtet, dass dort tagsüber Arme aufgenommen und verpflegt werden konnten und auch Kranke ein Unterkommen und medizinische Versorgung fanden. In den Räumen der Anstalt wurde sogar durch den Kreiswundarzt operiert. Berufstätigen Müttern erleichterte man die Betreuung ihrer noch nicht schulpflichtigen Kinder dadurch, dass sie diese tagsüber einer Kleinkinderverwahranstalt anvertrauen konnten. Die Kosten dieser erstaunlich umfassenden, geradezu modern anmutenden Sozialeinrichtung wurden durch Beiträge und freiwillige Spenden aufgebracht. Doch trotz solch neuartiger und wirksamer Ansätze wollten sich die depossedierten, zumeist ganz mittellosen Bedürftigen aus dem Handwerk auf die Dauer aber auch in den kleineren Gemeinden nicht mit der Unterstützung durch Wohltätigkeitseinrichtungen zufrieden geben. Das Selbstverantwortungsgefühl regte sich mit der Zunahme der Not in den Unterschichten und in Teilen des Handwerks wieder stärker, und der alte Gedanke korporativer Selbsthilfe erlebte – wenngleich zumeist später als in den Zentralorten Westfalens – auch in den Landstädten der Provinz eine unvermutete Renaissance, die zur Gründung zahlreicher neuer Kassen führte. Man gab aber, um die notwendige Leistungsfähigkeit dieser „Laden“ und „Auflagen“ zu gewährleisten, den berufsunabhängigen, allen Einwohnern zugänglichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge den Vorzug. So wurden in Witten104 schon im Jahre 1826, in Dorsten 1827 und in Lippstadt 1844105 sog. „Sterbeaufla101 So z. B. die Stellungnahme des Landrats des Krs. Ahaus v. 21.6.1820, in: STAM, Krs. Ahaus Nr. 2063. 102 Z. B. wurde in Oelde im Jahre 1834 ein Frauenverein gegründet, der dort eine „Armen-ArbeitsAnstalt“ einrichtete; s. Schmieder (1979), S. 129–132 (130). Zu ähnlichen Einrichtungen in Soest s. Joest (1978), S. 141. 103 Klockow (1964), S. 230. Hospitäler dienten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur der Pflege und Behandlung von Kranken, sondern waren zugleich „Aufbewahrungsasyl“ für Alte und Sieche; s. Frevert (1984), S. 75. 104 S. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Witten v. 19.6.1837 an den Landrat des Krs. Bochum, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 93. 105 Klockow (1964), S. 230.
B. Die soziale Sicherung der Meister und ihrer Familien
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gen“ gegründet; in Siegen schlossen sich die Bürger im Jahre 1838 zu einem „Verein zur gegenseitigen Unterstützung in Krankheitsfällen“ zusammen.106 Während so die organisierte Armenpflege aufgrund lokaler Initiativen einen spürbaren Aufschwung erlebte, erschöpfte sich der Beitrag des Staates zur Lösung der immer drängender werdenden sozialen Probleme in der Zeit des Vormärz zunächst im Erlass des Gesetzes vom 31. Dezember 1842, welches die soziale Sicherung bedürftiger Untertanen zwar auf eine neue rechtliche Basis stellte, sie aber unverändert in der Zuständigkeit der Gemeinden beließ (§ 1).107 c. Anstöße durch den Gesetzgeber – das Kassenwesen der Meister 1845 – 1854 Die Forschung zur Geschichte der Sozialpolitik nach 1845 hat, soweit sie sich mit dem Unterstützungs- und Kassenwesen befasste, ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich den Versorgungseinrichtungen für Fabrikarbeiter und Handwerksgesellen zugewandt.108 Dagegen blieben die Vorkehrungen zur sozialen Sicherung der selbständigen Handwerker bisher weitgehend im Dunkeln. Das zeittypisch dominierende Interesse, die Geschichte der Arbeiterbewegung zu erhellen, versperrte den Blick für benachbarte, nicht minder wichtige Probleme der Sozialgeschichte. Umso dringlicher ist die Klärung der Frage, inwieweit das damals in nicht wenigen Professionen um seine Existenz ringende selbständige Handwerk in dieser ersten Phase tastender Entfaltung organisierter sozialer Sicherung an der Entwicklung neuer Formen beteiligt war. Die Gewerbeordnung von 1845 wandte dem Kassenwesen der Meister noch keine besondere Aufmerksamkeit zu. Das Gesetz beschränkte sich darauf, die Gründung von Einrichtungen sozialer Sicherung in das Belieben der Innungen zu stellen (§§ 95, 104).109 Mit dieser Regelung war in dem den staatlicherseits geförderten Korporationen wenig freundlich gesonnenen Westfalen allerdings kein sozialpolitischer Fortschritt zu erreichen. Eben deshalb forderten die westfälischen Repräsentanten der Handwerkerbewegung des Jahres 1848 den Erlass einer tragfähigeren gesetzlichen Grundlage für den Ausbau des Kassenwesens,110 – ein Verlangen der Meister, welches in der Tat in der Ergänzungsgesetzgebung vom 9.2.1849111 Berücksichtigung fand. § 56 der Preußischen Verordnung ging über die Bestim106 S. Bericht des Magistrats der Stadt Siegen v. 30.8.1838, in: STAM, Krs. Siegen, Landratsamt Nr. 1738. 107 S. Preuß. Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege v. 31. Dezember 1842, Preuß. GesetzSammlung 1843, S. 8. 108 So z. B.: Harkort (1856); Jacobi (1861), S. 84 ff.; Hirsch (1875); Miaskowski (1882); Honigmann (1900); Brüggerhoff (1908); Tilmann (1935); Peschke (1962); Puppke (1966), S. 50 ff.; Volkmann (1968), S. 39 ff.; Lohmann (1969); Tennstedt (1977); Reininghaus (1980), S. 46 ff.; Frevert (1981); Tennstedt (1981), S. 110 ff.; Reininghaus (1982); Reininghaus (1983), S. 271 ff.; Frevert (1984); Reininghaus (1985), S. 131 ff.; Rückert (1990). 109 Pr. Gesetz-Sammlung 1845, S. 41–78 (58, 59, 104 f.). 110 Petition des Handwerkervereins Meschede v. 30.8.1848, fol. 133 u. 139 und des konstitutionellen Vereins Heepen v. 4.9.1848, fol. 147, in: Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt DB 51/141. 111 Pr. Gesetz-Sammlung 1849, S. 93–110.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
mungen der Gewerbeordnung des Jahres 1845 hinaus und sah erstmals seit Aufhebung der Zünfte wieder eine – wenn auch nicht allgemeine – Zwangsmitgliedschaft in den Kassen vor. Den Gemeinden wurde die Befugnis eingeräumt, durch Erlass eines Ortsstatuts allen selbständigen Gewerbetreibenden des Gemeindebezirks den Eintritt in die Hilfskassen zur Pflicht zu machen. Zur Voraussetzung für diese weitgehende Bindung bestimmte das Gesetz allerdings, dass die Innungen am Orte die Zwangsmitgliedschaft nicht nur akzeptieren, sondern die Kassen auch selbst errichten sollten. Damit war die Abhängigkeit des Kassenwesens von der Innung nicht aufgehoben, sondern erneut festgeschrieben worden – ein Umstand, der den westfälischen Verhältnissen noch immer in keiner Weise gerecht wurde. Anfänglich aber empfanden die Meister dies kaum als hinderlich, da sie jedenfalls unmittelbar nach Erlass der Verordnung von 1849 noch die Breitenwirkung des Innungsgedankens auch in Westfalen für möglich gehalten haben dürften. Die verschiedenen Musterstatuten, welche das Handels- und Gewerbe-Ministerium in der Folge für die zu errichtenden Kassen herausgab, sahen unterschiedliche Formen sozialer Sicherung auf korporativer Grundlage vor: –
–
Ein Modell, im Musterstatut der „Schuhmacher-Innung in N“ vorgesehen, verzichtete auf die enge Begrenzung des Versicherungszweckes; es stellte den Innungsgenossen die Auswahl verschiedener Typen wie Kranken- oder Sterbekassen frei (§ 37).112 Für den Fall, dass einzelne Gewerke keine gesonderten Innungskassen errichteten, sollten die Meister aber verpflichtet sein, „den Genossen, welche durch fortdauernde Krankheit oder durch Altersschwäche erwerbsunfähig werden, und den höchst bedürftigen Hinterbliebenen verstorbener Genossen in der nach den obwaltenden Umständen wirksamsten Weise ihre Fürsorge zuzuwenden“. Insbesondere sollte ein geeigneter Vertreter für den Meister gefunden werden. Ggf. hatte einer der Innungsgenossen seinen Gesellen zur Verfügung zu stellen (§ 49 des Entwurfs). Unbemittelten Hinterbliebenen verstorbener Meister konnte der Vorstand der Innung einen Beitrag zu den Beerdigungskosten bewilligen. Für die Erziehung unmündiger Kinder der Handwerker Sorge zu tragen war die Innung durch Vorschlag geeigneter Vormünder und Unterbringung der Söhne bei Lehrmeistern verpflichtet (§ 50 des Entwurfs). Ein anderes Normalstatut, dasjenige der „Weißgerber-Innung in N“, ließ den Handwerkern weniger Freiheit bei der Gestaltung ihres Kassenwesens. Es verpflichtete die Innungen unzweideutig, „zur Unterstützung bedürftiger Innungsgenossen sowie ihrer Witwen und Waisen“ eine Hilfskasse aus den Überschüssen der Innungskasse aufzubauen.113 Immerhin wurde der Innung die Errichtung separater Kranken- und Sterbekassen freigestellt (§ 4 des Entwurfs). Den Hinterbliebenen verstorbener Innungsgenossen sollte stets Schutz und Beistand gewährt und die Erziehung der Waisen ebenfalls gefördert werden (§ 5).
112 Statut der Schuhmacher-Innung in N. (o. O., o. J.). 113 Statut der Weißgerber-Innung in N, (o. O., o. J.).
B. Die soziale Sicherung der Meister und ihrer Familien
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Da diese Statuten nicht mehr als Vorschläge waren, blieb auch für abweichende Gestaltungen Raum. Die in Westfalen damals neu gegründeten Kassen der Meister folgten denn auch keinem einheitlichen Organisationsmuster, was sich nicht zuletzt in ihren je eigenen Leistungskatalogen, die erheblich voneinander abwichen, manifestierte. Während etwa die Statuten der vereinigten Metallhandwerker-Innung in Herford sowie diejenigen der Innung der Holzhandwerker in Soest dem weitergehenden Vorschlag entsprachen und sich deren Mitglieder neben der Errichtung einer Kranken- und Sterbekasse auch zur Fürsorge für alte, hilfsbedürftige Hinterbliebene sowie Waisen verstanden,114 beschränkte die Innung der Kleidermacher in Soest den Zweck ihrer im Jahre 1852 errichteten Kasse deutlich: Die Meister hatten sich lediglich verbunden, „für den Fall des Erkrankens theilweise unentgeltlich ärztliche Behandlung und Medicin … gewähren und beim Ableben ein anständiges Begräbnis zu sichern, ohne dass jedoch die Verpflichtung der öffentlichen Armenpflege zur Fürsorge für hilfsbedürftige Vereinsgenossen dadurch gänzlich aufhören soll“.115 Bei dieser engen Begrenzung des Versicherungszweckes konnte man auch in der Beitragsgestaltung Zurückhaltung üben. So betrugen die Abgaben für die Krankenversicherung nicht mehr als 24 Sgr., die der Sterbekasse 12 Sgr. im Jahr, während die Auszahlung im Sterbefall 12 Rtl. betrug. Eben dieses Verhältnis von Leistung und Gegenleistung lässt sich auch für die Kassen der Paderborner Kleidermacher feststellen.116 Trotz solch vielversprechender Ansätze zu einem leistungsfähigeren Versorgungssystem beschränkte sich die soziale Sicherung der Meister – wie sich etwa für Paderborn oder Münster117 zeigen lässt – auch nach Erlass der Verordnung von 1849 zumeist auf die Zugehörigkeit zu einem Sterbekassenverein, so dass der Beitrag, den die Versicherten zu zahlen hatten, im allgemeinen sehr mäßig ausfiel.118 Zwar war in der Provinzialhauptstadt – erstaunlicherweise auf Initiative von Adligen, insbesondere des Bruders des späteren Mainzer Bischofs, Wilderich von Ketteler – in den vierziger Jahren ein Handwerkerverein zur Finanzierung einer Kran114 §§ 50, 51 des Innungsstatuts der Vereinigten Schlosser- etc.-Innung in Herford, in: Stadtarchiv Herford VII 146; desgl. §§ 37, 39, 50 des Innungsstatuts der Tischler-etc.-Meister in Soest v. 1852, in: Stadtarchiv Soest, B XIX g 9. 115 § 1 des Statuts der Kranken- und Sterbekasse für die Kleidermacher-Innung zu Soest (1852), in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 116 In Paderborn zahlten die Meister an Beitrag zu den Sterbekassen bei einer Auszahlung von 12 Thl. ebenfalls 12 Sgr. jährlich; s. Statut der Sterbekasse der Kleidermacher-Innung in Paderborn v. 1.7.1867, in: STAD, Reg. Minden I U Nr. 1144. 117 In Münster wurde neben den Sterbekassen der Schuhmacher und Schneider im Jahre 1849 eine Sterbekasse für Barbiere, noch im selben Jahr die große „Allgemeine Sterbekasse für Handwerker und Arbeiter der Stadt Münster“ und 1850 schließlich je eine solche Kasse der Küfer und der Schornsteinfeger errichtet. Ende der fünfziger Jahre kam noch die Sterbekasse der Schreiner hinzu, s. Göken (1925), S. 54. 118 S. Statut für die Sterbekasse der Handwerksmeister in Brilon (1853), in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444; Schreiben v. 12.11.1851, in: Stadtarchiv Soest XIX g 15; Jacobi (1861), S. 84 ff. (92); Bericht der Stadt Paderborn über das Unterstützungskassenwesen v. 15.7.1853, in: Stadtarchiv Paderborn, 388 b; dort betrugen die Beiträge der Meister zu den Sterbekassen 10 Sgr. jährlich.
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VII. Das Handwerk in der politischen und sozialen Umwelt
kenkasse für Handwerker und Tagelöhner gegründet worden.119 Doch gehörte der Krankenlade dort wie überall nur ein verschwindend geringer Teil der Selbständigen an. Unterhielten die Innungen keine eigenen Unterstützungskassen, waren die Meister auch nicht verpflichtet, zu den sozialen Leistungen, welche die Gemeinschaft der Handwerker dennoch nicht selten erbrachte, eigens beizutragen. Solche Aufgaben wurden dann durch die Überschüsse der Innungskassen aus Einschreibegebühren der Lehrlinge, den Prüfungsgebühren sowie den laufenden Beiträgen der Innungsmitglieder finanziert. Manche der vor 1845 schon bestehenden berufsständischen Kassen wurden nachträglich den Innungen angeschlossen.120 In diesen Einrichtungen war der Kreis der Versicherten sehr verschieden bestimmt. Während einige der Kassen nur selbständige Meister eines Gewerbes nebst deren Frauen aufnahmen, standen andere auch Heimarbeitern und Gesellen offen.121 Die Regierung in Arnsberg empfahl den Landräten nach Erlass der Verordnung von 1849 dringendst, auf die Errichtung von Unterstützungskassen für Meister hinzuwirken.122 Der Erfolg dieser Kampagne war aber mäßig: Nur in wenigen Orten des Bezirks wie Soest, Brilon und Altena sowie im Siegerländer Amt Netphen, aber auch im ostwestfälischen Minden wurden die Meister durch Ortsstatuten zur Mitgliedschaft in den Kassen verpflichtet.123 Jacobi nannte die Beteiligung der Handwerksmeister 1853 denn auch ganz zutreffend „schwach“.124 Die erstrebte Popularisierung des Versicherungsgedankens unter den Handwerkern ließ sich, so zeigte sich bald, auf diesem Wege nicht erreichen. Die geringe Anziehungskraft der regierungsseitig so nachdrücklich geforderten Einrichtungen hatte im Wesentlichen drei Gründe: (1) Zum einen widerstrebte der Mehrzahl der selbständigen Handwerker die Beitragspflicht. Das galt generell für die Meister in den kleinen Ackerbürgerstädten und in noch stärkerem Maß für die in den Landgemeinden ansässigen Gewerbetreibenden. Die allenthalben feststellbare Verweigerungshaltung begründete der Landrat des Kreises Brilon ebenso konzis wie treffend: „Der Umstand, dass die Meister hier in der Regel oder doch großentheils mit dem Ackerbau oder anderen Erwerbszweigen leben und sie selbst resp. ihre Hinterbliebenen nicht lediglich auf das Handwerksverdienst hingewiesen sind“, sowie die „Mittellosigkeit der Handwerker“125 seien die wesentlichsten Hindernisse, die einer zwar geregelten, aber doch 119 S. Reif (1979), S. 448. 120 So geschehen mit den Sterbekassen der Schneider und Barbiere in Münster, s. Göken (1925), S. 54. 121 Neben den Kassen der Küfer und der Barbiere in Münster nahm auch die dort bestehende Sterbekasse der „Schreiner-Schützengesellschaft“ Meister wie Gesellen auf; s. Göken (1925), S. 54. 122 Schreiben der Reg. Arnsberg v. 8.1.1851 an die Landräte des Rgbz. Arnsberg, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 123 § 3 des Ortsstatuts für die Stadt Soest v. 27. Mai 1851, abgedruckt im Amtsbl. d. Reg. Arnsberg v. 6.9.1851, S. 531–534; Joest (1978), S. 190; Jacobi (1861), S. 84 ff. (92); Ortsstatut für die Stadt Minden v. 10.9.1850, in: Stadtarchiv Minden, F 188. 124 Jacobi (1853), S. 128; ähnlich äußerte sich die Regierung Arnsberg, so Schreiben der Reg. Arnsberg v. 27.6.1855, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 263. 125 Bericht des Landrats des Krs. Brilon v. 5.9.1849, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1358.
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nur durch eine fühlbare Beitragslast erkauften Alters- und Krankenversicherung im Wege stünden. Selbst dort, wo die Zugehörigkeit der Meister zu den Kassen verbindlich gemacht worden war, wurde, wie das Beispiel Soests zeigt, die Zwangsbeitragspflicht nicht lange ohne Widerspruch hingenommen. 1854 musste der Magistrat der Bördestadt den Meistern die Pflicht zur Beitragsleistung ausdrücklich ins Gedächtnis rufen, da „ein großer Theil der Schuhmachermeister sich weigerlich gehalten, die statutenmäßigen Eintrittsgelder und Beiträge zu entrichten“.126 Die Abneigung vieler gegen den Beitrittszwang war verständlich, da die ausschließliche Eigenfinanzierung der Kassen aus dem schmalen Handwerkseinkommen das Niveau der Lebenshaltung merklich senken musste.127 (2) In den kleineren Städten ergab sich zusätzlich das Problem, dass ein berufsspezifisches, gleichwohl aber funktionsfähiges Kassenwesen bei der zwangsläufig geringen Mitgliederzahl nur schwerlich aufzubauen und aufrechtzuerhalten war. Zwar konnten nach § 56 der Verordnung von 1849 auch diejenigen Handwerker, die keiner Innung angehörten, als freiwillige Mitglieder in die Kassen aufgenommen werden. Doch war wegen der finanziellen Beengtheit, in der die Professionisten gemeinhin lebten, an eine Aufwärtsentwicklung des Versicherungswesens auf freiwilliger Basis nicht zu denken.128 Deshalb suchten die Meister in Arnsberg und Brilon jeweils eine für sämtliche Innungen ihrer Städte gemeinsame Unterstützungskasse zu errichten. In Vlotho ging man darüber noch hinaus: Dort wünschte man den Beitrittszwang zu den Kassen auch für solche Gewerbetreibende einzuführen, die keiner Innung angehörten. Diese Pläne fanden jedoch nicht die nötige Unterstützung des Handelsministeriums, das auf der Organisation der Meister in Fachinnungen beharrte und die Kassenangehörigkeit nur für Korporationsmitglieder verbindlich machen zu können glaubte.129 Um auch in den kleineren Orten die erforderliche Mindestzahl an Versicherten erreichen zu können, empfahl die Berliner Behörde schließlich, in den Kleinstädten zu versuchen, die Meister der benachbarten Dörfer zur Beteiligung an den Innungskassen zu gewinnen. Auch dieser Weg erwies sich aber schon bald als nicht gangbar: Die Landmeister interessierten sich wegen der sozialen Absicherung durch ihren kleinen Grundbesitz kaum für die Mitgliedschaft in den Kassen. Der Vorschlag war wirklichkeitsfremd und bewies einmal mehr, wie wenig das Ministerium um die engen, ländlich-kleinstädtisch geprägten Verhältnisse seiner westfälischen Provinzen und die Bedeutungslosigkeit des Korporationswesens im Land der roten Erde wusste. Mit Grundsätzen, die den 126 Soester Anzeiger Nr. 3 v. 10.1.1854, zitiert nach Joest (1978), S. 191. 127 In Minden stellten die Kleidermacher 1851 fest, dass sie bei einer weiteren Ausbreitung der Magazine nicht mehr imstande sein würden, die notwendigen Beiträge zu den Unterstützungskassen zu leisten; s. Gutachten der Kleidermacher-Innung der Stadt Minden zum Ortsstatut v. 21.1.1852, in: Stadtarchiv Minden, F 188. 128 In diesem Sinne nahm auch der Landrat des Krs. Brilon Stellung: „In der Stadt Brilon selbst z. B. gibt es Meister, welche auch geringe Beträge kaum aufzubringen imstande sind. Dann bietet für sie die Gründung einer Kasse unmittelbar einige Schwierigkeiten …“, s. Schreiben des Landrats des Krs. Brilon v. 24.10.1853, in: STAM, Landratsamt Krs. Brilon, Nr. 1358. 129 S. Schreiben des Handelsministers v. der Heydt an die Reg. Minden v. 21.10.1850, in: STAM, Oberpräsidium, Nr. 2794.
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ostelbischen Verhältnissen gerecht werden mochten, ließen sich für Westfalen jedenfalls keine befriedigende Lösungen finden.130 (3) Vor allem aber erwies sich die Bestimmung, welche die Einführung der Zwangsmitgliedschaft in den Kassen von der Existenz von Innungen abhängig machte, als ernsthaftes Hemmnis bei der Verbreitung des Versicherungsgedankens.131 Die vom Gesetzgeber gewünschte und geförderte Wiederbegründung der Korporationen hatte in Westfalen trotz der anfänglichen Euphorie der Handwerker doch nur geringes Interesse gefunden, so dass auch die Errichtung von Kassen von vornherein auf wenige Orte beschränkt bleiben musste. Eben deswegen erschien die Abhängigkeit des Kassen- vom Innungswesen schon den kundigen Zeitgenossen ohne innere Berechtigung zu sein. Der Regierungsrat Jacobi, ein intimer Kenner der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Regierungsbezirk Arnsberg, forderte daher 1853 den allgemeinen Beitrittszwang für selbständige Handwerker ohne Rücksicht auf Ortsstatuten und Innungen.132 Hierin erkannte er das einzige Mittel, welches wirksamen Schutz vor der drohenden Proletarisierung des selbständigen Handwerks gewährleisten könne. Um das stagnierende Hilfskassenwesen in Westfalen zu beleben, verlangten schließlich auch die westfälischen Regierungen und das Oberpräsidium in Münster eine Änderung der Verordnung von 1849. Nur wenn die Gründung von Unterstützungskassen nicht länger von der Existenz von Innungen abhinge, so ließen sie sich vernehmen, sei zu hoffen, dass das Kassenwesen größere Bedeutung in der Provinz erlange. Die Behörden fanden sich zudem in der Ansicht einig, dass die Errichtung der Kassen nicht länger in das Belieben der Beteiligten gestellt sein dürfe, solle das Versicherungswesen erfolgreich entwickelt werden.133 d. Das Kassenwesen 1854–1869 Den Bemühungen der westfälischen Verwaltung blieb der Erfolg nicht versagt. In der Tat zog der Gesetzgeber die Summe der skizzierten Überlegungen und erließ das Gesetz vom 3. April 1854 über die gewerblichen Unterstützungskassen.134 Seither konnten die Handwerker zur Mitgliedschaft in den Kassen verpflichtet werden, auch wenn am Orte keine Innungen bestanden (§ 2). Die Bezirksregierungen wurden ermächtigt, für diejenigen Gemeinden, in welchen trotz des offenkundigen 130 So argumentierte auch der Magistrat der Stadt Brilon, s. Schreiben v. 4.5.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444; eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet sich bei Jacobi (1853), S. 97–144 (128). 131 S. dazu ausführlich: Jacobi (1853), S. 128. Ähnlich äußerte sich der Magistrat der Stadt Brilon: „Bei dem Mangel an Innungen und dem ohne solche fehlenden Zwange ist es hier unmöglich, nützliche Hilfs- und Unterstützungsvereine zu bilden, da es dem strebsamen und gutgesinnten Theile zu schwer fällt, solche zu erhalten, als sie fundamentiert werden müssen, wenn sie sich eines dauernden und zweckdienlichen Bestehens erfreuen sollen“, s. Schreiben des Magistrats der Stadt Brilon v. 4.5.1853, in: STAM, Krs. Brilon, Landratsamt Nr. 1444. 132 Jacobi (1853), S. 128. 133 S. Entwicklung der gewerblichen Unterstützungskassen in Preußen, in: Amtsbl. Reg. Minden v. 21.6.1867, S. 171, 172 (171). 134 Preuß. Gesetz-Sammlung 1854, S. 138, 139.
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Bedürfnisses kein entsprechendes Statut zustande kam, die Errichtung von Zwangskassen selbständig anzuordnen (§ 3). Zudem wurden die „Laden“, wie diese Einrichtungen damals, dem Handwerksbrauch gemäß, zumeist noch genannt wurden, der Aufsicht der Kommunalbehörden unterstellt (§ 5). Damit war die Verantwortung für den Aufbau des Versicherungswesens fortan völlig der Verwaltung überantwortet. Diese Bestimmungen brachten die Gesetzgebung über die gewerblichen Hilfskassen zu einem vorläufigen Abschluss. Der Staat, der, die Intentionen der bürgerlichen Philanthropen aufnehmend, mit seiner Gesetzgebung nicht nur ökonomische, sondern durchaus auch sittlich-erzieherische Ziele verfolgte, hatte das Seine getan, um ein Stück sozialer Sicherheit für die „arbeitenden Klassen“ zu verwirklichen. Dennoch nahm das Kassenwesen aber keineswegs in allen Regionen Westfalens den erhofften Aufschwung, wie eine nähere Betrachtung der Situation in den beiden Bezirken Münster und Arnsberg erweist. Trotz der neuerlichen Gesetzesreform, die den Wünschen der Westfalen so weit entgegengekommen war, bestanden im Regierungsbezirk Münster im Jahre 1865 insgesamt nicht mehr als 32 Unterstützungskassen, von denen nur zwei für Innungsmitglieder und sechs für selbständige Gewerbetreibende insgesamt bestimmt waren.135 Die Reserviertheit, mit der die münsterländischen Meister nach wie vor dem Versicherungsgedanken gegenüberstanden, hatte spezifische Ursachen: Der geringe Grad der Industrialisierung verband sich mit einem gewissen Wohlstand selbst der „kleinen Leute“ in dieser Region Westfalens. Fast alle, auch die Handwerker, bezogen dort ja, wie bereits festgestellt wurde, einen Teil ihres Einkommens aus der damals prosperierenden Landwirtschaft, so dass im allgemeinen wenigstens die notwendigsten Lebensbedürfnisse durch die eigene Subsistenzwirtschaft befriedigt werden konnten. Im nördlichen Westfalen war demnach, ganz im Gegensatz zu dem industrialisierten Süden und Westen der Provinz, das Fehlen echter Not für den geringen Erfolg des Versicherungswesens verantwortlich. Hinzu kam, dass sich fast jede Gemeinde des Münsterlandes reichlich ausgestatteter Versorgungsanstalten für Minderbemittelte und Arme rühmen konnte. In Münster selbst standen jährlich nicht weniger als 70.000 Taler an Stiftungsmitteln zur Verfügung.136 Angesichts solcher Opulenz war auch nach Auffassung der Behörden kein dringendes Bedürfnis nach Errichtung von Unterstützungskassen für Handwerker vorhanden. Ganz anders gestaltete sich das Verhältnis der Verwaltung im Regierungsbezirk Arnsberg zum Kassenwesen. Die dortigen Behörden bemühten sich, wie der federführende Arnsberger Regierungsrat Ludwig Jacobi formulierte, „unter den Handwerksmeistern den Sinn für eine genossenschaftliche Versicherung der Zukunft möglichst zu kräftigen“.137 Dennoch blieb auch in dieser gewerbereichsten Region Westfalens das Interesse der Handwerksmeister an eigenen Einrichtungen zur gegenseitigen Versicherung im Vergleich zur Industriearbeiterschaft aber eher schwach.138 Von den 280 Kassen mit 47.349 Mitgliedern, die der Regierungsbe135 136 137 138
König (1865), S. 27, 28. König (1865), S. 27. Jacobi (1861), S. 86. Ortsstatuten, die die Zwangsmitgliedschaft der Meister normierten, wurden kaum erlassen.
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zirk Arnsberg im Jahre 1864 zählte,139 fand sich nur ein geringer Anteil an reinen Meisterkassen. Demnach hatte das Gesetz von 1854 den Organisationsgrad der Meister jedenfalls in handwerksspezifischen Versicherungseinrichtungen auch in den gewerbereichen Regionen Westfalens nicht nennenswert erhöhen können. Die Arnsberger Regierung bediente sich nämlich kaum des Instrumentariums, welches ihr das Gesetz vom 3. April 1854 an die Hand gegeben hatte. Sie verzichtete im Allgemeinen auf die Einführung der von ihr selbst geforderten Zwangsmitgliedschaft in den Kassen für Meister. Diese Abstinenz lag vor allem im Wiedererstarken liberalen Gedankenguts in der Beamtenschaft begründet. Die von den Innungen absehende staatliche Förderung der Kassen für Selbständige war so schon fehlgeschlagen, noch bevor sie eigentlich begonnen hatte. Bestimmend für den Erfolg des Versicherungswesens blieb deshalb die Lebendigkeit des korporativen Zusammenhalts, der sich in der Funktionstüchtigkeit der Innungen manifestierte. Die Existenz von Innungen, nicht die Zwangsmitgliedschaft war so auch weiterhin die conditio sine qua non für das Kassenwesen. Trotz gelegentlicher Rückschläge blühten deshalb die Einrichtungen im innungsfreundlichen Soest;140 und in Laasphe, wo das Zunftwesen bis 1845 unverändert lebenskräftig geblieben war, konnte schon wenige Jahre nach dessen Ende ein effizienter Krankenhilfsverein für sämtliche Innungsmitglieder errichtet werden, ohne dass es des verordneten Zwangsbeitritts der Meister bedurft hätte.141 Auch die selbständigen Handwerker der Stadt Bochum, in der sich die Zwangsmitgliedschaft der Meister nicht hatte durchsetzen lassen, verfügten über ein leistungsfähiges Kassenwesen.142 Da die Laden der Meister demnach ungeachtet der Intentionen des Gesetzgebers an die wenigen Innungen im Lande gebunden blieben, verlor die Versicherung der selbständigen Handwerker auch während dieser Jahre bemühter Förderung ihren Ausnahmecharakter nicht. Aus der insgesamt geringen Beteiligung der Kleingewerbetreibenden an berufsspezifischen Versorgungseinrichtungen können allerdings auch für Südwestfalen keine unmittelbaren Rückschlüsse auf den Grad sozialer Sicherheit innerhalb der unteren Mittelschicht gezogen werden. Die einschlägigen Statistiken lassen es nicht zu, die Zahl der versicherten Meister exakt festzustellen, da in den zahlreichen Orts- sowie den allgemeinen Sterbe- und Hilfskassen, insbesondere der Industriestädte der Grafschaft Mark, nicht nur Arbeiter und Gesellen, sondern auch Meister aufgenommen wurden. Der Anteil der einzelnen Berufsgruppen an der Gesamtzahl der Versicherten ergibt sich aus den Statistiken nicht. Gewiss ist immerhin, dass die Meister des Regierungsbezirks Arnsberg einen höheren Organisationsgrad in den Kassen erreichten als diejenigen der anderen Bezirke 139 S. Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 25.11.1865, S. 406; s. dazu auch: Amtsbl. Reg. Arnsberg v. 24.6.1865, S. 237. 140 Das Beispiel der Stadt Soest ist in diesem Zusammenhang allerdings wenig typisch, da dort aufgrund der einschlägigen Bestimmungen des Ortsstatuts aus dem Jahre 1851 die Meister zur Mitgliedschaft in den Unterstützungskassen verpflichtet waren. Diese Regelung war aber die Ausnahme, s. u. a. Schreiben der Reg. Arnsberg v. 27.6.1855, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92. 141 S. STAM, Reg. Arnsberg I 19, Nr. 35, Bd. 1. 142 S. Schreiben des Magistrats der Stadt Bochum an den Landrat v. 8.5.1856, in: STAM, Krs. Bochum, Landratsamt Nr. 92, fol. 254.
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Westfalens. Südlich der Lippe, wo die Versorgungseinrichtungen auf Initiative „außerordentlich interessierter Gemeinden“ im Verein mit der jedenfalls anfänglich „nachdrucksvollen Einwirkung“143 der Regierung geschaffen worden waren, hatten sie auch für die Selbständigen einige Bedeutung gewonnen. Selbst dort aber blieb der Erfolg begrenzt. Dies folgt schon daraus, dass dem organisatorisch fortgeschritteneren, industrialisierten Westen des Bezirks ein ländlich-abgeschiedener Osten gegenüberstand, der sich in seiner passiven Haltung gegenüber dem Kassenwesen und dem Vertrauen auf den eigenen Grundbesitz kaum vom Münsterland unterschied. Über die Wirksamkeit der Kassen der selbständigen Gewerbetreibenden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts geben die Quellen kaum Auskunft. Schon zu Beginn des Jahrzehnts zog sich die Verwaltung von der Förderung dieser Einrichtungen, die ihr während der fünfziger Jahre so wichtig gewesen waren, völlig zurück. Die Statistiken, die bis zum Ende des Jahres 1868 erhoben wurden, lassen dennoch keinen Mitgliederschwund bei den typischen Kassen für Handwerksmeister erkennen.144 Insbesondere die Sterbeladen existierten unverändert weiter. Selbst das Interesse an der Neugründung von Kranken- und Sterbekassen erlosch während der dezidiert korporationsfeindlichen sechziger Jahre nicht völlig. So errichtete die Schneider-Innung in Paderborn noch im Jahre 1867 eine Sterbelade.145 In Langendreer und Oberbonsfeld bei Hattingen wurden im gleichen Jahr Ortsstatuten erlassen, welche die Zwangsmitgliedschaft der Meister in den Kassen zwar vorsahen, aber keine Wirksamkeit mehr entfalten konnten.146 Solche Einzelfälle wie auch der äußere Fortbestand der Kassen, welcher die Regel war, besagen allerdings wenig, da dem formellen, für die Statistik allein relevanten Weiterleben von Organisationen die allmähliche innere Auflösung durchaus korrespondieren konnte. Tatsächlich lassen sich Zerfallsprozesse, angestoßen und beschleunigt durch die zunehmende Dominanz liberaler Ideen, beobachten. Ein typisches Beispiel für die schleichende Zersetzung mancher Kasse bietet das Schicksal der 1852 errichteten Krankenlade der Soester Kleidermacher, die infolge wachsender Gleichgültigkeit der Mitglieder immer mehr verfiel und sich schließlich zu Beginn des Jahres 1869 selbst auflöste.147 Den letzten Anstoß dazu hatte das Ende der Kleidermacher-Innung gegeben, die ihre Tätigkeit infolge der Neuorientierung der Gewerbegesetz-
143 So Jacobi (1861), S. 94. 144 STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 553. 145 Statut der Sterbekasse v. 1.7.1867, durch die Reg. Minden genehmigt am 11.5.1868, in: STAD, Reg. Minden, I U Nr. 1144. 146 S. Schreiben der Reg. Arnsberg an den Landrat des Krs. Bochum v. 9.4.1867, betr. das Ortsstatut für die Gemeinde Langendreer; desgl. Schreiben des Amtmannes von Hattingen an die Regierung v. 19.1.1867, in: STAM, Reg. Arnsberg I Nr. 553. 147 Jedes Mitglied dieser Kasse war verpflichtet, die Hälfte der Medizinalkosten selbst zu tragen. Da ein Teil der Versicherten den Selbstkostenanteil nicht zahlte, hatten sich die Apotheker der Stadt schließlich geweigert, den Kassenmitgliedern weiterhin Arzneien zu verabreichen. Infolgedessen löste sich die Kasse durch Beschluss v. 6.1.1869 selbst auf; s. Stadtarchiv Soest, XIX g 15.
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gebung und aufgrund eines offenkundigen Gesinnungswandels auch innerhalb der Meisterschaft selbst 1868 eingestellt hatte.148 Bei aller Zurückhaltung, welche die mangelhafte Quellenlage gebietet, lässt sich feststellen, dass der Ausbau des Kassenwesens gegen Ende der sechziger Jahre eher stagnierte, mancherorts sogar wieder weit hinter das schon erreichte Niveau zurückfiel. Nun rächte es sich, dass der Versicherungsgedanke vor allem vom Willen des Staates getragen und zeitweise auch gefördert worden war. Als die von der Verwaltung ausgehenden Impulse allmählich verebbten, verloren auch die Meister je länger je mehr das Interesse an einer institutionell verfassten sozialen Sicherung, die allzu offenkundig das Produkt kurzatmigen obrigkeitlichen Wollens, jedenfalls in dieser staatsnahen Form offenbar aber kein existenzielles Bedürfnis der Masse der selbständigen Handwerker war. e. Die Gewerbeordnung von 1869 Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes hob, den nunmehr ganz unangefochten dominierenden Liberalen fast selbstverständlich,149 den Versicherungszwang für selbständige Gewerbetreibende dort, wo er bestanden hatte, auf (§ 140).150 Das durch diese Bestimmung geprägte weitere Schicksal der Kassen ist bislang widersprüchlich beurteilt worden. Der Feststellung des Zeitgenossen H. B. Oppenheim, dass „seit 1869 … die Zwangskassen großen Theils in Auflösung und Verfall“151 geraten seien, steht die von Reininghaus vertretene Meinung gegenüber, im Kassenwesen sei „alles beim alten“152 geblieben. An Forschungen und gesicherten Erkenntnissen zum weiteren Fortleben des Kassenwesens fehlt es bislang aber vollständig. Der der vorliegenden Untersuchung gezogene zeitliche Rahmen verbietet es zwar, diesem Mangel abzuhelfen. Doch sollen immerhin einige Andeutungen über die Entwicklung des Kassenwesens nach Erlass der Gewerbeordnung von 1869 angefügt werden. Neue Anstöße für einen Aufschwung der Versicherungseinrichtungen konnten von den dürren Bestimmungen der §§ 140, 141 der Gewerbeordnung nicht ausgehen. Ebendies hatte der Gesetzgeber aber auch nicht intendiert. Soweit die solidarische Hilfeleistung der Meister unmittelbar aus der Innungskasse finanziert worden war, erlosch sie durch den Zusammenbruch des Innungswesens nach Erlass der Gewerbeordnung von 1869 vollständig. Auch zahlreiche organisatorisch selbständige, aber an bestimmte Innungen gebundene Kassen überstanden die Auflösung 148 Die Innung löste sich durch Beschluss v. 8.10.1868 auf; s. Stadtarchiv Soest XIX g 15. 149 Eine Begründung für die Ablehnung der Zwangsmitgliedschaft in den Kassen durch die Liberalen findet sich bei Mascher (1866), S. 669. 150 Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes v. 21. Juni 1869, in: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes v. 21. Juni 1869, S. 245 ff.; auch abgedruckt in: Jahrb. für National-Ökonomie und Statistik (1869), S. 114–144 (140). 151 Oppenheim (1875), S. 36 f. 152 So Reininghaus (1983), S. 294 im Anschluss an Lohmann (1969), S. 100 f. Die Äußerungen Oppenheims und Reininghaus‘ beziehen sich zwar auf das Kassenwesen der Arbeitnehmer; das Schicksal der Einrichtungen der Meister dürfte aber dem der Gesellenkassen ähnlich gewesen sein.
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der Handwerksverbände nicht,153 während andere, wie etwa die Laden der Soester Handwerker,154 die Erosionsphase wenigstens in wichtigen Teilen überdauerten. Diese Reste des Kassenwesens waren es, die das Beispiel lebendiger Solidarität in eine Zeit weitertrugen, in der das geschärfte soziale Gewissen mit einer gänzlich neuen, bis dahin unerhörten Organisationskraft des Staates und der gesellschaftlichen Gruppen zusammenfanden. Erst dieser sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mächtig entfaltenden Konstellation konnte der Aufbau des modernen Versicherungswesens gelingen. 2. Das Landhandwerk Das ausgedehnte Landhandwerk Westfalens verschloss sich, so lässt sich apodiktisch feststellen, dem Gedanken der organisierten sozialen Sicherung völlig. Außerhalb der Städte erschwerten nicht nur die großen Entfernungen den Aufbau eines damals noch auf persönliches Mittun angewiesenen Kassenwesens; wichtiger war es, dass der eigene, kleine Landbesitz, die Nachbarschaftshilfe, die familieninterne Unterstützung und kirchliche Sozialtätigkeit als wirksame Mittel zur Sicherung gegen die Folgen der unabwendbaren Lebensrisiken Krankheit, Alter und Tod zur Verfügung standen. Offenbar war dieses tradierte, auf mehreren Säulen ruhende Versorgungssystem einigermaßen effizient. Jedenfalls lehnte die Verwaltung die Errichtung von Kassen für das Landhandwerk als überflüssig ab. Ein wohl tatsächlich geringerer Bedarf an zusätzlichen Unterstützungseinrichtungen auf dem Lande traf mit Uneinsichtigkeit in die Erfordernisse neuer, weniger erdverbundener Wirtschafts- und Lebensformen zusammen. Typisch für diese Haltung erscheint eine Stellungnahme des Landrats des damals noch ganz ländlichen Kreises Recklinghausen aus dem Jahre 1847: „Ein Bedürfnis zur Vermehrung resp. Einrichtung neuer Vereine dieser Art, insbesondere solcher, die durch die neue Gewerbeordnung empfohlen werden, ist für die hiesige Gegend nicht vorhanden und auch keine besondere Theilnahme zu erwarten, da die Verhältnisse die Mehrzahl der Eingesessenen abhalten, sich zu bleibenden Beiträgen zu verpflichten und die vielen Unterstützungskassen erfahrungsgemäß nur dazu dienen, neue Ansprüche auf Unterstützung hervorzurufen, deren Befriedigung nicht erfolgen kann“.155 Der Beamte hatte die Sachlage durchaus richtig eingeschätzt. Wie anders könnte man erklären, dass das Kassenwesen in den gewerbereichen Regionen des Regierungsbezirks Arnsberg florierte, in den ländlichen Gegenden Westfalens dagegen überall stagnierte? Die Haltung der Gemeinden und Regierungen, die sich auch nach Erlass des Gesetzes 153 Endgültiges lässt sich zu diesen Fragen für die Zeit nach 1869 nur nach der Erarbeitung von Detailstudien unter systematischer Auswertung lokalen Archivmateriales feststellen; dies ist nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. 154 So lässt sich die Kasse der Tischler, Drechsler, Böttcher und Stellmacher in Soest noch 1873 nachweisen; s. Stadtarchiv Soest XIX g 11. 155 Schreiben des Landrates des Krs. Recklinghausen v. 20.7.1847, in: STAM, Krs. Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63; in der Akte finden sich ähnliche Äußerungen anderer Verwaltungsbeamter.
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von 1854 nicht zur Anordnung des Beitrittszwanges für die Meister verstanden hatten, beruhte jedenfalls hinsichtlich des Landhandwerks auf naheliegenden Erwägungen. Zwingender Handlungsbedarf, der dirigistisches Eingreifen des Staates gerechtfertigt hätte, war aus damaliger Sicht nicht erkennbar. Auch wenn sich die zeitgenössischen Schilderungen von der „höchstens sparenden, aber niemals hungernden Landbevölkerung“ im Lichte neuerer Forschungen als jedenfalls in dieser Allgemeinheit kaum haltbar erwiesen haben, so dürfte die räumlich und zwischen Stadt und Land so unterschiedliche Entwicklung des Kassenwesens in Westfalen doch für die Mehrzahl der Fälle bestätigen, was ein Zeitgenosse 1850 äußerte: „Der ärmste Tagelöhner auf dem Lande hat einen letzten Trost gegen den Ausfall seines Verdienstes und gegen den Hunger in dem Stückchen Feld, das ihm seine Kartoffeln und vielleicht auch sein Brot theilweise bringt, oder er hat dadurch ein Mittel, sich Credit zu schaffen und Zinsen zu zahlen. Dem armen Städtebewohner bleibt nur der Ausweg, zu hungern und mit siechem Körper sich und seine Familie der Armenpflege zu übergeben“.156 3. Fazit Dem Aufbau eines Systems sozialer Sicherung für selbständige Gewerbetreibende war im 19. Jahrhundert weit weniger Erfolg beschieden als den gleichzeitigen Bemühungen um die Etablierung des Kassenwesens für Gesellen und Fabrikarbeiter. Dies hatte verschiedene Ursachen: In den Städten behinderte zunächst die vom Gesetzgeber gewollte enge Bindung der Versicherung an die Innungen den Aufbau neuer Versorgungseinrichtungen, da das Korporationswesen in Westfalen auf wenige größere Kommunen beschränkt blieb, außerhalb der regionalen Zentren aber nicht über unfruchtbare Ansätze hinausgelangte. Als den Regierungen dann im Jahre 1854 die Initiative für einen Neuanfang zufiel, wagten sie es kaum, mit dirigistischen Mitteln den Aufbau von Unterstützungskassen für Selbständige durchzusetzen, da sie des Desinteresses und der Ablehnung der Zwangsverpflichteten gewiss sein konnten. So gerieten die Bemühungen der Verwaltung nur zu einem bescheidenen Teilerfolg. Vor allem solche Handwerker, die, wie die Meister in den größeren Städten und in den Industrierevieren, die Bindung an den Boden verloren hatten und notwendig nach anderen, tragfähigen Formen sozialer Sicherung suchen mussten, fanden sich in den Kassenorganisationen zusammen. Ein einheitlicher Typus des Versicherungswesens bildete sich nicht heraus. Art und Anzahl der Risiken, die abgedeckt wurden, wichen stark voneinander ab. Dominierend war der Sterbekassenverein, eine Versicherung mit niedrigem Beitragssatz und geringer Leistungsfähigkeit. Dem Landhandwerk genügten vollends die tradierten Mittel zur Bewältigung der Lebenskrisen, und dementsprechend lehnte die Verwaltung die Errichtung von Kassen für die Landbevölkerung als überflüssig ab. 156 Escherich (1850), S. 1–66 (23). Friedrich Lenger geht davon aus, daß sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Landhandwerker während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht verbessert habe; so Lenger (1995), S. 8.
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Damit war nahezu der Zustand wieder erreicht, der die soziale Sicherung der Handwerker gegen Ende der Zunftzeit kennzeichnete: Den Gewerbetreibenden standen zwar verschiedene Formen der Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens zur Verfügung. Nirgendwo aber hatte man es zu einer umfassenden Versicherung der Selbständigen gebracht. Dort, wo es wenigstens zum Aufbau funktionsfähiger Organisationen gekommen war, beschränkten sich die Meister darauf, aus der Vielzahl der existenziellen Risiken einzelne herauszugreifen und sie der leistungsfähigeren Gemeinschaft zu übertragen. Der Alterssicherung schenkten sie, ganz wie zur Zunftzeit, kaum Aufmerksamkeit. Auch die Tatsache, dass sich die Handwerker der Kleinstädte und des flachen Landes in altgewohnter Weise allein auf den Grundbesitz und den Familienverband verließen, weist darauf hin, dass die Organisationskraft des Kleingewerbes dort auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch außerordentlich gering war. Es bleibt daher festzuhalten, dass staatliche Einwirkung und gesetzgeberische Initiativen während des Untersuchungszeitraumes kein wirklich tragfähiges Sicherungssystem für die selbständigen Handwerker hervorzubringen vermochten. Die Grenzen, die dem Alten Handwerk gezogen waren, konnten noch immer nicht überschritten werden. Allerdings war ein Aspekt des Kassenwesens, wie es die Gesetzgebung der vierziger und fünfziger Jahre geschaffen hatte, gänzlich neu und von zukunftweisender Bedeutung: Anders als zur Zunftzeit setzten die Leistungen der Laden und Auflagen nicht länger Bedürftigkeit voraus; der Krisenfall allein begründete nunmehr, unabhängig von den persönlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen, den Anspruch des betroffenen Versicherten. Doch bedurfte es noch eines ganzen Säkulums und einer entwickelten Industriegesellschaft, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Teil ihrer Mittel daran wendete, den Leistungskatalog der Kassen zu vervollständigen und ein Optimum an sozialer Sicherheit zu erreichen – um dann festzustellen, dass dieses unfinanzierbar ist.
VIII. RÜCKBLICK Die Einführung der egalisierenden Gewerbefreiheit als den großen emanzipatorischen Kahlschlag, die endliche Folge der im frühen 18. Jahrhundert begonnenen obrigkeitlichen Einhegung der Zünfte und Gesellenverbände zu begreifen fällt nicht schwer. Doch was geschah auf der abgeräumten Freifläche? Breitete sich dort naturwüchsiges Gesträuch aus, oder griff ein planender Wille ordnend und gestaltend, gänzlich Neues, Anderes schaffend, ein? Diese Fragen sind bislang kaum gestellt und noch viel weniger beantwortet worden. Die Vielzahl der Aufgaben und Funktionen, welche die Zunft auf nahezu allen Gebieten des wirtschaftlichen und sozialen Lebens des Handwerks wahrgenommen und die ihr eigentliches Wesen ausgemacht hatte, waren doch mit den Aufhebungsdekreten keineswegs gegenstandslos geworden. Wie aber bewältigten der Gesetzgeber und das Handwerk die mit den grundstürzenden Veränderungen der Einführung der Gewerbefreiheit einerund den Industrialisierungsvorgängen andererseits verbundenen Modernisierungsschübe? Unter dieser Perspektive und an den in der Einleitung formulierten Leitfragen orientiert soll die Darstellung abschließend zusammengefasst und in einen historischen Zusammenhang gestellt werden. 1. Die Vereinzelung, welcher die napoleonische Gesetzgebung die westfälischen Handwerker überantwortet hatte, goutierten diese keineswegs. Schon wenige Jahre nach Aufhebung der Korporationen suchten sie wieder an die alten Traditionen anzuknüpfen und sich erneut zusammenzuschließen, um wenigstens einen Rest der Aufgabenfülle der verblichenen Zünfte neuen Organisationen zu überantworten und in eine andere Zeit hinüberzuretten. Während sich der westfälische Provinziallandtag damals gegen jeglichen Zwangscharakter neu zu schaffender Innungen aussprach, wünschte der Oberpräsident Vincke durchaus, diese mit „Vorzugsrechten“ zu begaben. Die Diskussion hierüber verließ den Bereich des Akademischen aber nicht. Denn als 1845 eine neue Gewerbeordnung erlassen und auch den Westfalen wieder die Möglichkeit eröffnet wurde, Innungen auf einer verbindlichen Rechtsgrundlage zu schaffen, winkten sie ab, da sie sich den – vom Gesetzgeber vorgesehenen – Kontrollen durch die lokale Obrigkeit nicht aussetzen wollten. Stattdessen zogen sie es vor, sich auf privatrechtlicher Grundlage in Handwerkervereinen zusammenzuschließen. Die wenigen neu geschaffenen Innungen in Westfalen konnten deshalb auch nicht, wie Wolfgang Köllmann noch angenommen hat, „die Übersetzungskrisis des Handwerks zu steuern suchen“.1 Obgleich der Gesetzgeber 1849 die Kompetenzen der Innungen erheblich ausdehnte und auch dem Wunsch der Meister nach Konkurrenzbeschränkung entgegenkam, fand das Innungswesen in der vom Gesetzgeber vorgesehenen Form weiterhin wenig Anklang. Die westfälischen Handwerker zeigten sich aufgrund der fortdauernden Kontroll- und Über1
Köllmann, Rheinland-Westfalen … (1974), S. 208–228 (215).
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wachungsbefugnisse der Behörden keineswegs, wie Gustav Schmoller unterstellte, durch die neuen Regelungen „zunächst … befriedigt“. Die fortdauernde Ablehnung des Innungsmodells durch die Meister nimmt nicht wunder: Sie hatten eben erkannt, dass die Gesetzgebung des Jahres 1849 keineswegs, wie Schmoller jedoch glaubte, dem „egoistischen Klasseninteresse“ der Konservativen und Schutzzöllner und den Wünschen der Handwerker geschuldet war.2 Die Quellen weisen vielmehr eindrucksvoll nach, dass es dem preußischen Handels- und Gewerbeminister mit der Innungsgesetzgebung damals lediglich darum zu tun war, die revolutionäre Gärung im Handwerk zu dämpfen und die aufgebrachten Kleinbürger zu kalmieren. Dieses Ziel hat er zwar erreicht; da er den Innungen Autonomie und Zwangscharakter aber verwehrte, blieb deren Ertrag für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Handwerks in Westfalen gering. Damit unterschied sich die Situation im preußischen Westen trotz der vereinheitlichenden Gesetzgebung der Jahre 1845/49 deutlich von den Verhältnissen im ostelbischen Preußen. 2. Das Schicksal des Scheiterns teilte das zweite Organisationsmodell, welches der Gesetzgeber den Handwerkern zu oktroyieren suchte, die Gewerberäte, mit den Innungen. Wie letztere geschaffen, den revolutionären Furor unter den Handwerkern gleichsam in einem organisatorischen Gehäuse einzuhegen, gibt die kurze Lebensspanne der Räte vor allem Aufschluss über die Winkelzüge einer Politik, welche um ihrer jahrzehntelang gepflegten wirtschaftsliberalen Überzeugungen willen die spezifischen Standesinteressen der Kleingewerbetreibenden ignoriert hatte und nicht zuletzt dadurch in der Krisis der späten vierziger Jahre in ernste Bedrängnis geriet. Als Reaktion hierauf wurden mit der Verordnung vom 9.02.1849 Vorschriften in Kraft gesetzt, die ein demokratisches Element in die Gewerbegesetzgebung einführten; auf der Grundlage dieser Bestimmungen kam es in einigen größeren Städten Westfalens zur Errichtung von Gewerberäten. Während diese im Bereich der gewerblichen Ausbildung und des Arbeitsrechts zunächst durchaus konstruktiv wirkten, scheiterten ihre Handwerkerabteilungen aber bei dem Versuch, durch den Erlass von Ortsstatuten die Konkurrenz des Handels auszuschalten, bald und vollständig. Die Obstruktion der Kaufleute und Fabrikanten, die mangelnde finanzielle Ausstattung und die unzureichende Repräsentation der Handwerker in den Gremien ließ ihr Interesse an den Räten rasch erlahmen. Als der Gesetzgeber 1854 die Gesellen von der Mitwirkung ausschloss, das Wahlrecht der Meister beschränkte und die Räte behördlicher Aufsicht unterstellte, hatte die Mehrzahl dieser Gremien in Westfalen ihre Tätigkeit bereits eingestellt. Vom Minister in aufgeregter Zeit initiiert, sind sie hohles Blendwerk gewesen – nichts sonst. 3. Ein differenzierteres Urteil erfordert ein anderer Regelungsgegenstand: Auf staatlicher Ebene wurde das liberale Niederlassungsrecht der Franzosenzeit durch die deutsche Bundesakte aus dem Jahr 1815 auch für Preußen zunächst festgeschrieben. Der westfälische Provinziallandtag mochte sich hiermit allerdings nicht abfinden; er verlangte die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit. Doch kam der preußische Gesetzgeber dieser Forderung weder mit der Revidierten Städteordnung, welche ab 1835 in Westfalen eingeführt wurde, noch mit dem Zuzugs-Gesetz 2
So Schmoller (1870), S. 85, 86.
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des Jahres 1842, welches die Freizügigkeit innerhalb des Staates ausdrücklich festschrieb und nur Randgruppen von der Niederlassungsfreiheit ausschloss, nach. Daher reanimierten viele Kommunen in einer Art Selbsthilfeakt aus eigenem Recht wieder das aus dem 18. Jahrhundert bekannte Einzugsgeld und führten damit neue Restriktionen ein, wobei die Höhe der geforderten Abgaben von Stadt zu Stadt erheblich variierte. Als die Not der Unterschichten mancherorts unbeherrschbar zu werden drohte, ließ der Gesetzgeber den westfälischen Kommunen auf Bitten des Provinziallandtags 1845 auch ausdrücklich durch Gesetz nach, ein Einzugsgeld zu erheben, um unerwünschte Zuwanderer fernzuhalten. 1849 wurde die Niederlassungsfreiheit dann für ausländische Handwerker aufgehoben. Auf dem Lande kannte man in bestimmten Regionen, im ehemaligen Hochstift Paderborn und in Minden-Ravensberg, das Einzugs- und Zuzugsgeld bzw. die Notwendigkeit, die Teilhabe an den Gemeindenutzungen zu erkaufen; folglich war die Niederlassungsfreiheit auch in den Dörfern einiger Landesteile der Provinz Westfalen durchaus begrenzt. Erst mit dem Wiedererstarken des Liberalismus knüpfte man dann wieder an die Ausgangssituation an: Nach 1860 wurde das Einzugsgeld überall in den westfälischen Städten beseitigt. Die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes hob die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit für Bundesangehörige endgültig auf. Will man zu einem zutreffenden Urteil über die Wirksamkeit der Vorschriften im Bereich des Niederlassungsrechts finden, so kann solches kaum frei von Widersprüchen sein. Die Regelungen zeitigten, abhängig von den sich wandelnden wirtschaftlichen Konjunkturen, für die Handwerker je eigene, durchaus unterschiedliche Folgen: (1) Die jahrzehntelang in Städten und Gemeinden erhobenen Zuzugsgebühren dürften insbesondere vor der Jahrhundertmitte zur Heimatlosigkeit der Unterschichten und damit vor allem auch des ärmsten Teiles der Gesellen beigetragen haben. (2) Andererseits waren die geforderten Zahlungen und gesetzlichen Restriktionen aber nicht so gravierend, dass sie die Zuwanderung für die Masse der Handwerker hätten begrenzen oder verhindern können. Für einschneidendere Maßnahmen des Gesetzgebers bestand auch kein Anlass, denn die Zuzügler vermochten die am Orte vorhandenen Meister keineswegs zu depossedieren. (3) Erhebliche Nachteile zeitigten die Zuzugshemmnisse aber, als der Arbeitskräftebedarf im westlichen Westfalen aufgrund der dort nach 1850 mit Macht einsetzenden Industrialisierung sprunghaft anstieg: Dort wurde das von den Städten zunächst noch geforderte Einzugsgeld zu einem echten Hindernis für die stürmische Wirtschaftsentwicklung. Festzuhalten bleibt demnach, dass sowohl die Regelungen als auch die Rechtsfolgen des Niederlassungsrechts in Westfalen Besonderheiten aufwiesen, welche die Provinz einmal mehr von anderen Landesteilen Preußens unterschieden. Durch die Beseitigung der Niederlassungsbeschränkungen in den sechziger Jahren wurde die Rechtslage dann aber, wenngleich mit einiger Verspätung, an die Mobilitätserfordernisse der sich in Teilen Westfalens entwickelnden Industriegesellschaft angepasst. 4. Ein besonders luzides Beispiel für die mangelnde Konsistenz des Gewerberechts im 19. Jahrhundert bieten die Bestimmungen zur Preisbildung der Hand-
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werkswaren. An diesem Exempel lässt sich in nuce zeigen, was für den gesamten Regelungsbereich generell gilt: Da es dem Gesetzgeber auch auf diesem Felde für lange Zeit an einem umfassenden Konzept fehlte, führten die Machinationen des flüchtigen Zeitgeistes zu einer widersprüchlichen Rechtsentwicklung, die sich gelegentlich ins Groteske wendete, zugleich aber auch regionalen Sonderentwicklungen den wenig wünschenswerten Raum gab. Taxen für die Grundnahrungsmittel Brot und Fleisch hatten in Westfalen unter der französischen Fremdherrschaft fortbestanden, während sie im ostelbischen Rumpfpreußen damals aufgehoben worden waren. Nach der Wiederherstellung der preußischen Herrschaft in Westfalen setzten die Behörden die Preisbestimmungen in der Westprovinz außer Kraft, während sie im Osten der Monarchie zugleich aber deren Wiederherstellung erstrebten. 1831 wurden die Brottaxen in Westfalen wieder eingeführt, um bald neuerlich beseitigt und dann – ebenfalls noch in den dreißiger Jahren – wiederum reanimiert zu werden. Die Gewerbeordnung von 1845 bestimmte schließlich, dass die Fleischtaxen aufzuheben seien, während die Brottaxen unter „besonderen Umständen“ beibehalten werden konnten. Seit dem Ende der fünfziger Jahre drang das Ministerium dann aber überall wieder auf eine Beseitigung der Zwangstaxen. Das Beispiel lehrt, dass Westfalen unter der Herrschaft des preußischen Rechts jedenfalls im Bereich entlegener und spezieller Rechtsgebiete durchaus noch ganz eigene Wege ging. Dieses Faktum ist dem Umstand geschuldet, dass es dem Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts im Detail offenkundig außerordentlich schwer fiel, den Übergang von der durch zahllose Beschränkungen gebundenen Wirtschaftsweise des Ancien régime zu einer liberalen Marktwirtschaft rechtlich zu bewältigen. Einerseits suchte er sich im Einvernehmen mit der Verwaltung an den tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Erfahrungen breiterer Schichten zu orientieren, andererseits ließ er sich aber von zeittypischem Denken und dessen in mancherlei Hinsicht ideologische Züge annehmenden vermeintlichen Gewissheiten beeinflussen. Die Folge war, dass sich Rechtssatz wie Rechtswirklichkeit im Bereich der Preisbildung durch bemerkenswerte Inkonsistenz auszeichneten. Solches ist Signum einer Zeit des Übergangs, welche nicht Jahre, sondern Generationen währte und die es erst nach heftigen Konvulsionen vermochte, eine neue, dauerhaft tragfähige Ordnung der gewerblichen Wirtschaft hervorzubringen. 5. Wolfram Fischer hat unterstellt, dass die Wiederbegründung genossenschaftlicher Organisationsformen eine naheliegende Reaktion der Handwerker auf die Aufhebung der Zünfte gewesen sei. Für Westfalen trifft diese Annahme aber nicht zu, da zwischen dem Ende der Korporationen und der Errichtung von Genossenschaften ein bedeutender zeitlicher Abstand lag. Für den eher mäßigen Erfolg des zeittypischen Assoziationsgedankens in der Provinz lassen sich gleich mehrere Ursachen benennen: (1) Die jahrzehntelange Gewöhnung an das in keinerlei Kooperation eingebundene Wirtschaften war nicht folgenlos geblieben. (2) Die ökonomischen und organisatorischen Schwierigkeiten, welche aus dem genossenschaftlichen Modell selbst resultierten und die vielfach unlösbar erschienen, spielten eine wesentliche Rolle für die Zurückhaltung der Meister auf diesem Felde. (3) Der konfessionelle Gegensatz verhinderte die Realisierung der Ideen des Liberalen Schulze-Delitzsch in den katholischen Regionen Westfalens. (4) Schließlich wurde
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ein brauchbarer rechtlicher Rahmen erst durch das Genossenschaftsgesetz des Jahres 1867 geschaffen. Diese Umstände verstärkten einander in der Wirkung, so dass die Bedeutung der Genossenschaften für das Handwerk in Westfalen dauerhaft gering blieb. 6. Mit der Einführung des Code Napoleon wurde das gewerbliche Arbeitsvertragsrecht auf eine völlig neue Basis gestellt. Das Gesetzbuch formte auch in Westfalen aus dem traditionsverhafteten Handwerksgesellen den Typus des gewerblichen Arbeiters. Diese unzweideutige Zuordnung endete aber mit der neuerlichen Einführung des ALR in der seit 1814 preußischen Provinz. Im Grundsatz bedeutete dies die Rückkehr zum Arbeitsrecht der Zunftzeit. Da im Westen aber die Zünfte fehlten, entbehrten wesentliche Teile des Arbeitsrechts der preußischen Kodifikation in Westfalen nunmehr des sachlichen Grundes. Rechtsunsicherheit war die Folge, und zwar sowohl im Bereich des Prozeß- wie auch des materiellen Rechts: (1) Streitigkeiten aus dem Lehrverhältnis fielen zunächst in die Kompetenz der örtlichen Polizeibehörden, weshalb diese – wenngleich angemaßte – Kontrollrechte über Gesellen und Lehrlinge beanspruchten. 1833 wurde die Zuständigkeit für Verfahren aus dem Lehr- und Arbeitsverhältnis dann aber den ordentlichen Gerichten übertragen, womit der Gesetzgeber bezweckte, dessen Charakter als bloßes Privatrechtsverhältnis hervorzuheben. (2) Wegen der weitgehenden Unanwendbarkeit der zunftrechtlichen Bestimmungen des ALR in Westfalen beruhte der Arbeitsvertrag der Gesellen – nur durch wenige Rechtsregeln, die das Gesetz für Tagelöhner vorsah, beeinflusst – im Wesentlichen auf freier Vereinbarung. Während sich dieser Umstand aufgrund des Arbeitskräftemangels im Gefolge der Befreiungskriege zunächst zu Gunsten der Gesellen auswirkte, verschlechterte sich deren Position auf dem Arbeitsmarkt seit Beginn der dreißiger Jahre aber deutlich – was der demographischen Entwicklung geschuldet war. Die rechtliche Sonderstellung der Provinz Westfalen im Bereich des gewerblichen Arbeitsrechts endete mit der Einführung der Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 zwar formal, doch keineswegs tatsächlich: Das in der gesamten Monarchie geltende Gesetz schränkte die Vertragsfreiheit weiterhin nur geringfügig ein, setzte aber voraus, dass das Statutarrecht der Innungen gestaltend auf das Arbeitsverhältnis einwirken werde. Da in Westfalen damals aber nur eine geringe Zahl solcher Innungen entstand, konnte deren selbst gesetztes, an Musterstatuten orientiertes Recht kaum Bedeutung gewinnen, so dass sich die Rechtslage faktisch immer noch von derjenigen in den ostelbischen Provinzen Preußens unterschied. Die Verordnung vom 9.2.1849 reanimierte dann zwar noch einmal einige Regelungen der zünftigen Rechtstradition wie die Arbeitsgrenzen zwischen den Gewerben, doch wurde das geltende Arbeitsrecht wiederum nicht auf eine tragfähige Grundlage gestellt. Will man die Summe aus den arbeitsrechtlichen Bestimmungen und ihrer Realisierung ziehen, so bewährt sich die Frage nach der landschaftsbezogenen Rechtsgemeinschaft einmal mehr. Denn es lässt sich zeigen, dass sich sowohl die rechtliche Situation als auch die Rechtswirklichkeit in Westfalen gleichermaßen von ihrem Pendant im ostelbischen Preußen oder in den Nachbarländern Westfalens unterschieden. Das geltende Recht zeigte eine durchaus eigentümliche Physiognomie
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und die wenigen arbeitsrechtlichen Vorschriften liefen ins Leere. So blieb im Handwerk Westfalens der freie Arbeitsvertrag typisch. Dessen Abreden wurden durch die regionale Wirtschaftsentwicklung beeinflusst: Als das nach 1850 entstehende Ruhrrevier mit seinem außerordentlichen Arbeitskräftebedarf eine natürliche Sogwirkung zu entwickeln begann, wirkte sich dies auch auf die Gestaltung der Vereinbarungen zwischen Meistern und Gesellen bestimmend aus. So bleibt festzuhalten, dass der preußische Gesetzgeber während des gesamten Untersuchungszeitraumes den denkbar geringsten Teil zum Individualarbeitsvertrag in Westfalen beigetragen hat. 7. Weitestgehend übersehen wurde bislang die Bedeutung der steuerrechtlichen Regelungen für das wirtschaftliche Ergebnis der Handwerksbetriebe. Seit 1808/10 war die wichtigste Abgabe für das Kleingewerbe in Westfalen die Patentsteuer, die zwar zu mehr Steuergerechtigkeit führte, zugleich aber eine erhebliche Erhöhung der Abgabenlast für die selbständigen Handwerker brachte. Die naheliegende Folge war, dass sich die Meister der Steuerpflicht zu entziehen suchten. 1820 beseitigte Preußen die Patentsteuer und ersetzte sie durch einen begrenzten Kanon direkter und indirekter Steuern: Neben die Grundsteuer und die Mahl- und Schlachtsteuer, die in den größeren Städten von den Bäckern und Metzgern erhoben wurde, trat die Klassensteuer sowie die Gewerbesteuer. Zwar sollten bei der letzteren die Abgaben – im Gegensatz zur Patentsteuer – nach der individuellen Leistungsfähigkeit differenziert werden, doch erreichte der Gesetzgeber dieses Ziel wegen zahlreicher technischer Mängel nicht. Im Ergebnis wurden die kleinen Handwerksbetriebe auf dem Lande besser gestellt, das Stadthandwerk aber benachteiligt, so dass das Steuerrecht zu dessen teilweise unzureichendem Betriebsergebnis stärker beigetragen haben dürfte als die vielbeklagte Gewerbefreiheit. 8. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Einführung der französischen Munizipalverfassung in Westfalen verloren die städtischen Handwerker jeden Einfluss auf die kommunalen Angelegenheiten; aus langwährender Privilegierung wurde plötzlich Diskriminierung. Objektive Kriterien für die Abgrenzung zu den untersten Schichten existierten nicht mehr; so konnte sich das Niedergangssyndrom, welches für das Denken und Fühlen der Handwerker des 19. Jahrhunderts so typisch war, entwickeln. Auch die Revidierte Städteordnung des Jahres 1831 brachte den Meistern wegen des hohen Zensus im allgemeinen kaum bessere Chancen, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Die Einführung des Dreiklassenwahlrechts schloss den größten Teil der Handwerker weiterhin von der Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten aus; hieran änderte auch die „Städteordnung für die Provinz Westfalen“ aus dem Jahre 1856 nichts. So hatte der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts die städtischen Meister eben der politischen Unmündigkeit überantwortet, in welcher die Landhandwerker seit je verharrten. 9. Da mit der Beseitigung der Zünfte zumeist auch das zur Unterstützung bedürftiger Gewerksmitglieder vorgesehene Vermögen verloren gegangen war, konnte ein handwerkseigenes Fürsorgesystem der Meister und ihrer Familien in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Westfalen nur mühsam und allein an wenigen Orten wieder aufgebaut werden. Die Verordnung vom 9.2.1849 eröffnete den Gemeinden zwar die Möglichkeit, die Zwangsmitglied-
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schaft in den Kassen für alle selbstständigen Gewerbetreibenden in ihrem Gemeindebezirk zu bestimmen – doch wurde hiervon kaum Gebrauch gemacht. 1854 erließ Preußen dann, um den Versicherungsgedanken zu fördern, ein eigenes Gesetz über die gewerblichen Unterstützungskassen. Die Möglichkeiten, solche Einrichtungen anzuordnen, wurden erweitert, und den Kommunalbehörden räumte der Gesetzgeber eigene Aufsichtsrechte ein. Trotz dieser Neuregelungen nahm das Kassenwesen aber keineswegs in allen Regionen Westfalens den erhofften Aufschwung. Im Münsterland blieb das Interesse der Meister wie der Behörden an diesen Einrichtungen ausgesprochen schwach; im Bezirk Arnsberg war ihr Erfolg zwar größer, blieb aber auch hier, im Vergleich zu dem damals schon entwickelten Versicherungssystem für die Industriearbeiterschaft, begrenzt, zumal die von den Meistern initiierten Laden zumeist nicht über den Typus des Sterbekassenvereins hinausgelangten und sich das ausgedehnte Landhandwerk Westfalens dem Gedanken der organisierten sozialen Sicherung noch völlig verschloss. Schon zu Beginn der sechziger Jahre förderte die Verwaltung, dem erstarkenden Liberalismus geschuldet, die Kassen nicht mehr, und auch die Meister verloren nun das Interesse an den bescheidenen Formen sozialer Sicherung, die bis dahin geschaffen worden waren. Folgerichtig hob die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes den Versicherungszwang für selbständige Gewerbetreibende 1869 überall dort, wo er bestanden hatte, auf, und an die Innungen gebundene Einrichtungen überstanden deren Zusammenbruch nicht. So scheiterten gesetzgeberische Initiativen und administrative Einwirkung an der Aufgabe, ein tragfähiges Sicherungssystem für die selbständigen Handwerker hervorzubringen. Zu diesem Ergebnis trug das verbreitete Desinteresse der Meister selbst maßgeblich bei, welches durch die staatlichen Kontroll- und Aufsichtsbefugnisse nicht unwesentlich gefördert worden sein dürfte. Zieht man die Summe aus der Vielzahl der gesetzgeberischen Aktivitäten, so ergibt sich wenig Günstiges: Der das 19. Jahrhundert beherrschende Liberalismus verhinderte jahrzehntelang, dass die für das Kleingewerbe unerfreulichen Folgen des rechtlich-organisatorischen Kahlschlages, den die Aufhebung der Zünfte in Westfalen hinterlassen hatte, beseitigt werden konnten. Versuche der Handwerker selbst, hier Remedur zu schaffen, beäugte die Verwaltung mit Misstrauen und verhinderte sie zumeist. Erst als die sozialen und politischen Probleme unbeherrschbar zu werden drohten und sich schließlich in der Achtundvierziger-Revolution entluden, kam der Gesetzgeber den Wünschen der Meister und Gesellen nach einem organisatorischen Neuanfang entgegen. Doch die Konstruktionen, die er fand, waren allenfalls geeignet, die aufgebrachten Handwerker kurzfristig zu beruhigen, nicht aber langfristig tragfähige Strukturen zu schaffen. So wandten Meister und Gesellen sich, der ständigen Kontrolle und Bevormundung durch die Obrigkeit müde, bald wieder von den neuen Institutionen ab. Da der Gesetzgeber zwischen seinen in Wirtschaftsdingen liberalen Überzeugungen, den widerstreitenden Intentionen der Handwerker und den praktischen Erfordernissen von Wirtschaft und Markt keinen Weg fand, kam es zu grotesken Widersprüchen in der Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Verwaltung.
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Ineffizienz und schließliche Vergeblichkeit des staatlichen Mühens waren das unausbleibliche Ergebnis. Wie schwer dieser Misserfolg wog, lässt sich ermessen, wenn man den Ertrag der zeitgleich mit der Zunftaufhebung in Westfalen begonnenen Reform der Agrarverfassung betrachtet. Auch hier ging es um die Beseitigung einer aus dem Mittelalter überkommenen Rechts-, Eigentums-, Organisations- und Wirtschaftsstruktur, die den Anforderungen der Zeit schon lange nicht mehr entsprach und deshalb durch neue, effizientere Rechtsformen und Produktionsbedingungen ersetzt werden musste. Auch in diesem Fall gelang das große Werk nicht mit dem ersten Guss. Wenig erfolgreichen Versuchen der französischen Fremdherrschaft folgten die preußischen Gesetze aus den Jahren 1820, 1825, 1829 und 18503 nach. Am Ende dieser Reformjahre stand aber eine Agrarstruktur, die den Anforderungen des expandierenden Marktes vollauf gerecht wurde und die auch der westfälischen Landwirtschaft die glücklichste Epoche bescherte, die sie jemals erlebte. Wie anders gestaltete sich dagegen der notwendige Wiederaufbau eines neuen Rechts- und Organisationsrahmens im Handwerk: Als der Gesetzgeber Korporationen inangurieren wollte, zeigten die Meister kaum Interesse an den annoncierten Innungen und Gewerberäten, da sie sich von der lokalen Obrigkeit nicht unausgesetzt observieren und bevormunden lassen wollten. Auf dem Felde der Preisbildung für Handwerkswaren wiederum zeichneten sich die Normen durch bemerkenswerte Inkonsistenz aus, da der Nomothet einmal den Wünschen der Handwerker, dann aber auch ebensogut dem widerstreitenden liberalen Zeitgeist nachgab. Für die Wiederbelebung genossenschaftlicher Organisationsformen, die den Wirtschaftsbetrieb der Handwerker hätten fördern können, fehlte es bis zum Ende der sechziger Jahre an dem notwendigen rechtlichen Rahmen, und die Wiedereinführung des ALR schuf im Bereich der Arbeitsrechtsbeziehungen nichts als Rechtsunsicherheit, da die Bestimmungen Zünfte voraussetzten, welche es in Westfalen aber längst nicht mehr gab; die die Gewerbe neu ordnenden Bestimmungen der Jahre 1845/49 änderten hieran keineswegs etwas, denn auch sie unterstellten die Existenz von Innungen, die in Westfalen aber kaum irgendwo geschaffen wurden. So blieben Meister und Gesellen auf den freien Arbeitsvertrag verwiesen, bei dem es für die Hilfskräfte kaum etwas zu gewinnen gab. Auf dem Felde des für das Ergebnis des Wirtschaftsbetriebes wichtigen Steuerrechts erreichte der Gesetzgeber das Ziel, die Abgaben nach der individuellen Leistungsfähigkeit zu differenzieren, ebensowenig. Zu dieser für das Handwerk denkbar unerfreulichen Situation fügt es sich, dass den Meistern jeglicher politische Einfluss verwehrt blieb. Ein handwerkseigenes Fürsorgesystem für die Meister und ihre Familien ließ sich allenfalls in Ansätzen wiederbeleben. Dass der Gesetzgeber in all diesen Jahren die Rechtswirklichkeit in Westfalen nicht eigentlich neu zu gestalten vermochte, lehrt eindrucksvoll dreierlei: (1) Die landestypische Wirtschaftsstruktur konstituierte auch im 19. Jahrhundert noch Aspekte einer landschaftsbezogenen Rechtsgemeinschaft, da die spezifischen Verhältnisse in der Provinz in manchen Regelungsbereichen das kollektive Ignorieren der 3
Vgl. hierzu ausführlich Strunz-Happe (2003), S. 53 ff.
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geltenden Vorschriften erzwangen. (2) Gesetzgeber und Verwaltung waren offenkundig außer Stande, die Relevanz der wirtschaftsstrukturellen Gegebenheiten für den Erfolg der Gesetzgebung in dem so wenig heterogenen Staatswesen, welches Preußen im 19. Jahrhundert noch war, auch nur im Ansatz zu erkennen. (3) Die Fähigkeit des Gesetzgebers, aus seinen Misserfolgen zu lernen, scheint durchaus gering gewesen zu sein. Nach alledem kann von eigentlicher Wirksamkeit oder gar dauerhaftem Erfolg der preußischen Handwerksgesetzgebung im Untersuchungszeitraum kaum die Rede sein.4 Das Scheitern hatte viele Väter; der das Zeitalter prägende Liberalismus dürfte ebenso dazugehören wie die kaum verhohlene Attitüde des Staates, die Handwerker zu kontrollieren und zu bevormunden. Angesichts dieser Umstände erweist sich die bekannte Rede vom 19. Jahrhundert „als einem großen Jahrhundert der Gesetzgebung“ jedenfalls in solcher Allgemeinheit als unhaltbar. Aber nicht nur für die Rechtsgeschichte sind die hier gefundenen Ergebnisse von Relevanz. Eingangs schon ist darauf hingewiesen worden, dass die Wirtschaftsgeschichtsforschung inzwischen überwiegend davon ausgeht, dass die Gestaltung der Verfügungsrechte die entscheidenden wirtschaftlichen Anreize für die Wirtschaftssubjekte setzt und von deren Physiognomie daher Art und Maß des Wirtschaftswachstums abhängen. Dabei wird unter dem zumeist undifferenziert gebrauchten Begriff der Verfügungsrechte keineswegs nur der zivilrechtliche Rahmen, sondern ausdrücklich auch die vom Gewerberecht gesetzte Ordnung verstanden.5 Im Gegensatz zu den Wirtschaftshistorikern, die, der neoklassischen Theorie verhaftet, über lange Zeit einzig die Marktkräfte als entscheidendes Movens für das dauerhafte wirtschaftliche Wachstum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrachteten, hat schon Franz Böhm nachdrücklich darauf insistiert, dass Vertragsautonomie und Gewerbefreiheit die entscheidenden Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Industrialisierung seien: „Man kann wohl sagen, dass von allen Freiheiten der Französischen Revolution die Gewerbefreiheit, also die am meisten unpolitische, sozusagen trivialste, alltagsmäßigste, ideologisch anspruchsloseste bei weitem den spektakulärsten geschichtlichen Erfolg gehabt hat. Sie hat den sozialen Alltag der Menschen, die Struktur der Familie, die Gesellschaftsordnungen und Staatsverfassungen von Grund auf umgewälzt und hat produktive Energie von bis dahin unvorstellbarem Stärkegrad entfesselt. Man kann sagen: die Marktwirtschaft ist mit der Französichen Revolution davongerast.“ 6 Faßt man die auf breiter Quellenbasis ruhenden Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zusammen, so zeigt sich, dass die umfangreiche, der Einführung der Gewerbefreiheit folgende Gewerbegesetzgebung mit ihren teilweise gegensätzlichen Ansätzen während zweier Generationen kaum etwas zu bewirken vermochte. Dies fügt sich zu den Feststellungen Kaufholds, wonach schon die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen keine messbaren Auswirkungen auf die Handwerksbetriebe gezeitigt hat.7 4 5 6 7
Zum Scheitern gesetzgeberischer Intentionen vgl. u. a. Noll (1972), Schlumbohm (1997) und Stolleis (2000). So z. B. Wischermann/Nieberding (2004). Böhm (1971), S. 20/22. Kaufhold (1982), S. 73–114; a. A. Langer (1995), S. 7 jedenfalls für das Landhandwerk der
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Zwar entwickelte sich die Handwerkswirtschaft mit Ausnahme der der Konkurrenz der Industrie erliegenden Produktionshandwerke nicht ungünstig. Doch beeinflusste die Beseitigung der jahrhundertealten Zugangshemmnisse das Wirtschaftsergebnis der Handwerksbetriebe ebensowenig nachhaltig wie die gesetzgeberischen Versuche zur Wiederbelebung der Innungen 1845/1849 oder die neuerliche Liberalisierung durch die Gewerbeordnung des Jahres 1869. Franz Böhm hatte Unrecht,8 und der Property-Rights-Ansatz bzw. die Konventionen-Theorie sind jedenfalls in der Allgemeinheit, in welcher sie derzeit in der wirtschaftshistorischen Literatur vertreten werden, unhaltbar. Sie können als Erklärungsansatz für die Genese der modernen Wirtschaftswelt nur insoweit herangezogen werden, als sich die Wirkungen bestimmter legislativer Akte auf das Wirtschaftgeschehen empirisch nachweisen lassen. 9
8 9
preussischen Ostprovinzen. So schon Steindl (1981), S. 76–108 (105): „Davongerast ist nichts; weder mit noch gegen die Gewerbegesetzgebung.“ Ebendies gilt auch für die Zeitgeschichte; s. o., S. 21, Anm. 43. Obwohl China beispielsweise nicht einmal ansatzweise den Erfordernissen eines Rechtsstaates genügt und die „Verfügungsrechte“ also durchaus eingeschränkt sind, generiert das Land schon seit Jahrzehnten ein hohes Wirtschaftswachstum.
IX. ANHANG QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 1. Ungedruckte Quellen a. Bundesarchiv Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, DB 51/141 b. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA/PK) Geheimes Zivilkabinett, jüngere Periode: I. HA, Rep. 89, 2.2.1 Nr. 27761 I. HA, Rep. 89, 2.2.1 Nr. 27824 Preußisches Ministerium für Finanzen: I. HA, Rep. 151 II Nr. 2598 Preußisches Ministerum des Innern: I. HA, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 1 I. HA, Rep. 77, Tit. 306 Nr. 64 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 1 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 3 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 4 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 19 Bd. 5 I. HA, Rep. 77, Tit. 307 Nr. 74 Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe: I. HA, Rep. 120, B I Nr. 17 Bd. 2 I. HA, Rep. 120, B I Nr. 23 Bd. 1 I. HA, Rep. 120, B I Nr. 62 Bd. 3 I. HA, Rep. 120 B I Nr. 62 Bd. 7 I. HA, Rep. 120 B I Nr. 62 adhib 11 Bd. 8 I. HA, Rep. 120 B I Nr. 62 adhib 9 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I Nr. 62 Bd. 4 I. HA, Rep. 120, B I 1 Nr. 62 adhib 2 I. HA, Rep. 120 B I Nr. 64 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 70 Bd. 1 I. HA, Rep. 120, B I 1 Nr. 71 Bd. 1 I. HA, Rep. 120, B I 1 Nr. 71 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 1a Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 1 adhib Bd. 6 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 17 Bd. 1
1. Ungedruckte Quellen
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I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 70 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 71 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 23 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 23 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 60 Bd. 7 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 59 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 59 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 adhib 11, Bd. 9 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 62 Bd. 4 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 64 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 66 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B I 1 Nr. 66 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B III 1 Nr. 3 Bd. 3 I. HA, Rep. 120 B V Nr. 9 I. HA, Rep. 120 B V Nr. 19 I. HA, Rep. 120 B V 33 Nr. 4 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B V 35 Nr. 19 I. HA, Rep. 120 B V 35 Nr. 20 I. HA, Rep. 120 B V 35 Nr. 29 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B VI 20 Bd. 2 I. HA, Rep. 120 B VI 20 Bd. 3 I. HA, Rep. 120 B VI 21 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B VI 21 Bd. 4 I. HA, Rep. 120 B VI 21 Bd. 7 I. HA, Rep. 120 B VI 22 Bd. 1 I. HA, Rep. 120 B VI 22 Bd. 6 I. HA, Rep. 120 B VI 22 Bd. 7 I. HA, Rep. 120 BB VI a 1 Nr. 1 I. HA, Rep. 120 BB VI a 1 Nr. 1 Bd. 1 c. Staatsarchiv Münster (STAM) Kriegs- und Domänenkammer Minden: III 431 Kaiserreich Frankreich: Gruppe A I Nr. 2 Oberpräsidium: Nr. 6, Nr. 49, Nr. 53, Nr. 790, Nr. 791, Nr. 2754, Nr. 2774, Nr. 2774 Bd. 1, Nr. 2774 Bd. 2, Nr. 2774 Bd. 3, Nr. 2787, Nr. 2793, Nr. 2794, VI Nr. 4 Reg. Münster:
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IX. Anhang
Nr. 322, Nr. 788, Nr. 789, Nr. 790, Nr. 791, Nr. 792, Nr. 5779, Nr. 5781 Reg. Arnsberg: Nr. 51; Nr. 55; Nr. 56 I; I 19 Nr. 19 Bd. 1; I 19 Nr. 19 Bd. 2; I 19 Nr. 35 Bd. 1; B Nr. 57 Bd. VIII; I Nr. 553 Landkreise: Kreis Ahaus, Landratsamt Nr. 2063 Kreis Beckum, Landratsamt Nr. 224 Kreis Bochum, Landratsamt Nr. 92, 93 Kreis Borken, Landratsamt Nr. 54 Kreis Brilon, Landratsamt Nr. 1358, 1388, 1444 Kreis Iserlohn, Landratsamt Nr. 224 Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 826 Kreis Recklinghausen, Landratsamt Nr. 63 Kreis Siegen, Landratsamt Nr. 1738 Kreis Warendorf, Landratsamt Nr. 416, 458 d. Staatsarchiv Detmold (STAD) Reg. Minden, Präsidialregistratur Reg. Minden Nr. 194 Reg. Minden I U Nr. 787, I U Nr. 845, I U Nr. 780, I U Nr. 840, I U Nr. 885, I U Nr. 1144 e. Stadt- und Kreisarchive Stadtarchiv Bielefeld Rep. I A Nr. 23, Rep. I C Nr. 51 Stadtarchiv Dortmund, Best. 15 Nr. 552 Stadtarchiv Lippstadt D 38; Nr. 2971; Verwaltungsbericht 1850/51 Stadtarchiv Minden D 149; D 150; F 188; F 206; F 183; F 182 Stadtarchiv Münster, Polizei-Registratur Nr. 19 Stadtarchiv Paderborn A 298, A 374a, A 302, A 385a, A 388a, A 388b, A 373 f., A 388c, A 389b, A 1521 Stadtarchiv Herford VII, 146 Stadtarchiv Soest, Akten, Abt. B XIV a 8, Abt. B XIX a 1; Abt. B XIX a 3; Abt. B XIX a 4, Abt. B XIX a 6; Abt. B XIX a 9; Abt. B XIX a 10; Abt. B XIX a 8; Abt. B XIX b 1; Abt. B XIX g 9; Abt. B XIX g 11; Abt. B XIX g 15; Abt. B XXX II c 8 Bd. 1; Abt. XXX II c 9 Bd. 2; Abt. B XXX V a 22; Abt. B XXX V a 35; Abt. B XXX V a 64; Abt. XXX V a 66 Kreisarchiv Warendorf; Amt Beckum A 499
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4. Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8:
Zunfthandwerker in Berleburg und Umgebung 1845 Zunfthandwerker in Laasphe und Umgebung 1845 Zahl der Innungen und ihrer Mitglieder im Rgbz. Minden Ende 1854 Wahlbeteiligung an der Wahl des Gewerberates in Münster 1850 Anzahl der Gewerberäte in Preußen Gliederung der ländlichen Bevölkerung nach den Besitzverhältnissen in westfälischen Regionen Soziale Zusammensetzung der unterbäuerlichen Klasse (Zahl der Hauswirte) in Minden-Ravensberg (1798) und Paderborn (1802) Klassensteuerleistung der selbstständigen Handwerker der Stadt Soest 1850 (Rtl. pro Jahr)
v i e rt e l ja h r s c h r i f t f ü r s o z i a l u n d w i rt s c h a f t s g e s c h i c h t e – b e i h e f t e
Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0846
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Die Wirtschafsgeschichte sieht die entscheidenden Anreize für das Handeln der Wirtschaftssubjekte längst in der Gestaltung der Verfügungsrechte. Daraus ergibt sich für die Rechtsgeschichtsforschung nicht zuletzt die Frage nach der Physiognomie und dem grundstürzenden Wandel eben dieser Verfügungsrechte durch die Agrar- und Gewerbereformen des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinne leisten die beiden Bände einen wesentlichen Beitrag zu der Gesamtschau der rechtlichen Bedingungen und Verhältnisse, unter denen das deutsche Handwerk in der langen Phase des Übergangs von der traditionellen Zunftverfassung zu den Organisations-
und Wirtschaftsformen der Gegenwart lebte und arbeitete. Gerhard Deter unternimmt es, mit den von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Fragestellungen und Methoden die enge Wechselbeziehung zwischen den sozio-ökonomischen Bedingungen der handwerklichen Tätigkeit und den Spezifika einer Rechtsordnung, der das Kleingewerbe unterworfen war, aufzuklären. Im Fokus des Bandes steht das Problem, inwieweit das Handwerksrecht den ökonomischen und sozialen Wandel zu beeinflussen oder gar zu bestimmen vermochte.
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ISBN 978-3-515-10850-8